Alles nur symbolisch?: Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation 9783412211936, 9783412210618

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Alles nur symbolisch?: Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation
 9783412211936, 9783412210618

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Symbolische Kommunikation in der Vormoderne Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst Herausgegeben von Gerd Althoff, Barbara Stollberg-Rilinger und Horst Wenzel

Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung ­symbolischer Kommunikation Herausgegeben von Barbara Stollberg-Rilinger, Tim Neu und Christina Brauner

2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des SFB 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-21061-8

Inhalt Vorwort ................................................................................................................. Einleitung .............................................................................................................

9 11

Spielregeln symbolischer Kommunikation im Früh- und Hochmittelalter Gerd Althoff Steffen Patzold Frank Rexroth

Spielregeln symbolischer Kommunikation und das Problem der Ambiguität ...................... Von den Spielregeln ritueller Kommunikation zur sozialen Praxis. Ein Versuch über praktisches und diskursives Wissen im früheren Mittelalter .............................................. Transformationen des Rituellen. Überlegungen zur ‚Disambiguierung‘ symbolischer Kommunikation während des langen 12. Jahrhunderts .......................................

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53

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Symbolische Kommunikation im Recht des Mittelalters Peter Oestmann Susanne Lepsius Joachim Rückert

Symbolik und Formalismus im ungelehrten mittelalterlichen Gerichtsverfahren .................. 95 Das Sitzen des Richters als Rechtsproblem ..... 109 Kommentar zur Sektion „Symbolische Kommunikation im Recht des Mittelalters“... 131

Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis in der Frühen Neuzeit Lucien Bély Christian Windler Heinz Schilling

Das Wissen über das diplomatische Zeremoniell in der Frühen Neuzeit................... 141 Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis in der Frühen Neuzeit. Erträge neuer Forschungen ................................. 161 Symbolische Kommunikation und Realpolitik der Macht. Kommentar zur Sektion „Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis in der Frühen Neuzeit“.... 187

6 Inhalt Symbolik und Gewalt im Zeitalter der Französischen Revolution Jean-Clément Martin Repräsentationen der terreur .............................. 201 Christina Schröer Sinnstiftung im Ausnahmezustand. Symbolik und Gewalt im Zeitalter der Französischen Revolution .............................................................. 219 Jürgen Martschukat Von Terror, Ausnahmezuständen und guter Ordnung. Kommentar zur Sektion „Symbolik und Gewalt im Zeitalter der Französischen Revolution“.................................. 243 Grenzen symbolischer Kommunikation in der Musik Jürgen Heidrich und Formen und Grenzen symbolischer Katelijne Schiltz Kommunikation in der Musik ........................... 251 Laurenz Lütteken Kommentar zur Sektion „Grenzen symbolischer Kommunikation in der Musik“ ..................................................................... 275 Kunstwerke als Medien symbolischer Kommunikation Joachim Poeschke Kunstwerke als Medien symbolischer Kommunikation. Virtus im Herrscherporträt der Renaissance...................................................... 285 Wolfgang Brassat Kunstwerke als Dekor und Medien symbolischer Handlungen................................... 303 Klaus Krüger Bilder als Medien der symbolischen Kommunikation: Ästhetik und Geschichte. Kommentar zur Sektion „Kunstwerke als Medien symbolischer Kommunikation“ .......... 319 Intertheatralität: Entgrenzung, Permutation und Polysemie von Leben und Spiel Jan-Dirk Müller Doris Kolesch

Symbolische Kommunikation zwischen Liturgie, Spiel und Fest ........................................ 331 Promenaden im Park von Versailles. Permutationen von Leben und Spiel, von Alltag und Fest, von Skript und Performanz ..... 357

7

Inhalt

Cornelia Herberichs

Kommentar zur Sektion „Intertheatralität. Entgrenzung, Permutation und Polysemie von Leben und Spiel“............................................ 369

Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln Werner Freitag Städtischer Markt und symbolische Kommunikation .................................................... 379 Tim Neu Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln. Theoretische Perspektiven ........................................................... 401 Simon Teuscher Zuerst die Herrschaft und dann der Markt? Kommentar zur Sektion „Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln“.................................................................. 419 Bildnachweis ........................................................................................................ Bibliografie............................................................................................................ Verzeichnis der Autorinnen und Autoren...................................................... Farbabbildungen..................................................................................................

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Vorwort Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Münsteraner Tagung, mit der der Sonderforschungsbereich 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ zu Pfingsten 2011 das bevorstehende Ende seiner zwölfjährigen Forschungsarbeit symbolisch-rituell markiert hat. Für die letzte Förderphase hatten wir uns vorgenommen, auch nach den Grenzen symbolischer Kommunikation zu fragen: sowohl nach Grenzen in der Sache als auch nach Grenzen des theoretischen Ansatzes. Deshalb haben wir Vertreterinnen und Vertreter verschiedener beteiligter Disziplinen gebeten, aus der Perspektive ihres jeweiligen Faches zu fragen, was die Erforschung „symbolischer Kommunikation und gesellschaftlicher Wertesysteme“ denn nun eigentlich für Erkenntnisse gebracht hat, aber auch, welche blinden Flecken dieser Ansatz aufweist. Dabei waren allerdings keineswegs alle Fächer vertreten, die am Sonderforschungsbereich beteiligt waren – dazu wäre mehr als eine Tagung nötig gewesen. Um dennoch einen Eindruck von dem Spektrum unserer Arbeiten zu vermitteln, haben wir eine Auswahlbibliographie der in unserem Verbund entstandenen Publikationen angehängt. Die Idee für die Konzeption der Tagung war, eine dialogische Struktur zustande zu bringen – je kontroverser, desto besser. Deshalb haben wir die Vorträge jeweils zu Paaren geordnet und zusätzlich einen Gast um einen Kommentar dazu gebeten. Dass das auch eine symbolische Inszenierung ist, liegt auf der Hand. Wie für die vormodernen Akte monarchischer oder städtischer Ordnung, die wir erforscht haben, gilt ja – mutatis mutandis – auch für heutige akademische Formen wie Begehungen, Konferenzen oder Disputationen, dass sie immer eine wesentliche symbolisch-rituelle Dimension haben, dass sie Sinn stiften und Struktur erzeugen. Wir sind aber überzeugt, dass für diese Tagung wie für unsere Forschungsgegenstände selbst gilt, dass es sich nicht um sinnleere Rituale handelte, dass also, wie die rhetorische Frage im Titel andeutet, keineswegs „alles nur symbolisch“ war. Zum Abschluss einer so langdauernden gemeinsamen Arbeit ist nicht nur für die Mitwirkung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dieser letzten gemeinsamen Tagung, sondern für die jahrelange Kooperation und Förderung insgesamt Dank abzustatten. Das gilt zuerst für die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Generationen von Gutachterinnen und Gutachtern, ohne deren positive Einschätzung dieser Verbund nicht eingerichtet und verlängert worden wäre. Dass der Sonderforschungsbereich über die Jahre hinweg so

10 Vorwort reibungslos funktioniert hat, ist wesentlich der wissenschaftlichen Koordinatorin Maria Hillebrandt zu verdanken. Bei zahlreichen Tagungen war sie stets mit großer Professionalität, Umsicht und Perfektion im Hintergrund am Werk, unterstützt vom Sekretariat und vielen Generationen von studentischen Hilfskräften, deren Namen hier nicht aufgezählt werden können. Stellvertretend für sie alle möchten wir nur Elsa Boße, Laura-Marie Krampe und Ole Meiners nennen, die uns bei der redaktionellen Bearbeitung des vorliegenden Bandes unterstützt haben. Gestaltung, Satz und Produktion des Buches lagen in den Händen von Elena Mohr und Susanne Kummer vom Böhlau-Verlag. Ihnen allen sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Münster, zu Pfingsten 2013

Barbara Stollberg-Rilinger Tim Neu Christina Brauner

Barbara Stollberg-Rilinger und Tim Neu

Einleitung I. Alles nur symbolisch? Diese rhetorische Frage war das Motto der Abschlusstagung des Sonderforschungsbereichs „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“. Damit wird eine oft geäußerte und meist geringschätzig gemeinte alltagssprachliche Wendung aufgegriffen, die aber auch in der Forschung mitunter zu hören ist. Doch was heißt das eigentlich, etwas sei ‚nur symbolisch‘? Als Beispiel, an dem das Gemeinte deutlich wird, lässt sich der feierliche Einzug Kaiser Franz I. und seines Sohnes Joseph nach Frankfurt am Main im Jahre 1764 anführen, wo Joseph zum Römischen König und zukünftigem Kaiser gewählt und gekrönt wurde. Das Ereignis war Gegenstand einer aufwendigen sekundären Inszenierung, eines Gemäldes aus der Werkstatt des Wiener Hofmalers Martin van Meytens (Abb. auf Seite 12). Wenn man sagt, eine Prozession wie diese sei ‚nur symbolisch‘ gewesen, dann kann das zweierlei heißen: Man kann zum einen in einem kritisch-pejorativen Sinne sagen, die Prozession sei bloß symbolisch, und man kann andererseits in einem sachlichen symboltheoretischen Sinne sagen, sie sei ausschließlich symbolisch gewesen. Der Unterschied ist wesentlich. Schon viele Zeitgenossen betrachteten den Einzug in Frankfurt wie nahezu das ganze Wahl- und Krönungsgeschehen im erstgenannten Sinne als ‚bloß symbolisch‘ – ganz ähnlich wie heute, wenn den Politikern vorgeworfen wird, sie betrieben bloße ‚Symbolpolitik‘, spielten ‚politisches Theater‘.1 Im Falle der Krönung Josephs gibt es eine lange Reihe sehr prominenter Kritiker, die das so sahen – angefangen beim Krönungskandidaten selbst, der das Ganze mit einer Mischung aus Geringschätzung und peinlicher Berührtheit

1

Klassisch Murray Edelman, The Symbolic Uses of Politics, Urbana/Chicago 1964, dt. Übersetzung u. d. T. Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns. Mit einem Vorwort von Claus Offe und einem Nachwort von Frank Nullmeier, Frankfurt a. M./New York 32005; vgl. anstatt vieler nur etwa Ulrich Sarcinelli, Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischen Handelns in der Wahlkampfkommunikation der Bundesrepublik Deutschland (Studien zur Sozialwissenschaft 72), Opladen 1987; Thomas Meyer, Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik, Frankfurt a. M. 1992.

12 Einleitung

Atelier des Martin van Meytens d. J. [ Johann Dallinger von Dalling u. a.], Der Einzug Kaiser Franz I. und Josephs II. in Frankfurt am Main 1764, um 1765, KHM, Wien.

als „une vraie comédie“2 bezeichnete. Am bekanntesten ist die rückblickende Darstellung Goethes, der in „Dichtung und Wahrheit“ in sanfter Altersmilde von einem „Schauspiel“ sprach, das dem Speisesaal im Frankfurter Römer „ein gespensterhaftes Ansehen“ verlieh und in dessen Rahmen der Krönungsornat als „Verkleidung“ erschien.3 Man könnte aber auch den jungen Hegel anführen, der die Krönungsfeierlichkeiten später (1802) als Indiz dafür nahm, dass „alle Zeichen des deutschen Staats-Verbands seit Jahrhunderten gewissenhaft 2 3

Joseph an Maria Theresia, 28. März 1764, in: Alfred Ritter von Arneth (Hg.), Maria Theresia und Joseph II. Ihre Correspondenz sammt Briefen Joseph’s an seinen Bruder Leopold, Bd. 1: 1761–1772, Wien 1867, S. 52–55, hier S. 53. Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Buch 1–13, in: Erich Trunz (Hg.), Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 9: Autobiographische Schriften 1, München 91981, S. 186 und S. 204 („Schauspiel“), S. 207 („gespensterhaftes Ansehn“) und S. 203 („Verkleidung“); vgl. dazu Manfred Beetz, Überlebtes Welttheater. Goethes autobiographische Darstellung der Wahl und Krönung Josephs II. in Frankfurt/M 1764, in: Jörg Jochen Berns / Thomas Rahn (Hgg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und früher Neuzeit (Frühe Neuzeit 25), Tübingen 1995, S. 572–599.

Einleitung

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bewahrt [worden sind], wenn schon die Sache selbst, der Staat verschwunden ist“.4 Zitate wie diese lassen sich mit unzähligen anderen Äußerungen aus dem späten 18. Jahrhundert in eine Reihe stellen, die nicht allein die Krönungsfeiern im Römisch-deutschen Reich, sondern ganz allgemein die traditionellen Herrschaftsrituale als ‚leeren Schein‘ zu entlarven suchten, als „Folgen der Herrschaft, die des Menschen Sinne über ihn ausüben, denn er lebt mehr im Gefühl als im Verstand“.5 Es wäre aber falsch anzunehmen, solche scharfen ritual- und symbolkritischen Äußerungen wären erst Sache der Aufklärung gewesen, die aus übersteigertem Zweckrationalismus mit Symbolik generell nichts mehr anzufangen wusste. Man kann vielmehr Schübe eines solchen Antiritualismus mit fast zyklischer Regelmäßigkeit in der Geschichte immer wieder beobachten. Das beginnt bereits mit der Kritik der alttestamentlichen Propheten am Götzendienst der Israeliten, wird aufgegriffen in der Kritik des frühen Christentums an den jüdischen Ritualgesetzen, die als Herrschaft des Buchstaben, der tötet, über den Geist, der befreit, diskreditiert wurden; es begegnet wieder in der Sakramentsdebatte des 12. Jahrhunderts und dann erneut mit großer Wucht in der radikalen Kritik der Reformatoren an den ‚Ceremonien‘ der römischen Kirche; es taucht nach der Epoche von Aufklärung und Revolution nach dem Ersten Weltkrieg in der klassischen Moderne wieder auf und begegnet später in der 68er Bewegung mit ihrem Spott über die erstarrten bürgerlichen Formen.6 Bei aller Verschiedenheit dieser Bewegungen ist ihnen eines gemeinsam: 4 5

6

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über die Reichsverfassung, hg. von Hans Maier, Hamburg 2004, S. 100 (Vorlage der Reinschrift). Friedrich II., Kritik der Abhandlung „Über die Vorurteile“ (1770), in: Die Werke Friedrichs des Großen in deutscher Übersetzung, Bd. 7: Antimachiavell und Testamente, hg. von Gustav Bertold Volz, Berlin 1913, S. 238–257, hier S. 240; vgl. ders., Examen de l’Essai sur les préjugés, in: Oeuvres de Frédéric le Grand, Bd. 9, hg. von Johann D. E. Preuss, Berlin 1848, S. 149–175, hier S. 153. – Vgl. auch das Rousseau-Zitat in dem Beitrag von Lucien Bély, Das Wissen über das diplomatische Zeremoniell in der Frühen Neuzeit, in diesem Band, S. 141–159, hier S. 143. Eine Darstellung der antiritualistischen Strömungen quer durch die Epochen fehlt. Vgl. zu verschiedenen dieser Richtungen etwa: Mary Douglas, Natural Symbols. Explorations in Cosmology, London 1970, dt. Übersetzung u. d. T. Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt a. M. 1986; Nikolaus Staubach, Signa utilia – signa inutilia. Zur Theorie gesellschaftlicher und religiöser Symbolik bei Augustinus und im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 36, 2002, S. 19–49; Bruno Quast, „wort und zeychen“. Ritualkritik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Sebastian Brant, Erasmus von Rotterdam, Martin Luther, Michel de Montaigne), in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 27, 2002, S. 1–19; André Holenstein, Huldigung und Herrschaftszeremoniell im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, in: Aufklärung 6, 1991, S. 21–46; Marian Füssel, Geltungsgrenzen. Frühneuzeitliche Rituale zwischen Antiritualismus, Medienwandel und Sachzwang, in: Andreas Büttner / Andreas Schmidt / Paul Töbelmann (Hgg.), Grenzen des Rituals. Wirkreichweiten – Geltungsbereiche – Forschungsperspektiven, Köln u. a. 2013, S. 221–235.

14 Einleitung Der Vorwurf richtet sich immer gegen die Herrschaft der Form, des Buchstabens, der äußeren Gestalt, und es wird stets ein Gegensatz zwischen Außen und Innen, Fleisch und Geist, signifiant und signifié unterstellt. Im Kern geht es dabei um eine fundamentale Institutionenkritik, die sich zuallererst gegen die sichtbaren Symbole und Rituale richtet, in denen sich die bekämpfte Ordnung, ihre Normen und Werte verkörpern und objektivieren.7 Die antiritualistische Polemik war und ist allerdings immer zwiespältig: Unfreiwillig legt sie selbst Zeugnis ab von der subkutanen Wirkmächtigkeit dessen, wogegen sie polemisiert. Alles symbolisch-rituelle Handeln abzuschaffen und durch Ausdrucksformen authentischer Innerlichkeit zu ersetzen ist noch keiner dieser ritualkritischen Bewegungen gelungen; stets traten neue, andere Symbole und Rituale an die Stelle der alten.8 Die Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts stand bekanntlich lange Zeit im Bann dieser symbol- und ritualkritischen Tradition, die seit der Aufklärung zu einem Signum der Moderne, des langen Weges ‚vom Mythos zum Logos‘ geworden war. Ernst Cassirer etwa war der Überzeugung, dass sich die symbolischen Formen im Lauf der Geistesgeschichte auf dem Weg zu immer größerer Abstraktion befänden.9 Diese Überzeugung grundierte die Meistererzählungen der Moderne. Von einigen – allerdings prominenten – Außenseitern wie Marc Bloch, Ernst H. Kantorowicz oder Johan Huizinga abgesehen, verstanden Politik- und Verfassungshistoriker die Rituale und Zeremonien, die ihnen in den Quellen begegneten, als Ausdruck von Naivität oder der Eitelkeit und wiesen sie einem separaten Bereich der ‚Kulturgeschichte‘ zu, der von der ‚eigentlichen‘, seriösen Geschichte weitgehend separiert blieb. Mit dieser Geringschätzung und Vernachlässigung alles Symbolisch-Rituellen hat die so genannte ‚kulturalistische Wende‘ seit den 1980er Jahren bekanntlich gründlich aufgeräumt.

7

8 9

Dazu grundlegend Karl-Siegbert Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: Gerhard Göhler (Hg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, S. 47–84; ders., Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – eine Einführung in systematischer Absicht, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln u. a. 2001, S. 3–49. Von „Rituale[n] des Antiritualismus“ spricht Hans-Georg Soeffner, Die Auslegung des Alltags, Bd. 2: Die Ordnung der Rituale, Frankfurt a. M. 1992, S. 102–130; vgl. zuletzt ders., Symbolische Formung. Eine Soziologie des Symbols und des Rituals, Weilerswist 2010, S. 51 ff. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde. (Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. v. Birgit Recki, Bd. 11–13), Hamburg 2001–2002.

Einleitung

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In diesem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext stand auch der Münsteraner Sonderforschungsbereich.10 Er ging von der konstruktivistischen Grundannahme aus, dass Symbolisierungen die empirische Wahrnehmung der sozialen Welt strukturieren, das Handeln motivieren und orientieren, normative Erwartungen stabilisieren und kollektive Werte vergegenwärtigen, das heißt, dass die soziale Realität von den Akteuren laufend aufs Neue geschaffen und mit Sinn versehen wird, und zwar ganz wesentlich durch performative Akte symbolischer Kommunikation, die selbst mit bewirken, was sie sprachlich bezeichnen oder symbolisch darstellen. Zentrales Anliegen des Sonderforschungsbereichs war es, diese fundamentale strukturbildende und sinnstiftende Wirkung symbolischer Kommunikation auf verschiedenen Feldern vom frühen Mittelalter bis zum Anbruch der Moderne herauszuarbeiten. Im Zentrum stand die Frage, wie gesellschaftliche Ordnungen und Wertesysteme durch symbolische Kommunikation manifestiert, visualisiert, auf Dauer gestellt, aber auch angegriffen und verändert wurden. Der Zusammenhang von symbolischer Kommunikation und gesellschaftlichen Wertesystemen ist dabei nicht als Abbildungsverhältnis zu verstehen.11 Die Prämisse ist vielmehr, dass die Geltung von Werten und Normen in einer Gesellschaft Formen und Akte ihrer Anerkennung voraussetzt und deshalb ihrer symbolischen Vergegenwärtigung eine nicht nur ornamentale, sondern vielmehr fundamentale 10 Vgl. zum Programm des Sonderforschungsbereichs Gerd Althoff / Ludwig Siep, Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution. Der neue Münsterer Sonderforschungsbereich 496, in: Frühmittelalterliche Studien 34, 2000, S. 393–412; Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen –Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 31, 2004, S. 489–527; vgl. als allgemeinen Überblick zuletzt dies., Rituale (Historische Einführungen 16), Frankfurt a. M. 2013, mit ausführlicher Online-Bibliographie. Zur kulturalistischen Wende in der Geschichtswissenschaft: Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 2001; allgemein: Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006. – Verwandte Forschungsverbünde, von deren Arbeit der SFB 496 profitiert hat, waren vor allem SFB 537„Institutionalität und Geschichtlichkeit“ in Dresden; vgl. Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung (wie Anm. 7); SFB/KFK 485 „Norm und Symbol“ in Konstanz, vgl. Rudolf Schlögl / Bernhard Giesen / Jürgen Osterhammel (Hgg.), Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften (Historische Kulturwissenschaft 1), Konstanz 2004; SFB 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ in Bielefeld, vgl. Ute Frevert / Hans-Gerhard Haupt (Hgg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung (Historische Politikforschung 1), Frankfurt a.  M./New York 2005; Willibald Steinmetz, Abschlussbericht des SFB 584 (URL: http://www.uni-bielefeld.de/geschichte/forschung/sfb584/Abschluss bericht.pdf, letzter Zugriff: 19.05.2013); sowie SFB 619 „Ritualdynamik“ in Heidelberg; vgl. Dietrich Harth / Gerrit Jasper Schenk (Hgg.), Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, Heidelberg 2004. 11 Vgl. die Frage von Laurenz Lütteken, Kommentar zur Sektion „Grenzen symbolischer Kommunikation in der Musik“, in diesem Band, S. 275–281, hier S. 275: „symbolische Kommunikation in, neben oder trotz gesellschaftlichen Wertesystemen?“

16 Einleitung Rolle zukommt. Jede Gesellschaft vergewissert sich fortlaufend der Gültigkeit von Werten und der Stabilität von Normen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch symbolisches Handeln, das die Werte und Normen in momenthaft verdichteter und sinnlich wahrnehmbarer Form präsent macht. Die Macht des Symbolischen, mit der eine bestehende Ordnung den Individuen immer schon gegenübertritt, schafft oder verstärkt affektive Bindungen und Wertüberzeugungen, die jeder rationalen Begründung vorausliegen. Sie lässt die grundlegenden Kategorien, auf denen eine soziale Ordnung beruht, gemeinhin als fraglos gegeben erscheinen – was nicht heißt, dass diese sich grundsätzlich der Reflexion entziehen. Ebenso wenig heißt es, dass symbolische Kommunikation nicht auch zur Untergrabung und Zerstörung einer Ordnung, ihrer Werte und Normen dienen kann. Als hilfreich für die Fragestellungen des Münsteraner Sonderforschungsbereichs hat sich ein Kommunikationsbegriff erwiesen, der jeden elementaren Kommunikationsakt als Einheit und zugleich Differenz von Information, Mitteilung und Verstehen definiert, das heißt, Kommunikation als grundsätzlich wechselseitiges Geschehen (und nicht als Senden einer Botschaft vom einen zum anderen) versteht.12 Die verbale Sprache ist nur eines von vielen Kommunikationssystemen, aber das komplexeste von allen. Kommunikation ist stets ein kollektives Phänomen; sie ist immer schon in einen sozialen Zusammenhang eingebettet und setzt voraus, dass es gewisse konstitutive Regeln, Vokabularien, Konventionen und Standardisierungen gibt, die die Beteiligten miteinander und anderen Mitgliedern einer Gruppe teilen und die manchmal bewusst und explizit, überwiegend aber unbewusst und implizit beherrscht werden. Diese Regeln sind nicht starr und unverfügbar, sondern können sich – merklich oder unmerklich, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, schleichend oder abrupt – durch die einzelnen Kommunikationsakte verändern. Kommunikation hat daher stets historischen Charakter. Die Thematisierung historischer Phänomene als Kommunikationsvorgänge ist keineswegs trivial oder selbstverständlich, sondern lässt die Phänomene in einem anderen Licht erscheinen. Der scheinbare Gegensatz zwischen individuellem Handeln und überindividuellen Strukturen löst sich kommunikationstheoretisch in ein zirkuläres Wechselverhältnis auf: Die Strukturen treten dem Einzelnen einerseits als immer schon objektiv Vorgegebenes gegenüber; andererseits müssen sie in jedem einzelnen kommunikativen Akt stets subjektiv aufs Neue begründet und in Geltung gesetzt werden. Die Folgen die12 In Anlehnung an Niklas Luhmann, Was ist Kommunikation?, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 113–124; vgl. StollbergRilinger, Symbolische Kommunikation (wie Anm. 10).

Einleitung

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ser Perspektive für die Geisteswissenschaftler sind tiefgreifend: Was ehemals als ‚objektive‘ Gegebenheit beschrieben wurde, erscheint nun als Geflecht von Kommunikationsakten; was ehemals als feste Institution erschien, löst sich nun auf in kommunikative Praktiken; wo ehemals die Aufmerksamkeit eher den Motiven und Folgen des Handelns galt, da rückt jetzt der Modus eines Aktes selbst ins Zentrum. Geht man von einem weiten Symbolbegriff aus, so ist die Rede von ‚symbolischer Kommunikation‘ eine Tautologie. Kommunikation ist insofern immer symbolisch, als man sich stets durch Symbole (verstanden als Zeichen im weitesten Sinne) mitteilt – seien es sprachliche (gesprochene oder geschriebene), seien es nichtsprachliche Zeichen, also Gesten, Bilder, Gegenstände, Verhaltensweisen usw. Grundsätzlich kann alles zum Zeichen werden, indem es mit einer Mitteilungsabsicht verbunden und entsprechend verstanden wird. Versteht man ‚symbolisch‘ als ‚zeichenhaft‘ im diesem weiten Sinne, so ist jeder Kommunikationsakt ein symbolischer Vorgang. Um den Gegenstandsbereich des Sonderforschungsbereichs genauer abzugrenzen, hat es sich daher als sinnvoll erwiesen, ‚symbolisch‘ in einem engeren Sinne zu fassen, nämlich als Gegenbegriff zu ‚abstrakt-begrifflich‘ einerseits und zu ‚instrumentell‘ andererseits. Zunächst zu der Gegenüberstellung von symbolischer versus abstraktbegrifflicher Kommunikation: Während abstrakt-begriffliche Kommunikation sich in zeitlich aufeinanderfolgenden Aussagesequenzen vollzieht, also im wörtlichen Sinne prozeduralen Charakter hat, aufgrund syntaktischer Verknüpfungsregeln hoch komplexe und abstrakte Aussagen ermöglicht und grundsätzlich auf Eindeutigkeit zielt, ist symbolische Kommunikation momenthaft-verdichtet, sinnfällig, mehrdeutig und unscharf, lässt also mehr Spielraum für Ambiguität, für unterschiedliche Assoziationen und Bedeutungszuschreibungen. Diese Gegenüberstellung ist wohlgemerkt nicht zu verwechseln mit derjenigen zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation. Zwar ist begrifflich-abstrakte Kommunikation an Sprache gebunden; das Umgekehrte gilt aber nicht: Sprachliche Kommunikation – ob mündlich oder schriftlich – lässt sich keineswegs auf begrifflich-abstrakte Aussagen reduzieren. Die spezifische Mehrdeutigkeit symbolischer Kommunikation muss keineswegs als Nachteil verstanden werden. Die Arbeit des Sonderforschungsbereichs hat vielmehr gezeigt, was symbolische Kommunikation leistet, wenn sie Verpflichtungen, Werte und Normen vergegenwärtigt und bekräftigt, ohne sie explizit diskursiv auszubuchstabieren und argumentativ zu begründen. Ihre im Vergleich zu begrifflich-abstrakter Kommunikation größere Unschärfe

18 Einleitung und Ambiguität ermöglicht, dass die Deutungen der Beteiligten unsichtbar bleiben können, obwohl sie möglicherweise erheblich auseinanderfallen. Darin liegt eine spezifische Leistung symbolischer Kommunikation, die für die Stiftung stabiler sozialer Ordnungsstrukturen unerlässlich ist. So wird etwa bei politischen Ritualen Einmütigkeit demonstriert, auch wenn sie in der Sache kaum besteht, um auf diese Weise etwa kollektive Handlungsfähigkeit sicherzustellen oder das Gesicht der Beteiligten zu wahren. Bei der Analyse symbolischer Kommunikation kann es folglich nicht darum gehen, die eine, ‚einzig richtige‘ Bedeutung zu ermitteln,13 sondern vielmehr darum, die unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen und die möglicherweise damit verbundenen Deutungskonflikte zu rekonstruieren.14 Die besondere Ambiguität symbolischer Kommunikation kann von Vorteil sein, sie kann aber unter Umständen auch zum Problem werden und dazu führen, dass symbolisches Handeln zunehmend als ‚leerer Schein‘ empfunden wird. Das Eingangsbeispiel der Krönung Josephs II. eignet sich wiederum dazu, das zu veranschaulichen. Rituale kennzeichnet es ja zum einen, dass ihre äußere Form standardisiert und repetitiv ist, das heißt, dass sie über die Zeit hinweg relativ stabil bleiben (können), auch wenn sich der soziale Kontext vollkommen verändert,15 und zum anderen, dass sie performativen Charakter haben, also bewirken, was sie in äußerlichen symbolischen Formen abbilden und bezeichnen. Dabei handelt es sich um eine elementare soziale Wirkung von face-to-face-Kommunikation, auf der vormoderne gesellschaftliche Ordnung wesentlich beruhte: Äußerlich sichtbares Handeln, dem im Rahmen eines kollektiven Codes eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird, stiftet oder bekräftigt wechselseitige Erwartungen zwischen den Beteiligten.16 Denn es macht alle Anwesenden, Akteure wie Zuschauer, wechselseitig zu Zeugen 13 Vgl. etwa die Vielfalt der Bedeutungen, die die mittelalterlichen Juristen der vorgeschriebenen Sitzhaltung des Richters zuschrieben, wie Susanne Lepsius, Das Sitzen des Richters als Rechtsproblem, in diesem Band, S. 109–130, zeigt. Auf die ‚richtige‘ Bedeutung kam es offensichtlich nicht an, sondern vielmehr auf die kommunikative Funktion, die das Sitzen erfüllte. 14 Vgl. auch den Sammelband Barbara Stollberg-Rilinger / Thomas Weller (Hgg.), Wertekonflikte – Deutungskonflikte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 19.–20. Mai 2005 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 16), Münster 2007. 15 Vgl. zu diesen Formen des Wandels etwa die Bemerkungen von Peter Oestmann, Symbolik und Formalismus im ungelehrten mittelalterlichen Gerichtsverfahren, in diesem Band, S. 95– 109. Andere Konstellationen historischen Wandels symbolischer Kommunikation diskutieren vor allem Frank Rexroth, Transformationen des Rituellen. Überlegungen zur ‚Disambiguierung‘ symbolischer Kommunikation während des langen 12. Jahrhunderts, in diesem Band, S. 69–92 und Christian Windler, Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis in der Frühen Neuzeit. Erträge neuer Forschungen, in diesem Band, S. 161–185. 16 Dazu grundlegend die Arbeiten von Gerd Althoff, etwa: ders., Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in: ders., Spielregeln

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dessen, was da vor aller Augen und Ohren symbolisch ausgesagt wird. Schon die bloße Teilnahme an einem solchen Akt gilt als stillschweigender Konsens. Will man die Verbindlichkeit der symbolischen Botschaft verhindern, so muss man dem Akt fernbleiben oder demonstrativ dagegen protestieren. Der symbolisch-rituelle Akt ist also eine soziale Tatsache und die Beteiligten tun in der Regel gut daran, sie zur Prämisse ihres zukünftigen Handelns zu machen. Der springende Punkt ist: Auf die Intention, die innere Einstellung und Überzeugung derer, die da handeln, kommt es zunächst einmal nicht an. Es gilt, was vor aller Augen gezeigt wird, und nicht, was man im Stillen dabei denken mag. Das heißt aber auch, dass für die Beteiligten schlechthin nicht wahrnehmbar ist, ob der Konsens, den sie gemeinsam symbolisch aufführen, eine bloße Konsensfassade ist oder nicht. Darauf beruht einerseits die besondere Leistungskraft symbolisch-rituellen Handelns: Es entlastet in einem gewissen Maße von den – bekanntlich schwankenden, uneinheitlichen und unberechenbaren – inneren Einstellungen der Beteiligten. Doch darin liegt zugleich auch eine Gefahr. Denn wenn die symbolischrituelle Aufführung bestimmter Normen und Werte über die Zeit hinweg gleich bleibt, während das Handeln abseits des Aufgeführten ganz anderen Maximen folgt, dann werden die Aufführungen allmählich ‚leer‘. Doch sie können zugleich noch eine ganze Weile über das Fehlen der eigentlich dargestellten und erwarteten inneren Dispositionen hinwegtäuschen. Es kann eine Weile dauern, bis bemerkt und offen reflektiert wird, dass die symbolischen Akte nur noch äußere Form sind, dass ihnen keine innere Überzeugung mehr entspricht und dass sich tatsächlich kaum mehr jemand in seinem Handeln daran orientiert. Erst wenn das Spannungsverhältnis offensichtlich wird und offene Konflikte ausbrechen, wird ausgesprochen, dass die Rituale und Zeremonien bestenfalls Theater, schlimmstenfalls Irreführung und Betrug sind, und es kommt zu dem eingangs beschriebenen Phänomen des offenen Antiritualismus, der ein Kennzeichen normativer Krisen und institutioneller Umbruchphasen ist. So war es im Falle des Römisch-deutschen Reiches im ausgehenden 18. Jahrhundert;17 so war es beispielsweise auch im französischen Ancien Régime oder im spätmittelalterlichen Byzanz. Es wäre jedoch falsch, solche besonderen Konstellationen mit den Wirkungsweisen symbolisch-ritueller Kommunikation ganz allgemein zu verwechseln und eine generelle Spannung oder gar einen Gegensatz zwischen Symbolik und ‚eigentlicher‘ Realität der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 229–257; ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003. 17 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, S. 227–297.

20 Einleitung anzunehmen.18 Politisch-soziale Realität ist unabhängig von ihrer Darstellung und Wahrnehmung durch die Beteiligten gar nicht zu fassen. Vielmehr ist es sinnvoller, zwischen zweierlei Realitäten und ihren Erscheinungsformen zu unterscheiden. Denn auch der aufgeführte ‚bloße Schein‘ ist ja eine soziale Tatsache, und auch die ‚eigentliche‘ Politik bedient sich symbolischer Mittel. Und gerade Fälle von spannungsvoller ‚doppelter Realität‘ können aus historischer Perspektive besonders aufschlussreich sein.19 Aber auch wenn der ‚Realitätsgehalt‘ von rituellen und zeremoniellen Akten nicht mehr prinzipiell bestritten wird, so zieht diese Anerkennung offenbar häufig ein neues Missverständnis nach sich. Dieses besteht in der Annahme, dass die kommunikativen Prozesse der Symbolerzeugung, -verwendung und -veränderung zwar eine bestimmte ‚Realität‘ erzeugen, diese aber gegenüber der ‚Realität‘ von Macht, Interessen und Entscheidungshandeln weniger relevant sei oder im schlimmsten Fall sogar zur Verschleierung dieser letztlich ausschlaggebenden Faktoren beitrage. Woher aber rührt dieses Missverständnis? Nimmt man das Anliegen dieser Kritik ernst und fragt danach, worauf sie beruht, so stößt man immer wieder auf die tief verwurzelte Dichotomie von ‚harten‘ und ‚weichen‘ Faktoren. Diese metaphorische Unterscheidung bildet den meist impliziten Kern fast aller Argumente, die darauf zielen, die kommunikativen Prozesse der Produktion von Sinn und Symbolen in ihrer Bedeutung abzuwerten oder einzugrenzen: die ‚harten‘ Fakten der Macht oder des Marktes einerseits, die ‚weichen‘ Faktoren der Kultur oder der Kommunikation andererseits.20 Dieser Dualismus kann ganz unterschiedlich argumentativ eingesetzt werden, wobei zwei Verwendungsweisen hervorstechen. Eine erste Konkretisierung bezieht sich auf die in sozialen Austauschprozessen verwendeten Güter, die – in Anwendung des Schemas ‚hart‘/‚weich‘ – grundlegend in materielle und immaterielle Güter unterteilt werden. Die Schlussfolgerung lautet dann meist, dass immateriellen Gütern wie Ehre oder Rang zwar Relevanz in sozialen Prozessen zukomme, diese aber durch die Wirkmächtigkeit der materiellen, also ‚harten‘ und als unabhängig von sozialen Konstruktionsleistungen konzipierten Güter wie Land oder Geld begrenzt 18 Entsprechend der Gegenüberstellung von Kultur versus Politik oder Herrschaftsrepräsentation versus ‚Realpolitik‘; in diesem Sinne Heinz Schilling, Symbolische Kommunikation und Realpolitik der Macht. Kommentar zur Sektion „Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis in der Frühen Neuzeit“, in diesem Band, S. 187–198. 19 Vgl. den Hinweis auf mögliche Spannungen zwischen der Ordnung, die durch symbolische Kommunikation, und der Ordnung, die durch Ressourcenflüsse hergestellt wird, von Simon Teuscher, Zuerst die Herrschaft und dann der Markt? Kommentar zur Sektion „Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln“, in diesem Band, S. 419–425. 20 Vgl. exemplarisch Andreas Rödder, Klios neue Kleider. Theoriedebatten um eine Kulturgeschichte der Politik in der Moderne, in: Historische Zeitschrift 283, 2006, S. 657–688.

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oder sogar dominiert werde. So warnte ein Rezensent eines in der Schriftenreihe „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme“ erschienenen Bandes davor, das „Extrembild eines ständigen, vornehmlich auf symbolischer Ebene ausgetragenen Ehr- und Abgrenzungskampfes“ zu zeichnen, und erwartete bessere Ergebnisse dort, „wo sich fundamentale Prozesse sozialer Ungleichheit als Verteilungskonflikte um symbolische und höchst irdische Güter interpretieren lassen“.21 ‚Höchst irdische’ Güter sollen also keine symbolischen Komponenten haben. Eine zweite Konkretisierung der ‚hart‘/ ‚weich‘-Dichotomie findet sich darüber hinaus in der Unterscheidung von objektiven und subjektiven Strukturen, aus der die Behauptung gefolgert wird, das Symbolische in all seinen Formen sei tatsächlich nur für subjektive, von der Intentionalität der Akteure abhängige Strukturen von Bedeutung: „Ökonomisches Kapital“, so heißt es dann etwa, „folgt in entwickelten Gesellschaften der Marktlogik. Dagegen sind soziales und kulturelles Kapital in soziale Interaktions- und Kommunikationsprozesse eingebunden.“22 Aus dieser Perspektive wären also sowohl immaterielle Güter wie auch subjektive Wert- und Sinnsysteme als ‚weich‘ anzusehen und damit als ‚nur symbolisch‘, das heißt: als weniger relevant einzuschätzen. Das Denken in Dualismen ist ein fester Bestandteil dessen, was man den ‚gesunden Menschenverstand’ nennt, und wird daher nicht nur häufig angewandt, sondern erscheint oftmals so simpel wie überzeugend.23 Die Argumente, die die Unabhängigkeit bestimmter gesellschaftlicher Mechanismen oder Güter von kommunikativen Symbolisierungsleistungen behaupten, bedienen sich eben dieser ‚natürlichen‘ Interpretationsrahmen, was ihre Zurückweisung so schwierig macht.24 Ein guter Teil der ‚dualistischen‘ Kritik erscheint aus Sicht der am Sonderforschungsbereich beteiligten Forscher dennoch als Missverständnis der verwendeten Konzepte und Prämissen. Es resultiert daraus, dass ein anderer, wesentlich engerer Kultur- und Symbolbegriff unterstellt wird, als er der gemeinsamen Arbeit tatsächlich zugrunde lag. Unter ‚Kultur‘ wurde die Gesamtheit der kollektiv geteilten symbolischen Praktiken und Deutungska21 Nicolas Rügge, Rezension zu: Marian Füssel / Thomas Weller (Hgg.), Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft, Münster 2005, in: H-Sozu-Kult, 23.12.2005, (zuletzt besucht am 27.07.2013). 22 Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, S. 41. 23 Zum Problem des ‚gesunden Menschenverstandes‘ vgl. Clifford Geertz, Common Sense as a Cultural System, in: ders., Local Knowledge, New York 1983, S. 73–93. 24 Zur so genannten ‚natürlichen Einstellung‘ vgl. Alfred Schütz / Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, S. 27–50.

22 Einleitung tegorien verstanden, die die Wahrnehmung und das Handeln der Einzelnen in einer Gesellschaft leiten. Die symbolischen Codes einer Kultur – allen voran die verbale Sprache – haben dabei zugleich subjektiven und objektiven Charakter. Sie treten den Einzelnen einerseits immer schon als fertige Gegebenheiten entgegen, sie müssen aber andererseits stets aufs Neue von den Einzelnen angeeignet und erzeugt werden.25 Die dichotomische Gegenüberstellung von ‚harten‘ – materiellen oder objektiven – Tatsachen und ‚weichen‘ – immateriellen und subjektiven – Werten und Symbolen erscheint aus dieser Sicht als falsch. Daher war es ein zentrales Anliegen, gerade die Gegenüberstellungen von ‚symbolischer‘ und ‚realer‘ Politik, von Schein und Sein, von Deutungssystemen einerseits und Macht-, Herrschafts- und Interessenstrukturen andererseits aufzubrechen, die fundamentale Rolle symbolischer Praktiken bei der Konstitution politischer und sozialer Institutionen zu analysieren, Deutungsmacht als essentiellen Bestandteil politischer Macht ernst zu nehmen, Austauschverhältnisse zwischen materiellen und immateriellen Gütern zu untersuchen. Die Relevanz materieller, physischer Tatsachen in der Geschichte sollte keineswegs geleugnet werden. Vielmehr galt es deutlich zu machen, dass physische Tatsachen erst durch Geltungszuschreibungen zu sozialen Tatsachen werden.26 Das bedeutet, dass soziale Phänomene eben nicht unabhängig von den Wahrnehmungsmustern, Ordnungskategorien und Sinnzuschreibungen der Akteure selbst angemessen beschrieben werden können. Auch die ‚harten‘ Faktoren historischer Prozesse hängen, mit anderen Worten, immer von gesellschaftlichen Konstruktionsleistungen ab, die in Kommunikationsprozessen hervorgebracht werden. Auch sie bedürfen daher zu ihrem angemessenen Verständnis der kulturwissenschaftlichen Analyse. Zentral für eine solche Analyse ist die Unterscheidung zwischen symbolischen und instrumentellen Aspekten des Handelns. Instrumentell ist ein Handeln, sofern es sich auf die Erreichung eines Zweckes richtet, der jenseits der Handlung selbst liegt; symbolisch ist es, insofern es Sinn stiftet, einen Sinn, der sich bereits im Vollzug der Handlung selbst realisiert und dabei zeichenhaft über sich selbst hinaus auf ein kollektives Bedeutungssystem verweist. Die begriffliche Unterscheidung zwischen symbolischem und instrumentellem Aspekt dient wohlgemerkt nicht der Klassifikation verschiedener Handlungen. Jede soziale Handlung, vom Hantieren mit Messer und Gabel bis zur 25 Vgl. grundlegend Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 192003, S. 49–98. 26 Vgl. etwa John R. Searle, The Construction of Social Reality, Harmondsworth u. a. 1995, dt. Übersetzung u. d. T. Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Reinbek bei Hamburg 1997.

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Verabschiedung eines Gesetzes, lässt sich vielmehr in der Regel unter beiden Aspekten betrachten.27 Damit ist die zweite Bedeutungsvariante der Formulierung ‚Alles nur symbolisch?‘ angesprochen. Um das Eingangsbeispiel wieder aufzugreifen: Auch in einem wertneutralen symboltheoretischen Sinne kann man sagen, dass eine Adventusprozession wie die Josephs II. ‚nur symbolisch‘ gewesen sei, nämlich in dem Sinne, dass sie nahezu ausschließlich symbolischen – und nicht instrumentellen – Charakter gehabt habe. Der feierliche Einzug in Frankfurt war zweifellos ein Akt nahezu rein symbolischen Handelns. Die politischsoziale Symbolik überwucherte den bescheidenen instrumentellen Kern fast vollkommen. Es ging in diesem Fall zwar auch – in instrumenteller Hinsicht, sozusagen pragmatisch – darum, von einem Ort vor den Toren Frankfurts in die Stadt zu gelangen, aber das hätte man auch wesentlich einfacher haben können. Der ganze Zug war vielmehr ein ausgeklügeltes, zuvor in allen Details genau ausgehandeltes und symbolisch hoch aufgeladenes Geschehen, bei dem jedes Pferd, jede Kutsche, jede Livree und vor allem die Anordnung und Reihenfolge der Personen eine relativ präzise lesbare Bedeutung hatte, nämlich das Verhältnis zwischen Kaiser, König, Kurfürsten, Fürsten und Ständen des Reiches darzustellen und damit zugleich die elementaren Verfassungsstrukturen des Reiches aufs Neue mit Leben zu erfüllen, „das durch so viele Pergamente, Papiere und Bücher beinahe verschüttete Deutsche Reich wieder für einen Augenblick lebendig“ zu machen.28 Der Sinn des Ganzen realisierte sich im Geschehen selbst. In diesem Sinne war es ‚nur symbolisch‘. Das Gegenstandsfeld des Sonderforschungsbereichs beschränkte sich nun aber keineswegs auf solche im doppelten Sinne ‚nur‘ symbolischen Handlungen, wie es der Adventus Josephs II. war. Im Laufe der Arbeit hat sich die Perspektive vielmehr sehr grundsätzlich erweitert. Die Gegenüberstellung ‚symbolisch versus instrumentell‘ bezieht sich, wie erwähnt, auf unterschiedliche Aspekte allen sozialen Handelns. Ein und derselbe Akt ist nicht entweder symbolischen oder instrumentellen Charakters, sondern lässt sich in der Regel unter beiden Hinsichten betrachten. Das Verhältnis dieser beiden Dimensionen zueinander kann allerdings sehr unterschiedlich sein: Es gibt Akte, die nahezu gar keine instrumentelle Dimension haben, sondern eben rein symbolisch zu verstehen sind, und es gibt – am anderen Ende eines breiten Spektrums – solche, die nahezu rein instrumentell sind und fast gar keine symbolische Dimension aufweisen. Wenn man das in Rechnung stellt, rücken 27 Dazu grundlegend anhand eines historischen Beispiels: Matthias Köhler, Strategie und Symbolik. Verhandeln auf dem Kongress von Nimwegen (Externa 3), Köln u. a. 2011. 28 Goethe, Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 3), S. 183.

24 Einleitung noch ganz andere Gegenstände ins Beobachtungsfeld als nur öffentliche Inszenierungen, Zeremonien, Rituale, Feste und Feiern. Vielmehr wird grundsätzlich alles soziale Handeln unter dem Gesichtspunkt seiner symbolischen Funktion thematisierbar.29 Das ist besonders erhellend gerade im Hinblick auf solche Phänomene, die man klassischerweise als rein pragmatisch-instrumentell zu betrachten gewohnt ist. Ich nenne nur ein paar Beispiele aus den Projektarbeiten: So hat der Umgang mit Schrift, etwa die Ausfertigung und Übergabe einer Urkunde, wesentlich symbolische Dimensionen; das haben Hagen Keller, Christoph Dartmann und Christoph F. Weber vielfältig gezeigt.30 Politische Wahlen sind keineswegs nur instrumentelle Verfahren zur Ermittlung von Personen für Ämter, sondern auch symbolische Akte, die implizite Botschaften enthalten, etwa über die Kompetenz der Wähler, die Leitwerte der politischen Ordnung usw.; das ist in mehreren Projekten, z.B. von Günther Wassilowsky, Thomas Weller oder Silke Hensel, gezeigt worden.31 Ständische Beratungsverfahren dienten nicht nur instrumentell zur Herstellung einer bestimmten Entscheidung, sondern auch zur symbolischen Darstellung des Beratungs- und Entscheidungsprozesses selbst und damit der Legitimation seines Ergebnisses.32 Es ließe sich noch vieles mehr anführen. Selbst Gegenstände, die auf den ersten Blick ganz der Welt der physischen Zwänge und Bedürfnisse anzugehören scheinen, las29 Vgl. dazu auch Tim Neu, Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln. Theoretische Perspektiven, in diesem Band, S. 401–418. 30 Vgl. etwa Hagen Keller, Schriftgebrauch und Symbolhandeln in der öffentlichen Kommunikation. Aspekte des gesellschaftlich-kulturellen Wandels vom 5. bis zum 13. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 37, 2003, S. 1–24; ders., Die Herrscherurkunden. Botschaften des Privilegierungsaktes – Botschaften des Privilegientextes, in: Comunicare e significare nell’alto medioevo, Spoleto 2005, Bd. 2, S. 231–283; Christoph Dartmann, Schrift im Ritual. Der Amtseid des Podestà auf den geschlossenen Statutencodex der italienischen Stadtkommune, in: Zeitschrift für historische Forschung 31, 2004, S. 169–204; Christoph Dartmann / Thomas Scharff / Christoph Friedrich Weber (Hgg.), Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur (Utrecht Studies in Medieval Literacy 18), Turnhout 2011. – Vgl. auch die Bemerkungen von Joachim Rückert, Kommentar zur Sektion „Symbolische Kommunikation im Recht des Mittelalters“, in diesem Band, S. 131–137. 31 Christoph Dartmann / Günther Wassilowsky / Thomas Weller (Hgg.), Technik und Symbolik vormoderner Wahlverfahren (Historische Zeitschrift Beiheft N. F. 52), München 2010; Günther Wassilowsky, Die Konklavereform Gregors XV. (1621/22). Wertekonflikte, symbolische Inszenierung und Verfahrenswandel im posttridentinischen Papsttum (Päpste und Papsttum 38), Stuttgart 2010; Silke Hensel (Hg.), in Zusammenarbeit mit Ulrike Bock / Katrin Dircksen, Constitución, poder y representación. Dimensiones simbólicas del cambio político en la época de la independencia mexicana (Tiempo emulado 16), Madrid/Frankfurt a. M. 2011. 32 Tim Neu / Michael Sikora / Thomas Weller (Hgg.), Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 27), Münster 2009; Barbara Stollberg-Rilinger / André Krischer (Hgg.), Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 44), Berlin 2010.

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sen sich unter dem Aspekt der symbolischen Kommunikation thematisieren, nämlich physische Gewalt und ökonomischer Austausch – auch wenn das im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 496 kaum geschehen ist.33 Kurzum: Nicht ‚alles nur symbolisch‘, aber ‚alles auch symbolisch‘.

II. Wenn man davon ausgeht, dass alle sozialen Phänomene immer auch eine symbolische Dimension haben, so stellt sich allerdings die Frage, welche Phänomene man tatsächlich besser versteht und inwiefern man sie besser versteht, wenn man diesen Aspekt in den Vordergrund rückt. Wo ist diese Perspektive unerlässlich, wo fruchtbar, wo steht sie dem Verständnis des Gegenstandes womöglich eher im Weg? Damit sind die Grenzen der Erforschung symbolischer Kommunikation und zugleich die Grenzen der Interdisziplinarität angesprochen. Die Zusammenarbeit verschiedener Fächer zeigt, dass es nicht überall gleichermaßen sinnvoll ist, nach symbolischer Kommunikation zu fragen. Im Vergleich der verschiedenen Sektionen dieses Bandes, die jeweils einen bestimmten disziplinären Zugang repräsentieren (aber keineswegs alle im Sonderforschungsbereich vertretenen Fächer umfassen), wird das deutlich. Der Nutzen des Konzepts für die Geschichtswissenschaft ist mittlerweile nicht mehr zu bestreiten. Die strukturbildende, ordnungsstiftende, auch verändernde Wirkung symbolischer Kommunikation und ihre spezifische Leistungskraft sind an vielen verschiedenen Beispielen nachgewiesen worden.34 Es hat sich gezeigt, dass viele bisher übersehene oder vernachlässigte Phänomene nur so zu verstehen sind.35 Von den Vorteilen der Mehrdeutigkeit und Vagheit symbolischen Handelns im Vergleich zu begrifflich-abstrakten Aussagen war oben schon die Rede. In der Sektion I (Gerd Althoff, Steffen Patzold, Frank Rexroth) wird die Frage nach der Ein- oder Mehrdeutigkeit 33 Vgl. dazu unten S. 29f. 34 Vgl. die angehängte Liste der im SFB 496 entstandenen Publikationen. 35 Vgl. die Forschungsüberblicke von Frank Rexroth, Rituale und Ritualismus in der historischen Mittelalterforschung. Eine Skizze, in: Hans-Werner Goetz / Jörg Jarnut (Hgg.), Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, München 2003, S. 391–406; Ulinka Rublack, Erträge der angloamerikanischen Ritualforschung. Zugleich eine Diskussion von Edward Muirs „Ritual in Early Modern Europe“, in: Helmut Puff / Christopher Wild (Hgg.), Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen 2003, S. 149–164; Walter Pohl, Staat und Herrschaft im frühen Mittelalter: Überlegungen zum Forschungsstand, in: ders. / Stuart Airlie / Helmut Reimitz (Hgg.), Staat im frühen Mittelalter (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006, S. 9–38; Franz-Josef Arlinghaus, Rituale in der historischen Forschung der Vormoderne, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 31, 2009, S. 274–291.

26 Einleitung rituellen Handelns noch einmal aufgeworfen und im Zusammenhang mit dem Charakter der rituellen ‚Spielregeln‘ und ihrem Wandel im Mittelalter erörtert. Nicht nur die symbolischen Botschaften der Rituale, sondern auch die Regeln, denen rituelles Handeln folgte, waren zunächst implizit und unausgesprochen. Mit Anthony Giddens lassen sich die ‚Spielregeln der Rituale‘ präziser als nicht-diskursive Handlungsregeln begreifen, die durch Praxis eingeschliffen und habitualisiert sind. Die Beiträge fragen danach, was die zunehmende Diskursivierung der Regeln und die Vereindeutigung der rituellen Botschaften mittels schriftlicher Verträge bewirkte, was beides für Folgen hatte und wie sich dies mit anderen strukturellen Wandlungsvorgängen des 12. Jahrhunderts in Beziehung setzen lässt. Im Bereich der Rechtsgeschichte (Sektion II: Peter Oestmann, Susanne Lepsius, Joachim Rückert) ist die Analyse symbolischer Kommunikation weit weniger selbstverständlich, der Rückgriff auf kulturanthropologische Theorien weniger üblich als in der allgemeinen Geschichte; auch werden die entsprechenden Begriffe anders verwendet. Das Potential interdisziplinärer Verständigung ist noch bei weitem nicht ausgeschöpft. Die historische Reichweite des ‚archaischen Rechtsformalismus‘ wird mittlerweile von den Juristen wesentlich skeptischer beurteilt als zu Zeiten von Jakob und Wilhelm Grimm. Andererseits wird den rituellen Aspekten gerichtlicher – auch gelehrter – Verfahren ganz allgemein größere Aufmerksamkeit geschenkt.36 Die Beiträge lassen die wichtige Funktion ritueller Formen auch jenseits von ‚magischem‘ Formalismus erkennen. Wenn etwa die mittelalterlichen Gelehrten das Sitzen des Richters als unerlässlich für die Gültigkeit des Verfahrens ansahen, während sie sich zugleich über die symbolische Bedeutung dieser Körperhaltung keineswegs einig waren, so zeigt dies, dass es nicht um den Symbolgehalt, sondern um die performative Funktion der rituellen Formen ging.37 Diese Funktion kann man vor allem darin sehen, dass ein Akt auf diese Weise symbolisch aus der Alltagswelt herausgehoben und als Akt der Recht36 Vgl. dazu Lars Ostwaldt, Was ist ein Rechtsritual?, in: Reiner Schulze (Hg.), Symbolische Kommunikation vor Gericht in der Frühen Neuzeit (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 51), Berlin 2006, S. 125–152; Gerhard Dilcher, Mittelalterliches Recht und Ritual in ihrer wechselseitigen Beziehung, in: Frühmittelalterliche Studien 41, 2007, S. 297– 316; immer noch hilfreich auch die frühe Studie von Bernhard Rehfeldt, Recht und Ritus, in: Hans Carl Nipperdey (Hg.), Das deutsche Privatrecht in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Heinrich Lehmann zum 80. Geburtstag, Berlin 1956, S. 45–61. 37 Vgl. Marie-Theres Fögen, Ritual und Rechtsfindung, in: Corina Caduff / Joanna PfaffCzarnecka (Hgg.), Rituale heute. Theorien, Kontroversen, Entwürfe, Berlin 1999, S. 149–163; Franz-Josef Arlinghaus, Gesten, Kleidung und die Etablierung von Diskursräumen im städtischen Gerichtswesen (1350–1650), in: Johannes Burkhardt / Christine Werkstetter (Hgg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit (Historische Zeitschrift Beiheft N. F. 41), München 2005, S. 461–498.

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sprechung markiert wurde, was der Ausdifferenzierung des Rechts als eines autonomen sozialen Funktionssystems mit spezifischen sozialen Rollen Vorschub leistete. Ähnliches lässt sich für die rituellen Elemente anderer, etwa ständischer Verfahren ebenfalls zeigen.38 Auch im Bereich der frühneuzeitlichen Diplomatiegeschichte hat der cultural turn – wenn auch etwas verspätet – einen Perspektivwechsel herbeigeführt und dazu veranlasst, die symbolisch-rituellen Formen der politischen Kommunikation ernst zu nehmen (Sektion III: Lucien Bély, Christian Windler, Heinz Schilling). Das Gesandtschaftswesen vor allem des 17. Jahrhunderts ist ein aufschlussreiches Forschungsobjekt, weil in dieser Zeit eine unerhörte Verfeinerung und Präzisierung des diplomatischen Zeremoniells zu beobachten ist und die Frage nach den Gründen für diese Entwicklung sich geradezu aufdrängt. Wenn man dem nachgeht, so zeigt sich, dass die unzähligen Zeremonialkonflikte unter Gesandten einer kompetitiven Logik folgten und strukturelle Gründe hatten. Die Hierarchie der vielen großen, mittleren und kleinen Potentaten war noch nicht von der Egalität der souveränen Staaten abgelöst worden; die politische Praxis hinkte der völkerrechtlichen Theorie hinterher. Die Folge waren zahllose Rang- und Rollenkonflikte der höchst ungleichen Akteure. Im Medium der zeremoniellen Ehrbezeugungen wurde nicht zuletzt die Frage ausgefochten, wer im vollen Sinne zum Kreis der souveränen Akteure gehörte und wer nicht. Das heißt selbstverständlich nicht, dass die Verfügung über materielle Ressourcen – Finanzen, Truppen, Territorien – keine Rolle gespielt hätte; es heißt aber, dass dieses ‚harte‘ Kapital symbolisch zur Geltung gebracht werden und sich in sichtbare Ehrerweise durch die anderen Potentaten, in Status und Reputation ausmünzen lassen musste, ja dass für die meisten Akteure gerade darin das höchste Ziel all ihrer Machtpolitik bestand. Das Zeremoniell verlor erst dann an Relevanz, als sich die Diplomatie „mehr und mehr von der persönlichen sozialen Schätzung der Akteure löste“ und zum professionalisierten Instrument der Staatsgewalt wurde.39 Ein historisches Gegenstandsfeld, bei dem es, mehr noch als bei der Diplomatie, auf den ersten Blick allein um ‚harte‘ materielle Tatsachen geht und nicht um ‚weiche‘ kulturelle Phänomene von Sinn und Bedeutung, ist 38 Vgl. die oben Anm. 24 zitierte Literatur sowie in diesem Band auch die Bemerkungen von Rexroth, Transformationen des Rituellen (wie Anm. 15), S. 90. 39 So in diesem Band Windler, Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 15), S. 173; vgl. auch Hillard von Thiessen / Christian Windler (Hgg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel (Externa 1), Köln u. a. 2010.

28 Einleitung physische Gewalt, die in diesem Band am Beispiel der Französischen Revolution behandelt wird (Sektion IV: Jean-Clément Martin, Christina Schröer, Jürgen Martschukat). Gerade dieses scheinbar rein physische Phänomen, so zeigen die Beiträge dieser Sektion, lässt sich aber ohne Berücksichtigung der symbolischen Dimension nicht angemessen verstehen. Zwar ist physische Gewalt zuerst einmal eine individuell und materiell erfahrene Realität und als solche nicht kommunizierbar. Doch darin erschöpft sie sich eben nicht. Die aktuelle Gewalt, die einem Opfer angetan wird, ist immer zugleich eine Botschaft, sei es an das Opfer selbst, sei es an Dritte; sie enthält immer auch die symbolische Drohung künftiger Gewalt. Die Grenze zwischen symbolischer Darstellung von Gewalt und tatsächlichen Gewaltakten ist daher fließend. Gewalt wirkt nicht nur aktuell und nicht nur gegenüber denen, die sie physisch erleiden, sondern stets auch darüber hinaus und gegenüber denen, die sie beobachten, imaginieren, erinnern oder erwarten. Das heißt: Schon der Gewaltakt selbst – und nicht erst die Kommunikation über Gewalt in Schriften, Bildern, Ritualen, Feiern usw. – hat eine kommunikative, symbolische Dimension. Dieser „performative Charakter von Gewalt“ (Martschukat) ist konstitutiv für jede Herrschaftsordnung, worauf im Deutschen schon die Doppeldeutigkeit des Wortes „Gewalt“ (für violentia einerseits und potestas andererseits) hinweist. Wenn man Gewalt als soziales und politisches Phänomen untersucht, kann man davon nicht absehen.40 Um die Grenzen symbolischer Kommunikation geht es in der Sektion V, die die Sicht der Musikwissenschaft geltend macht ( Jürgen Heidrich, Katelijne Schiltz, Laurenz Lütteken). An den Beispielen des musikalischen Rätsels und der Intermedialität zwischen Musik und Bild werden hier Grenzfälle thematisiert, in denen die Musik – oder die Notation – tatsächlich im engeren Sinne Zeichencharakter hat. Diese musikalischen Randphänomene machen ex negativo die kategorialen Unterschiede im ‚symbolischen‘ Charakter von Musik, Sprache oder Bildern nur desto deutlicher: Das musikalische Kunstwerk als solches ist einem hermeneutischen Verfahren nicht in dem gleichen Sinne zugänglich wie sprachliche Äußerungen, Zeremonien oder Rituale; die musikimmanente ‚Sprache‘, wenn man sie metaphorisch so nennen will, nimmt nur ganz marginal auf außermusikalische Referenzen Bezug. Laurenz Lütteken macht in diesem Zusammenhang auf ein Paradoxon aufmerksam: Einerseits kennzeichnet es die Autonomie des musikalischen Kunstwerks seit der Renaissance, dass es sich zunehmend aus seinen rituel40 Vgl. Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. 1996; Thomas Hauschild, Ritual und Gewalt. Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 2008.

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len sozialen Kontexten löst (und das heißt: an zeichenhafter Verweisqualität verliert), andererseits verdankt die Musik die Anfänge ihrer schriftlichen Aufzeichnung – und damit eine Voraussetzung ihrer Autonomie und Selbstreferentialität – gerade der Einbettung in Herrschaftsrituale. Für die Werke der bildenden Kunst gilt ebenfalls, dass sie an sozialem Zeichencharakter und ritueller Funktionalität in dem Maße verlieren, wie sie an künstlerischer Autonomie gewinnen. Das ist ein wesentlicher Grund für die Divergenzen zwischen genuin kunsthistorischen und kommunikationsgeschichtlichen Fragen an die Kunstwerke, wie die verschiedenen Beiträge der Sektion VI zur Kunstgeschichte ( Joachim Poeschke, Wolfgang Brassat, Klaus Krüger) deutlich machen. Für eine an der autonomen ästhetischen Qualität der Werke interessierte Forschung war die Rekonstruktion von deren zeremoniellen oder liturgischen Funktionen und Referenzen lange Zeit eher eine Marginalie. Klaus Krüger macht allerdings darauf aufmerksam, dass werkästhetische und historisch-kontextualisierende Herangehensweisen einander keineswegs gegenseitig ausschließen müssen. Sie lassen sich vielmehr verbinden, wenn man fragt, wie Bilder gerade mit genuin ästhetischen und formalen Mitteln zur eigenständigen Erzeugung von Sinn und Evidenz in der Lage sind. Von den durchlässigen Grenzen zwischen Liturgie, Spiel, Wettkampf, Theater und Fest in der Vormoderne handelt die literaturwissenschaftliche Sektion VII ( Jan-Dirk Müller, Doris Kolesch, Cornelia Herberichs). Für Passionsspiel, Turnier oder höfische Promenade gilt gleichermaßen, dass sie „Spektakel und realer Vollzug“,41 zeichenhafte Repräsentation und reale Präsenz zugleich waren. Die Beiträge zeigen, wie mit dem Wechsel der Realitätsebenen zwischen liturgischem bzw. politischem Akt einerseits und Schauspiel andererseits auf subtile Weise gespielt wurde. Deutlich wird auch, wie viel die Kulturwissenschaft im Allgemeinen und die Forschung zur symbolischen Kommunikation im Besonderen der Metaphorik des Theaters verdankt: Der cultural turn hat die „theatrale Dimension von Kultur“ (Herberichs) ins Bewusstsein gerufen und den Blick für den elementaren Inszenierungscharakter der sozialen Wirklichkeit geschärft, das heißt für die Tatsache, dass soziales Handeln stets eine Dimension des Darstellens und wechselseitigen Beobachtens besitzt. 41 So Jan-Dirk Müller, Symbolische Kommunikation zwischen Liturgie, Spiel und Fest, in diesem Band, S. 331–355. – Vgl. Christel Meier / Heinz Meyer / Claudia Spanily (Hgg.), Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 4), Münster 2004.

30 Einleitung Mit dem Themenkomplex ‚Wirtschaft‘ (Sektion VIII: Werner Freitag, Tim Neu, Simon Teuscher) geht es dann erneut, wie auch schon in den Sektionen zu Gewalt und Musik, um die Grenzen des Forschungskonzepts. Denn auch wenn die Wirtschaft immer noch vielen im Sinne der ‚hart‘/‚weich‘-Dichotomie als „hartes […] Institutionengefüge mit eigener Entwicklungsrhythmik“42 gilt, so belegen die Referate der Sektion deutlich, dass es die verschiedensten Möglichkeiten gibt, symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln aufeinander zu beziehen. So lassen sich Rituale und Zeremonien aus einer ökonomischen Perspektive als Mittel zur Senkung von Transaktionskosten verstehen, womit die instrumentelle Funktion von symbolischen Kommunikationsakten besser beschreibbar wird.43 Gleichzeitig zeigt sich, dass Sinnstiftung durch Symbolisierungen für die Produktion von Gütern, die Logik wirtschaftlichen Handelns und den Wandel von Wirtschaftssystemen eine Rolle spielt, da wirtschaftliches Handeln – wie jedes menschliche Handeln – immer auch sinnhaft und sinnorientiert ist.44 Angesichts dieser vielfältigen Verschränkungen plädiert Simon Teuscher dafür, von der Unterscheidung ‚Markt versus Herrschaft‘ überhaupt abzurücken, und verweist auf Erkenntnispotentiale, die sich erschließen lassen, wenn sich Wirtschafts- und Politikgeschichte „der ganzen Bandbreite der historischen Formen von Produktion, Konsum und Austausch öffnen und sich mit Ressourcenflüssen im weiten Sinn befassen“.45 Alles nur symbolisch? Kehrt man nun wieder zu dieser Eingangsfrage zurück, so lässt sich Folgendes festhalten: Die Arbeit des Sonderforschungsbereichs hat gezeigt, dass symbolische Kommunikationsformen im engeren Sinne, also Rituale, Zeremonien, Bilder, musikalische und theatralische Aufführungen, keineswegs ‚bloß‘ symbolisch, also gegenüber der ‚eigentlichen‘ Wirklichkeit irrelevant sind, sie nur sekundär abbilden oder gar verschleiern. Vielmehr stiften sie Sinn, das heißt, sie erschaffen die maßgeblichen sozialen Kategorien und Relationen, erhalten sie aufrecht, verändern sie oder setzen sie außer Kraft. Das ‚Nur-Symbolische‘ ist kein ‚leerer Schein‘, sondern konstitutiver Bestandteil der sozialen Wirklichkeit. Diese Erkenntnis begründete, wenn man so will, die Homogenität des Sonderforschungsbereichs, weil die realitätserzeugende Kraft symbolischer Kommunikation sich über 42 Hans-Ulrich Wehler, Von der Herrschaft zum Habitus, in: Die Zeit, 25.10.1996, Nr. 44, online verfügbar unter (zuletzt besucht am 27.07.2013). 43 Vgl. Werner Freitag, Städtischer Markt und symbolische Kommunikation, in diesem Band, S. 379–399. 44 Vgl. Neu, Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln (wie Anm. 34). 45 Teuscher, Zuerst die Herrschaft und dann der Markt? (wie Anm. 19), hier S. 421.

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alle Disziplingrenzen hinweg für die jeweiligen Fachgebiete der Teilprojekte nachweisen lässt. Damit ist gleichwohl nicht gesagt, dass man mit der Analyse der symbolischen Aspekte des Handelns immer schon die ganze Realität erfassen würde. Vielmehr legt die Unterscheidung von symbolischen und instrumentellen Aspekten es gerade nahe, für jeden Typ von Handlung im Einzelnen festzustellen, wie beide sich zueinander verhalten. Diese Unterscheidung ermöglicht es überhaupt erst, den Stellenwert von Symbolisierungen für verschiedene soziale Felder wie Politik, Recht, Kunst etc. herauszuarbeiten und ihren Wandel für die einzelnen Felder diachron wie auch synchron – im Vergleich der Felder untereinander – zu analysieren. Wie gesagt: Zwar ist keineswegs alles ‚nur symbolisch‘, aber (fast) alles ist immer ‚auch symbolisch‘. Die Frage, wie sich dieses ‚auch symbolisch‘ für weitere soziale Felder und/oder andere Epochen konkretisieren lässt, ist auch in Zukunft heuristisch sinnvoll und aller Wahrscheinlichkeit nach empirisch fruchtbar.

Gerd Althoff

Spielregeln symbolischer Kommunikation und das Problem der Ambiguität Beim Abschlusskolloquium eines Sonderforschungsbereichs bietet es sich an, zwei verschiedene Blickrichtungen einzunehmen. Sinnvoll ist die Vergewisserung über das Erreichte, die Erträge der geleisteten Arbeit benennt und zusammenfasst. Noch wichtiger ist aber die Herausstellung offener Fragen und ungelöster Probleme, auf die sich zukünftige Aufmerksamkeit richten sollte. Dem Verhältnis beider Aspekte versuche ich dadurch Rechnung zu tragen, dass ich ersteren kurz, den zweiten ausführlicher thematisiere. Im Zentrum meiner Ausführungen wird das Problem der Mehrdeutigkeit, der Ambiguität symbolischer Handlungen stehen. Mit dem Hinweis auf dieses Merkmal symbolischer Kommunikation hat man unter anderem ihre Eignung zur Stiftung von Ordnung in Frage gestellt.1 Die Frage nach dem Umgang mit Ambiguität ist jedoch jüngst – durch ein Buch des Islamwissenschaftlers Thomas Bauer – als eine für das Verständnis vormoderner Kulturen zentrale Frage ausgewiesen worden.2 Der vormoderne Islam, so Bauers aufregende These, entwickelte eine viel größere Ambiguitätstoleranz als Teile des modernen Islam. Diese Anregung gilt es auch für die europäische Mediävistik fruchtbar zu machen, die den Begriff der Ambiguität bisher kaum zum Verständnis mittelalterlicher Phänomene und Prozesse genutzt hat. Ambiguität ist meines Erachtens jedoch ein Schlüsselbegriff für die Beurteilung mittelalterlichen Verhaltens, denn nicht erst in der Moderne beginnt in vielen Bereichen der Kampf um Disambiguierung.3 Schon im Mittelalter war die Einsicht verbreitet, dass Ambiguität unangenehme Folgekosten mit sich bringt. Dies resultierte wohl nicht zuletzt aus der Erfahrung, dass es nicht ausreichte, durch eine symbolische Handlung Verhältnisse grundsätzlich zu klären. Diese generelle Klärung verhinderte nämlich nicht, dass im konkreten Fall Dissens darüber entstand, wozu man sich nun genau verpflichtet hatte. In den mittelalterlichen Ritualen wurden mit anderen Worten nur grundsätzliche Rege1

Vgl. Geoffrey Koziol, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France, Ithaca 1992, S. 307  ff. und die Hinweise auf die einschlägige ethnologische und historische Literatur in Anm. 82 ff. 2 Vgl. Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam, Berlin 2011. 3 Vgl. dazu Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005.

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lungen präsentiert; welche Rechte oder Verpflichtungen daraus im Einzelfall entstanden, blieb offen. Im Grundsätzlichen waren symbolische Handlungen also durchaus eindeutig; ihre Ambiguität resultierte daraus, dass unklar blieb, welche Konsequenzen die generelle Festlegung hatte. Ich hoffe mit der Betonung dieses Aspekts zu zeigen, dass auch am Ende von mehr als einem Jahrzehnt intensiver Arbeit am Thema der symbolischen Kommunikation noch interessante Fragen unbeantwortet und Einsichten möglich sind. Zunächst aber einige Bemerkungen zum Stand der Diskussionen auf dem Gebiet der symbolischen Kommunikation und der Rituale: Die Frage nach dem Verständnis symbolischer Kommunikation und der Spielregeln, die für sie galten, gehörte in den letzten beiden Jahrzehnten national und international unzweifelhaft zu den intensiv bearbeiteten Themen der Mediävistik.4 Durch diese Arbeiten dürften die Leistungskraft symbolischer Kommunikation und ihre Bedeutung bei der Stiftung und Aufrechterhaltung, aber auch bei der Veränderung und Störung oder sogar Zerstörung von Ordnung im Mittelalter nicht mehr grundsätzlich strittig sein. Es ist daher wohl kein großes Wagnis, thesenhaft einige grundsätzliche Erkenntnisse zu formulieren, die sich vor allem auf die Herrschaftsrituale des Mittelalters beziehen. Dazu biete ich vier Thesen mit knappen Erläuterungen und jeweils einigen Beispielen. These 1: Dass man im Mittelalter mit symbolischen und rituellen Handlungen bindende Versprechen in Bezug auf zukünftiges Verhalten abgab, die, wenn man so will, so bindend waren wie ein Vertrag, war vor 1980 der Forschung nicht bekannt. Heute rennt man mit dieser Vorstellung jedoch zumeist ziemlich weit offene Türen ein.5 Eine rituelle Handlung symbolisierte unter Umständen einen ganzen Kanon von Rechten und Pflichten. Es handelte sich um pars pro toto-Handlun4

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Aus der Vielzahl einschlägiger Arbeiten seien exemplarisch nur einige aus jüngster Zeit genannt, die die Breite des Themenspektrums verdeutlichen sollen: Claudia Garnier, Die Kultur der Bitte. Herrschaft und Kommunikation im mittelalterlichen Reich (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2008; Gerald Schwedler, Herrschertreffen des Spätmittelalters. Formen, Rituale, Wirkungen (Mittelalter-Forschungen 21), Stuttgart 2008; Klaus Schreiner u. a. (Hgg.), Rituale, Zeichen, Bilder. Formen und Funktionen symbolischer Kommunikation im Mittelalter (Norm und Struktur 40), Köln u. a. 2011; Barbara Stollberg-Rilinger / Thomas Weissbrich (Hgg.), Die Bildlichkeit symbolischer Akte (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 28), Münster 2010; Nils Holger Petersen u.  a. (Hgg.), The Appearances of Medieval Rituals. The Play of Construction and Modification, Turnhout 2004; Wim Blockmans / Antheun Janse (Hgg.), Showing Status. Representation of Social Positions in the Late Middle Ages (Medieval Texts and Cultures of Northern Europe 2), Turnhout 1999; Roy A. Rappaport, Ritual and Religion in the Making of Humanity (Cambridge Studies in Social and Cultural Anthropology 110), Cambridge 1999. Vgl. Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, S. 189 ff.

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gen, durch die komplexe Verhältnisse symbolisch verdichtet sozusagen auf den Punkt gebracht wurden. In dieser Verdichtung lag eine weitere unbestreitbare Leistung der rituellen Kommunikation, die sie anderen Kommunikationsarten überlegen machte, aber auch Folgekosten mit sich brachte. Wer etwa seine Hände beim Handgang in die Hände des Lehnsherrn legte, versprach mit dieser rituellen Handlung, zukünftig alle Verpflichtungen eines Lehnsmanns gegenüber diesem Herrn erfüllen zu wollen.6 Welche Verpflichtungen das im Einzelfall waren, wurde nicht thematisiert – das regelten die Gewohnheiten. In gleicher Weise symbolisierten Dienstleistungen wie das Tragen des Schwertes, der Dienst an der Tafel oder der Strator- und Marschalldienst die grundsätzliche Dienstbereitschaft desjenigen, der sie ausführte, gegenüber demjenigen, dem sie galten.7 Auch Herren und Könige gaben mit ihrem rituellen Verhalten solche Versprechen ab. Das geschah schon bei der Königserhebung, bei der dem Kandidaten symbolische Handlungen abverlangt wurden, die auf seine zukünftige Amtsführung bezogen waren.8 So übernahm er mit dem Empfang der Insignien bestimmte Verpflichtungen, er bewies mit symbolischen Akten von Milde und Barmherzigkeit, welche Tugenden er im Amt hochhalten wollte. Wie sehr man der Verbindlichkeit dieser Versprechen vertraute, ergibt sich aus der Tatsache, dass die Aussagen der rituellen Handlungen gerade im Frühmittelalter nicht zusätzlich abgesichert wurden, etwa durch schriftliche Fixierung in Verträgen. Ich werde gleich noch darauf zu sprechen kommen, welche Unsicherheiten dieser Art der Stiftung von Ordnung durch rituelle Handlungen inhärent waren. Man könnte nun leicht den Versprechenscharakter ritueller Handlungen an einem breiten Spektrum einschlägiger Beispiele aufzeigen: an Königserhebungen, Friedensschlüssen, Unterwerfungen, an Mählern und Festen, Einzügen, Prozessionen und Abschieden und einigem Anderen mehr. Ich belasse es jedoch bei dem allgemeinen Hinweis, dass die für die Zukunft verpflichtende Wirkung ritueller Handlungen zu einem Gutteil ihre Eignung als konstitutive Elemente mittelalterlicher Staatlichkeit begründet.

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S. dazu Karl-Heinz Spiess, Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter (Historisches Seminar, N. F. 13), Idstein 22009, S. 22 mit weiteren Hinweisen. S. dazu Gerd Althoff / Christiane Witthöft, Les services symboliques entre dignité et contrainte, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales 58,6, 2003, S. 1293−1318. Vgl. dazu bereits Hagen Keller, Die Investitur. Ein Beitrag zum Problem der „Staatssymbolik“ im Hochmittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 27, 1993, S. 51–86; Marion Steinicke / Stefan Weinfurter (Hgg.), Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich, Köln u. a. 2005.

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Hieraus erklärt sich auch die Renitenz, mit der manchmal eine solche Handlung verweigert oder verhindert wurde. Einen Präzedenzfall, wie ihn eine öffentlich durchgeführte rituelle Handlung darstellte, aus der Welt zu schaffen, war nicht nur im Frühmittelalter, sondern auch noch in der Frühen Neuzeit äußerst schwierig. Deshalb riskierte man unter Umständen lieber eine bewaffnete Auseinandersetzung als eine Handlung durchzuführen oder zu akzeptieren, mit deren Bedeutung man nicht einverstanden war.9 Da in bestimmten Situationen selbst Schweigen Zustimmung bedeutete, gab es das Phänomen des Sich-Entfernens, bevor unliebsame Handlungen stattfanden. Dies wurde entsprechend genau registriert.10 Man kann somit sagen, dass Rituale eine ständige Selbstvergewisserung der Akteure über die bestehenden Verhältnisse mit sich brachten. Die Akteure machten sich so gegenseitig und den Zuschauern klar, wie die Beziehungen untereinander geordnet und dass alle mit dieser Ordnung einverstanden waren. Man vergegenwärtige sich als Beispiel die Rituale eines Hoftages: Es fanden Rituale der Begrüßung und des Abschieds statt, gemeinsames Essen und Trinken, Prozessionen und Gabentausch. Sitzordnungen, Kleidung und Begleitung boten interpretationsfähige Zeichen, die Kundige zu lesen und zu verwerten verstanden, weil jede Handlung und jedes Zeichen einen Präzedenzfall abgeben konnte. Mitglieder der Führungsschichten hatten auf diesem Gebiete kundig zu sein, wenn sie sich behaupten wollten. Rituelles Verhalten funktionierte aber auch als Frühwarnsystem, wenn die Verhältnisse getrübt waren. Dann blieben nämlich die positiven Zeichen aus und es traten andere an ihre Stelle, es sei denn, man griff zum Mittel der dissimulatio. Auch den Zuschauern, die solchen Ritualen beiwohnten und sich nicht selten mehr oder weniger aktiv durch Jubel oder Protest an dem Geschehen beteiligten, kam eine wichtige Funktion zu: Sie wurden nämlich zu Zeugen der Handlungen, erhöhten so den Verbindlichkeitsgrad des Versprochenen und brachten mit einiger Wahrscheinlichkeit dieses Wissen in spätere Beratungen ein, wenn es etwa um die Frage ging, welche Rechte oder Pflichten aus dem rituell gezeigten Verhalten erwachsen waren. Schaut man sich die im Laufe des Früh- und Hochmittelalters von vielen Autoren beschriebenen Rituale, wie die der Königserhebung, des Adventus 9 S. dazu Hans-Werner Goetz, Der „rechte“ Sitz. Die Symbolik von Rang und Herrschaft im hohen Mittelalter im Spiegel der Sitzordnung, in: Gertrud Blaschitz u. a. (Hgg.), Symbole des Alltags, Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, Graz 1992, S. 11−47. 10 Nicht zufällig benötigten Teilnehmer eines Hoftags vom König eine licentia abeundi, bevor sie den Hoftag verließen, vgl. dazu die Belege bei Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8 Bde., Graz 31953–1955, ND der 2. Aufl. Berlin/Kiel 1876−1896, Bd. 6, 1955 (1896), S. 441.

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oder der Unterwerfung, aber vergleichend an, macht man zusätzliche Feststellungen, die für ein vertieftes Verständnis gleichfalls nützlich erscheinen: Trotz aller Verpflichtung auf ein Muster, das stets erkennbar bleibt, weisen die Beschreibungen der Rituale nämlich ungeheuer viele Varianten auf. Man vergleiche nur die Königserhebungen Heinrichs I. und Ottos I., in denen die Akteure auf je unterschiedliche Konzepte von Königtum verpflichtet wurden.11 Ein Herrscheradventus konnte in vollem königlichem Gepränge, aber auch barfuß vonstattengehen. Und bei den Unterwerfungsritualen beobachten wir auf den Seiten der Sieger wie der Verlierer Varianten, die etwa den Grad der Demütigung oder das Ausmaß der Milde betreffen. All dies legt zwingend den Schluss nahe, dass sich die Akteure in den Zeiten des Mittelalters nicht sklavisch an vorgegebene unveränderbare Formen gebunden fühlten – vielmehr konnten die Rituale situationsbezogen abgeändert und auf bestimmte Aussagen hin zugespitzt werden. Dies geschah in aller Regel in Abstimmung zwischen denjenigen, die ein Ritual durchführten, manchmal aber auch unabgestimmt und provokativ, wenn jemand sich durch rituelles Handeln Rechte anmaßte oder Pflichten abschüttelte. Aus dieser Perspektive wird unmittelbar einleuchtend, dass es sich um sehr reflexive Formen der Kommunikation handelte, die man bewusst auf bestimmte Situationen und Kräfteverhältnisse zuschnitt: Ob man das Unterwerfungsritual barfuß durchführen musste oder mit Schuhen an den Füßen vollziehen durfte, war für Mitglieder der Führungsschicht eine höchst wichtige Frage, über die man vor der Durchführung verhandelte, wie in Einzelfällen berichtet wird.12 Ergebnis solcher Verhandlungen konnte offensichtlich sein, dass jemandem der Fußfall vor dem Gegner erlassen wurde oder auch dass er ihn mehrfach wiederholen musste. Solche und viele andere Details, von denen die unterschiedlichsten Autoren berichten, lassen ermessen, wie bewusst man im Ritual bestimmte Aussagen akzentuieren konnte. Da beim Unter11 Es standen sich Salbungs- und Krönungsverzicht Heinrichs I. und Salbung und Krönung Ottos I. gegenüber, ebenso Unterwerfung Eberhards und anschließende Freundschaft mit Heinrich I. sowie der Dienst der vier Herzöge (darunter Eberhard) an der Tafel Ottos; s. dazu Hagen Keller / Gerd Althoff, Die Zeit der späten Karolinger und Ottonen. Krisen und Konsolidierungen, 888−1024 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 3), Stuttgart 102008, S. 117 ff. und S. 148 ff. mit weiteren Hinweisen. 12 Vgl. Vinzenz von Prag, Annales, hg. von Wilhelm Wattenbach (MGH SS 17), Hannover 1861, S. 654−683, hier S. 675, mit einem entsprechenden Angebot der Mailänder an Friedrich Barbarossa bei ihrer Unterwerfung 1158: licet enim plurimam offerent pecuniam quod eis calciatis hanc satisfactionem facere liceret, nullomodo tamen obtinere potuerunt; vgl. dazu bereits Thomas Zotz, Präsenz und Repräsentation. Beobachtungen zur königlichen Herrschaftspraxis im hohen und späten Mittelalter, in: Alf Lüdtke (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 91), Göttingen 1991, S. 168−194, hier S. 179.

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werfungsritual der Gedanke der Genugtuungsleistung für zuvor verursachten materiellen oder immateriellen Schaden im Vordergrund stand, dosierte man folgerichtig die Akte der Demütigung und Erniedrigung, bezogen auf das Geschehen im vorhergegangenen Konflikt oder auch auf den Rang des sich Unterwerfenden.13 Das Zusammenspiel von Handlung, Sprache und Schrift bei der Etablierung und Garantie von Ordnung im Mittelalter ist jetzt durch meine Fokussierung auf die rituellen Handlungen geradezu in den Hintergrund getreten, was ich im Folgenden ein wenig korrigieren möchte – auch als eine Form der Selbstkritik. These 2: Dass die Akte symbolisch-ritueller Kommunikation in vielen Fällen einen Aufführungs- oder Inszenierungscharakter hatten, dass sie verhandelt, abgesprochen und vereinbart wurden oder werden konnten, dass die Akteure also Rollen spielten, halte ich ebenfalls für so breit nachgewiesen, dass man es für herrschende Lehre halten kann.14 Auch diese Beobachtung warf ein neues Licht auf die Grundlagen des Funktionierens mittelalterlicher Lebensordnungen. So wurde etwa das als Technik mittelalterlicher Ordnungsstiftung erkannt, was von Zivilisationstheoretikern wie Norbert Elias, der Johan Huizinga als Gewährsmann hatte, als Naivität missverstanden worden war. Einschlägiges rituelles Verhalten mittelalterlicher Menschen wurde mit dem Verhalten von Kindern in unserer Gesellschaft gleichgesetzt: es sei spontan, emotional, unkontrolliert, von einem Extrem ins andere fallend, der Windstärke der Emotionen nicht Herr werdend. Solchen Einschätzungen hat die Entdeckung der Inszenierungstechnik – um nicht zu sagen der Inszenierungskunst des Mittelalters – doch deutliche Grenzen gesetzt.15 Irritierend wirkt für moderne Leser der einschlägigen Beschreibungen, dass die Akte, die in unserem Verständnis nach Absprachen inszeniert wur13 Vgl. dazu bereits Gerd Althoff, Genugtuung (satisfactio). Zur Eigenart gütlicher Konfliktbeilegung im Mittelalter, in: Joachim Heinzle (Hg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M. 1999, S. 247−265. 14 Zu dieser Forschungsperspektive vgl. allgemein Jürgen Martschukat / Steffen Patzold (Hgg.), Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln 2003, hier insbes. die instruktive „Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur“ der beiden Herausgeber, S. 1−31 mit reichen Literaturhinweisen. 15 Zur intensiven spezifisch mediävistischen Emotionsforschung vgl. nur Rüdiger Schnell, Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung, in: Frühmittelalterliche Studien 38, 2004, S. 173−276; Jutta Eming, Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.−16. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 39), Berlin u. a. 2006; Barbara Rosenwein, Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca 2006.

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den, von den Berichterstattern so beschrieben werden, als handele es sich um spontane Aktionen mit offenem Ausgang. Geradezu überschwänglich gezeigte Gefühle der Verzweiflung und Zerknirschung, wie des Mitleids oder der Freude, wirken auf uns befremdlich, wenn wir davon ausgehen, dass Durchführung wie Ausgang etwa eines Unterwerfungsrituals fest vereinbart war und von denjenigen garantiert wurde, die es vermittelt hatten. Dass in Einzelfällen von Vertragsbruch gesprochen wird, wenn sich jemand an solche Absprachen nicht hielt, lässt sich als Argument für den Inszenierungscharakter der Rituale anführen.16 Dennoch bedarf natürlich der Befund einer Erklärung, warum die zeitgenössischen Autoren die Tatsache vorhergehender Absprachen in aller Regel vollständig verschleiern und sich in ihren Beschreibungen häufig bemühen, die Dramatik und Unwägbarkeit der Situation in den Vordergrund zu stellen. Ich würde als Erklärung anbieten, dass es den Verpflichtungscharakter des gezeigten Verhaltens deutlich erhöht, wenn man den Eindruck vermittelt, das Verhalten entspringe völlig freien Entschlüssen, resultiere aus echter Gesinnung oder aufrichtigem Gesinnungswandel. Diesen Eindruck zu erzeugen – und nicht den vorhergehender fester Regelungen – haben sich jeweils nach den Beschreibungen die Akteure mit allen rituellen Mitteln bemüht – Gesten, Emotionen, Geschenke und anderes zielten darauf ab, einen Eindruck von Aufrichtigkeit zu erzeugen, und erschwerten so die Distanzierung von den eingegangenen Verpflichtungen. These 3: Dass in Verhandlungen um die Gestaltung symbolischer Kommunikationsakte auch einschneidende Veränderungen an den Grundschemata der Rituale vorgenommen wurden, wenn eine spezielle Situation besondere Aussagen verlangte; dass also Rituale Ergebnisse einer bewussten Gestaltung waren und einer beträchtlichen Dynamik unterlagen, wie man es in Heidelberg ausdrücken würde, ist inzwischen ebenfalls so vielfältig dokumentiert, dass zu grundsätzlichem Zweifel auch hier meines Erachtens kein Anlass besteht.17 16 Ein besonders krasser Fall findet sich bei Lampert von Hersfeld, Annales, hg. von Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ. 38), Hannover/Leipzig 1894, S.  58−304, a. 1075, S. 234−239, der über Seiten die Versuche von Vermittlern, König Heinrich IV. auf ein bestimmtes Verhalten nach der Unterwerfung der sächsischen Magnaten festzulegen, in allen Einzelheiten schildert, um ihm dann „Vertragsbruch“ vorzuwerfen; s. dazu Gerd Althoff, Heinrich IV., Darmstadt 2006, S. 111–114. 17 Zu Genese und Selbstverständnis des Heidelberger Ansatzes s. Dietrich Harth / Gerrit Jasper Schenk (Hgg.), Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, Heidelberg 2004; einen aktuellen Überblick über die Ritualforschung bietet Axel Michaels (Hg.), Die neue Kraft der Rituale, Heidelberg 2008.

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Zumindest für die Erfahrenen unter den Akteuren und Zuschauern waren auch die ungewöhnlichen Botschaften eines Rituals dechiffrierbar, sie boten wichtige Informationen über den Zustand von Beziehungen und Abhängigkeiten, über die Rangordnung, über Rechte und Pflichten in dieser Rangordnung – und das gerade dadurch, dass nicht stereotyp immer gleiches Verhalten wiederholt wurde, sondern durchaus unterschiedliche Akzente gesetzt werden konnten. Die Probleme seien an einem Beispiel verdeutlicht. Im Friedensschluss des Jahres 1013, der in Merseburg stattfand, regelte man das Verhältnis Heinrichs II. zu Bolesław Chrobry. Symbolischen Ausdruck fand das neue Verhältnis in Ritualen des Lehnswesens, durch Handgang und Schwertträger-Dienst, den Bolesław dem König am Pfingstfest beim Kirchgang leistete. Von Eid, Lehenvergabe und Gabentausch ist gleichfalls die Rede.18 Mit diesen von Heinrich und Bolesław durchgeführten Akten gaben sich die Protagonisten wie auch die anderen Zeitgenossen offensichtlich zufrieden und hielten den wechselseitigen Horizont der Rechte und Pflichten für ausreichend festgelegt. Schon ein Jahr später zerbrach dieses Verhältnis jedoch, als Heinrich die Teilnahme seines polnischen Lehnsmannes an seinem zweiten Italienzug erwartete, dieser jedoch Besseres zu tun hatte und seinen Kiewer Interessen nachging.19 Heinrich wertete dies als einen Bruch der Pflichten, die Bolesław mit den symbolischen Akten von Merseburg übernommen hatte. Hier differierten die Ansichten, welche Pflichten Bolesław aus den symbolischen Handlungen erwachsen waren, offensichtlich erheblich.20 Erst jetzt zeigte sich: Mit den symbolischen Verdichtungen hatte man das Verhältnis nur grundsätzlich

18 Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung, hg. von Robert Holtzmann (MGH SS rer. Germ. N. S. 9), Berlin 1935, lib. 6, cap. 91, S. 382: In cuius vigilia [sc. des Pfingstfestes] Bolizlavus cum securitate obsidum apud se relictorum venit et optime suscipitur. In die sancto manibus applicatis miles efficitur et post sacramenta regi ad aecclesiam ornato incedenti armiger habetur. In II. feria regem magnis muneribus a se et a contectali sua oblatis placavit deindeque regia largitate his meliora ac multa maiora cum benefitio diu desiderato suscepit et obsides suos cum honore et laeticia remisit; s. dazu zuletzt Stefan Weinfurter, Heinrich II. Herrscher am Ende der Zeiten, Regensburg 2002, S. 218 f.; Gerd Althoff, Establishing Bonds. Fiefs, Homage, and Other Means to Create Trust, in: Sverre Bagge u. a. (Hgg.), Feudalism. New Landscapes of Debate, Turnhout 2011, S. 101−114, bes. S. 109  f.; Andrzej Pleszczynski, The Birth of a Stereotype. Polish Rulers and their Country in German Writings, c. 1000 A. D. (East Central and Eastern Europe in the Middle Ages 15), Leiden 2011, S. 232 ff. 19 Thietmar (wie Anm. 18), lib. 6, cap. 91/92. 20 Ebd., lib. 7, cap. 9, S. 408: Tunc iterum Bolizlavus se ad excusandum vel inobedientiam ad emendandum a cesare vocatus in presentiam eius venire noluit, sed coram principibus suis haec fieri postulavit. Hier wird deutlich, dass Bolesław nicht akzeptierte, als Lehnsmann die Pflicht zu haben, vor seinem Lehnsherrn auf dessen Verlangen hin zur Rechtfertigung zu erscheinen; vielmehr forderte er, dass die Sache vor seinen (eigenen) Fürsten verhandelt würde.

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geregelt. Dies erwies sich jedoch als unzureichend, da der Verpflichtungshorizont nicht genau genug abgesteckt worden war. These 4: Rituale stifteten nicht nur Ordnung, sondern konnten auch scheitern. Es gab viele Situationen, in denen nur die Störung symbolischer Kommunikation sichern konnte, dass ihre Aussagen unwirksam blieben. Folgerichtig hören wir nicht selten, dass Rituale verhindert oder bewusst zum Scheitern gebracht wurden. Wirksam konnte man rituelle Kommunikation schon dadurch in ihrem Geltungsanspruch beschränken, dass man sich ihr durch Nicht-Erscheinen oder Abreisen entzog. Das konsensuale Herrschaftssystem – das hat Steffen Patzold zu Recht unterstrichen21 − war ein sehr agonales, wodurch ordnungsstiftende und -erhaltende symbolisch-rituelle Kommunikation dann zum Problem wurde, wenn auf diese Weise Fakten geschaffen werden sollten, die nicht die Zustimmung zumindest der wichtigen Akteure fanden. Auch hier nur ein Beispiel: Als ein Bote Friedrich Barbarossas im Jahre 1153 den Mailändern einen Brief seines Herrn überbrachte, dessen Inhalt ihnen missfiel, geschah Folgendes: Nachdem die Konsuln öffentlich und in allgemeiner Versammlung den Brief gelesen hatten, warfen sie, ganz erregt von Zorn und Wut, vor den Augen des Boten Sicher und aller anderen den Brief mitsamt dem Siegel auf den Boden und zerknüllten und zertraten ihn mit ihren Füßen. Außerdem stürzten sie einmütig auf den Boten los, der nur entkommen konnte, indem er entfloh und sich verbarg.22

So erzählt es zumindest der Richter Otto Morena, ein in rechtlichen und politischen Angelegenheiten erfahrener Mann. Deutlicher konnten die Mailänder ihre Antwort auf den Brief Barbarossas kaum geben. Dass der Bote in dieser Situation entkommen konnte, darf man wohl dahin interpretieren, dass er entkommen sollte, um seinem Aussender die entschlossene Haltung der Mailänder zu überbringen. Seine Nachrichten empörten denn auch den König und die Fürsten und lösten den ersten Konflikt Barbarossas mit Mailand aus. Die auf den ersten Blick extrem und unkontrolliert erscheinende Reaktion der Mailänder auf den Brief Barbarossas aber war nötig gewesen, weil sie mit

21 Steffen Patzold, Konsens und Konkurrenz. Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediävistik, in: Frühmittelalterliche Studien 41, 2007, S. 75−103. 22 Otto Morena und Fortsetzer, Historia Frederici I., hg. von Ferdinand Güterbock (MGH SS rer. Germ. N. S. 7), Berlin 1930, S. 9; zum Kontext und zur Bedeutung dieser Geschichte s. jetzt ausführlich Knut Görich, Friedrich Barbarossa. Eine Biographie, München 2011, S. 226−231.

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der Verkehrung des Empfangsrituals in eine Demonstration ihrer Konfliktentschlossenheit ihre politische Haltung unmissverständlich klarmachten. Diese vier Akzente mögen genügen, um einige Eckpfeiler der derzeitigen Einschätzungen der Funktion und Leistungskraft symbolischer Kommunikation zu benennen. Im Folgenden möchte ich jedoch den Schwerpunkt auf weitere Fragen legen, bei denen meines Erachtens noch deutlicher Klärungsbedarf besteht. Zu den strittigen Punkten gehört wohl noch immer die Frage, welche Spielregeln für die symbolische Kommunikation galten, wo und wie man solche Spielregeln überhaupt nachweisen kann und welchen Geltungsanspruch sie erhoben. Die Unklarheiten beginnen schon bei der Definition des Begriffs ‚Spielregeln‘ und dem Zweifel, ob er überhaupt tauglich für den Gegenstandsbereich ist, für den er herangezogen wurde. Die diesbezügliche Diskussion hat in den letzten Jahren deutlich differenziertere Vorstellungen über die inhaltliche Füllung dieses Begriffs gebracht. Hier beziehe und stütze ich mich vor allem auf zwei jüngere Werke, in denen diese Problematik in ihrer Komplexität meines Erachtens überzeugend abgehandelt wird. 2009 hat der Wiener Rechtstheoretiker und Rechtsphilosoph Martin Pilch eine grundlegende Untersuchung über den „Rahmen der Rechtsgewohnheiten“ vorgelegt, die ihren zeitlichen Schwerpunkt im 10. und 11.  Jahrhundert hat und den Untertitel „Kritik des Normensystemdenkens entwickelt am Rechtsbegriff der mittelalterlichen Rechtsgeschichte“ trägt.23 Pilchs Buch macht wieder einmal das Problem bewusst, dass wir mittelalterliche Verhältnisse mit modernen Begriffen beschreiben müssen. Diese Begriffe rufen aber bei modernen Menschen Assoziationen hervor, die das Verständnis der mittelalterlichen Phänomene eher behindern. Dies gilt vor allem für Begriffe in Bereichen, die wir heute als Politik und Recht unterscheiden. Für diese Bereiche ist eine im Zuge ihrer Ausdifferenzierung entstandene Fachterminologie etabliert, die wir auf deutlich andere Verhältnisse im Mittelalter anwenden. So sind wir, wie Pilch zu Recht hervorhebt, gewohnt, in abstrakt-generellen Normensystemen zu denken, während im Mittelalter das, was wir heute Rechtsgewohnheiten oder Spielregeln der Politik des Mittelalters nennen, kollektives Handlungswissen darstellte, das jedoch nie als Ganzes explizit formuliert wurde. Man erinnerte zwar Präzedenzfälle, die Entschei23 Vgl. Martin Pilch, Der Rahmen der Rechtsgewohnheiten. Kritik des Normensystemdenkens entwickelt am Rechtsbegriff der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, Wien u. a. 2009; zur Reaktion der Rechtshistoriker s. bereits die von Gerhard Dilcher unter Beteiligung von Martin Pilch und namhaften Rechtshistorikern geführte Debatte über das Buch in: Rechtsgeschichte. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte 17, 2010, S. 15−162.

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dungen erleichterten, wenn ähnliche Probleme wieder anstanden, aber keine Normensysteme.24 Man muss sich die Spielregeln symbolischer Kommunikation daher, wie Hermann Kamp unabhängig von Martin Pilch 2010 ausgeführt hat, „als die ungeschriebenen Gesetze [denken], die das politische Mit- und Gegeneinander im Mittelalter leiteten und ordneten“.25 Man muss sie sich vorstellen als ein kollektives, aber implizites Wissen um Handlungsoptionen, das man aus früheren Fällen hatte und das man für anstehende Fälle aktivierte und aufbereitete. Das geschah zum einen in unzähligen Kommunikationssituationen, wenn Akteure entschieden, wie sie sich verhalten sollten. Zumeist wird man solche Verhaltensmuster als „habitualisierte Handlungsweisen“ richtig charakterisieren, die nicht durch lange Reflexionen gekennzeichnet waren.26 In diffizileren Situationen konnten sie aber auch erst das Ergebnis von Konsensherstellung durch Beratung sein, die diese oder jene Spielregel für einen anstehenden Fall explizit und anwendbar machte. Hierbei konnte es zu genauen Kopien früherer Verwendung ebenso kommen wie zu hybriden Weiterentwicklungen und Abänderungen. Anders ausgedrückt: Spielregeln existierten einmal im kollektiven Bewusstsein von Gruppen und Verbänden als Wissen über Verhaltensregeln, die man in bestimmten Situationen befolgt hatte. Sie waren damit als Gewohnheit ausgewiesen und legitimiert, wurden benutzt, blieben aber implizit. Explizit wurden sie dann, wenn man sich in bestimmten Situationen vorweg darüber verständigte, welche Spielregeln man in diesem Fall befolgen wollte, oder im Nachherein darüber diskutierte, ob Spielregeln gebrochen worden waren. So ließ sich in face-to-face-Gesellschaften wie der des Mittelalters Ordnung aufrechterhalten und zugleich bei Bedarf verändern – zumindest blieb dies lange Zeit die dominierende Art, Ordnungsstiftung zu versuchen. Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt, der zugleich den Hauptpunkt darstellt, der Mehrdeutigkeit oder Ambiguität symbolisch-ritueller Gesten und Handlungen. Symbolisch-rituelle Kommunikation im Mittelalter war in der Tat durch ein Ausmaß von Ambiguität gekennzeichnet, das sie

24 Vgl. dazu jetzt auch Gerd Althoff, Rechtsgewohnheiten und Spielregeln der Politik im Mittelalter, in: Nils Jansen / Peter Oestmann (Hgg.), Gewohnheit, Gebot, Gesetz. Normativität in Geschichte und Gegenwart. Eine Einführung, Tübingen 2011, S. 27−52. 25 Vgl. Hermann Kamp, Die Macht der Spielregeln in der mittelalterlichen Politik. Eine Einleitung, in: ders. / Claudia Garnier (Hgg.), Spielregeln der Mächtigen. Mittelalterliche Politik zwischen Gewohnheit und Konvention, Darmstadt 2010, S. 1−18, hier S. 2. 26 Vgl. ebd., S. 4 ff.

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in modernen Augen als ungeeignet für die Stiftung von Ordnung erscheinen lässt. Zur Verdeutlichung des Problems sei nur an ein eben schon erwähntes Beispiel erinnert: Mit dem Handgang begründete man im Mittelalter und darüber hinaus das Lehnsverhältnis. Was beide Beteiligten mit diesem Handgang im Einzelnen alles versprachen, konnte man der Geste nicht ansehen oder entnehmen, es war gar nicht genau definiert.27 Eindeutig war an der Geste lediglich, dass mit ihr ein Lehnsverhältnis begründet worden war. Mit dieser grundsätzlichen Regelung des Verhältnisses gab man sich zufrieden. Welche Rechte und Pflichten zu konkretem Handeln aus ihm erwuchsen, klärte man durch Beratung des Lehnsverbandes dann, wenn Bedarf dazu entstand. Schriftlich fixiert wurden Rechte und Pflichten von Lehnsherrn und Lehnsmann bekanntlich erst durch Eike von Repgow im 13. Jahrhundert – wie bindend auch immer.28 Zuvor lebte man mit der Ambiguität und vertraute scheinbar darauf, dass alle die gleiche Ansicht von den durch diesen Handgang begründeten Rechten und Pflichten hatten. Es gibt meines Wissens so gut wie keine Reflexionen von Zeitgenossen, die verraten, ob man diese Ambiguität überhaupt als Problem ansah. Die Eidesformel, die im Zusammenhang des Lehnswesens auch benutzt wurde, zeigt die gleiche Sorglosigkeit, was eindeutige Festlegungen angeht: „daß er ihm so treu bleiben werde, wie ein Vasall seinem Herrn sein müsse, allen Freunden würde er Freund sein, den Feinden Feind.“29 Diese verbale Aussage ist ähnlich vieldeutig wie der Handgang: Welche Verpflichtungen sie für die Zukunft begründete, wird einem kollektiven Wissen überlassen, das implizit bleibt. Ordnung kann solch ambige Festlegung nur garantieren, wenn alle zumindest ungefähr die gleichen Vorstellungen im Kopf haben, was ‚richtigerweise‘ zu tun sei. Der Handgang ist nur ein Beispiel unter vielen. So gut wie alle Handlungen, die in symbolisch-ritueller Kommunikation des Mittelalters Rechte und Pflichten begründeten, taten dies in so allgemeiner und ambiger Form: Umarmungen, Küsse, Fußfälle, Kniebeugen, symbolische Dienste, Lächeln, Entgegengehen und viele andere Gesten und Handlungen begründeten oder bestätigten Rechte und Pflichten, deren inhaltliche Ausfüllung unbestimmt blieb bzw. deren Kenntnis vorausgesetzt wurde. Solche Ambiguität lässt sich im Mittelalter in großer Regelmäßigkeit beobachten, nicht nur in symboli27 Vgl. Anm. 6. 28 Vgl. Spiess, Lehnswesen (wie Anm. 6), S. 20 f. 29 François Louis Ganshof, Was ist das Lehnswesen?, Darmstadt 61983, S. 18 (frz. Erstausg. Brüssel 1944).

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schen Handlungen, sondern gleichermaßen in sprachlichen, übrigens auch in schriftlichen Äußerungen. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, ob Ambiguität im Mittelalter überhaupt als Problem wahrgenommen und als Schwäche eingeschätzt wurde, wie es heute der Fall ist. Haben wir es nicht vielmehr mit einer Gesellschaft zu tun, die einer anderen Logik folgte als wir? War es nicht eine Gesellschaft, für die eine generelle und grundsätzliche Regelung von Verhältnissen ungeachtet ihrer Ambiguität Vorrang hatte, weil Erfahrung gelehrt hatte, dass sich über Einzelfragen leichter Konsens erzielen ließ, wenn man sich zuvor grundsätzlich verständigt oder aneinander gebunden hatte? Eine Gesellschaft also, für die die uns auffallende Ambiguität symbolischer Kommunikationsakte vielleicht deshalb gar kein Problem darstellte, weil mit Grundsatzentscheidungen hinsichtlich Rang, sozialer Bindung oder Frieden die Weichen für ein Zusammenleben bereits genau genug gestellt waren. Mit einiger Gewissheit einigten sich ja Verwandte, Freunde oder Bündnispartner leichter über Einzelheiten als Personen, die keine Bindung untereinander hatten. Es macht ja schon Sinn, zunächst einmal im Grundsätzlichen Klarheit zu schaffen und nicht gleich alle Einzelheiten zu fixieren. Auch für uns steckt bekanntlich – wie ein Sprichwort deutlich macht – „der Teufel im Detail“. Solche Überlegungen und Hypothesen führen aber zu interessanten Beobachtungen. Wenn überhaupt, gilt nämlich das bisher Gesagte – das scheinbare Desinteresse am Problem der Ambiguität – allenfalls für das frühere Mittelalter. Denn ab dem 12. Jahrhundert beobachten wir einen rapiden Wandel, der als Disambiguierungsprozess zu charakterisieren ist und der gerade den Bereich der symbolischen Kommunikation zentral betraf. Bis ins 12. Jahrhundert dienten Akte symbolischer Kommunikation trotz ihrer Ambiguität ohne zusätzliches Begleitwerk dazu, die Ordnung zu garantieren oder neu auszutarieren. Man könnte allenfalls auf die Existenz mündlicher Absprachen zur Durchführung von Ritualen verweisen, die sehr selten bezeugt sind, in Einzelfällen jedoch die Verringerung von Ambiguität der Aussagen zum Ziel hatten.30 Ab der Mitte des 12. Jahrhunderts lässt sich jedoch beobachten, dass rituell-symbolische Kommunikation zunehmend durch schriftlich fixierte Verträge und Bündnisse ergänzt und ihre Ambiguität dadurch zu beheben versucht wurde, dass Verpflichtungen und Rechte detailliert schriftlich ausgeführt wurden. Ausgelöst worden sein dürfte dieser Vorgang wohl durch die Er30 Vgl. dazu Althoff, Macht (wie Anm. 5), S. 191 ff. mit Hinweisen auf konkrete Absprachen.

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kenntnis oder Erfahrung, dass Rechte und Pflichten, auf denen die Ordnung beruhte, präziser fixiert werden mussten, als dies durch symbolische Kommunikation zu leisten war. Wohl nicht zufällig setzt dieser Prozess nach einer fast 100-jährigen Krisenzeit ein, in der sowohl zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt als auch zwischen Königtum und Fürsten die Konflikte nicht abgerissen waren, Lösungsversuche durch rituelles Handeln vielfach Schiffbruch erlitten hatten und die Schrift als ordnungsstiftendes Medium erheblich an Bedeutung gewonnen hatte.31 Dieser Vorgang betraf, wie gesagt, gerade solche Bereiche, die man zuvor exklusiv mittels Ritualen geregelt hatte: Friedensschlüsse und Konfliktbeendigungen, Freundschaftsverträge und Bündnisse. Man kennt das convivium als gemeinschaftsstiftendes Ritual bei der Stiftung von Frieden, Freundschaft und Bündnis. Es verfehlte seine Wirkung etwa in Canossa. Man kennt das Unterwerfungsritual (deditio) am Ende von Konflikten und am Beginn von Bündnissen. Die Liste der Fälle, in denen es in der Krise Frieden und Bündnis nicht sichern konnte, ist durchaus lang. Bereits 1966 aber hatte Günter Rauch auf die nun schriftlich fixierten „Bündnisse deutscher Herrscher mit Reichsangehörigen vom Regierungsantritt Friedrich Barbarossas bis zum Tode Rudolfs von Habsburg“ aufmerksam gemacht und das seit 1152 stetig anwachsende Material zusammengetragen, das die detaillierten schriftlichen Vereinbarungen und Regelungen des Verhältnisses von Königen zu Fürsten und zu Städten aus ganz bestimmten Anlässen betraf.32 In großer Dichte von Schriftlichkeit erfasst und geordnet wurden damit Verhältnisse, die man in den vorhergehenden Zeiten mittels Akten symbolischer Kommunikation fixiert hatte und das übrigens auch weiterhin noch tat. Claudia Garnier hat dann im Jahre 2000 schon im Kontext dieses Sonderforschungsbereichs in ihrer Dissertation unter dem Titel „Amicus amicis – inimicus inimicis“ politische Freundschaft und fürstliche Netzwerke im 13. Jahrhundert behandelt und hierbei vor allem am Beispiel der rheinischen Erzbischöfe und ihrer Bündnissysteme die ständige Verfeinerung beschrieben, 31 Zum sprungartigen Anstieg schriftlicher Zeugnisse im 11. Jahrhundert im Zusammenhang der großen Auseinandersetzung zwischen Kirche und Welt vgl. immer noch Carl Mirbt, Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., Leipzig 1894 (ND Leipzig 1965); Ian Stuart Robinson, Authority and Resistance in the Investiture Contest. The Polemical Literature of the Late 11th Century, Manchester 1978; neuerdings Leidulf Melve, Inventing the Public Sphere. The Public Debate during the Investiture Contest, c. 1030–1122 (Brill’s Studies in Intellectual History 154), Leiden u. a. 2007. 32 Vgl. Günter Rauch, Die Bündnisse deutscher Herrschaft mit Reichsangehörigen vom Regierungsantritt Friedrich Barbarossas bis zum Tod Rudolfs von Habsburg (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N. F. 5), Aalen 1966.

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die die schriftliche Fixierung von Bündnisverpflichtungen mit sich brachte.33 Überdies hat sie in einem Aufsatz 1998 mit dem Titel „Zeichen und Schrift“ den Zusammenhang dieser schriftlichen Bündnisabsprachen mit den rituellen Handlungen diskutiert, mit denen die Bündnisse öffentlich und verbindlich gemacht wurden.34 Diese Vorarbeiten bieten ausgezeichnete Voraussetzungen, um zu beschreiben, wie nachhaltig der Vorgang der Disambiguierung symbolischer Handlungen durch die ergänzende Nutzung von Schriftlichkeit ins Werk gesetzt worden ist. Durch schriftliche Fixierung konnte man zum einen Leistungen exakt bestimmen und festlegen, die sich symbolisch kaum ausdrücken ließen. In Bündnisverträgen unterschied man etwa zwischen offensiven und defensiven Hilfestellungen: Defensiv stellte man dem Partner alle eigenen Burgen als Zuflucht zur Verfügung; offensiv half man ihm aber unter Umständen nur in bestimmten Regionen oder mit einer festgelegten – geringen − Anzahl von Kriegern.35 Schon im ältesten Vertrag eines Königs mit einem Reichsfürsten – Friedrich Barbarossas mit dem Zähringer Berthold − wurden 1152 Leistungen von König und Herzog detailliert fixiert, für die es kaum symbolische Ausdrucksmöglichkeiten gab. Der Herzog sollte nämlich das Rektorat − also die Stellvertretung des Königs – über Burgund und die Provence nur unter der Bedingung erhalten, dass er den König bei einem Kriegszug in diese Regionen mit 1000 Panzerreitern unterstützte und ihn dann zudem mit 500 Panzerreitern auf dem folgenden Italienzug begleitete. Wie ungewohnt solche Vereinbarungen offensichtlich waren, mag man an der Tatsache ablesen, dass sich der Herzog offensichtlich übernahm: Er brachte die versprochene Zahl der Panzerreiter gar nicht zusammen, auf der Barbarossa aber offensichtlich bestand.36 Durch schriftliche Verträge des 13. Jahrhunderts werden wir dann auch über Vereinbarungen informiert, die die Ausgestaltung der Rituale betrafen. Es wurde der Weg vorab fixiert, den sich Unterwerfende durch eine Stadt nehmen sollten, ihnen wurde die Kleidung vorgeschrieben und auch was sie als 33 Claudia Garnier, Amicus amicis, inimicus inimicis. Politische Freundschaft und fürstliche Netzwerke im 13. Jahrhundert (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 46), Stuttgart 2000. 34 Dies., Zeichen und Schrift. Symbolische Handlungen und literale Fixierung am Beispiel von Friedensschlüssen des 13. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 32, 1998, S. 263−287. 35 Vgl. dies., Amicus (wie Anm. 33), bes. S. 184 ff. mit reichem Material zur Differenzierung der Bündnisverfügungen. 36 Den Vertrag s. in: Die Urkunden Friedrichs I., hg. von Heinrich Appelt (MGH DD F I,1−5), 5  Bde., Hannover 1975−1990, Bd. 1, 1975, Nr. 12, S. 22−24; s. dazu Gerd Althoff, Die Zähringerherrschaft im Urteil Ottos von Freising, in: Karl Schmid (Hg.), Die Zähringer 1. Eine Tradition und ihre Erforschung, Sigmaringen 1986, S. 43−58; jetzt Görich, Barbarossa (wie Anm. 22), S. 136 f.

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Sühneleistung, harmschar genannt, auf ihrem Weg tragen sollten: das konnte ein Hund oder ein Sattel, aber auch ein Schwert oder eine Rute sein. Selbst die Anzahl der Fußfälle konnte im Vorhinein schriftlich festgelegt werden.37 Solche Bestimmungen weisen in einiger Deutlichkeit nach, dass mit dem neuen Medium eine Präzisierung der Genugtuungsleistungen verbunden war. Am interessantesten sind aber eigentlich die Befunde, die zeigen, dass die schriftlichen Fixierungen die Möglichkeit boten, Vereinbarungen zu treffen, die den rituellen Aussagen in gewisser Weise widersprachen, sie konterkarierten, indem sie die unangenehmen Teile der Verpflichtungen festschrieben. Allgemein kann man formulieren, dass rituelle Handlungen in aller Regel deutlich den Konsens, das Einvernehmen, die Harmonie der Beziehungen zum Ausdruck brachten, Gesicht und Ehre der Beteiligten wahrten, Freiwilligkeit und guten Willen in den Vordergrund stellten. Die neuen schriftlichen Verträge, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, gaben demgegenüber darüber Auskunft, auf welche Weise die Bereitschaft zur Zusammenarbeit erzeugt oder erzwungen worden war, dass Geld keine geringe Rolle spielte, dass die scheinbar bedingungslose Unterwerfung durchaus an Bedingungen geknüpft war. So fixiert schon der älteste Lehnsvertrag zwischen einem Bischof von Lüttich und seinem hochadligen Lehnsmann, dem Grafen vom Hennegau, Einzelheiten, die beide Seiten wohl kaum für die Öffentlichkeit gedacht hatten: es wird nämlich vor allem geregelt, dass der Lehnsherr finanziell für alle Aktivitäten, die der Lehnsmann für ihn unternahm, bezahlen musste.38 Die Kenntnis dieser Regelung legt nahe, das vielbeschworene Verhältnis von wechselseitiger Treue, Schutz und Schirm sowie Rat und Hilfe ein bisschen realistischer einzuschätzen. Es scheint insgesamt eine gar nicht selten angewandte Technik gewesen zu sein, symbolische Geländegewinne auf dem Gebiet der Rituale mit Gegenleistungen in den schriftlichen Verträgen zu verrechnen. So wurde die Bereitschaft der Rangniederen erreicht, sich in jedem Fall – unabhängig vom Verlauf des Konfliktes – den Ranghöheren zu unterwerfen, um so in der Öffentlichkeit das Gesicht des Ranghöheren zu wahren. Diese Bereitschaft gab es nicht 37 Vgl. Jean-Marie Moeglin, Harmiscara − Harmschar − Hachée. Le dossier des rituels d’humiliation et de soumission au Moyen Âge, in: Archivum latinitatis medii aevi 54, 1996, S. 11−65; Stefan Weinfurter, Tränen, Unterwerfung und Hundetragen. Rituale des Mittelalters im dynamischen Prozeß gesellschaftlicher Ordnung, in: Harth / Schenk (Hgg.), Ritualdynamik (wie Anm. 17), S. 117−137. 38 Vgl. Gislebert von Mons, Chronique, hg. von Léon Vanderkindere (Recueil des textes pour servir à l’étude de l’histoire de Belgique), Brüssel 1904, cap. 9, S. 13 f.; s. dazu Ganshof, Lehnswesen (wie Anm. 29), S. 83.

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umsonst, sie wurde von den Ranghöheren mit finanziellen Zugeständnissen manchmal direkt erkauft. Im Falle des Friedens von Venedig 1177 hat die ältere deutsche Forschung mit Stolz auf die Zugeständnisse verwiesen, die Papst Alexander III. Friedrich Barbarossa hinsichtlich der sogenannten ‚Mathildischen Güter‘ und einiger anderer Details gemacht habe, wie der Vertrag zwischen Papst und Kaiser ausweist.39 Auf Grund dieser Beobachtungen hat man Barbarossa sogar zum diplomatischen Sieger in der Auseinandersetzung ausgerufen, dabei aber übersehen, dass sich der Kaiser drei Wochen lang in öffentlichen Ritualen immer wieder demütigen und als treuer und gehorsamer Sohn der Kirche erweisen musste.40 Für Zeitgenossen konnte wohl kaum der der Sieger sein, der sich öffentlich mit Fußküssen, Dienstleistungen verschiedenster Art und Geschenken dem anderen unterordnete. Das Beispiel lehrt wie viele andere, dass man symbolisches Kapital und finanziell-materielle Vorteile nun durchaus zu konvertieren wusste. Die Wechselkurse dürften nicht in jedem Falle gleich gewesen sein. Ich habe mich darauf konzentriert, zwei Fragen aufzuwerfen: die Frage der Spielregeln und das Problem der Ambiguität symbolischer Handlungen. Für beides habe ich einige Überlegungen geboten, die mir für das Verständnis symbolischer Kommunikation weiterführend zu sein scheinen. Vor allem die symbolische Kommunikation flankierende Schriftlichkeit seit dem 12. Jahrhundert verdient meines Erachtens hinsichtlich ihrer disambiguierenden Wirkung größere Aufmerksamkeit. Sie hat die Rituale offensichtlich nicht überflüssig gemacht. Es ist aber noch zu klären, welche Veränderungen sie genau bewirkt hat. Das ist aber ja gerade das Schöne an Forschung, dass jedes Kolloquium seinen Sinn nicht zuletzt darin findet, dass offene Fragen formuliert werden.

39 Der Vertrag findet sich in: Die Urkunden Friedrichs I. (wie Anm. 36), Bd. 3, 1985, Nr.  658, S. 161−165; dazu Görich, Barbarossa (wie Anm. 22), S. 442 ff. 40 S. dazu bereits Gerd Althoff, Friedrich Barbarossa als Schauspieler? Ein Beitrag zum Verständnis des Friedens von Venedig (1177), in: Trude Ehlert (Hg.), Chevaliers errants, demoiselles et l’autre. Höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Festschrift für Xenja von Ertzdorff zum 65. Geburtstag, Göppingen 1998, S. 3−20.

Steffen Patzold

Von den Spielregeln ritueller Kommunikation zur sozialen Praxis. Ein Versuch über praktisches und diskursives Wissen im früheren Mittelalter

I. Einleitung Der Begriff der ‚Spielregel‘ ist, jedenfalls aus mediävistischer Perspektive, eng mit dem Münsteraner Sonderforschungsbereich „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ verbunden – und hier offenkundig besonders mit Gerd Althoffs Arbeiten.1 Der Begriff hat Karriere gemacht: Er ist heute nicht nur disziplinenübergreifend in der deutschen Mittelalterforschung präsent;2 er wird auch in der angelsächsischen und französischen Literatur gebraucht (und diskutiert), einer der raren deutschen Exporte in die internationale Mediävistik in jüngerer Zeit.3 Tatsächlich ist das Wort heute selbst schon ein Symbol: Wer von Spielregeln spricht, meint meist mehr; er meint eine Mediävistik, die sich für Verhaltensmuster und Praktiken interessiert, denen nicht schriftlich fixierte Normen, sondern erst der immer neue Vollzug und die Erinnerung an diesen Vollzug einen Rahmen setzten. Das erklärt, warum der Spielregel-Begriff gerade auch in der Forschung zu Ritualen und zur symbolischen Kommunikation so prominent ist. Der Begriff

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Gerd Althoff, Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 27, 1993, S. 27–50 (zusammen mit weiteren einschlägigen Beiträgen auch in ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997); außerdem ders., Rituale und ihre Spielregeln im Mittelalter, in: Horst Wenzel / Wilfried Seipel / Gotthart Wunberg (Hgg.), Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche, Wien 2001, S. 51–61. – Zu dem Begriff und der jüngeren Forschungsentwicklung vgl. jetzt Hermann Kamp, Die Macht der Spielregeln in der mittelalterlichen Politik. Eine Einleitung, in: ders. / Claudia Garnier (Hgg.), Spielregeln der Mächtigen. Mittelalterliche Politik zwischen Gewohnheit und Konvention, Darmstadt 2010, S. 1–18. 2 Vgl. zuletzt etwa die germanistischen Beiträge von Horst Wenzel, Jan-Dirk Müller und Werner Röcke, in: Kamp / Garnier (Hgg.), Spielregeln der Mächtigen (wie Anm. 1), S. 205–264. 3 So unter anderem bei Geoffrey Koziol, The Dangers of Polemic. Is Ritual Still an Interesting Topic of Historical Study, in: Early Medieval Europe 11, 2002, S. 367–388, hier S. 377–383; Julia Barrow, Playing by the Rules. Conflict Management in Tenth- and Eleventh-Century Germany, in: Early Medieval Europe 11, 2002, S. 389–396.

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zielt darauf ab, das Ritual als Summe seiner einzelnen Aufführungen4 (mithin die Struktur ritueller Kommunikation) nicht nur zu beschreiben, sondern zu erklären. Wer nach Spielregeln fragt, will ein Ritual nicht nur deskriptiv rekonstruieren oder auf seine Funktion für eine Gesellschaft hin untersuchen; wer nach Spielregeln fragt, hat vielmehr den Anspruch, zu erklären, warum die Akteure in der Aufführung des Rituals so handelten, wie sie handelten. Das heißt zugleich: Die Frage transzendiert jenen Funktionalismus, den Philippe Buc der ethnologisch inspirierten mediävistischen Ritual-Forschung der 1970er bis 1990er Jahre so harsch zum Vorwurf gemacht hat.5 Denn die Frage nach Spielregeln zielt letztlich auf das Wissen der Akteure im Mittelalter ab. Daran knüpft sich allerdings ein Problem, das bisher noch etwas unterbelichtet geblieben ist. Die Forschung hat mittlerweile zwar ein ziemlich klares Bild von dem erarbeitet, was die Akteure über die Spielregeln eines Rituals wussten; gerade der Münsteraner Sonderforschungsbereich hat etliche dieser Spielregeln identifiziert. Die Forschung, die an Verhaltensformen, Handlungsmustern und Praktiken interessiert ist, kann dabei aber nicht stehen bleiben. Sie muss darüber hinaus auch fragen, wie die Akteure diese Regeln wussten. Die Regeln sind die Nahtstelle zwischen dem Ritual, seiner konkreten Aufführung und dem Wissen der Akteure über ihre soziale Ordnung. Deshalb beeinflusst die Art und Weise, in der Historiker das Wissen der Akteure über diese Regeln konzipieren, auch ihre Erklärungen, warum diese Akteure in bestimmter Weise handelten. Anders gesagt: Wenn wir analysieren, wie die Zeitgenossen ihre Spielregeln ritueller Kommunikation wussten, dann können wir noch genauer ermitteln, in welchem Maß und auch auf welche Weise Rituale die soziale Ordnung beeinflussten. Zu dieser Frage gibt es in der jüngeren Literatur nun mindestens zwei – implizite – Positionen. Der ersten Position zufolge waren Spielregeln „ungeschriebene Gesetze“.6 Sie waren den Akteuren bekannt und sie waren hochverbindlich; 4 Zur Unterscheidung zwischen Aufführung, Ritual und Inszenierung vgl. Erika FischerLichte, Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe, in: Jürgen Martschukat / Steffen Patzold (Hgg.), Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Norm und Struktur 19), Köln u. a. 2003, S. 33–54. 5 Philippe Buc, The Dangers of Ritual, Princeton 2001; ders., The Monster and the Critics. A Ritual Reply, in: Early Medieval Europe 15, 2007, S. 441–452; vgl. dazu zuletzt die abwägende, differenzierte Position von Christina Pössel, The Magic of Early Medieval Ritual, in: Early Medieval Europe 17, 2009, S. 111–125. 6 Grundlegend Gerd Althoff, Ungeschriebene Gesetze. Wie funktioniert Herrschaft ohne schriftlich fixierte Normen?, in: ders., Spielregeln der Politik (wie Anm. 1), S. 282–304. – Nur mehr im Titel genannt ist die Formulierung bei dems., Geltungsansprüche schriftlich fixierter Normen und ‚ungeschriebener Gesetze‘ im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 41, 2007, S. 277–279.

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ihr Bruch konnte Sanktionen nach sich ziehen – und die Beteiligten wussten auch das.7 Derartige Spielregeln lagen für alle sensiblen Bereiche vor: für die Einsetzung in ein Amt, für die Erhöhung und Erniedrigung im Rang, für die Austragung und Beilegung von Konflikten, für die Begegnung zweier Mächtiger, für die Sorge ums Seelenheil, für die Kommunikation mit Gott und den Heiligen und vieles andere mehr. Damit ist allerdings nicht zwangsläufig behauptet, dass die Menschen gewissermaßen nur passive Opfer des Rituals gewesen wären: Denn die kreative Kombination von Regeln und die je neue Verbindung verschiedener ‚Ritualversatzstücke‘ öffneten dem Individuum einen Freiraum für die Durchsetzung seiner Interessen, einen Raum auch für die Entwicklung von Strategien.8 „Die Akteure auf den politischen Bühnen des Mittelalters nutzten die Vorgaben der Rituale sehr utilitaristisch-rational.“9 Außerdem wurden die Regeln – so verbindlich sie waren – im Einzelfall eben doch auch bewusst gebrochen.10 Daher determinierten die Spielregeln zwar nicht das Handeln im Ritual, aber sie regulierten es ziemlich unmittelbar. Man kann sagen: Diese erste Position akzentuiert die Macht des Rituals über den einzelnen Akteur.11 Der zweiten Position zufolge war die einzelne Aufführung eines Rituals uneindeutig. Die Teilnehmer und die Zuschauer konnten sie, wenn auch von 7 Gerd Althoff, Zum Inszenierungscharakter öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, in: Johannes Laudage (Hg.), Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung (Europäische Geschichtsdarstellungen 1), Köln u. a. 2003, S. 79–93, hier S. 83 f., auch S. 87 und passim. 8 Vgl. grundlegend Gerd Althoff, Die Veränderbarkeit von Ritualen im Mittelalter, in: ders. (Hg.), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 51), Sigmaringen 2001, S. 157–176; außerdem ders., Beratungen über die Gestaltung zeremonieller und ritueller Verfahren im Mittelalter, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Vormoderne politische Verfahren (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 25), Berlin 2001, S. 53–71, hier S. 55 f. und S. 58; ders., The Variability of Rituals in the Middle Ages, in: Gerd Althoff / Johannes Fried / Patrick J. Geary (Hgg.), Medieval Concepts of the Past. Ritual, Memory, Historiography, Cambridge/Washington, DC 2002, S. 71–87; ders., Rituale als ordnungsstiftende Elemente, in: Walter Pohl / Veronika Wieser (Hgg.), Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Denkschriften 386 / Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009, S. 391–398, hier S. 395, betont, „dass sich die Akteure in den Zeiten des Mittelalters nicht sklavisch an vorgegebene unveränderbare Formen gebunden fühlten, vielmehr konnten die Rituale situationsbezogen abgeändert und auf bestimmte Aussagen hin zugespitzt werden“; außerdem ders., Baupläne der Rituale im Mittelalter. Zur Genese und Geschichte ritueller Verhaltensmuster, in: Christoph Wulf / Jörg Zirfas (Hgg.), Die Kultur des Rituals. Inszenierungen, Praktiken, Symbole, München 2004, S. 177–197, hier S. 179–182; ebd., S. 188 auch der Begriff der „Versatzstücke“. 9 Althoff, Veränderbarkeit (wie Anm. 8), S. 159. 10 Vgl. ebd., S. 171. 11 Vgl. außer den bereits genannten Arbeiten auch Karl Leyser, Ritual, Zeremonie und Gestik. Das ottonische Reich, in: Frühmittelalterliche Studien 27, 1993, S. 1–26, hier zusammenfassend S. 25 f.; Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, S. 199.

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Fall zu Fall in unterschiedlichem Maße, je unterschiedlich interpretieren,12 und spätere Berichterstatter (von deren Erzählungen der Mittelalterhistoriker abhängig ist) konnten dann wieder neue Deutungen vortragen, konnten einzelne Aufführungen in ihren Erzählungen auch konstruieren oder bewusst verschweigen.13 Die Zeitgenossen (und damit auch unsere Quellenautoren) wussten außerdem, dass mit Ritualen auch manipuliert werden konnte.14 Damit die Aufführung eines Rituals einigermaßen reibungslos über die Bühne ging, waren nach dieser Position in sehr vielen Fällen mündliche, vertrauliche Vorklärungen notwendig: Vermittler oder auch die Beteiligten selbst legten vorab fest, was jeder zu tun und zu lassen hatte – manchmal bis hin zu Details wie der Kleidung.15 „Rituale verkündeten vielfach in nicht-diskursiver Form etwas, was man zuvor diskursiv behandelt hatte“.16 Trotzdem hatte die Aufführung des derart inszenierten, also vorab ausgehandelten Aktes einen Mehrwert. Sie schuf nämlich, da sie vor einer größeren Menge von Menschen stattfand, Verbindlichkeit; sie legte die Akteure für die Zukunft fest auf das, was sie vor anderen gezeigt hatten, und wirkte so vertrauensbildend.17 Möglicherweise waren die Verschleierung des Inszenierungscharakters und die vor12 Buc, Dangers (wie Anm. 5), S. 8 f.; vgl. auch Gerd Althoff, Inszenierung verpflichtet. Zum Verständnis von Papst-Kaiser-Begegnungen im 12. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 35, 2001, S. 61–84, hier S. 63: „Überdies löste es einen weiterwirkenden Diskurs aus, wenn ein Ritual mehrere Deutungsmöglichkeiten zuließ. Dann propagierte man die eigene Deutung und diskutierte die strittigen Handlungen des Rituals, veränderte sie oder ersetzte sie ganz“; vgl. auch ebd., S. 66 und S. 84. – Gegen die Vorstellung einer prinzipiellen Ambiguität und Mehrdeutigkeit von Ritualen vgl. allerdings Althoff, Beratungen (wie Anm. 8), S. 57  f., Anm. 14; ders., Veränderbarkeit (wie Anm. 8), S. 175; ders., Inszenierung verpflichtet (wie Anm. 12), S. 62, Anm. 6; ders., Baupläne (wie Anm. 8), S. 181: „Ihre Akte waren nicht geheimnisvoll, unverständlich, mehrdeutig oder gar ohne konkreten Sinn; der Sinn des rituellen Tuns war vielmehr zumindest für die Wissenden eindeutig – sonst hätten die Handlungen ja nicht für die Zukunft binden können.“ 13 Buc, Dangers (wie Anm. 5), S. 9 f. 14 Ebd., S. 10; vgl. auch Gerd Althoff, Herrschaftsausübung durch symbolisches Handeln oder: Möglichkeiten und Grenzen der Herrschaft durch Zeichen, in: Comunicare e significare nell’alto medioevo (Settimane di studio della fondazione Centro italiano di studi sull’alto medioevo 52), Spoleto 2005, Bd. 1, S. 367–391, hier S. 389. 15 Vgl. Althoff, Beratungen (wie Anm. 8), S. 58 f.; ders., Veränderbarkeit (wie Anm. 8), S. 176; ders., Vertrauensbildung durch symbolisches Handeln, in: Frühmittelalterliche Studien 39, 2005, S. 247–252, hier S. 248; ders., Baupläne (wie Anm. 8), S. 180 f.; ders., Rituale und ihre Spielregeln (wie Anm. 1), S. 52; ders., Inszenierungscharakter (wie Anm. 7), S. 90; ders., Herrschaftsausübung (wie Anm. 14), S. 374 sowie S. 381; ders., Rituale als ordnungsstiftende Elemente (wie Anm. 8), S. 393; ders., Inszenierung verpflichtet (wie Anm. 12), S. 63 f. und S. 83. 16 Althoff, Rituale als ordnungsstiftende Elemente (wie Anm. 8), S. 393; vgl. auch ebd., S. 397. 17 Vgl. Althoff, Beratungen (wie Anm. 8), S. 56  f.; ders., Vertrauensbildung (wie Anm. 15), S. 249 f.; ders., Herrschen ohne Staat. Ressourcen und Rituale, in: Matthias Meinhardt / Andreas Ranft / Stephan Selzer (Hgg.), Oldenbourg Geschichte Lehrbuch. Mittelalter, München 2007, S. 101 f., hier S. 102; ders., Herrschaftsausübung (wie Anm. 14), S. 382; ders., Rituale als ordnungsstiftende Elemente (wie Anm. 8), S. 394: „Es herrschte im Mittelalter Einvernehmen darüber, dass rituelle Handlungen Verpflichtungen hinsichtlich zukünftigen Verhaltens zum Ausdruck brachten. Rituale beinhalteten Versprechungen für die Zukunft.“

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gespiegelte Spontaneität gerade hierfür funktional: Was in der Öffentlichkeit als vermeintlich spontanes und freiwilliges Handeln gezeigt wurde, verpflichtete den Akteur nur umso mehr.18 Zumindest für die Herstellung von Frieden konnte die Ambiguität des Gezeigten dabei bisweilen sogar hilfreich sein; denn sie erlaubte es, Dissens zu verschleiern oder im Ungewissen zu belassen.19 So vermögen Rituale zwar auch nach dieser Position durchaus zur Stabilisierung der sozialen Ordnung beizutragen.20 Aber die Spielregeln haben hier doch einen anderen Stellenwert als in der ersten Position. Das wird schon daran deutlich, dass jetzt strenggenommen zwei Typen von Regeln auseinanderzuhalten sind: Die einen regulierten die Art und Weise, wie Vorklärungen abliefen, Vermittler eingeschaltet wurden, Inszenierungen verabredet und umgesetzt werden konnten.21 Was dann aber im Einzelnen aufgeführt wurde, war durch einen zweiten, anderen Typ von Regeln angeleitet. Regeln dieses zweiten Typs machten bestenfalls ein Angebot – etwa wie man eine deditio normalerweise durchführen sollte. Aber sie waren in viel höherem Maße verhandelbar, flexibel, dehnbar – und damit zugleich auch offener für Manipulationen. In dieser zweiten Position haben Rituale zwar auch eine gewisse Macht über diejenigen, die sie aufführen: Sie legen den Akteur auf das öffentlich Gezeigte fest. Aber zugleich sind hier die Rituale auch selbst ein Instrument der Macht – ein Instrument, das die Akteure bewusst für ihre Interessen einsetzen konnten.22 Beide Positionen sind plausibel und ich möchte deshalb vorschlagen, dass wir an beiden festhalten sollten. Um sie miteinander verbinden zu können, müssen wir allerdings das Wissen der Akteure über die Regeln ihres Handelns differenziert konzipieren. Ich möchte dafür ein Begriffspaar zur Diskussion stellen, das Anthony Giddens für seine „Theorie der Strukturierung“ eingeführt hat: ‚praktisches‘ und ‚diskursives‘ Wissen. Diese Begriffe sind interessant, wenn wir nach dem Zusammenhang zwischen Regeln, ihren Auswirkungen auf das Handeln und dem Wissen der Akteure über ihre Welt fragen. Denn genau dieser Zusammenhang ist ein zentrales Thema der Gidden’schen Theorie.

18 Vgl. Althoff, Rituale als ordnungsstiftende Elemente (wie Anm. 8), S. 396; ders., Vertrauensbildung (wie Anm. 15), S. 251; ders., Baupläne (wie Anm. 8), S. 189. 19 Vgl. Althoff, Inszenierung verpflichtet (wie Anm. 12), S. 84: „Das schließt aber nicht aus, […] daß man Kompromißlösungen fand, bei denen mehrere Deutungen möglich waren.“ 20 Dazu bes. Althoff, Rituale als ordnungsstiftende Elemente (wie Anm. 8), S. 397 und passim. 21 Althoff, Herrschaftsausübung (wie Anm. 14), S. 378, spricht von einer „elaborierten Inszenierungstechnik“; die Formulierung auch bei dems., Rituale und ihre Spielregeln (wie Anm. 1), S. 52; ders., Inszenierung verpflichtet (wie Anm. 12), S. 64. 22 Vgl. Althoff, Macht (wie Anm. 11), S. 200.

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II. ‚Praktisches‘ und ‚diskursives‘ Wissen über Regeln bei Giddens Giddens unterscheidet vier Arten von Regeln:23 1) „Die Regel, die das Schachmatt im Schach definiert, lautet …“ Nicht Giddens selbst, aber andere Sozialwissenschaftler nennen solche Regeln ‚konstitutive‘ Regeln: Denn der Satz sagt etwas darüber aus, was das Schachspiel als solches ausmacht. Anders formuliert: Wer sich nicht an diese Regel hält, mag zwar irgendetwas spielen, aber jedenfalls nicht Schach. 2) „In der Regel steht R. jeden Tag um sechs Uhr auf.“ Regeln dieser Art könnte man auch als ‚Routine‘, ‚Brauch‘, oder ‚Gewohnheit‘ bezeichnen. 3) „Es ist eine Regel, daß alle Arbeiter um acht Uhr morgens die Stechuhr drücken müssen.“ Manche nennen solche Regeln – tautologisch – ‚regulativ‘: Der Satz hilft kaum zu definieren, was Arbeit ist. Giddens selbst hält allerdings die Unterscheidung zwischen ‚konstitutiven‘ und ‚regulativen‘ Regeln nicht für hilfreich. 4) „Eine Formel: an = n2 + n–1“ Es mag zunächst erstaunlich klingen, aber Giddens behauptet: Für Wissenschaftler, die sich für menschliches Miteinander interessieren, sei die vierte Art von Regeln am interessantesten. Giddens selbst möchte eine Theorie aufstellen, die Struktur und individuelles Handeln nicht erst auseinanderdividiert und dann wie Henne und Ei gegeneinander ausspielt; seine Theorie soll vielmehr Struktur und Handeln in ihrer unauflöslichen Interdependenz angemessen erfassen.24 Hierfür sind Regeln der vierten Kategorie ein zentraler Bestandteil. Für unser Thema könnte diese Art von Regeln damit ebenfalls interessant sein: Denn hier geht es ja um den Zusammenhang zwischen dem Ritual (Struktur), seiner Aufführung (Handeln) und den Regeln, die dem zugrunde liegen. Giddens nimmt an, dass ziemlich viele Menschen in der Lage wären, eine Zahlenreihe fortzusetzen, wie zum Beispiel: 1, 5, 11, 19 … Giddens’ Argument lautet nun: Wenn wir in der Lage sind, die Zahlenreihe fortzuschreiben, wenn wir also erfolgreich in einer Routine fortfahren können, heißt das noch lange nicht, dass wir zu diesem Zweck zuvor sprachlich eine Regel 23 Das Folgende nach Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung (Theorie und Gesellschaft 1), Frankfurt a. M./New York 31997, S. 71–73. 24 Ebd., S. 41.

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ausformuliert haben – schon gar nicht eine Regel in einer abstrakten Form, die da lautet: an = n2 + n–1. In Anlehnung an Giddens nennt man das Wissen, das wir brauchen, um erfolgreich in unseren Routinen fortzufahren, ‚praktisches Wissen‘ und unterscheidet es von ‚diskursivem Wissen‘, also dem Wissen, das die Akteure ohne Weiteres sprachlich artikulieren können.25 Die Unterscheidung dieser Modi ist für Giddens fundamental: Sie erlaubt es ihm nämlich, davon auszugehen, dass die meisten Akteure ein hervorragendes, detailliertes, komplexes Wissen über ihre soziale Ordnung haben – und trotzdem muss er ihnen nicht unterstellen, sie könnten ohne Weiteres eine gleichsam wissenschaftliche Beschreibung dieser Ordnung liefern. Denn ein Großteil unseres Wissens über unsere soziale Ordnung, so Giddens, sei eben ‚praktisches‘ Wissen: Im Zusammenspiel mit unseren Ressourcen erlaubt es uns, im Alltag zu handeln.26 Die Grenze zwischen praktischem und diskursivem Wissen ist nun allerdings aus Giddens’ Sicht nicht unveränderlich. Menschen können in ihrem praktischen Wissen irritiert werden. Das kann etwa dann geschehen, wenn bisher erfolgreiches Handeln mehrfach hintereinander scheitert. Solche Erfahrungen können Menschen ins Grübeln bringen, können sie zur Reflexion zwingen – und einen Prozess anstoßen, in dem praktisches Wissen in diskursives Wissen überführt wird, das heißt: sprachlich gefasst, auch in sprachlich formulierte Regeln gegossen wird. Allerdings betont Giddens dabei: „Die diskursive Formulierung einer Regel ist bereits eine Interpretation eben dieser Regel“.27 Ihren eigentlichen Witz erhält die Unterscheidung nun dadurch, dass Giddens noch zwei weitere Momente einführt: die nicht-intendierten Folgen des Handelns und die Figur der Reflexivität.28 Giddens konzipiert Akteure als hochkompetente Kenner ihrer sozialen Ordnung, sei es nun in Form von praktischem oder diskursivem Wissen; und er sieht Wissen zugleich als handlungsermöglichend wie auch als handlungsbegrenzend an. Damit hat aber neues, anderes Wissen (und auch Wissen über dieses Wissen) zugleich das Potential, das Ineinander von Handeln und Struktur zu verändern. Diese Veränderungen können dann ihrerseits wieder zu Veränderungen im Wissen darüber führen – und so weiter. Strukturierungen sind hier also alles andere als starr oder statisch, sondern stets diachron, im Verlauf von Zeit gedacht: „Die Strukturierung sozialer Systeme zu analysieren bedeutet, zu untersuchen, wie diese in Interaktionszusammenhängen produziert und reproduziert werden; solche Systeme gründen 25 26 27 28

Vgl. ebd., bes. S. 91–95. Vgl. ebd., S. 54 f.; S. 77 f. Ebd., S. 74. Vgl. ebd., S. 60–65 und S. 78–80.

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in den bewusst vollzogenen Handlungen situierter Akteure, die sich in den verschiedenen Handlungskontexten jeweils auf Regeln und Ressouren beziehen.“29 Ein etwas plakatives Beispiel: Das Polit-Barometer im Zweiten Deutschen Fernsehen misst regelmäßig politische Stimmungen in Deutschland; das diskursive Wissen, das es darüber massenmedial verbreitet, beeinflusst seinerseits aber sowohl das Handeln von Politikern als auch politische Stimmungen, die dann wiederum im Polit-Barometer gemessen werden. Das Beispiel veranschaulicht zugleich, warum Giddens sich für nicht-intendierte Folgen von Handeln interessiert: Die Intention der Macher des Politbarometers dürfte kaum sein, die eigenen, mit hohem Aufwand erzielten Messergebnisse gleich wieder unsicher und damit unzuverlässig zu machen. Analog ist es bei unserem alltäglichen Handeln kaum unser aller Intention, unsere soziale Ordnung zu (re)produzieren – und doch tun wir das. So kann man zusammenfassen: In Giddens’ Theorie bringen praktisches und diskursives Wissen, intendierte und nicht-intendierte Folgen von Handeln und ihre unhintergehbare Rückbezogenheit auf früheres Handeln und Wissen im Verlauf der Zeit Strukturierungen hervor und treiben sie an. Handeln war allerdings – so meint jedenfalls Giddens – in großen Teilen der Geschichte räumlich und zeitlich ‚eingebettet‘. Erst seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts seien Veränderungen im Wissen zunehmend global und quasi ohne Zeitverlust verfügbar – und könnten zeitlich und räumlich entgrenzt (‚disembedded‘) reflexiv auf das Wissen und Handeln der Akteure wirken30. Ob das historisch stimmt, sei einmal dahingestellt. Aber wichtig für die Theorie bleibt die räumliche und zeitliche Einbettung in jedem Falle; sie gibt uns nämlich eine weitere Untersuchungsvariable an die Hand. Für Historiker, zumal für Mediävisten, kann die Unterscheidung zwischen praktischem und diskursivem Wissen allzu ehrgeizig klingen: Wir sind gewöhnt, mit ‚Quellen‘ umzugehen, die meistenteils sprachlich gefasst sind. Das Ziel muss jedoch gar nicht notwendigerweise sein, das praktische Wissen der Akteure in seinem Gehalt zu erfassen. Wir müssen diesem Wissen erst einmal nur einen Platz in unseren Modellen einräumen. Das heißt konkret: Vor die mittlerweile wohletablierte Unterscheidung mündlich/schriftlich wäre noch die Unterscheidung praktisch/diskursiv zu setzen. Zumindest wenn wir die Geschichte ritueller Kommunikation schreiben wollen31 – wenn wir also Veränderungen, Wandel, Zäsuren beobachten und erklären wollen – könnten für uns außerdem auch die Elemente der Reflexivität, der nicht-intendierten Folgen von Handeln und der raumzeitlichen Einbettung nützlich sein. 29 Ebd., S. 77. 30 Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, Stanford 1990. 31 So zu Recht: Althoff, Macht (wie Anm. 11), S. 26–28 und S. 195–199.

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III. Das Beispiel des Lehnswesens Wie Gerd Althoff in seinem Beitrag über Ambiguität in diesem Band möchte auch ich das Lehnswesen als Beispiel heranziehen – ein Untersuchungsgegenstand, der nicht zuletzt deshalb interessant ist, weil den Mediävisten hier seit einigen Jahren ein Stück Handbuchwissen nach dem anderen abhanden kommt.32 Ziemlich sicher können wir uns mittlerweile immerhin der Chronologie sein: Ein Kind der fränkischen Kriegergesellschaft der Jahre um 700, wie FrançoisLouis Ganshof gemeint hat, war das Lehnswesen sicher nicht.33 Es entwickelte sich später, seit Ende des 10. Jahrhunderts, und zwar parallel in recht verschiedenen Regionen Europas – früh und deutlich etwa in Südfrankreich und Katalonien,34 in Flandern35 und Oberitalien.36 32 Susan Reynolds, Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted, Oxford 1994; dies., Afterthoughts on ‚Fiefs and Vassals‘, in: The Haskins Society Journal 9, 1997, S. 1–16; Il feudalesimo nell’alto medioevo (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 47), 2 Bde., Spoleto 2000; Jürgen Dendorfer / Roman Deutinger (Hgg.), Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz (MittelalterForschungen 34), Ostfildern 2010; zuletzt: Karl-Heinz Spiess (Hg.), Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen 76), Ostfildern 2013. 33 François Louis Ganshof, Was ist das Lehnswesen?, Darmstadt 61983, S. 1–18 (frz. Erstausg. Brüssel 1944); vgl. dagegen im Übrigen schon Herwig Wolfram, Karl Martell und das fränkische Lehenswesen. Aufnahme eines Nichtbestandes, in: Jörg Jarnut / Ulrich Nonn / Michael Richter (Hgg.), Karl Martell in seiner Zeit (Francia Beiheft 37), Sigmaringen 1994, S. 61–78. 34 Vgl. Thomas N. Bisson, Lordship and Tenurial Dependence in Flanders, Provence, and Occitania (1050–1200), in: Il feudalesimo (wie Anm. 32), Bd. 1, S. 389–446; Hélène Débax, La féodalité languedocienne, xie–xiie siècles. Serments, hommages et fiefs dans le Languedoc des Trencavel, Toulouse 2003; dies., Le serrement des mains. Éléments pour une analyse du rituel des serments féodaux en Languedoc et en Provence (xie–xiie siècles), in: Le Moyen Age 113, 2007, S. 9–23; dies., „Une féodalité qui sent l’encre“. Typologie des actes féodaux dans le Languedoc des xie–xiie siècles, in: Jean-François Nieus (Hg.), Le vassal, le fief et l’écrit. Pratiques d’écritures et enjeux documentaires dans le champ de la féodalité xie–xve s., Turnhout 2008, S. 35–70. – Zu Katalonien grundlegend, aber in der Gesamtdeutung heute umstritten: Pierre Bonnassie, La Catalogne du milieu du xe à la fin du xie siècle, 2 Bde., Toulouse 1975/76. 35 Vgl. Dirk Heirbaut, Not European Feudalism, but Flemish Feudalism. A New Reading of Galbert of Bruges’s Data on Feudalism in the Context of Early Twelfth-Century Flanders, in: Jeff Rider / Alan V. Murray (Hgg.), Galbert of Bruges and the Historiography of Medieval Flanders, Washington, DC 2009, S. 56–88; ders., Rituale und Rechtsgewohnheiten im flämischen Lehnrecht des hohen Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 41, 2008, S. 351–361; ders., Flanders. A Pioneer of State-Oriented Feudalism? Feudalism as an Instrument of Comital Power in Flanders During the High Middle Ages (1000–1300), in: Anthony Musson (Hg.), Expectations of the Law in the Middle Ages, Woodbridge 2001, S. 23–34. 36 Vgl. Hagen Keller, Das Edictum de beneficiis Konrads II. und die Entwicklung des Lehnswesens in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, in: Il feudalesimo (wie Anm. 32), Bd. 1, S. 227– 257; François Menant, La féodalité italienne entre xie et xiie siècles, in: ebd., S. 347–383; Amleto Spicciani, Concessioni livellarie, impegni militari non vassallatici e castelli. Un feudalesimo informale (secoli x–xi), in: ebd., S. 175–222.

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Zugleich ist das Lehnswesen bekanntlich eines der Untersuchungsfelder, in dem die Forschung schon seit Langem intensiv über Symbole, Gesten und Rituale nachgedacht hat.37 Symbolische Kommunikation spielte hier in der Tat eine prominente Rolle: Da legen Männer ihre Hände in die Hände ihres Herrn; da wird gekniet und geküsst; da werden Eide geschworen, Stäbe und allerlei andere Gegenstände hin- und hergereicht.38 Auch hier haben wir mittlerweile gelernt, wie uneindeutig Handlungen sein konnten: Der Notar Galbert von Brügge beschreibt die allgemeine Huldigung der Flamen für den neuen Grafen Wilhelm Clito von Flandern Anfang April 1127 fast mit denselben Wörtern wie die Erneuerung der Vasallität nach dem Herrenfall: Hier wie dort ist von hominium, securitas und fides die Rede; und doch war die allgemeine Huldigung der Untertanen und die Erneuerung der Vasallität nach einem Herrenfall durchaus nicht dasselbe.39 Jürgen Dendorfer hat jüngst gezeigt, wie vieldeutig das hominium auch im Reich bis weit ins 12. Jahrhundert hinein war: Nicht nur für die Belehnung und die Huldigung von Untertanen wurde es genutzt, sondern auch, um Vereinbarungen aller Art zu bekräftigen – zumal wenn es galt, einen Konflikt zu beenden.40 So sind Mediävisten heute vorsichtig geworden: Sie zögern, aus Formulierungen wie manum dare oder auch hominium, securitatem oder fidelitatem facere auf ein spezifisches, einigermaßen stabiles Ritual mit feststehender Bedeutung im Rahmen eines Lehnswesens à la Ganshof zu schließen.41 Und doch steht fest: In verschiedenen Regionen Europas hat sich seit dem späteren 10. Jahrhundert, zu je eigener Zeit und in je etwas eigener Weise, 37 Jacques Le Goff, Le rituel symbolique de la vassalité, in: ders., Pour un autre Moyen Âge. Temps, travail et culture en Occident, Paris 1977, S. 349–420. 38 Zur Investitur: Hagen Keller, Die Investitur. Ein Beitrag zum Problem der ‚Staatssymbolik‘ im Hochmittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 27, 1993, S. 51–86; für einen interkulturellen Vergleich auch: Marion Steinicke / Stefan Weinfurter (Hgg.), Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich, Köln 2005. 39 Galbert von Brügge, De multro, traditione, et occisione gloriosi Karoli comitis Flandriarum, hg. von Jeff Rider (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 131), Turnhout 1994, cap. 56, S. 105 f.; dazu zuletzt in feiner Differenzierung: Philippe Depreux, Lehnsrechtliche Symbolhandlungen. Handgang und Investitur im Bericht Galberts von Brügge zur Anerkennung Wilhelm Clitos als Graf von Flandern, in: Dendorfer / Deutinger (Hgg.), Das Lehnswesen im Hochmittelalter (wie Anm. 32), S. 387–399. 40 Vgl. Jürgen Dendorfer, Das Wormser Konkordat – ein Schritt auf dem Weg zur Feudalisierung der Reichsverfassung?, in: ders. / Deutinger (Hgg.), Das Lehnswesen im Hochmittelalter (wie Anm. 32), S. 299–328, hier S. 313–326. 41 Zur subiectio principum vgl. in diesem Sinne etwa auch Matthias Becher, Die subiectio principum. Zum Charakter der Huldigung im Franken- und Ostfrankenreich bis zum Beginn des 11. Jahrhunderts, in: Stuart Airlie / Walter Pohl / Helmut Reimitz (Hgg.), Staat im frühen Mittelalter (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Denkschriften 334/Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006, S. 163– 178.

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ein neuer Zusammenhang zwischen Besitz und sozialen Beziehungen entwickelt, der sich seit dem 12. Jahrhundert vielerorts zu dem systematisiert und verengt, was wir schließlich als ‚Lehnswesen‘ bezeichnen können. Man kann diese Entwicklung analysieren als eine reflexive Strukturierung, mit immer neuen Übergängen von praktischem zu diskursivem Wissen (bis hin zur Verschriftlichung diskursiven Wissens), was dann jeweils wieder neues Handeln (inklusive nicht-intendierter Folgen), neue Routinen und neues praktisches und diskursives Wissen hervorbringt. Im Rückblick aus dem frühen 21. Jahrhundert macht die Mannigfaltigkeit und Uneindeutigkeit der Praktiken staunen; in ihrem jeweiligen raumzeitlichen Zusammenhang aber wussten die Akteure, was sie taten. Wir müssen nicht annehmen, dass vor jedem hominium abgesprochen werden musste, wie es durchgeführt werden sollte und was es im Einzelnen meinte. Ganz im Gegenteil: Derartige Absprachen werden kaum je notwendig gewesen sein, denn das Wissen darüber war Teil des praktischen Wissens. Allerdings war dieses Wissen räumlich und zeitlich eingebettet: Jener prolocutor des Grafen von Flandern, der den Lehnsleuten in Brügge am 7. April 1127 die Eidesformel vorsprach,42 hätte sich wahrscheinlich gewundert, wenn er dem Eid beigewohnt hätte, den zwischen 1000 und 1032 die Brüder Odalrich und Bernard, Söhne der Aladice, dem Vicecomes Ato II. von Albi-Nîmes für die Burg Auriac-sur-Vendinelle in Südwestfrankreich geschworen hatten. Odalrich und Bernhard versprachen, die Burg Auriac keinem anderen zu überlassen, keiner Frau und keinem Mann, auf keine Weise; und sie würden Ato ohne List und Betrug wie auch ohne Aussicht auf Gewinn Beistand leisten, um die Burg notfalls zurückzuerobern.43 Einen solchen Eid dürfte unser flämischer prolocutor nie gehört haben. Besonders befremdlich aber hätte er es wohl gefunden, dass dieser Eid anschließend auf Pergament schriftlich dokumentiert wurde!44 Die überkommene Rede von der anarchie féodale geht in die Irre: Weder die mündliche Praxis in Flandern noch die schriftbasierte Praxis im Languedoc war regellos. Die Beteiligten wussten sehr genau, was sie taten; sie wussten, wie sie in ihren Routinen fortfahren konnten – wussten gleichsam, wie die oben erwähnte Zahlenreihe fortzusetzen war. Man darf ihnen ohne Weiteres ein praktisches Wissen um die Regeln zuschreiben. Wir können diese Regeln sogar als ‚Spielregeln‘ bezeichnen – solange wir uns das Wissen über diese Spielregeln nicht so vorstellen wie dasjenige, das zwei Schachspieler von 42 Galbert von Brügge, De multro (wie Anm. 39), cap. 56, S. 106. 43 Der Text ist im noch nicht edierten Cartulaire des Trencavel überliefert; ein Druck findet sich bei Débax, „Une féodalité qui sent l’encre“ (wie Anm. 34), S. 59. 44 Zu dieser Art von Dokumenten vgl. ebd., S. 46–50.

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den Regeln des Schachspiels haben.45 Wir sollten uns dieses Wissen vielmehr so vorstellen, wie das Wissen, das Kinder über die Regeln von „Räuberbande“, „Jungs gegen Mädchen“ oder „Vater-Mutter-Kind“ haben, also über die Regeln ihrer freien Spiele, die sie alltäglich im Kindergarten oder auf dem Pausenhof spielen.46 Auch hier ist das Geschehen alles andere als regellos; aber wer drei der miteinander spielenden Kinder nach den Regeln fragt, kann fünf unterschiedliche Antworten bekommen – wenn auch möglicherweise erst nach einigem Überlegen, nach mehreren, teils widersprüchlichen Anläufen und unter Umständen mit wenig Konsistenz. Und wer eine Woche später noch einmal nachfragt, kann schon wieder von anderen Regeln hören. Und dennoch: Um erfolgreich zu interagieren, um zu wissen, wie sie in ihren Routinen fortfahren, brauchen die Kinder keine Vorabsprachen, keine Inszenierung; sie haben ein ‚praktisches Wissen‘ ihrer Regeln. Dasselbe können wir für den Eid der Flamen in Brügge im April 1127 annehmen oder für den Eid, den Odalrich und Bernhard für Auriac-sur-Vendinelle schworen. Aber ‚praktisches Wissen‘ muss nicht ewig solches bleiben. Wenn Handeln nicht die gewünschten Ergebnisse zeitigt, wenn die Akteure dies beobachten, wenn solche Enttäuschungen von Erwartungen sich häufen – dann können Menschen darüber nachzudenken beginnen und ein ‚diskursives Wissen‘ ausbilden. Sie können anfangen, jene Regeln, die ihr Handeln leiten, in sprachliche Form zu fassen. Man wird das etwa dann erwarten dürfen, wenn es Streit gibt: In diesem Fall werden die Akteure darüber diskutieren müssen, wie ihre Routinen funktionieren – und welchen Regeln sie eigentlich folgen. Das galt zwar im Languedoc nicht für die Durchführung des Eides und seiner schriftlichen Fixierung; es galt aber sehr wohl schon für dessen Inhalte. Hier wurden, wie gesehen, bereits im 11. Jahrhundert Regeln sprachlich formuliert, die sogar recht detailliert sein konnten. Ein Beispiel aus Katalonien.47 Zwischen 1052 und 1071 versprach Berenger Riculf dem Grafen Raimond Berengar I. und der Gräfin Almodis von Barcelona Dienst als homo solidus. Das Schriftstück, das die Übereinkunft darüber festhielt, formulierte zumindest in Ansätzen, was das bedeutete: Be45 Vgl. auch Steffen Patzold, ... inter pagensium nostrorum gladios vivimus. Zu den „Spielregeln“ der Konfliktführung in Niederlothringen zur Zeit der Ottonen und frühen Salier, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 118, 2001, S. 58–99, hier S. 65 und S. 97 f. 46 Giddens, Konstitution (wie Anm. 23), S. 69 (der hier Ludwig Wittgenstein folgt). 47 Das Folgende nach einer undatierten, im Original überlieferten convenientia, die gedruckt ist bei Pierre Bonnassie, Les conventions féodales dans la Catalogne du xie siècle, in: ders., Les sociétés de l’an mil. Un monde entre deux âges (Bibliothèque du Moyen Âge), Brüssel 2001, S. 411– 434 (Erstausg. 1968), hier S. 433.

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renger Riculf würde nur diejenigen seiner seniores als solche behalten, für die Graf und Gräfin ihm dies erlaubten, den anderen aber die Treue aufkündigen; er würde mit dem Grafen hostes et cavalgadas durchführen und ihm bei Hof und Beratung folgen; er würde Frieden halten mit allen, mit denen Graf und Gräfin das wollten, – und Krieg führen gegen alle, von denen Graf und Gräfin das wollten, all das sine engan, also „ohne böse Hinterlist“ (= sine malo ingenio). Im Gegenzug würde Berenger Riculf vom Grafen dafür jährlich die Summe von 20 Unzen Gold erhalten. Die Regeln, wie man in Katalonien eine solche convenientia aushandelte und abschloss, blieben Teil des praktischen Wissens,48 der Inhalt aber begann diskursiv zu werden. Ein Beispiel aus Aquitanien.49 Als sich der Herzog Wilhelm V. von Aquitanien mit Hugo IV. von Lusignan über die Rechte und Pflichten von Herr und Mann stritt, da holte sich Wilhelm Rat bei dem hochgelehrten Bischof von Chartres; Fulbert hatte bei niemand Geringerem als Gerbert von Aurillac in Reims gelernt.50 Im Jahr 1020 belehrte er nun seinerseits den Herzog Wilhelm brieflich über die forma fidelitatis, und zwar auf der Grundlage der librorum auctoritas: „Wer seinem Herrn Treue schwört“, schrieb der Bischof, „muss folgende sechs Dinge immer im Gedächtnis haben: unversehrt, sicher, ehrenhaft, nützlich, leicht, möglich“. Dann ging Fulbert alle sechs Punkte durch, um so das rechte Verhalten eines Mannes gegenüber seinem Herrn zu definieren: von Incolume, videlicet, ne sit domino in damnum de corpore suo – bis hin zu Facile vel possibile, ne id bonum, quod dominus suus leviter facere poterat, faciat ei difficile. In diesen sechs Punkten, so Fulbert weiter, solle der Herr seinem Mann consilium und auxilium leisten, und zwar auf treue Weise (fideliter), wenn er denn eines Lehens (beneficium) würdig erscheinen wolle.51 48 Zur convenientia vgl. den klassischen Beitrag von Paul Ourliac, La „convenientia“, in: Études d’histoire du droit privé offertes à Pierre Petot, Paris 1959, S. 413–422; zuletzt ausführlich Adam J. Kosto, Making Agreements in Medieval Catalonia. Power, Order, and the Written Word, 1000–1200 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought: Fourth Series 51), Cambridge 2004. 49 Zum Folgenden: Stephen D. White, The Politics of Fidelity in Early Eleventh-Century France. Fulbert of Chartres, William of Aquitaine, and Hugh of Lusignan, in: ders., Re-Thinking Kinship and Feudalism in Early Medieval Europe, Aldershot 2005, VIII, S. 1–9; Dominique Barthélemy, Du nouveau sur le Conventum Hugonis?, in: Bibliothèque de l’École des Chartes 153, 1995, S. 483–495 (in kritischer Auseinandersetzung mit George Beech / Yves Chauvin / Georges Pon, Le „conventum“ (vers 1030), un précurseur aquitain des premières épopées (Publications romanes et françaises 212), Genf 1995, zugleich mit der älteren Literatur zum Konflikt und unserer wichtigsten Quelle darüber); zu den Beteiligten auch: Sidney Painter, The Lords of Lusignan in the Eleventh and Twelfth Centuries, in: Speculum 32, 1957, S. 27–47. 50 Zu Fulbert von Chartres und seinem Œuvre vgl. den Band von Michel Rouche (Hg.), Fulbert de Chartres. Précurseur de l’Europe médiévale?, Bonchamp-lès-Laval 2006. 51 The Letters and Poems of Fulbert of Chartres, hg. von Frederick Behrends, Oxford 1976, Nr. 51, S. 90–93.

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Auch hier wurde, aus einem Konflikt heraus, praktisches Wissen in diskursives Wissen überführt – bezeichnenderweise sogar auf der Basis von Büchern. Ein Brief eines gelehrten Bischofs verändert nicht die Welt. Aber Streitigkeiten solcher Art über die Durchführung, die Bedeutung, die Konsequenzen von Ritualen wie dem Handgang, der Investitur, dem Eid gab es auch andernorts: Hier sei nur an jenen bekannten Konflikt zwischen Bischöfen, Grafen und Markgrafen einerseits und ihren vasvasores andererseits erinnert, der Mitte der 1030er Jahre so sehr eskalierte, dass schließlich Konrad II. im Heerlager vor Mailand Ende Mai 1037 regeln ließ, wie künftig Streitigkeiten über beneficia ausgetragen werden sollten.52 Auch hier führte ein konkreter Konflikt dazu, einschlägige Regeln erst sprachlich zu fassen und sie dann sogar schriftlich zu fixieren. Eine Praxis im Umgang mit beneficia und der mit ihnen verbundenen Pflicht zum Kriegsdienst war damals aber zweifellos schon etabliert.53 Die Diskursivierung des Wissens aus dem Jahr 1037 würden dann – in der Zeit um 1100, jedenfalls aber vor 1136 – Rechtsgelehrte neuen Typs in Pavia und Mailand dazu verwenden, Traktate zu schreiben. In diesen Texten zwängten sie eine bunte Praxis von Landleihen und Dienstverpflichtungen in einige wenige Kategorien. Und sie fassten diese Praxis, die in einer ganz unpräzisen Alltagssprache lebte, zugleich auch in schärfer und präziser formulierte Regeln: Wer kann feuda geben, wer sie empfangen? Wie kann man ein feudum wieder verlieren? Wer kann ein feudum an wen unter welchen Bedingungen vererben? Was ist die Natur des feudum? Um die Mitte des 12. Jahrhunderts wurden diese Traktate gesammelt und kompiliert. Sie bildeten den Grundstock der sogenannten „Libri feudorum“, die bald schon in ihren verschiedenen Rezensionen in schließlich mehr als 200 Kopien in Europa Verbreitung finden sollten.54 Da waren sie nun: die Regeln des Lehnswesens im Format an = n2 + n–1. Mit der weiten Verbreitung der verschiedenen Rezensionen des Textes war das diskursive Wissen über diese Regeln bald räumlich zumindest in west- und mitteleuropäischem Maßstab disembedded. Die Ausbreitung dieses diskursiven Wissens veränderte die Praxis von Lehen und Vasallität zutiefst, ohne deshalb aber je einfach in ihr aufzugehen.

52 Edictum de beneficiis, hg. von Harry Bresslau (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 4), Hannover/Leipzig 1909, Nr. 244, S. 335–337. 53 Vgl. dazu Keller, Das Edictum (wie Anm. 36). 54 Dazu Maria Gigliola di Renzo Villata, La formazione dei „Libri feudorum“ (tra pratica di guidici e scienza di dottori…), in: Il feudalesimo (wie Anm. 32), S. 651–721.

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IV. Fazit Die kleine Geschichte des Lehnswesens sei hier abgebrochen. Das Fazit kann kurz ausfallen: Ich habe dafür geworben, dass wir den Begriff der ‚Spielregeln‘ weiter nutzen, ihn aber dazu auch weiter schärfen und das Wissen, das die Akteure über ihre Spielregeln hatten, möglichst differenziert konzipieren. Den größeren Teil der Spielregeln ritueller Kommunikation sollten wir uns nicht wie die Regeln des Schachspiels vorstellen, sondern eher wie die Regeln freier Kinderspiele. Die Unterscheidung zwischen ‚praktischem‘ und ‚diskursivem‘ Wissen kann uns dann – erstens – helfen zu akzeptieren, dass wir in vielen Einzelfällen in unseren Quellen nichts von mündlichen Vorklärungen hören (und auch wenig Anlass haben, solche Vorklärungen zu postulieren), in anderen Fällen dagegen solche Vorklärungen sicher nachweisen können. Die Unterscheidung kann uns damit – zweitens – helfen, ausgehend von den Arten des Wissens über Spielregeln, die Wirksamkeit von Ritualen für die Reproduktion der sozialen Ordnung differenzierter zu beschreiben. Und die Unterscheidung von praktischem und diskursivem Wissen über solche Regeln könnte uns schließlich – drittens – helfen, unserem historischen Kerngeschäft nachzugehen, nämlich eine Geschichte zu schreiben, also Wandel, Veränderungen, Entwicklungen in den Spielregeln ritueller Kommunikation und ihren Konsequenzen konzeptuell genauer zu erfassen. Der Blick auf Reflexivität und auf nicht-intendierte Folgen von Handeln könnte bei dieser Aufgabe hilfreich sein. Der Titel der Abschlusstagung, aus welcher der vorliegende Band hervorgegangen ist, war als Frage formuliert: „Alles nur symbolisch?“ Angesichts dessen mag es erlaubt sein, auch diesen Beitrag mit einer Frage zu beenden: Worin unterscheiden sich eigentlich die Regeln ritueller Kommunikation von den Regeln sozialer Praxis an sich? Was also wäre – in diesem Zusammenhang – das Proprium des Rituellen? Die Antwort darauf fällt schwer. Ambiguität, Unschärfe, Vieldeutigkeit allein wird man ungern als Alleinstellungsmerkmal des Rituellen gelten lassen; denn sie sind fast jedem Handeln inhärent, auch dem sprachlichen (und erst recht der schriftlich fixierten Sprache). Der Begriff der Spielregeln ist für die Erforschung ritueller Kommunikation zweifellos zentral, befreit er die Ritualforschung doch vom Funktionalismus. Aber der Begriff hat größeres Potential: Was in Münster für den Bereich ritueller und symbolischer Kommunikation im Feld mittelalterlicher Politikund Verfassungsgeschichte erprobt worden ist, wäre künftig auszuweiten – hin zu einer Geschichte der sozialen Praxis, ihrer Veränderungen, ihrer Brüche. Denn nicht alles war nur symbolisch.

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Transformationen des Rituellen. Überlegungen zur ‚Disambiguierung‘ symbolischer Kommunikation während des langen 12. Jahrhunderts

I. Einleitung Gerd Althoffs Ausführungen zum „Problem der Ambiguität“1 während der Vormoderne fassen zum einen Arbeiten zu mittelalterlichen symbolischen Kommunikationsformen zusammen, die er und seine Schülerinnen und Schüler am Münsteraner Sonderforschungsbereich „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ vorgelegt haben, zum anderen stellen sie die Frage, wie es mit der Erforschung eben dieser Formen weitergehen könnte. War in der Vergangenheit kritisch gegen diese Forschungen eingewendet worden, dass rituelle Handlungsweisen schwerlich konfliktbeladene Situationen klären konnten, wenn sie in ihrer Durchführung doch so variabel und mehrdeutig waren, so verweist Althoff hier auf jüngere Arbeiten zur Kulturspezifik und zur historischen Variabilität von Ambiguitätstoleranzen. Er schlägt vor, die von ihm untersuchten Kulturen künftig daraufhin zu befragen, in welchem Maß und auf welche Weise sie Mehrdeutigkeiten, vornehmlich solche der herrschaftlich-politischen Sphäre, verarbeiteten. Hat Steffen Patzold in seinem Beitrag den von Althoff in die wissenschaftliche Debatte eingebrachten Begriff der „Spielregeln“ symbolischer Kommunikation kritisch gewürdigt,2 so soll der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen, bedingt durch meine eigenen Interessen an Ritualen und an den von Historikern geschaffenen und verwalteten historischen Meistererzählungen, auf der Frage nach dem Prozess der „Disambiguierung“ liegen, die Althoff in die Debatte um die Veränderung von Ritualen innerhalb dieses Prozesses einbringt.3 Diese Schwerpunktset1

Vgl. Gerd Althoff, Spielregeln symbolischer Kommunikation und das Problem der Ambiguität, in diesem Band S. 35–51. 2 Vgl. Steffen Patzold, Von den Spielregeln ritueller Kommunikation zur sozialen Praxis. Ein Versuch über praktisches und diskursives Wissen im früheren Mittelalter, in diesem Band S. 53– 67. 3 Frank Rexroth, Politische Rituale und die Sprache des Politischen in der historischen Mittelalterforschung, in: Angela de Benedictis u. a. (Hgg.), Die Sprache des Politischen in actu. Zum Verhältnis von politischem Handeln und politischer Sprache von der Antike bis ins 20. Jahr-

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zung bringt es freilich mit sich, dass ein Konzept bereits jetzt historisiert und in wissenschaftshistorischer Hinsicht diskutiert wird, das gerade einmal im Entstehen begriffen ist. Gerade hierin aber besteht jedoch auch ein besonderer Reiz. In vier Thesen fasst Gerd Althoff die Erträge seiner Projekte zusammen. Erstens seien Verhaltenserwartungen während des Mittelalters vor allem mittels symbolischer bzw. ritueller Handlungen stabilisiert worden, weil Konsens über die bindende Kraft dieser Handlungen geherrscht habe. Zweitens seien diese rituellen Handlungen in ihrem Kern als Inszenierungen anzusehen, das heißt, dass ihre ‚Schauseite‘ essentiell gewesen sei und dass sie gerade deshalb vorher verhandelt oder abgesprochen worden seien. Drittens seien diese rituellen Handlungen in ihrer konkreten Gestaltung zugleich variabel gewesen: Es habe ein Grundschema gegeben, das nach konkreten Situationen und Interessen bewusst modifiziert worden sei. Und viertens und letztens sei aus diesem Grund in der Gestaltung des Rituals auch Dissens sichtbar geworden, so dass dieses wie ein „Frühwarnsystem“ funktioniert habe. So sei es auch durchaus möglich gewesen, dass Rituale misslingen, ja man habe sie bei Bedarf absichtsvoll zum Scheitern gebracht. Althoff bezeichnet das Regelwissen, das den Ritualen zugrundelag, bekanntlich als ein Wissen um „Spielregeln“, wobei die zugrunde liegenden Normen verbindlich und variabel zugleich gewesen seien. Sie seien belastbar, wenngleich nur ausnahmsweise abstrakt-generalisierend gefasst gewesen. In der Lebenswelt habe man sie eingeübt, und es habe Konsens darüber geherrscht, dass sie grundsätzlich bindend, im konkreten Fall aber verhandelbar gewesen seien. Als Einwand ist in der Vergangenheit gegen diese Lesart der symbolischen Handlungen vorgebracht worden, dass die Regeln, die ihnen zugrunde lagen, so ambivalent gewesen seien, dass man mit ihnen das Gelingen eines Bündnisses, eines Unterwerfungs- oder Versöhnungsakts nicht hinreichend erklären könne. Um diesem Einwand zu begegnen, verweist Althoff auf die hundert (Schriften zur politischen Kommunikation 1), Göttingen 2009, S. 71–90; ders., Tyrannen und Taugenichtse. Beobachtungen zur Ritualität europäischer Königsabsetzungen im späten Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 278, 2004, S. 27–53; ders., Rituale und Ritualismus in der historischen Mittelalterforschung. Eine Skizze, in: Hans-Werner Goetz / Jörg Jarnut (Hgg.), Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, München 2003, S. 391–406; ders., Das Mittelalter und die Moderne in den Meistererzählungen der historischen Wissenschaften, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 38, 2008, S. 12–31; ders. (Hg.), Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen (Historische Zeitschrift Beiheft N. F. 46), München 2007; ders., Die scholastische Wissenschaft in den Meistererzählungen von der europäischen Geschichte, in: Klaus Ridder / Steffen Patzold (Hgg.), Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität (Europa im Mittelalter 23), Berlin 2013, S. 111–134.

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beeindruckende Studie, die der Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer unlängst der „Kultur der Ambiguität“ in islamischen Gesellschaften gewidmet hat. Geht Bauer dabei auch zunächst von der Bewältigung sprachlicher Zweideutigkeiten und Unklarheiten aus, so widmet er seine Studie doch insgesamt den umfassenderen kulturellen Mustern, die für den Umgang mit solchen Ambiguitäten zur Verfügung standen bzw. stehen. Diese seien etwa in der klassischen arabisch-islamischen Kultur von großer Bedeutung gewesen, habe sich diese doch „mehr mit sprachlicher Ambiguität beschäftigt […] als jede andere Kultur vor und neben ihr“. Nicht das Ziel, Ambivalenzen zu eliminieren, habe aber diese Beschäftigung gesteuert, sondern vielmehr die Absicht, sie zu bändigen; und nicht der Wille zu dogmatischen Festlegungen, sondern der Versuch, den gesamten Interpretationsspielraum auszuleuchten, den ein Text eröffne, habe die Beschäftigung vorangetrieben.4 Bauers Ergebnisse veranlassen Althoff nun dazu, die Frage nach der „Kultur der Ambiguität“ an das lateinische Mittelalter zu richten. Für das frühere Mittelalter, für das einige Forscher die bindende Kraft von Ritualen belegten, andere aber auf deren Mehrdeutigkeit verwiesen und damit ihre Tauglichkeit für die Stabilisierung sozialer Bindungen bezweifelt haben, nimmt er – abermals in Anlehnung an Bauer – ein hohes Maß an „Ambiguitätstoleranz“ an. Überdies meint Althoff, dass sich um das 12. Jahrhundert herum ein „rapide[r] Wandel“ beobachten lasse, „der als Vorgang von Disambiguierung zu charakterisieren“ sei und der „gerade den Bereich der symbolischen Kommunikation zentral“ betroffen habe.5 Ausgelöst worden sei dieser Vorgang durch Prozesse der Verschriftlichung, durch zunehmend schriftgestützte Kommunikation – und dies auch in den Bereichen, in denen vorher die „Spielregeln“ dominant waren: Frieden, Bündnis und Konfliktbeilegung. Er verweist dabei bespielhaft auf die Ergebnisse, die Claudia Garnier in ihrer Dissertation über die politischen amicitiae und die fürstlichen Netzwerke des 13. Jahrhunderts erbracht hat: Bündnisverpflichtungen seien in dieser Ära mit zunehmender Präzision zu Pergament gebracht worden; die Beschneidung derjenigen Ambiguitäten, die für das frühere Mittelalter so charakteristisch gewesen seien, sei hier den Bündnispartnern beziehungsweise ihren Beratern offenbar ein wichtiges Anliegen gewesen.6 4 5 6

Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011, hier S. 30–45. Zu den Aufgaben kulturwissenschaftlicher Ambiguitätsforschung ebd., S. 41. Vgl. Althoff, Spielregeln symbolischer Kommunikation und das Problem der Ambiguität (wie Anm. 1), S. 35 und S. 47. Claudia Garnier, Amicus amicis – inimicus inimicis. Politische Freundschaft und fürstliche Netzwerke im 13. Jahrhundert (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 46), Stuttgart 2000.

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Wer die Arbeiten Althoffs und seiner Schüler sowie die Debatten darum verfolgt hat, kann gut nachvollziehen, dass das von Bauer ins Gespräch gebrachte Stichwort ‚Ambiguität‘ wie auch das Konzept der Disambiguierung für das Verständnis vormoderner Gesellschaften interessante Anknüpfungspunkte bietet. Im Folgenden soll es zunächst um die Frage gehen, welche historischen Verlaufsannahmen von der Vermutung eines entsprechenden Prozesses der Disambiguierung evoziert werden, sei es implizit oder explizit (2.). Im Anschluss daran soll anhand einiger weniger Beobachtungen und am Beispiel ausgewählter sozialer Felder (Religion, Recht, Wissenschaft) gezeigt werden, dass Momente der Vereindeutigung während der von Althoff angenommenen Transformations-Ära in einem dialektischen Prozess neue Ambiguitäten aus sich hervorbrachten, die in angemessener Weise mitbedacht werden müssen (3.). Drei Überlegungen, die sich aus diesen Beobachtungen ergeben, stehen am Schluss meiner Ausführungen (4.).

II. Die Historiker und das ‚lange 12. Jahrhundert‘ Die mit dem Schema von der „Disambiguierung“ im 12. Jahrhundert implizierte Zäsur ist aus einer ganzen Reihe von Periodisierungsversuchen gut bekannt. Schon häufig ist die in Deutschland nach wie vor dominierende Dreiteilung des Mittelalters in ‚Früh-‘, ‚Hoch-‘‚ und ‚Spätmittelalter‘ durch eine Zweiteilung in ein ‚früheres‘ und ein ‚späteres‘, ein ‚erstes‘ und ‚zweites‘ Mittelalter, ersetzt worden.7 Üblicherweise liegt ihr die Annahme einer Schwellenzeit von ca. 1050 bis ca. 1215 zugrunde; Historiker vor allem der englischsprachigen Welt sprechen in diesem Sinn gerne von einem „langen 12. Jahrhundert“.8 In Münster hat dieses Schema außer in Gerd Althoff auch 7

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Diese Zweiteilung entspricht manchen Periodisierungen, die in anderen nationalen Traditionen der Historie stabil eingebürgert sind, so in Italien (alto medioevo). Erich Meuthen, Gab es ein spätes Mittelalter?, in: Johannes Kunisch (Hg.), Spätzeit. Studien zu den Problemen eines historischen Epochenbegriffs (Historische Forschungen 42), Berlin 1990, S. 91–135, v. a. S. 120– 122. Die Diskussionen um dieses Epochenkonzept setzten ein mit dem 11. Kapitel („The Revolt of the Medievalists“) von Wallace K. Ferguson, The Renaissance in Historical Thought. Five Centuries of Interpretation, Cambridge, MA 1948. Sie erstrecken sich bis zur Gegenwart. Jüngere Stimmen dazu sind Frank Bezner, ‚Vela Veritatis‘. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der ‚Intellectual History‘ des 12. Jahrhunderts (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 85), Leiden u. a. 2005; Ders., Wissensmythen. Lateinische Literatur und Rationalisierung im 12. Jahrhundert, in: Wolframstudien 20, 2008, S. 41–71; Leidulf Melve, The Revolt of the Medievalists. Directions in Recent Research on the Twelfth-Century Renaissance, in: The Journal of Medieval History 32, 2006, S. 231–252; John van Engen, The Twelfth Century. Reading, Reason, and Revolt in a World of Custom, in: Thomas F. X. Noble / Ders. (Hgg.), European Transformations. The Long Twelfth Century, Notre Dame, IN 2012, S. 17–44. S. v. a. Peter von

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in Hagen Keller einen prominenten Fürsprecher und so hatte es auch bei der Konstituierung des vorangegangenen Münsteraner Sonderforschungsbereichs zur „Pragmatischen Schriftlichkeit“ (1986–1999) eine nicht unerhebliche Rolle gespielt.9 Dieses Periodisierungsschema brachte die Jahrhunderte seit der Gregorianischen Reform und vor allem seit den Rationalisierungsprozessen des 12. Jahrhunderts, die man als „Renaissancen“,10 als „Reformation“11 oder „Revolutionen“12 bezeichnet hat, in größere Nähe zur Welt der Neuzeit. Die Historiker, die sich auf dieses Schema gestützt haben, haben dabei meist die Auffassung vertreten, dass sich in jener Schwellenzeit Denkformen

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Moos, Das 12. Jahrhundert – eine ‚Renaissance‘ oder ein ‚Aufklärungszeitalter‘?, in: Mittellateinisches Jahrbuch 23, 1988, S. 1–10. Hagen Keller / Franz Josef Worstbrock, Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter. Der neue Sonderforschungsbereich 231 an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster, in: Frühmittelalterliche Studien 22, 1988, S. 388–409; Christel Meier (Hg.), Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter. Bericht über die Arbeit des Sonderforschungsbereichs 231 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 1986–1999, Münster 2003. Vgl. Hagen Keller, Überwindung und Gegenwart des ‚Mittelalters‘ in der europäischen Moderne. Abschiedsvorlesung, Münster 13. Juli 2002, in: Frühmittelalterliche Studien 37, 2003, S. 477–496, s. z. B. S. 484; ders., Die Verantwortung des Einzelnen und die Ordnung der Gemeinschaft. Zum Wandel gesellschaftlicher Werte im 12. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 40, 2006, S. 183–197; ders., Religiöse Leitbilder und das gesellschaftliche Kräftefeld am Ausgang der Romanik, in: Christoph Stiegemann / Matthias Wemhoff (Hgg.), Canossa 1077 – Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik (Ausst.kat. Paderborn 2006), München 2006, S. 184–198. Die Rede von einer „Renaissance des 12. Jahrhunderts“ findet sich bereits lange vor Charles Homer Haskins, doch ein Forschungskonzept wurde daraus erst mit dessen wirkmächtigem Buch von 1927: Charles Homer Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, Cambridge, MA 1927. Vgl. Gérard Paré / Adrien Brunet / Pierre Tremblay, La renaissance du xiie siècle, Paris/Ottawa 1933; Erwin Panofsky, Renaissance and Renaiscences in Western Art, Stockholm 21972, S. 55–68; Peter Weimar (Hg.), Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert (Züricher Hochschulforum 2), Zürich 1981; Robert L. Benson / Giles Constable (Hgg.), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, Cambridge, MA 1982; Willi Erzgräber (Hg.), Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongressakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes, Sigmaringen 1989; Richard W. Southern, Scholastic Humanism and the Unification of Europe, 2 Bde., Oxford 1995/2001; Robert Norman Swanson, The Twelfth-Century Renaissance, Manchester/ New York 1999; Noble / van Engen (Hgg.), Transformations (wie Anm. 8). Einen wirklichen Überblick über die Verwendungszusammenhänge hat wahrscheinlich niemand mehr, jedes einzelne der genannten Werke wartet eingangs mit seiner eigenen opulenten Literaturschau auf. Einen hilfreichen Einstieg bietet Hermann Jakobs, Kirchenreform und Hochmittelalter, 1046– 1215 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 7), München 41999, S. 150–158; vgl. auch die kritischen Würdigungen von Frank Bezner, Leidulf Melve und John van Engen in Anm. 8. Giles Constable, The Reformation of the Twelfth Century, Cambridge/New York 1996; Brenda Bolton, The Medieval Reformation, London 1983. Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt a. M. 21991 (engl. Erstausg. Cambridge, MA 1983); Robert I. Moore, Die erste europäische Revolution. Gesellschaft und Kultur im Hochmittelalter, München 2001. Die „Revolutionen“ im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte des 12. Jahrhunderts sind nachgewiesen bei Frank Rexroth, Die Einheit der Wissenschaft und der Eigensinn der Disziplinen. Zur Konkurrenz zweier Denkformen im 12. und 13. Jahrhundert, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 67, 2011, S. 19–50, hier S. 30 f. mit Anm. 31–36.

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durchgesetzt hätten, die für die weitere Geschichte des lateinischen Europa einschließlich der Moderne von tragender Bedeutung gewesen seien: Wissenschaftlichkeit und das „Prinzip der Rationalität“,13 Theoretisierung und zugleich „Verinnerlichung“,14 Individualität und Gewissen, der Aufschwung der lateinischen und der vernakularen Literaturen wie eben auch des pragmatischen Schriftgebrauchs, die Emanzipation der Schulen von den Kathedralen und Klöstern und die damit angestoßene Entstehung der Universität, rationalere Formen der Vergesellschaftung in Kommunen und Staaten und viele weitere Momente des Wandels. Gemeinhin gehören Debatten über Epochenumbrüche heute nicht zu den bevorzugten Schauplätzen der historisch-mediävistischen Forschung. Doch Bestandsaufnahmen zur Rolle des langen 12. Jahrhunderts und dessen Signifikanz für die Genese von Modernität werden immer wieder versucht. Jüngst hat John van Engen treffend bemerkt, dass die lange andauernde Begeisterung der Historiker für diese Ära auf die Faszination zurückzuführen sei, die die Moderne selbst samt der Frage nach ihren Ursprüngen auf uns ausübe.15 Frank Bezner hat mit Blick auf diese Imaginationen bezeichnenderweise von der „Perspektive (oder gar Vision) einer mittelalterlichen Moderne“ gesprochen.16 Diese Sinnebene könnten wir auch der Suche nach den Disambiguierungen des 12. Jahrhunderts getrost unterstellen: Sie böten auch einen Anlass, den modernen Umgang mit Ambivalenzen, Unklarheiten und dem „Anderen der Vernunft“ mitzudenken – die Leistungen, aber auch die Folgekosten, die die modernen Maximen der Gesetzlichkeit und der Eindeutigkeit produzieren.17 Die Zeit vom 12. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert als einen historischen Spannungsbogen zu begreifen, ist daher eine weithin akzeptierte Praxis, die in den verschiedenen nationalen Wissenschaftstraditionen jeweils ihre eigene Geschichte hat.18 Hatte die Annahme einer entsprechenden Epoche in 13 Wolfgang Kluxen, Der Begriff der Wissenschaft, in: Weimar (Hg.), Renaissance (wie Anm. 10), S. 273–293, die Hauptthese S. 288 f. 14 Georg Wieland, Rationalisierung und Verinnerlichung. Aspekte der geistigen Physiognomie des 12. Jahrhunderts, in: Jan P. Beckmann u. a. (Hgg.), Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, Hamburg 21996, S. 61–79. 15 van Engen, Century (wie Anm. 8), S. 17. 16 Bezner, ‚Vela‘ (wie Anm. 8), S. 18. 17 Gernot Böhme / Hartmut Böhme, Das Andere der Vernunft, Frankfurt a. M. 1985. Mit Zygmunt Bauman bezieht sich Althoff in seinem Beitrag nicht zufällig auf einen prominenten Vertreter derjenigen Denktradition, die in der Ambiguitäts-Feindlichkeit der Moderne deren schlimmste Ausprägungen angelegt sieht. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005. 18 In der französischen Historie ist sie etwa früh und dauerhaft präsent. Marc Blochs Unterscheidung eines ‚ersten‘ von einem ‚zweiten‘ Feudalzeitalter popularisiert sie. Marc Bloch, Die Feudalgesellschaft, Stuttgart 1999 (frz. Erstausg. 1939).

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der deutschen Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit zunächst dazu gedient, ein von sozialer Statik geprägtes ‚alteuropäisches‘ Zeitalter von der Dynamik der Veränderungen während der Moderne antithetisch abzuheben,19 führte der Aufschwung der Spätmittelalterforschung20 und die Etablierung der Frühneuzeitforschung als einem eigenen Fach innerhalb der Disziplin21 recht bald dazu, dass vor allem Historiker, die an Strukturen interessiert waren, die Ära vom 12. bis zum 18. Jahrhundert zunehmend als eine Zeit verstanden, die ihrerseits durchaus dynamisch war, ja mit der man sich sogar beschäftigen musste, wenn man die Genese der Moderne verstehen wollte. ‚Alteuropa‘ hörte also schon bald auf, deren Gegenüber zu sein, es wurde vielmehr als eine Epoche gefasst, deren Bedeutung sich nicht einseitig aus ihrem Abstand zur Moderne, sondern zugleich aus richtungweisenden, die Epochengrenze überschreitenden Dynamisierungen ergab. Der Kollektivsingular des europäischen ‚Aufbruchs‘ wurde gerne gebraucht, wenn man den Akzent auf diesen Aspekt legen wollte.22 Man konnte dann immer noch von einschneidenden 19 Dietrich Gerhard, Alte und Neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 10), Göttingen 1962, S. 44: „Obschon dieses ‚Alteuropa‘ gewiss nicht statisch gewesen ist, so haben in ihm doch den später erfolgreichen Kräften der Veränderung, der Zentralisation, des Strebens nach sozialer Gleichheit andere Kräfte siegreich entgegengewirkt. Damals überwiegen Überlieferung, landschaftliche Verwurzelung, ständische Gliederung. Diese Mächte geben Institutionen wie Sitte das Gepräge und werden ihrerseits durch diese gestärkt. Das elfte und zwölfte Jahrhundert sollte man als die Geburtsstunde von Alteuropa betrachten. […] Vor dem elften Jahrhundert sollte man nicht von einer Geschichte Europas sprechen.“ [Hervorhebung D. G.]. Vgl. Otto Brunner, Inneres Gefüge des Abendlandes, in: Historia Mundi, Bd. 6, Bern 1958, S. 319–385, v. a. S. 319–322. Dazu Hans Erich Bödeker / Ernst Hinrichs (Hgg.), Alteuropa – Ancien Régime – Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung, Stuttgart/Bad Cannstatt 1991. Den Begriff entlehnten Gerhard und Brunner bei Jacob Burckhardt, wo er modernitätskritisch gemeint war, jedoch nicht einfach auf eine vergangene Epoche verwies, sondern zugleich auf die Spuren jener Epoche in der Gegenwart. So erklärte Burckhardt anlässlich der Revolution von 1848, sein Interesse sei die Rettung und Bewahrung der Bildung Alteuropas. Wolfgang Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 11), Göttingen 1974, das Zitat S. 23, weiterhin v. a. Kap. V. 20 Frank Rexroth, Geschichte erforschen oder Geschichte schreiben? Die deutschen Historiker und ihr Spätmittelalter 1859–2009, in: Historische Zeitschrift 289, 2009, S. 109–147. 21 Jaana Eichhorn, Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation. Diskurse, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung, Göttingen 2006, S.  142–152; Wolfgang Reinhard, Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd.  9: Probleme deutscher Geschichte 1495–1806, Reichsreform und Reformation 1495–1555, Stuttgart 2001, S. 34 f. 22 Karl Bosl, Die Grundlagen der modernen Gesellschaft im Mittelalter. Eine deutsche Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters, Bd. 1 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 4), Stuttgart 1972, v. a. S. 18–60; ders., Die Unfreiheit im Übergang von der archaischen zur Aufbruchsepoche der mittelalterlichen Gesellschaft (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 1973/1), München 1973. Vgl. Rexroth, Politische Rituale (wie Anm. 3), v. a. S. 80 f.

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Richtungswechseln der europäischen Geschichte während der ‚Sattelzeit‘ des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts sprechen – die ‚alteuropäische‘ Vormoderne seit dem langen 12. Jahrhundert und die Moderne standen einander nicht mehr antithetisch gegenüber, sondern blieben in vielfältiger Weise aufeinander bezogen. Das Editorial der neu gegründeten „Zeitschrift für historische Forschung“ von 1974 etwa ruft heute diese Neubewertung in Erinnerung23 und auch Peter Moraws Synthese der Forschungen zum deutschen Spätmittelalter war weithin von ihr getragen: Die Sozialverhältnisse seit dem 12. Jahrhundert betrachtete er als flexibel und veränderlich, die der Jahrhunderte zuvor als starr.24 Damit wird deutlich, dass auch diese Epochenimagination nicht ohne den Antitypus eines früheren, vermeintlich ‚statischen‘ Zeitalters auskam. ‚Alteuropa‘ reichte für die meisten Historiker, die sich dieses Epochenkonzepts bedienten, keineswegs in die Tiefen der Vergangenheit zurück, sondern endete, rückwärts schreitend, bei den besagten ‚Aufbrüchen‘ des langen 12. Jahrhunderts. Für die Epoche jenseits dieser Zäsur bürgerten Historiker die Rede von einer europäischen ‚Archaik‘ ein, die sich ihrerseits von der Auflösung des römischen Reiches bis zur besagten Scheidelinie erstreckte.25 So war an die Seite der klassischen Dreiteilung der Geschichte in Antike, Mittelalter und Neuzeit eine ebenfalls dreigeteilte Alternative getreten: Auf ein ‚archaisches‘ Zeitalter folgte im Rahmen dieser Epochenimagination das ‚alteuropäische‘, das seinerseits im ausgehenden 18. Jahrhundert von der ‚Moderne‘ abgelöst wurde. Diese frühere, aus den Transformationen der antiken Kulturen heraus entstandene Ära bis zum 12. Jahrhundert schlüpfte hierdurch in die Rolle, die zuvor dem Mittelalter im Ganzen zugekommen war: nämlich das signifikante Andere des Betrachterstandpunkts samt seinen historischen Herleitungen zu sein, der primäre Referent für historische Differenzbehauptungen. Das frühere Mittelalter wurde zu einer Größe, die sich nicht durch den Aufweis von Kontinuitätslinien oder evidente Analogien in Beziehung zur Gegenwart des 23 Vorwort der Herausgeber, in: Zeitschrift für historische Forschung 1, 1971, S. 1 f. 24 Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter, 1250–1490 (Propyläen Geschichte Deutschlands 3), Berlin 1985, S. 68. 25 So die Titel in Anm. 22. Karl Bosl, Regensburgs politische Stellung im frühen Mittelalter, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 34, 1971, S. 3–14, dort S. 13 f. mit Bezug auf die Situation Regensburgs: „Hier beginnen sich zuerst in Süddeutschland die Bewegungen einer neuen Epoche des Aufbruchs zu regen, die die archaische Gesellschaft und Kultur im 11. Jahrhundert beenden.“ Mit Anspruch auf Grundsätzlichkeit Günther Schmidt, Religion, Mythos, Liturgie und Herrschaft im frühen Mittelalter. Zum Verständnis des Archaischen in der Geschichte, in: ebd., S. 15–84. Zu dieser Imagination Walter Pohl, Ursprungserzählungen und Gegenbilder. Das archaische Frühmittelalter, in: Rexroth (Hg.), Meistererzählungen (wie Anm. 3), S. 23– 41.

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modernen Betrachters setzen ließ, sie galt ganz im Gegenteil als „one of the primary sites of otherness“, wie man mit Lee Patterson und Gabrielle Spiegel sagen könnte,26 und wurde gerade dadurch zu einem wichtigen narrativen Element für die Selbstkonstituierung von Modernität. Dieser Prozess muss noch ein wenig ausführlicher ausgeleuchtet werden, denn von der ‚Archaik‘ des früheren Mittelalters ist während der letzten beiden Jahrzehnte nur noch selten die Rede gewesen, so dass die Signifikanz dieser Etikettierung nicht mehr unmittelbar einsichtig ist. Vor ca. 1990 war das anders gewesen. Rechtshistoriker hatten mit diesem Begriff den älteren Rechts-‚Formalismus‘ oder die frühmittelalterliche Buß- und Kompositionsgerichtsverfahren etikettiert und abgesetzt von der späteren Geltung einer ‚materiellen‘ Rechtsvorstellung.27 Gegenstand der HochmittelalterHistoriographie war die Durchdringung „archaische[r] Gesellschafts- und Denkformen“ durch christliche und antik-pagane Elemente gewesen.28 Der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt verwendete den Begriff, indem er von einer „Rearchaisierung“ der christlichen Ethik während der Spätantike und des frühen Mittelalters sprach und diese Phase bis zur Ära Peter Abaelards reichen ließ.29 Theoretisch niemals deutlich gefasst, hatte der Begriff als Marker für die besagte Fundamentaldifferenz der Jahrhunderte vor der Gregoriani26 Gabrielle Spiegel, The Past as Text. The Theory and Practice of Medieval Historiography, Baltimore/London 1997, S. 58. Dort wird freilich das gesamte Mittelalter so bezeichnet. 27 Gerhard Dilcher, Bürgerliche Vergemeinschaftung und friedenswahrende Verrechtlichung. Die Geschichte der mittelalterlichen Stadt als historisches Experiment, in: Jörg Calliess (Hg.), Wodurch und wie konstituiert sich Frieden?, Loccum 1997, S. 39–52, hier S. 42. Vgl. ders., Säkularisierung von Herrschaft durch Sakralisierung der Gerechtigkeit? Überlegungen zur Gerechtigkeitskonzeption bei Kaiser Friedrich II. und Ambrogio Lorenzetti, in: Inge Kroppenberg / Martin Löhnig / Dieter Schwab (Hgg.), Recht – Religion – Verfassung. Festschrift für Hans-Jürgen Becker zum 70. Geburtstag, Bielefeld 2009, S. 9–47, dort S. 11: „Das Erste Mittelalter, die Zeit vor der Wende um 1100, kennt die Ausdifferenzierung von Religion und der Legitimation politischer Macht gerade nicht: Einem archaischen Denken ist das Ineinanderwirken von Jenseitigem und Diesseitigem selbstverständlich, die unmittelbare Legitimation und Ableitung gerechter Herrschaft von Gott gehört dazu.“ Eine leitende Vorstellung war die „archaische[…] Zeit unsers [sic] Rechts“ auch für Wilhelm Ebel, Recht und Form. Vom Stilwandel im deutschen Recht (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 449), Tübingen 1975. Dieser Begriff durchzieht diese gesamte, bekanntlich äußerst wirkungsmächtige Studie, das Zitat ebd., S.  15. Ebel nahm für sich in Anspruch, dass „die These von der archaischen Epoche unseres Rechts“ durch seinen Vortrag auf einer Tagung des Konstanzer Arbeitskreises von 1957 „in das Repertoire einiger Historiker übernommen worden“ sei; ebd., S. 2. Vgl. Franz-Josef Arlinghaus, Sprachformeln und Fachsprache. Zur kommunikativen Funktion verschiedener Sprachmodi im vormodernen Gerichtswesen, in: Reiner Schulze (Hg.), Symbolische Kommunikation vor Gericht in der Frühen Neuzeit (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 51), Berlin 2006, S. 57–72, hier S. 63 f. 28 Hagen Keller, Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer, 1024–1250, Berlin 1986, S. 37. 29 Arnold Angenendt u. a., Gezählte Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 29, 1995, S. 1–71, hier S. 70; ders., Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, S. 23.

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schen Reform gedient und den Wechsel auf eine Ebene der typologisierenden Verallgemeinerung signalisiert (‚starr‘ – ‚dynamisch‘; ‚irrational‘ – ‚rational‘; ‚undifferenziert‘ – ‚differenziert‘). Das frühere Mittelalter war auf diese Weise stark verfremdet worden, was angesichts der ideologischen Vereinnahmungen, denen die Frühmittelalterforschung in früheren Generationen ausgesetzt gewesen war, wohl als Befreiung verstanden wurde. Nicht mehr „als Symbole für Deutschlands frühe Macht und Größe“ erschienen Heinrich I. und Otto I. derzeit, so Gerd Althoff und Hagen Keller in ihrer Doppelmonographie von 1985, „sondern eher als ferne Repräsentanten einer archaischen Gesellschaft, deren Überwindung ein erster Schritt auf dem Weg zur Moderne war.“30 Der Kontext, in dem diese Aussage stand, ist bezeichnend: Die Autoren hatten ihren Lesern auf den Seiten zuvor die ideologische Belastung ihres Themas verdeutlicht, indem sie die fatalen Debatten um die Sinnhaftigkeit ‚deutscher‘ Kaiserpolitik und die falsche Alternative ‚Kaiserpolitik oder Ostpolitik‘ referiert hatten.31 Das Diktum von der frühmittelalterlichen Archaik signalisierte die endgültige Verabschiedung von dieser disziplinären Herkunftswelt – keine Sinngebungen durch den Aufweis langer Kontinuitätslinien, keine modernen Selbstverortungen durch den Rückgriff auf die Herrlichkeit des großen Otto waren auf dieser Grundlage mehr möglich. Dass die Rede von der frühmittelalterlichen Archaik um 1990 herum allmählich verstummte, ist wohl vor allem darauf zurückzuführen, dass sie zu diesem Zeitpunkt ihre Zwecke erfüllt hatte: Die Frühmittelalterforschung wurde erfolgreich von ihren traditionellen nationalpolitischen Vereinnahmungen entbunden. Auch schwand der Bedarf am Gebrauch dieses Begriffs, weil sich seit ca. 1990 das „Alteritäts“-Paradigma in den historischen Kulturwissenschaften weithin durchsetzte und damit einen generell veränderten Deutungsrahmen schuf: Wo die Historie fortan unter dem Vorverständnis betrieben wurde, dass uns die Kulturen der Vergangenheit ohnehin fremd seien, ja dass die Vorannahme eines solchen Fremdseins der Annahme von Kontinuitäten und langen Entwicklungslinien überlegen sei und die Geschichts30 Gerd Althoff / Hagen Keller, Heinrich I. und Otto der Große. Neubeginn auf karolingischem Erbe, Göttingen/Zürich 1985, Bd. 1, S. 14. 31 Gerd Althoff, Die Beurteilung der mittelalterlichen Ostpolitik als Paradigma für zeitgebundene Geschichtsbewertung, in: ders. (Hg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992, S. 147–164; Thomas Brechenmacher, Wieviel Gegenwart verträgt historisches Urteilen? Die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters (1859–1862), in: Ulrich Muhlack (Hg.), Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 87–111.

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wissenschaft daher neben der Ethnologie als eine weitere „Wissenschaft vom kulturell Fremden“ angesehen werden sollte,32 bedurfte es eines solchen Differenz-Markers wie der Rede vom ‚archaischen‘ Frühmittelalter eigentlich gar nicht mehr. Die Alterität und Hybridität der Vergangenheit verstanden sich künftig von selbst.33

III. Disambiguierung bringt neue Ambivalenzen hervor Weniger auf Kontrastierung (und schon gar nicht erneut auf den Nachweis überzeitlicher Kontinuitätslinien) als auf das Studium von Transformationsprozessen hin ist die historische Mittelalterforschung gegenwärtig wieder ausgerichtet (wie ‚Transformation‘ ja auch zu einer Leitkategorie geworden ist, wo es um den Aufweis kulturellen Wandels innerhalb des früheren Mittelalters geht34). Die oben genannten Indikatoren des Wandels im langen 12. Jahrhundert wären daher unter diesem Vorverständnis zu betrachten: Rationalität, Individualität, Immanenz, Schriftlichkeit, Vertragsdenken. Die ‚Disambiguierung‘ sozialer Bindungsformen tritt nun zu diesen hinzu und lässt sich fraglos leicht mit den bereits vorhandenen Beobachtungen verknüpfen. Vereindeutigungen sozialer Positionen strebten schon die Gregorianische Reform und die durch sie eingeleitete ‚Klerikalisierung der Kirche‘ zuhauf an: Hier Kleriker, dort Laien. Das Verbot der Priesterehe erhielt eine neue Dringlichkeit, insofern es stärker als zuvor erzwungen wurde, und suchte Ambivalenzen zu beseitigen: der Konkubinat sollte schlicht als fornicatio gelten und nicht als eine intermediäre Lebensform.35 Päpste nahmen in neuem Umfang für sich in Anspruch, innerhalb der gesamten römischen Kirche Unklarheiten letztgültig zu bereinigen, wozu entsprechende Institutionen geschaffen 32 Karl-Heinz Kohl, Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung, München 1993; Paul Freedman / Gabrielle M. Spiegel, Medievalisms Old and New. The Rediscovery of Alterity in North American Studies, in: American Historical Review 103, 1998, S. 677–704. 33 Gabrielle M. Spiegel, The Changing Faces of American Medievalism, in: Janos Bák u. a. (Hgg.), Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.–21. Jahrhundert (MittelalterStudien 17), München 2009, S. 45–54; Patrick Geary, ‚Multiple Middle Ages‘. Konkurrierende Meistererzählungen und der Wettstreit um die Deutung der Vergangenheit, in: Rexroth (Hg.), Meistererzählungen (wie Anm. 3), S. 107–120; Freedman / Spiegel, Medievalisms (wie Anm. 32); John Marenbon, Why Study Medieval Philosophy?, in: Marcel van Ackeren (Hg.), Warum noch Philosophie?, Berlin 2011, S. 65–78. 34 So der Forschungsschwerpunkt der European Science Foundation: „Transformation of the Roman World“ (1993–1997). Pohl, Ursprungserzählungen (wie Anm. 25), S. 28 f. 35 Als „clericalisation de l’église“ bei Theodor Schieffer; s. Gerd Tellenbach, Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert (Die Kirche in ihrer Geschichte 2/F1), Göttingen 1988, S. 263.

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wurden: Auf Papst Alexander III. (1159–1181) gehen mindestens 700 Dekretalen zurück, die an individuelle Empfänger in partibus gerichtet sind, aus den Pontifikaten seiner Amtsvorgänger von Innozenz II. (seit 1130) bis Hadrian  IV. (bis 1159) kennt man maximal 30.36 Das neue gelehrte Recht verhieß, für die soziale Welt klare Definitionen bereitzustellen; der Institutionentitel De iure personarum (1.3) beginnt mit einer solchen verführerischen Eindeutigkeits-Verheißung: Summa […] divisio de iure personarum haec est, quod omnes homines aut liberi sunt aut servi.37 Im Zuge seiner Verwissenschaftlichung stabilisierte das Recht nicht nur die Verfügbarkeit über die jeweils einzelne Norm, vielmehr trug die neue Jurisprudenz das Ideal der inneren Widerspruchsfreiheit in die Aufzeichnungen des menschen-gemachten Rechts hinein – rechtliche Disambiguität als ein juristisch fundiertes Ideal also.38 Die Scholastik mit ihrem neuen Konzept von Rationalität schließlich erklärte sich generell für die Beseitigung des Zweifelhaften zuständig, für falsche Lesarten und Fehlverständnisse von Texten, für die Verwechslung von Kategorien und für unzulässige Schlüsse. Abaelard bezeichnete die Philosophie als discernendi scientia.39 Man studiere sie nicht, um „zu erfahren, was Menschen gedacht haben, sondern wie die Wahrheit der Dinge sich verhält“ (sed qualiter habeat veritas rerum), so später Thomas von Aquin.40 Selbst wo die Wissenschaft nicht zu eindeutigen Lösungen vorstieß, verstand sie sich doch als diejenige Instanz, die zur Wahrnehmung von Differenz überhaupt erst befähigte. Abaelard löste die Widersprüche von Bibelstellen und Väterschriften in den Abhandlungen seiner Schrift Sic et non bekanntlich nicht auf: Die Fähigkeit, das Widersprüchliche zu sehen, zu befragen und damit den Weg der Erkenntnis zu betreten – das ist es, was er vermitteln wollte,

36 Knut Wolfgang Nörr, Texturen mittelalterlicher Rechtsfortbildung. Die Dekretale und Dekretalensammlung (von Alexander III. bis Gregor IX.), in: Anna Egler / Wilhelm Rees (Hgg.), Dienst an Glaube und Recht. Festschrift für Georg May zum 80. Geburtstag, Berlin 2006, S.  263–279, hier S. 266; Peter Landau, Typen von Dekretalensammlungen, in: Vincenzo Colli (Hg.), Juristische Buchproduktion im Mittelalter (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 155), Frankfurt a. M. 2002, S. 269–282, hier S. 270. 37 Paul Krüger / Theodor Mommsen (Hg.), Corpus Iuris Civilis, Bd. 1: Institutiones, Digesta, Berlin 1889, S. 2. 38 Frank Rexroth, Kodifizieren und Auslegen. Symbolische Grenzziehungen zwischen päpstlich-gesetzgeberischer und gelehrter Praxis im späteren Mittelalter (1209/10–1317), in: Frühmittelalterliche Studien 41, 2007 [ersch. 2009], S. 395–414. 39 Peter Abaelard, Die Logica ‚Nostrorum petitioni sociorum‘. Die Glossen zu Porphyrius. Mit einer Auswahl aus anonymen Glossen, Untersuchungen und einem Sachindex, hg. von Bernhard Geyer, Bd. 2 (Peter Abaelards philosophische Schriften 2), Münster 21973, S. 506. 40 Zit. n. Marie-Dominique Chenu, Das Werk des heiligen Thomas von Aquin (Die Deutsche Thomas-Ausgabe Erg.bd. 2), Heidelberg/Graz 1960, S. 22.

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nicht die Wahrheit auf dem Präsentierteller.41 Die Legisten des 12. Jahrhunderts gingen ähnlich vor, als sie in ihren Dissensiones dominorum die unterschiedliche Behandlung von Rechtsfragen bei verschiedenen Autoritäten miteinander konfrontierten: Auch sie münden in keine solutio.42 Später, um 1300, trat die juristische Differentienliteratur an ihre Seite, in der es darum ging, die unterschiedliche Behandlung ein und derselben Materie im römischen und im kanonischen bzw. langobardischen Recht darzulegen. Auch diese Werke waren eher auf Rechtsvergleichung als auf die Auflösung von Widersprüchen hin angelegt.43 Der Einwand, dass es auch in früheren Epochen schon derartige Tendenzen gegeben habe, dass also etwa die norma rectitudinis der karolingischen Bildungsreform gleichfalls auf die Sichtbarmachung, ja die Beseitigung von Ambiguitäten zielte, ist fraglos berechtigt. Doch wird anhand dieses Vergleichs auch klar, dass erst im langen 12. Jahrhundert die neuen Ideale der NichtAmbiguität in der Religion, dem Recht, der Herrschaft und der Wissenschaft in Institutionen derart verstetigt wurden, dass sie dauerhaft präsent blieben.44 Ein weiterer Einwand gegen die Verwendung von ‚Disambiguierung‘ als Epochensignum muss ernster genommen und während der folgenden Ausführungen ständig präsent gehalten werden. Die skizzierten Neuansätze des 12. Jahrhunderts produzierten Widerstände, die fortan genauso zur europäischen Geschichte dazugehörten wie die beschriebenen Disambiguierungen selbst – gleich, ob sie nun theoretisch und auf Kognitives oder praktisch und unmittelbar auf den sozialen Raum hin ausgerichtet waren. Die ‚Klerikalisierung der Kirche‘, die Ausrichtung der kirchlichen Heilsökonomie auf den Klerus und die damit einhergehende Disambiguierung derjenigen Rollen, die man innerhalb der Kirche einnehmen konnte, rief Gegenbewegungen hervor, die auf Gemeinschaften von Laien und Klerikern, von Männern und Frauen zielten und die vom Glauben an einen unvermittelten Zugang der Laien zu religiöser Einsicht getragen wurden. Die Geschichte des Semireligiosentums, aber auch der apostolischen Armutsbewegung, der Buß- und Eremitenbewe41 Petrus Abaelardus, Sic et non. A Critical Edition, hg. von Blanche B. Boyer / Richard McKeon, Chicago, IL 1976–1977. 42 Hermann Lange, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. 1: Die Glossatoren, München 1997, S. 146 f. 43 Ders. / Maximiliane Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. 2: Die Kommentatoren, München 2007, S. 429–434. 44 Die Differenzierung von Wissensbeständen und deren Institutionalisierungen, für die die soziale Rolle des Experten steht, erforscht das Göttinger DFG-Graduiertenkolleg „Expertenkulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts“. Björn Reich / Frank Rexroth / Matthias Roick (Hgg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne (Historische Zeitschrift Beiheft N. F. 57), München 2012.

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gungen und der Häresien stehen in einem solchen dialektischen Verhältnis zu den Versuchen, die Sphäre des Glaubens ordnend zu vereindeutigen, sind also ihrerseits mit dem Verweis auf die Logik der Gregorianischen Wende der römischen Kirche zu verstehen.45 Auch über Unglauben und Glaubenszweifel wäre zu sprechen – Dorothea Welteckes einschlägige Studie endet nicht mit dem langen 12. Jahrhundert, sie setzt dort ein.46 Die rationalisierende Wirkung des gelehrten Rechts wurde von Anfang an von massiver Polemik gegen die Aufwertung der ‚kalten‘ Verfahrensform und gegen die Machtposition begleitet, in die dieser Prozess die gelehrten Juristen brachte.47 Die Vision einer künftigen Welt, die besser ist, weil sie ohne Juristen auskommt, hielt Einzug in die utopischen Entwürfe der Europäer.48 Die Ordnungsverheißung der Scho45 Kaspar Elm, ‚Vita regularis sine regula‘. Bedeutung, Rechtsstellung und Selbstverständnis des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Semireligiosentums, in: František Šmahel (Hg.), Häresie und vorzeitige Reformation im Spätmittelalter, München 1998, S. 239–273, hier S. 256– 261 zu den Kategorisierungsversuchen im 12. und 13. Jh.; Peter von Moos, Krise und Kritik der Institutionalität. Die mittelalterliche Kirche als ‚Anstalt‘ und ‚Himmelreich‘ auf Erden, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln u. a. 2001, S. 293–340; Malcolm Lambert, Häresie im Mittelalter. Von den Katharern bis zu den Hussiten, Darmstadt 2001; Arno Borst, Die Katharer, Freiburg i. Br. 41991; Herbert Grundmann, Ketzergeschichte des Mittelalters (Die Kirche in ihrer Geschichte 2/G/1), Göttingen 1963. 46 Dorothea Weltecke, ‚Der Narr spricht: Es ist kein Gott‘. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit (Campus Historische Studien 50), Frankfurt a. M. 2010. 47 Thomas Wetzstein, Der Jurist. Bemerkungen zu den distinktiven Merkmalen eines mittelalterlichen Gelehrtenstandes, in: Frank Rexroth (Hg.), Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 73), Ostfildern 2010, S. 243–296; Patrick Gilli, La noblesse du droit. Débats controverses sur la culture juridique et le rôle des juristes dans l’Italie médiévale (xiie–xve siècles) (Études d’histoire médiévale 7), Paris 2003; James A. Brundage, The Medieval Advocate’s Profession, in: Law and History Review 6, 1988, S. 439–464; vgl. ders., The Medieval Origins of the Legal Profession. Canonists, Civilians, and Courts, Chicago/London 2008, z. B. S. 214–218; Reiner Haussherr, Eine Warnung vor dem Studium von zivilem und kanonischem Recht in der ‚Bible moralisée‘, in: Frühmittelalterliche Studien 9, 1975, S. 390–404; Stephan Kuttner, ‚Dat Galienus opes et sanctio Justiniana‘, in: Alessandro S. Crisafulli (Hg.), Linguistic and Literary Studies in Honor of Helmut A. Hatzfeld, Washington 1964, S. 237–246; John A. Yunck, The Venal Tongue. Lawyers and the Medieval Satirists, in: American Bar Association Journal 46, 1960, S. 267–270; Roscoe Pound, The Lawyer from Antiquity to Modern Times, St. Paul, MN 1953; Edouard Meynial, Remarques sur la réaction populaire contre l’invasion du droit romain en France au xiie et xiiie siècles, in: Romanische Forschungen 23, 1907, S. 558–582; Luigi Chiappelli, La polemica contro i legisti dei secoli xiv, xv, e xvi, in: Archivio giuridico 26, 1881, S. 295–322. Vgl. dazu Frank Rexroth, Warum Nichtwissen unzufrieden und Spezialwissen unbeliebt macht. Vormoderne Spuren moderner Expertenkritik, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 760/761, 2012, S. 896–906. 48 Brundage, Origins (wie Anm. 47), S. 466–487, v.  a. S. 485. Morimichi Watanabe, The Lawyer in an Age of Political and Religious Confusion. Some Fifteenth-Century Conciliarists, in: ders., Concord and Reform: Nicholas of Cusa and Legal and Political Thought in the Fifteenth Century, hg. von Thomas M. Izbicki / Gerald Christianson, Aldershot u. a. 2001, S. 3–15, hier S. 11.

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lastiker wird von Anbeginn unterwandert, und zwar nicht nur aus den Reihen von Mönchen, die den neuen Kult um die Pariser scholae als Abweichung vom rechten Leben und Glauben brandmarken,49 sondern auch aus ihrem Inneren heraus. Johann von Salisbury sorgt sich um den Verlust an Tradition, der mit der dominanten Stellung der Logik im Paris seiner Zeit verbunden ist.50 Kritiker sehen in der Differenzierung der neuen Wissenschaft in Disziplinen – und erst recht in deren Organisation in Schulen und Fakultäten – einen Bruch mit dem Prinzip der Einheit des Wissbaren, so dass Rangstreitigkeiten, Profilierungsbedürfnissen und wechselseitigen Einflussnahmen Tür und Tor geöffnet werden: Theologen bestehen auf dem Vorrang ihrer Wissenschaft, Kanonisten halten einmal mit dem Verweis auf die praktische Bedeutung ihres Metiers dagegen und grenzen sich ein andermal mit einem Seitenhieb gegen die Legisten ab: quondam ecclesia consuevit regi in pace per canones, modo regitur per advocatos, per quos fiunt plura mala quam per hereticos.51 Philosophen etikettieren Juristen als Karrieristen, müssen sich aber von diesen sagen lassen, sie seien weltfremde Wolkenschieber.52 Dass es keine Wissenschaft ohne den Einstieg über die Dialektik geben kann, begründet die Stellung dieses ‚trivialen‘ Fachs.53 Die Zentralität einmal der Metaphysik, ein andermal der praktischen Philosopie findet gleichermaßen ihre Fürsprecher: Für Brunetto Latini wird die politische Wissenschaft die edelste von allen sein.54 Mit einer anderen Akzentsetzung wird nicht die immer stärkere Differenziertheit, sondern im Gegenteil der Kompositcharakter des universitären Wissenschaftsbetriebs als der zu beseitigende Missstand angesehen. „Man fasst die Schulen zusammen, und es kommt eine Monstrosität dabei heraus“, predigt der Pariser Kanzler 49 Stephen C. Ferruolo, The Origins of the University. The Schools of Paris and their Critics, 1100–1215, Stanford, CA 1985. 50 Johannes von Salisbury, Metalogicon, hg. von John B. Hall (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 98), Turnhout 1991. 51 Biblioteca Nazionale Marciana Venezia, Fondo Antico 92, fol. 393, zit. n. Charles Homer Haskins, The University of Paris in the Sermons of the Thirteenth Century, in: American Historical Review 10, 1904, S. 1–27, hier S. 10, Anm. 2. Zu dieser Konkurrenz am Pariser Beispiel auch Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, München/Berlin 1947, S. 76 f. 52 Rexroth, Einheit (wie Anm. 12). 53 Maarten J. F. M. Hoenen, From Natural Thinking to Scientific Reasoning. Concepts of ‚Logica Naturalis‘ and ‚Logica Artificialis‘ in Late-Medieval and Early-Modern Thought, in: Bulletin de philosophie médiévale 52, 2010, S. 81–116, hier S. 81 mit Anm. 1 (Hugo von St. Viktor und Petrus Hispanus). 54 Alexander Fidora, Die Wissenschaftstheorie des Dominicus Gundissalinus. Voraussetzungen und Konsequenzen des zweiten Anfangs der aristotelischen Philosophie im 12. Jahrhundert (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 6), Berlin 2003; Dominicus Gundissalinus, De divisione philosophiae – Über die Einteilung der Philosophie, hg. von Alexander Fidora / Dorothée Werner, Freiburg i. Br. u. a. 2007; Ruedi Imbach, Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigten Thema (Bochumer Studien zur Philosophie 14), Amsterdam 1989, S. 53–60.

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Philippe de Grève bald nach der Entstehung der Universität; „ein Monstrum ist das Zusammentreffen verschiedener Naturen in einem Körper. Wenn man nun aus mehreren Nationen eine universitas bildet, was heißt das dann anderes, als dass man ein Monster schafft? […] Die vier Köpfe dieses Monsters sind die vier Fakultäten: Logik, Physik, kanonisches und göttliches Recht.“55 Grenzen des Erfassbaren werden nicht nur aus einer frommen, sondern auch aus einer philosophischen Perspektive heraus bedacht. Gott stiftet nicht nur die Ordnung, sondern auch die Unordnung, schreibt Abaelard: „Was ist […] daran erstaunlich, wenn Gott in sich selbst die Regeln oder Beispiele der Philosophen entkräftet, die er auch in seinen Taten häufig bricht, wenn er nämlich irgend etwas Neues gegen die Natur oder über die Natur hinaus macht, das heißt über das hinaus, was die erste Einsetzung der Dinge vermag?“.56 Thomas von Aquin lehrt, dass sich auf dem Weg demonstrativer Gewissheiten nichts über psychische oder soziale Phänomene aussagen lässt; ethisches und politisches Wissen muss mit Näherungen und Wahrscheinlichkeiten gewonnen werden und kann daher nicht dieselbe epistemische Gewissheit erlangen wie das Wissen in anderen Feldern.57 Die Religion im Rahmen der ‚klerikalisierten‘ Kirche, die verwissenschaftlichte Rechtspraxis und auch die neue Wissenschaft des 12. Jahrhunderts (die hier als vorrangiger Agent der Disambiguierung etwas ausführlicher behandelt wurde) scheinen also allesamt neue Ambiguitäten aus sich selbst hervorzubringen. Man kann freilich leicht noch einen Schritt weitergehen und zeigen, dass auch diese ‚ambiguierenden‘ Hervorbringungen abermals objektiviert und damit neuen Kategorisierungen und Disambiguierungen unterworfen werden. Um die drei genannten Beispielfälle ein letztes Mal aufzunehmen: Die neuen Uneindeutigkeiten der religiösen Gruppenkultur, die sich im Bedürfnis der Laien nach einer unvermittelten Teilhabe am Glauben äußerten, wurden nach einer Phase der Restriktion dadurch in der Kirche zumindest zu großen Teilen aufgelöst, dass die Kanonisten die neuen religiösen Gruppen– nach einer Anleihe beim römischen Vereinsrecht – als societates omnium bonorum definierten. Auf diese Weise verleibten sie diese ihrer Typologie der Körperschaften ein und schufen damit einen rechtlichen Status für die Semireligiosen, deren Differenz zu Kloster- und Ordensgemeinschaften sich eindeutig bestimmen 55 Haskins, University (wie Anm. 51), S. 20, Anm. 6. 56 Peter Abaelard, Theologia „Scholarium“, hg. von Matthias Perkams, Freiburg i. Br. u. a. 2010, lib. 2, cap. 87, S. 322 f. Vgl. von Moos, Krise (wie Anm. 45), S. 298. 57 Peter von Moos, ‚Sensus communis‘ im Mittelalter. Sechster Sinn und sozialer Sinn. Epistemologische, ekklesiologische und eschatologische Aspekte, in: ders., Gesammelte Studien zum Mittelalter, Bd. 3: Öffentliches und Privates, Gemeinsames und Eigenes, hg. von Gert Melville, Münster 2007, S. 395–458, hier S. 417.

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ließ – als juristische Personen galten sie damit zwar nicht, doch mit den domus illicitae und conventicula haeretica wurden sie auch nicht mehr in eins gesetzt. Zumindest zu Teilen gelang also im Inneren der Kirche die ‚Bändigung‘ der neuen sozialen Ambiguitäten.58 Auch die Klagen wegen des Karrierismus und der schwer erträglichen Dominanz der Juristen wurden innerhalb des praktizierten Rechts in Verhaltensanforderungen aufgefangen, die man zunehmend ausformulierte: Wie sollte sich ihr Privatleben ausnehmen? Welche Verpflichtungen gingen sie gegenüber ihren Klienten ein? In welcher Höhe durfte man sich seine Dienste honorieren lassen? Welcher Gesichtsausdruck und welche Körpersprache, welche Stimme, welches Sprachniveau und welche Kleidung waren der forensischen Situation angemessen? Manualien für Anwälte seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, seit der zweiten Jahrhunderthälfte dann Specula wie die des Durantis diskutierten und tradierten solche neuen Normierungen.59 Das Konzept der juristischen Ehre schloss die zeitgenössischen Vorbehalte gegen den Stand der Advokaten ein – und konnte diese freilich ebenso wenig aus der Welt schaffen, wie die juristische Typologie der Körperschaften die religiös Devianten allesamt in den Schoß der Papstkirche hätte zurückführen können. Die innerwissenschaftliche Konkurrenz zwischen den Disziplinen und ihren Geltungsansprüchen veranlasste Gelehrte, integrative Wissenschaftslehren zu erarbeiten, die aus den Teilen ein Ganzes formten und aus dem Ganzen die systemische Notwendigkeit der Teile ableitete.60 Der Streit der Fakultäten wurde damit freilich nicht verhindert.61 Gibt die Rede von der Disambiguierung also nur Anlass zur Beliebigkeit, indem jeder Verweis auf entsprechende Phänomene den Nachweis neuer Ambiguitäten mit sich zieht? Wird es für immer so sein, dass die eher fortschrittsgläubigen Geister die Rationalisierungs- und damit Vereindeutigungsprozesse 58 Elm, ‚Vita‘ (wie Anm. 45), S. 261–263. 59 Brundage, Origins (wie Anm. 47), S. 308–338, gefolgt von einem Teilkapitel (S. 338–343) zu den disziplinarischen Maßnahmen gegenüber Juristen, die diese professionellen Standards überschreiten. 60 Dominicus Gundissalinus, De divisione philosophiae (wie Anm. 54); Fidora, Wissenschaftstheorie (wie Anm. 54); Ruedi Imbach, Einführungen in die Philosophie aus dem 13. Jahrhundert. Marginalien, Materialien und Hinweise im Zusammenhang mit einer Studie von Claude Lafleur, in: ders., Quodlibeta. Ausgewählte Artikel (Dokimion 20), Freiburg/Schweiz 1996, S. 63–91; Claude Lafleur, Quatre introductions à la philosophie au xiiie siècle. Textes critiques et étude historique (Publications de l’Institut d’études médiévales, Université de Montréal 23), Montréal 1988; James A. Weisheipl, Classification of the Sciences in Medieval Thought, in: Medieval Studies 27, 1965, S. 54–90. 61 Martin Kintzinger, Die Artisten im Streit der Fakultäten. Vom Nutzen der Wissenschaft zwischen Mittelalter und Moderne, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 4, 2001, S. 177–194; Ludwig Hödl, Der Anspruch der Philosophie und der Einspruch der Theologie im Streit der Fakultäten (Mitteilungen des Grabmann-Instituts der Universität München 4), München 1960.

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jener „mittelalterlichen Moderne“62 herausstreichen, die fortschrittsskeptischen hingegen die damit einhergehenden Verluste und Niedergänge hervorheben und an den Anfang ihrer Niedergangs-Narrative stellen, als Impulse für den Weg in die „persecuting society“ etwa?63 Oder ist aus der Dialektik von Disambiguierung und Ambiguierung sogar die Einsicht zu gewinnen, dass sich über soziale Prozesse von der Komplexität, die hinter den Formeln von den ‚Renaissancen‘ des 12. Jahrhunderts verborgen geblieben sind, keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen treffen lassen? Dies wäre sicher falsch. Denn über der Parallelität von Disambiguierungs- und Ambiguierungsmomenten darf nicht übersehen werden, dass beide in den gegebenen Beispielen keineswegs erratisch im sozialen Raum standen, sondern vielmehr Elemente ein- und derselben Kommunikationsprozesse darstellten. Ein entsprechendes Konzept von Kommunikation scheint für Historiker offenbar vonnöten zu sein: Wenn dieses die Tendenzen der Ambiguierung wie der Disambiguierung als Elemente ein- und desselben übergreifenden Kommunikationsprozesses fasst und dabei mit einem Wechselspiel von Erwartungen, Zuschreibungen und Selbstanpassungen an Veränderungen rechnet, kann es der Komplexität epochaler Veränderungen möglicherweise gerecht werden.

IV. Disambiguierung und Ambiguierung. Drei weitere Überlegungen Disambiguierungen wären unter diesem Vorverständnis ebenso als Resultate solcher Kommunikationen zu verstehen wie die neuen Ambiguierungen, zu denen sie Anlass geben. Eine erste Konsequenz für den Umgang der Historiker mit ihnen ist damit schon formuliert: Zu rechnen ist damit, dass sich die besagten Momente der Vereindeutigung niemals zu einem Bild von einem ‚Zeitalter der Disambiguierung‘ aufrechnen lassen werden, also weder der Fortschrittserzählung von der ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts‘ noch dem Niedergangsnarrativ vom Verlust älterer Einheit, Ganzheit und Einfachheit.64 Es gibt diese Momente, doch sie tragen zur Produktion einer neuen, vorher 62 S. oben bei Anm. 16. 63 Robert I. Moore, The Formation of a Persecuting Society. Power and Deviance in Western Europe, 950–1250, Oxford/Cambridge, MA 1987. 64 C. Stephen Jaeger, The Envy of Angels. Cathedral Schools and Social Ideals in Medieval Europe, 950–1200, Philadelphia 1994. Zur notwendigen Verabschiedung des Einheits-Postulats aus der Geschichtsschreibung: Michael Borgolte, Einheit, Reform, Revolution. Das Hochmittelalter im Urteil der Modernen, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 248, 1996, S. 225–258, v. a. S. 249–252, und seine eigenen historiographischen Werke, s. unten Anm. 79.

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nicht dagewesenen Komplexität bei, die Widerstände, aber eben auch neue Anpassungsprozesse provoziert. Wie ist unter diesen Umständen also künftig insbesondere mit der Theorie von der Disambiguierung der rituellen bzw. symbolischen Kommunikation umzugehen? Was geschieht bei diesem Übergang mit solchen Kommunikationsformen? Fest steht, dass Rituale auch im ‚späteren‘ Mittelalter und der Neuzeit für soziale Interaktionen konstitutiv waren und dass es in die Irre führt, sie dort für sinnentleertes Begleitwerk ‚rationalerer‘ Kommunikationsformen anzusehen. Doch von welcher veränderten Qualität waren sie in dem Raum, um den es Althoff und seinen Kolleginnen und Kollegen geht? Anhand der Bündnisse seit ca. 1200 legt Claudia Garnier in ihrer Studie nicht nur den Prozess der Verschriftlichung und Verrechtlichung dar, sondern auch die Dauerhaftigkeit des Symbolischen unter veränderten Bedingungen.65 Auch Klaus van Eickelsʼ Monographie über die Bindungen zwischen englischen und französischen Königen ist hier heranzuziehen, denn sie zeigt nicht nur, dass die Reibungspunkte zwischen beiden Königen, die sich durch die Praxis der Lehnsnahme für den ‚englischen‘ Festlandbesitz ergaben, allmählich systematisiert und vertragsförmig geregelt wurden, sondern ebenso, dass rituelle Handlungen Bestandteil der neueren, rechts-förmigen Bindungstechniken blieben. Dabei veränderten sie sich jedoch, so van Eickels, auf entscheidende Weise. Sei die „charakteristische Ambiguität des Rituals bis in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts bestimmend“ geblieben, so habe der Prozess der Verrechtlichung (hier: die Elaboration von Lehnsherrschaft und Vasallität als Rechtsinstituten) zu einer Aufspaltung der Rituale geführt. Manche seien als „rechtssymbolische Handlungen“ in das Recht eingegangen und damit „aus dem weiten Bereich der sozialen Normen“ ausgegliedert worden; ein anderer Teil sei „zu Zeremonien und Gesten, denen keine rechtliche Bedeutung zukam“, geworden, „da ihnen die statusändernde Kraft rechtssymbolischer Handlungen fehlte.“66 Dies ist eine für sich genommen plausible Deutung, denn es ist einleuchtend, dass Rituale in dem Augenblick, in dem Juristen sie ihrer sehr speziellen Logik unterwarfen, restriktiver definiert wurden. War der rituelle Akt dann aber künftig nur noch dazu da, für verfahrens-förmig gestaltete Handlungen einen Rahmen zu konstituieren, etwa, indem er bei den Beteiligten besondere 65 Garnier, Amicus (wie Anm. 6). 66 Klaus van Eickels, Vom inszenierten Konsens zum systematisierten Konflikt. Die englischfranzösischen Beziehungen und ihre Wahrnehmung an der Wende vom Hoch- zum Spätmittelalter, Stuttgart 2002, die Zitate S. 294 f. In diesem Sinn überschreibt van Eickels das entsprechende Kapitel: „Vom Ritual zur rechtssymbolischen Handlung“.

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Stimmungen erzeugte oder auch Aggressionen eliminierte? Solche Vermutungen hat Niklas Luhmann schon vor Jahrzehnten angestellt, doch hat er dabei so große Vorbehalte verraten vor dem Gedanken, dass die Rituale des Rechts oder der Verwaltung essentiell zum Rechts- bzw. Verwaltungsgeschäft dazugehören, dass man vielleicht doch noch einmal kritisch nachfragen sollte.67 Die Beteiligten am Münsteraner Sonderforschungsbereich haben in den letzten Jahren verstärkt nach der Funktion gefragt, die rituellen Handlungen im Rahmen vormoderner politischer Verfahren zukam.68 Weiterführend scheinen mir auch Überlegungen zu sein, die Franz-Josef Arlinghaus am Beispiel der erzwungenen Formelhaftigkeit des Sprechens vor Gericht dargelegt hat: Derart rituelles Sprechen, die Verpflichtung auf den Wortlaut des Formulars, die ostentative Wiederholung von Formeln bezwecke die Schaffung eines eigenen „rechtlichen Diskursraums“ und mithin die Herauslösung des Rechtsverfahrens aus dem Alltag.69 So gesehen, beziehen die Rituale im spätmittelalterlichen Köln ihre Funktionen primär aus der Existenz distinkter Felder mit jeweils eigenen Konstitutionslogiken (Herrschaft/Politik, Recht, wohl auch: Wissenschaft, Religion, Ökonomie) und damit zugleich aus der damit einhergehenden Genese entsprechender sozialer Rollen. Rituale könnten also als Instrumente zum Vollzug und zur Demonstration von Rollenübernahmen verstanden werden, die mit der sozialen Ausdifferenzierung notwendig wurden. Unter diesem Blickwinkel wäre auch die Tradition stadtgeschichtlicher Ritualforschungen zum späteren Mittelalter zu nutzen, da diese zumindest zu Teilen von einem entsprechenden Verständnis von Ritualen ausging: Als konstitutiv für den Ritualismus von Stadtgesellschaften haben Forscher wie Richard Trexler oder Edward Muir nicht deren fehlende Modernität angesehen, sondern im Gegenteil die hohe Komplexität städtischer Gruppenstruktur.70 Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen, die mit der Unterscheidung sozialer Rollen einhergeht, wäre also die Basis für die Omnipräsenz von Ritualen auch im späteren Mittelalter. Die Veränderungen 67 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. Darmstadt 31978, S. 38–40. Vgl. dazu auch ebd., S. 39, Anm. 5: Offenbar perhorresziert Luhmann den ‚ethnologischen‘ Blick auf die Bürokratie. 68 Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Vormoderne politische Verfahren (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 25), Berlin 2001; als Fallstudie s. z. B. Tim Neu, Zeremonielle Verfahren. Zur Funktionalität vormoderner politisch-administrativer Prozesse am Beispiel des Landtags im Fürstbistum Münster, in: Stefan Haas / Mark Hengerer (Hgg.), Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600–1950, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 23–50. 69 Franz-Josef Arlinghaus, Inklusion/Exklusion. Funktion und Formen des Rechts in der spätmittelalterlichen Stadt – das Beispiel Köln, Habil.schr. Kassel 2006, v. a. S. 154–157. 70 Richard C. Trexler, Public Life in Renaissance Florence, New York 1980; Edward Muir, Civic Ritual in Renaissance Venice, Princeton 1981.

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des Ritualvollzugs verweisen zurück auf Veränderungen in der Kommunikation zwischen den Gruppen und damit den Umbau der entsprechenden Rollen. Eine zweite Überlegung knüpft hier unmittelbar an. Wenn sich die Disambiguierung der Rituale beim Übergang vom früheren zum späteren Mittelalter darauf zurückführen ließe, dass die sozialen Rollen, in denen sich die Akteure gegenübertreten, klarer gefasst und verbindlichen Handlungsmustern angepasst werden, dann wäre aus den oben angestellten Überlegungen heraus damit zu rechnen, dass unter den neuen Bedingungen auch Zweideutigkeiten neuer Art entstehen: nämlich solche, die sich aus der Vielzahl von Rollen ergeben, in denen man einer Person gegenübertritt. Indem Bernhard von Clairvaux über Abaelard sagte, dieser Mann sei sich selber unähnlich (homo sibi dissimilis), meinte er damit, dass dessen Ambiguität, die sich aus Abaelards gleichzeitiger Existenz als Mönch, Kleriker und Anhänger eines neuen, sich autonomisierenden Wissenschaftsideals ergab, unerträglich geworden ist: totus ambiguus, nihil habens de monacho praeter nomen et habitum.71 Immerhin stehen sich die sozialen Felder (hier: Religion und Wissenschaft) und die mit ihnen korrespondierenden Rollen keineswegs unverbunden gegenüber. Gerade dadurch, dass sie ihre jeweils eigenen Diskursräume ausprägen, können sie neu in Beziehung zueinander treten. Fragen wie die nach der Relation von fides und scientia oder andernorts zwischen ‚Recht‘ und ‚Moral‘ bzw. auch zwischen ‚geistlicher‘ und ‚weltlicher‘ Macht werden so überhaupt erst formulierbar. Bekanntlich hat ja beispielsweise der letztgenannte Dualismus von weltlicher und sakraler Macht erst die Bedingungen dafür geschaffen, dass im späteren Mittelalter neue sakrale Einkleidungen, neue ‚Verzauberungen‘ des Politischen möglich wurden, die sich fundamental von dem Herrscherkult der Ottonenzeit unterschieden. Die Trennung dieser beiden Sphären, so hat Paolo Prodi betont, schlug sich nicht in einer einbahnstraßen-förmigen Säkularisierung der Macht nieder, „sondern in der Transfusion der Kirche in den Staat und des Staates in die Kirche“.72 Erst unter den neuen Bedingungen kann der 71 Bernhard von Clairvaux, Ep. 193, in: Ders., Sämtliche Werke, hg. von Gerhard B. Winkler, Bd. 3, Innsbruck 1992, S. 128 und S. 130. Moderne Forscher wie Michael Clanchy, die hinreichend in die moderne Wissenschaft hineinsozialisiert wurden, sehen die Sache anders als der heilige Bernhard: Dass Abaelard aus seinen Rollen heraus verständlich wird und einmal als Mönch, ein andermal als Logiker oder als Liebhaber agiert, ist ihnen hochwillkommen. Ihr Gegenstand ist wie gemacht für eine Monographie, er blättert sich wie von selbst in Kapitel auf. Michael T. Clanchy, Abelard. A Medieval Life, Oxford/Cambridge, MA 1997. Vgl. Clifford Geertz, After the Fact. Two Countries, Four Decades, One Anthropologist, Cambridge, MA 1995, S. 15. 72 Paolo Prodi, Konkurrierende Mächte. Verstaatlichung kirchlicher Macht und Verkirchlichung der Politik, in: Peter Blickle / Rudolf Schlögl (Hgg.), Die Säkularisation im Prozess der

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Florentiner Ratgeber Cederno Bartolommei Cederni 1431 sagen: Deus est respublica, et qui gubernat rempublicam gubernat Deum. Item Deus est iustitia, et qui facit iustitiam facit Deum.73 Nach den oben vorgetragenen Überlegungen ist es unter diesen Bedingungen eben die veränderte Aufgabe der Rituale, die jeweiligen Räume erst einmal zu konstituieren, in denen man dem Herrscher einmal in seiner Rolle als Gerichtsherr, als Bündnispartner oder als Akteur der Weihnachtsliturgie gegenübertritt.74 Doch ist abermals anhand von Konfliktfällen danach zu fragen, wie mit den ‚neuen‘ Interferenzen und Uneindeutigkeiten umzugehen war, wenn die konsequente Scheidung der Rollen misslang oder neutralisiert wurde. Mit einer letzten Überlegung möchte ich noch einmal die Frage nach der historiographischen Dimension des Problems aufwerfen, die oben anhand der früheren Verknüpfungen von ‚archaischem‘ und ‚alteuropäischem‘ bzw. früherem und späterem Mittelalter bereits gestellt war. Wie lassen sich die Momente der Disambiguierung und die der ‚neuen‘ Zweideutigkeiten in einer diachronen Perspektive fassen, wie sollten sie im Medium der Historiographie zueinander in Beziehung gesetzt werden? Als zumindest kritikwürdig gelten momentan sicher zu Recht die Versuche, die Beobachtungen zum Wandel in der Schwellenzeit des 12. Jahrhunderts in Kausalketten zu organisieren, also letztlich nach einer Art ‚unbewegtem Beweger‘ zu suchen, aus dem sich die anderen Neuerungen mehr oder weniger zwangsläufig ergeben hätten. In diesem Sinn und in Anlehnung an Max Weber hat Harold Berman etwa die „Papstrevolution“ (Eugen Rosenstock-Huessy) des Investiturstreits als Ursache für die Fortentwicklung des verwissenschaftlichten europäischen Rechts präsentiert.75 Geistesgeschichtliche Totalerklärungen des wissenschaftlichen Aufschwungs verfuhren auf gleiche Weise76 oder rückten, wie bei Georg Wieland, Rationalisierung und

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Säkularisierung Europas (Oberschwaben – Geschichte und Kultur 13), Epfendorf 2005, S. 21– 36, hier S. 26. Zit. n. Francesco Carlo Pellegrini, Sulla repubblica fiorentina a tempo di Cosimo il Vecchio, Pisa 1880, Anhang, S. CXXXIII. Vgl. dazu Paolo Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, München 2003, S. 14. Hermann Heimpel, Königlicher Weihnachtsdienst im späteren Mittelalter, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 39, 1983, S. 131–206. Berman, Recht (wie Anm. 12); Eugen Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen. Volkscharaktere und Staatenbildung, Jena 1931. Weimar (Hg.), Renaissance (wie Anm. 10). Der Band beginnt mit einem Panorama von Peter Classen, Die geistesgeschichtliche Lage. Anstöße und Möglichkeiten (S. 11–32), der die von ihm beobachteten Neuerungen auf den Investiturstreit und den Bruch der unbedingten Königsherrschaft über die Kirche zurückführt – beide hätten mit ihrem Nebeneinander „eine eigenartige[…] Freiheit“ eröffnet, die die Innovationen ermöglicht habe; ebd., S. 24. Der Band endet mit Kluxen, Begriff (wie Anm. 13), der die Frage nach den Ursachen der neuen Wissenschaft des 12. Jahrhunderts als unzulässig zurückweist: „Es gibt keine Einflüsse, Einwirkungen, Anlässe

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Verinnerlichung des 12. Jahrhunderts in den Zusammenhang von „Identitätssicherungsbemühungen“, die sich aus dem Kontakt mit fremden Kulturen im Kontext der Kreuzzüge ergeben und die bezweckt hätten, „die Einheit der eigenen [Kultur] festzuhalten“.77 Letztlich kokettieren paradigmengeleitete Entwürfe um ‚Revolution‘, ‚Renaissance‘ und ‚Reform‘ stets mit der Verheißung einer benennbaren Aufbruchssituation dieser Art.78 Doch derartige Erzählungen sind häufig genug und mit gutem Grund als Simplifikationen abgelehnt worden, als Sieger-Geschichten oder halbherzige Versuche, die Geschichte des lateinischen Europa hermetisch aus sich selbst heraus zu konstituieren. Nicht erstaunlich ist daher, dass inzwischen weniger hermetische Versuche, die europäische Geschichte über diese Schwellenzeit hinweg verständlich zu machen, an ihre Stelle getreten sind.79 Eine interessante Neukonzeption zumindest solcher Wandlungsprozesse, die auf einer bewussten Auseinandersetzung mit Traditionen beruhen, haben jüngst Wissenschaftler am Berliner Sonderforschungsbereich „Transformationen der Antike“ erarbeitet, indem sie die Vorstellungen von den Mechanismen kulturellen Transfers weiterentwickelt haben.80 Sie lassen die beschriebenen Kontinuitäts-Annahmen entschieden hinter sich und fassen Rezeptionsprozesse als offene Kommunikationen zwischen einer späteren, ‚aufnehmenden‘ Kultur und einer früheren ‚Referenzkultur‘. Nicht nur die lange im Raum stehende Kritik an einsträngigen Kausalitätsunterstellungen verbirgt sich hinter diesem Verständniswandel. Das eigentlich neue Element dieser Transformations-Studien besteht vielmehr in dem konstruktivistischen Gedanken, dass die Transformation ein „retroaktiver Vorgang“ ist, der „im Akt der Aneignung nicht nur die Aufnahmekultur modifiziert, sondern insbesondere auch die Referenzkultur konstruiert“; letztere werde „unter den je spezifischen medialen Bedingungen der Transformation verändert, neu hervorgebracht, ja auch ‚erfunden‘“.81 Für die Erforschung der Übergangszeit vom früheren zum späteren Mittelalter, die ja häufig durch ihre Rückgriffe auf Leitbilder der Vergangenheit,

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besonderer Art, auf die man verweisen kann. Es handelt sich um ein spontanes Ereignis, ohne ‚Ursache‘ in einem anderen.“ Ebd., S. 282. Wieland, Rationalisierung (wie Anm. 14), das Zitat ebd., S. 63. Zur Diskussion historiographischer Ansätze dieser Art Michael Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt, 1050–1250 (Handbuch der Geschichte Europas 3), Stuttgart 2002, S. 337–356. Ders., Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr. München 2006; ders., Europa (wie Anm. 78). Hartmut Böhme u. a. (Hgg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011. Dies., Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, in: ebd., S. 39–56, hier S. 39 f.

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durch ‚Renaissancen‘ und ‚Reformen‘ charakterisiert wurde, sind damit zahlreiche Anknüpfungspunkte gegeben. Es lässt sich fragen, wie sich die Forderungen nach der Disambiguierung der sozialen Kommunikation ihre historischen Vorbilder selbst schaffen (und dann zugleich von diesen genährt werden): Idealbilder des ‚gerechten‘ Herrschers, Bezüge zu Antike und Christentum oder die Utopie einer Wissenschaft, die letztgültige Antworten zu geben vermag. Inwieweit sich Rituale als Evokationen solcher Ideal-Welten interpretieren lassen, wäre eine weitere Frage. Die Historiographie scheint jedenfalls der gegebene Ort dafür zu sein, die wechselseitige Konstitution einer jeweiligen Gegenwart und ihrer normgebenden Vergangenheit verständlich zu machen.

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Symbolik und Formalismus im ungelehrten mittelalterlichen Gerichtsverfahren Am Ende eines zwölf Jahre währenden Forschungsverbundes steht eine Frage: „Alles nur symbolisch?“ So lautet durchaus selbstkritisch das Thema des vorliegenden Bandes. Die Rechtsgeschichte gehört zu den Fächern, die eine Antwort geben sollen. Sie ist eindeutig: Nein. Es ist und war nicht alles nur symbolisch. Das Recht behandelt immer und überall auch Inhalte. Es kann deshalb im Folgenden nicht darum gehen, ob „alles nur symbolisch“ war oder nicht. Die Fragestellung lautet vielmehr, in welchem Verhältnis symbolische und diskursive Kommunikation zueinander standen. Hierbei bietet sich ein Dreischritt an. Zunächst geht es um die Forschungsgeschichte und darum, welcher Bereich des mittelalterlichen Rechts sich für diese Untersuchung anbietet (I.). Sodann wird anhand einiger Quellenbeispiele das Verhältnis zwischen symbolisch aufgeladenen Formen und Rechtsinhalten beleuchtet (II.). Wenn in einer knappen Schlussbetrachtung (III.) Fragen offen bleiben, ist das nichts anderes als eine Ermutigung. Das Forschungsfeld ist trotz langjähriger Arbeit des Münsteraner Sonderforschungsbereichs „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ nicht überforscht, jedenfalls nicht in der Rechtsgeschichte.

I. Symbole in der mittelalterlichen Rechtsgeschichte Symbolische Kommunikation spielt weder als Schlagwort noch der Sache nach in der rechtshistorischen Forschung traditionell eine größere Rolle. Eine Suche nach einschlägigen Titelwörtern im Katalog des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte bestätigt den Befund: Blendet man die in irgendeiner Weise mit den Münsteraner Aktivitäten verbundenen Ergebnisse aus, bleibt wenig übrig. Heinrich Miersch stellte 1896 in einer dogmatischen Dissertation die Frage nach dem symbolischen Besitzerwerb im gemeinen Recht, meinte das aber gerade nicht historisch.1 Eine romanistische Dissertation aus Erlangen von 1961 beschäftigte sich mit dem Verlobungsring im alten 1

Heinrich Miersch, Der s. g. symbolische Besitzerwerb des gemeinen Rechts in seinem Verhältnis zum naturalen, Diss. jur. Greifswald 1896.

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Rom. Der Verfasser Manfred Mühl wollte damit insbesondere die symbolische Bedeutung des Verlöbnis- und Eheschließungsrechts aufhellen.2 Ebenfalls romanistisch ausgerichtet ist eine Studie von Johannes Platschek von 2006, die um symbolische Gewalt im frühen römischen Eigentumsprozess kreist.3 Und Miloš Vec, der sich schon länger mit Rechtszeremonien beschäftigt,4 dachte im Jahre 2000 über technische und symbolische Verfahrensformen im Recht der Gesandten im 18. und 19. Jahrhundert nach.5 Das sind aber nur wenige und für die Rechtsgeschichte insgesamt nicht zentrale Beiträge zur neueren Diskussion um symbolische Kommunikation. Etwas anders sieht es im Umfeld des Münsteraner Sonderforschungsbereichs aus: Ein von Reiner Schulze herausgegebener Sammelband von 2006 versucht, das Wissen um symbolische Kommunikation vor Gericht im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit behutsam zusammenzuführen und fortzuspinnen.6 Aber ernsthaft in Schwung gekommen sind derartige Überlegungen in der Rechtsgeschichte bisher kaum. Auf eine längere Tradition zurückblicken können demgegenüber Arbeiten zu Rechtssymbolen allgemein. Die ältere Forschung sprach stattdessen oftmals lieber von Rechtsaltertümern. Diese Rechtsaltertümer sollten einer inneren, also an Rechtsfragen interessierten, Rechtsgeschichte gegenüberstehen.7 Einmal ging es also um das ‚Recht‘ selbst, das heißt um das System der Rechtssätze und ihre Genese (innere Rechtsgeschichte), einmal eher um Gegenstände, Formen und Symbole (Rechtsaltertümer). Auch von Rechtsar-

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Manfred Mühl, Anulus pronubus. Der Ursprung des römischen Verlobungsringes und dessen symbolische Bedeutung im Eheschließungs- und Verlöbnisrecht Roms, Diss. jur. Erlangen 1961. Johannes Platschek, Ex iure manum conserere. Zur symbolischen Gewalt im frühen römischen Eigentumsprozess, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 74, 2006, S. 245–260. Miloš Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation (Ius Commune. Sonderhefte: Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 106), Frankfurt a. M. 1998. Ders., „Technische“ gegen „symbolische“ Verfahrensformen? Die Normierung und Ausdifferenzierung der Gesandtenränge nach der juristischen und politischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Vormoderne politische Verfahren (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 25), Berlin 2001, S. 559–587; der Text ist weitgehend identisch mit ders., „Technische“ gegen „symbolische“ Verfahrensformen? Die Ausdifferenzierung und Verrechtlichung der Gesandtenränge nach der juristischen und politischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Ulrich Falk (Hg.), Mit den Augen der Rechtsgeschichte. 13 Rechtsgeschichten. Methoden – kritisch kommentiert, Bonn 2000, S. 413–441. Reiner Schulze (Hg.), Symbolische Kommunikation vor Gericht in der Frühen Neuzeit (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 51), Berlin 2006. Jacob Grimm, Vorrede von 1828, in: ders., Deutsche Rechtsaltertümer, bearb. von Andreas Heusler und Rudolf Hübner, Leipzig 41899, ND Darmstadt 1989, S. V–XX, hier S. VII.

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chäologie war die Rede,8 später gar von rechtlicher Volkskunde.9 Schon im 17. und 18. Jahrhundert gab es eine Jurisprudentia Symbolica, also Rechtsliteratur, die sich nicht mit der Geltung von Rechtsquellen, sondern mit Rechtsdenkmälern der Vergangenheit beschäftigte.10 Diese rechtsarchäologische und volkskundliche Literatur hat auch gerichtliche Symbole behandelt, und solche Arbeiten gibt es bis heute. So kann man sich mit dem Richterstuhl befassen, den Gerichtsbänken und Gerichtsschranken, Gerechtigkeitsdarstellungen in Rathäusern bis hin zu dem Hund, der auf vielen zeitgenössischen Darstellungen zu Füßen des Richters liegt. Der Bezug zum Gericht war freilich nicht zentral, zahlreiche andere Symbole fanden ebenso Beachtung. Ein kurzer Blick in ein beliebiges Kapitel von Jacob Grimms „Rechtsaltertümern“ zeigt das ganz anschaulich. Es geht um Erde, Halm, Ast, Stab, Arm, Hand, Füße, Mund, Ort, Bart, Hut, Handschuh und anderes.11 Diese Annäherungen an Rechtssymbole und -altertümer sind teilweise in eigenen Publikationsorganen sogar institutionalisiert gewesen. Von 1978 bis 2007 erschienen in 24 Bänden die von Louis Carlen herausgegebenen „Forschungen zur Rechtsarchäologie und rechtlichen Volkskunde“.12 Mit etwas anderer Ausrichtung ist diese Schriftenreihe seit 2008 ersetzt durch die neuen „Signa Iuris“, die sich zusätzlich im Untertitel der Rechtsikonographie verschrieben haben.13 Neben solchen Arbeiten zur Rechtssymbolik gibt es seit Langem Untersuchungen zu rechtlichen Formen, vor allem zur sogenannten Formstrenge im mittelalterlichen Recht. Heinrich Siegel und Heinrich Brunner waren im 19. Jahrhundert maßgebliche Begründer einer Auffassung, die das ungelehrte Gerichtsverfahren geprägt sah durch strengen, aber großartigen Formalismus, durch feste Formen, vorgegebene Körperbewegungen und immer gleiche Wortformeln. Statt von Symbolik im mittelalterlichen Gericht sprach man lieber von der Formstrenge des Rechts.14 Die traditionelle Literatur hat oft 8 Karl von Amira / Claudius Freiherr von Schwerin, Rechtsarchäologie. Gegenstände, Formen und Symbole germanischen Rechts, Teil 1, Berlin 1943. 9 Eberhard Freiherr von Künssberg, Rechtliche Volkskunde (Volk. Grundriss der deutschen Volkskunde in Einzeldarstellungen 3), Halle a. d. S. 1936. 10 Maria Cornelia Schürmann, Iurisprudentia Symbolica. Rechtssymbolische Untersuchungen im 18. und 19. Jahrhundert, Hamburg 2011. 11 Grimm, Rechtsaltertümer (wie Anm. 7), Bd. 1, Überschriften zum 4. Kapitel der Einleitung. 12 Louis Carlen (Hg.), Forschungen zur Rechtsarchäologie und rechtlichen Volkskunde, 24 Bde., Zürich 1978–2007. 13 Gernot Kocher / Heiner Lück / Clausdieter Schott (Hgg.), Signa Iuris. Beiträge zur Rechtsikonographie, Rechtsarchäologie und rechtlichen Volkskunde, Halle a. d. S. 2007 ff., zur Zeit 8 Bände (bis 2011). 14 Heinrich Siegel, Erholung und Wandelung im gerichtlichen Verfahren, Wien 1863; ders., Die Gefahr vor Gericht und im Rechtsgang, Wien 1866; Heinrich Brunner, Wort und Form im altfranzösischen Prozess (1868), in: ders., Forschungen zur Geschichte des deutschen und französischen Rechtes, Stuttgart 1894, S. 260–389; Nachweis der älteren Literatur auch bei Ekkehard

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gefragt, welche Folgen ein Verstoß gegen solche zwingenden Formen hatte. Oft war von Silbenstecherei die Rede, im Anschluss an ein falsch verstandenes Sachsenspiegelzitat auch davon, kleinste Räusperer und Naseputzen hätten zum Prozessverlust führen können.15 Nimmt man die Quellen beim Wort, war die sogenannte Prozessgefahr im mittelalterlichen Gerichtsverfahren wohl erheblich geringer. Nur selten ging es um Verlust oder Gewinn, viel häufiger um bloße Gerichtsgebühren und auch diese konnte man leicht umgehen durch zahlreiche Heilungsmöglichkeiten.16 Es kann hier nicht darum gehen, in einer schroffen Gegenüberstellung rechtliche Formen und Inhalte abzugrenzen. Der Inhalt ist oft an die Einhaltung bestimmter Formen geknüpft, andererseits waren mittelalterliche rechtliche Formen eben längst nicht inhaltsleer. Dennoch ist der Befund interessant. Vor Gericht ging es auch im ungelehrten Mittelalter in einem erheblich höheren Maße, als man früher gedacht hatte, um Gespräche über die Inhalte von Rechtsgewohnheiten. Diese Gespräche waren teilweise kaum durch Formvorgaben in feste Bahnen gelenkt, sondern wohl oftmals freie Diskussionen.17 Fragt man also nach den Grenzen rechtlicher Formgebundenheit, wird man auch im Mittelalter fündig. Die Grenzen symbolischer Kommunikation, die einen Untersuchungsschwerpunkt der letzten Arbeitsphase des Münsteraner Sonderforschungsbereichs bildeten, geraten auf diese Weise erneut ins Visier. Der Blick fällt im Folgenden auf das ungelehrte mittelalterliche Gerichtsverfahren. Das entspricht zugleich der rechtshistorischen Forschungstradition. Vor Gericht kann man nämlich beides erwarten: Auseinandersetzungen über Rechtsfragen, aber auch ein vorgegebenes Rollenspiel mitsamt inszenierter Gerichtsgewalt. Hier gab es wörtliche Rede, bestimmte rechtlich bedeutsame Gegenstände und Handlungen und vor allem auch Öffentlichkeit, die den Rechtsstreit und seinen Ausgang sehen und hören konnte. Die wesentlichen Begriffe der mittelalterlichen Gerichtsbarkeit stammen ihrerseits sogar aus dem Wortfeld ‚sprechen‘.18 Nur zur Klarstellung sind deshalb einige Hinweise sinnvoll, dass

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Kaufmann, Art. „Formstrenge“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1, 11971, Sp. 1163–1168. Sehr einflussreich wurde die auf einem Vortrag beruhende Abhandlung von Wilhelm Ebel, Recht und Form. Vom Stilwandel im deutschen Recht (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 449), Tübingen 1975. Für den sächsischen Rechtskreis Tim Meyer, Gefahr vor Gericht. Die Formstrenge im sächsischmagdeburgischen Recht (Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte 26), Köln u. a. 2009; im Ergebnis ähnlich Peter Oestmann, Erholung und Wandel am Ingelheimer Oberhof, in: Schulze (Hg.), Symbolische Kommunikation (wie Anm. 6), S. 29–55. Ebd., S. 53; ähnlich Meyer, Gefahr vor Gericht (wie Anm. 16), S. 72–73. Ferdinand Frensdorff, Recht und Rede, in: Historische Aufsätze. Dem Andenken an Georg Waitz gewidmet, Hannover 1886, S. 433–490.

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es auch außerhalb des Gerichts symbolische Kommunikation im mittelalterlichen Recht gab. Die Wirksamkeit von Rechtsgeschäften etwa war häufig abhängig von der Benutzung bestimmter Gegenstände, die an die Stelle der gemeinten Sache oder einer beabsichtigten Rechtsänderung traten. Die Übereignung von Grundstücken mochte schwer vorstellbar sein, denn sie ließen sich nicht übergeben. Wann ging dann die Gewere von einem auf den anderen Rechtsträger über? Der berühmte grüne Zweig gab darauf Antwort. Bis zum Rechtssprichwort erstarkte dieses Symbol für das Grundstückseigentum.19 Der Ringwechsel zum Zeichen des Verlöbnisses gehört ebenfalls dazu.20 Das Vollstreckungsrecht liefert zusätzliches anschauliches Material. Schon die Lex Salica aus dem 6. Jahrhundert berichtet, dass ein Schuldner, der sich der Haftung entziehen wollte, den Gläubigern sein Grundstück zur Verfügung stellen konnte. Zuerst musste er über seinen Rücken Erde in die Ecken seines Hauses werfen und dann mit Büßergewand und Stab bekleidet über seinen Grundstückszaun springen. Als Endpunkt des sogenannten Chrenecruda-Verfahrens symbolisiert der Zaunsprung den Eigentumsverlust.21 Jahrhunderte später findet sich im Sachsenspiegel eine Rechtsgewohnheit zur Pfändung von Grundstücken, Fronung genannt. Der Beginn der Beschlagnahme und damit einer Lösungsfrist war im wörtlichsten Sinne dadurch markiert, dass der Fronbote ein Kreuz auf das Grundstückstor malte oder setzte.22 Gerade das letzte Beispiel zeigt die Schwierigkeiten, wenn man lediglich derartige Rechtshandlungen betrachtet. Der Schuldner war vielleicht gar nicht anwesend bei der Fronung, verbale Kommunikation fand also überhaupt nicht statt. Auch im Chrenecruda-Verfahren gab es zwar viele Zuschauer aus den beteiligten Familienverbänden, aber möglicherweise keine Ansprachen. Jedenfalls sind sie in der Quelle nicht erwähnt. Deswegen ist es im hier interessierenden Zusammenhang hilfreicher, gezielt das Gerichtsverfahren zu beleuchten. Mündliche Rede über das Recht, äußere Formen und Rechtssymbole werden hier gemeinsam greifbar. 19 Ruth Schmidt-Wiegand, Art. „Zweig“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (wie Anm. 14) 5, 11998, Sp. 1829–1831; Zweifel an zu viel Eindeutigkeit bei Paul Töbelmann, Stäbe der Macht. Stabsymbolik in Ritualen des Mittelalters (Historische Studien 502), Husum 2011, S. 200–207. 20 Hans-Jürgen Becker, Art. „Ring“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (wie Anm. 14) 4, 11990, Sp. 1069–1070. 21 Lex Salica Titel 58, bei Karl August Eckhardt (Hg.), Die Gesetze des Merowingerreiches 481–714 (Germanenrechte. Texte und Übersetzungen 1), Weimar 1935, S. 84–87; Ruth Schmidt-Wiegand, Art. „Chrenecruda“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (wie Anm. 14) 1, 22008, Sp. 839–840. 22 Peter Oestmann, Art. „Fronung“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (wie Anm. 14) 1, 22008, Sp. 1862–1863.

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II. Symbolische Kommunikation und ihre Grenzen im ungelehrten Gerichtsverfahren Im Folgenden steht nicht die Folge von Formverstößen im Mittelpunkt der Überlegungen. Es geht um die Gleichzeitigkeit symbolischer und diskursiver Kommunikation und ihr Verhältnis zueinander. Besonderes Interesse verdienen hierbei Umbruchsphasen. Die Beibehaltung überkommener Formen und Symbole konnte hier möglicherweise die Akzeptanz von Veränderungen erhöhen und damit Stabilität bewahren. Zugleich war freilich die Änderung von Symbolen auch geeignet, inhaltlichen Wandel besonders sichtbar zu machen. Schließlich gab es sogar Fälle, in denen die mündliche Rede an die Stelle tatsächlicher Handlungen (Realakte) trat.

1. Kontinuität der Symbole in Zeiten von Rechtsänderungen Eine der zentralen Entwicklungen der mittelalterlichen Rechtsgeschichte war der Weg zur Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols. Dies geschah in zahlreichen Schritten, nicht zuletzt durch die obrigkeitliche Pflicht, Gewalttaten zu ahnden. Im modernen Recht spricht man von der Offizialmaxime. Von Amts wegen gehen staatliche Stellen gegen Straftäter vor. Im ungelehrten Mittelalter war das lange anders, denn das Opfer einer Straftat und seine Angehörigen konnten frei entscheiden, ob sie wegen einer Missetat den Gerichtsweg beschritten oder nicht. Modern könnte man von der Dispositionsmaxime reden, die wir heute noch im Zivilprozess kennen. Der Übergang von der Dispositions- zur Offizialmaxime markiert den Wandel von einem Privatstrafrecht zu einem öffentlichen Strafrecht. Das ist alles in dieser Vereinfachung höchst problematisch, doch dient die Zuspitzung hier der Veranschaulichung. Es gibt eine Quelle, die diesen Übergang in einem einzigen Rechtsstreit überdeutlich zeigt. Es ging um den Mord an dem Schiffmann Emmerich von Sonnenberg, verhandelt vor dem Frankfurter Schöffengericht vermutlich 1411/12.23 Die Mörder waren namentlich bekannt, lebten wohl auch in Frankfurt, aber auf der ersten Sitzung des sogenannten Reichsgerichts wollte niemand Anklage wegen 23 Abgedruckt bei Johann Gerhard Christian Thomas, Der Oberhof zu Frankfurt am Main und das fränkische Recht in Bezug auf denselben, hg. von Ludwig Heinrich Euler, Frankfurt a. M. 1841; Fallstudie dazu bei Peter Oestmann, Der Wert der Rechtsgeschichte für das Studium des Rechts – was uns ein mittelalterlicher Mordfall heute sagte, in: Eugen Bucher u. a. (Hgg.), Norm und Wirkung. Beiträge zum Privat- und Wirtschaftsrecht aus heutiger und historischer Perspektive. Festschrift für Wolfgang Wiegand zum 65. Geburtstag, Bern 2005, S. 1043– 1064.

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des Totschlags erheben. Der Stücker, der Gerichtsdiener, rief dreimal nach einem Kläger aus, aber niemand erschien. Das war auch nicht möglich, denn der Getötete stammte aus Köln und hatte in Frankfurt keine Angehörigen. Daraufhin ging das Gericht auseinander. Am zweiten Gerichtstag rief der Stücker wieder dreimal nach dem Kläger aus, aber erneut wollte niemand wegen des Totschlags Klage erheben. In dieser Situation ließ der Richter den Stücker die Kleider des Getöteten in die Höhe halten. Offenbar hatte man sie aufbewahrt. Und während der Stücker die Kleidung, mittelalterlich Watmal genannt, zeigte, lud er zugleich die Täter nach Recht und Herkommen wegen des Mordes vor das Reichsgericht. Wie gesagt, das war nicht schwierig, denn die Täter waren allesamt bekannt. Am dritten Gerichtstag erschienen sie mitsamt ihren Fürsprechern. Da fragte der Stücker wieder dreimal, ob jemand wegen des Totschlags Klage erheben wollte. Natürlich war abermals niemand dazu bereit. Da stand der Gerichtsvorsitzende (Schultheiß) auf, setzte einen anderen Schultheißen an seine Richterstelle und verklagte die Mörder wegen ihrer Bluttat. Diese aber antworteten mit ihren Fürsprechern, sie hätten nichts Unrechtes getan. Dafür legten sie eine Urkunde vor. Aus ihr ging hervor, dass der getötete Emmerich selbst ein in die Acht erklärter Mörder gewesen war. Daher hätten sie ihn bußlos töten dürfen. Nach einer kleineren Diskussion erkannte der erste Schultheiß an, dass die Beklagten ihre Unschuld ordnungsgemäß bewiesen hätten. Die Schöffen sprachen die Täter daher vom Vorwurf frei. Sie brauchten keine Kehrung oder Wandel zu leisten, blieben von Straf- oder Bußzahlungen also verschont. Formen, Symbole und Rechtsinhalte sind in diesem Fall untrennbar miteinander verbunden. Insgesamt neunmal wurde nach einem Kläger gerufen, den man doch im Ergebnis gar nicht brauchte. Das ist aber wichtig, denn hier prallen zwei verschiedene Verfahrensarten aufeinander, das private Klageverfahren und die Klage von Amts wegen. Der neunmalige Aufruf zur Sache veranschaulicht besser als jede Erläuterung, dass das öffentliche Strafverfahren subsidiär zum privaten war und nur hilfsweise zur Lückenfüllung diente. Der Ausruf nach einem Kläger stellte die Prozessmaximen mithin klar, ohne dass man darüber ein Wort zu verlieren brauchte. Die Verbrechensverfolgung durch die Obrigkeit war also die Ausnahme, wie die neun erfolglos verhallten Aufrufe des Stückers jedermann zeigten. Auch historisch handelte es sich um eine Neuerung. Sie war aber ganz in die alten Formen eingebunden und daher als solche nicht so deutlich erkennbar. Ähnlich verhält es sich mit der Kleidung des Toten. Es gibt Berichte über die Klage mit dem toten Mann24 oder 24 Heiner Lück, Klagen und ihre Symbolik in Text, Glosse und Richtsteig des SachsenspiegelLandrechts. Zum Verhältnis von prozessualer Norm und Rechtswirklichkeit am Beginn der frü-

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über Leibzeichen, die die gesamte Person versinnbildlichten.25 Im Frankfurter Fall konnte die Gerichtsöffentlichkeit die Ladung durch den Stücker ganz herkömmlich so verstehen, als ob der Tote selbst seine Mörder zur Rechenschaft rief. Und als schließlich der Schultheiß sich durch einen Dritten vertreten ließ, hatte es den Anschein, als schlüpfe er wieder in die Rolle eines Privatmannes, der jetzt Klage erhob, aber vom Gericht unabhängig war. Der Moment, in dem der Richter aufstand, symbolisiert also den Verlust seiner Richterrolle und seine scheinbare Rückkehr ins Privatleben. Das war mittelalterlich unmittelbar einleuchtend, denn nach allen vorliegenden Quellen musste ein mittelalterlicher Richter sitzen.26 Wie Susanne Lepsius gezeigt hat, war das selbst im gelehrten Recht kaum anders.27 Dieses Beispiel zeigt, zugespitzt formuliert, wie eine deutliche Änderung von Rechtsinhalten einhergeht mit einer ganz verblüffenden Kontinuität in Form und Symbolik. Gelehrte Anhänger der Offizialmaxime hätten argumentieren können, in schweren Straftaten müsse man von Amts wegen die Täter verfolgen. Die Kanonistik hätte die päpstliche Dekretale Innozenzʼ III. hinzugefügt, „damit Straftaten nicht ungesühnt bleiben“.28 Im ungelehrten Recht sprach man das nicht offen aus, wenn man sich auch im Ergebnis daran hielt. In dieser Übergangsphase vom privaten zum öffentlichen Strafprozess boten die äußeren Formen und Symbole die Sicherheit, das Neue in das Bekannte einzubetten und so seine Akzeptanz zu erhöhen. Die Beibehaltung überkommener rechtlicher Formen und Symbole darf also nicht zu dem Fehlschluss verleiten, der Ablauf des Gerichtsverfahrens oder die Prozessmaximen seien von großer Kontinuität geprägt gewesen. Genauso verhält es sich mit dem Beweisverfahren. Die Mörder traten zusammen mit ihren Fürsprechern auf. Die Fürsprecher standen für ein Gerichtsverfahren, in dem es auf die Wiederholung vorgegebener Formeln für Reinigungseide ankam. Sie sollten den Parteien den Wortlaut vorsprechen, genau daher kommt ihr Name,29 und genauso wurde es im nur wenig entfern-

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hen Neuzeit, in: Schulze (Hg.), Symbolische Kommunikation (wie Anm. 6), S. 299–316, hier S. 303–304. Adalbert Erler, Art. „Leibzeichen“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (wie Anm. 14) 2, 1978, Sp. 1802–1804. Clausdieter Schott, Die Sitzhaltung des Richters, in: Schulze (Hg.), Symbolische Kommunikation (wie Anm. 6), S. 153–187. Dazu der Beitrag von Susanne Lepsius, Das Sitzen des Richters als Rechtsproblem, in diesem Band S. 109–130. Günter Jerouschek, Ne crimina remaneant impunita. Auf dass Verbrechen nicht ungestraft bleiben. Überlegungen zur Begründung öffentlicher Strafverfolgung im Mittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 120. Kanonistische Abteilung 89, 2003, S. 323–337. Peter Oestmann, Art. „Fürsprecher“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (wie Anm. 14) 1, 22008, Sp. 1883–1887; Gerhard Buchda / Albrecht Cordes, Art. „Anwalt“, ebd., Sp. 255–263.

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ten Ingelheim bis mindestens in die 1430er Jahre auch gehalten.30 Der äußere Rahmen in Frankfurt scheint gleich, denn die Fürsprecher redeten auch hier gemeinsam mit den Beklagten. Es ging aber nicht um Eide, sondern um einen Urkundenbeweis und rechtlich gesprochen um einen Rechtfertigungsgrund für eine Ausnahme vom inzwischen allgemeinverbindlichen Landfrieden. Eigentlich benötigte man dafür keine Fürsprecher mehr und später gab es Momparn, die in Abwesenheit der Parteien ihre Mandanten vertreten konnten.31 Freilich sind in Frankfurt noch in den 1470er Jahren altüberkommene zweizüngige Beweisurteile und häufige Eidesbeweise belegt.32 All das zeigt, wie stark der Prozess gegen die Mörder des Emmerich von Sonnenberg in die Zukunft weist. Vom Grundsatz des hoheitlichen Gewaltmonopols bis zum Beweis von Rechtfertigungsgründen, vom Urkundenbeweis bis zur Ladung vom Amts wegen, von der Klageerhebung durch den Richter selbst bis zum gar nicht zweizüngigen Endurteil steht man vor einer Fülle von Neuerungen. Doch zugleich sind sie abgefedert. Erstaunlicherweise hat Helmut Coing, der sich mit der Rezeption des gelehrten Rechts in Frankfurt beschäftigt hat, solche frühen Modernisierungen nicht bemerkt. Vielleicht liegt hier ein Ansatzpunkt für künftige Vertiefungen: Die Beibehaltung überkommener Formen und Symbole konnte äußere Kontinuitäten schaffen, hergebrachte Zustände bewahren und damit zugleich rechtlichen Wandel begleiten und akzeptabel machen. Damit ist nicht unterstellt, dass es Misstrauen gegen die Rezeption des römischen Rechts gegeben habe, das man durch deutschrechtliche Symbole zu überspielen versuchte. Aber dass die Symbole länger Bestand hatten als die prozessualen Formen, für die sie ursprünglich standen, ist dennoch bemerkenswert. Ein weiteres Beispiel sei nur knapp erwähnt, weil es weit in die Frühe Neuzeit vorausweist. Gemeint ist die Rolle des Richters als Verhandlungsleiter und Vorsitzender. In seiner hervorgehobenen Position, ausgestattet mit Stab oder Gerichtsschwert, symbolisierte er die Gerichtsgewalt des Herrschers, von dem er sein Amt ableitete. Genau deshalb brauchte er auch kein Jurist zu sein. In einem von Rechtsgewohnheiten geprägten Recht war das auch nicht notwendig. Das gelehrte Recht hatte demgegenüber ein anderes Richterbild, nämlich 30 Etwas ungenau sind daher die neuhochdeutschen Übertragungen bei Werner Marzi (Hg.), Das Oberingelheimer Haderbuch von 1476–1485 (Die Ingelheimer Haderbücher. Spätmittelalterliche Gerichtsprotokolle 1), Alzey 2011: Das „worte zu thun“ wird zur bloßen Vertretung vor Gericht (fol. 3r), „furspreche“ zum Vertreter (z. B. fol. 124v). 31 Helmut Coing, Die Rezeption des römischen Rechts in Frankfurt am Main (Frankfurter wissenschaftliche Beiträge. Rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Reihe 1), Frankfurt a. M. 1939, S. 31. 32 Ebd., S. 32–33.

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den selbsturteilenden studierten Juristen.33 Dennoch haben das Reichskammergericht und auch zahlreiche partikulare Hof- und Oberappellationsgerichte bis zum Ende des Alten Reiches an dem überkommenen Richterbild festgehalten, auch wenn der Sache nach auch dort studierte Juristen die Entscheidungen fällten.34

2. Gleichzeitige Änderung von Rechtssymbolen und Recht In anderen Fällen gingen Änderungen des Rechts mit Änderungen äußerer Formen oder Symbole einher. Das relativiert zugleich den soeben beschriebenen Eindruck. Keineswegs immer sollte Kontinuität in den Formen den Wandel des Rechts verdecken oder annehmbarer machen. Ein schönes Beispiel aus Schwäbisch Hall aus dem 15. Jahrhundert zeigt, worum es geht. Das mittelalterliche Strafverfahren war regelmäßig mündlich und öffentlich. Jedenfalls war es so beim Akkusationsverfahren und auch beim oben erwähnten Frankfurter Fall von 1411. Das gelehrt-rechtliche Inquisitionsverfahren lief dagegen schriftlich und geheim. König Sigismund verlieh der Stadt Schwäbisch Hall im August 1429 das Privileg, hinter verschlossener Tür zu richten.35 Das war Teil einer umfangreicheren Rechtsgewährung. Sie übertrug die Blutgerichtsbarkeit vom Reichsschultheißen auf den städtischen Rat. Die Formulierung war nicht ungewöhnlich und begegnet etwa auch in Feldkirch 1518.36 Der entscheidende Inhalt taucht im Text des Privilegs überhaupt nicht auf. Zusammen mit der Blutgerichtsbarkeit erhielten die Empfänger nämlich zugleich das Recht, den Inquisitionsprozess im Strafverfahren einzusetzen. Der Inquisitionsprozess fand immer hinter verschlossenen Türen statt, und daher konnte sich das Privileg der verschlossenen Tür nur auf die Einleitung und Verfahrensherrschaft im Strafverfahren beziehen. Der ausdrückliche Hinweis 33 Klassisch dazu Woldemar Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre, Leipzig 1938, S. 47–49. 34 Paul Lenel, Scheidung von Richter und Urteilern in der deutschen Gerichtsverfassung seit der Rezeption der fremden Rechte, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 34, 1913, S. 440–447; zur Ausnahme Celle vgl. Stefan Andreas Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 59), Köln u. a. 2011, S. 43–45. 35 Andreas Deutsch, Der Klagspiegel und sein Autor Conrad Heyden. Ein Rechtsbuch des 15. Jahrhunderts als Wegbereiter der Rezeption (Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte 23), Köln u. a. 2004, S. 150. 36 Urs Christoph Lener, Hexen, Unholde und Juristen. Ausgewählte Hexenprozesse in Vorarlberg im 17. Jahrhundert und deren Rechtsgutachten, phil. Magisterarbeit Wien 2009, online veröffentlicht unter: http://othes.univie.ac.at/6731/ (zuletzt besucht am 10.06.2012), S. 14.

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auf die Türen stand damit für die Einführung eines neuen Strafverfahrens. Zweifel an der Verständlichkeit dürfte es nicht gegeben haben. Öffentlichkeit und Mündlichkeit waren damit zugleich abgeschafft. Die Verlagerung des Gerichts vom offenen Himmel mitsamt Gerichtsbänken, Schranke und Umstand hinein in die Ratsstube versinnbildlichte überdeutlich den Übergang vom Akkusations- zum Inquisitionsverfahren. Die Tür als Symbol zeigte das Arkanum der Herrschaft und symbolisierte zugleich, dass die iurisdictio das wichtigste Herrschaftsrecht markierte, hier eben die Gerichtsgewalt des städtischen Rates. In Fällen wie diesem machte der Wandel der äußeren Formen und Symbole die Änderung der Rechtsinhalte für jedermann sichtbar. Diese Spur lässt sich ohne Weiteres in die Frühe Neuzeit verfolgen. Am kaiserlichen Reichshofrat gab es einen Türhüter, der den unmittelbaren Kontakt der Parteiagenten zu den Hofräten verhinderte.37 Die geschlossene Tür symbolisierte die Unnahbarkeit der kaiserlichen Gerichtsgewalt. Wohl kaum zufällig gab es 1664 Diskussionen, ob die Verkündung der reichshofrätlichen Urteile bei geöffneter oder geschlossener Tür stattfinden solle. Die evangelischen Reichsstände forderten die Verlesung „bey eröffneter thür“, doch fand ihr Vorschlag keinen Eingang in die Gerichtsordnung.38 Und als in der Zeit nach der Französischen Revolution das Amt des Friedensrichters eingeführt wurde, war gesetzlich festgeschrieben, dass er bei offener Tür zu verhandeln hatte: „Ils pourront donner audience chez eux, en tenant les portes ouvertes.“39 Die Reformen der Prozessmaximen lassen sich unmittelbar daran erkennen, ob die Gerichtstüren offen stehen oder verschlossen bleiben. Im Mittelalter bedeutete das zugleich, dass die Gerichtsstätte durch solche TürPrivilegien verlagert werden musste. Die alten Gerichtslauben waren ja zu den Seiten geöffnet. Die Ratsstuben waren hingegen geschlossen. Die symbolische Offenheit der Tür markierte damit die Öffentlichkeit oder Geheimheit des Verfahrens. 37 Zum Türhüter Oswald von Gschliesser, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich 33), Wien 1942, S. 87; Mark Hengerer, Zahlen und Zeremoniell. Eine skalentheoretische Annäherung an räumliche und monetäre Formen der Ordnung/Unordnung des Hofes, in: Reinhard Butz / Jan Hirschbiegel (Hgg.), Informelle Strukturen bei Hof (Via curialis. Form und Wandel höfischer Herrschaft 2), Berlin 2009, S. 57–88, hier S. 84. 38 Wolfgang Sellert, Die Ordnungen des Reichshofrats, 2. Halbband: 1626 bis 1766 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 8,2), Köln/Wien 1990, S. 220, Anm. s.; öffentliche Verlesung dagegen ebd., Tit. VI § 9, S. 226. 39 Code de procédure civile (1806), 1. Teil, 1. Buch, 2. Titel § 8 Satz 2, mit deutscher Übersetzung bei Johann Cramer, Les cinq Codes. Die fünf französischen Gesetzbücher, Koblenz o. J., S. 2; nur bezogen auf die englische Tradition: Ronald G. Asch, Art. „Friedensrichter“, in: Enzyklopädie der Neuzeit 4, 2006, Sp. 25–27.

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3. Mündliche Kommunikation vor Gericht als Ersatz für tatsächliche Handlungen Der dritte Aspekt ist noch seltener bemerkt worden. Das Rechtsgespräch der Parteien, auch wenn es frei und nicht formgebunden verlief, konnte seinerseits zum Rechtssymbol werden. Vor Gericht kämpften die Parteien und vor allem ihre Sachwalter mit Worten, im Krieg kämpften sie mit Waffen. Mittelalterliche Beobachter haben diesen Kampf für gleichwertig angesehen. Bester Zeuge dafür ist Johann von Buch, ein in Bologna studierter Jurist aus dem 14. Jahrhundert.40 Bernd Kannowski hat diesen Gesichtspunkt herausgearbeitet.41 In seiner Glosse zum Sachsenspiegel betonte Johann von Buch, der niederdeutsche Fürsprecher besitze ritterliche Würde, denn das Gerichtsverfahren sei ein Kampf: Nu wel he hire zeggen, wo en vrede krighet in deme gherichte, de dar vore vnvrede hadde. Wen liker wijs, alse men vppe deme velde manighen dodet vnde vntweldiget liues vnde gudes, also dod de strid in gherichte, vnde alse dar welke zegheuechten vnde wynnen, also wynnen itlike hire, vnde alse me dar daghe nympt vnde vorwissend, alzo vorwissent men ok hir. Dar vmme secht he hir van desser rechte, de vorwissenen, dat heten borghen. Nun will er hier sagen, wie jemand im Gericht Frieden erlangen kann, wenn er vorher Unfrieden hatte. Denn genau wie jemand auf dem Schlachtfeld jemanden tötet oder um Leben und Gut bringt, so tut es auch der Streit vor Gericht, und so wie manche [im Krieg auf dem Schlachtfeld; P.O.] Siege erringen und gewinnen, so obsiegen manche hier [im Streit vor Gericht; P.O.], und so wie man dort zuweilen einen Waffenstillstand schließt und durch Geiseln absichert, nimmt man auch vor Gericht Geiseln zur Sicherheit. Darum spricht er hier über die rechtliche Behandlung derjenigen, die vor Gericht als Geiseln Sicherheit für etwas bieten, die heißen Bürgen.42

Hier mag die Sprachgeschichte hilfreich sein. Im Mittelniederdeutschen bedeutete ‚krigen‘ zum einen die Fehdeführung, zum anderen den gerichtlichen 40 Zu ihm Heiner Lück, Johann von Buch (ca. 1290–ca. 1356). Stationen einer juristisch-politischen Karriere, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 124, 2007, S. 120–143. 41 Bernd Kannowski, Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch’sche Glosse (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 56), Hannover 2007, S. 151–164, mit zahlreichen weiteren Quellen und Literatur. 42 Glosse zum Sachsenspiegel Landrecht III 9: Swe borge wert, bei Frank-Michael Kaufmann (Hgg.), Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht. Buch’sche Glosse (Monumenta Germaniae Historica 7/2), Hannover 2002, Teil 2, S. 979, Z. 6–13; Übersetzung von Kannowski, Umgestaltung (wie Anm. 41), S. 151–152.

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Rechtsstreit.43 Im Lateinischen sieht es nicht anders aus. ‚Lis‘ heißt sowohl Streit als auch Prozess. Und die gemeinrechtliche ‚litis contestatio‘ übersetzten die Zeitgenossen auf Deutsch oft mit ‚Kriegsbefestigung‘.44 Ein gelehrter Ordo iudiciarius beschreibt die Personen bei Gericht in ganz ähnlicher Weise: Der Richter trägt den Justizhelm, der Kläger einen Dolch der Bosheit, der Zeuge die Wahrheitstrompete und der Beklagte wehrt sich mit einem Verteidigungsschild.45 Johann von Buch schilderte also nicht oder jedenfalls nicht nur ein ‚urdeutsches‘ Mittelalter, sondern stand auch hier in erstaunlicher Weise in der italienischen Tradition. Der Wortwechsel vor Gericht war damit tatsächlich Silbenstecherei, nicht aber in dem negativen Sinne, den Wilhelm Ebel zu erkennen glaubte.46 Vielmehr war die Silbenstecherei eine ritterliche Tätigkeit genau wie die Stecherei mit dem Schwert. Die Analogie war also positiv besetzt und nicht abwertend gemeint. Vielmehr verlieh sie dem Sachwalter gleichsam adlige Würde. Mit der Gleichsetzung von Gericht und ritterlichem Kampf ließ sich spielen, ja es waren sogar Ausweitungen möglich. Im gemeinen Recht begründeten viele Autoren die ignorantia iuris, die Rechtsunkenntnis, von Soldaten damit, sie müssten mit Waffen und nicht mit Worten kämpfen.47 In Frankreich sprach man von der ‚Noblesse du Robe‘ und meinte die Gleichwertigkeit eines Jurastudiums mit einem Adelsgrad, jedenfalls für Richter. Die Belege dafür stammen aber überwiegend erst aus der Zeit um 1500.48 Hier zeigt sich eine ganz erstaunliche Nähe von gelehrten und rechtsgewohnheitlichen Vorstellungen. Falls es stimmt, dass der Wortwechsel vor Gericht und seine Übereinstimmung mit dem Waffengang die innere Verbindung zur ritterlichen 43 Ebd., S. 153. 44 Ähnliche Hinweise auf Kilian König bei Steffen Schlinker, Litis Contestatio. Eine Untersuchung über die Grundlagen des gelehrten Zivilprozesses in der Zeit vom 12. bis zum 19. Jahrhundert (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 233), Frankfurt a. M. 2008, S. 308; unklar Susanne Lepsius, Von Zweifeln zur Überzeugung. Der Zeugenbeweis im gelehrten Recht ausgehend von der Abhandlung des Bartolus von Sassoferrato (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 160), Frankfurt a. M. 2003, S. 25: Streitverkündung. 45 Quia iudiciorum quedam XVII: De iudiciis et iudicibus, bei Johann Friedrich von Schulte, Der Ordo iudiciarius des Codex Bambergensis, in: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 70, Heft 1–3,1872, S. 285–326 , hier S. 314; dazu Wiesław Litewski, Der römisch-kanonische Zivilprozess nach den älteren ordines iudiciarii, Krakau 1999, Bd. 1, S. 51. 46 Ebel, Recht und Form (wie Anm. 15), S. 16. 47 Beispiel aus der Rechtspraxis bei Peter Oestmann, Lübecker Rechtspraxis um 1700. Der Streit um die Entführung der Catharina Lefever, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 80, 2000, S. 259–293, hier S. 285; Belege zu verschiedenen Rechtssprichwörtern bei Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, München 22007, S. 97, I, Nr. 10–14. 48 Raimund J. Weber, Art. „Noblesse du robe“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (wie Anm. 14) 3, 11984, Sp. 1021–1023.

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Ehre herstellten, waren das gelehrte und das ungelehrte Gerichtsverständnis zumindest in diesem Punkt nicht weit voneinander entfernt. Der Blick auf die symbolische Dimension des gerichtlichen Wortwechsels ermöglicht damit eine Annäherung des gelehrten und rechtsgewohnheitlichen Gerichtsverfahrens. Die traditionelle Literatur zur deutschrechtlichen mittelalterlichen Formstrenge hat solche Gemeinsamkeiten, Parallelentwicklungen, womöglich gar Abhängigkeiten nicht beachtet, vielleicht auch nicht sehen wollen. Von hier aus ergeben sich Fragen nach der symbolischen Dimension der Mündlichkeit im gelehrten Recht ebenso wie nach der Bedeutung der maßlosen Allegationsketten und der überbordenden Glossenapparate.

III. Ausblick Statt einer Zusammenfassung stehen offene Fragen am Ende dieser kurzen Skizze. Das Verhältnis symbolischer und nicht-symbolischer Kommunikation im mittelalterlichen Gerichtsverfahren ist bisher kaum ernsthaft untersucht worden. Es ging nicht nur um Sanktionen bei Formverstößen, sondern vor allem um Symbolkontinuität oder Symbolwechsel in Zeiten rechtlicher Umbrüche. Welche dieser beiden Möglichkeiten typisch für das Mittelalter war, lässt sich verallgemeinernd nicht sagen und bedarf je nach Zusammenhang vertiefter Quellenauswertung. Die alte Frage, wie die Bevölkerung die Rezeption des gelehrten Rechts empfunden hat, lässt sich auf diese Weise zwar nicht beantworten, aber hoffentlich mit neuen Gesichtspunkten anreichern.

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Das Sitzen des Richters als Rechtsproblem „Bitte erheben Sie sich!“ Mit diesen Worten beginnt und endet ein Prozess üblicherweise noch heute. Der Ein- und Auszug des Gerichts aus dem Saal und insbesondere der Moment der Urteilsverkündung sind zentrale Momente der Rechtsprechungstätigkeit, die nach wie vor einer besonderen zeremoniellen Absicherung bedürfen und in denen bis heute auf Rituale, also feste Handlungsabläufe, zurückgegriffen wird.1 Welche Personen dabei in welchem Moment sitzen dürfen oder zu stehen haben, drückt Autorität beziehungsweise Respekt der Prozessbeteiligten aus und inszeniert den Geltungsanspruch des gerichtlichen Verfahrens insgesamt. Vom Urteil am Amtsgericht bis zu den in den Abendnachrichten übertragenen Urteilsverkündungen des Bundesverfassungsgerichts: Jeder weiß, dass sich Prozessparteien, Angeklagte und ihre Vertreter sowie die Gerichtsöffentlichkeit genauso beim Einzug des Gerichts zu erheben wie sie bei der Urteilsverkündung zu stehen haben. Widrigenfalls können sogar Ordnungsrufe erteilt werden. Selbst der Berliner Kommunarde Fritz Teufel, der sich im Jahre 1967 weigerte, dem Moabiter Landgericht durch sein Erheben den geschuldeten Respekt zu erweisen, konnte sich diesem Ritual nicht entziehen, obwohl er versuchte, dessen Bedeutung zu entwerten, indem er sein Aufstehen mit den Worten „Wenn’s denn der Wahrheitsfindung dient“ zu ironisieren versuchte.2 Erst im demokratischen Rechtsstaat zeugt es von der noch höheren Autorität des demokratischen Souveräns, dass auch das Gericht selbst den Urteilstenor „im Namen des Volkes“ 3 stehend verkündet 1

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Vgl. Gerhard Dilcher, Mittelalterliches Recht und Ritual in ihrer wechselseitigen Durchdringung, in: Frühmittelalterliche Studien 41, 2007, S. 297–316, hier S. 299 zur Abgrenzung von gerichtlichen Ritualen als festgelegten Handlungsabläufen, „deren Vollzug für Beteiligte einen den bloßen Handlungserfolg überschießenden Sinngehalt“ hat, von den dabei eingesetzten Gegenständen, also den Rechtssymbolen. Zum Prozess gegen Fritz Teufel, dem vorgeworfen wurde, beim Besuch des Schah von Persien in Berlin am 2. Juni 1967 einen Stein auf einen Polizisten geworfen zu haben: Marco Carini, Fritz Teufel. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient, Hamburg 2003; dort S. 8 f. zum Vorfall am zweiten Verhandlungstag des Prozesses, dem 29.11.1967, bei dem der zeitunglesende Teufel sich zunächst weigerte, sich zu erheben, sowie S.  249 zur Auszeichnung Teufels mit dem WolfgangNeuss-Preis für Zivilcourage im Jahr 2001. In der Laudatio wurde insbesondere auf die von Zivilcourage zeugende Respektlosigkeit Teufels hingewiesen, die in seinem Versuch des demonstrativen Sitzen-Bleibens in der seinerzeitigen Gerichtsverhandlung zum Ausdruck gekommen und die eine prägende Szene der bundesrepublikanischen Rechtsgeschichte geworden sei. Die Verkündung des Urteils einschließlich der Bekanntgabe der wesentlichen Urteilsgründe „im Namen des Volkes“ ist in den maßgeblichen Prozessordnungen vorgesehen, vgl. § 311 Zivilprozessordnung, § 268 Strafprozessordnung, § 30 Abs. 1 S. 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Ein ferner

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– und damit von seinem Richterpodium aus doppelt erhöht gegenüber den Parteien und dem Publikum ist – und sich erst für die darauffolgende, meist wesentlich ausführlichere Begründung des Urteils niederlässt.4 Während das respektlose Sitzenbleiben der Prozessbeteiligten oder der Gerichtsöffentlichkeit bei der Urteilsverkündung durchaus noch mit Ordnungsmaßnahmen sanktioniert werden kann, wirft es heute jedoch keine Rechtsfrage mehr auf, wie zu verfahren ist, wenn das Gericht bei der Urteilsverkündung entgegen dem oben geschilderten üblichen Ritual sitzen bleiben sollte.

I. In vordemokratischen und nichtrepublikanischen Zeiten saßen die Richter hingegen bei der Urteilsverkündung. Als ein über die Zeiten hinweg fast unverändert stabiler Handlungsablauf, der durch eine ausgeprägte longue durée gekennzeichnet ist, verweist das Ritualelement des während des ganzen Verfahrens und bis zur Urteilsverkündung sitzenden Richters in allen europäischen Ländern mindestens zurück auf mittelalterliche Rechtsvorstellungen und Rechtspraxis. Im Folgenden soll statt vieler Beispiele für gerichtliche Rituale5 allein diese zeichenhafte-symbolische Handlung als Ausschnitt aus dem vom Wechsel zwischen Sitzen und Stehen geprägten Ritual vor Gericht näher untersucht werden. Damit soll aus der Sicht einer vorwiegend im Bereich des gelehrten Rechts arbeitenden Rechtshistorikerin ein Beitrag zum Abschlusskolloquium des Sonderforschungsbereichs „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Anklang an das nachfolgend erörterte Ritual des Stehens bzw. Sitzens findet sich noch im Ausdruck „Stuhlurteil“ für das sogleich im Anschluss an die mündliche Verhandlung ergangene Urteil. Der zeremonielle Unterschied zwischen Sitzen und Stehen des Richters und der sonstigen Prozessbeteiligten wird in der gegenwärtigen Kommentarliteratur fast gar nicht thematisiert. Allein Adolf Baumbach u. a. (Hgg.), Zivilprozessordung (Beck’sche Kurz-Kommentare 1), München 70 2012, § 311 no. 7, reflektieren: „Das Aufstehen während der Verkündung des Urteils ist im Zivilprozess nicht üblich, der Richter darf es jederzeit praktizieren. Jeder Anwesende muss zumindest nach Aufforderung des Vorsitzenden aufstehen, zumal es die Bedeutung des Augenblicks betont.“ 4 Die Unterscheidung der Urteilsverkündung „im Namen des Volkes“, bei der auch das Gericht stehen muss, von der sonstigen sitzenden Tätigkeit des Gerichts, meist an einem erhöht stehenden Tisch, dürfte allerdings erst mit der Staatsform der Demokratie und Republik ausgeprägt worden sein. Zum historischen Hintergrund dieser Formel, die „mehr als Ornament oder Imponiergehabe“ sei, ausführlich etwa Rudolf Wassermann (Hg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung (Reihe Alternativkommentare), Neuwied 1987, § 311 no. 1–3, jedoch ohne die rituelle Einkleidung der Formel zu erörtern. 5 Vgl. dazu neuerdings und grundsätzlich Gerhard Dilcher, Mittelalterliches Recht und Ritual (wie Anm. 1), S. 301–303, der sich in seiner folgenden Untersuchung mit außergerichtlichen Ritualen, etwa der Eigentumsübertragung durch gairethinx, auseinandersetzt.

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Revolution“ geleistet werden. Das gewählte Beispiel führt mitten in die seit einigen Jahren durchaus kontrovers ausgetragene Debatte zwischen Historikern und Rechtshistorikern um den mittelalterlichen Rechtsbegriff hinein6 und kann dazu beitragen, einige blinde Flecken zu erhellen. Dabei soll einerseits untersucht werden, ob das Sitzen des Richters im Gerichtsverfahren eine andere Bedeutung hatte und anders reflektiert wurde als das rituelle Sitzen in anderen Kontexten. Da sich mittelalterliche Rechtsvorstellungen im Gericht zu verwirklichen pflegten und man bei allem Streit um den mittelalterlichen Rechtsbegriff als zwingendes Recht oder als (bloßer) Handlungshorizont der Beteiligten jedenfalls wird festhalten können, dass ‚Recht ist, was vor Gericht gilt‘7, stellt sich die Frage in besonderer Schärfe, ob und in welchen Bereichen des mittelalterlichen Rechts die Verletzung gerade eines Gerichtsrituals besondere, gegebenenfalls welche, Sanktionen nach sich zog. Die Tatsache der rechtlichen Sanktion eines Ritualverstoßes würde das mittelalterliche Gerichtsritual hervorheben gegenüber den sonstigen Rechtsritualen, die – meist von den Parteien außerhalb des Gerichts vollzogen –, bloße Wirksamkeitsvoraussetzungen für ansonsten nicht gültige Rechtsgeschäfte waren. Das Ritual der Urteilsverkündung ist dabei besonders aufschlussreich, weil es bei der Urteilsverkündung um den Ausspruch einer klaren Rechtsfolge ging. Danach begann die Vollstreckung des Urteils, also der Abschnitt der Rechtsdurchsetzung, in dem das Schwert der – im Übrigen fast immer stehend dargestellten – iustitia8 bei der Vollstreckung von Todesurteilen entweder tatsächlich zum Einsatz kommen konnte oder metaphorisch für die 6

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Vgl. Bernd Kannowski, Rechtsbegriffe im Mittelalter. Stand der Diskussion, in: Albrecht Cordes / ders. (Hgg.), Rechtsbegriffe im Mittelalter, Frankfurt a. M. 2002, S. 1–27. Dagegen wird die rechtsersetzende Funktion der Rituale etwa noch jüngst von Gerd Althoff, Rituale als ordnungsstiftende Elemente, in: Walter Pohl (Hg.), Der frühmittelalterliche Staat. Europäische Perspektiven, Wien 2009, S. 391–398 betont. Besonders pointiert in diese Richtung: Jürgen Weitzel, „Relatives Recht“ und „unvollkommene Rechtsgeltung“ im westlichen Mittelalter. Versuch einer vergleichenden Synthese zum „mittelalterlichen Rechtsbegriff “, in: Cordes / Kannowski (Hgg.), Rechtsbegriffe im Mittelalter (wie Anm. 6), S. 43–62. Zuvor auch schon ders., Dinggenossenschaft und Recht, Bd. 2, Köln 1985, S. 1335. Vgl. zum Schwert als Richtschwert als Attribut der iustitia seit dem 13. Jhdt., neben dem älteren Symbol der Waage: Gerhard Köbler, Bilder aus der deutschen Rechtsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1988, S.  139 und S. 284. Vorrangig war das Schwert das Symbol der Strafgerichtsbarkeit, das im Strafverfahren auf den Gerichtstisch gelegt wurde, wie eine Abbildung aus dem Herforder Gerichtsbuch um 1375 belegt; vgl. Wolfgang Schild, Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung, München 1985, S. 151, Nr. 325. Verschiedene Abbildungen zur Darstellung der iustitia im niederländischen Raum bei: Lambert E. van Holk, Justitia, Bild und Sinnbild im 17. Jahrhundert in den Niederlanden, in: Louis Carlen (Hg.), Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde, Bd. 3, Zürich 1981, S. 155–199. Anhand der hier zusammengestellten Abbildungen fällt insbesondere ins Auge, dass die Frauengestalt, die allegorisch die iustitia verkörpert, stets steht.

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obrigkeitlichen Zwangsmechanismen der Vollstreckung stand. Der Aspekt der Zwangsgewalt des Rechts, der als allgemeines Charakteristikum des Rechts gewöhnlich erst mit der kantianischen Wende im Geltungsgrund des Rechts in Verbindung gebracht wird,9 war für den Moment der Urteilsverkündung auch den mittelalterlichen Rechtsgenossen deutlich. Wie zu zeigen sein wird, war dieser Moment der Absicherung durch Rituale besonders bedürftig. Andererseits soll die Frage nach dem Sitzen des Richters als Rechtsproblem im Folgenden anhand von Quellenbelegen aus unterschiedlichen Traditionslinien des mittelalterlichen Rechts beleuchtet werden: Die mutmaßlich ritualund bildhafteren germanistischen Bild- wie Quellenzeugnissen sollen dazu mit solchen aus dem Bereich des ius commune kontrastiert werden. Exemplarisch soll anhand des sitzenden Richters gezeigt werden, dass man die Welt des mittelalterlichen oralen, ungelehrten Rechts, das angeblich Recht und rechtliche Formen besonders bild- und zeichenhaft auffasste und verstärkt auf Rituale zur Stabilisierung von Erwartungserwartungen angewiesen war, nicht in scharfen Kontrast zu einem angeblich rein schriftlich-rationalen, unbildlichen gelehrten Verfahren setzen sollte, in dem Rechtsrituale keine Rolle spielten.

II. Schon in der älteren rechtshistorischen und rechtsarchäologischen Forschung wurde hervorgehoben, dass Sitzen zeitenübergreifend und besonders auch im Mittelalter ein Herrschaftsgestus gewesen ist.10 Das Sitzen als ein Zeichen der Erhöhung und des hervorgehobenen Standes sei zunächst ein eindeutiges Signifikant des Herrschers (auf dem Thron) wie des Bischofs im Konzil gewesen,11 9 Nach Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1. Teil, hg. von Bernd Ludwig, Hamburg 1986, Einleitung § D, S. 40, ist mit einem Recht die Möglichkeit untrennbar verbunden, dieses durch staatliche Stellen durchsetzen zu können. Zur Frage des Rechtszwangs in der mittelalterlichen Welt, in der man, insbesondere nördlich der Alpen, nicht mit einem staatlichen Gewaltmonopol und einem ausschließlich obrigkeitlichen Zwangsapparat rechnen darf, bedenkenswert: Gerhard Dilcher, Recht ohne Staat – Rechtsdurchsetzung ohne Staat? Überlegungen zur Rolle der Zwangsgewalt im mittelalterlichen Rechtsbegriff, in: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 30, 2001, S. 139–158. 10 Vgl. Ed[uard] Hahn, Thronende Herrscher und sitzende Völker, in: Zeitschrift für Ethnologie 50, 1918, S. 216–229, bes. S. 218–220; Karl von Amira / Claudius Freiherr von Schwerin, Rechtsarchäologie. Gegenstände, Formen und Symbole germanischen Rechts, Bd. 1: Einführung in die Rechtsarchäologie, Berlin-Dahlem 1943, S. 70 f. Für umfangreiche Unterstützung bei der Literaturrecherche in diesem Abschnitt danke ich meinem Mitarbeiter, Herrn Felix Grollmann. 11 Vgl. Philippe Buc, Political Rituals and Political Imagination in the Medieval West from the Fourth Century to the Eleventh, in: Peter Linehan / Janet L. Nelson (Hgg.), The Medieval World, London/New York 2001, S. 189–213, hier S. 193. Das Sitzen als vor allem ein verfassungsersetzendes politisches Ritual wird nun auch hervorgehoben von Martin Pilch, Der Rahmen der

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in dessen Nähe der Richter, der gleichfalls während des gerichtlichen Verfahrens saß, gerückt wurde. In England und Frankreich wurde gar vom Sitzen bzw. der Sitzgelegenheit die Bezeichnung für bestimmte Gerichte selbst abgeleitet, wie die Ausdrücke King’s bench und assizes belegen.12 Während der Richter saß, standen die Parteien, meist auch räumlich durch die Schranken vom Gericht getrennt, ‚vor Gericht‘; manchmal standen sie auch auf normaler Bodenhöhe unterhalb des erhöht auf einem Podium platzierten Gerichts.13 Durchweg soll der Richter nach der Aussage der deutschen Rechtsquellen auf einem Stuhl gesessen haben, der oft aus Stein gehauen, jedenfalls nicht dreibeinig war, wie sonst für das spezielle Rechtssymbol des Stuhls belegt ist.14 Anders dagegen die Schöffen: Als eigentliche Urteilsfinder saßen sie auf einer Bank, die, wie teilweise belegt ist, nach Abschluss des gerichtlichen Verfahrens und zum Aufheben des Gerichts sogar umgestoßen wurde.15 Als Textbelege, dass der Richter im deutschrechtlichen Verfahren sitzen müsse, verweist Erler und mit ihm die germanistische Rechtsgeschichtsschreibung auf einen Beleg aus dem Sachsenspiegel (erstes Drittel des 13. Jahrhunderts)16 sowie auf das Soester Nequambuch aus dem Jahr 1315. In der Soester Gerichtsordnung wird sogar die zu bevorzugende Sitzhaltung genauer beschrieben: Der Richter solle „sitzen als ein griesgrämiger

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Rechtsgewohnheiten. Kritik des Normsystemdenkens am Beispiel der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, Wien 2009, S. 260–262. Pilch geht allerdings auf das Phänomen der Rechtsrituale und gerade auf die in besonderer Weise verbindlichen, gerichtlichen Rituale gar nicht ein. Vgl. Thomas Glyn Watkin, „The Powers that Be Are Seated“. Symbolism in English Law and in the English Legal System, in: Reiner Schulze (Hg.), Rechtssymbolik und Wertevermittlung (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 47), Berlin 2004, S. 149–166; auf S. 149 wird die Parallele zwischen seisin, Inbesitznehmen, und dem herrschaftlichen würdevollen Sitzen des Gerichts auf eine These Frederic William Maitlands zurückgeführt. Vgl. Adalbert Erler, Art. „Sitzen“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 4, 1990, Sp. 1679–1682. Vgl. Jacob Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, Bd. 2, Leipzig 1899, Nr. 16, S. 374. Vgl. Adalbert Erler, Der Hochsitz in der deutschen Rechtsgeschichte, in: Paideuma 1, 1939, S. 168–178, bes. S. 168; dort S. 169 auch zum dreibeinigen bzw. dreistempeligen Stuhl als Rechtssymbol, der jedoch nicht mit dem Richter in Verbindung zu bringen ist. Der dreibeinige Stuhl als Rechtssymbol spielte dagegen bei diversen Grundstücksgeschäften eine hervorgehobene Rolle: Jacob Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, Bd. 1, Leipzig 1899, S. 258–260. Sachsenspiegel Landrecht, hg. v. Karl August Eckhardt, Göttingen/Frankfurt a. M. 31973, III.69 § 3, S. 254, Z. 9–S. 255, Z. 2: „Scilt er ordel en er genot, he scal des bankes bidden, en ander to vindene; so scal jene op stan, de dat ordel vant, unde disse scal sek setten in sine stat, unde vinde dat eme recht denke, unde t dar mede, dar he dorch recht scal, undee behalde’t, oder lat’t mit recht, alse hir vore geredet is.“ Dazu auch: Der Sachsenspiegel in hochdeutscher Übersetzung, übers. von Paul Kaller, München 2002, S. 132: „[III. 69 § 3] Schilt ihr Urteil einer ihrer Standesgenossen, er soll die Bank erbitten, um ein anderes [Urteil] zu finden; so soll jener aufstehen, der das Urteil fand, und dieser soll sich setzen an seine Stelle, und er finde, was ihm recht dünkt, und ziehe damit, wohin er von Rechts wegen soll, und erstreite es oder lasse es gerichtlich wie hiervor geredet ist.“ Weiterhin ist zu verweisen auf Sachsenspiegel Landrecht II.12 § 13, ebd., S. 65: „Stehend soll man Urteil schelten, sitzend soll man Urteil finden unter Königsbann, jedermann auf seinem Stuhle. Wer aber nicht zu den Bänken geboren ist, der soll den Stuhl erbitten mit Urteil, ein anderes Urteil zu finden. So soll ihm jener den Stuhl räumen, der das erste Urteil fand.“

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Löwe, den rechten fuß über den linken schlagen und wenn er aus der sache nicht recht könne urtheilen, soll er dieselbe ein, zwei dreimal überlegen“.17 Die dort vorgeschriebene Verschränkung der Füße oder auch der Beine, die auch eine illustrierende Miniatur zum Nequambuch (Farbabb. 1) veranschaulicht,18 versucht Jacob Grimm damit zu erklären, durch diese Haltung würden „Ruhe und Beschaulichkeit“ 19 symbolisiert. Dagegen hielt Erler zunächst einen magischen Hintergrund für möglich, nämlich als Abwehrritus gegen böse Geister, ähnlich wie beim Umstoßen der Bänke nach dem Urteilsspruch. In späteren Veröffentlichungen betonte Erler dann jedoch nur noch die zeremonielle Erhöhung des Richters, wie sie sich insbesondere im Sitzen ausdrückte.20 Auch in den codices picturati zum Sachsenspiegel wird der Richter fast durchgängig mit gekreuzten Füßen gezeigt, nicht hingegen mit übergeschlagenen Beinen, was als Sitzhaltung ebenso wie das breitbeinige Sitzen eher von jüngeren Männern bevorzugt wurde und als Zeichen männlicher Präpotenz zu allen Zeiten im Ruf des Unschicklichen stand.21 Allerdings lassen sich sowohl Abbildungen finden, in denen der Richter wie nach dem Text des Nequambuchs den rechten Fuß vor dem linken gekreuzt hat,22 wie auch die umgekehrte Fußposition (Farbabb. 1).23 17 Nach Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, Bd. 2 (wie Anm. 14), Nr. 17, S. 375 mit Verweis auf „Ludolf, Obser. For. App. 2, 35“. Allerdings konnte der bei Grimm angeführte Beleg weder bei Georg Melchior von Ludolf, Variarum Observationum Forensium Liber, Wetzlar 1730 noch bei dems., Observationum Forensium Continuatio, Wetzlar 1732 identifiziert werden. Vgl. mit ausführlicherem Zitat aus Art. 1 der Soester Gerichtsordnung aus der Mitte des 15. Jh.: Wilhelm Ebel, Worüber der Richter nicht richten soll, in: ders., Rechtsgeschichtliches aus Niederdeutschland, Göttingen 1978 [ursprünglich in: Soester Zeitschrift 65, 1953, S. 52 ff.], S. 107– 125, hier S. 107: „Dey richter sal sitten op seynem richterstole als eyn grysgrymmich lowe und slan den rechteren voit over den luchteren… .“ Weitere Belege zum Richter „als griesgrämigen Löwen“ bei Bernd Kannowski, Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch’sche Glosse, Köln u. a. 2007, S. 127, dort auch aus dem Soester Raum. 18 Abb. und kurze Erläuterung bei: Wolfgang Schild, Nutzen und Wert von Rechtsarchäologie und Rechtsikonographie für die mittelalterliche Rechtsgeschichte, in: Pieter de Win (Hg.), Rechtsarcheologie en rechtsiconografie. Een kennismaking (27.4.1990), Brüssel 1992, S. 61–74, hier S. 68 und Abb. 8. Auch bei dems., Alte Gerichtsbarkeit (wie Anm. 8), S. 127, Abb. 261. 19 Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, Bd. 2 (wie Anm. 14), Nr. 17, S. 375. 20 Vgl. Erler, Hochsitz (wie Anm. 15), S. 177; dagegen legt ders., Art. „Sitzen“ (wie Anm. 13), den Akzent auf die durch das Sitzen ausgedrückte Standeserhöhung und betont eher die unterschiedlichen Sitzgelegenheiten (Stuhl, Bank, Wollsack des Lord Chancellor in England). 21 Vgl. Ruth E. Mohrmann, Alte Menschen – alte Dinge. Kodierungen des Alters in Bildern der Frühen Neuzeit, in: Heinz Dopsch (Hg.), Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 21), Wien 2008, S. 257–278, hier S. 274 f. 22 Vgl. die lehensgerichtliche Szene aus der Heidelberger Bilderhandschrift bei Andreas Bauer, Das Recht im Bild. Bildquellen des Mittelalters als Informationsträger für die Rechtsgeschichte, in: Nathalie Kruppa / Jürgen Wilke (Hgg.), Kloster und Bildung im Mittelalter, Göttingen 2006, S. 263–300, hier S. 276, Abb. 2. 23 Eine lehensrechtliche Schulszene, ebenfalls aus der Heidelberger Bilderhandschrift zum Sachsenspiegel, ebd., S. 277, Abb. 3.

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Auch eine Steinskulptur, die in der Kunstgeschichte viele Rätsel aufgeworfen hat, dürfte eine sitzende Richterfigur zeigen. Denn diese Steinskulptur, die ursprünglich von der Mailänder Porta Romana stammt, zeigt eine sitzende Männergestalt, die das rechte Bein über das linke schlägt und einen abgebrochenen Gegenstand in der Hand hält. Bei letzterem könnte es sich um einen Richterstab handeln. Während diese Darstellung bis in die neuere Kunstgeschichte als rätselhaft empfunden wurde, hielt zuletzt Hülsen-Esch einen Interpretationsvorschlag für wenig überzeugend, hierin eine Verspottung Kaiser Friedrich Barbarossa zu sehen.24 In der Gesamtschau mit anderen Darstellungen an den Mailänder Stadttoren hält sie einen apotropäischen Charakter der Darstellung für am wahrscheinlichsten, erörtert jedoch nicht, dass es sich um einen Richter handeln könnte. Der italienischen Überlieferung seit dem 16. Jahrhundert zufolge stellt diese Skulptur ein Herrscherporträt eines bärtigen Königs mit üppiger Lockenpracht dar, der einen verlorengegangenen Gegenstand in der rechten Hand hält und bei dem es sich um Friedrich Barbarossa handeln soll. Seit dem 16. Jahrhundert wurde diese Darstellung als Verspottung des Stauferherrschers gedeutet, etwa von Galvaneus Flamma, weil er in einer unwürdigen Sitzhaltung mit dem rechten Fuß gekreuzt vor dem linken abgebildet wurde und unterhalb seiner gekreuzten Beinen eine dämonenartige Fratze zu erkennen ist. Näherliegend als die ältere Traditionslinie, es handele sich um einen östlichen, gegebenenfalls byzantinischen Brauch, der schon im 14. Jahrhundert nicht mehr verstanden wurde, scheint es mir zu sein, das Relief als eine Richterdarstellung zu deuten. Möglicherweise wird sogar eine Gerichtssitzung von Barbarossa über das aufständische Mailand gezeigt. Zwischen den übergeschlagenen Beinen der Figur ist eine fratzenartige Maske zu erkennen. Diese wäre dann ein Bildbeleg für die jedenfalls im 12. Jahrhundert noch einleuchtende Vorstellung, die gekreuzten Beine eines Richters dienten der Dämonenabwehr. Die hier vorgeschlagene Deutung der Skulptur als Richterbild würde damit auch Erlers ursprüngliche Erklärung aufgreifen, dass die in verschiedenen deutschen, spätmittelalterlichen Schriftquellen formulierte Notwendigkeit, der Richter müsse die gekreuzte Beinhaltung einnehmen, dazu diene, Dämonen abzuwehren. Der halbgeöffnete Mund und die geweiteten Augen verleihen der Figur zusätzlich dämonenabwehrenden Charakter. In mehreren Hinsichten wäre die Mailänder Skulptur dann zu vergleichen mit der spätmittelalterlichen Gerichtsszene König Heinrichs VII. über die 24 Ausführlich zum Barbarossarelief, jedoch ohne den Bezug zur Sitzhaltung eines Richters herzustellen, Andrea von Hülsen-Esch, Romanische Skulptur in Oberitalien als Reflex der kommunalen Entwicklung im 12. Jahrhundert. Untersuchungen zu Mailand und Verona, Berlin 1994, S. 96–108. Nach ihr auch im Folgenden der bisherige Forschungsstand.

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Abb. 1: Männliche Richterfigur (u. U. Friedrich Barbarossa?) von der früheren Porta Romana, Mailand, heute ebd., Museo del medioevo.

aufständischen Bürger von Brescia am 1. Oktober 1311, die in der Bilderchronik von Heinrich VII. und Kurfürst Balduin von Koblenz dargestellt wird. Der zu Gericht sitzende König hält in der rechten Hand einen eindeutig als Lilienszepter zu identifizierenden Stab, sitzt auf einem Kastenthron und trägt einen Mantel. Allein an der Abbildung eines Dämonenkopfs zwischen den gekreuzten Beinen fehlt es hier (Farbabb. 2).25 25 Die Abbildung stammt aus der Bilderchronik von Erzbischof Balduin von Trier; vgl. die neuere Faksimileausgabe: Der Weg zur Kaiserkrone. Der Romzug Heinrichs VII. in der Darstellung Erzbischofs Balduins von Trier (Publications du Centre Luxemburgeois de Documentation et d’Études

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Problematisch an der hier vorgeschlagenen Deutung und auch an allen früheren Interpretationen der Mailänder Skulptur als Darstellung Kaiser Friedrichs I. als Gerichtsherr bleibt allerdings, dass dieser ohne die ihn vor allen anderen Richtern auszeichnende Krone dargestellt wird. Denn bei den verschiedenen Abbildungen von Heinrich VII. im sogenannten Balduineum wurde dieser stets mit Krone und Gerichtsstab dargestellt. Erst aus der Sicht der im 16. Jahrhundert schreibenden italienischen Autoren, denen allein noch das gelehrte Verfahren bekannt war, konnte das in Mailand im Relief Abgebildete dann politisch und als Verspottung Barbarossas (fehl-)gedeutet werden. Denn aus dem in Italien praktizierten gelehrten Verfahrensrecht waren den italienischen Betrachtern keine vergleichbar detaillierten Vorschriften bekannt, die im Einzelnen die geforderte rituelle Beinhaltung regelten. Sehr wohl aber diskutierten die Juristen in Italien, geprägt von den Problemstellungen des gelehrten Rechts, über andere Anforderungen an das richtige Sitzen des Richters, wie im Folgenden (III.) zu zeigen sein wird. Gegenüber dem üppigeren Bildmaterial, das die deutschrechtlichen Quellen bereitstellen, und der bereits seit Längerem an Fragen von Symbolen und Rechtsritualen interessierten rechtshistorisch-germanistisch geprägten Forschung erschien über lange Jahre das gelehrte Prozessrecht als rational, bildfern und dominiert von den Bleiwüsten der Folianten, die die juristischen Subtilitäten des Spätmittelalters bergen. Dagegen hat die neuere rechtshistorische Forschung zunächst die zahlreichen Abbildungen aus den mittelalterlichen Rechtshandschriften des gelehrten Rechts wiederentdeckt. Dabei war sie durchaus auch angeregt von einem iconic turn in den allgemeinen Kultur- und Geschichtswissenschaften. Obwohl nun Illuminationen zum gelehrten Recht des Mittelalters neben den üppiger bebilderten Sachsenspiegel-Bilderhandschriften vergleichend betrachtet werden,26 gilt nach wie vor der deutschrechtMédiévales (CLUDEM) 24), Trier 2009, S. 63. Aufgrund des Faltenwurfs seines langen Gewandes ist allerdings nicht ganz deutlich, ob Kaiser Heinrich VII. hier die Beine kreuzt. Auf den anderen Abbildungen des sog. Balduineums, ebd., S. 55 unten, S. 64 unten und S. 77 oben, sind seine Beine jedenfalls parallel aufgestellt. Zuvor schon eine einzelne schwarz-weiße Abbildung bei Schild, Alte Gerichtsbarkeit (wie Anm. 8), Abb. 261, S. 127. Die Vergleichbarkeit mit der Mailänder Skulptur läge dann auch darin, dass Hülsen-Esch, Romanische Skulptur in Oberitalien (wie Anm. 24), S. 102, den abgeschlagenen Gegenstand für ein Lilienszepter, also ein Herrschaftszeichen, hält. Auch der Mantel, den sowohl der Mailänder Richter wie auch Heinrich VII. tragen, dürfte wohl nicht unbedingt als byzantinisches palliolum (so im 18. Jh. Puricellus, vgl. ebd., S. 99) einzuordnen sein, wie schon Hülsen-Esch (ebd., S. 103) vorschlug, sondern erneut im rechtshistorischen Kontext zu suchen sein. So schreibt etwa der Sachsenspiegel unmittelbar im Kontext zur Sitzhaltung des Richters vor, Richter und Schöffen sollten weder „Kappen oder Hüte oder Hütlein oder Hauben oder Handschuh anhaben. Mäntel sollen sie auf den Schultern haben. Ohne Waffen sollen sie sein.“ Vgl. Der Sachsenspiegel in hochdeutscher Übersetzung (wie Anm. 16), S. 132. 26 Neben den Arbeiten von Bauer, Recht im Bild (wie Anm. 22), Gernot Kocher, Sachsenspiegel, Institutionen, Digesten, Codex – Zum Aussagewert mittelalterlicher Rechtsillustrationen die

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liche, ungelehrte und weitgehend orale Rechtsfindungsprozess als der unter Ritualgesichtspunkten interessantere Bereich als das mittelalterliche gelehrte und schriftliche Recht. Doch auch aus dem Bereich des gelehrten Rechts wie des römisch-kanonischen Prozessrechts lassen sich Abbildungen finden, die den Richter durchweg sitzend zeigen, meist auf einem Stuhl mit angedeuteter Armlehne und wohl ohne Rückenlehne (nämlich einem „lehnenlosen Kastenthron“27), was den Sitz des Richters gegenüber dem Herrscherthron oder der bischöflichen cathedra, die zusätzlich zu den Armlehnen noch eine Rückenlehne aufweisen,28 etwas unbequemer und damit zeremoniell jedenfalls etwas niedriger stehend erscheinen lässt. Durchweg sitzt der Richter erhöht, seine Füße ruhen parallel, und nicht gekreuzt, auf einem runden oder eckigen Schemel. Besonders gut zu erkennen ist dies in einer frühen Handschrift zum „Speculum Iudiciale“ des Durantis, also dem maßgeblichen Prozesshandbuch des späten 13. Jahrhunderts (Farbabb. 3). Auch die Abbildungen aus den illuminierten Handschriften zu den beiden großen Rechtscorpora, „Corpus iuris civilis“ und „Corpus iuris canonici“, und aus den späteren Drucken, gerade auch zum gerichtlichen Verfahren, zeigen entsprechende Gerichtsszenen, in denen der Richter sitzt.29 Obwohl das gelehrte Verfahrensrecht seit dem 13. Jahrhundert von einem hohen Grad an Verschriftlichung der einzelnen Verfahrensschritte gekennzeichnet war,30 schrieb der Richter diese nicht selbst auf, sondern veranlasste lediglich deren Protokollierung durch die Gerichtsschreiber und Notare, die in den einschlägigen Abbildungen meist rangniedriger zu seinen Füßen oder gar auf dem BoBeiträge in Carlen (Hg.), Forschungen 3 (wie Anm. 8), S. 5–34, Schild, Nutzen und Wert von Rechtsarchäologie (wie Anm.  18), Franziska Wieczorek, Der Bildgebrauch in juristischer Literatur und juristische Embleme, in: Adrian Schmidt-Recla u. a. (Hgg.), Sachsen im Spiegel des Rechts. Ius Commune propriumque, Köln u. a. 2001, S. 397–413, ist für den Bereich der Abbildungen zum gelehrten Recht vor allem verwiesen auf: Friedrich Ebel, Römisches Rechtsleben im Mittelalter. Miniaturen aus den Handschriften zum Corpus iuris civilis, Heidelberg 1988; Anthony Melnikas, The Corpus of the Miniatures in the Corpus Iuris Canonici, 3 Bde., Rom 1973; Susan L’Engle / Robert Gibbs, Illuminating the Law. Legal Manuscripts in Cambridge Collections, London 2001. 27 Bauer, Recht im Bild (wie Anm. 22), S. 282. Eine Abbildung eines Kastenstuhls aus dem späten 15. Jh. mit halbhoher, ohrenförmiger Rückenlehne findet sich jetzt etwa in: Homo sedens. Sitzkultur in Tirol/L’arte del sedersi in Tirolo (Runkelsteiner Schriften zur Kulturgeschichte 2), Bozen 2010, S. 120. 28 Vgl. Rupert Berger, Art. „Kathedra“, in: Lexikon für Theologie und Kirche 5, 1996, Sp. 1336 f. 29 Vgl. Kocher, Sachsenspiegel, Institutionen (wie Anm. 26), Abb. 2, 4–7, 10, 11, 13–17, 19, 20; Wieczorek, Bildgebrauch (wie Anm. 26), Abb. 13, 22. 30 Zu den prozessrechtlichen Neuerungen und den Auswirkungen auf das überlieferte Aktenmaterial neuerdings Thomas Wetzstein, Prozeßschriftgut im Mittelalter – einführende Überlegungen, in: Susanne Lepsius / ders. (Hgg.), Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter (Rechtsprechung. Materialien und Studien 27), Frankfurt a.  M. 2008, S. 1–27.

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den sitzend dargestellt sind.31 Das heißt, auch im gelehrten Recht sollte durch das Sitzen eher der Rang des Richters betont werden, als dass sich das Sitzen des Richters damit erklären ließe, er habe die einzelnen Verfahrensschritte niederschreiben müssen. Denn hierfür hätte er an einem Tisch sitzen müssen, wofür mir kein Bildbeleg aus dem Mittelalter bekannt ist. Allenfalls benötigte der Richter ein Buch zum Nachschlagen, das er dann entweder auf dem Schoß oder in der Hand hielt, wie manche Abbildungen belegen.32 Bei den Ritualen des deutschrechtlichen Verfahrens finden im Allgemeinen die von den Parteien vollzogenen Rituale größere interpretatorische Aufmerksamkeit als die Figur des Richters. Für das Problem des Sitzens der Gerichtspersonen wies insbesondere Schild darauf hin, dass in den mittelalterlichen deutschen Abbildungen zwischen stehenden Urteilsfindern und sitzenden Schöffen unterschieden werden könne. Dabei säßen die Schöffen auf Stühlen oder der Bank. Auch das Schelten eines Urteils vollzog sich im Ritual des Wechselns vom Sitzen zum Stehen, durch das der Schöffe zur Partei wurde und auch seinen Platz auf der Bank abgeben musste. Hierdurch wurde das Rechtsmittelverfahren ritualhaft ausgedrückt.33 Das Spektakel des Rechts, das die Beteiligten mit allen Sinnen einband, bringt Schild dann wieder in Kontrast zu „abstrakter Arbeit und Wissenschaft“, womit die heutige Rechtsfindung vor Gericht – und wohl auch das gelehrte mittelalterliche Prozessrecht – gemeint sein dürfte. Schilds emphatische Vorliebe für die Szenen- und Bildhaftigkeit der (deutschen) Rechtsgeschichte verleitet ihn dann zu einer eigenen Deutung des „Bildes des Rechts“, in unserem Fall vom Sitzen des Richters: „Die Unparteilichkeit des Richters mußte in der ruhigen Sitzhaltung sinnfällig werden, wie die überlegene Macht des Rechts im erhöhten Richterstuhl.“34 Die Unparteilichkeit des Richters rückt damit als neuer Begründungstopos für die erklärungsbedürftige symbolhafte Handlung des sitzenden Richters neben die älteren Interpretationsansätze, etwa der nur so zu gewährleistenden Beschaulichkeit für den Richter oder gar der Dämonenabwehr durch den Richter. Neben der fehlenden Reflexion darüber, warum diese Rituale zu beachten waren, zeigen sich hier weitere Schwächen und Grenzen von Forschungsansätzen, die zu stark auf die Stiftung von Verbindlichkeit durch Rituale abstellen: Mangels schriftlicher Quellen bleibt offen, ob solche genau ausbuchstabierten 31 Vgl. Farbabb. 3 sowie die Umschlagabbildung aus den Bologneser Stadtstatuten von 1376 auf Lepsius / Wetzstein (Hgg.), Als die Welt in die Akten kam (wie Anm. 30). 32 Zum vereinzelten Vorkommen des Buchs als Attribut für den gelehrten Richter s. Bauer, Recht im Bild (wie Anm. 22), S. 282. 33 Vgl. Schild, Alte Gerichtsbarkeit (wie Anm. 8), S. 125. 34 Schild, Nutzen und Wert von Rechtsarchäologie (wie Anm. 18), S. 69.

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und abgebildeten Förmlichkeiten Wirksamkeitsvoraussetzungen waren. Welche Sanktionen waren also bei einem Verstoß gegen das eigentlich verbindliche Sitzen des Richters vorgesehen? Oder handelte es sich bei den für den deutschrechtlich geprägten Rechtskreis ebenso wie bei den im Bereich des gelehrten Verfahrensrechts nachweisbaren Abbildungen, die den Richter sitzend zeigen, lediglich um typische Darstellungen, in die erst der moderne Betrachter Regelhaftigkeit und Rechtsverbindlichkeit hineinliest? Darüber hinaus fanden in der überwiegend mit deutschrechtlichen Quellen und Bildmaterial arbeitenden rechtsikonographischen und rechtsarchäologischen Forschungsliteratur die dynamischeren Elemente des Verfahrens wesentlich stärkere Aufmerksamkeit als das statische Sitzen des Richters, das dort als nicht weiter problematisch und im Wesentlichen als anthropologische Grundkonstante hingenommen wurde.

III. Ergiebiger für die Frage, ob die Nichtbeachtung eines Gerichtsrituals oder einer symbolhaften Handlung während des Verfahrens Rechtsfolgen nach sich ziehen sollte, sind die Textquellen des gelehrten Rechts, die nun erstmals auf ihren Aussagewert zum Rechtsproblem des sitzenden Richters hin untersucht werden sollen. Diese Textquellen wurden von der historischen Ritualforschung wie der Rechtsikonographie bislang nicht vergleichend herangezogen. Stillschweigende Prämisse für beide Forschungsrichtungen scheint zu sein, dass die weitgehend systematische, rationale Rechtsordnung des römisch-kanonischen Rechts insbesondere im Bereich des besonders bürokratischen, verschriftlichten Prozessrechts keinen Raum für Sinnstiftung durch Rituale ließ. Es scheint, als schlösse man weitgehend von den Text- und Bleiwüsten des römisch-kanonischen Verfahrensrechts auf die Bild- und Ritualferne dieses gesamten Bereichs des mittelalterlichen Rechts. Doch auch Peter Oestmann hat in diesem Band anhand der litis contestatio als zentralem Verfahrensritual hervorgehoben, dass die Grenzen zwischen deutschrechtlichem und gelehrtem Verfahren wohl weniger klar bestimmt waren als es weithin angenommen wird.35 Eine ganze Reihe von schriftlichen Quellen aus dem Bereich des gelehrten Rechts setzt sich damit auseinander, ob und in welchen Verfahren beziehungsweise Verfahrensschritten ein Richter zu sitzen habe. Dabei gehen alle Quellen

35 Vgl. Peter Oestmann, Symbolik und Formalismus im ungelehrten mittelalterlichen Gerichtsverfahren, in diesem Band S. 95–108.

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davon aus, dass die gravierende Rechtsfolge der Urteilsnichtigkeit im Raum stünde, falls der Richter gegen das Gebot des Sitzens verstoßen habe. In einer der ältesten Textstellen, die ich zu diesem Problemkreis identifizieren konnte, einer anonymen Pariser Handschrift zum Thema „Quot modis obicitur sententiae“, also „Auf wie viele Arten ein Urteil angegriffen werden kann“, wird als erster Unwirksamkeitsgrund angegeben: Das Urteil sei unwirksam, falls der Richter nicht gesessen habe, sondern umhergelaufen sei und im Laufen das Urteil verkündet habe. Der anonyme Autor dieser Handschrift führt bereits eine ganze Reihe von Allegationen aus dem römischen Recht an, die sich teilweise auch in der späteren legistischen und prozessualen Literatur wiederfinden sollten.36 Allerdings liefert diese Schrift keine Begründung, warum der Richter sitzen solle, und erörtert auch keine Ausnahmeverfahren oder Ausnahmefälle. Seit Azo (bis ca. 1220/30) und der glossa ordiniaria des Accursius (um 1250) war der verbindliche Ausgangspunkt für die römischrechtlich argumentierenden Juristen, dass der Richter im Sitzen das Urteil verkünden musste und ein im Stehen oder Herumgehen gesprochenes Urteil nichtig („nulla“) war.37 Als Begründung, warum der Richter sitzen sollte, stellten gerade die früheren Autoren des 13. Jahrhunderts wie Guido de Suzara († 1296) in seiner Prozessschrift, Jacques de Revigny (1230/40–1296) oder Odofredus († 1265) in ihren Kommentierungen zu den beiden einschlägigen sedes materiae des Codex, der l. Arbitri im Titel „De sententiis ex periculo recitandis“ 36 „Sententiae obicitur multis modis. Primo eo quod iudex non sedet, licet pedibus ambulat et ambulando profert eam que tunc non valet ut § de dilat, A procedente [Cod. 3.11.4], ff. quis ordo in possessionibus servetur, l. ii § dies [Dig. 38.15.2.1] et § in bonorum [Dig. 38.15.2.2], in aut. ab illustribus et superillustres ei sancimus [Aut. 5.18.1 = Nov. 71.1] et ff. ad turpill l. Sui pignus § plt. [Dig. 48.16.?]. Sed ad idem quae reducuntur acci l. i, in fi.“ Paris, BN lat. 4604, fol. 74va. Weitere Nichtigkeitsgründe gegen ein Urteil, die in diesem Text erörtert wurden, waren etwa (1), wenn das Urteil an einem ungewohnten und verborgenen Ort verkündet worden war, wenn (2) das Urteil gesprochen wurde, ohne dass sich daraus eine eindeutige Verurteilung oder ein Freispruch ergab, wenn (3) keine eindeutige Summe, in die verurteilt wurde, genannt worden war, wenn (4) es ohne hinreichende Tatsachenfeststellung („communis cognitio“) gefällt worden war, wenn es (5) nicht schriftlich ergangen war, wenn es (6) gegen den üblichen Verfahrensgang („ordo iuris“) gefällt worden war usw. Zur zunächst kontroversen Haltung der Glossatoren, ob ein nichtiges Urteil nur im Wege der querela nullitatis anzugreifen war oder ob hierfür auch eine Appellation das Rechtsmittel der Wahl sein konnte (so schließlich die Meinung der glossa ordinaria): Antonio Padoa Schioppa, Ricerche sull’appello nel diritto intermedio II.: I glossatori civilisti, Mailand 1970, S. 42–52. 37 Belege auch bei Nicoletta Sarti, Sull’identità del „Dominus Jacobus quod Ianuae in equo armatus tulit sententiam“. Intorno a una nuova fonte, in: Rivista di Storia del Diritto Italiano 62, 1989, S. 363–382, hier S. 365 und S. 369. Obwohl das im Stehen oder Herumgehen gesprochene Urteil wegen eines schweren Formmangels nichtig war, war es im mittelalterlichen Verfahrensrecht durchaus üblich, solche Fehler im Wege der Appellation zu rügen und nicht unbedingt ausschließlich mit der querela nullitatis zu verfolgen, vgl. ebd., S. 365, Anm. 10 (mit Verweis auf Padoa Schioppa, Ricerche (wie Anm. 36)).

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(Cod. 7.44.1) und zu Dig. 38.15.2 (ff. quis ordo in possessionibus servetur), insbesondere auf den Rang des Richters ab. Ehre und Ansehen des Richters („discretio iudicis“) komme insbesondere dadurch zum Ausdruck, dass er sitze, während die Anwälte stünden.38 In der Zeit der Kommentatoren des 14. Jahrhunderts intensivierte sich die Diskussion, warum der Richter bei der Urteilsverkündung zu sitzen habe. Es handelt sich somit um ein für die Autoren dieser Zeit charakteristisches Bestreben, Anordnungen des positiven Rechts mit der ratio zu erklären.39 Für Bartolus de Sassoferrato (1314–1357) dient das Sitzen dazu, den Geist zur Ruhe kommen zu lassen, damit der Richter in Ruhe überlegen könne. Dies sei insbesondere in den Fällen notwendig, die eine „plena cognitio“, also eine Hauptverhandlung mit Beweisaufnahme und anschließender Verkündung eines Endurteils, erforderten, während etwa im summarischen Verfahren keine derartige Notwendigkeit bestünde, so dass dort eine Entscheidung auch gehend oder stehend ergehen könne. Bartolus zufolge sollte der Richter während des gesamten Verfahrens in diesen Fällen sitzen, erst recht aber bei der Urteilsverkündung.40 Am genauesten reflektiert dann Baldus de Ubaldis (1327–1400), was der Grund („ratio“) hinter den römischen Belegen sei, die ein Sitzen des Richters vorschrieben. Da zu Baldus’ Zeiten zunehmend hinterfragt worden war, ob das vorgeschriebene Sitzen ausnahmslos zu gelten habe oder ob ein entgegen der römischen Vorschriften 38 Guido da Suzaria, De ordine iudiciorum, in: Tractatus illustrium iurisconsultorum (TUI), Bd. 3/1, Venedig 1584, fol. 38va: „Sed nunquid sententia potest ferri a iudice stante et non sedente, videtur quod glosatum est communiter, quod talis sententia non teneat, cum officium iudicis est sedere, advocati stare, ut … [Cod. 2.6.6; Cod. 3.11.4pr; Nov. 71.1, Dig. 38.15.2.1].“ Schon eine kleine Einschränkung, nämlich, dass nur, wenn die Sache „plena cognitio“ erfordere, also in eine streitige Hauptverhandlung eingetreten werden und es zu einem Endurteil kommen sollte, machte dann Hostiensis, Summa domini Henrici cardinalis Hostiensis, Lyon 1537 auch bei c. Qualiter proferri debeat, fol. 122ra, mit fast den gleichen Belegstellen wie die anonyme Pariser Prozessschrift: „Primo ratione prolationis seu pronuntiationis nulla est sententia si ipsam non sedendo sed stando iudex pronuntiet. Iudicis est enim sedere non stare cum res de qua agitur desiderat cognitionem plenam sed advocati est stare, ff. quis ordo in bo. pos. servetur, l. ii § dies et § in bonorum [Dig. 38.15.2.1 & § 2] et in aut. ut ab illustribus § sancimus igitur, ibi ne cogantur, col. v [Aut. 5.18.1].“ Schließlich auch bei Petrus de Bella Perthica [recte: Jacobus de Ravanis], Lectura insignis et secunda super prima parte Codicis domini Iustiniani, Paris 1519, Cod. de sententiis ex periculo recitandis (Cod. 7.44), fol. 354ra: „Glossa movet hic quandam quaestionem: iudex debet pronunciare sedendo: quia status discretionis est sedere, unde sedendo et quiescendo anima sit prudens non discurrendo.“ 39 Ennio Cortese, Il diritto nella storia medievale, Bd. 2: Il basso medioevo, Rom 1995, S. 391– 394 zur Argumentation mit der ratio legis bei den Kommentatoren, die dazu diente, die starre Wortlautgrenze zu hinterfragen. 40 Bartolus [de Sassoferrato], In duodecim libros Codicis commentaria, Basel 1562, ad Cod. 7.45, l. Arbitri, Cod. de sentent. ex breviculo recitan., S. 682a: „Alii dicunt quod iudex debet sedere in cognoscendo, non in pronunciando. Et in hanc opinionem videtur inclinare Petrus, communiter tenetur contra, scilicet quod debeat sedere etiam in pronunciando. Nam quiescendo et sedendo, homo fit prudens etc. Item, quia hoc pertinet ad iudicis honorem, l. Quisquis, supra de postu. [Cod. 2.6.6] et supra ubi sena. vel cla. l. fin. [Cod. 3.24.3].“

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im Stehen gefälltes Urteil nicht doch wirksam sein könne, verweist Baldus in seinem Kommentar zum römischrechtlichen Codex bemerkenswerterweise auf das kanonische Recht, wonach man nicht gegen den Geist des Gesetzes verstoßen dürfe. Hierbei reflektiert er sehr genau den Zusammenhang zwischen körperlicher Unruhe und Aktivität und der daraus resultierenden Unfähigkeit zur Konzentration, wie wir es wohl heute nennen würden. Mit gutem Grund, so Baldus, sei am Gebot der römischrechtlichen Quellen auch gegen einige Professoren des Zivilrechts festzuhalten, dass der Richter beim Urteilsspruch sitzen müsse, weil nur dann der Verstand des Richters nicht auf andere Tätigkeiten abgelenkt werde, so dass sein Geist klug entscheiden könne: Et nota quod quidam Doctores iuris civilis dicere voluerunt, quod sententia non debet proferri, nisi Iudex sedeat pro tribunali, tamen lata tenet et istud reprobatur in c. ult. de reg. iur. lib. VI. [VI.5.13.88].41 Et ratio huius statuti fuit, quia cum movetur corpus, movetur anima et non est in soliditate rationis, sed cum sedet corpus, anima laborat circa intellectum et ideo dicit Aristoteles in libro Physic. quod sedendo et quiescendo fit anima prudens, quia non distrahitur intellectus ad aliam operam, iuxta illud.42

Doch neben diesem Argumentationsstrang, der versuchte, eine feste Regel auszubilden, fanden sich andere Stimmen von Juristen, die weitgehende Ausnahmen vom Gebot richterlichen Sitzens postulierten. Der Kanonist Johannes Andreae (um 1270–1348) ging zwar in seiner Kommentierung zum Liber Sextus auch von der Regel aus, der Richter müsse als Tribunal sitzen. Nur ausnahmsweise, wenn er von Schmerzen im unteren Rücken beziehungsweise Steiß geplagt sei, dürfe er auch im Stehen seiner Amtstätigkeit nachgehen.43 Der radikalere Ansatz von Jacques de Revigny, der behauptet hatte, das Sitzen des Richters gehöre nicht zu den zentralen Förmlichkeiten (sollemnitates) eines ordnungsgemäßen Verfahrens, so dass ein Verstoß keine rechtlichen Sanktionen nach sich ziehen solle,44 hatte sich offensichtlich nicht durchsetzen können. 41 VI.5.13.88: „Certum est, quod is committit in legem, qui legis verba complectens, contra legis nititur voluntatem.“ 42 Baldus [de Ubaldis], In vii, viii, ix, x et xi Codicis libros Commentaria, Venedig 1599, zu Cod. 7.45, l. Arbitri, Cod. de sentent. ex breviculo recitan., fol. 46rb, Nr. 4. 43 Johannes Andreae, In titulum de regulis novella commentaria, Vendig 1581, ND Turin 1966, zu VI.5.13.88. Unter Bezug auf die Kommentierung dieser Stelle aus dem Titel „De regulis iuris“ bei Johannes Andreae gestattete auch Bartolus dem Richter, der wegen einer Krankheit nicht sitzen könne, er solle dann eben sitzen, so gut er könne, Bartolus [de Sassoferrato], ad Cod. 7.45 (wie Anm. 40), S. 681a no. 5: „Quaero, quid si iudex propter aliquam infirmitatem non potest sedere? Respondeo, sedeat prout potest, Io. And. c. fi., de re iud. [sic! recte: iur., S.L.], lib. vi. [VI. 5.13.88].“ 44 [Iacobus de Ravanis], Lectura (wie Anm. 38), zu Cod. 7.45, l. Arbitri, Cod. de sentent. ex periculo [sic! recte: breviculo, S.L.] recitan.: „[…] sed pone iudex debet iudicare sedendo quid si

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So betonte Baldus de Ubaldis gar, das Sitzen des Richters sei eine Förmlichkeit, die zum Wesen (substantia) eines Gerichtsverfahrens gehöre.45 Nach dem ausdifferenzierten spätmittelalterlichen Prozessrecht, wie es insbesondere von Bartolus de Sassoferrato (1313/4–1357) entwickelt worden war, dürfen wir folgern, dass also auch Kaiser und Papst als oberste Gerichtsherren nicht von den Minimalia eines ordnungsgemäßen Verfahrens, eben den substantialia iudicii, entbinden konnten. Sie waren also auch selbst in ihrer Gerichtstätigkeit daran gebunden.46 Eine vermittelnde Position hatte Cynus de Pistoia (1265/70–1336) vertreten, der zwei Kautelen einbaute. So betonte er recht kraftvoll, dass ein nicht im Sitzen gesprochenes Urteil jedenfalls dann nicht die automatische Unwirksamkeitsfolge nach sich ziehe, wenn der Richter gut überlegt habe. Außerdem solle der Richter zwar grundsätzlich sitzen, jedoch bleibe ein Urteil gültig, wenn es entgegen dieser Form gefällt worden war.47 stando? Credo quod valeret sententia, bene verum est quod non debet dari procedendo, sed non credo quod iste sollemnitates omissae que non modum faciunt ad substantiam finem facient nullam sententiam, arg. ff. de ven. inspic. l. i, in fi. [Dig. 25.4.1 aE] et ff. quando appellandum sit [Dig. 49.4].“ 45 Baldus [de Ubaldis], Commentaria (wie Anm. 42), fol. 46rb, Nr. 4 aE: „Ista etiam solemnitas sedendi est introducta propter honorem iudicum, et non est levis solemnitas, cum sit de substantia, et ob reverentiam maiestatis iudicum introducta, ut l. Quisquis in fin., supra de postu. [Cod. 2.6.6].“ Zuvor auch schon ablehnend gegen die Meinung der „moderni“, das Sitzen gehöre nicht zu den größeren sollemnitates: Guilelmus de Cungno, Lectura super Codice, Lyon 1513, ND Bologna 1968, zu Cod. 7.45, l. Arbitri, fol. 86vb: „et moderni, quod si iudex fecerat sententiam dum tamen esset in loco ne ubi alias consuevit iudicare quod nihilominus valet sententia, quia hoc quod sedeat non est de maiori solemnitate, ff. de ven. inspi. l. i [Dig. 25.4.1] et habes simile, supra de iudic. l. Rem non novam [Cod. 3.1.14]. Sed videtur quod non valeat quia videtur quod debeat sedere ar. supra de dila, l. A procedente [Cod. 3.11.4].“ 46 Nur im summarischen Verfahren konnte der Richter „de plano“, also nicht in der für das normale Verfahren vorgesehenen Form „de alto“, d. h. als Tribunal sitzend, entscheiden: Bartolus [de Sassoferrato], In Institutiones et authenticae commentaria eiusdem tractatus xxxix, Basel 1562, Tractatus ad reprimendum § de plano, S. 540° no. 1: „Planum est oppositum alto. Item altum dicitur ratione loci vel styli: dicimus enim quem uti alto stylo. Item de plano fieri oppositum ei quod fit velociter: quelibet istarum significationum potest habere locum hic, ut statim patebit. Videamus ergo quae causae debeant agitari de plano et quid importent. Et dico si quidem causa est vilis, vel de vili natura, vel vilium personarum, hic agitur de plano, ut C. de sent. auth. nisi breviores [* Cod.  7.44.3] et ff. de off. proc. et l.  Nec quicquam § de plano [Dig.  1.16.9.3], de accus, l. Levia [Dig. 48.2.6] et tunc de plano importat quod iudice non sedente pro tribunali et sic non in loco alto [Hervorhebung S.L.]. […] Et ratio: Quia in causis magnis procedere ita repentine, sine solennitate, est stylus altus nimis. Solum enim reges et principes hoc faciunt. Sed procedere ordinarie, est in his de plano procedere, hoc est non frequenter, nec stylo alto. Vides ergo, quod ex diversitate causae stylus dicitur altus diversimode et in his semper puto non erat necesse iudicem sedere alto tribunali, sed in camera poterit fieri et hoc si de tota causa agitanda de plano quaeratur.“ Die Verfahrenserleichterungen wie die gelockerten Anforderungen an das Sitzen im summarischen Verfahren waren Bartolus zufolge nur möglich, weil sie vom einfachen Zivilrecht eingeführt waren. Dagegen konnten auch Kaiser und Papst nicht von den durch Naturrecht vorgegebenen Anforderungen an das ordentliche Verfahren abweichen, vgl. ebd., § Et figura, S. 542 f., Nr. 5–6. 47 Cinus [de Pistoia], Lectura in Codicem et aliquot titulos primi Pandectorum, Frankfurt a. M. 1578, zu Cod. 7.45, l. Arbitri, Cod. de sentent. ex breviculo recitan., fol. 455rb: „Quaeritur, lex ista dicit quod iudex debet sententiam recitare in scriptis, sed numquid in sedendo? Dicit glo. sic,

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Doch die gelehrten Autoren erörterten nicht allein die Frage, ob der Richter sitzen müsse oder ausnahmsweise bei der Urteilsverkündung stehen dürfe, sondern auch die Frage, wie genau der Richter zu sitzen habe. Ausgehend von dem Fall, dass ein gewisser Jacobus als Podestà in Genua48 auf einem Pferd sitzend sein Urteil gefällt hatte, behandelten sie vergleichsweise breit die Frage, wodurch dies bedingt gewesen sein könnte und ob ein solches Sitzen ausreichend im Sinne der normativen Anforderungen des römischen Rechts sein könne. Azo hatte, durchaus mit einem gewissen Tadel gegen den Podestà, ein solchermaßen, sozusagen in den Steigbügeln stehend, gesprochenes Urteil für ungültig gehalten, während ein Urteil, das der Richter, etwa aus Furcht vor Tumulten oder der Macht der Parteien, von einem Turm aus gesprochen habe, durchaus gültig sei.49 In der maßgeblichen glossa ordinaria des Accursius wurden hingegen die Fälle des auf dem Turm oder einem anderen erhöhten Ort Sitzens mit dem auf dem Pferd Sitzen gleichgestellt und beides für ausreichend für die Gültigkeit des Urteils gehalten, soweit diese Art des Sitzens mit der Furcht des Richters begründet werden könne.50 Für die frühen Autoren waren also höchst unsichere Umstände bei der Rechtsprechung selbst in den italienischen Kommunen noch denkbar. Gerade der Moment der Urteilsverkündung konnte den Richter in Zeiten eines auch in den italienischen Komalias non teneret, ut l.  A procedente. [Cod.  3.11.4]. Sed pone quod iudex protulit sententiam stando, numquid valet? Videtur quod non secundum istam glosam, sed pro Deo, quare non valet, si iudex bene deliberavit? Certe nescio, cur non valeat, ut supra de iudic. l. Iudices [Cod. 3.1.9]. Praeterea, quod fieri non debet, factum valet, ergo etc., ff.  quando appell. sit, l.  i §  biduum [Dig. 49.4.1.5] et hoc videtur velle sentire Petrus.“ 48 Es war in der Forschung durchaus umstritten, wer dieser gewisse Jacobus gewesen sein könnte. Schon bei Durantis wurde er mit Jacobus Balduinus (1210–1235) identifiziert. Dagegen sprach Azo nur von einem Jacobus allgemein, vgl. zu den frühen Glossatoren und den Vorschlägen in der Literatur zur Identifikation des Podestà nun Sarti, Sull’identità del „Dominus Jacobus“ (wie Anm. 37). Sarti geht in ihrer Untersuchung nicht auf die Frage des gerichtlichen Rituals ein, sondern vor allem auf die mit der korrekten Identifikation des Jacobus eventuell mögliche genauere Datierung der Azonischen Glossenapparate. 49 Azo [Porcius], Ad singulas leges duodecim Codicis Iustiniani commentarius, Paris 1577, ND Turin 1966, ad Cod. 7.45: „[…] nec dico quod sedeat si sit in equo, uno stat in stapede, unde minus bene fecit dominus Jacobus quod Ianuae in equo armatus tulit sententiam, quia a iudice procedente dilatio peti non potest […] secus si in aliquo loco eminenti pronuntietur, puta turri vel similibus, ut possit quis evitare periculum personae.“ Zitiert nach Sarti, Sull’identità del „Dominus Jacobus“ (wie Anm. 37), S. 368. Kürzer dagegen und ohne Verweis auf die Richtertätigkeit eines Jacobus in Genua dagegen in seiner Summa Codicis: Azo [Porcius], Summa Azonis cum emendatione noviter revisa apostillisque quam plurimorum suis in locis opportune appositis, Pavia 1506, ND Turin 1966, zu Cod. 7.45, [S.] 282b: „Quid si dederit in lata turri et litigatores erant inferius? Forte valet sententia.“ 50 Accursius, Glossa in Codicem, Venedig 1488, zu Cod. 7.45, glo. „recitavit”, fol. 227vb: „Sed quidam dicunt quod sedere debet in cognoscendo: non iudicando: cum prius plene cognoverit: quod non placet. Sed quid si in turri vel equo sedeat: cum forte timeat aliquam partium: et velit forte fugere statim? Respondeo: valet, ut fuit apud Ianuam, arg. ff. de acqui. poss. l. Quid nemo [sic! recte: l. Quod meo, S.L.] § si venditorem [Dig. 41.2.18.2].“

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munen keineswegs verwirklichten Gewaltmonopols in Gefahr für Leib und Leben bringen. Dagegen machte Odofredus den Einwand geltend, wenn der Richter Angst vor dem Absteigen vom Pferd habe, müsse er sich zur Urteilsverkündung an einen Ort begeben, wo er sich nicht fürchten müsse. Das Urteil sei ansonsten wegen der Furcht des Richters – und wohl weniger wegen Verletzung des Rituals des richtigen Sitzens – ungültig.51 Einen weiteren Gesichtspunkt, warum das Verkünden eines Urteils von einem Turm oder einem Pferderücken aus möglicherweise unwirksam sein könnte, brachten die französischen Juristen Jacques de Revigny52 und wohl auch Pierre de Belleperche vor, auf die sich dann, wie so häufig, Cynus de Pistoia anschließend bezog. Problematisch sei, dass bei einer Urteilsverkündung vom Pferd aus diese nicht am gewohnten Ort vorgenommen werde53 und daher die Parteien keine Kenntnis von der Urteilsverkündung nehmen könnten. Anders sei dies jedoch in Kriegszeiten oder Zeiten sonstiger großer Gefahr, in denen wohl auch ein Turm der gewöhnliche Ort zur Urteilsverkündung werden könne. Beide Begründungsstränge fasste der maßgebliche Prozessualist des Spätmittelalters, Guilelmus Durantis (um 1237–1296), zusammen.54 Er fügte zahlreiche Belegstellen aus dem römischen und kanonischen Recht an und erörterte insbesondere, ob das Sitzen auf dem Pferd als ein Quasi-Sitzen, also ein den gesetzlichen Bestimmungen genügendes Sitzen, gelten könne. Denkbar sei, dies auch deshalb als zulässig zu betrachten, weil es sich nur um eine 51 Hostiensis, Summa (wie Anm. 38): „Quid si pronunciet sedendo in alta turri et partes sint inferius: forte non valet secundum Azo et sine dubio valet, nam et posset esse quod iudex probabiliter posset sibi timere si descenderet ergo subveniendum est, arg. supra de ele, [c.] bone me. ma. [X 1.6.23], infra de ap., [c.] si iustus metus [X 2.28.73]. Nam si esset in loco ubi iustus metus immineret et per metum pronunciaret non valeret sententia arg. supra de fo. compe., [c.] si diligenti. in fine [X 2.2.12], ff. de iudic., l. ii [Dig. 5.1.2] et ar. ff. de ac. tu., l. i in fine [Dig. 27.3.1], ergo debet ire in locum ubi non timeat arg. supra de procu. accedens infra de spon. cum locum et maxime in loco alto quia iudex debet esse superius et partes inferius, ut probat C. ubi sena. vel claris., l. iii ante medium [Cod. 3.24.3] […].“ 52 [Iacobus de Ravanis], Lectura (wie Anm.  38), ad Cod.  7.45, fol.  354ra: „Pone ergo iudex cognovit inter partes sedens in curru vel in equo tulit sententiam quia timebat partes, nunquid valet? Dico, iudex debet iudicare servato more maiorum, unde si iudicatum est alio more, non valet, ut ff. de iusti. et iur. l. penult. [Dig. 1.1.11], unde non valet illa sententia, si enim esset mos talis quod in quibusdam partibus tenentur parlamenta in campis et ibi solutum est quod iudicet iudex et quod etiam sedens quo iudicet, tunc bene valet sententia […].“ 53 Cinus [de Pistoia], Lectura in Codicem (wie Anm. 47), ad Cod. 7.45, fol. 455rb aE: „Iuxta hoc quaeritur, pone quod iudex in turri alta sedebat, quia timebat partes, vel in equo legit sententiam partibus, nunquid tenet? Glosa dicit, quod sic. Sed videtur contra, quia debet sententiare in loco suorum maiorum, ut infra titul. l. i cum sententiam [Cod. 7.45.6], et ff. de iusti. et iu. l. penult. [Dig. 1.1.11]. Et ideo dicit Petrus, quod non valet, nisi in loco ubi consuevit sederi, cum esset guerra.“ 54 Zu ihm vgl. Susanne Lepsius, Art. „Durantis, Guilelmus (um 1230–1296)“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1, Berlin 22008, Sp. 1168–1170.

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akzidentielle Förmlichkeit handelte. Durantis selbst scheint jedoch den nicht spezifizierten „alii“ und damit jener Position zuzuneigen, wie sie auch die französischen Juristen vertreten hatten, nämlich dass das Sitzen durchaus zur unbedingt einzuhaltenden substantia des Verfahrens gehöre, zumal ein Richter, der auf dem Pferd sitze, nicht sitze, sondern vielmehr getragen werde.55

IV. Auch juristische Autoren des gelehrten Rechts kannten zentrale Gerichtsrituale wie das von ihnen vergleichsweise ausführlich als Rechtsproblem erörterte richtige Sitzen des Richters bei der Urteilsverkündung. Da sie Zeitgenossen ihrer ungelehrten Kollegen nördlich der Alpen waren, können sie durchaus als Deutungs- und Interpretationshorizont für typisch-deutschrechtliche Problemstellungen herangezogen werden. Dass der Sinn eines Rituals wie des Sitzens des Richters im gelehrten wie im ungelehrten Verfahren ähnlich aufgefasst wurde, belegt besonders eindrücklich auch auf diesem Gebiet Johann von Buch (um 1305–1356).56 Aus der Vorschrift des Sachsenspiegels Landrecht, dass man das Urteil stehend schelten solle (Sachsenspiegel Landrecht, III.69 § 3), leitete Johann von Buch zunächst ab, dass Kläger, Antworter – also Beklagter – und Vorsprecher während der Verhandlung nicht sitzen sollten. Er belegte dies mit Nov. 71.1 (aut. Ut ab illustribus § 1, coll. V.) und ergänzte, dass der Richter hingegen sitzen solle. Zur Begründung führte Johann von Buch zahlreiche Vorschriften aus dem „Corpus iuris civilis“ an, ohne aller-

55 Guilelmus Durantis, Speculum Iuris, Basel 1574, ND Aalen 1975, lib. 2, part. 3, § 8 „Iuxta“, S. 798a no. 10–11: „Quid si pronunciat in alta turri sedendo et partes sunt inferius? Certe valet secundum Accursium et dominum meum arg. ff. de acquirenda posses., [l.] Quod meo § si venditorem [Dig. 41.2.18.2] quia forte timebat sibi ex aliqua causa: unde potest sibi securum locum providere, extra de spons., [c.] cum locum [X 4.1.14] et de elec., [c.] bonae infra [X 1.6.23] et argu. ad Cod. ubi senat. vel clari., l. iii ante med. [Cod. 3.24.3]. Et faciunt haec in arg. ad quaestionem de illo, qui Ianuae super equum sedens sententiam tulit, nam videtur quod sententia valuerit et hoc dixit Jacobus Balduinus. Licet enim non videatur sedere, videtur tamen quasi sedere, ff. de servit. rustic. praedior., [l.] Qui sella [Dig. 8.3.7] et extra de homic., [c.] dilectus [X 5.12.13] et cap. significasti [X 5.12.16]. Praeterea solennitates accidentales bene omitti possunt ff. de ventre inspiciendo, l. i [Dig. 25.2.1] et de aedilitio edicto, l. i § penult. [Dig. 21.1.1.11]. Alii contra, ut C. de sententiis et interlocutionibus omnium iudicum [Cod. 7.45.4], quia de de solennitate substantiali videtur esse, quod debeat sedere infra: et talis non videtur sedere infra, sed baiulari, ut C. de officio civilium iudicum, l. Honorati [Cod. 1.45.1].“ 56 Zu Johann von Buch, seinem Studium in Bologna und den verschiedentlich feststellbaren römischrechtlichen Prägungen, die auch seine Glossierung des Sachsenspiegels Landrecht kennzeichnet, Kannowski, Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts (wie Anm. 17), S. 73–88 und S. 107–151 (zu den Einflüssen gelehrten Prozessrechts bei Johann von Buch).

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dings die Begründungsdichte, wie sie die gelehrten Juristen erreicht hatten, in irgendeiner Form abzubilden.57 Mehrere Ergebnisse sind festzuhalten: (1) Die differenzierten Begründungen, die die gelehrten Juristen herausarbeiteten, warum der Richter sitzen müsse, und die darauf gestützten denkbaren Ausnahmevorschriften belegen, dass die Polyvalenz des Rituals und die Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten für ein Ritual schon die mittelalterlichen Autoren vor erhebliche Probleme stellte. Auch die richtige Art des Sitzens bei der Urteilsverkündung konnte für sie zum Rechtsproblem werden, wobei sie die Frage, ob der Richter mit gekreuzten – oder gar in bestimmter Weise gekreuzten – Beinen zu sitzen habe, nicht beschäftigte. Das Recht konnte sich also der symbolhaften gerichtlichen Handlung bemächtigen. Zweifelhaft bleibt dagegen, ob zu irgendeiner Zeit das Ritual das Recht auch ersetzt hatte. (2) Für die heutige Ritualforschung lässt sich anhand des hier analysierten Beispiels zeigen, wie stark gerade auch die Deutung von Ritualen auf zusätzliche schriftliche, idealerweise juristische Quellen angewiesen ist, will man nicht Gefahr laufen, die eigenen Vorverständnisse in die Bildinterpretation einfließen zu lassen. (3) Ein gewichtiger Unterschied zwischen dem Ritualverständnis im deutschen, genossenschaftlichen Verfahren und dem gelehrten Prozessrecht, wie es die hier angeführten Quellen neu schufen, besteht in den unterschiedlichen Sanktionen: Im deutschrechtlich geprägten Verfahren blieb offen, was bei einem Ritualverstoß geschehen sollte. Dagegen gingen fast alle Autoren des gelehrten Rechts davon aus, der Verstoß gegen die gerichtlich symbolhafte Handlung des Sitzens sei so schwerwiegend, dass ein durch einen nicht sitzenden Richter gesprochenes Urteil ungültig sein solle und mit Rechtsmitteln angegriffen werden könne. Für sie wurde das Ritual zu einer zwingenden rechtlichen Formvorschrift des gelehrten Prozesses. Sie holten das Ritual in den Bereich des Rechts zurück und wendeten dann ihr gewohntes juristisches Interpretationsarsenal der zunehmend verfeinerten Differenzierungen, des Regel-Ausnahme-Denkens, auf die prozessrechtliche Frage an. Je mehr Ausnahmetatbestände diese gelehrten Juristen erörterten, je mehr Kommunikation über dieses spezifische Ritual stattfand, desto klarer wurde, dass das 57 Dabei glossierte Johann von Buch das Wort ‚sitzend‘: „‚sittende‘. Hir hefstu, dat de richter sitten schal, ut [Cod. 2.6.6.6] et [Cod. 1.45.1] sowie in [Cod. 1.48.3]. Jodoch schal de richter by zik sitten laten acbare lude, de wile de ordele ute syn edder dar umme beworen syn, ut in aut. Ut ab illustribus § quecumque, collatione v [in Edition korrigiert aufgelöst als Nov. 71.1], et C. de officio diversorum iudicum, l. 1 [in Edition aufgelöst zu: Cod. 1.48.3].“ Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht, Buch’sche Glosse, hg. von Frank-Michael Kaufmann (MGH Fontes iuris Germanici antiqui, N. S., 7), Hannover 2002, 2, S. 594, Z. 6–12.

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Problem unter die substantialia iudicii falle beziehungsweise (für die Gegner einer allzu strengen Bindung an derartige Formvorschriften) gerade nicht zu den Essentialia des Gerichtsverfahrens gezählt werden könne. (4) Wer dagegen wie Bartolus de Sassoferrato das Sitzen für eine nicht abdingbare, zur substantia eines Gerichtsverfahrens zählende und damit entscheidende Formvorschrift hielt, legte seinen Richterkollegen nahe, in den Prozessakten genau zu verzeichnen, dass das Urteil ordnungsgemäß gefällt worden sei. Vor allem galt es also schriftlich festzuhalten, dass der Richter als Tribunal sitzend Recht gesprochen habe: ideo, sis cautus, quando profertur sententia, quod facias scribi ‚iudice pro tribunali sedente‘. Si enim non dicitur ‚sedente‘ non valet, l. A procedente, supra de dila. [Cod. 3.11.4] et hac gl., quod tene menti.58

Auch anhand einiger erhaltener Prozessakten, etwa des Appellationsrichters aus Lucca aus dem Jahr 1336, lässt sich feststellen, welche sorgfältigen Dokumentationspflichten von den Gerichtsnotaren durchweg eingehalten wurden, wenn sie das Endurteil eines Richters aufzeichneten. Akribisch wurde vermerkt, dass der Richter als Tribunal saß, und dass die Urteilsverkündung am gewöhnlichen Gerichtsort stattgefunden habe. Aus dieser Quelle ergibt sich, dass sich auch in der Gerichtspraxis alle im Gerichtsverfahren Tätigen an diese genauen Dokumentationspflichten hielten,59 wie sie von Bartolus dann auch in der gelehrten Kommentarliteratur dem Richter empfehlend an die Hand gegeben wurde. Die für die mittelalterlichen Juristen wichtige Verbindung von Ritualen und deren schriftlicher Protokollierung zeigt einerseits, dass man keinesfalls säuberlich zwischen deutsch-gemeinrechtlichen Vorstellungen und Quellen und zugleich Räumen der Gerichtsbarkeit differenzieren kann, etwa dergestalt, dass das ungelehrte ritualgestützte Verfahren ein nordalpines Phänomen war und dass das schriftliche römisch-kanonische Gerichtsverfahren und -prozessrecht ausschließlich in Oberitalien und Südfrankreich praktiziert worden wäre. Auch das gelehrte Prozessrecht setzte mündliche Verfah58 Bartolus de Sassoferrato, Super prima Codicis, Venedig 1526, zu l. Arbitri, Cod. De sentent. ex breviloqu. [Cod. 7.43.1], S. 682 Nr. 3 aE. 59 Als ein Beispiel für das standardisiert gebrauchte Formular bei der Verkündung eines Appellationsurteils (vom 20. Januar 1335) vgl. den Liber appellationum et querelarum des Luccheser Appellationsrichters, Archivio di Stato di Lucca, Maggior sindaco e giudice degli appelli, Nr.  33, p. 64: „Ad hoc, nos, Jacobus de Burgo, iudex appellationum et querelarum Lucani communis suprascriptus pro tribunali et iure reddendo Luce in palacio S. Michaelis, in foro ad solitum bancum iuris sedentes […] visa suprascripta appellatione et die ipsius appellationis mote et visis diebus utilibus quibus dicta curia sedet a die suprascripte appellationis mote […] pronumptiamus et declaramus. [Hervorhebungen S. L.].“

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rensstufen einschließlich ritueller Handlungen voraus. Dabei konnte gerade im Bereich des gelehrten Prozessrechts der Aufzeichnungsvorgang seinerseits quasi-rituelle Züge annehmen. Denn im römischen Codex folgten gleich im Anschluss an die hier im Zentrum der juristischen Argumentationskunst stehenden sedes materie weitere Gründe, warum ein Urteil wegen Verstoßes gegen Formvorschriften ungültig sein könne. Darunter fand sich stets das nicht-korrekte Verlesen des schriftlich abgefassten Endurteils. Auch im Zusammenhang mit diesem weiteren Nichtigkeitsgrund kam dem anonymen Glossator der anonymen Pariser Prozessschrift erneut der Gesichtspunkt der Angst in den Sinn: Zwar dürfe sich der Richter eines schriftlich ausgearbeiteten und darum distanzerzeugenden Urteils bedienen, er müsse dieses jedoch mündlich verlesen, dürfe es nicht nur schriftlich den Parteien aushändigen, etwa weil er Angst vor ihnen habe.60 Nur für den Papst als obersten Gerichtsherrn, der insoweit „legibus solutus“ war, wollte Durantis eine Ausnahme von der zwingenden Verlesung des aufgezeichneten Urteils durch den Richter machen.61 Gerade auch im rationalen und angeblich allein textgestützten römischkanonischen Verfahren waren sich die meisten spätmittelalterlichen Autoren also sehr wohl der Bedeutung der Rituale wie auch der Symbolträchtigkeit der Schrift bewusst.

60 „Ex causis exterioribus sine aliis circumstantiis sententia nulla iudicatur, cum iudex tulit sententiam et non sedendo; iudicis enim est sedere, cum res, quae agitur, plenam cognitionem desiderat […] vel etiam si iudex eam in scriptis dedit, sed ipsam sententiam non legit, vel si per alium alium legit et non per se, ut Cod. de sent. ex peric. recit. [Cod. 7.44.3].“ So bei Tancredus Bononiensis, Ordo iudicarius, in: Pillius, Tancredus, Gratia. Libri de iudiciorum ordine, hg. von Friedrich Christian Bergmann, Göttingen 1842, ND Aalen 1965, tit. 2, § 5, S. 279, Z. 12– 19. Ohne nähere Begründung, warum die Verlesung der schriftlichen Fassung eine Wirksamkeitsvoraussetzung für das Urteil sei, noch in Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. lat. 4604, fol. 74va: „Item quia lata fuerit sine scriptis C. de sen. ex periculo. reci. l. fi. [Cod. 7.44.3].“ Dagegen zitierte und kritisierte Guilelmus de Cungno, Lectura super Codice (wie Anm. 45), zu l. Arbitri, Cod. de sent. ex periculo recitando, fol. 86b no. 2, dass manche Autoren sogar darauf bestanden, das Urteil müsse schriftlich auf dem allgemeinüblichen Beschreibstoff abgefasst vorliegen und nicht auf den (mittlerweile) ungebräuchlichen Wachstäfelchen: „Sed pone iudex in domo sua tulit sententiam in tabulis cereis et postea recitat, nunquid valebit? Quidam dicunt quod non quia cum lex loquatur de scriptura videtur se referre ad consuetam scripturam ar. ff. si ag. vec., l. i. in fi. [Dig. 6.3.1 aE]. Et ideo cum stilus communis sit quod in pergameno seu papyro scribatur videtur quod non valeat arg. infra de divers. of., l. Probatorias et l. ult., li. xii [Cod. 12.59(60).9 & 11], de aqueduc., l. fi., li. xi [Cod. 11.43.11], arg. nego. Non facerem [hanc] differentiam diu tamen sit scriptura in loco in quo possit legi et non obstat quod stilus sit servandus quia illa consuetudo non inducit necessitatem et illud etiam habet locum quando est suspitio: sed quod ponatur et scribatur in loco communi et ideo valet, arg. ff. de le. iii. liberorum in pren, l. Nec facerem differentiam utrum in carta rasa vel non rasa scribatur sententia, quia semper valet, ff. de bo. pos. secundam t., l. Charte [Dig. 37.11.4], secus quando probatur per alterius scripturam quia tunc non creditur sic.“ 61 Durantis, Speculum Iuris (wie Anm. 55), l.2, p. 3, fol. 797vb, no. 12.

Joachim Rückert

Kommentar zur Sektion „Symbolische Kommunikation im Recht des Mittelalters“ Drei Aspekte möchte ich kommentierend aufnehmen, zum einen das Thema ‚gelehrtes und ungelehrtes Recht‘, dann das Thema ‚Symbole und Kommunikation‘ und schließlich die Frage, inwiefern Symbole überhaupt bedeutsam waren.

I. Gelehrtes und ungelehrtes Recht Beide Beiträge wenden sich vor allem dem Gerichtsverfahren zu. Oestmann tut dies im Blick auf das ungelehrte Gerichtsverfahren, Lepsius verbindet die Aspekte ‚gelehrt‘ und ‚ungelehrt‘ am konkreten Thema „Sitzen des Richters“. Das ist bedeutsam. Denn beide lösen sich damit produktiv von der so folgenreichen Perspektive des 19. Jahrhunderts, die primär nach deutsch/einheimisch oder römisch/fremd sortierte. Diese Sichtweise gilt zwar schon länger als überholt, aber die fälligen neuen Verbindungen sind noch keineswegs hinreichend geleistet, weder in der Rechtsgeschichte noch in der allgemeinen Geschichte. Deswegen ist es wichtig, dies zu bemerken. Will man das Recht und seine Wirklichkeit in ihrem historischen Kontext untersuchen, so sollte man nicht die vertikale Perspektive einnehmen. Vielmehr müssen horizontal die Elemente, die in einer Zeit zu Recht und Rechtswirklichkeit zusammenfließen, verbunden werden. Und das sind im Mittelalter mindestens die rezipierte römischrechtlich-gelehrte Tradition, das neue gelehrte Kirchenrecht und das einheimische Recht. Beide Beiträge leisten eine bemerkenswerte Entspannung in dieser alten, etwas ideologisch gewordenen Frage und bieten eine große Bereicherung. Exemplarisch öffnen sie damit das Feld für Vergleiche und vergleichende Einordnungen der mittelalterlichen Rechtsbereiche und Rechtswirklichkeiten. Lepsius bezieht erstmals energisch das kanonische Recht ein, Oestmann verknüpft wie selbstverständlich ungelehrte und gelehrte Elemente. Der Ertrag stellt sich auch sofort ein. Oestmann arbeitet die wesentliche Bedeutung der Mündlichkeit heraus.1 Der friedliche Rechtskampf mit Wor1

Peter Oestmann, Symbolik und Formalismus im ungelehrten mittelalterlichen Gerichtsverfahren, in diesem Band S. 95–108, hier S. 106–108.

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ten adelt – und darin sind sich gelehrte und ungelehrte Meinungen einig. Die Bedeutung dieses friedlichen Streitens als symbolisch für tatsächliche Handlungen wird so erst sichtbar. Silbenstecherei kommt positiv in den Blick. Bei Lepsius wird die Relevanz der Form unmittelbar klar. Das Sitzen des Richters symbolisiert das Gericht. Auch hier laufen die gelehrte und die ungelehrte Perspektive parallel. Es handelt sich nirgends bloß um sogenannte deutschrechtliche oder römischrechtliche Verhältnisse.

II. Symbole und Kommunikation Wie gehören die Symbole zur Kommunikation? Dieses Thema muss im Gesamtzusammenhang noch einmal sehr ernst genommen werden. Beide Beiträge definieren ‚Symbol‘ nicht eigens, die Bedeutung scheint ihnen selbstverständlich. Aber ganz so klar scheint es mir nicht.

1. Symbol und Form Für Oestmann ist Symbol vor allem Form. Dreimal drei Male muss ausgerufen werden, man muss die Kleider zeigen, den Platz wechseln, den Fürsprecher dabei haben, die Tür darf dazwischen sein oder nicht. Lepsius spricht mehr von Ritualen. In den Ritualen wirkt offenbar (zugleich?) das Symbol, hier das Sitzen und das Stehen, aber auch der Schriftgebrauch. Soweit Form als Symbol genommen wird, muss man wohl unterscheiden. Form allein dürfte noch nicht ohne Weiteres symbolischen Gehalt haben, sie verweist nicht immer weiter, sondern steht möglicherweise auch einfach für sich. Vielleicht ist die von Oestmann betonte Kontinuität der Form bei gleichzeitigem Wandel des Inhalts gerade deswegen möglich und plausibel, weil die Form gewissermaßen für sich steht.2 Es käme also wohl zusätzlich darauf an, diejenigen Formen herauszuarbeiten, die in der Tat über sich hinausweisen, als Symbol und Ritual für bestimmte rechtliche Inhalte. Oestmanns Beispiele scheinen in der Tat so zu liegen. Die Symbole und Rituale bieten dann beständigere Sicherheit durch die gleichbleibende Form, die unterschiedliche Inhalte vermitteln kann.

2

Ebd., S. 100–104.

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2. Symbol und Kommunikation Klar ist, dass Symbole ohne Kommunikation nicht funktionieren. Beide Beiträge stellen durch den Blick auf das Gerichtsverfahren sofort den Bezug zu einer Kommunikationssituation her. Denn in den Verfahren wird offensichtlich juristisch und allgemein kommuniziert. Für das Recht dürfte die Besonderheit gelten, dass es ohne Kommunikation nichts wert ist. Denn die Aufgabe des Rechts ist intersubjektiv. Robinson auf seiner Insel braucht kein Recht, erst wenn Freitag dazu stößt, können Rechtsfragen auftauchen, etwa die einer gerechten Verteilung der Ernte, der Arbeit, der besten Schlafplätze usw. Diese Fragen müssen dann friedlich oder unfriedlich, jedenfalls intersubjektiv und kommunizierend, gelöst werden, sei es für die friedliche Organisation des Zusammenlebens, sei es für die irgendwie sanktionierende Konfliktbearbeitung durch tätige Selbsthilfe, Rache usw. Wo steckt die Kommunikation beim Rechtssymbol? Sie hängt ab von seinem Gebrauch. Zum einen geht es nur um die friedlichen Wege; zum anderen um den betonten Gebrauch. Das wird in beiden Beiträgen besonders schön deutlich. Früher sprach man deswegen von dem sinnlichen Element des deutschen Rechts. Die Beiträge zeigen, dass auch die anderen Rechtsbereiche solche sinnlichen Elemente, oder auch Symbole und Rituale, kennen und gebrauchen. Die wichtige Funktion dieser Elemente wird bei Oestmann kurz benannt: Es geht um die Akzeptanz der Rechtsregeln unter den Rechtsbildenden und Rechtsbetroffenen. Ebenfalls geht es um eine gewisse Stabilität dieser Regeln im rechtlichen und allgemeinen Bewusstsein und in der sozialen Praxis. Damit ist eine zentrale Rechtsfunktion angesprochen, wie sie gerade aus allgemein historischer Perspektive besonders hervorgehoben wurde von Reinhart Koselleck in seinem Beitrag zum Frankfurter Rechtshistorikertag 1986.3 Diese Funktion besteht darin, gewisse Regeln auf eine gewisse Dauer zu stellen, damit sie nicht von Tag zu Tag neu erfunden werden – so werden die nötige Verhaltenssteuerung und Erwartungssicherheit (wie man mit Luhmann sagen könnte) erreicht. Hinzufügen sollte man, dass symbolische und rituelle Kommunikation über Recht in einer trotz gelehrter Richter vielfach oralen Rechtskultur hohe Bedeutung haben dürfte für eine gewisse Rechtsbildung ‚von unten‘ her. Ganz anders steht es dann mit dem Aufkommen des modernen Staates und seiner Gesetzgebung. Mehr und mehr erscheinen Formen, Symbole und Rituale als leerer Formalismus und werden konsequent 3

S. Reinhart Koselleck, Geschichte, Recht und Gerechtigkeit, in: Dieter Simon (Hg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages. Frankfurt am Main, 22. bis 26. September 1986, Frankfurt a. M. 1987, S. 129–149.

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abgeschafft und ironisiert.4 Fritz Teufel erhob sich 1967 endlich mit der Bemerkung vor dem Berliner Gericht, „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient“. Die unterschiedliche Relevanz von Form, Symbol und Ritual wirkt sich natürlich wiederum aus auf den Rechtsbegriff der jeweiligen Zeiten, was hier nicht vertieft werden kann und soll.5 Ebenfalls nur erwähnt werden kann, dass viele Rechtsakte performativ geschehen, sozusagen durch die kommunikativen Handlungen selbst. Lepsius betont, dass die Rituale nicht allein stehen, sondern eingebettet sind in den Text- und Schriftgebrauch. Ihre ‚Richtigkeit‘ hängt auch von den juristischen Texten ab, mit denen sie erläutert und diskutiert werden. Es handelt sich also um juristisch präzisierte Symbole oder Rituale. Gerade die praktisch wichtigen juristischen Folgen von Fehlern hängen davon sehr ab. Das bedeutet, dass man bei Symbolen und Ritualen juristische und allgemeine Kommunikation unterscheiden muss. Vielleicht ist die Scheidung von Form und Inhalt, die im Beitrag Oestmanns verfolgt wird, an dieser Stelle etwas hinderlich. Solange der Inhalt neben der Form anerkannt wird, spielt das Verhältnis der beiden für die Rechtsfunktion wohl keine Rolle. Wichtiger wird in dieser Perspektive die Frage, ob die Formen, Symbole und Rituale womöglich als bedeutungsleer erscheinen und damit in der Kommunikation dysfunktional werden. Diese Frage haben beide Beiträge beiseite gelassen, da sie sich offensichtlich auf anerkannte und wirksame Formen, Symbole und Rituale konzentrierten. Die spätere Kritik und vielleicht auch zeitgenössische Kritik an leerem juristischem Formalismus könnte an dieser Stelle in die Thematik Symbole, Rituale und Kommunikation eingebracht werden. Lepsius hält sich an das gut sichtbare Phänomen des Sitzens oder Nichtsitzens – das erscheint in der Tat auch schon ohne eine weitere, besondere Kommunikation bedeutsam. Auch wenn man nichts vom Recht weiß, verbindet man damit vermutlich den Eindruck einer juristischen Bedeutung. Das führt mich auf meine letzte Beobachtung.

III. Bedeutsam, aber wie? Drei Aspekte scheinen mir erwähnenswert für die Bedeutsamkeit der Formen, Symbole und Rituale in der Rechtswelt: 4 5

Dazu auch Susanne Lepsius, Das Sitzen des Richters als Rechtsproblem, in diesem Band S. 109–130, hier S. 109f. Dazu jetzt besonders Band 17 der Zeitschrift „Rechtgeschichte“, Frankfurt a. M. 2010.

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1. Symbole, Rituale und auch Formen werden hier nicht mehr im Kontext der klassischen älteren ‚Volksrechts‘-Vorstellung behandelt. Dem entspricht auch, dass das deutschrechtliche Element dabei nicht mehr isoliert steht. Für die Rechtsgeschichte ist das sehr bedeutsam. Es gibt inzwischen dafür viel Konsens, der sich freilich wenig in den Lehr- und Handbüchern findet, da diese großenteils veraltet sind. Auch dieses Thema zeigt also, dass man sich gerade beim Blick von außen möglichst an der neueren Literatur, jetzt etwa an der werdenden zweiten Auflage des „Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte“, oder an den führenden Zeitschriften (Register dazu liegen jeweils vor) aktuell orientieren muss, um den Forschungsstand nachzuvollziehen. Zugespitzt gesagt: Franz Wieackers berühmte „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ (1952, 21967) oder Hermann Conrads „Deutsche Rechtsgeschichte“ (1. Bd. 1954, 2. Bd. 1966) oder Heinrich Mitteis’ „Deutsche Rechtsgeschichte“ (1949, zuletzt 191992 fortgeführt von Heinz Lieberich) sind nach wie vor hochinformativ, aber gerade in den grundlegenden und übergreifenden Zusammenhängen restlos überholt. Die Konzeptionen stammen ersichtlich aus der empfindlichen Bewältigungszeit vor und unmittelbar nach 1945. Auch neuere Überblicke haben sich davon nicht immer nachhaltig entfernt.6 2. Allgemeine Kommunikation und rechtliche Kommunikation sind nicht identisch. Das erscheint banal, muss aber beachtet werden. Im Beitrag von Lepsius wird das sehr schön deutlich. Beide können parallel laufen, aber auch gegenläufig funktionieren. Hier eröffnet sich eine Reihe kaum erforschter Fragen. Die Rechtskommunikation hat jedenfalls besondere und in der Regel eingreifende Folgen. Nichtsitzen des Richters bedeutet Nichtigkeit des Urteils. Ohne Rollenwechsel des Schultheißen kommt es nicht zum Amtsprozess. Man muss sich in der Rechtskommunikation an die Formen halten, um bestimmte Ergebnisse zu erzielen. Gewiss gibt es in der allgemeinen Kommunikation eine ähnliche Wirkung von Symbolen und Ritualen. Es wäre gerade für die Abgrenzung juristischer und anderer Symbole und Rituale bedeutsam, den Wirkungen des Form-, Symbol- und Ritualgebrauchs genauer nachzugehen. So scharf wie die rechtlich bedeutsamen Symbole und Rituale wirkt die Kommunikation gewiss nicht durchweg. In der Moderne kann dann offenbar das Symbol vom Erkennungszeichen in der juristischen Kommunikation zum 6

S. etwa zum verführerischen Konzept der ‚Neuzeit‘ als Moderne bei Wieacker meine Studie: Joachim Rückert, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Genese und Zukunft eines Faches?, in: Okko Behrends / Eva Schumann (Hgg.), Franz Wieacker, Historiker des modernen Privatrechts, Göttingen 2010, S. 75–118; zu den Erzählungen der Rechtsgeschichte: ders., ‚Große‘ Erzählungen, Theorien und Fesseln in der Rechtsgeschichte, in: Tiziana J. Chiusi / Thomas Gergen / Heike Jung (Hgg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für Elmar Wadle zum 70. Geburtstag (Schriften zur Rechtsgeschichte 139), Berlin 2008, S. 963–986.

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Tatbestandsmerkmal im anerkannten Recht werden. Die Spielregeln werden damit jedenfalls präzisiert und stabilisiert und vielleicht auch verschärft – wenn man überhaupt so allgemeine Vermutungen schon wagen darf. 3. Ohne Weiteres gehört auch die vielfache Wegweisung für die weitere Erforschung des symbolischen oder rituellen Gehalts bekannter Kommunikationsstile im Recht zu den bedeutsamen Ergebnissen der Beiträge und des gesamten Sonderforschungsbereichs „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“. So wüsste man gerne, ob die berühmten Glossenapparate und Allegationsketten der juristischen Texte und Schriftsätze über ihren Wert als sachliche Nachweise von Argumenten und Beiträgen zur Stabilisierung von herrschenden Meinungen hinaus nicht eine weitere rituelle Bedeutung haben. Hängt nicht auch die ständisch-professionelle Autonomie der Jurisprudenz von solchen eindrucksvollen und sichtbaren Selbstdarstellungen ab? Die vielfach teuer erstellten Prachthandschriften haben wohl kaum nur den Sinn, Argumente zu vermitteln. Recht funktioniert hier nicht als Beobachtung und Aufklärung normativer Praxis (Rechtsgewohnheiten), sondern als explizite Ableitung aus Autoritäten (communis opinio), und zwar gerade auch in sonst oralen Rechtskulturen. Schließlich erlaube ich mir an eine Schrift des von mir früher erforschten August Ludwig Reyscher (1802–1880) zu erinnern. Er schrieb als patriotischer württembergischer Rechtsgermanist 1833 eine kleine Monographie „Über die Symbolik des germanischen Rechts“.7 Schon der Titel zeigt, dass Reyscher dezidiert die germanistisch-deutschrechtliche Linie des frühen 19. Jahrhunderts verfolgt. Er schreibt im Stile der Altmeister Karl Friedrich Eichhorn8 und mehr noch in Anlehnung an Jakob Grimm. Grimms Beitrag „Von der Poesie im Recht“ (1815) und vor allem dessen Quellenwerk „Deutsche Rechts-Alterthümer“ (1828 ff.) verwendet er durchgehend.9 In diesem etwas anderen Geist versteht er auch die Symbole. Es spreche sich in dem „ausgedehnten und übereinstimmenden Gebrauch von Rechtssymbolen der einfache gemüthliche Charakter des deutschen Volkes auf eine bezeichnende 7 8

9

August Ludwig Reyscher, Ueber die Symbolik des germanischen Rechts (Beiträge zur Kunde des deutschen Rechts), Tübingen 1833; s. Joachim Rückert, August Ludwig Reyschers Leben und Rechtstheorie. 1802–1880, Berlin 1974, hier S. 89–93. Karl Friedrich Eichhorn, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, 4 Bde., Göttingen 1 1808–1823, s. darüber Joachim Rückert, Karl Friedrich Eichhorn (1781–1854). Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, in: Volker Reinhardt (Hg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997, S. 152–156. Jacob Grimm, Von der Poesie im Recht, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 2, 1815, S. 25–99; ders., Deutsche Rechts-Alterthümer, Göttingen 1828.

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Weise aus“.10 Die meisten Symbole seien „keineswegs leere Förmlichkeiten, zu künftiger sicherer Herstellung des Beweises erfunden, viel mehr liegt ihnen insgesamt eine tiefere historische Bedeutung und ein innerer Zusammenhang mit der Sitte und dem Ideenkreis der Nation zu Grunde; wie denn überhaupt das deutsche Recht nicht Produkt der Invention, sondern des gesamten Volkslebens ist, das bekanntlich weniger von Reflexion, als von einem gewissen Gemeingefühl und von sinnlichen Elementen geleitet wird.“11. In diesem Sinne schreibt er über den Halm, den Stab, die Erde, die Rolandsäule, den Handschuh, das Schwert, den Hut, den Ring, den Schlüssel, den Handschlag und andere Symbole mehr. Sein sehr ‚deutschbewußter‘ und volkserfüllter Zugriff ist ganz geprägt von den grundlegenden Rechtsvorstellungen der ‚geschichtlichen Schule der Rechtswissenschaft‘ (1815: Gründung der „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“ durch Savigny, Eichhorn und Goeschen12). Sogar den an sich schon „leeren Förmlichkeiten“ kann er so besonderen Sinn abgewinnen.13 Von alledem haben wir uns weit entfernt. Die Konzentration auf das Gerichtsverfahren, die Verbindung der Rechtsbereiche in ihrer Zeit, des gelehrten und des ungelehrten, die Verknüpfung mit Symbolen, Ritualen und Kommunikation überhaupt, stehen heute im Mittelpunkt. Der konkrete Blick zurück auf Reyscher zeigt die erhebliche wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung dieses Wandels. Das gibt Anlass, auch die eigene Zeitbedingtheit des Zugriffs am Ende in Rechnung zu stellen. In unserer Gegenwart der vielbeschworenen Medienwelt und Medienherrschaft machen wir uns offensichtlich nun das mediale Element in der Geschichte bewusst. Damit stehe ich an den Grenzen dieses Kommentars zu noch vielen Fragen.

10 Reyscher, Ueber die Symbolik (wie Anm. 7), S. 1. 11 Ebd., S. 2. 12 S. zuletzt den Überblick bei Joachim Rückert, Die Historische Rechtsschule nach 200 Jahren – Mythos, Legende, Botschaft, in: Juristen-Zeitung 65, 2010, S. 1-9. 13 Reyscher, Ueber die Symbolik (wie Anm. 7), S. 2.

Lucien Bély

Das Wissen über das diplomatische Zeremoniell in der Frühen Neuzeit* Die Münsteraner Tagung gibt Anlass, über die symbolische Dimension der Geschichte nachzudenken.1 Angewandt auf die diplomatische Praxis führt diese Fragestellung zu einer Untersuchung der Formen des politischen Handelns, um diese auf eine Bedeutung zu befragen, die der Forschung bisher entgangen ist. Um diese symbolische Dimension zu verstehen, muss vor allem das Zeremoniell erforscht werden. Die folgenden Ausführungen handeln vom Wissen über das Zeremoniell, das die Historiker heute freilegen können, über das die Diplomaten in der Frühen Neuzeit verfügten und schließlich über jenes, welches die damaligen Gesellschaften durch die Beobachtung der Botschafter etablieren konnten. In meiner Untersuchung über den Utrechter Friedenskongress habe ich Fragestellungen zum Zeremoniell ausgeklammert, da das Reglement vorsah, dass die Bevollmächtigten „ohne Unterschied und durcheinander“ aufzutreten hatten, um Zeremonialstreitigkeiten zu vermeiden.2 Die Forschungen der Münsteraner Schule zeigen jedoch, dass man diesen normativen Aussagen nicht zu viel Gewicht beimessen darf.3 Das Zeremoniell war substantieller Teil aller diplomatischen Zusammenkünfte.4 * Die Vortragsform wurde beibehalten und um die Fußnoten ergänzt. 1 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Forschungsperspektiven – Thesen, in: Zeitschrift für historische Forschung 31, 2004, S. 489–527. 2 Lucien Bély, Espions et ambassadeurs au temps de Louis XIV, Paris 1990, S. 411–416. 3 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Wertekonflikte – Deutungskonflikte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Münster 2007; dies., Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008. 4 Vgl. beispielsweise Barbara Stollberg-Rilinger, Höfische Öffentlichkeit: Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N. F. 7, 1997, S. 145–176; dies., Völkerrechtlicher Status und zeremonielle Praxis auf dem Westfälischen Friedenskongress, in: Michael Jucker u. a. (Hgg.), Rechtsformen internationaler Politik. Theorie, Norm und Praxis vom 12. bis zum 18. Jahrhundert (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 45), Berlin 2011, S.  147–164; André Krischer, Souveränität als sozialer Status. Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit, in: Ralph Kauz / Giorgio Rota / Jan Paul Niederkorn (Hgg.), Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit (Archiv für österreichische Geschichte 141), Wien 2009, S. 1–32; Matthias Köhler, Strategie und Symbolik. Verhandeln auf dem Kongress von Nimwegen (Externa 3), Köln u. a. 2011; Niels F. May, Les querelles de titres. Une vanité? L’attribution du titre d’Altesse

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Bei meinen Forschungen zur Etablierung der Diplomatie als regelgeleitete Praxis im 17. und 18. Jahrhundert musste ich feststellen, dass die Existenz von Repräsentanten nicht vollständig die Idee verdrängte, dass die Herrscher selbst ihre Konflikte lösen konnten. Im ausgehenden Mittelalter und im 16. Jahrhundert waren Zusammenkünfte von Fürsten wichtig (und gefährlich). Sie erforderten eine komplexe und minutiöse Organisation. Noch 1777 schrieb der Publizist Linguet hierzu: Mais une chose est certaine, c’est que si les princes qui se mettent déjà dans le goût de voyager pour s’instruire, ou pour s’amuser, prenaient aussi l’habitude d’aller traiter leurs affaires par eux-mêmes sans agents, sans médiateurs, il pourrait en résulter une politique toute nouvelle.5

Die ‚Intellektuellen‘ der Aufklärung entdeckten somit das Ideal der Renaissance wieder und stellten die enormen Anstrengungen in Frage, die es erlaubt hatten, die Praxis der modernen Diplomatie zu etablieren.6

I. Die Historiker und das Wissen über das diplomatische Zeremoniell Das diplomatische Zeremoniell erschien den Historikern der internationalen Beziehungen als notwendig, aber gleichzeitig als unbedeutend. Im 19. und 20. Jahrhundert wirkten die Zeremonialstreitigkeiten auf die Historiker oft noch abschreckend und wurden in ihren Untersuchungen meist übergangen. Dennoch haben die politischen Zeremonien seit langem die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Verwiesen sei hier nur auf die Arbeit von Marc Bloch über die wundertätigen Könige.7 Es scheint aber, dass die Historiker

5 6 7

au duc de Longueville lors des négociations de Münster. Rang juridique et social, in: Revue d’histoire diplomatique 123, 2009, S. 241–253; Ders., Zeremoniell in vergleichender Perspektive: Die Verhandlungen in Münster/Osnabrück, Nijmegen und Rijswijk (1643–1697), in: Christoph Kampmann u. a. (Hgg.), L’art de la paix. Kongresswesen und Friedensstiftung im Zeitalter des Westfälischen Friedens (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte 34), Münster 2011, S. 261–279. Simon Nicholas Linguet, Annales politiques, civiles et littéraires du dix-huitième siècle, 3 Bde., London 1777, hier Bd. 1, S. 456 f. Lucien Bély / Isabelle Richefort (Hgg.), L’invention de la diplomatie, Paris 1998; dies. (Hgg.), L’Europe des traités de Westphalie. Esprit de la diplomatie et diplomatie de l’esprit, Paris 2000. Marc Bloch, Les rois thaumaturges. Étude sur le caractère surnaturel attribué à la puissance royale, particulièrement en France et en Angleterre, Paris 1961, dt. Übersetzung u. d. T. Die wundertätigen Könige, München 1998.

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leichter dazu in der Lage sind, das Zeremoniell als einen Ritus zu verstehen, der eine gemeinschaftsbildende Funktion erfüllt, wenn es sich um den Kontext eines einzelnen Landes oder Nationalstaates handelt. Mehr Schwierigkeiten haben sie damit, diese Praxis im Kontext einer Begegnung zwischen zwei Gemeinwesen zu verstehen. Ein anderer Zweifel kommt hinzu: Zeremoniell als Formalisierung zu fassen bedeutet, dass die Akteure einem Diktat der Form unterworfen waren. Bereits Jean-Jacques Rousseau formulierte diese Kritik und machte sich über die traditionelle Diplomatie und die Kongresse lustig: où l’on délibère en commun si la table sera ronde ou carrée, si la salle aura plus ou moins de portes, si un tel plénipotentiaire aura le visage ou le dos tourné vers la fenêtre, si tel autre fera deux pouces de chemin de plus ou de moins dans une visite, et sur mille questions de pareille importance, inutilement agitées depuis trois siècles, et très-dignes assurément d’occuper les politiques du nôtre.8

Das Zeremoniell erscheint hier als Form ohne Bedeutung. Rousseaus Angriff auf das diplomatische Zeremoniell machte es zur Zielscheibe aller demokratischen und egalitären Bestrebungen. Es existieren historische Beispiele dafür, dass republikanische Gemeinwesen häufig die für die Fürstengesellschaft konzipierten Rahmenbedingungen in Frage stellten. In gewisser Weise trifft dies für die Vereinigten Niederlande zu, vor allem aber für das revolutionäre Amerika. Benjamin Franklin erschien am französischen Hof als der edle Wilde der Diplomatie. Nach Ansicht Franklins beschränkte die diplomatische Form die freie Entfaltung einer Nation.9 Schlimmer noch, das Zeremoniell kaschiere eine versteckte Realität und sei eine Inszenierung zu dem Zweck, beunruhigende Tatsachen und Staatsgeheimnisse zu verschleiern.10 8 Jean-Jacques Rousseau, Extrait du projet de paix perpétuelle de Monsieur l’abbé de SaintPierre (1760), in: ders., Œuvres complètes. Bd. 3: Du contrat social. Écrits politiques, hg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Paris 1964, S. 591–593. 9 Jonathan R. Dull, Franklin the Diplomat. The French Mission, Philadelphia 1982; Claude Fohlen, Benjamin Franklin. L’Américain des Lumières, Paris 2000; Lucien Bély, Au cœur de la guerre d’indépendance, in: Miriam Simon / Renée Davray-Piékolek / Charlotte Lacour-Veyranne (Hgg.), Benjamin Franklin. Un Américain à Paris (Ausst.kat. Paris 2007), Paris 2007, S. 51–69; Matthias Köhler, „No Punctilios of Ceremony“? Völkerrechtliche Anerkennung, diplomatisches Zeremoniell und symbolische Kommunikation im Amerikanischen Unabhängigkeitskonflikt, in: Hillard von Thiessen / Christian Windler (Hgg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, Köln u. a. 2010, S. 427–443. 10 Marc Belissa, La diplomatie et les traités dans la pensée des Lumières. „Négociation universelle“ ou „école du mensonge“?, in: Revue d’histoire diplomatique 113,3, 1999, S. 291–317; ders., Fraternité universelle et intérêt national, 1713–1795. Les cosmopolitiques du droit des gens, Paris 1998.

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Als Zeichen dafür, dass diese Wahrnehmung sich inzwischen geändert hat, kann man den Vorschlag von Krysztof Pomian anführen, Zeremonien zum Gegenstand der historischen Analyse zu machen: Dans cette perspective, les historiens peuvent – ils doivent même – s’intéresser à nouveau à la ‚pompe d’un couronnement‘, à la ‚cérémonie de la réception d’une barrette‘ et à ‚l’entrée d’un ambassadeur dans laquelle on n’oublie ni son suisse, ni son laquais‘. Car ces événements qui leur sont devenus étrangers, ce qu’ils n’étaient pas pour Voltaire, et qu’il faut donc reconstruire et déchiffrer, livrent, quand on sait les lire, une masse d’informations sur le passé qu’on ne pourrait jamais obtenir autrement.11

Diese Vorgehensweise tritt als Provokation auf und sieht in der exakten Ordnung einer diplomatischen Zeremonie, die als ‚Ereignis‘ verstanden wird, ein geeignetes Mittel, um verborgene Züge der damaligen Mentalitäten freizulegen. Die zeitgenössische Wahrnehmung des zeremoniellen Ereignisses wird dann in Beziehung gesetzt zu der Situation der politischen Repräsentation, die ebenfalls von nicht zu unterschätzender Komplexität ist: Ein Gesandter vertritt seinen Herrscher und gleichzeitig einen Staat.12 Eine solche Vorgehensweise erfordert die minutiöse Durchsicht des Quellenmaterials. Die diplomatische Korrespondenz stellt dabei für den Historiker eine unerschöpfliche Quelle dar, insbesondere die Instruktionen der Diplomaten und die von ihnen übersandten Berichte. Darüber hinaus existieren noch zahlreiche weitere Dokumentengattungen, die herangezogen werden können. In Frankreich beispielsweise sind hierzu weitere Texte wiederzuentdecken: Die Memoiren der introducteurs des ambassadeurs und ihrer Assistenten sind oft mit Interesse gelesen und auch teilweise veröffentlicht worden,13 aber erst heute sind sie Gegenstand systematischer Untersuchungen. Diese voluminösen Bände zeugen von dem Willen zur administrativen Aneignung in einem für den Staat heiklen und gefährlichen Bereich. Damit wurde das Verhältnis der Monarchie zu anderen Monarchien in Erinnerung gehalten, und es wurden Störungen im System unterstrichen, für die Notlösungen gefunden werden mussten. Ebenso lassen sich an den Bänden die Leerstellen ablesen, die zu Neuerungen und Innovationen zwangen.14 11 Krzysztof Pomian, L’ordre du temps, Paris 1984, S. 36. 12 Krischer, Souveränität als sozialer Status (wie Anm. 4); Stéphane Jettot, Représenter le roi ou la nation? Les parlementaires dans la diplomatie anglaise (1660–1702), Paris 2012. 13 Baron de Breteuil, Mémoires, hg. von Evelyne Lever, Paris 1992; Lucien Bély, Souveraineté et souverains. La question du cérémonial dans les relations internationales à l’époque moderne, in: Annuaire-Bulletin de la Société de l’Histoire de France 1993, S. 27–43. 14 Lucien Bély, La société des princes, Paris 1999.

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Dies verweist auf eine spezifische Tätigkeit: Die Erstellung eines zeremoniellen Bühnenbilds im Kontext einer generellen Theatralisierung der Diplomatie, die sowohl mögliche Schwierigkeiten einkalkulierte als auch die jeweiligen individuellen Besonderheiten berücksichtigte. Beispielsweise achtete Breteuil, introducteur des ambassadeurs, für Abdalla Bin Aycha, den Gesandten Marokkos in Frankreich, 169915 darauf, alle Tapisserien mit Abbildungen von Personen zu vermeiden, „vor allem im Schlafgemach und im Sofazimmer, wo sie ihr Gebet hielten“, und ließ stattdessen einfache Möbel aufstellen. Außerdem ließ er alle Baldachine, die sich in dem Haus befanden, verschwinden, da diese als Zeichen der grandeur in Marokko unbekannt waren, und ein Sofa als Annehmlichkeit für den Botschafter aufstellen: „Auf diesem Sofa verbrachte er den größten Teil der Tage, die er in Paris verweilte“.16 Durch eine Untersuchung des Zeremoniells können wir die wechselseitige Entdeckung des ‚Anderen‘ herausarbeiten.17 Obwohl diese Dokumente zum Bereich der arcana imperii gehörten, erschienen nach und nach Zeremonialhandbücher. Dabei handelte es sich um Beispielsammlungen, um Sammlungen von Referenzen. Der Bedarf hierfür manifestierte sich auch in den normativen Texten. Die Arbeiten der Historiographen Théodore und Denis Godefroy leisteten einen wichtigen Beitrag zur Klärung, Fixierung und Ordnung der Zeremonien. Im „Cérémonial de France“, 1619 veröffentlicht, präzisierte Théodore Godefroy in seiner Widmung an den König: „Ich habe den vorliegenden Band aus verschiedenen Schriften von königlichen Sekretären, Herolden und anderen erstellt, von denen einige den eindeutigen Zweck hatten, imitiert zu werden und als Präzedenzfälle für die Zukunft zu dienen.“ In derselben Widmung ging Godefroy von einer Annahme aus, die für jedes politische Zeremoniell galt: „In allen wohlgeordneten [bien policés] Königreichen und Gemeinwesen wurde immer darauf geachtet, dass die Ordnung bezüglich des Zeremoniells und des Rangs genau eingehalten wurde.“18 Diese Regel verweist auf die Sorge um Effizienz und Eindeutigkeit, um dadurch Verwirrungen bei den Zeremonien zu vermeiden. Sie erlaubte es aber auch, die gewöhnlichen Präzedenzstreitigkei15 Breteuil, Mémoires (wie Anm. 13); Lucien Bély, Louis XIV. Le plus grand roi du monde, Paris 2005, S. 190–192. 16 Breteuil, Mémoires (wie Anm. 13), S. 55. 17 Christian Windler, La diplomatie comme expérience de l’autre. Consuls français au Maghreb (1700–1840), Genf 2002. 18 Théodore Godefroy, Le Cérémonial de France ou Description des Ceremonies, Rangs, & Seances observées aux Couronnemens, Entrées, & Enterremens des Roys & Roynes de France, & autres Actes et Assemblées solemneles. Recueilly des Memoires de plusieurs Secretaires du Roy, Hérauts d’armes, & autres, Paris 1619, Widmungsbrief, s.p.

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ten zu verhindern. Dies verweist auf eine allgemeine Ordnung, die es einzuhalten galt, eine soziale Ordnung, die ihrerseits auf eine Ordnung der Welt verweist.19 Der Respekt vor der Gerechtigkeit erforderte solche Vorkehrungen in einer Gesellschaft, in der es von Bedeutung war, „dass jeder in seinem Rang belassen wurde, der ihm zustand, sei es durch seine Abstammung, sei es durch seinen Stand und sein Amt, sei es aufgrund seiner Verdienste oder wegen eines anderen angemessenen Grunds“.20 Im „Cérémonial français“ von 1649 verzeichnete Denis Godefroy, das Werk seines Vaters fortführend, die Unterscheidungskriterien für die Empfänge von Fürsten und Botschaftern. Hiermit fasste er die Schriften der introducteurs des ambassadeurs zusammen, indem er eine allgemeingültige Richtlinie identifizierte und neunzehn verschiedene Ehrbezeugungen definierte, auf die wir noch genauer zu sprechen kommen werden.21 Damit bildete sich die „Zeremonialwissenschaft“ heraus, wie sie von Miloš Vec untersucht worden ist.22 Die Veröffentlichung der Textdokumente kam damals noch der Lüftung eines Geheimnisses gleich. Der Supplementband des „Corps universel diplomatique“ (1739) von Jean Dumont war dem diplomatischen Zeremoniell gewidmet und enthielt beispielsweise das Zeremoniell des spanischen Hofes im 17. Jahrhundert. Bei der Präsentation dieses Manuskripts betonte der Herausgeber, welches Geheimnis er mit der Veröffentlichung enthülle: Les ministres qui ont été à cette cour sont mieux instruits que personne du scrupule avec lequel le cérémonial y est observé, et du soin que les ministres de la cour prennent de cacher cette étiquette aux ministres étrangers, afin de retrancher dans l’occasion, s’il est possible, quelques-unes de leurs prérogatives ou de leurs prétentions.23

Die Zeremonien gaben Anlass zu Publikationen, welche die Feierlichkeiten erklärten und genau beschrieben, um sie im Gedächtnis zu halten. Sie waren Gegenstand von Berichten in Zeitungen wie dem „Mercure galant“. Darüber hinaus gaben sie Anlass zu bildlicher Darstellung: Die Maler produzierten 19 Yves Durand, L’ordre du monde. Idéal politique et valeurs sociales en France du xvie au xviie siècle, Paris 2001. 20 Godefroy, Le Cérémonial de France (wie Anm. 18), Dédicace au roi (unfoliert). 21 Denis Godefroy, Le Cérémonial françois recueilly par Théodore Godefroy et mis en lumière par Denys Godefroy, Advocat en Parlement & Historiographe du Roy, Paris 1649, S. 771. 22 Miloš Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrscherpräsentation (Ius commune. Sonderhefte, Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 106), Frankfurt a. M. 1998. 23 Hugo Coniez (Hg.), Le cérémonial de la cour d’Espagne au xviie siècle (Iberica 21), Paris 2009, S. 16.

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sowohl überhöhende als auch realistische Repräsentationen der Botschaftereinzüge. Es wäre interessant zu untersuchen, warum das diplomatische Zeremoniell heute in der Forschung wieder an Bedeutung gewinnt, nachdem es lange Zeit als sinnentleert angesehen wurde. Die Bedeutung des Spektakels, die Dominanz des Bildes und eine gewisse Vorliebe für die Inszenierung in der Gegenwartsgesellschaft könnten eine Erklärung für dieses neue intellektuelle und wissenschaftliche Interesse sein.

II. Das Wissen der Akteure über das Zeremoniell (Botschafter und Gesandte) Die Botschafter und Gesandten mussten während ihrer gesamten Reise Verhandlungen mit den örtlichen Autoritäten, dann in der Residenzstadt und auch am Hof mit dem Fürsten selbst führen. Dieses Vorgehen kann als eine Einführung eines ‚Fremden‘ in ein anderes Land als sein eigenes verstanden werden. Hier stößt man auf ein grundsätzliches Problem, welches über das Zeremoniell selbst hinausgeht und ihm ein nicht zu unterschätzendes symbolisches Gewicht verleiht. Die Durchführung der Zeremonien erforderte die Anerkennung des Anderen, eine Handlung, die im Gegensatz zu der allen souveränen Mächten gemeinsamen Auffassung stand, sie seien einzigartig oder gar absolut. Die Anwesenheit eines Fremden wurde lange Zeit als Bedrohung empfunden, als eine Infragestellung der Souveränität. Ein Schlüssel des westfälischen Systems war die Zulassung souveräner Entitäten als unabhängig und gleichberechtigt. Die Anwesenheit eines Botschafters, vor allem nach einem langen Krieg, bedeutete eine Versöhnung, eine wiedergeknüpfte Verbindung, eine Friedenszeit. Die Gesandtschaft brauchte darüber hinaus keine weitere Rechtfertigung. Das Paradox ergab sich dadurch, dass unter den Staaten eine Hierarchie existierte, die nicht stabil und von zwei Triebkräften bestimmt war: von dem Streben der Fürsten nach königlichem tractement und von dem Rangwettstreit der Könige. Die europäische Ordnung wurde aus der Rangfolge der Herrscher abgeleitet, die sich am Rang der Botschafter ablesen ließ, wenn diese sich gemeinsam am gleichen Hof befanden.24 Die Rivalität zwischen der französi24 Robert Oresko, The House of Savoy in Search for a Royal Crown in the Seventeenth Century, in: ders. / Graham C. Gibbs / Hamish M. Scott (Hgg.), Royal and Republican Sovereignty in Early Modern Europe. Essays in Memory of Ragnhild Hatton, Cambridge 1997, S. 272–350.

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schen und spanischen Krone war beispielsweise ein immer wieder auftauchendes Thema auf dem diplomatischen Parkett des 16. und 17. Jahrhunderts.25 Das Zeremoniell erlaubte es zu überprüfen, ob der Rang eines Herrschers respektiert wurde, mit allen Ungewissheiten, die diese Rangordnung enthielt. Welches Wissen hatten die Diplomaten über das Zeremoniell? Der Diplomat orientierte sich an den Präzedenzfällen, die ihm vorher mitgeteilt oder in seiner Instruktion genannt wurden.26 Er hatte Zugang zu einer Sammlung von Dokumenten. Für den offiziellen Einzug in London 1713 verfügte zum Beispiel der französische Botschafter, der Herzog von Aumont, über eine Zeremonialbeschreibung,27 die für ihn auf der Grundlage der Besuche des Grafen von Cominges 1663 und des Marschalls von Tallard 1698 mit großer Sorgfalt verfasst worden war. Die dem Herzog gegebenen Anweisungen basierten auch auf dem „Ceremoniale historico e politico“ von Gregorio Leti aus dem Jahre 1685, vor allem in Bezug auf die an verschiedene Akteure zu zahlenden Beträge während der Reise, aber auch in Bezug auf die feierliche Audienz. Besondere Aufmerksamkeit galt einigen Zeichen, bei denen keine Kompromisse eingegangen werden durften. All diese Vorbereitungen setzten Verhandlungen zwischen Diplomaten und Zeremonialspezialisten voraus, in Frankreich also Verhandlungen mit dem introducteur des ambassadeurs. Das Zeremoniell erlaubte so bereits Verhandlungen, noch bevor die eigentlichen Verhandlungen begonnen hatten.28 Dies setzte auch Kontakte innerhalb der Personengruppe voraus, die später als corps diplomatique bezeichnet wird. Tatsächlich ergaben sich aus der Rivalität zwischen den Botschaften oftmals Konflikte bezüglich der Präzedenz, welche die Rangkonflikte ihrer Fürsten verlängerten und fortführten.29 Der Herzog von Aumont, Botschafter in London, war 1713 angewiesen, den Botschaftern, die ihn besuchten, die Hand zu geben und einen Sessel zuzuweisen. Den Gesandten, diplomatischen Vertretern geringeren Ranges, gab er jedoch nicht die Hand, sondern wies ihnen lediglich einen Sessel zu. Außer25 Maria Antonietta Visceglia, Les cérémonies comme compétition politique entre les monarchies française et espagnole à Rome, au xviie siècle, in: Bernard Dompnier (Hg.), Les cérémonies extraordinaires du catholicisme baroque, Clermont-Ferrand 2009, S. 365–388. 26 Lucien Bély, Des entrées et réceptions solennelles des princes et grands seigneurs, in: Gérard Sabatier (Hg.), Claude-François Ménestrier. Les jésuites et le monde des images, Grenoble 2009, S. 167–179. 27 Cérémonial qui s’observe à l’égard des ambassadeurs du roi en Angleterre, Archives du Ministère des Affaires étrangères, Correspondance Politique, Angleterre 240, fol. 219–228. 28 Lucien Bély, L’art de la paix en Europe, Paris 2007; ders., Du monde du secret au congrès public. Le profil des négociateurs au temps de la guerre de la Ligue d’Augsbourg, in: Kampmann u. a. (Hgg.), L’art (wie Anm. 4), S. 119–137. 29 Lucien Bély / Géraud Poumarede (Hg.), L’incident diplomatique, xvie–xviiie siècle, Paris 2010.

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halb seines eigenen Gesandtenquartiers musste der französische Botschafter den Vortritt vor allen anderen außer dem kaiserlichen Botschafter fordern: „Er darf in dieser Hinsicht [d.h. im Bezug auf die Zeremonien; L. B.] keine Zugeständnisse machen, die zu dem Glauben führen könnten, er habe sich mit Gleichstellung begnügt. Er muss vielmehr immer die Oberhand behaupten, ohne jemals nachzugeben.“ Der französische und der kaiserliche Botschafter sollten also Seite an Seite gehen, wobei sich der Erstere links platzierte und Letzterem beim Durchschreiten einer Tür und „und an den Orten, an denen man nicht nebeneinander gehen kann“, den Vortritt gewährte.30 Beim Zeremoniell ging es also um die Aneignung des Raums und der Zeit. Die Reise der Diplomaten erlaubte eine Begegnung mit einer Gesellschaft, die selbst an eine starke Ritualisierung des Alltaglebens gewöhnt war, insbesondere zu außergewöhnlichen Anlässen, wie sie die Einzüge der Könige und Fürsten darstellten. Als der Herzog von Aumont 1713 in England ankam, empfing er in Dover die Ehrerweisungen der Stadt, eine Veteranenkompanie bewachte sein Haus. Er bekam Besuch aus London, so zum Beispiel von dem Staatssekretär Dartmouth sowie dem französischen Unterhändler Abbé Gaultier. Schließlich zog er in London ein und bezog die für ihn vorgesehene Residenz. Er dinierte bei einem weiteren Staatssekretär, Bolingbroke, dann machte er seine Visiten. Es etablierte sich eine Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Einzug ebenso wie zwischen privater und der öffentlicher Audienz. Der private Einzug war der eines gewöhnlichen Reisenden; der öffentliche Einzug entsprach der Begegnung mit einer ganzen Gesellschaft. Die Privataudienz verwies auf den kleinen Kreis der Fürstengesellschaft und die öffentliche Audienz auf die Zusammenkunft mit dem Staat. Nach einer Fahrt durch die Straßen richtete sich der Botschafter in der Stadt ein, in der der Hof residierte. Die diplomatischen Zeremonien fügten sich damit in den Kontext der religiösen, politischen und zivilen Zeremonien der Stadt ein.31 Auch hier war die Differenzierung zwischen privater und öffentlicher Audienz bedeutsam. Der Herzog von Aumont bat um eine Privataudienz bei Königin Anne. Er übergab einen handgeschriebenen Brief des Königs, was eine persönliche, familiäre und intime Beziehung anzeigte; bei der 30 Ministère des Affaires étrangères et européennes (Paris), Correspondance politique, Angleterre 240, fol. 219–228, „Cérémonial qui s’observe à l’égard des ambassadeurs du roi en Angleterre“, zit. n. Bély, Espions (wie Anm. 2), S. 692–693. 31 Thomas Weller, Theatrum Praecedentiae. Zeremonieller Rang und gesellschaftliche Ordnung in der frühneuzeitlichen Stadt, Leipzig 1500–1800 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2006.

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öffentlichen Audienz hingegen war der Brief vom Staatssekretariat ausgestellt und verwies auf eine öffentliche und politische, ja nationale Beziehung. Die Franzosen, die den Botschafter begleiteten, durften eintreten und die Königin grüßen, bevor sie sich wieder zurückzogen und die beiden von Neuem alleine ließen .32 Dann folgte der öffentliche Einzug in die Stadt. Für den Herzog von Aumont fand der Einzug über die Themse statt. Der Botschafter musste sich mit seinen adeligen Begleitern, seinem Hauspersonal und seinem gesamten Gefolge in ein Haus in Greenwich begeben. Die Königin schickte ihm einen Grafen, in dessen Gefolge sich auch sechs „gentlemen of the privy chamber“ befanden. Der Festzug der Boote kam am Tower von London an, wo die große Standarte Englands wehte und Salutschüsse abgefeuert wurden – Cominges zählte 104 Schüsse und deutete sie so, dass 70 dem Botschafter, 20 dem König und der Rest dem Gouverneur selbst galten. Der Botschafter, der Graf und der Zeremonienmeister stiegen in dieselbe Kutsche; Tallard notierte, dass dieser zwei Wappenherolde vorangingen. Der Prunk kam durch die Zahl der sechsspännigen Kutschen zum Ausdruck: Mindestens 26 an der Zahl und in einigen Fällen bis zu 80; beim Einzug von Cominges waren es 50. Der ständige Botschafter wurde zu seiner Residenz begleitet, der außerordentliche Botschafter zu seinem Wohnsitz, der von der englischen Regierung ausgewählt worden war. Im Anschluss fand die öffentliche Audienz statt. Der zeremonielle Rahmen verengte sich auf die königliche Residenz und den Weg dorthin. Wer holte den Botschafter an seiner Residenz ab? Die Stellung des entsandten Würdenträgers erlaubt es, den Grad der Respektbekundung zu messen. In Frankreich wurde dies durch die Entgegenschickung auswärtiger Fürsten und Maréchaux de France zum Ausdruck gebracht. Hatte der Botschafter ein Anrecht auf die Kutsche des Königs? Die Zahl der Kutschen und ihre Pracht spielten eine große Rolle für den Pomp einer Botschaft. Die gleichen Vorkehrungen galten auch der Begleitung des Gesandten. Das Treffen zwischen dem Botschafter und dem ihm vom Hof entgegengeschickten Würdenträger setzte strenge Formen voraus. Die Diplomaten hatten die Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen von Gesandten, die man empfing, verinnerlicht: ständiger oder außerordentlicher Botschafter (ambassadeur), ständiger oder außerordentlicher Gesandter (envoyé). Godefroy nannte sogar die Residenten und Adeligen, die zweifellos keinen definierten Status hatten. Denis Godefroy zufolge setzte sich der Titel ‚Exzellenz‘ für die Botschafter durch. Es wurde 32 Hierzu und zum Folgenden Bély, Espions (wie Anm. 2), S. 355 und S. 368–370.

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auch auf der genauen Anordnung des Gefolges und Hauspersonals während des Einzugs insistiert. Bei der Ankunft in der königlichen Residenz markierten sowohl die Wahl und Anordnung der Wachen als auch ihre Haltung – insbesondere, ob sie die Waffen präsentierten –, die Stellung des Diplomaten, ebenso die Zahl der Schwellen, die er zu überwinden hatte. Dies setzte eine präzise Kontrolle des Verkehrs voraus, da möglicherweise Schaulustige in Schach gehalten werden mussten. Dadurch wurde deutlich, wie gut der König geschützt war und daher auch die fremden Gesandten zu schützen wusste. Die Ehrbezeugungen in Gegenwart des Königs waren von grundlegender Bedeutung. Verbeugungen waren geboten. Diese unterschieden sich vom Gebaren der Untertanen, die noch lange Zeit vor dem König knieten, und bildeten einen Gegensatz zum Kniefall, dem Zeichen der Unterwürfigkeit, bekannt aus entfernten Erdteilen wie Siam. Godefroy vermerkte eine Unterscheidung: „Der König kommt entgegen oder bleibt in seinem Sessel“, im ersten Fall empfängt der König einen auswärtigen Fürsten, im zweiten einen Botschafter.33 Als wichtigstes Distinktionsmerkmal galt nach Godefroy, „vor dem König bedeckten oder unbedeckten Hauptes zu sprechen“. Der Hut, den der Botschafter wieder aufsetzte, kennzeichnete ihn als Repräsentanten eines souveränen Fürsten. Auch die Art des Stuhls, auf welchem man dem König gegenüber saß, war Gegenstand von Verhandlungen – der König saß auf einem Lehnsessel. Godefroy betonte die „Verschiedenheit der Sessel, Stühle und Hocker“.34 Es ist anzunehmen, dass der Hut für die Krone stand, doch auch den allgemeinen Höflichkeitsregeln der damaligen Gesellschaft entsprach es, den Hut zu ziehen. Der Sessel verwies vielleicht auf den Thron; das Gemach befand sich im Zentrum der königlichen Residenz, es war der intimste Ort – abgeschlossen, geschützt und geheim.35 Die großen Fragen des Zeremoniells berührten also die einfachen Dinge, die „Banalitäten“ („choses banales“), wie Daniel Roche sie genannt hat,36 wie etwa den Hut oder den Sessel: Diese symbolische Sprache war allen zugänglich, weil sich die internationale Ordnung auch in sozialen Höflichkeitsformen ausdrückte. Godefroy behandelte auch die Frage, wer den König und die Königin sowie die Prinzessinnen küssen durfte. Diese Frage stellte sich für die Ehefrauen 33 Godefroy, Le Cérémonial françois (wie Anm. 21). 34 Godefroy, Le Cérémonial de France (wie Anm. 18). 35 Vgl. Vivien Richard, Un théâtre de la diplomatie. La chambre du roi et les réceptions d’ambassadeurs à Versailles sous le règne de Louis XIV, in: Revue d’histoire diplomatique 125, 2011, S. 269–281. 36 Daniel Roche, Histoire des choses banales. Naissance de la consommation dans les sociétés traditionelles, xviie–xixe siècle, Paris 1997.

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der Botschafter. Der förmliche Kuss brachte eine besondere Intimität zum Ausdruck, weil man dabei den Körper des Königs und seiner Angehörigen berührte. Es handelte sich dabei um die höchste Ehrerweisung, die auch für einen engen Kreis von Fürsten galt. Godefroy behandelte auch die Frage nach dem Hocker im Gemach der Königin, der ein wichtiges Ehrenzeichen darstellte und neue Schwierigkeiten für die Visite des Botschafters bei Mitgliedern der königlichen Familie verursachte. Generell erörterte Godefroy die Regeln, nach denen sich bemaß, ob man rechts oder links von einer Person Platz nehmen musste, und zwar für alle denkbaren Gelegenheiten, vor allem wenn der Botschafter den Prinzen und Prinzessinnen oder den höchsten staatlichen Amtsträgern eine Visite abstattete. Scharfsinnig befasste sich Godefroy mit ganz konkreten Ehrerweisungen: Wer hatte das Recht, von einem Maître d’Hôtel des Königs mit dem Stab in der Hand bedient zu werden? Der Fremde speiste auf Kosten des Königs. Seine Mahlzeiten gehörten zum Zeremoniell, wobei die Bedienung und die Ordnung am Tisch auf die Organisation der königlichen Tafel selbst verwies.37 Godefroy hatte ein Gespür für die Präzedenzkonflikte zwischen den Botschaftern und stellte ein Problem heraus, das im Kreis der Diplomaten und auch bei den Friedenskongressen allgegenwärtig war: Wer musste zwischen den Botschaftern die erste Visite abstatten? Er verwendete hierfür den Terminus ‚entrevisiter‘, der die Wechselseitigkeit dieser Visiten herausstellt. Bei all diesen Etappen sind jeweils zwei Perspektiven zu berücksichtigen: zum einen die Perspektive desjenigen, der empfing, und zum anderen desjenigen, der empfangen wurde. Für denjenigen, der empfing, stellte sich die Frage nach der Vorgehensweise, der Abgrenzung der Fahrstrecke und der Kontrolle des Verkehrs, der Organisation eines ruhigen Aufenthalts, der Gewährung von Ehrerweisungen. Für denjenigen hingegen, der empfangen wurde, ging es um die Vorbereitung der Reise – mit dem Gefolge, Haushalt, Tafelsilber und Kutschen –, den Anspruch auf ritualisierte Anerkennung, deren Überprüfung anhand von Präzedenzfällen und deren genauer schriftlicher Dokumentation, die Beherrschung der angemessenen Haltung (die des Höflings oder Hofmanns), die Zurschaustellung der eigenen Anwesenheit durch Prunk, Feierlichkeiten und Geschenke, die Verteidigung des Vortritts. Dies setzte die Verschriftlichung des Zeremoniells voraus: Notwendig waren Berichte, die nachträgliche Überprüfungen erlaubten und die Präzedenzfälle und erworbene Recht festschrieben, die nicht wieder aufgegeben wurden, sobald sie einmal erlangt wor37 Catherine Arminjon / Béatrix Saule (Hgg.), Tables royales et festins de cour en Europe 1661–1789. Actes du colloque international. Palais des Congrès, Versailles 25–26 février 1994 (Rencontres de l’École du Louvre 13), Paris 2004.

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den waren. Der Diplomat und sein Gefolge zählten die symbolischen Zeichen der Ehrerweisungen auf und prägten sie sich ein. Dies erforderte eine Kultur, in der solche Details angeeignet waren und verstanden werden konnten und die es erlaubte, durch Beschreibungen den Ablauf des Ereignisses zu rekonstruieren. Am Ende des 17. Jahrhunderts scheint es zu einer Vereinfachung und Regulierung des Zeremoniells gekommen zu sein.38 Das Beispiel Versailles bestätigt dies.39 Regeln setzten sich in einem Raum durch, der sich nicht mehr veränderte: die Höfe des Schlosses, die Treppe und die königlichen Gemächer bis hin zum Schlafzimmer des Königs und darin der Raum hinter der Balustrade. Die Botschaftertreppe, gebaut, um den Blick des Hofes auf den Festzug des Botschafters, der den König besuchte, sowohl physisch zu ermöglichen als auch zu symbolisieren, wurde zum Rahmen für die Empfänge der Botschafter aus entfernten Erdteilen. Darüber hinaus versuchte man, die Ausgaben zu beschränken. Der Herzog von Aumont hatte 1713 bei der Überquerung des Ärmelkanals ein so großes Gefolge, dass die Regierung kein königliches Schiff fand und gezwungen war, mehrere Schiffe von Privatleuten zu chartern. Ihm wurde mitgeteilt, dass „Seine Majestät entschieden hat, sich zukünftig nicht mehr an solchen Unkosten zu beteiligen.“ Es scheint, dass versucht wurde, Zeremonialstreitigkeiten und entsprechende Diskussionen zu vermeiden. Der Fall der Fürsten von Mömpelgard illustriert die allgemeine Entwicklung: „Der König empfing den Fürsten von Mömpelgard in seinem Kabinett, in der Nähe eines Fensters stehend, in der gleichen Weise, wie er die Botschafter bei Privataudienzen empfing […]“.40 Der Historiker muss schließlich eine relative Konvergenz zwischen den Hofzeremoniellen in Europa in Betracht ziehen, die es ermöglichte, die Zeichen wechselseitig zu verstehen und sich bei Verhandlungen leichter zu verständigen. Manche Ehrzeichen erscheinen seit dem 17. Jahrhundert unter den europäischen Fürsten zunehmend als üblich. Resultierte diese Entwicklung aus einer allgemeinen Entwicklung der höfischen Strukturen?41 Nur eine vergleichende Studie über das Zeremoniell an den verschiedenen Höfen könnte zu einer Bestätigung dieser Vermutung führen. 38 Emmanuel Le Roy Ladurie, mit Jean-François Fitou, Saint-Simon ou le système de la Cour, Paris 1997. 39 Gérard Sabatier, Les itinéraires des ambassadeurs pour les audiences à Versailles au temps de Louis XIV, in: Kauz / Rota / Niederkorn (Hgg.), Zeremoniell (wie Anm. 4), S. 187–211. 40 Bibliothèque de l’Arsenal (Paris), Mémoires de Breteuil, Manuscrit 3863, fol. 506. 41 John Adamson (Hg.), The Princely Courts of Europe 1500–1750. Ritual, Politics and Culture under the Ancien Régime 1500–1750, London 1999; Jeroen Duindam, Vienna and Versailles. The Courts of Europe’s Dynastic Rivals, 1550–1780, Cambridge 2003.

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Was bisher über die symbolische Dimension der diplomatischen Praxis gesagt worden ist, offenbart deren versteckten Sinn. Die Gesamtheit der Zeremonien konstituierte die Anerkennung eines anderen Fürsten. Nun organisierte aber jedes politische System das gemeinschaftliche Leben auf spezifische Weise und konnte die Ansprüche anderer Mächte nur mit Mühe integrieren. Darüber hinaus konstruierte sich jedes Gemeinwesen als einzigartig. Manche frühneuzeitlichen Potentaten versuchten diese Autorität so absolut wie möglich zu gestalten. Die Existenz des Anderen erschien als Infragestellung, als Drohung. Die Erfindung der Diplomatie begleitete die Konstruktion der unabhängigen und souveränen Staaten, die als übergeordnete Autorität nur noch Gott akzeptierten. Zwischen diesen souveränen Gebilden setzte sich eine Form der Gleichrangigkeit durch. Das Zeremoniell war Teil der Regeln der internationalen Beziehungen. War es aber Teil des Völkerrechts? Erwähnt sei, dass Jean Dumont in seinem „Corps universel diplomatique du droit des gens“ (1734–1736) 1739 einen Supplementband dem diplomatischen Zeremoniell widmete. Ebenso wie die Hofgesellschaft erforderte, die Affekte zu kontrollieren, so bezeugte auch das diplomatische Zeremoniell eine Ablehnung von Unordnung, Gewalt und Barbarei. Darin kam der Anspruch auf dauerhafte Ordnung, auf eine zivilisierte, wohlorganisierte und befriedete Welt zum Ausdruck. Wir werden jedoch abschließend sehen, dass es sich dabei um einen frommen Wunsch, ein Ideal handelte. Schließlich kann das Zeremoniell als ein Ritual der Zugehörigkeit zur Fürstengesellschaft gesehen werden, also zum Kreis derjenigen, deren Entscheidungen Konsequenzen für die Staaten und Gesellschaften hatten, die aber keinem außerhalb dieses kleinen Zirkels Rechenschaft schuldig waren. Das Zeremoniell wie auch die Überprüfung der Vollmachten bei den Kongressen erlaubte es, den Status jeder Seite zu überprüfen, und zwar schon vor dem eigentlichen Dialog, den eine Gesandtschaft ermöglichte. Bei dieser Überprüfung wurde eine Reihe von Zeichen aufgelistet, die eine Mitteilung darstellten und die sowohl vom Botschafter als auch von dem empfangenden Herrscher und seinen Beratern verstanden werden mussten. Der Zuschauer hingegen kannte nicht den ganzen Code, der hier Verwendung fand, sondern konnte ihn nur erahnen.42

42 Dorothee Linnemann, Repraesentatio Majestatis? Zeichenstrategische Personkonzepte von Gesandten im Zeremonialbild des späten 16. und 17. Jahrhunderts, in: Andreas Bähr / Peter Burschel / Gabriele Jancke (Hgg.), Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell (Selbstzeugnisse der Neuzeit 19), Köln u. a. 2007, S. 57–76.

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III. Das Zeremoniell – eine in der Frühen Neuzeit allgemeinverständliche Sprache? Mit der Zeit entstand ein funktionsfähiger Mechanismus, der zur formellen Wiederholung, zur simplen Formalität wurde. Die Zeichen konnten durchaus auch ihre Bedeutung verlieren. Bei einer Gesandtschaft offenbarten sich dem fremden Beobachter im Innersten des Hofes dessen Hierarchien; diese Beobachtung trug wiederum dazu bei, dass diese Hierarchien gestärkt wurden. Der Hof war das Zentrum der Eliten der Gesellschaft. Wer trug, zum Beispiel, seinen Hut bei einem Botschafterbesuch? In Frankreich hat diese Frage eine lange Tradition. Ein spanischer Grande, der Herzog von Osuna, wurde als Botschafter zu Heinrich IV. geschickt.43 Sobald der König sich bedeckt hatte, tat es ihm der Grande gleich, gemäß dem Brauch seines Herkunftslandes. Heinrich IV. jedoch war unzufrieden und bat in der Folge die anderen Spaziergänger, ihr Haupt ebenso zu bedecken: Diese waren ein Prince de sang, also ein Fürst aus dem königlichen Geschlecht, der Herzog von Mayenne und der Herzog von Epernon. Für die in Frankreich fremden Fürsten – die Lothringen-Guise, die Savoyen-Nemours und andere –, aber auch für die Erbprinzen, die Kardinäle, und sogar für Epernon war dies also eine Errungenschaft, die sie jedoch nur in Anspruch nehmen durften, wenn ein Botschafter empfangen wurde. Der Brauch galt jedoch nicht, wenn ein fremder Souverän nach Frankreich kam. Diese Anekdote zeigt, dass Heinrich IV., der eigentlich den Ruf hatte, Reden und Formalitäten wenig zugeneigt zu sein, sich sehr aufmerksam zeigte, wenn es um den Fehltritt eines spanischen Botschafters ging.44 Jede neue Verhaltensregel, die vom König angestoßen wurde, hatte Gesetzeskraft – und niemand dachte auch nur daran, ein neu errungenes Recht wieder aufzugeben. Auch Gesellschaftsstrukturen spiegelten sich in der diplomatischen Praxis wider. Bei der Auswahl des Diplomaten berücksichtigte man die zeremoniellen Verpflichtungen: Ein König benannte einen reichen Grand Seigneur, um sich an einem wichtigen Hof repräsentieren zu lassen, da Abstammung und Kenntnis der höfischen Bräuche von großer Bedeutung waren. Die sozialen Strukturen dieser „kleinen Welt der Diplomatie“ habe ich bereits an anderer Stelle beschrieben.45 Der Besitz eines beachtlichen Vermögens war Voraussetzung, um der Zeremonie den nötigen Prunk zu verleihen (Kosten der Kut43 Zum Folgenden: Louis de Rouvroy de Saint-Simon, Mémoires, Bd. 6, hg. von Arthur de Boislisle, Paris 1888, S. 425. 44 Bély, La société (wie Anm. 14), S. 484. 45 Ebd., S. 711.

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schen, Kleidung, Bediensteten, Empfänge und Geschenke). So gesehen hatte das Zeremoniell seinen Preis: Es erforderte bedeutende finanzielle Investitionen. Auch innerhalb einer diplomatischen Gesandtschaft existierten soziale Spannungen, die sich manifestierten, wenn Rangstreitigkeiten unter dem Blick Außenstehender verbittert ausgefochten wurden. Rousseau beispielsweise beschrieb in seinen „Confessions“ seine Auseinandersetzung mit dem französischen Botschafter in Venedig. Rousseau erwartete, vom Botschafter Frankreichs die gleiche Achtung entgegengebracht zu bekommen wie ein Botschaftssekretär, während der Graf von Montaigu Rousseau als seinen persönlichen Sekretär ansah, der in dieser Funktion seinem Privathaushalt angehörte. Ehr- und Respektbekundungen spielten eine wichtige Rolle bei diesen Spannungen. Der Graf verteidigte seine Position in einem Brief an den Abt Alary und wies auf die Unverschämtheit Rousseaus hin. Ein Auftrag im Ausland konnte für einen Höfling, der an das Leben in den königlichen Residenzen gewöhnt war, einen Kulturschock bedeuten. Bei seiner Ankunft in London bemerkte der Herzog von Aumont die „Vielzahl von brennenden Feuern und eine große Menschenmasse, die um die Feuer tanzte und trank“. Später kommentierte der Herzog wiederholt den „schändlichen Pöbel“, der nicht von seiner Türe weichen wollte, aber erklärte auch, „diese ersten Schreie des Volkes“ wie auch seine Musik zu mögen. Hingegen beschwerte er sich über den Nebel, die schlechte Luft und den Rauch der Kohlenfeuer: „Zumindest für den Beginn der Verhandlungen in diesem Land ist eine klare Stimme vonnöten.“ Hier zeigt sich, dass er als guter Höfling die theatralische Dimension seiner Gesandtschaft richtig einzuschätzen wusste. Er bestand auf der unerlässlichen sozialen Distinktion und verhöhnte den Unterhändler Mesnager, der ihm bei Königin Anne vorangegangen war und der 1711 den Londoner Präliminarfrieden ausgehandelt hatte. Mesnager wollte eine Ansprache halten, musste aber wegen eines Gefühlsausbruches unterbrechen: „Die Königin wollte ihn wieder auf den richtigen Weg bringen, aber anstatt [seine Rede] fortzusetzen, fing er wieder von vorne an und konnte sie nicht abschließen.“ Der Herzog von Aumont – er war premier gentilhomme de la chambre – legte hier nicht nur soziale Verachtung an den Tag, sondern zog auch eine Grenze zwischen der prächtigen Gesandtschaft, die allerdings reine Form, also symbolisch war, und der Mission, die eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hatte und für die spezifische Fähigkeiten von Nöten waren.46

46 Bély, Espions (wie Anm. 2), S. 369–370.

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Die Bevölkerung machte den Einzug eines Botschafters zum Ereignis, wenn sich dazu eine Gelegenheit bot. Das Paris des jungen Ludwig XIV. bewahrte lange Zeit die Erinnerung an die große polnische Gesandtschaft, die die Prinzessin Luisa Maria Gonzaga zur Hochzeit mit König Władysław von Polen begleitete. Als der Zug Paris erreichte, „befanden sich die Majestäten unerkannt auf der Terrasse des Palais-Royal, um die Prozession zu sehen“.47 Die Königinmutter und der junge König scheuten sich also nicht, ihre Neugier zu zeigen, wobei sie aber die Regeln des Zeremoniells einhielten. Trotz des Inkognitos ließen die polnischen Herren die Pferde das Kompliment machen, indem sie an einem dünnen Seidenfaden zogen, als sie vor der Königsfamilie passierten. Diese erfinderische und zugleich subtile Vorgehensweise erlaubte es den Besuchern, die französischen Souveräne zu grüßen, ohne die Fiktion ihres Inkognitos zu durchbrechen. Der öffentliche Einzug respektierte so einerseits die Privatsphäre der königlichen Familie und leistete zugleich andererseits mittels einer List die Ehrbezeugung. Später, während der Regierungszeit Ludwigs XIV., wurden solche diplomatischen Ereignisse vom Hof wie von der Pariser Bevölkerung kaum noch bemerkt, es sei denn, es wurden Gesandte aus fernen Ländern wie Siam, Marokko oder Persien empfangen. Beim Besuch des marokkanischen Gesandten im Jahr 1699 sah Breteuil die öffentliche Neugier voraus und richtete es so ein, dass Saint-Olon, der ehemalige Botschafter Frankreichs in Marokko, Eintrittskarten ausstellte und verteilte, die der Schweizer Garde vorgewiesen werden mussten, um Zugang zum Gesandten zu erhalten. Dies konnte jedoch erst nach der Audienz beim König geschehen. In einigen Fällen entzündeten sich diplomatische Konflikte an einer Begegnung zwischen dem ausländischen Besucher und der Stadtbevölkerung. Wie Ludwig XIV. selbst beschrieb, spielte auch bei dem bekannten Zwischenfall in London 1661 eine Menschenmenge eine Rolle. Beim Einzug des schwedischen Gesandten ließ der spanische Gesandte die Kutsche des Grafen von Estrades anhalten und dessen Pferde „von einer Bande bewaffneten Gesindels“ töten, damit die französische nicht vor der spanischen Kutsche einfuhr. Watteville, Botschafter des spanischen Königs in London, habe 2.000 Mann mobilisiert und 500.000 livres zu diesem Zweck ausgegeben. Im gleichen Zusammenhang erfährt man auch, Estrades habe vor dem Ereignis alle Franzosen, die sich in London aufhielten, versammelt und Offiziere aus Gravelines kommen lassen – insgesamt 400 bis 500 Mann. Der König von England selbst 47 Bibliothèque municipale de Lille, Fonds Godefroy 331, Mémoires de Monsieur de Berlize (1639– 1663), fol. 106.

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hatte Verbote veröffentlicht, die jegliche Parteinahme für eine der Seiten untersagten, doch er konnte die Tumulte erst beruhigen, „nachdem auf beiden Seiten mehrere Personen verletzt oder getötet worden waren, fast ebenso viele auf der spanischen Seite wie auf jener der Franzosen“.48 Bei vielen diplomatischen Zwischenfällen eskalierten Streitigkeiten zwischen Kutschern und Lakaien und blockierten so die gesamte Situation.49 Allgemein wurde das Zeremoniell zu einem Ort der Verhandlung zwischen verschiedenen Kulturen. Die Turbane, die von muslimischen Gesandten getragen wurden, riefen oft Verstimmungen bei den westlichen Herrschern hervor, ebenso wie eine fehlende Verbeugung. Breteuil beschrieb den Gruß der muslimischen Gesandten: „[...] sie legen nur die beiden nackten Hände auf die Brust, denn sie tragen keine Handschuhe, und neigen gleichzeitig den Kopf zur rechten Schulter.“ Es fand weder eine Neigung des Kopfes noch des Körpers nach vorne statt. Breteuil versuchte, Bin Aycha zu tiefen Verneigungen zu bewegen, wobei er feststellte: „Der Turban, den sie nie ablegen, lässt ihren Gruß sehr unhöflich erscheinen, verglichen mit unseren Sitten.“ Nichtsdestotrotz wollte der marokkanische Gesandte zeigen, dass seine Art zu salutieren stark mit Bedeutung aufgeladen war: „Diese Neigung des Kopfes in Richtung Schulter entblößt den Hals und bedeutet, wie er mir sagte, ‚Ihr seid Herr über mein Leben, hier ist mein Hals, Ihr braucht nur zuzuschlagen [...]’.“50 Ebenso erklärte der Juwelier Chardin den persischen Mächtigen in Isfahan die Rangstreitigkeiten der westlichen Diplomaten, die den Hof des Schahs sehr zum Erstaunen brachten.51 Das diplomatische Zeremoniell bot den Gesellschaften und den Höfen ein Schauspiel, das zu einem Ereignis werden konnte. Es brachte die Beziehungen zwischen den Fürsten, die bereits ‚internationale‘ Beziehungen waren, symbolisch zum Ausdruck. Diese mehr oder weniger komplexe Inszenierung glich einem Räderwerk aus Gesten, Haltungen und Gebaren, das nach vereinbarten Regeln funktionierte. Die kleinste Unregelmäßigkeit konnte den Ablauf stören und verzögern, einen Konflikt veranlassen oder gar den Bruch herbeiführen. So hatte das Zeremoniell seinen Preis (am höchsten war er für die Botschafter) und bestand aus Zeichen, die für alle oder fast alle europäischen Gesellschaften einen Sinn enthielten. Wenn diese Regeln Ausdruck ei48 Ludwig XIV., Mémoires pour l’instruction du dauphin, hg. von Pierre Goubert, Paris 1992, S. 96–107. 49 Michael Rohrschneider, Das französische Präzedenzstreben im Zeitalter Ludwigs XIV. Diplomatische Praxis – zeitgenössische französische Publizistik – Rezeption in der frühen deutschen Zeremonialwissenschaft, in: Francia 36, 2009, S. 135–179. 50 Breteuil, Mémoires (wie Anm. 13), S. 59. 51 Dirk van der Cruysse, Chardin le Persan, Paris 1998.

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ner Ordnung waren, so ist offensichtlich, dass diese nie unbeweglich, statisch oder fest war. Es war jederzeit im Bereich des Möglichen, eine Unterscheidung einzuführen, die jeden Dialog unmöglich machte und die Verhandlung oder gar die ganze Gesandtschaft auf später verschob. Dies war der Grund, weshalb sich jeder Staat, trotz der schönen Lexika, davor hütete, klare Richtlinien einzuführen, denn nicht zuletzt ermöglichte das Zeremoniell die Austragung von Konflikten auch zu Friedenszeiten. (Aus dem Französischen übersetzt von Niels F. May und Volker Zimmermann)

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Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis in der Frühen Neuzeit. Erträge neuer Forschungen Wenn von symbolischer Kommunikation im Bereich der Außenbeziehungen und der diplomatischen Praxis die Rede ist, so richtet sich der Blick im Anschluss an die Arbeiten von Barbara Stollberg-Rilinger zu den symbolischrituellen Praktiken europäischer Monarchien1 zuallererst auf das diplomatische Zeremoniell. In zeremoniellen Handlungen manifestieren sich, so auch Thomas Weller, „zentrale Grundwerte“ einer Kultur „in besonders sinnfälliger, symbolisch verdichteter, mithin sogar sinnlich erfahrbarer Form“.2 Es liegt deshalb auf der Hand, in den beiden ersten Teilen der folgenden Überlegungen darauf einzugehen, was der Ansatz der symbolischen Kommunikation mit eben dem Blick auf das diplomatische Zeremoniell zu leisten vermag. Aufgrund der Funktion des Zeremoniells bei der Repräsentation von Herrschaft und sozialem Status rücken damit die Frage nach den Eigenschaften der Akteure, die sich im Zeremoniell darstellten und dargestellt wurden, und folglich auch jene nach den Widersprüchen zwischen politischer Theorie einerseits und der Repräsentation von Ordnungsvorstellungen und Statusansprüchen andererseits in den Mittelpunkt. Mit den Ausführungen über die Funktion des Zeremoniells bei der Repräsentation von Herrschaft und sozialem Status und damit über die Wirksamkeit ständischer Ordnungsvorstellungen auch in den Außenbeziehungen bestätigen und ergänzen die Arbeiten aus dem Kreis des Münsteraner Sonderforschungsbereichs „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wer1

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S. etwa Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008; dies., Die Wissenschaft der feinen Unterschiede. Das Präzedenzrecht und die europäischen Monarchien vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Majestas 10, 2002, S. 125–150; dies., Honores regii. Die Königswürde im zeremoniellen Zeichensystem der Frühen Neuzeit, in: Johannes Kunisch (Hg.), Dreihundert Jahre Preußische Königskrönung (Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte Beiheft 6), Berlin 2002, S. 1–26. – Den Autorinnen und Autoren der in diesem Beitrag zitierten unveröffentlichten Arbeiten danke ich für die Möglichkeit, in die Manuskripte Einsicht zu nehmen. Tilman Haug (Bern) und Nadir Weber (Bern) bin ich für die Kommentierung einer früheren Fassung dieses Textes zu Dank verpflichtet. Melanie Burkhard (Bern) danke ich für die Mitarbeit bei der formalen Überarbeitung des Aufsatzes. Thomas Weller, Andere Länder, andere Riten? Die Wahrnehmung Spaniens und des spanischen Hofzeremoniells in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen aus dem deutschsprachigen Raum, in: Andreas Bähr / Peter Burschel / Gabriele Jancke (Hgg.), Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell (Selbstzeugnisse der Neuzeit 19), Köln u. a. 2007, S. 41–55, hier S. 44.

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tesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ die Befunde der Verflechtungsforschung über die Rollenvielfalt und Normenkonkurrenz im frühneuzeitlichen Gesandtenwesen. Auf diese sich gegenseitig befruchtenden Befunde soll im dritten Teil eingegangen werden. Anders als dies Kritiker einer Kulturgeschichte des Politischen behaupten, erschöpft sich der Ansatz der symbolischen Kommunikation nicht in der Analyse explizit symbolischer Handlungen und damit insbesondere des Zeremoniells. Dass eine Kulturgeschichte von Außenbeziehungen gerade auch mit Blick auf die symbolischen Aspekte ausdrücklich instrumenteller Handlungen einiges zu leisten vermag, soll im vierten Teil dieses Beitrags aufgezeigt werden. Das Erkenntnisinteresse richtet sich in den folgenden Ausführungen insbesondere auf die Prozesse der ‚Verstaatlichung‘ von Außenbeziehungen im 17. und 18. Jahrhundert und auf die Frage nach dem Stellenwert des Westfälischen Friedens beziehungsweise der Umbruchszeit um 1800 als Wende zu einem System von Beziehungen zwischen souveränen Staaten. Ausgegangen wird dabei von einer Definition von Außenbeziehungen, die das Ergebnis der Staatsbildungsprozesse der Frühen Neuzeit, den souveränen Staat des 19. Jahrhunderts, nicht vorwegnimmt. Damit soll geprüft werden, inwiefern der Ansatz der symbolischen Kommunikation auch und gerade als Zugang zu den ‚großen‘ Fragen der Geschichte frühneuzeitlicher Außenbeziehungen geeignet ist. Insgesamt liegt das Ziel des vorliegenden Beitrages nicht in einer möglichst breit angelegten Synthese zur Thematik „Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis in der Frühen Neuzeit“. Vielmehr soll es darum gehen, einen Blick von außen auf Forschungen zu werfen, die sich im Rahmen des Münsteraner Sonderforschungsbereichs mit dieser Thematik befasst haben.

I. Symbolische Kommunikation und Souveränität: diplomatisches Zeremoniell zwischen 1648 und 1800 Vielfach und aus unterschiedlichen Perspektiven ist der Westfälische Friede als Wende zu einem System von Beziehungen zwischen souveränen Staaten interpretiert worden. Besonders weit gehen dabei die Verfechter der mit historischen Bezügen arbeitenden sozialwissenschaftlichen Forschung zu den Internationalen Beziehungen, welche 1648 in Abgrenzung zum überzeitlichen ‚Billardkugelmodell‘ der ‚realistischen Schule‘ als eigentliche Geburtsstunde eines bis mindestens zum Wiener Kongress, nach manchen Autoren gar bis

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ins 20. Jahrhundert die Außenbeziehungen bestimmenden ‚Westfälischen Systems‘ sehen wollen, in dem nach innen und außen souveräne und grundsätzlich gleichgestellte Staaten nach den Regeln des Völkerrechts miteinander interagierten.3 In der Frühneuzeitforschung wurde dieser Begriff zwar nie breit rezipiert, das Jahr 1648 aber dennoch oft implizit als Wendepunkt betrachtet. So hat etwa Heinz Schilling ein Modell konsekutiver frühneuzeitlicher Teilepochen der internationalen Beziehungen entworfen, die von den zentralen ‚Leitkräften‘ ‚Konfession‘, ‚Dynastie‘, ‚Staatsräson‘ und ‚Tradition‘ in unterschiedlicher Intensität bestimmt wurden. Während die Zeit zwischen dem Frieden von Cateau-Cambrésis (1559) und dem Westfälischen Frieden auch in den Außenbeziehungen vor allem als ein ‚konfessionelles Zeitalter‘ betrachtet werden könne, sei nach 1648 ‚Staatsräson‘ zum dominierenden Faktor geworden.4 Mit einer besonderen Zuspitzung auf die Konfession als Strukturbedingung anerkennt Schilling die Bedeutung personaler – insbesondere calvinistischer – Netzwerke bei der Gestaltung von Außenbeziehungen in seinem den Zeitraum von 1559 bis 1660 betreffenden Band zum „Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen“.5 Anders sieht es für die Zeit nach 1648 aus: In seinem Band zum 18. Jahrhundert betrachtet Heinz Duchhardt die Monopolisierung von Außenpolitik durch diplomatische Apparate seit dem späten 17. Jahrhundert als weitgehend abgeschlossen und geht von Außenbeziehungen als Staatenbeziehungen im Rahmen eines internationalen Systems aus.6 Diese Sichtweise steht in einem auffallenden Kontrast zur Bereitschaft

3 Vgl. Leo Gross, The Peace of Westphalia. 1648–1948, in: American Journal of International Law 42, 1948, S. 20–41; vgl. Alfred-Maurice de Zayas, Westphalia, Peace of (1648), in: Encyclopedia of International Law 4, 2000, S. 1465–1469; Gene M. Lyons / Michael Mastanduno (Hgg.), Beyond Westphalia? State Sovereignty and International Intervention, Baltimore 1995. – Zu 1648 als ‚Schlüsselereignis‘ für die historische Soziologie der Internationalen Beziehungen vgl. Ekkehard Krippendorff, Die Erfindung der Außenpolitik, in: Jens Siegelberg / Klaus Schlichte (Hgg.), Strukturwandel Internationaler Beziehungen. Zum Verhältnis von Staat und Internationalem System seit dem Westfälischen Frieden, Wiesbaden 2000, S. 61–73; Evan Luard, The Balance of Power. The System of International Relations, 1648–1815, Basingstoke 1992. – Die allgemeinen Ausführungen zum Epochenjahr 1648 folgen einem unveröffentlichten Text, den der Autor zusammen mit Mitarbeitern seiner Professur in Bern (insbes. Andreas Affolter, Tilman Haug und Nadir Weber) verfasst hat. 4 Vgl. Heinz Schilling, Formung und Gestalt des internationalen Systems in der werdenden Neuzeit – Phasen und bewegende Kräfte, in: Peter Krüger (Hg.), Kontinuität und Wandel in der Staatenordnung der Neuzeit. Beiträge zur Geschichte des internationalen Systems (Marburger Studien zur neueren Geschichte 1), Marburg 1991, S. 19–46. 5 Vgl. ders., Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 2), Paderborn 2007, v. a. S. 23 f. 6 Vgl. Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700– 1785 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 4), Paderborn 1997.

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Duchhardts, für die Untersuchung der inneren Herrschaftsbeziehungen die Infragestellung des Absolutismusbegriffes zu rezipieren.7 In der historischen Forschung sind durchaus auch gewichtige Argumente gegen die Interpretation von 1648 als Epochenjahr im Sinne eines expliziten Wendepunktes hin zu einem System zwischenstaatlicher Interaktion formuliert worden. Während Heinz Duchhardt den Begriff des ‚Westfälischen Systems‘ entschieden ablehnt und wie etwa Winfried Schulze eher nach den Ursprüngen des internationalen Systems vor 1648 sucht,8 wird von anderer Seite betont, dass über 1648 hinaus vorstaatliche Elemente – etwa dynastische oder universalistische Ordnungsvorstellungen sowie personale Netzwerke, welche die Praxis der Diplomatie strukturierten – auch in den Außenbeziehungen von größter Bedeutung blieben.9 Hillard von Thiessen hat deshalb die Frage aufgeworfen, ob statt des Bruchs von 1648 eine Diplomatie vom ‚type ancien‘ als epochenspezifische Form frühneuzeitlicher Diplomatie, gebunden an die höfische Gesellschaft, bestand.10 Wie von verschiedener Seite unterstrichen worden ist, belegen die andauernden Kontroversen über den diplomatischen Rang der Herrscher und ihrer Repräsentanten, dass die Außenbeziehungen über 1648 hinaus nach komplexen Vorstellungen der Unter- und Überordnung strukturiert blieben, die den internen Hierarchien von Ständen und Körperschaften entsprachen und insbesondere im diplomatischen Zeremoniell abgebildet wurden. War 7 Vgl. ders., Absolutismus – Abschied von einem Epochenbegriff ?, in: Historische Zeitschrift 258, 1994, S. 113–122. 8 Vgl. ders., „Westphalian System“. Zur Problematik einer Denkfigur, in: Historische Zeitschrift 269, 1999, S. 305–315; vgl. Winfried Schulze, Dimensionen der europäischen Außenpolitik zur Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, in: Friedrich Beiderbeck / Gregor Horstkemper / Winfried Schulze (Hgg.), Dimensionen der europäischen Außenpolitik zur Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert (Innovationen 10), Berlin 2003, S. 9–33, hier S. 23 ff. 9 Zur Bedeutung dynastischen Denkens s. den neuen Sammelband von Christoph Kampmann (Hg.), Bourbon – Habsburg – Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700, Köln u. a. 2008. – Unter Ludwig XIV. erfuhr in Frankreich der Imperiumsgedanke, d.h. ein territorial nicht begrenzter, universaler Vormachtsanspruch, noch einmal eine kraftvolle Neubelebung. Dazu etwa Alexandre Yali Haran, Le lys et le globe. Messianisme dynastique et rêve impérial en France à l’aube des temps modernes, Seyssel 2000; Jean-Frédéric Schaub, La France espagnole. Les racines hispaniques de l’absolutisme français, Paris 2003; vgl. Benno Teschke, The Myth of 1648. Class, Geopolitics, and the Making of Modern International Relations, London/New York 2003; Andreas Osiander, Sovereignty, International Relations, and the Westphalian Myth, in: International Organization 55, 2001, S. 251–287; ders., Before the State. Systemic Political Change in the West from the Greeks to the French Revolution, Oxford 2007, S. 450–494. 10 Vgl. Hillard von Thiessen, Diplomatie vom type ancien. Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens, in: ders. / Christian Windler (Hgg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel (Externa 1), Köln u. a. 2010, S. 471–503.

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der Westfälische Friedenskongress ein erster Schritt zu einer völkerrechtlichen Egalisierung und zur Einführung einer neuen zeremoniellen Grammatik der Souveränität, verhalfen demnach doch erst die Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts und schließlich der Wiener Kongress dem Prinzip der Gleichheit souveräner Staaten zum Durchbruch.11 Ein auf die Untersuchung der kommunikativen Praktiken fokussierter Ansatz scheint geeignet, das Repertoire der Einflussnahme und Statussicherung auch im Bereich der Außenbeziehungen in seiner Vielfalt zu untersuchen und die den frühneuzeitlichen Verhältnissen unangemessene Vorstellung einer deutlichen Trennung von Innen- und Außenpolitik aufzubrechen. Im Gegensatz zu rein instrumenteller Verständigung, die auf Eindeutigkeit zielt, lassen Symbole als spezifische Zeichen verbaler, visueller, gegenständlicher oder gestischer Art Spielräume für unterschiedliche Assoziationen und Bedeutungszuschreibungen offen und geben Aufschluss über kollektive Deutungssysteme. Wenn Vertreter einer herkömmlichen Politikgeschichte die große Aufmerksamkeit, die seitens einer Kulturgeschichte des Politischen dem Zeremoniell geschenkt wird, als Ausdruck der beschränkten Aussagekraft eines solchen Ansatzes kritisieren, so zeugt dies von einem Unverständnis dessen, was Politik vor den sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts abzeichnenden Veränderungsprozessen ausmachte. Bei der Konstitution der hierarchisch gedachten inneren Ordnung von Herrschaftsverbänden ebenso wie deren Beziehungen zueinander spielten in der Frühen Neuzeit etwa Sitzordnungen und Titulaturen insofern eine eminent wichtige Rolle, als sie diese Ordnung symbolisch-performativ herstellten und damit Entscheidungshandeln legitimierten. In diese Richtung weisende Erkenntnisse der Hofforschung wurden in der diplomatiehistorischen Forschung bereits etwa von William Roosen aufgenommen,12 haben jedoch durch den Ansatz der symbolischen Kommunikation eine wichtige Vertiefung erfahren. Zu Recht ist aus dem Kreis des Münsteraner Sonderforschungsbereichs nachdrücklich auf den Umstand hingewiesen worden, dass die Bedeutung zeremonieller Akte in den Außenbeziehungen wohl nie größer war als im 17. und 18. Jahrhundert.13 Diese Bedeutung sei wesentlich der Tatsache geschuldet, dass die soziale Praxis der Außenbeziehungen gegenüber den Souverä11 Diese Position z. B. in Marc Belissa, Repenser l’ordre européen 1795–1802, Paris 2006; Christian Windler, La diplomatie comme expérience de l’Autre. Consuls français au Maghreb (1700–1840) (Bibliothèque des Lumières 60), Genf 2002. 12 Vgl. William Roosen, Early Modern Diplomatic Ceremonial. A Systems Approach, in: Journal of Modern History 52, 1980, S. 452–476. 13 So etwa Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider (wie Anm. 1), S. 152–154.

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nitätsdefinitionen der politischen Theorie zunächst in beträchtlichem Maße resistent blieb und sich der Status der Akteure vor der Umbruchszeit um 1800 sowohl in Kategorien ständischen Ranges als auch in jener völkerrechtlicher Souveränität definieren ließ, verschiedene Normsysteme also nebeneinander standen und miteinander konkurrierten.14 Diplomatie vollzog sich, wie dies etwa André Krischer unterstreicht, „nicht zwischen Staaten, sondern zwischen ‚souveränen, oder ihnen gleich geltenden Personen‘, nicht innerhalb eines abstrakten internationalen Systems, sondern innerhalb der Fürstengesellschaft“.15 Dies bedeutet, dass bis zu den atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts nicht so sehr die Paritätsdefinitionen der Völkerrechtslehre, sondern vielmehr die Hierarchien einer ständisch verfassten Gesellschaft die Praxis der Außenbeziehungen bestimmten. Die daraus resultierende Normenkonkurrenz im Bereich der Außenbeziehungen entsprach ähnlichen Verhältnissen in der inneren Verfassung der miteinander in Beziehung tretenden Herrschaftsverbände; dem Absolutheitsanspruch fürstlicher Herrschaft standen auch hier konkurrierende Statusansprüche etwa von hochadligen Verwandtschaftsverbänden, Ständeversammlungen oder Kommunen gegenüber, die im Herrschaftsalltag in der Kommunikation unter Anwesenden gegeneinander austariert wurden. Entgegen Vorstellungen von einem ‚Westfälischen System‘ von Staaten, die sich mit gleichen Rechten gegenüber getreten seien, waren sich auch jene, die zwischen 1648 und 1800 als ‚Souveräne‘ gelten konnten, in der diplomatischen Praxis keineswegs gleich. Souveränität trat in der diplomatischen Praxis nicht als eine absolute Größe – ausgehend von einem klar bestimmbaren Gegensatz zwischen den untereinander gleichgestellten Souveränen einerseits und den Untertanen andererseits – in Erscheinung, sondern behielt noch relationale Züge, die im Alltag auszuhandeln waren. Krischer hat diesbezüglich zu Recht unterstrichen, dass „völkerrechtliche Souveränität […] in der frühneuzeitlichen Praxis – nicht in der politischen Theorie – an das Gewicht der ständischen Würde gebunden“ war.16 „Die königliche Majestät“, die im Zeremoniell „durch ein buchstäblich majestätisches Auftreten […] visualisiert“ wurde, habe 14 Vgl. André Krischer, Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, S. 25–26. 15 Vgl. ders., Das diplomatische Zeremoniell der Reichsstädte, oder: Was heißt Stadtfreiheit in der Fürstengesellschaft, in: Historische Zeitschrift 284, 2007, S. 1–30, hier S. 4. – Krischer nimmt ausdrücklich Bezug auf Lucien Bélys Begriff der ‚Fürstengesellschaft’ (société des princes). Im Gegensatz zu diesem französischen Historiker zieht er aus dem sinnvollen Konzept auch die sich aufdrängenden Konsequenzen im Hinblick auf die Verwendung von Begriffen wie ‚Souverän‘/ ‚souverain‘, ‚Staat‘/‚État‘ oder ‚international‘; vgl. Lucien Bély, La société des princes. XVIe– XVIIIe siècles, Paris 2000. 16 Krischer, Zeremoniell (wie Anm. 15), S. 5.

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das „Höchstmaß an sozialer Schätzung“ verkörpert.17 Was die politische Theorie auszuschließen begann, war in der sozialen Praxis der Außenbeziehungen gang und gäbe: Ein Herrscher konnte mehr oder weniger an jener sozialen Wertschätzung teilhaben, die Souveränität ausmachte. Konstitutiv für die Bestimmung des sozialen Status der Akteure war deshalb die Beziehungspraxis. Dies erklärt die Bedeutung, welche die Akteure selbst dem Zeremoniell beimaßen, ebenso wie das Interesse, welches die zeremonielle Praxis als Zugang zu einem Verständnis politischer Kultur im 17. und 18. Jahrhundert verdient. Souveränität sei in der diplomatischen Praxis des 17. und 18. Jahrhunderts das Zeichen eines besonders hohen Status, „nicht aber das alleinige Zulassungskriterium [zur Teilhabe an Außenbeziehungen; C. W.] wie in der Moderne“. Wenn vormoderne Völkerrechtspraxis mit Krischer als ‚soziale Statuspolitik‘ gedeutet wird, rücken zeremonielle Akte, die ‚soziale Schätzung‘ vermittelten, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.18 Für die Außenbeziehungen wie für die inneren Herrschaftsbeziehungen gilt, dass zeremonielle Praktiken, wie dies Barbara Stollberg-Rilinger gezeigt hat, Ordnung nicht bloß abbildeten, sondern vielmehr in actu, in der Kommunikation zwischen Anwesenden, symbolisch-performativ erst herstellten.19 Damit solche Akte über den Augenblick hinaus wirkten, mussten sie in Text und Bild festgehalten und sichtbar gemacht werden. Dementsprechend war die Konkurrenz um die soziale Anerkennung völkerrechtlicher Souveränität auch von einer wachsenden Bildproduktion begleitet, die den Status der Fürsten und jenen ihrer Repräsentanten festhalten sollte, welche sich auch über die Kunst als diplomatische Elite konstituierten. Wie Dorothee Linnemann mit ihrem laufenden Projekt über „Das europäische Gesandtschaftswesen des 17. und 18. Jahrhunderts in der Kunst“ bereits zeigen konnte, war Kunst dabei nicht bloßes Abbild für die Abwesenden, sondern selbst ein für die Konstituierung von Rang und Status wichtiges Medium politischer Kommunikation.20 Die Bedeutung, welche insbesondere von französischer Seite gerade der Visualisierung zeremonieller Praxis in den Beziehungen mit der Hohen Pforte beigemessen wurde, dürfte 17 Ebd., S. 6. 18 Vgl. ebd., S. 29. 19 Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Kunisch (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 19), Berlin 1997, S. 91–132, v. a. S. 91–96. 20 Dorothee Linnemann, Visualising ‚State-Building‘ in European-Ottoman Diplomatic Relations. Visual Ceremonial Descriptions and Conflicting Concepts of Early Modern Governance in the Late 17th and early 18th Centuries, in: Antje Flüchter / Susan Richter (Hgg.), Structures on the Move. Technologies of Governance in Transcultural Encounters between Asia and Europe (16th–20th century), Heidelberg 2012, S. 1–20.

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auch darin begründet gewesen sein, dass dort reelle Aussichten bestanden, mit der Anerkennung eines kaisergleichen Status eine Rangerhöhung zu erhalten, was der Wiener Hof mit der Entsendung von Vertretern (‚Internuntien‘) beantwortete, die aufgrund ihres niedrigeren Ranges keinen Vorrang beanspruchen konnten. Dem Zweck der Rangerhöhung dienten nicht nur Kunstwerke, welche zeremonielle Praxis visualisierten, sondern etwa auch prestigebeladene Geschenke, die in den Außenbeziehungen ausgetauscht wurden und als stille Zeugen des Ranges der Schenkenden und der Beschenkten weit über den Schenkungsakt hinaus wirken konnten.21 Nach einem Grad an sozialer Wertschätzung, der völkerrechtlicher Souveränität näher, wenn auch nicht gleich kam, meinten im 17. und 18. Jahrhundert auch noch Akteure streben zu können, die nach den Definitionen der politischen Theorie nicht souverän waren. Wirklich eindeutige Abgrenzungen kannte die Diplomatie des 17. und 18. Jahrhunderts André Krischer zufolge bloß gegenüber dem ‚gemeinen Volk‘, indem das Zeremoniell „als ein Handlungssystem“ etabliert wurde, „das nur adlige Akteure zuließ“.22 In seinen Überlegungen zum diplomatischen Zeremoniell der Reichsstädte hat Krischer zu Recht zwischen der „maximalen Bedeutung des diplomatischen Zeremoniells“, der gegenseitigen Anerkennung als „souverän“, einerseits und seiner „minimalen Bedeutung“ als „Zeichen der Freiheit“, das heißt der Abgrenzung von den Untertanen, andererseits unterschieden.23 Zu letzterer gehörte, dass Reichsstädte an reichsfürstlichen Höfen ein Zeremoniell ‚ertauschten‘, das sie adligen Herrschaftsträgern, nicht jedoch Souveränen mit entsprechenden völkerrechtlichen Ansprüchen gleichstellte.24 Von besonderer Bedeutung war die Konstitution von Rang in der zeremoniellen Interaktion also gerade für Akteure, deren völkerrechtliche Souveränität umstritten war. Während sich die unzweifelhaft als souverän anerkannten Potentaten im 18. Jahrhundert nach Maßgabe ihrer Interessen teilweise „von der Last der Rangsymbolik befreiten“, behielt „exakteste Statusrepräsentation“ 21 Aus dieser Perspektive zu den Schenkungen fremder Gesandter an kirchliche Institutionen in den katholischen Orten der Eidgenossenschaft: Christian Windler, ‚Allerchristlichste‘ und ‚katholische Könige‘. Verflechtung und dynastische Propaganda in kirchlichen Räumen (Katholische Orte der Eidgenossenschaft, spätes 16. bis frühes 18. Jahrhundert), in: Zeitschrift für Historische Forschung 33, 2006, S. 585–629. 22 Krischer, Zeremoniell (wie Anm. 15), S. 8. 23 Ebd., S. 19; vgl. ders., Reichsstädte (wie Anm. 14), S. 89–105. 24 Vgl. Krischer, Zeremoniell (wie Anm. 15), S. 20–25; ders., Reichsstädte (wie Anm. 14), S. 201–273, – Krischer widerlegt überzeugend die Sicht der Reichsstädte als republikanische Gegenwelten zu Fürstenherrschaft und Monarchie, wie sie Peter Blickle mit seinem Kommunalismuskonzept vertreten hatte (Peter Blickle, Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, 2 Bde., München 2000). Dazu Krischer, Reichsstädte (wie Anm. 14), S. 18–21 und S. 369.

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im Reichskontext ihre Bedeutung, wie Barbara Stollberg-Rilinger gezeigt hat.25 Statt nur mit den besser bekannten Zeremonialstreitigkeiten zwischen den großen Monarchien – etwa der Frage der Präzedenz des Allerchristlichsten beziehungsweise des Katholischen Königs – haben sich die Kollegen aus Münster deshalb ebenso sehr mit der zeremoniellen Praxis subalterner Akteure beschäftigt – Reichsstädte in der Fürstengesellschaft des Heiligen Römischen Reiches bei André Krischer,26 Hansestädte in ihren Beziehungen zum spanischen und russischen Hof bei Thomas Weller.27 Krischer hat in seiner Dissertation gezeigt, wie die Reichsstädte eine Form der Teilnahme an Außenbeziehungen gewannen, die eben „nicht allein durch rechtliche, sondern durch soziale Kriterien“ – nämlich den adligen oder adelsgleichen Status – definiert wurde.28 Mit den Bemühungen, in der Praxis ihrer Beziehungen mit Reichsfürsten ihren adelsgleichen Status zu bestätigen, gingen die Reichsstädte gegen die Tendenz an, ihren Status entlang der Scheidelinie zwischen Souveränität und Untertanenschaft zu bestimmen.29 Dementsprechend war die Teilhabe der Reichsstädte an Außenbeziehungen an den Fortbestand einer ständischen Gesellschaftsordnung gebunden und wurde zusammen mit letzterer in der Umbruchszeit um 1800 grundsätzlich in Frage gestellt. Während die hanseatischen Bemühungen um Statussicherung am russischen Hof enttäuschend verliefen, gelang es einer Gesandtschaft der Hanse nach Madrid 1607, im Namen des gesamten Städtebundes einen Vertrag mit Philipp III. abzuschließen. Da die Anerkennung der Hanse als selbstständiger Akteur in den europäischen Mächtebeziehungen keineswegs gegeben war, bedeutete dies nicht nur in der Sache – Handelserleichterungen, Entschädigungen für beschlagnahmte Schiffe, Zulassung eines ständigen Konsuls in Lissabon und eines Agenten in Madrid –, sondern auch mit Blick auf den Status 25 Vgl. Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider (wie Anm. 1), S. 311. – Es mag nicht überraschen, dass die zumindest temporäre Suspendierung des Zeremoniells, wie Niels F. May aufzeigt, im Kreis der Bevollmächtigten von unbestrittenermaßen souveränen Fürsten an den Friedenskongressen des späten 17. Jahrhunderts einsetzte. Dazu Niels F. May, Zeremoniell in vergleichender Perspektive. Die Verhandlungen in Münster/Osnabrück, Nijmegen und Rijswijk (1643–1697), in: Christoph Kampmann u. a. (Hg.), L’art de la paix (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte 34), Münster 2011, S. 261–279. 26 Vgl. Krischer, Reichsstädte (wie Anm. 14). 27 Vgl. vorläufig Weller, Andere Länder (wie Anm. 2), und ders., Städtisches Selbstverständnis und frühneuzeitliche Diplomatie. Fremdes und Eigenes in den Berichten über die hansischen Gesandtschaften nach Moskau (1603) und Madrid (1606), in: Sünje Prühlen / Lucie Kuhse / Jürgen Sarnowsky (Hgg.), Der Blick auf sich und die anderen. Selbst- und Fremdbild von Frauen und Männern in Mittelalter und früher Neuzeit. Festschrift für Klaus Arnold (Nova Mediaevalia 2), Göttingen 2007, S. 349–377. 28 Krischer, Zeremoniell (wie Anm. 15), S. 27; vgl. ders., Reichsstädte (wie Anm. 14). 29 Krischer, Zeremoniell (wie Anm. 15), S. 28.

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des Städtebundes als selbstständiger Akteur einen beträchtlichen Erfolg, wie Weller gezeigt hat.30 Dementsprechend suchte der an der Gesandtschaft beteiligte Lübecker Ratsherr mit seiner Beschreibung der zeremoniellen Ehrenbezeugungen den Eindruck zu erwecken, man sei am Madrider Hof mit dem gleichen Traktament und den gleichen Ehren empfangen worden, die sonst Gesandten eines fremden Königs gewährt wurden. Dabei hatte im Vorfeld der Gesandtschaft von 1607 der kaiserliche Gesandte in Madrid der Hanse das Gesandtschaftsrecht und damit deren implizite völkerrechtliche Anerkennung bestritten; während der Hinreise waren die Gesandten dementsprechend bei einem Aufenthalt in Brüssel von Erzherzog Albrecht zunächst als Vertreter der Kaufleute der Hanse angeschrieben worden. Wenn, wie Weller aufzeigt, die Wahrnehmung Spaniens als eines fremden Landes ganz durch diese Beschreibung der zeremoniellen Akte verdrängt wurde, so lag dies am prekären Status der hanseatischen Gesandten als Kaufleute und als Vertreter von Städten.31 Bezeichnenderweise diente der antispanische Diskurs der ‚schwarzen Legende‘ nicht als Grundraster für die Wahrnehmung kultureller Alterität, galt die Aufmerksamkeit doch nicht der Erläuterung eines als fremdartig wahrgenommenen spanischen Zeichensystems als vielmehr der genauen Beschreibung von Handlungen, welche die Gesandten transterritorial für verständlich und deshalb zur Erhöhung des eigenen symbolischen Kapitals für geeignet hielten.32 Gesandtschaftsberichte können damit als Zeugnisse für die Herausbildung einer „gemeinsamen zeremoniellen Sprache“33 aufgefasst werden, die in dem sozialen Milieu, zu dem sich die Gesandten zählten, transkonfessionell und transterritorial verstanden wurde.

II. Symbolische Kommunikation im Kontext interkultureller Außenbeziehungen In Beziehungen, die über Europa hinausführten, war die Wahrscheinlichkeit weitaus größer, dass Gesten nicht oder falsch verstanden oder von den Akteuren mit unterschiedlichen Sinngehalten gefüllt wurden. Dies schuf einerseits 30 Vgl. Weller, Städtisches Selbstverständnis (wie Anm. 27), S. 369. 31 Vgl. ebd., S. 370–377. 32 Vgl. Weller, Andere Länder (wie Anm. 2), S. 41–55. 33 Vgl. André Krischer, Souveränität als sozialer Status: Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit, in: Ralph Kauz / Giorgio Rota / Jan Paul Niederkorn (Hgg.), Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit (Sitzungsberichte/Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 796), Wien 2009, S. 1–32, hier S. 3–4, vgl. S. 7–8.

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die Gefahr von Missverständnissen, andererseits war damit Raum geboten für abweichende Interpretationen der jeweils an der Interaktion Beteiligten, die auf diese Weise ihr Gesicht wahren und damit überhaupt erst beiderseits akzeptable Beziehungen unterhalten konnten, wie der Verfasser dieses Beitrags in einer Studie über die französischen Konsuln im Maghreb aufgezeigt hat.34 Diesbezüglich manifestierte sich allerdings in der Zeit um 1800 in Abhängigkeit von den innereuropäischen soziokulturellen Veränderungen und vom Wandel der globalen politisch-militärischen und ökonomischen Kräfteverhältnisse eine deutliche Tendenz der europäischen Akteure, die eigenen Interpretationen für allgemeinverbindlich zu halten, was von nichteuropäischen Akteuren seither in zunehmendem Maße hingenommen werden musste. In Analogie zum Nebeneinander von völkerrechtlichen Souveränitätsund ständischen Statusansprüchen in den innereuropäischen Beziehungen traten bis ins 18. Jahrhundert in den Beziehungen zwischen nichteuropäischen und europäischen Akteuren die Souveränitätsdefinitionen der europäischen politischen Theorie selbst im Verständnis der europäischen Vertreter hinter der Festlegung des auf dem Kapital der Ehre beruhenden Status der Akteure in der Interaktion zurück. Dies zeigt im Kontext des Münsteraner Sonderforschungsbereichs insbesondere das Dissertationsprojekt von Christina Brauner über „Symbolische Interaktionen im interkulturellen Kontext: Das Beispiel Westafrika, 17.-18. Jahrhundert“ auf. Die Vertreter europäischer Handelsgesellschaften im Reich der Fante im Bereich des heutigen Ghana gebrauchten im 18. Jahrhundert kontextabhängig und interessengeleitet monarchische oder republikanische Begrifflichkeiten, mit denen die ebenfalls situativ unterschiedliche Zuschreibung von ‚Unabhängigkeit‘ und ‚Souveränität‘ einherging. Zwar betrachteten Engländer und Franzosen das ihnen zuteil gewordene Zeremoniell von Empfängen und Audienzen als ein symbolisches Kapital im Konkurrenzkampf, den sie untereinander ausfochten. Allerdings war die zeremonielle Praxis noch so wenig formalisiert, dass selbst etwa beim Gebrauch von Flaggen, welche die Europäer als Hoheitszeichen betrachteten, die Bedeutungen ambivalent blieben.35 Rituale, die von den Akteuren je nach dem Kontext und den Adressaten ihrer Berichte unterschiedlich ausgedeutet werden konnten, definierten in in34 Vgl. Windler, La diplomatie (wie Anm. 11) , S. 427–459, S. 491–500 und S. 517–545, über Zeremoniell und Gabenpraktiken. 35 Vgl. Christina Brauner, Beim König von Anomabo. Audienzen an der westafrikanischen Goldküste als Schauplatz afrikanischer Politik und europäischer Konkurrenz (1751/2), in: Peter Burschel / Christine Vogel (Hgg.), Die Audienz. Ritualisierter Kulturkontakt in der Frühen Neuzeit, vorauss. Köln u. a. 2013 [in Vorbereitung].

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terkulturellen Kontexten die Beziehungsverhältnisse auf eine Art und Weise, die den unterschiedlichen normativen Voraussetzungen entgegen kam. Während etwa von maghrebinischer Seite die Geschenke der Vertreter europäischer Mächte in Algier, Tunis und Tripolis als Tribute eingefordert wurden, strebten vor allem die französischen und britischen Konsuln bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts danach, ihren Gaben einen agonistischen Gehalt zu geben, der die Überlegenheit des Schenkenden manifestierte und nach Gegengaben verlangte.36 Wie sehr die Anerkennung als ‚souverän‘ bis um 1800 in actu symbolischperformativ erfolgte, erweist sich ähnlich wie im Kontext des Alten Reiches oder der Beziehungen mit Herrschaftsverbänden an der westafrikanischen Küste auch in der Praxis der Beziehungen, die europäische Mächte mit den osmanischen Regentschaften im Maghreb unterhielten. Obwohl diese im weiteren Sinne Teile des Osmanischen Reiches waren, hatten verschiedene europäische Mächte Algier, Tunis und Tripolis seit dem 17. Jahrhundert als quasi-souveräne Akteure behandelt, mit denen sie Verträge abschlossen, die de iure neben die Kapitulationen der Pforte und de facto an deren Stelle traten. Bei der Beschreibung der politischen Ordnung der Regentschaft Tunis war kontextabhängig die Rede von einer ‚république‘ oder einem ‚royaume‘, wobei der Begriff ‚république‘ vor der Revolution auf den illegitimen Einsatz der Machtmittel im Kontext des mediterranen Korsarenwesens verwies, ‚royaume‘ hingegen die Ehrenfähigkeit eines quasi-souveränen Akteurs bezeichnete. Dementsprechend bezeichneten die französischen Konsuln im Zuge der fortschreitenden Verrechtlichung der Beziehungen im Laufe des 18. Jahrhunderts die Regentschaft immer ausschließlicher als ‚royaume‘.37 Die Französische Revolution setzte dieser Tendenz zur monarchischen ‚Normalisierung‘ ein abruptes Ende: Während der in Frankreich nunmehr positiv gefasste Republikbegriff nicht mehr angemessen schien, bezog sich die bereits im 18. Jahrhundert gebrauchte Bezeichnung als ‚régences‘ nun auf die Einschränkung ihrer Souveränität als von der Hohen Pforte abhängigen Entitäten.38 Demgegenüber waren Konsuln und andere Praktiker der Diplomatie im 18. Jahrhundert bereit gewesen, die Regentschaften trotz deren Bindungen zur Hohen Pforte als quasi-souveräne Partner in einem Netzwerk transmediterraner Rechtsbeziehungen zu betrachten. So klagte 1773 der französische Konsul in Tunis, die Russen hätten sich während des russisch-osmanischen Krieges geweigert, die in tunesischem und algerischem Besitz befindliche La36 Vgl. Windler, La diplomatie (wie Anm. 11), S. 491–500. 37 Vgl. ebd., S. 259–264. 38 Vgl. ebd., S. 264–266.

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dung eines französischen Schiffes herauszugeben, „obgleich sie doch nicht im Kriegszustand mit den Fürsten des Maghreb stehen, von denen sie wissen sollten, dass sie von der Pforte unabhängig und wie diese den Regeln unterworfen sind, welche die souveränen und wohlgeordneten Staaten unter sich festgelegt haben und beachten.“39 Wie in der innereuropäischen Beziehungspraxis setzte sich auch in der Praxis der transmediterranen Beziehungen das eindeutig gefasste Souveränitätskonzept der politischen Theorie erst in der Umbruchszeit um 1800 durch. Umso wichtiger waren bis dahin auch hier jene Akte gewesen, die den Status der Akteure symbolisch-performativ bestimmten. Neben den Praktiken von Tribut und Gabe ist in diesem Zusammenhang auch das Zeremoniell der Audienzen zu erwähnen: Der Verweigerung des Kotau gegenüber dem chinesischen Kaiser durch den britischen Gesandten Macartney 1793 entsprach in Tunis die Infragestellung des Handkusses, den der Bey von den Konsuln der verschiedenen christlichen ‚Nationen‘ als Zeichen ihrer Unterlegenheit als Schutzbefohlene eingefordert hatte.40 Der Blick auf Akteure am Rand des Systems europäischer Mächtebeziehungen bestätigt also die Tragweite der Veränderungen in der Zeit um 1800, die Zusammenhänge zwischen der Infragestellung der ständischen Gesellschaftsordnung einerseits und der praktischen Festlegung auf die Paritätsdefinitionen, wie sie in der Völkerrechtstheorie schon seit dem 17. Jahrhundert formuliert worden waren, andererseits. Diese Veränderungen wirkten sich tiefgreifend auf die zeremonielle Praxis aus, die sich seit der Zeit um 1800 mehr und mehr von der persönlichen sozialen Schätzung der Akteure löste, um stattdessen die Form der Inklusion in die Staatengemeinschaft auszudrücken.41 Damit verbunden war allerdings ein Bedeutungsverlust des Zeremoniells, dessen Aussagen über die Mächtebeziehungen sich nun jenen der Völkerrechtstheorie annäherten.

III. Rollenvielfalt und Normenkonkurrenz Die Konkurrenz und situative Konfluenz der mit den unterschiedlichen Rollen der Akteure und hier insbesondere der Gesandten verbundenen Norm39 Barthélémy de Saizieu, Konsul, an Bourgeois de Boynes, secrétaire d’État de la Marine, Tunis, 15.1.1773: „[…] malgré qu’ils n’aient pas d’action ni de guerre déclarée avec les princes de Barbarie, qu’ils savent être indépendants de la Porte, et susceptibles comme elle des règles que les États souverains et policés ont établis, et observent entre eux“ (Archives Nationales, Paris, AE BI 1145, fol. 15v). 40 Vgl. Windler, La diplomatie (wie Anm. 11), S. 408–409 und S. 432–438. 41 So Krischer, Souveränität (wie Anm. 33), S. 30–31.

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systeme aufzuzeigen, gehört zu den zentralen Herausforderungen einer aus der Sozial- und Kulturgeschichte heraus erneuerten Geschichte frühneuzeitlicher Außenbeziehungen. Sie wurde zuerst von Historikern angenommen, die Außenbeziehungen im Anschluss an die Netzwerkanalyse und an Wolfgang Reinhards Verflechtungsansatz untersuchten. Rollenvielfalt und Normenkonkurrenz gehören zu den Charakteristika der Diplomatie vom ‚type ancien‘, wie Hillard von Thiessen kürzlich in einer Studie über die spanisch-römischen Beziehungen im frühen 17. Jahrhundert aufgezeigt hat.42 Im Bereich der Außenbeziehungen waren solche Überlegungen ansatzweise bereits etwa in älteren Arbeiten über die britischen family embassies angelegt gewesen, deren Angehörige bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts der persönlichen Autorität des Gesandten als Hausherrn unterstanden.43 In seiner Studie über die französischen Konsuln im Maghreb hat der Verfasser dieses Beitrages gezeigt, wie ein Konsul noch im frühen 19. Jahrhundert sein Konsulat als eine affaire de famille betrachten konnte, bei der ‚öffentlicher Dienst‘ und ‚öffentliches Interesse‘ einerseits und Privatsphäre andererseits nicht eindeutig voneinander geschieden waren, was sich beispielsweise in der Archivierungspraxis ausdrückte. Bei der Rekrutierung des konsularischen Personals blieben verwandtschaftliche Bindungen von großer Bedeutung. In den 1820er Jahren konnte ein ehemaliger französischer Generalkonsul weiterhin „das Erbe seiner langen Dienste“ („l’héritage de [ses] longs services“) als wichtiges Argument für die Bevorzugung eines seiner Söhne verstehen.44 In den Beziehungen der Konsuln zu ihren Vorgesetzten interagierten die bürokratischen Normen der „Ordonnances de Marine“ von 1691 und 1781 mit den Normen personaler Verflechtung – Patronage, Freundschaft, Verwandtschaft und Landsmannschaft.45 Auf die Bedeutung von Rollenvielfalt und Normenkonkurrenz in den Beziehungen des französischen Hofes zu den geistlichen Kurfürsten verweist die im Druck befindliche Berner Dissertation von Tilman Haug.46 Dank der Arbeiten aus dem Kreis des Münsteraner Sonderforschungsbereichs tritt der Ansatz der symbolischen Kommunikation in einen fruchtbaren Dialog mit solchen Überlegungen. 42 Vgl. Hillard von Thiessen, Diplomatie und Patronage. Die spanisch-römischen Beziehungen 1605–1621 in akteurszentrierter Perspektive (Frühneuzeit-Forschungen 16), Epfendorf 2010. 43 Vgl. Raymond A. Jones, The British Diplomatic Service, 1815–1914, Gerrards Cross 1983, S. 49–96. 44 Windler, La diplomatie (wie Anm. 11), S. 40 und S. 46–68. 45 Vgl. ebd., S. 75–107. 46 Vgl. Tilman Haug, ‚Amis et serviteurs du Roi‘. Asymmetrische Außenbeziehungen und grenzüberschreitende Patronage zwischen der französischen Krone und den geistlichen Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches 1648–1679, unveröffentlichte Dissertation, Universität Bern, 2012.

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Mit der Persistenz ständischer Ordnungsvorstellungen auch in den Außenbeziehungen, wie sie die Untersuchung der zeremoniellen Praxis dokumentiert, korrespondierte die Rollenvielfalt der Gesandten. In seiner Dissertation über den Kongress von Nimwegen zeigt Matthias Köhler, was der Umstand, dass die Gesandten immer zugleich ministres publics und honnêtes hommes waren, für die Verhandlungsprozesse an einem Friedenskongress bedeutete. Im Anschluss an die Netzwerkforschung und die Forschungen zur Ökonomie des sozialen Kapitals rekonstruiert er die Verwurzelung der Gesandten und der von diesen praktizierten politischen Verfahren in der frühneuzeitlichen Adelskultur, die Wechselwirkungen zwischen dem adligen Fürstendienst und den Rollen der Gesandten als Familienoberhäupter, Patrone oder Klienten. Methodisch geht es ihm darum, die gesellschaftlichen Strukturen, in welche die Gesandten eingebettet waren, aus der Perspektive ihres Handelns zu untersuchen. Köhler fragt danach, wie die Rollen und Bindungen, in denen die Gesandten agierten, am Friedenskongress zusammenwirkten und wie sie in diesem Rahmen ihre Identität als Adlige performativ vollzogen und symbolisches Kapital als honnêtes hommes erwarben.47 Rollenvielfalt und Normenkonkurrenz charakterisierten die Kongressdiplomatie. In der Kongresspraxis standen die Rollen als ministres publics und honnêtes hommes in einem wechselnden Verhältnis zueinander. Mochte die demonstrative Verausgabung im Dienste des Friedens unter bestimmten Umständen sowohl den Interessen der Prinzipale als auch der Pflege des ständischen Ranges dienen, so löste sich das Interesse an einer Erhöhung des Repräsentationsaufwandes gelegentlich auch von der Rolle als ministres publics. Dementsprechend zeigte der französische Hof ein Interesse daran, dass das Gefolge der Botschafter am Kongress in Nimwegen nicht beschränkt würde, weil sonst die Größe der französischen Krone nicht mehr zur Geltung gebracht werden könne. Gelegentlich musste dieses Interesse allerdings hinter der Sorge um die Finanzen zurücktreten, was der Bereitschaft, einer von den Gesandten begehrten Erhöhung des Repräsentationsaufwandes stattzugeben, im Weg stehen konnte.48 Die Tatsache, dass das Gesandtschaftswesen „nicht vollständig als Staatsdienst im Sinne organisierter Bürokratie“ begreifbar war, wird insbesondere durch den Umstand belegt, dass die Rollen als ministres publics und honnêtes hommes hinsichtlich der Haushaltsführung nicht voneinander getrennt waren. Wie Hillard von Thiessen unterstreicht auch Köhler, dass die Gesandten 47 Vgl. Matthias Köhler, Strategie und Symbolik. Verhandeln auf dem Kongress von Nimwegen (Externa 3), Köln u. a. 2011, S. 159–285, insbes. S. 169–174. 48 Vgl. ebd., S. 177–196.

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in ihrer Beziehung zu den Prinzipalen im Kontext einer Gabentauschökonomie agierten. Nur so ist das Missverhältnis zwischen der Bezahlung als ministres publics und den im Rahmen der Gesandtschaft getätigten Ausgaben zu verstehen, das die Gesandten vor große finanzielle Probleme stellte. Als Adlige suchten die Gesandten – anders als Beamte – nicht das unmittelbar an ihre Tätigkeit gebundene Gehalt, sondern längerfristig die Mehrung ihres sozialen, ökonomischen und symbolischen Kapitals.49 Charakteristisch für das Gesandtenwesen des 17. Jahrhunderts war, dass die Gesandten zwischen ihren Rollen als ministres publics und honnêtes hommes changierten und dabei Bindungen eingingen, die dem exklusiven Gabentauschverhältnis mit dem Fürsten widersprechen konnten. Aus der Vielfalt der Rollen resultierte also eine Normenkonkurrenz. Gelegentlich prallten die Ansprüche der Familienräson und jene des Fürstendienstes schroff aufeinander. So wie etwa der Nuntius am Hof in Madrid in Ressourcenkonkurrenz zur Papstfamilie treten mochte, stellte der spanische Botschafter in Rom zuweilen die Interessen seiner Familie über jene seines Königs oder des Günstlingministers. Dies war zum Beispiel dann der Fall, wenn ein Botschafter in Rom ohne Ermächtigung durch den König den Papst um die Erhebung eines Verwandten ins Kardinalat ersuchte und auf diese Weise in eine Prärogative des Königs eingriff und zugleich mit dem Günstlingminister um die päpstliche Patronage konkurrierte.50 Die Möglichkeit, unter ‚Freunden‘ und nicht bloß unter ministres publics zu kommunizieren, eröffnete allerdings auch eine Vielzahl zusätzlicher Handlungsoptionen, wie Köhler gezeigt hat. Vielfach erwies es sich als vorteilhaft, den Modus informellen Handelns als honnêtes hommes zu makropolitischen Zwecken zu nutzen; so konnte der Modus der Konversation unter honnêtes hommes beispielsweise dazu dienen, Verhandlungsangebote zu sondieren, weil die Prinzipale in diesem Fall von der unmittelbaren Verantwortung für die Äußerungen der Gesandten entlastet waren. Die Verknüpfung persönlicher Bindungen und der Rolle als ministres publics war je nach Situation unterschiedlich zu beurteilen. Während die Beziehungen des französischen Gesandten d’Estrades in den Niederlanden, die auf seine langjährige frühere Tätigkeit in den Vereinigten Provinzen zurückgingen, im Lichte der Verhandlungsziele der französischen Krone überwiegend positiv zu beurteilen waren, beeinträchtigte aus der Sicht der französischen Gesandten die enge persön-

49 Vgl. ebd., S. 177–213, insbes. S. 195–197, S. 201–202 und S. 211–213. 50 Vgl. von Thiessen, Diplomatie und Patronage (wie Anm. 42), insbes. S. 172–187.

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liche Bindung des englischen Gesandten Temple an Wilhelm von Oranien dessen Neutralität als ministre public und Mediator.51 Was im Hinblick auf die Rollenvielfalt frühneuzeitlicher Gesandten auch eine Bildanalyse zu leisten vermag, demonstriert Dorothee Linnemann etwa am Beispiel des Gemäldes von Gerard Ter Borch, mit dem dieser Maler den Einzug des niederländischen Gesandten Adriaen de Pauw in die Stadt Münster 1646 im Auftrag eben dieses Gesandten für die Nichtanwesenden festhielt: Es ging dabei – entgegen den gängigen Bildinterpretationen – weniger um die Demonstration der 1648 völkerrechtlich anerkannten Souveränität der Vereinigten Provinzen, sondern vielmehr um die Darstellung de Pauws als Familienoberhaupt, als in der Erfüllung seines Amts erfolgreicher Gesandter und als „sozialer Aufsteiger mit adeligem Standesbewusstsein“.52 In anderen Darstellungen wiederum verbanden sich „adelige Standesdarstellung mit der zeremoniellen Stellvertretung des Monarchen“.53 Indem Linnemann den Blick auf die Zusammenhänge zwischen den Praktiken des Zeremoniells und jenen ihrer bildlichen Darstellung richtet, löst sie die Bildmedien der Friedenskongresse des 17. und frühen 18. Jahrhunderts aus einem eindimensional auf die Entwicklung eines frühmodernen Staatensystems ausgerichteten Erklärungszusammenhang, wie ihn zum Beispiel Hans-Martin Kaulbach und Johannes Burkhardt postuliert haben. Aus der Perspektive der Bildlichkeit von Friedenskongressen bestätigt Linnemann die etwa von Heidrun Kugeler in der Zeit um 1700 und nicht 1648 verorteten Ansätze zu einer Emanzipation des Diplomaten vom Höfling.54

IV. Symbolische und instrumentelle Dimensionen des Handelns Explizit symbolische Handlungen und hier insbesondere die zeremonielle Praxis nehmen in der kulturgeschichtlichen Forschung zur Praxis von Außenbeziehungen und Diplomatie in der Frühen Neuzeit zu Recht einen wichtigen 51 Vgl. Köhler, Strategie und Symbolik (wie Anm. 47), S. 270–278. 52 Dorothee Linnemann, Repraesentatio Majestatis? Zeichenstrategische Personkonzepte von Gesandten im Zeremonialbild des späten 16. und 17. Jahrhunderts, in: Bähr / Burschel / Jancke (Hgg.), Räume des Selbst (wie Anm. 2), S. 57–76 und S. 69–73. 53 Ebd., S. 75. 54 Vgl. Dorothee Linnemann, Die Bildlichkeit von Friedenskongressen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts im Kontext zeitgenössischer Zeremonialdarstellung und diplomatischer Praxis, in: Kauz / Rota / Niederkorn (Hgg.), Diplomatisches Zeremoniell (wie Anm. 33), S. 155– 186.

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Platz ein. Der Blick auf das Zeremoniell als einer explizit symbolischen Handlungsform erweist sich als sinnvoller Zugang gerade auch zu ‚großen‘ Fragen der Geschichte frühneuzeitlicher Außenbeziehungen, etwa jenen nach dem Verhältnis von Völkerrechtstheorie und Statusrepräsentation und nach den Umbruchzeiten der Diplomatie. Anders als dies von Kritikern gelegentlich angenommen und behauptet wird, erschöpft sich das Potential einer Kulturgeschichte des Politischen indessen keineswegs in der Untersuchung von Praktiken, mit denen die Akteure explizit in symbolsprachlicher Form ein Bild der Beziehungen zu vermitteln und Sinn zu stiften suchten. Im Folgenden soll dies ausgehend von den Studien von Matthias Köhler über den Kongress von Nimwegen aufgezeigt werden. Im Anschluss an Krischer unterstreicht er, dass „das geeignete Untersuchungsobjekt für eine erneuerte Diplomatiegeschichte, die weder allein die strategischen Absichten der Beteiligten noch reine Symbolik untersuchen will, […] das Zusammenspiel beider Aspekte, der Logik der Strategie und derjenigen von Kommunikationsprozessen, von Form und Inhalt“ sei.55 Gerade nicht das Zeremoniell, sondern die Verhandlungspraxis steht deshalb im Mittelpunkt von Köhlers Studie, die auf solider Quellengrundlage dem Vorwurf, „neuere Ansätze zur Politikgeschichte übersähen den instrumentellen Kern der Politik, namentlich das Entscheidungshandeln“, entgegentritt.56 Köhler übernimmt dazu von Barbara Stollberg-Rilinger die idealtypische Unterscheidung von symbolischen und instrumentellen Aspekten des Handelns.57 So untersucht er etwa den Gebrauch von Höflichkeit und Unhöflichkeit mit Blick auf die instrumentellen Wirkungen, die solche zunächst dem symbolischen Aspekt des Handelns zuzurechnende Verhaltensformen in den Entscheidungsfindungsprozessen zeitigten. Aufgrund des personalen Charakters der Außenbeziehungen schuf Höflichkeit persönliche Motive für Kooperation, Unhöflichkeit hingegen ebensolche für ein konfrontatives Vor55 Matthias Köhler, Höflichkeit, Strategie und Kommunikation. Friedensverhandlungen an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, in: Gisela Engel u. a. (Hgg.), Konjunkturen der Höflichkeit in der Frühen Neuzeit (Zeitsprünge 13, 3–4), Frankfurt a. M. 2009, S. 379–401, hier S. 380. 56 Köhler, Strategie und Symbolik (wie Anm. 47), S. 8–9. 57 „Instrumentelles Handeln verfolgt einen bestimmten Zweck; symbolisches Handeln stiftet Sinn und erschöpft sich nicht in der Erreichung eines bestimmten Zwecks. Instrumentelles Handeln besteht in der Verfolgung eines bestimmten Zwecks, der außerhalb der Handlung selbst liegt und diese steuert. Der Sinn der symbolisch-expressiven Handlung hingegen liegt schon in dem Vollzug der Handlung selbst. Symbolisch-expressives Handeln weist zeichenhaft über sich selbst hinaus und evoziert eine Vorstellung; es wird verständlich erst vor dem Hintergrund eines kollektiven Bedeutungssystems.“ (Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31, 2004, S. 489–527, hier S. 497–498).

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gehen. Zugleich bot Höflichkeit die Möglichkeit, Erwartungen auf ein gutes Einvernehmen über die konkrete Verhandlungssituation hinaus zu wecken. Demgegenüber konnte Unhöflichkeit dazu dienen, einen Konflikt über einen bestimmten Teilaspekt der Verhandlungen hinaus zu generalisieren. Unhöflichkeit entsprang also keineswegs der Inkompetenz der Unterhändler, sie bestimmte nicht ‚nur‘ symbolisch-performativ das Verhältnis zwischen den Anwesenden. Vielmehr konnte sie durchaus „als zweckmäßiger Teil der Verhandlungen betrachtet werden“. Dies war etwa der Fall, wenn ein Gesandter mit einem gekonnten Zornesausbruch auf Alternativen zu den angestrebten Verhandlungslösungen verwies und so den Abbruch der Verhandlungen als Handlungsoption aufscheinen ließ, ohne sich explizit auf eine solche Drohung festzulegen. Ein wesentlicher Vorzug von Höflichkeit (beziehungsweise Unhöflichkeit) als Form der Kommunikation in Verhandlungen lag also Köhler zufolge darin, aus der Situation heraus mögliche Nachrichten zu vermitteln, deren genauer Inhalt nicht präzisiert wurde: „[D]eren Verbindung zum Inhalt war zwar eng, aber letzten Endes uneindeutig – was gegebenenfalls gerade die besondere Bedeutung höflicher Kommunikation für die Verhandlungen ausmachte.“58 Gegebenenfalls stand der genaue Inhalt gar noch nicht fest: Höflichkeit beziehungsweise Unhöflichkeit wiesen als Formen der Kommunikation auf der Beziehungsebene in ihrer inhaltlichen Uneindeutigkeit über sich selbst hinaus in eine Zukunft, deren Ausgestaltung von der weiteren Interaktion der Beteiligten abhing. Einer der Vorzüge der Herangehensweise von Köhler liegt gewiss darin, diese Ungleichzeitigkeit und Uneindeutigkeit der Kommunikation in Rechnung zu stellen und aufzuzeigen, dass die Formen der Kommunikation auf der Beziehungsebene nicht „verlustfrei in solche auf der Inhaltsebene“ übersetzt werden konnten.59 Demgegenüber beschränkte sich zum Beispiel Lucien Bély in seiner Studie zu Spionen und Botschaftern im Zeitalter Ludwigs XIV. auf eine mehr deskriptive Herangehensweise, welche dazu neigt, die Gesten der Körpersprache bei entsprechender Kenntnis des den Akteuren gemeinsamen höfisch-adligen Codes für unmittelbar auf die Inhaltsebene der Verhandlungen übersetzbar zu halten. Wesentliche Aspekte ihrer Bedeutung in der diplomatischen Praxis bleiben auf diese Weise unerkannt.60

58 Köhler, Höflichkeit (wie Anm. 55), S. 390. Vgl. ders., Strategie und Symbolik (wie Anm. 47), S. 309–342. 59 Köhler, Höflichkeit (wie Anm. 55), S. 399. 60 Vgl. Lucien Bély, Espions et ambassadeurs au temps de Louis XIV, Paris 1990, S. 443–449.

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Während der Gebrauch von Höflichkeit und Unhöflichkeit auf den ersten Blick als symbolisches Handeln identifiziert wird, wird beim Argumentieren zunächst eher der instrumentelle Aspekt wahrgenommen. Ein Blick in die zeitgenössische Traktatliteratur zeigt allerdings, wie sehr diese die soziale Angemessenheit des Argumentierens, mitunter also dessen performative Dimension, betonte. Davon ausgehend zeigt Köhler, dass auch in diesem Fall performative Sinnstiftung und instrumentelle Wirkungen miteinander verknüpft waren, die Akteure ihre Argumente also nicht bloß auf Optionen in einem Bargaining-Prozess bezogen, sondern sich ihrer ebenso dazu bedienten, symbolisch-performativ bestimmte Rollen aufzuführen und zu reproduzieren. Indem die Gesandten Friedenswillen, bonne foi und Vernunft als zentrale Werte der Kongressdiplomatie inszenierten, behaupteten sie ihren eigenen Ruf als ehrbare Verhandlungspartner und griffen zugleich ihre Gegner in der Rolle als vertrauenswürdige Gesandte an, ohne sich unbedingt im Einzelnen mit deren Positionen befassen zu müssen.61 Die Analyse des Verhandelns im Rahmen eines Friedenskongresses zeigt also, dass auch explizit instrumentelles Handeln „soziale Realität performativ hervorbrachte“, das heißt die weiteren Beziehungen der Akteure zueinander bestätigend oder verändernd definierte. Der Ablauf der Verhandlungen wurde wesentlich dadurch bestimmt, dass die Akteure gerade auch mit den instrumentellen Aspekten ihres Handelns mehr oder weniger absichtlich Sinn schufen, etwa wenn sie den Gegner mit der Berufung auf das Ziel der Friedenssicherung zu isolieren suchten.62

V. Fazit Worin liegt nun knapp zusammengefasst der Mehrgewinn des Ansatzes der symbolischen Kommunikation für die Geschichte frühneuzeitlicher Außenbeziehungen? Anders als die älteren, mehr deskriptiven Zugänge zur Geschichte des Zeremoniells leistet die am Ansatz der symbolischen Kommunikation ausgerichtete Untersuchung zeremonieller Interaktion einen grundlegenden Beitrag zu einem vertieften Verständnis des Verhältnisses zwischen den verschiedenen normativen Bezugsgrößen frühneuzeitlicher Diplomatie – Souveränität als völkerrechtlicher Kategorie und zugleich Maß höchster sozialer Würde, also ständischer Statusrepräsentation. Weit über den 61 Vgl. Köhler, Strategie und Symbolik (wie Anm. 47), S. 343–428. 62 Vgl. ebd., S. 7–8.

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Sonderforschungsbereich in Münster hinaus hat der Ansatz gerade in dieser Hinsicht außerordentlich befruchtend gewirkt, auch wenn er gelegentlich mehr anzitiert als rezipiert wird.63 Angemahnt werden könnte hier allerdings auch mit Blick auf die Praxis frühneuzeitlicher Außenbeziehungen die stärkere Berücksichtigung einer Genderperspektive, die in den Arbeiten aus dem Kreis des Sonderforschungsbereichs vernachlässigt wird: Inwiefern waren zeremonielle Praktiken ‚gegendert‘? Konnten Frauen in der höfischen Diplomatie möglicherweise gerade deshalb zuweilen eine wichtige Rolle spielen, weil sie den Regeln der zeremoniellen Interaktion nicht oder in anderer Weise als Männer unterworfen waren?64 In aller Deutlichkeit belegen die Münsteraner Arbeiten die den Prozessen völkerrechtlicher Egalisierung entgegenstehende Wirksamkeit ständischer Ordnungsvorstellungen auch in den Außenbeziehungen des 17. und 18.  Jahrhunderts. Sie bieten damit eine ungleich differenziertere Sicht auf die Praxis frühneuzeitlicher Diplomatie, als dies Arbeiten leisten können, die implizit oder explizit von einem Staatenweltmodell ausgehen, auch wenn sie, wie etwa Lucien Bély, zugleich mit dem zweifellos sinnvolleren Begriff der ‚Fürstengesellschaft‘ (société des princes) operieren.65 Krischers Werk über die Reichsstädte in der Fürstengesellschaft und die Aufsätze von Weller über die Spanienbeziehungen der Hanse zeigen, wie sich der Status von Akteuren veränderte, die, obwohl ihre Souveränität in der politischen Theorie in Zweifel gezogen wurde, dennoch an Außenbeziehungen teilzuhaben suchten und diesen Anspruch teilweise auch erfolgreich in die Praxis umsetzen konnten. In Verbindung mit Brauners Westafrikaprojekt eröffnen sich damit auch neue Perspektiven des Vergleichs mit den Praktiken am Rande des Systems europäischer Mächtebeziehungen. Der strukturelle Wandel, der für die Zeit um 1800 auch in den Beziehungen Frankreichs und anderer europäischer Mächte zu den osmanischen Regentschaften im Maghreb ausgemacht werden kann (ins63 S. die Beiträge in folgendem Sammelband, von denen trotz sehr unterschiedlicher Ausrichtung kaum einer ohne den Verweis auf die Arbeiten von Barbara Stollberg-Rilinger auskommt: Kauz / Rota / Niederkorn (Hgg.), Diplomatisches Zeremoniell (wie Anm. 33). 64 Vgl. etwa Corina Bastian, Verhandeln in Briefen. Frauen in der höfischen Diplomatie des frühen 18. Jahrhunderts (Externa 4), Köln 2013; Eva Kathrin Dade, Madame de Pompadour. Die Mätresse und die Diplomatie (Externa 2), Köln u. a. 2010. 65 In seinem 2007 erschienenen Werk „L’art de la paix en Europe“ bezeichnet Lucien Bély den Begriff „relations ‚internationales‘“ für die Frühe Neuzeit zwar als „ambiguë“, „puisque l’État-nation n’existe pas encore“ (Lucien Bély, L’art de la paix en Europe. Naissance de la diplomatie moderne xvie–xviiie siècle, Paris 2007, S. 27; vgl S. 2–3). Eigentlich müsse man von ‚relations interprincières‘ sprechen, wobei der Begriff ‚prince‘ auf die Souveräne oder Quasi-Souveräne, etwa die Kurfürsten, einzuschränken wäre, oder aber von ‚relations interétatiques‘. Dieser Begriff komme der Wirklichkeit näher, werde jedoch der personalen Dimension königlicher Gewalt nicht gerecht (ebd., S. 27).

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besondere die Verweigerung des bis dahin zuerkannten quasi-souveränen Status), erscheint dank Krischers Studie über den politischen Zeichengebrauch der Reichsstädte in einem neuen Licht. Krischers und Wellers Arbeiten stehen in einem vorteilhaften Kontrast zur Ratlosigkeit der an einem Staatenweltmodell orientierten Außenbeziehungsforschung bei der Bestimmung des Status subalterner, nach Maßgabe der Völkerrechtstheorie nicht souveräner Akteure. Zugleich verdeutlichen sie das heuristische Potential, welches gerade auch die Erforschung der Praxis solcher Akteure mit Blick auf das Verständnis frühneuzeitlicher Außenbeziehungen insgesamt bietet.66 Anders als dies in der Außenwahrnehmung gelegentlich angenommen wird, erschöpft sich der Ansatz der symbolischen Kommunikation keineswegs in der Geschichte zeremonieller Praxis, wie Matthias Köhler in seiner Arbeit über die Verhandlungspraxis am Kongress von Nimwegen überzeugend vorführt. Darüber hinaus hat der Ansatz seine Anschlussfähigkeit zu anderen neueren Ansätzen im Bereich der Geschichte frühneuzeitlicher Außenbeziehungen bewiesen. Mit dem Fokus auf die Formen der Kommunikation bestätigen und ergänzen die Studien aus dem Kreis des Münsteraner Sonderforschungsbereichs etwa die Befunde, zu denen am Verflechtungsansatz orientierte Studien bezüglich der Bedeutung grenzüberschreitender personaler Verflechtung sowie der Rollenvielfalt und Normenkonkurrenz in der Praxis des frühneuzeitlichen Gesandtenwesens gelangt sind. Zeremonielle Akte, die ein unterschiedliches Maß an sozialer Schätzung ausdrückten, waren in der Frühen Neuzeit in Strukturen personaler Verflechtung eingebunden, die von den Akteuren als Beziehungen zwischen Verwandten, Freunden oder Patronen und Klienten beschrieben wurden und ebenso wie symbolisch-performativ angemeldete ständische Statusansprüche in einem Gegensatz zu den Souveränitätskonzepten der Völkerrechtstheorie standen. Frühneuzeitliche Außenpolitik erscheint aus dieser Perspektive als Handeln einer Vielzahl von Akteuren mit verschiedenen Interessen, die auf ebenso vielfältige Art und Weise mit einander verflochten waren.67 Wenn nun Au66 Besondere Aufmerksamkeit verdienen diesbezüglich auch Herrschaftsverbände, die im 17. und 18. Jahrhundert die Exemption vom Heiligen Römischen Reich mehr oder weniger weitgehend zur eigenstaatlichen Souveränität umdeuteten. Vgl. dazu die wichtigen Studien von Thomas Maissen und Matthias Schnettger über die Eidgenossenschaft bzw. über Genua (Thomas Maissen, Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft (Historische Semantik 4), Göttingen 2006; Matthias Schnettger, „Principe sovrano“ oder „civitas imperialis“? Die Republik Genua und das Alte Reich in der Frühen Neuzeit, 1556–1797 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte 209), Mainz 2006). 67 Vgl. Wolfgang Reinhard, Paul V. Borghese (1605–1621). Mikropolitische Papstgeschichte (Päpste und Papsttum 37), Stuttgart 2009; Christian Wieland, Fürsten, Freunde, Diploma-

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ßenbeziehungen auch unter dem Aspekt der Ungleichheit zwischen Patronen und Klienten untersucht werden, stellt sich die Frage, wie diese Relationen symbolisch-performativ hergestellt wurden und wie allenfalls auch unvereinbare Geltungsansprüche aufeinander trafen. Inwiefern unterschied sich etwa die symbolische Kommunikation zwischen einem französischen Gesandten in Rom, in der Eidgenossenschaft oder an einem Hof im Heiligen Römischen Reich und den Eliten vor Ort je nachdem, ob letztere als Repräsentanten einer Obrigkeit, die einen souveränitätsgleichen Rang beanspruchte, oder als Klienten der französischen Krone auftraten?68 Der Ansatz der symbolischen Kommunikation und die Verflechtungsforschung zeigen aus unterschiedlichen Perspektiven, wie mit den unterschiedlichen Rollen der Gesandten – als Amtsträger, als Adlige, als Oberhäupter eines Familienverbandes – verschiedene normative Bezugsgrößen korrespondierten, die je nach Umständen die Handlungen in die gleiche Richtung orientieren, zuweilen aber auch zueinander in Konflikt treten konnten. Die situationsabhängige Normenkoinzidenz beziehungsweise der Normenkonflikt waren, wie dies kürzlich insbesondere Hillard von Thiessen herausgearbeitet hat, Strukturmerkmale frühneuzeitlicher Diplomatie. Gerade mit Blick auf die Rollenvielfalt und Normenkonkurrenz treten die Vorzüge der neueren sozial- und kulturgeschichtlichen Herangehensweisen deutlich zu Tage. So ist es etwa Lucien Bély zwar gelungen, die Prägung der Kongressdiplomatie von Utrecht durch die Kultur des Hofadels und des entstehenden Behördenwesens sowie die Frühaufklärung aufzuzeigen.69 Dass Abweichungen von einer Norm getreuer Pflichterfüllung gegenüber den Prinzipalen in der Struktur prägenden Normenvielfalt höfisch-adliger Gesellschaften mitangelegt waren, wird von diesem Autor hingegen nicht thematisiert. Mit Blick auf die Frage der Periodisierung tritt gegenüber 1648 die Bedeutung des strukturellen Wandels in der Zeit um 1800 deutlich zu Tage. ten. Die römisch-florentinischen Beziehungen unter Paul V. (1605–1621) (Norm und Struktur 20), Köln u. a. 2003; von Thiessen, Diplomatie und Patronage (wie Anm. 42). S. auch die Aufsätze zu Rom, Polen, Hamburg und der Eidgenossenschaft in Hillard von Thiessen / Christian Windler (Hgg.), Nähe in der Ferne. Personale Verflechtung in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 36), Berlin 2005; Heiko Droste, Im Dienste der Krone. Schwedische Diplomaten im 17. Jahrhundert (Nordische Geschichte 2), Berlin 2006. 68 Dazu das Berner Forschungsprojekt „‚Verstaatlichung‘ von Außenbeziehungen: Verflechtung, Fremdwahrnehmungen und kommunikative Praktiken (Frankreich, das Alte Reich und die Eidgenossenschaft, 1648–1789)“, s. , letzter Zugriff am 22.02.2012. 69 Vgl. Bély, Espions (wie Anm. 60), S. 291–350 und S. 373–410.

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Erst im Gefolge der atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts nahmen die ansatzweise bereits zuvor fassbaren soziokulturellen Veränderungen ein Ausmaß an, das es erlaubt, statt von einem System sozialer Statuspolitik von einem System von Staatenbeziehungen zu sprechen, das immer weniger durch das Kapital der ständischen Ehre bestimmt wurde, welches die an den Beziehungen beteiligten Personen auszeichnete. Dieser Wandel manifestierte sich in einem Bedeutungsverlust des Zeremoniells, der erst die am Wiener Kongress beschlossene Neuregelung ermöglichte, die nun von der Gleichheit souveräner Staaten ausging und im Wesentlichen bis in die Gegenwart Bestand hat. Zugleich wurde die mit den unterschiedlichen öffentlichen und privaten Rollen der Gesandten verbundene Normenkonkurrenz klarer zugunsten der Verpflichtungen als staatliche Amtsträger entschieden. Während die Neuregelung des Zeremoniells im europäischen und atlantischen Völkerrechtsverkehr rasch allgemeine Gültigkeit erlangte, ist in der Frage der Ausdifferenzierung der öffentlichen Rolle der Gesandten wie auch im innerstaatlichen Behördenwesen von unterschiedlichen Formen der Persistenz konkurrierender normativer Bezüge auch im 19. und 20. Jahrhundert auszugehen.70 Haben selbst schärfste Kritiker, die den Absolutismus als ‚Mythos‘ charakterisiert haben, Außenpolitik als eine Art Reservatsbereich fürstlicher Autorität angesehen, wo auch sie absolutistische Verfahrensweisen zu erkennen glauben,71 so könnten die Münsteraner Arbeiten dazu einladen, die Ansätze, welche das Absolutismusparadigma aus der Perspektive der inneren Herrschaftsverhältnisse dekonstruiert haben, noch konsequenter auf die frühneuzeitlichen Außenbeziehungen anzuwenden. Nach der Infragestellung des Absolutismuskonzepts aus der Perspektive der inneren Herrschaftsbeziehungen gälte es also, dessen Dekonstruktion mit Blick auf die Außenbeziehungen weiterzuführen.72 Wenn André Krischer feststellt, dass es „eigentlich auf der Hand“ liegt, „dass nach der Relativierung des ‚innenpolitischen‘ Absolutis70 Zu denken ist hier bspw. an die Bedeutung personaler Netzwerke in den südeuropäischen Staaten, wo diese bis in die Gegenwart in Konkurrenz zu den Normen rechtsstaatlich verfasster Demokratien stehen, wie in jüngster Zeit die Ereignisse im Zusammenhang mit der Schuldenkrise wieder vermehrt auch ins allgemeine Bewusstsein gerufen haben. Es wäre gewiss ein lohnendes Unterfangen, solche mit Blick auf die inneren Herrschaftsverhältnisse im 19. und 20. Jahrhundert vielfach untersuchten Strukturen auch vermehrt zu einem Gegenstand der Geschichte der Außenbeziehungen zu machen. 71 Vgl. Nicholas Henshall, The Myth of Absolutism. Change and Continuity in Early Modern European Monarchy, London 1992, S. 158–159. 72 Dazu das Berner Forschungsprojekt „‚Verstaatlichung‘ von Außenbeziehungen: Verflechtung, Fremdwahrnehmungen und kommunikative Praktiken (Frankreich, das Alte Reich und die Eidgenossenschaft, 1648–1789)“, s. oben, Anm. 68.

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muskonzepts nun auch dringend dessen außenpolitische Zwillingsschwester ‚Souveränität‘ auf den Prüfstand wissenschaftlicher Begriffsbildung gehört“, kann ihm aufgrund der Befunde, die aus dem Kreis des Münsteraner Sonderforschungsbereichs vorgelegt werden, nur beigepflichtet werden.73

73 Dazu Krischer, Souveränität (wie Anm. 33), S. 12.

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Symbolische Kommunikation und Realpolitik der Macht. Kommentar zur Sektion „Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis in der Frühen Neuzeit“ Zu den Ausführungen von Lucien Bély zum Wissen über diplomatisches Zeremoniell in der Frühen Neuzeit und von Christian Windler über symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis kann ich zunächst nur prinzipielle Zustimmung und meine Bewunderung darüber bekunden, dass hier das jeweilige Thema kenntnisreich entwickelt wurde und die historischen ebenso wie die theoretisch-methodischen Schlussfolgerungen überzeugend sind. Grundsätzlich betonen möchte ich lediglich, dass über die verständliche Freude über die kulturgeschichtliche Neuakzentuierung der frühneuzeitlichen Verhältnisse in dem von Herrn Windler herausgearbeiteten Spannungsfeld zwischen realen Souveränitäts- und kulturellen Statusansprüchen die historische Balance nicht unsachgerecht verschoben werden darf. So wichtig in ‚Alteuropa‘ und darüber hinaus in der damaligen Welt der auf dem Kapital der Ehre beruhende Status der Akteure allenthalben war, dahinter standen stets ganz reale Machtansprüche, in den innereuropäischen Begegnungen von Herrschern und Magistraten oder ihrer Diplomaten ebenso wie im interzivilisatorischen Kontext. Nachdem nicht zuletzt die Arbeit des Münsteraner Sonderforschungsbereichs „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ die anachronistische Naivität der Frage „Alles nur symbolisch?“ offen gelegt hat, darf nun nicht das Interesse an der realpolitischen Dimension verloren gehen oder gar der Eindruck entstehen, Macht sei ‚nur symbolisch‘. Der berühmte, auch von mir gerne zitierte und ausgelegte Satz des Thomas Hobbes „im Rufe von Macht stehen ist Macht“1 hebt ja nicht nur auf die Bedeutung des symbolisch und zeremoniell Produzierten ab, son1

Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. von Iring Fetscher, Frankfurt a. M. 41991, S. 66. Näheres, auch zur realgeschichtlichen Wirkung im 16. und 17. Jahrhundert, bei Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660 (Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen 2), Paderborn u. a. 2007, S. 176; diese Darstellung ist generell bemüht, die kulturgeschichtliche Dimension der Entstehung und Funktion des frühmodernen europäischen Mächtesystems herauszuarbeiten. Vgl. demnächst auch meinen Beitrag „Repräsentation von Macht in der Entstehungsphase eines europäischen Systems partikularer Mächte“ in dem von Lucien Bély herausgegebenen Sammelband zur 350. Jahrfeier des Pyrenäenfriedens, Paris 2013 [in Vorbereitung].

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dern auch, ja in erster Linie auf die politische Realität von Macht. Kontextualisiert im Denken und in der von Mord und Totschlag geprägten Erlebniswelt seines Autors tritt die doppelte Stoßrichtung dieses Satzes zu Tage – als Aufruf, auf die kulturelle Seite der Machtentfaltung zu achten, aber eben auch und vor allem als Warnung, dass hinter den symbolischen und zeremoniellen Hervorbringungen seiner Zeit, wie generell in der Geschichte, realpolitische Machtansprüche stehen, ja die Macht selbst. Diese wächst dadurch an, dass schwächere Potentaten die kulturelle Repräsentation eben nicht ‚nur symbolisch‘ nehmen, sondern in den Klientelverband desjenigen eintreten, dem es gelingt, sich in den Ruf der Macht zu bringen. Für meinen Kommentar greife ich aus den Darlegungen der beiden Referenten drei Punkte heraus, die mir der näheren Erörterung wert scheinen, und füge selbst zwei Sachverhalte hinzu, die ein zusätzliches Schlaglicht auf das Phänomen frühneuzeitlicher symbolischer Kommunikation zwischen Staaten und Herrschaften werfen und damit zugleich eine vergleichende Perspektive auf die anders gelagerten Symbolstrukturen späterer Epochen und der Gegenwart eröffnen sollen.

I. Die Frage der Epochengliederung Beide Vorträge behandeln im wesentlichen die jüngere Frühneuzeit, also die anderthalb Jahrhunderte nach den großen Friedensschlüssen Mitte des 17. Jahrhunderts, die – das muss auch hier in Münster zu betonen erlaubt sein – nicht auf den Westfälischen Frieden reduziert werden dürfen. Diese Schwerpunktsetzung ist durch das Thema ‚diplomatische Kommunikation‘ gerechtfertigt und entspricht wohl auch den zeitlichen Interessen des Münsteraner Sonderforschungsbereichs. Gleichwohl beginnt überstaatliche ‚symbolische Kommunikation‘ bzw. symbolische Kommunikation zwischen Herrschern und Völkern nicht mit der formellen Ausdifferenzierung von Diplomatie. Das wirft zwei weiterführende Fragen auf, nämlich diejenige nach der sinnvollen Epochenbildung in der Geschichte der Außenpolitik bzw. des internationalen Systems und die nach Struktur und Funktionsweisen von symbolischer Kommunikation und überstaatlicher Kommunikation generell. Die Epochengliederung – Die Epochenfrage hat Herr Windler explizit angesprochen. Ich bin mit ihm einer Meinung, dass es sich hierbei nicht um ein ontologisches, sondern um ein analytisches, geschichtswissenschaftliches Problem handelt, das zu diskutieren und dessen jeweilige Lösung zu legitimieren ist. Unbestreitbar ist und keineswegs die Spezialmeinung der von ihm zitierten Her-

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ren Duchhardt und Schulze, dass das neuzeitliche System europäischer Partikularstaaten vor 1650 entstanden ist.2 Ich selbst habe wiederholt dargelegt, dass ich die Jahrzehnte um 1600 als die entscheidende Durchbruchsphase ansetze, was natürlich eine mehr oder weniger lange Vorbereitungszeit voraussetzt.3 So sprechen weiterhin gute Gründe dafür, die zweite Hälfte des 15. und das frühe 16. Jahrhundert als eine frühe Durchbruchsphase des europäischen Staatenpartikularismus anzusetzen. Das haben bereits Zeitgenossen so gesehen, am klarsichtigsten der Humanistenfürst Erasmus von Rotterdam: Colliditur gens cum gente, civitas cum civitate, factio cum factione, Princeps cum Principe (Ein Stamm wird zum Zusammenstoß mit einem anderen Stamm getrieben, Stadt gegen Stadt, Parteiung gegen Parteiung, Herrscher gegen Herrscher).4 Auch die proto-nationalen Strukturen und Mechanismen innerhalb des um 1500 in voller Schärfe entbrannten europäischen Mächteringens erkennt Erasmus klar: Angulus hostis est Gallo, nec ob aliud nisi quod Gallus est (Der Engländer ist der Feind des Franzosen, aus keinem anderen Grund, als weil er Franzose ist).5 – Dagegen ist, wie Christian Windler zu Recht betont, unter den Experten umstritten, ob und in welcher Weise der Westfälische Friede von 1648 einen Einschnitt in der Macht- und Diplomatiegeschichte darstellte. Für Deutschland und das Reich wird man das kaum verneinen können, zu tief greifend waren doch die rechtlichen und institutionellen, die religiösen und kirchlichen, aber auch die geistigen und mentalen Neuansätze. Ich selbst habe wiederholt betont und sehe bislang keinen Grund, davon abzuweichen, dass auch das internationale System Mitte des 17. Jahrhunderts einen entscheidenden Moment der Stabilisierung erlebte, wofür allerdings nicht nur der Westfälische Frieden, sondern die Folgen der Friedensschlüsse zwischen 1648 und 1660 anzuführen sind. Die Einwände, die Heinz Duchhardt vorgetragen hat, verstehe ich anders als Herr Windler nicht als eine prinzipielle Negierung der systemischen Bedeutung der Friedensschlüsse.6 Eine solche ließe sich angesichts des Vorbildcharakters in der Art und Weise der Friedensfindung, des neuen Gewichtes des Völkerrechtes oder gar des Säkularisierungsschubes, der mit ihnen verbunden war, kaum seriös vertreten. Duchhardt hebt in erster Linie auf die Dauerhaftigkeit des vor allem von Politologen gerne beschworenen ‚Westfälischen Friedenssys2 Vgl. Christian Windler, Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis in der Frühen Neuzeit. Erträge neuer Forschungen, in diesem Band S. 161–185, hier Anm. 7 und 8. 3 Zuletzt zusammenfassend Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 1), S. 385 ff. 4 Erasmus von Rotterdam, Querela Pacis, in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. von Werner Welzig, Bd. 5, Darmstadt 1968, S. 360–451, hier S. 398. 5 Ebd., S. 428. 6 Heinz Duchhardt, Westfälischer Friede und internationales System im Ancien Régime, in: Historische Zeitschrift 249, 1989, S. 529–543.

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tems‘ ab und ruft die bei einem solchen Konstrukt leicht verdrängte historische Tatsache in Erinnerung, dass bereits ein gutes Jahrzehnt später Europa von dem französischen König Ludwig XIV. mit verheerenden Kriegen überzogen wurden, die gezielt ganze Landstriche verwüsteten. Dass demgegenüber die Sattelzeit einen tieferen Einschnitt bedeutet, darin kann ich Duchhardt leicht zustimmen, ohne damit die historische Bedeutung des früheren Einschnitts in Frage gestellt zu sehen. Dem widerspricht auch nicht Windlers treffende und wichtige Beobachtung, dass nach 1650 „völkerrechtliche Souveränitäts- und ständische Statusansprüche“7 nebeneinander standen. Das beschreibt ein Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das in der Geschichte immer wieder begegnet. Will man historische Epochen und deren Wendemarken bestimmen, hat man nach den für die jeweiligen Epochen stilbildenden Elementen und deren Wirkung zu entscheiden, sonst bleiben alle Katzen ununterscheidbar grau und der historische Prozess diffus, etwa wenn – wie jüngst in einer Dissertation an der Berliner Freien Universität – aus der unstrittigen Tatsache, dass es auch nach den befriedenden Bestimmungen des Westfälischen Friedens weiterhin konfessionelle Streitigkeiten im Reich gab, geschlossen wird, der konfessionelle Faktor habe nach 1648 dieselbe fundamental destruktive Schlagkraft besessen wie in den Chaosjahrzehnten zuvor.8 Struktur und Funktionsweisen symbolischer Kommunikation vor 1650 – Herr Windler hat auf den andersartigen Charakter personaler wie symbolischer Kommunikation in der konfessionell bestimmten Staatengesellschaft hingewiesen. Da das andernorts ausführlich entfaltet ist, ist hier nicht weiter darauf einzugehen.9 Betont sei allerdings die Notwendigkeit, in einer Gesamtgeschichte alteuropäischer Repräsentation von Macht und symbolischer Kommunikation gerade diese Epoche des Durchbruchs stärker zu berücksichtigen als das in den vorgetragenen Überlegungen der Fall ist – nicht zuletzt um die Elemente genauer zu bestimmen, die in säkularisierter Form in das neue System Eingang fanden und ihm besondere Stabilität beziehungsweise Legitimität und Dynamik verliehen (Völkerfrieden als säkularer Gottesfrieden u. a.). 7 8 9

Vgl. Windler, Symbolische Kommunikation (wie Anm. 2), S. 171. Vgl. Jürgen Luh, Unheiliges Römisches Reich. Der konfessionelle Gegensatz 1648 bis 1806, Potsdam 1995. Heinz Schilling, Konfessionelle Religionskriege in politisch-militärischen Konflikten der Frühen Neuzeit, in: Klaus Schreiner (Hg.), Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung. Judentum, Christentum und Islam im Vergleich (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 78), München 2008, S. 127–149; ders., Calvinism as an Actor in the Early Modern State System around 1600. Struggle for Alliances, Patterns of Eschatological Interpretation, Symbolic Representation, in: Irena Backus / Philip Benedict (Hgg.), Calvin and his Influence, 1509–2009, Oxford 2011, S. 159–181.

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II. Société des princes versus société des républiques Beide Referenten sind auf die Differenzierung Alteuropas in Fürstenstaaten und Republiken eingegangen, wenn auch mit unterschiedlichem Anteil von Herzensblut – distanziert ludovizianisch Lucien Bély; schweizerisch emphatisch Christian Windler. Dieser Gegensatz beziehungsweise die unterschiedlichen Anteile des Royalen und Republikanischen an der symbolischen Repräsentation der Macht und den Staatenbeziehungen Alteuropas sind es wert, detaillierter und vergleichend betrachtet zu werden. Dazu nur einige Bemerkungen. Allgemein ist zu betonen, dass gerade die Konzentration auf symbolischrituelle Phänomene der Staatenbeziehungen dazu geeignet ist, ein falsches Bild der alteuropäischen Realität zu perpetuieren, das nicht zuletzt auf die erfolgreiche symbolische und rituelle Selbstdarstellung der Fürsten (princes) zurückgeht. Auch im späten 17. und 18. Jahrhundert war Europa nie eine Welt der Fürsten – als Historiker der Niederlande habe ich das immer betont, muss aber selbstkritisch feststellen, dass mein zweiter Frühneuzeitband in der Reihe „Siedler Deutsche Geschichte“ den Titel „Höfe und Allianzen“ trägt.10 Zur Beschreibung des Verhältnisses republikanischer und fürstlich-royaler Repräsentation bietet sich das Modell der Asymmetrie an – beide agierten auf denselben Feldern, aber ungleichgewichtig und nicht immer mit denselben Normen. Daraus resultiert ein nicht widerspruchsfreies Verhalten vor allem der Republiken, die einerseits auf ihre Eigenständigkeit Wert legten und gelegentlich bewusst gegen die von der Fürstengesellschaft gesetzten Normen verstießen, andererseits aber nicht umhinkonnten, deren Spiel mitzuspielen. Die Geschichte der niederländischen Republik bietet hierfür immer wieder erstaunliche Beispiele. Da ist auf der einen Seite die berühmte Episode vor den Rijswijker Friedensverhandlungen, als die hochfürstliche Gesandtschaft Frankreichs mit Befremden feststellen musste, dass die Gesandten der Hochmogenden Staaten Generaal, die ihnen im Verhandlungsraum entgegentraten, eben dieselben Herren waren, die sie auf der Fahrt mit dem französischen Staatssegler über die Kanäle nach Rijswijk beobachtet und bespottet hatten, als sie von ihrer kleinen und bescheidenen trekschuite ans Ufer sprangen, um in bescheidener und sparsamer bürgerlicher Art und Weise am Ufer zu picknicken. Ein Verhalten, das die französischen Großen nie und nimmer gewagt hätten, weil sie damit Glanz und Ehre ihres Sonnenkönigs in den Schmutz 10 Vgl. Heinz Schilling, Höfe und Allianzen. Deutschland 1648–1763 (Das Reich und die Deutschen 6), Berlin 1994.

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gezogen wähnten. Auf der anderen Seite legte aber auch die niederländische Republik durchaus Wert auf „De eer en hoogheid van de staat“, so der Titel der einschlägigen, auch kulturgeschichtlich höchst relevanten Darstellung von Jan Heringa zur Stellung der Vereinigten Niederlande im staatlichen und diplomatischen Leben des 17. Jahrhunderts.11 Und wo es auf der internationalen Bühne diese Ehre und Hoheit des Staates zu repräsentieren galt, da bediente sich die Republik der hochadligen Oranierstatthalter und ihrer Adelsentourage, wenn auch in quasi beamtenhafter Abhängigkeit vom Souverän der General- bzw. Provinzstände. Eine ähnliche Ambivalenz – das sei wenigstens im Vorübergehen notiert – kennzeichnete die Innen- und Außenpolitik der Republik Venedig, die in der europäischen Staatenwelt aufgrund ihrer mittelalterlichen Eroberung des Königreichs Zypern eine royale Position beanspruchte und diese mit allen Mitteln gegenüber den konkurrierenden Ansprüchen der Herzöge von Savoyen verteidigte.12 Wenigstens erwähnt sei, dass Asymmetrie in den symbolischen und zeremoniellen Möglichkeiten der Repräsentation von Macht und Staatenhoheit nicht nur zwischen Fürsten und Republiken bestand, sondern auch innerhalb der Fürstenwelt selbst. Das belegt eindrucksvoll die in der Schriftenreihe des Münsteraner Zentrums für Niederlande-Studien erschienene Arbeit zur sozialen Stellung und zum symbolischen Handlungsspielraum der brandenburgischen, sächsischen und kaiserlichen Gesandten im Haag.13

III. Funktion symbolischer Kommunikation und zeremonieller Akte der Diplomaten Beide Referenten haben überzeugend die Rolle des Zeremoniells und der symbolischen Akte für die politische Stabilität der alteuropäische Staatenwelt beschrieben – „eine Form der Gleichrangigkeit“ habe sie der Ge-

11 Jan Romein, De Lage Landen bij de Zee. Geillustreerde geschiedenis van het Nederlandsche volk van Duinkerken tot Delfzijl, Utrecht 1935, S. 337; Jan Heringa, De eer en hoogheid van de staat. Over de plaats der Verenigde Nederlanden in het diplomatieke leven van de zeventiende eeuw, Groningen 1961. 12 Robert Oresko, The House of Savoy in Search for a Royal Crown, in: G.G. Gibbs / ders. / H.M. Scott (Hgg.), Royal and Republican Sovereignty in Early Modern Europe. Essays in Memory of Ragnhild Hatton, Cambridge 1997, S. 272–350, hier S. 344; Schilling, Repräsentation von Macht (wie Anm. 1). 13 Daniel Legutke, Diplomatie als soziale Institution. Brandenburgische, sächsische und kaiserliche Gesandte in Den Haag, 1648–1720 (Niederlande-Studien 50), Münster 2010.

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samtheit der Souveräne auferlegt, so Lucien Bély.14 Ich möchte das um eine weitere, mir zentral erscheinende Funktion ergänzen, nämlich um die Kompensationsfunktion. Das Zeremoniell und symbolische Akte sorgten nicht nur für Gleichheit und ziviles Verhalten der Diplomaten und deren Sicherheit auch bei kritischen oder gar gefährlichen Aufgaben an fremden Höfen oder bei fremden Regierungen. Sie waren darüber hinaus und vor allem eine Kompensation oder Einhegung für einen grundsätzlichen und potentiell selbstzerstörerischen Defekt der alteuropäischen souveränen Staatengesellschaft – für den Mangel, dass es anders als innerhalb der Staaten, wo der Souverän mit der Monopolisierung legaler Gewalt den Frieden garantieren, jedenfalls erzwingen konnte, über den souveränen Staaten keine solche Instanz gab, geben konnte. Zwar haben Philosophen und politische Denker immer wieder davon geträumt – von Georg von Podiebrad im 15. bis Immanuel Kant ausgangs des 18. Jahrhunderts, durchsetzen ließen sich solche Institutionen in Alteuropa aber nicht. In der von Zeremonien und symbolischen Handlungen nicht abgefederten staatsphilosophisch-logischen und machtpolitischen Realität standen sich daher die europäischen Souveräne und Staaten in einem permanenten Kriegszustand gegenüber, „because of their independency [they] are in continual jealousies, and in the state and posture of gladiators“, so Thomas Hobbes in ebenso eiskaltem wie klarsichtigem Realismus.15 Abschließend sei mir erlaubt, noch einige über die Vorträge hinausgehende Überlegungen vorzutragen, zwei nur anreißend, die dritte etwas weiter ausführend.

IV. Eigengewicht und Selbstperpetuierung des Zeremoniellen und Symbolischen Gerade wenn man, wie in diesem Kommentar ausdrücklich gefordert, bei den symbolischen und zeremoniellen Repräsentationen immer zugleich die realgeschichtliche Macht mitdenkt, stellt sich die Frage, wie weit Zeremoniell und symbolische Repräsentation sich im internationalen System verselbstständigen und damit Fakten gegen die machtpolitische Realität schaffen konnten. – Ein schlagendes Beispiel für einen solchen Fall scheint mir mit dem oströ14 Lucien Bély, Das Wissen über das diplomatische Zeremoniell in der Frühen Neuzeit, in diesem Band S. 141–159, hier S. 154. 15 Thomas Hobbes, Leviathan, hg. von Michael Oakeshott, Oxford 1960, Teil 1, Kap. 13, S. 83.

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mischen Byzanz vorzuliegen. Und das hat wie kein anderer der große irische Dichter Samuel Butler Yeats gesehen und unübertrefflich in lyrische Form gebracht in seinem Gedicht „Sailing to Byzantium“, aus dem zu zitieren auch bei einem geschichtswissenschaftlichen Symposion zum Zeremonialwesen erlaubt sein sollte: But such a form as Grecian goldsmiths make Of hammered gold and gold enamelling To keep a drowsy Emperor awake; Or set upon a golden bough to sing To lords and ladies of Byzantium Of what is past, or passing, or to come.16

Das raffinierte Zeremonienwesen, alle Symbole und Artefakte der spätgriechischen Kultur – so sind diese von Yeats natürlich ganz anders, nämlich persönlich und existentiell gemeinten Bilder in unseren kulturgeschichtlichen Zusammenhang zu transformieren – hatten über Jahrhunderte hin keine andere Funktion, als Stagnation und Niedergang zu verdecken und Byzanz eine Position zu erhalten, die es nach realpolitischen Kriterien nicht mehr beanspruchen konnte. „Drowsy emperors“ im hier zur Debatte stehenden Zeitalter waren Spanien, Polen, später auch die niederländische Republik und Venedig. Wie lange hat ihnen das traditionelle Zeremoniell ähnlich wie vormals Byzanz eine Stellung innerhalb der frühneuzeitlichen Staatenwelt gesichert, die ihnen realpolitisch längst nicht mehr zukam? Auf lange Sicht jedenfalls ließen sich „drowsy emperors“ in dem frühmodernen europäischen Staatensystem allerdings nicht wach halten. Letztendlich zählte nicht Symbol und Zeremoniell, sondern das Gesetz von Zahl und Größe,17 also Ausdehnung der Territorien, Bevölkerungszahl, Bodenschätze und Wirtschaftskraft, in diesem Zeitalter vor allem Handel.

V. Zeremoniell von Krieg und Frieden Die beiden Vorträge haben sich auf das diplomatische Zeremoniell im engeren Sinne konzentriert. Daneben wird man die Symbolik und das Zeremoniell von Krieg und Frieden als ein weiteres zentrales Thema der Kulturgeschichte 16 William Butler Yeats, The Tower, London 1928, S. 3. 17 Zum Aufstieg und zur Bedeutung des „neuzeitlichen Gesetzes von Fläche und Zahl“ vgl. Schilling, Höfe und Allianzen (wie Anm. 10), S. 194 ff.

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der frühneuzeitlichen Staatenbeziehungen stellen wollen. Was speziell die Friedenssymbolik und das Friedenzeremoniell anbelangt, so wurden diese hier in Münster 1998 anlässlich des 450. Jahrestages des Westfälischen Friedens in einer großen historischen Ausstellung ausführlich untersucht, dargestellt und in einem dreibändigen Ausstellungskatalog dokumentiert.18 Und gerade eben wurden die Ergebnisse eines mehrjährigen französischen Forschungsprojektes zu „Les traités de paix, des tournants?“ publiziert.19 Auch in die Forschungen zu den Kriegen in Alteuropa und der Geschichte generell haben jüngst kulturgeschichtliche Fragen und Untersuchungsansätze Eingang gefunden, ich nenne nur den von Klaus Schreiner besorgten Symposionsband „Heilige Kriege“ und die diversen Publikationen des Tübinger Sonderforschungsbereichs „Kriegserfahrungen“.20 Zukünftig sollte es darum gehen, einerseits bei solchen Untersuchungen die inhaltlichen und methodisch-theoretischen Ergebnisse der Münsteraner Forschungen zur „Symbolischen Kommunikation“ zu berücksichtigen und andererseits Krieg- und Friedenszeremoniell enger aufeinander zu beziehen, um Widersprüche, Entsprechungen oder Transformationen der Symbole und Zeremonien in der Kriegs- und Friedensrepräsentation zu erfassen. Dabei sollte es wiederum gleichzeitig mit der symbolischen Konstitution von Rang um die Konstitution von realpolitischer Macht durch die und in den symbolischen Manifestationen gehen.

VI. Kriegsbeute Abschließend sei mir ein etwas ausführlicherer Blick auf einen Zusammenhang gestattet, den Historiker des Zeremoniells und der symbolischen Repräsentation selten beachten, der aber gerade für die frühneuzeitliche Staatenwelt außerordentlich aufschlussreich ist, nämlich auf die Rolle der Kriegsbeute: Vor 1650 war die Kriegsbeute ein konstitutiver Teil des internationalen Religions- und Mächtekrieges und wurde von keinem Geringeren als dem großen niederländischen Juristen Hugo Grotius völkerrechtlich legitimiert – in seiner Schrift „De iure praedae“, wohl 1604 als Rechtfertigung niederländischer Ka18 Vgl. Klaus Bussmann / Heinz Schilling (Hgg.), 1648. Krieg und Frieden in Europa. (Ausst. kat. Münster/Osnabrück 1998/1999; Kunstausstellung des Europarates 26), 3 Bde., Münster 1998. 19 Vgl. Françoise Knopper (Hg.), Les traités de paix, des tournants?, in: Revue d’Allemagne et des pays de Langue Allemande 43, 2011. 20 Vgl. Schreiner (Hg.), Heilige Kriege (wie Anm. 9); die Tübinger Arbeiten zusammenfassend: Georg Schild / Anton Schindling (Hgg.), Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung (Krieg in der Geschichte 55), Paderborn 2009.

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perungen geschrieben und auch auf Kunstbeute anwendbar.21 Kunstraub und Kunstbeute dienten sowohl der staatlichen als auch der symbolischen, insbesondere religiösen Machtrepräsentation in einer Situation, in der eine Lösung des frühneuzeitlichen Friedensproblems noch nicht gefunden war – die Schwedenbeute, die noch im letzten Moment des Dreißigjährigen Krieges, als das Schwedenheer auf der Kleinseite Prags stand, in langen Schiffs- und Ochsenkonvois von der Moldau nach Stockholm ging, war ein Symbol mehr noch des Anspruchs als der Realität von Macht des eben aufgestiegenen Randstaates an der nördlichen Peripherie Europas und seiner lutherischen Identität. Der Raub von Sakralgegenständen und vor allem Bibliotheken des konfessionellen Gegners sollte nicht nur dessen kulturelle Basis zerstören, sondern auch und vor allem die – gottgewollte – Überlegenheit der eigenen Konfession repräsentierte. Eine solche religiös-konfessionelle Machtrepräsentation hatten bekanntlich die katholischen Gegner gleich zu Beginn des Krieges inszeniert, nämlich als sie 1621 die berühmte Palatina, die Hof- und Universitätsbibliothek des calvinistischen ‚Erzketzers‘, von Heidelberg nach Rom transferierten – Kunstraub als eine Form der damnatio memoriae oder des Bildersturms, der in den fundamentalen Konflikten dieser Zeit ja ebenfalls neu aufflackerte. Mit dem Friedenswerk zu Mitte des 17. Jahrhunderts wurde dann auch für die Bilder beziehungsweise das Kulturgut generell der Friede errichtet: „Es sollen“, so wurde in den Westfälischen Friedensinstrumenten verfügt, „alle Archive und Urkunden und andere bewegliche Sachen sowie Geschütze, die sich zur Zeit der Eroberung an den besagten Orten befanden, zurückgegeben werden.“22 Allerdings belegt jeder Besuch schwedischer Schlösser oder Adelspalais wie des berühmten Wrangel-Schlosses Skokloster, dass diese Bestimmung wirkungslos blieb oder allenfalls ausnahmsweise ausgeführt wurde. Vor allem aber sah man Mitte des 17. Jahrhunderts offensichtlich noch keine Notwendigkeit zu einer generellen völkerrechtlichen Friedensbestimmung für Kulturgut. Eine solche formelle und umfassende völkerrechtliche Schutzklau21 Kurze Skizze der Zusammenhänge bei Hans W. Blom, Booty around 1600. Christian Princes, Merchant Republics and terra incognita, in: Biblis. Kwartalstidskrift för Bokvänner 38, 2007, S. 25–30; dort auch Heinz Schilling, War Booty, Representation of Power and the Early Modern State, S. 31–36; ders., Kriegsbeute im Rahmen symbolischer Repräsentation in der frühneuzeitlichen Staatenwelt – Schweden als Beispiel, in: Wolfgang E. J. Weber / Regina Dauser (Hgg.), Faszinierende Frühneuzeit. Reich, Frieden, Kultur und Kommunikation 1500–1800. Festschrift für Johannes Burkhardt zum 65. Geburtstag, Berlin 2008, S. 61–73. 22 IPO XVI, § 15; IPM § 108. Vgl. Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, in Verbindung mit der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e. V. (Hg.), Acta pacis Westphalicae, Ser. 3: Protokolle, Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abt. B: Verhandlungsakten, Bd. 1: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden, Teil 1: Urkunden, bearb. von Antje Oschmann, Münster 1998.

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sel war erst das Ergebnis von Friedensverhandlungen des 19. Jahrhunderts, einmündend in die Haager Konventionen von 1899 und 1907.23 Dennoch ist unübersehbar, dass auf der Basis des zu Mitte des 17. Jahrhunderts errichteten europäischen Staatenfriedens in der Epoche der Höfe und Allianzen, also von Mitte des 17. bis ins ausgehende 18. Jahrhundert, auch für die Kultur der einzelnen Mächte eine Zeit des Friedens und der Sicherheit angebrochen war. Das war nicht völkerrechtlicher Normierung geschuldet, sondern eher dem erwähnten Prinzip einer Einhegung des Krieges zur allseitigen Schonung der Ressourcen. Vor allem aber dokumentiert der Verzicht auf Kriegsbeute einen Wandel in der Symbolik der Mächterepräsentation – das religiöse Motiv, den Gegner im Zentrum seiner religiösen oder kulturellen Identität zu vernichten, war mit der Säkularisation des Politischen seiner fundamentalistischen Dynamik entkleidet. Die politische Staatenrepräsentation wollte sich nunmehr nicht auf geraubten, sondern auf den eigenen Reichtum stützen, um damit der Größe und Überlegenheit an Fläche und Zahl, also ihres Territoriums und ihrer Bevölkerung, symbolisch Ausdruck zu verleihen – nicht zuletzt in den großen Schlossbauten und Gartenanlagen des Zeitalters. Hinzu kam das im Westfälischen Frieden etablierte rechtliche Gleichheitsprinzip der Staaten, das der älteren Idee einer Demütigung des Gegners entgegenstand. An die Stelle des Kunstraubes traten Vernichtungsfeldzüge und Territorialraub, von den Kriegen Ludwigs XIV. bis hin zu den Schlesischen Raubkriegen Friedrichs II. von Preußen. „Im Zeichen der Kabinettkriege“, so der Befund eines Völkerrechtlers, „ging es nicht darum, eine prinzipiell gleichberechtigte und ebenso legitime Herrschaft einer anderen Dynastie durch die Wegführung von Kunstschätzen zu demütigen, sondern es ging schlicht um den Erwerb des Territoriums. Alle Maßnahmen, die der gemeinsamen Legitimationsgrundlage des dynastischen Fürstenstaates hätten schaden können, wurden tunlichst unterlassen“24 – im Gegensatz, so ist im Zuge unserer historischen Argumentation hinzuzufügen, zur Zeit der nicht einhegbaren konfessionellen und politischen Fundamentalgegensätze, als diese symbolische Demütigung und Schwächung des weltanschaulichen Feindes geradezu Zwang war. Eine erneute Friedlosigkeit der Bilder und Kunstgegenstände ergab sich erst wieder mit dem erneuten Systembruch der Französischen Revolution, insbesondere mit Napoleon, der diese kulturelle Seite sogar in den Kern sei23 Vgl. Rainer Wahl, Kunstraub als Ausdruck von Staatsideologie, in: Rainer Frank (Hg.), Recht und Kunst. Symposion aus Anlaß des 80. Geburtstags von Wolfram Müller-Freienfels, Heidelberg 1996, S. 105–136, hier S. 130. 24 Ebd., S. 113.

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ner Kriegführung und Politik aufnahm. Im Gegenzug setzte bereits auf dem Wiener Kongress das erwähnte Bemühen um eine generelle, völkerrechtliche Schutzklausel ein, die dann Ende des Jahrhunderts endgültig ins Völkerrecht aufgenommen wurde. Dennoch kam es nochmals zu einer gewaltig-gewaltsamen Replik, als in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts an die Stelle der zu Mitte des 17. Jahrhunderts überwundenen religiös-heilsgeschichtlichen Ausschließlichkeit der säkular-ideologisch begründete Konkurrenzwahn der modernen Totalitarismen trat.

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Repräsentationen der terreur1 Im Rahmen dieses Kolloquiums zu Symbolen und Repräsentationen möchte ich die Studie eines besonderen Falls, nämlich der terreur im Kontext der Französischen Revolution, vorstellen. Im Vorfeld möchte ich anmerken, dass es sich hierbei weder um eine historiographische noch um eine rein geistesgeschichtliche oder gar ästhetische Annäherung an das Politische handelt, sondern vielmehr um Kulturgeschichte im wahrsten Sinne des Wortes. Es handelt sich in erster Linie darum, nachzuvollziehen, wie die Genese und Entwicklung eines bestimmten Deutungsmusters vonstatten ging, zunächst einmal, um die Gewalt während der revolutionären Phase zu begleiten, und dann, um ideologisch gefärbte Darstellungen und Erinnerungsberichte zu untermauern. Weder soll es Ziel dieser Arbeit sein, mögliche Verknüpfungen zwischen Realität und Symbol mit Bezug auf bestimmte Ereignisse – hier die terreur – abzuwägen, noch soll angedeutet werden, dass Symbole Mittel zu dem Zweck sind, einer unerträglichen Wirklichkeit Sinn zu verleihen. Stattdessen soll hier in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden, dass Symbole zunächst einmal während einer Phase der Französischen Revolution zur Verschleierung, Rechtfertigung und Entschuldigung von Gewalttaten eingesetzt wurden und dass diese Symbole dann hinterher in Berichten instrumentalisiert wurden. Die These, die ich untermauern möchte, ist die, dass die terreur selbst ein Symbol war, das von den Akteuren zur Bezeichnung eines bestimmten Moments der Revolution erschaffen wurde, obwohl sie kein ‚Terrorsystem‘ und keine ‚Diktatur‘ anstrebten, und dass dadurch die Gleichsetzung von Revolution und terreur entstand. Dabei soll diese Konstruktion nicht als einfaches politisches Manöver abgetan werden. Sie zeugt im Gegenteil von einem Klima, einem Kontext und einer Ausgangslage, die diese Konstruktion möglich und glaubwürdig machten. Dieser Erfolg beruht auch auf einem Zusammenspiel mit weiteren, bereits im kollektiven Bewusstsein verankerten Interpretationen, die der religiösen, künstlerischen und politischen Vergangenheit Europas entstammen. Dieser Beitrag lädt zu einer Betrachtung der verschiedenen Erscheinungsbilder der terreur ein, von den jüngsten Zeugnissen bis hin zu den Fundamenten, um die Mechanismen hinter diesen Darstellungen so gut wie möglich 1

Die Vortragsform wurde beibehalten und um die Fußnoten ergänzt.

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offenzulegen. In diesem Sinne erweist sich ‚die terreur‘ als regelrechte Beobachtungsstation, da die Verwendung dieses Wortes genauso viel über die Historiker der Vergangenheit und der Gegenwart verrät wie, wenn nicht sogar mehr als, über die Ereignisse während der Revolution selbst. Schlussendlich ist es jedoch von essentieller Bedeutung, die sich im Jahr 1794 abzeichnende begriffliche Zuspitzung zu begreifen. Aus dieser Perspektive heraus müssen die bislang üblichen Definitionen auf den Prüfstand gestellt werden, denn hier soll geklärt werden, wie die terreur als institutionalisierter politischer Orientierungspunkt eingesetzt wurde. Die Befürwortung der Anwendung von Terrormaßnahmen durch einen so einflussreichen Journalisten wie Marat lässt keinesfalls die Schlussfolgerung zu, dass „die Revolution“ eine „Diktatur“ und noch weniger eine „Schreckensherrschaft“ verlangte.2 Meine Analyse verschreibt sich also der Suche nach einem Prozess, der die Kategorien im Zuge ihrer Anwendung definiert.

I. Wir stehen vor folgendem Problem: Die terreur ist eine der politischen Besonderheiten der Französischen Revolution, aber das Wort wird auch gebraucht für Terrorregimes, so wie sie durch den Nationalsozialismus und den Kommunismus geschaffen wurden. Dies führt zu polemischen Vergleichen3 und zu unter Politologen und Historikern4 und sogar Verfassern von Schulbüchern5 häufigen Verallgemeinerungen. Es wurde jedoch seit 200 Jahren kein Konsens über die Definition der terreur in den 1790er Jahren erzielt. Ob es nun um das genaue Datum des Beginns oder des Endes der terreur geht oder um die Urheber beziehungsweise Konsequenzen derselben – bei Diskussionen dieses Themas herrscht eine gewisse Verwirrung, denn die Ungenauigkeit rund um das als terreur bezeichnete Phänomen verhindert die Ausbreitung von Interpretationen und Vergleichen nicht, man könnte sogar sagen, sie begünstigt sie. 2 Zur Distanzierung von den Thesen van den Heuvels: Gerd van den Heuvel, Art. „Terreur, Terroriste, Terrorisme“, in: Rolf Reichardt / Eberhard Schmitt (Hgg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich, 1680–1820, Heft 3, München 1985, S. 89–132. 3 Stéphane Courtois (Hg.), Le livre noir du communisme, Paris 1998; Renaud Escandem (Hg.), Le livre noir de la Révolution française, Paris 2007. 4 Eines von vielen Beispielen: Giovanna Borradori, Philosophy in a Time of Terror. Dialogues with Jürgen Habermas and Jacques Derrida, Chicago/London 2003. 5 Jean-Clément Martin, „Le règne de la Terreur“ ou la Révolution française vue par les manuels scolaires allemands, in: Internationale Schulbuchforschung 13, 1991, S. 23–28; Alex Koppetsch, 1789 aus zweierlei Sicht, Frankfurt a. M. 1993, S. 238 ff.

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So bezeichnet das Wort terreur im Französischen 1. eine Periode der Französischen Revolution (auf die Probleme bei der Datierung wird später noch eingegangen), 2. ein Regierungssystem, das innerhalb dieses Zeitraums in Frankreich um Robespierre als Zentralgestalt eingeführt wurde (letzterer ist in jedem Fall das Symbol dieses Systems), 3. repressive politische Praktiken, die dem ähneln, was um 1793–1794 in Frankreich beobachtet wurde, oder schließlich 4. den nicht zeitspezifischen Einsatz von Gewalt gegen die Bevölkerung. Bei all diesen Verwendungen des Wortes klingen die Ereignisse während der Französischen Revolution immer mit an, was die Frage aufwirft, wie und warum diese mit dem Wort terreur belegt wurden, das die Komplexität eines nur unzureichend etablierten Prozesses verschleiert und zu einem quasi metahistorischen Konzept wurde. Die terreur als universelles Symbol versperrt den Zugang zu ihrem konkreten historischen Entstehungskontext. Offensichtlich wurde so eine universelle Kategorie geschaffen. Denker und Schriftsteller verwenden „la terreur“ als Synonym für einen sozialen oder mentalen Zustand, der als Ausgangspunkt für stark verallgemeinernde Thesenbildungen diente.6 Jean-Pierre Faye zufolge unterscheiden sich die Begriffe von Epoche zu Epoche kaum: „[E]s sind Erzählungen, die sie verwandeln, Narrative, die sie verändern“, und zwar so gründlich, dass für alle Ewigkeit die „Freiheit“ der terreur entgegensteht.7 Diese Position erfuhr besondere Aufmerksamkeit, als sich die intellektuelle Debatte in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gegen totalitäre Systeme richtete. Im Unterschied zu älteren historischen Methoden führte diese Sicht zu einer Abkehr von Annahmen und Verkürzungen, die die Französische Revolution fälschlicherweise mit totalitären politischen Systemen in Europa und Asien gleichsetzten. Diese Lesart führte zu einem Denken außerhalb jeglicher Zusammenhänge und somit zu einer Reifizierung unzureichend definierter und zu einer Art kollektiver Akteure gewordener Konzepte in einer Globalgeschichtsschreibung, die zum einen von allen wirtschaftlichen und sozialen Zwängen, zum anderen von jeglicher politikgeschichtlicher Verwurzelung und sogar jeglichem kulturellen oder religiösen Kontext befreit ist. Geschichte wird also zunehmend zu einer Bühne, auf der sich ‚Konzepte‘ (zu denen auch ‚die Revolution‘ und ‚die Jakobiner‘ gezählt werden müssen) einen Kampf liefern, dargestellt von Indi-

6 7

Vgl. z. B. Max Pagès, Le phénomène révolutionnaire. Une régression créatrice, Paris 1998, S. 51 ff. Jean-Pierre Faye, Dictionnaire politique portatif en cinq mots. Démagogie, terreur, tolérance, répression, violence, Paris 1982, S. 11.

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viduen, die Puppenspielern ähnelnde ‚Historiker‘ wie Marionetten aus ihren Kisten hervorzaubern.8

II. Ein kompletter Überblick über die unterschiedlichen Verwendungen des Deutungsmusters der terreur unter Historikern ist in diesem Rahmen nicht möglich. Ich werde mich auf einige Beispiele beschränken. Dazu gehört zunächst einmal das 1969 von Robert Palmer veröffentlichte Buch „Twelve who ruled. The Year of the Terror in the French Revolution“.9 Der Titel der französischen Übersetzung „Le gouvernement de la Terreur. L’année du Comité de Salut public“ verändert die Ausrichtung dieses Werks. Hier ist die Tatsache, dass die zwölf Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses radikale, unausweichliche und zweifelsohne in mancher Hinsicht desaströse Zwangsmaßnahmen ergriffen, die jedoch nur vorläufigen Charakter hatten, nicht mehr auf die Erfordernisse des Kampfs zurückzuführen; im Gegenteil, die zwölf Mitglieder werden zu Agenten eines als Aktionsmittel gewollten und gedachten Regierungsterrors. Palmers Ausführungen betonen jedoch die Zwiespältigkeit der Hintergründe der am 5. September 1793 ergriffenen Maßnahmen. So verweist er zunächst auf die Sonnenfinsternis, die an diesem Tag über Paris beobachtet worden war – und damit auf die irrationalen Hintergründe –, und beschließt dann seine Ausführungen mit der Aussage, dass die terreur als Reaktion auf die Erfordernisse des Kriegs eingeführt wurde – schwenkt also zu einem Rationalität suggerierenden politikgeschichtlichen Erklärungsansatz über. In der Forschungsliteratur hatte demgegenüber die vordergründig leichter vermittelbare Darstellung des Sachverhalts die Oberhand gewonnen über die Komplexität des ursprünglichen Gedankenganges, was in der französischen Übersetzung, die die terreur wieder mit den Begrifflichkeiten der klassischen Politikgeschichte fasst, unterstrichen wird.10

8 Vgl. z. B. Fabrice Bouthillon, Nazisme et révolution. Histoire théologique du national-socialisme 1789–1989, Paris 2011. 9 Robert Palmer, Twelve Who Ruled. The Year of the Terror in the French Revolution, Princeton 1969; frz. Übersetzung u. d. T. Le gouvernement de la Terreur. L’année du Comité de Salut public (Librairie du bicentenaire de la Révolution française), Paris 1989. 10 Ähnlich ist die Situation im Hinblick auf das Werk von Charles Tilly, The Vendée, Cambridge, MA 1964, frz. Übers. u. d. T. La Vendée. Révolution et contre-révolution, Paris 1971. Als Beispiel für die archetypische Umwandlung der zwölf Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses vgl. den Roman von Pierre Michon, Les Onze, Lagrasse 2009.

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Die folgenden beiden Beispiele zeigen, welches Ausmaß die Konsequenzen der Verwendung der terreur im Sinne eines Deutungsmusters haben. In Jules Michelets weithin bekannter „Histoire de la Révolution française“ wird terreur im Laufe weniger Seiten von einer Bezeichnung für einen aus dem politischen Leben bekannten Prozess zu einer dictature de terreur und schließlich zu la Terreur. Michelet – der große Erzähler der Geschichte – erwähnt jedoch vorsichtshalber einen „weißen Terror“, bevor er sich den Ereignissen des Jahres 1793 zuwendet und das Wort terreur mit Bedeutung füllt. Durch diesen Zeitsprung führt er eine Terminologie ein, die de facto die Verurteilung Robespierres abschwächt, der für einen Terror unter vielen verantwortlich ist, der sozusagen zum Vorläufer der Rache der Royalisten wird. In jedem Fall stößt der Verlauf der Revolution, so wie er ihn darstellt, schließlich gegen das Bollwerk der terreur, die 1793 ebenso vorhanden ist wie 1795.11 Weniger vorsichtig und weitaus polemischer ausgerichtet ist da Patrice Guéniffey, der zu den Historikern gehört, die den Terror zu den Merkmalen aller Revolutionen an sich zählen. Seiner Ansicht nach ist der Terror nicht nur eine der zentralen Modalitäten dieser Epoche, sondern stellt vor allem eine aus dem Vermächtnis der Französischen Revolution stammende Modalität der modernen Weltpolitik dar.12 Über den Rahmen dieser Einzelfälle hinaus ermöglicht es die terreur allen Historikern, die Französische Revolution als einen außergewöhnlichen Moment der Weltgeschichte zu betrachten, nicht nur aufgrund der von ihr herbeigeführten politischen Neuerungen, sondern vor allem aufgrund der Manifestationen von Verlangen, Gewalt und Tod, für die sie steht. François Furets Ansichten dazu lieferten den Ausgangspunkt für zahlreiche Missverständnisse, seit er eine von „Entgleisungen“ durchzogene Geschichte der Französischen Revolution präsentierte, bevor er sich einen kritischeren Standpunkt im Namen einer universellen Vision aneignete, für die die terreur zur „Dunkelheit“ gehört, aus der die „moderne Welt“ geboren wird. „Terror“ gehört zu den Begriffen, die in ideologischen Auseinandersetzungen zur Disqualifikation revolutionärer Unternehmungen verwendet werden.13

11 Jules Michelet, Histoire de la Révolution française, Paris 1939, Bd. 2, S. 846–847. 12 Patrice Guéniffey, La politique de la Terreur. Essai sur la violence révolutionnaire, Paris 2000; s. auch Sophie Wahnich, De l’économie émotive de la Terreur, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales 4, 2002, S. 889–913. 13 Vgl. dazu Alain Brossat, La paix barbare. Essai sur la politique contemporaine, Paris 2003.

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III. Es bedarf keiner langwierigen Argumentationen, um auf die Fragwürdigkeit solcher Positionen hinzuweisen. Als Ausgangspunkt kann Alphonse Aulards Analyse ab 1909 herangezogen werden.14 Aulard zeigt auf, dass unter Historikern ‚Terrorherrschaft‘ und terreur als historischer Zeitabschnitt verwechselt werden, und kommt zu dem Schluss, dass eine schrittweise Einführung von Maßnahmen stattgefunden hatte, deren Zusammenspiel ab 1792 zur Entwicklung einer Terrorherrschaft führte, ohne dass jedoch Hinweise auf irgendein System zu finden sind.15 Bis hierhin stimme ich mit ihm überein, muss ihm jedoch widersprechen, wenn er schreibt – was bis heute regelmäßig übernommen wird –, dass der Terror am 5. September 1793 ‚auf die Tagesordnung‘ gesetzt wurde. Dieses Datum muss genauer betrachtet werden. Unabhängig von jeglicher politischer oder philosophischer Reflektion ist hierbei eine genaue Kenntnis der Quellenlage von immenser Bedeutung: Die Aussage ‚der Terror wird auf die Tagesordnung gesetzt‘ ist von Beginn an mehrdeutig; niemand kann mit Sicherheit sagen, was genau gemeint ist: die Tagesordnung der Nationalversammlung, des Konvents oder der nationalen Politik. Eine dahingehende Prüfung der Archive des Konvents ebenso wie der Zeitungen und der Beschlusssammlungen ergibt keine Hinweise auf eine in diesem Sinne getroffene Entscheidung des Konvents.16 Im Gegenteil, die Mitglieder des Konvents bleiben ihrer schon seit mehreren Monaten vertretenen Position treu und weigern sich, eine Politik der terreur gutzuheißen, die sie vielmehr für ein unzumutbares Vermächtnis des Ancien Régime halten. Als das Schlagwort ‚den Terror auf die Tagesordnung setzen‘ ungefähr am 10. August 1793 in den Kreisen der Sansculotten auftaucht, bevor es in den Demonstrationen des 4. und 5. Septembers aufgegriffen wird, weigert sich der Konvent, es anzuerkennen, leistet ihm jedoch gleichzeitig Folge. Nur Barère nimmt diese Formulierung in einer Rede ausdrücklich auf, lässt die Abgeordneten jedoch gleichzeitig über Maßnahmen abstimmen, die weit unter einem staatlichen Terror bleiben. Die Schaffung der ‚revolutionären Armee‘ zeugt bei aller Radikalität von der Weigerung, ein Terrorsystem einzuführen, und auch von der Unfähigkeit der Sansculotten, sich auf ein einheitliches Vorgehen mit 14 Seine Argumentation entspricht im Großen und Ganzen der der „klassischen Geschichtsschreibung“, wie das Beispiel Albert Sobouls veranschaulicht; s. auch Claude Mazauric, Art. „Terreur“, in: Albert Soboul (Hg.), Dictionnaire historique de la Révolution française, Paris 1989, S. 1020–1025. 15 Alphonse Aulard, Histoire politique de la Révolution française, Paris 1909, S. 357 ff. Eine ähnliche Darstellung findet sich in Gérard Walter, Histoire de la Terreur, Paris 1937. 16 S. Anne Simonin, Le déshonneur dans la République, Paris 2006.

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den Mitgliedern des Konvents (in der Geschichtsschreibung traditionellerweise Jakobiner genannt) zu einigen. Barères Gewandtheit lässt unbestreitbar Zweifel aufkommen, die dazu führen, dass in bestimmten Kreisen und Zeitungen geglaubt wird, „Terror“ sei tatsächlich „an der Tagesordnung“.17 Dies lässt sich als Teil einer politischen Strategie zur Mobilisierung aller notwendigen Kräfte für den Kampf gegen das restliche Europa und die innerfranzösischen Gegenrevolutionäre infolge der 1792 zwischen Vertretern der Regierung (Danton oder Barère) und den Sansculotten getroffenen Kompromisse erklären. Frankreich befindet sich wie alle Staaten im Krieg, in einem Ausnahmezustand.18 Eine Besonderheit dieser Zeit ist der von Terror und Rachedrohungen geprägte kollektive politische Duktus. Terror und Rache sind Vermächtnisse, die man später in Frage stellen muss, die jedoch unbestreitbar einen gemeinsamen Ton vorgeben, ohne dass eine institutionelle Umsetzung erfolgt. Diese Situation ist nicht neu. Seit Ende des Jahres 1789 und vor allem seit Beginn des Krieges im April 1792 verdanken die von der Revolution eingeführten Institutionen ihren Fortbestand der gewaltsamen Unterstützung durch die radikalsten Sektionen, insbesondere die Sansculotten, ohne dass jedoch ein wirkliches Einvernehmen zwischen den konkurrierenden und rivalisierenden Kräften besteht. Forderungen nach Gewalt wurden auf diesem Wege eingedämmt und instrumentalisiert, so auch im September 1793, als die sogenannten lois des suspects, die Gesetze über die Verdächtigen, beschlossen werden und der Repression, die ursprünglich die Extremisten leiten wollten, einen Rahmen vorgeben. Nur durch das Verständnis dieser Schachzüge lässt sich begreifen, dass der Konvent (das politische Organ, das die Revolution legitimiert) den Terror nicht auf die Tagesordnung setzte, diese Politik vielmehr ausdrücklich zurückwies, aber gleichzeitig trotzdem in mehreren Regionen beträchtliche Machtexzesse und ausgesprochen blutige Verfolgungen durch die Justiz stattfanden. Als kurze Zusammenfassung einer an anderer Stelle ausgeführten Darlegung lässt sich Folgendes sagen: Nicht ‚die Revolution‘ organisierte die Repressionsmaßnahmen, noch weniger eine bestimmte Institution (Nationalkonvent oder Regierungsausschüsse), sondern sie wurden in direkter Folge der für die Monarchie vor 1789 typischen Maßnahmen eingeführt; sie wurden durch die lokalen Bürgerkriege, in denen sich Clans und 17 Zum letzten Punkt s. Jacques Guilhaumou, La Terreur à l’ordre du jour (juillet 1793–mars 1794), in: Dictionnaire des usages socio-politiques (1770–1815), Bd. 2: Notions – concepts, Paris 1987, S. 127–160, erweiterte Fassung u. d. T. „La terreur à l’ordre du jour“. Un parcours en révolution (1793–1794), Révolution Française.net, , letzter Zugriff am 23. Januar 2012. Beispiele von van den Heuvel, Art. „Terreur“ (wie Anm. 2), S. 110–111. 18 François Saint-Bonnet, L’état d’exception, Paris 2001.

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Parteien im Namen der Politik bekämpften, verschärft und schließlich zum Äußersten getrieben durch Versammlungen, die im Namen des Staats ihrer Lust an der Gewalt freien Lauf ließen, ohne sich von irgendjemandem aufhalten zu lassen.19 Ebendiese Mechanismen kommen auch bei den Massakern im September 1792 und besonders beim Aufstand der Vendée oder auch im Rhônetal zum Tragen, bevor es den nationalen Institutionen langsam gelingt, die Gewalt einzudämmen und zu kontrollieren und durch die Verdrängung konkurrierender Initiativen schließlich zu kanalisieren. Dabei darf man sich nicht von den Reden der bedeutendsten Revolutionsführer täuschen lassen, die eine ausgesprochen gewalttätige Sprache verwenden, um die tatsächliche Ausübung der Gewalt zu kontrollieren. Hierzu zählt insbesondere Danton, der nach den Massakern vom September 1792 vorgeblich einen extremistischen Standpunkt vertritt und ein Jahr später eine völlig andere Politik zu proklamieren scheint. Trotz allem ist die Kohärenz dieser politischen Persönlichkeit unbestreitbar: Er versuchte auf diametral entgegengesetzten Wegen die Gewalt umzulenken und in den Dienst der Revolution zu stellen. Die Mehrheit der Mitglieder des Konvents legitimierte die Terrormaßnahmen nicht; sie setzten sie durchgängig mit den Maßnahmen der Monarchie gleich, von der sie sich abzusetzen versuchten. Gelegentlich deckten sie die Aussagen von Marat oder die der Hébertisten, ohne sie jedoch zu verinnerlichen. Dass also einige Revolutionäre die Einführung des Terrors forderten, lässt nicht den Schluss zu, dass die Revolution sich dieser politischen Linie verschrieben hatte.20 Paradoxerweise sind es genau jene Forderungen nach Gewalt, mit denen der französische Zentralstaat die Gewaltexzesse im Land eindämmt. Die Ambivalenz bezüglich dieses einerseits existierenden und andererseits abgelehnten ‚Terrors‘ dauert auch noch in den ersten Tagen des Jahres 1794 fort, als der Wohlfahrtsausschuss eine ‚Revolutionsregierung‘ einsetzt, die anstrebt, alle Entscheidungen komplett zu zentralisieren, indem sie den verschiedenen Akteuren die Durchführung von Repressionsmaßnahmen außerhalb der Kontrolle durch den Wohlfahrtsausschuss oder den Sicherheitsausschuss untersagt. Gleichzeitig gibt Robespierre die politische Ausrichtung vor, als er im Februar 1794 Terror und Tugend als komplizierte, aber untrennbare Einheit darstellt. Die unmittelbarste Auswirkung dieser Neuerungen ist die Zerschlagung der Hébertisten, also des radikalsten Flügels der Sansculotten, denen vorgeworfen wird, den Terror zu befürworten. 19 Jean-Clément Martin, Violence et révolution. Essai sur la naissance d’un mythe national, Paris 2006. 20 Zur Widerlegung der Darstellung von Van den Heuvel, Art. „Terreur“ (wie Anm. 2), der Marat und Ronsin zitiert.

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IV. Auch wenn die terreur als solche weder als System im Jahr 1793 noch als zentrale Forderung im Jahr 1794 existiert, wird sie doch bezeichnend für den Zeitraum im Laufe des Jahres 1794. Dies ist kein unerklärlicher Vorgang, sondern lässt sich vielmehr einem Kräftespiel zuschreiben, dessen einzelne Schritte nachvollzogen werden können; ist dies geschehen, versteht man auch, warum es sich auflöst, sobald das Konzept der terreur das allgemeine Bewusstsein zu prägen beginnt. Wie sonst kann man verstehen, dass Robespierre, dem es gelang, die entfesselte Gewalt einzudämmen, nach seiner Hinrichtung zum Symbol der terreur wurde? Robespierres Verwandlung in die ‚Inkarnation‘ der Revolution geht von seiner Initiative aus, mit der er durch das Gesetz vom 22. Prairial (10. Juni 1794) über die Neuorganisation des Revolutionstribunals die gesetzlichen Repressionsmaßnahmen gleichzeitig verschärfen und ihnen einen Rahmen verleihen will. Das im Nachhinein als loi de Grande Terreur bezeichnete Gesetz gilt als verantwortlich für die steigende Anzahl der gesetzlichen Hinrichtungen, obwohl diese Entwicklung vielmehr auf die Einwirkung einiger Abgeordneter sowie einiger Mitglieder des Sicherheitsausschusses und des Revolutionstribunals zurückzuführen ist, die ‚Wagenladungen‘ von Verurteilten zur Hinrichtung schicken, um die Verantwortung dafür Robespierre und seinen Vertrauten zuzuweisen.21 Diese politischen Machenschaften, die bereits ab Juni betrieben werden, beenden den in Gang gesetzten Zyklus durch die Guillotinierung von Robespierre und seiner Anhänger, denen die Schaffung eines Terrorsystems zur Last gelegt wird. Am Tag nach der Hinrichtung von Robespierre wird das Wort terreur, das bis dahin noch nie mit einer positiven Konnotation belegt wurde, zur Benennung der vorangegangenen Ereignisse herangezogen und erweist sich als ausgesprochen effektiv. Alle Revolutionäre können jedwede persönliche Verantwortung von sich weisen und sie den mittlerweile entmachteten und hingerichteten Mitgliedern des Konvents zuschreiben, bevor wenig später ein Großteil ebendieser Revolutionäre seinerseits von gegenrevolutionären Kräften des Terrors bezichtigt wird, die die Gelegenheit nutzen und die Ereignisse der Jahre 1792–1794 mit einem Terrorregime gleichsetzen, um so die Ablehnung der Revolution als Ganzer rechtfertigen zu können. Die öffentliche Hervorhebung dieser Ablehnung der Revolution ist seit Bronislaw Baczkos Forschung bekannt und erklärt die von da an ständig zunehmende Neuschöpfung von Begrifflichkeiten und Konzepten, sei es 21 Vgl. Martin, Violence (wie Anm. 19).

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in politischen Handlungen oder Schriftstücken, sei es in künstlerischen oder literarischen Werken.22 Ab August/September 1794 werden die vorangegangenen Ereignisse mit dem Wort terreur zusammengefasst, ohne dass genauere Angaben gemacht werden. Robespierre und seine Anhänger sind terroristes, aber genauso werden auch ihre Feinde wie der im März 1794 hingerichtete Hébert oder der im Dezember 1794 guillotinierte Carrier bezeichnet; sie werden mit ihren Gegnern wie den Sansculotten und ‚Septembriseuren‘ von 1792, von denen einige 1795 verurteilt werden, über einen Kamm geschoren. Die Ungenauigkeit, die, wie bereits zu Beginn gesagt, das Konzept und den Begriff terreur umgibt, ist nicht auf etwaige Mängel der Geschichtsforschung zurückzuführen, sondern im Gegenteil wesentlich mit der Entstehung des Begriffes verbunden. Weil am Anfang dieses nicht wirklich greifbaren Sachverhalts im Sommer 1794 das Wort steht, wird die terreur zu einer manipulierbaren, von Polemikern und Historikern ungeniert genutzten Hydra. Dass die Thermidorianer die Monate vor dem Tod Robespierres als terreur bezeichnen, hat nicht nur die unmittelbare Auswirkung, dass es einer bestimmten Gruppierung gelingt, durch die Eliminierung ihrer Gegner ihren Machterhalt zu sichern, und die Auswirkungen beschränken sich auch nicht darauf, dass die Gegner der Revolution durch die Verwendung des Wortes die Reaktion der Franzosen auf die erlebte Gewalt zu ihren Gunsten zu nutzen vermögen. Das aufgrund der abrupten politischen Umschwünge, der Verheerungen des Bürgerkrieges und der Anforderungen des Krieges verunsicherte und orientierungslose Volk eignete sich das Wort terreur an, um im Umbruch eine Kontinuität zu finden. Die Gewalt vor 1789–1792, die Verantwortung der verschiedenen politischen Lager und die persönliche Verantwortung bestimmter einzelner oder kollektiver Akteure (insbesondere die der Sansculotten während des Aufstandes der Vendée) fließen in diese Bezeichnung mit ein, die die jüngsten Ereignisse in einem nahezu ahistorischen Ausnahmezustand zusammenfasst. Das Wort ließ sich ebenfalls zur Bezeichnung der Gewalt durch die Gegenrevolutionäre heranziehen, die als terreur blanche bezeichnet wurde, und rechtfertigte somit die Vorstellung, dass die terreur gewissermaßen eine sich als Auswirkung extremistischer Impulse manifestierende Realität war. Diese Vorstellung impliziert, dass eine Normalität existiert, aus der Frankreich während der Schreckensjahre der Revolution ausbrach, um dann später wieder zu ihr zurückzukehren. Folglich werden die gewaltsamen Repressionen in den Jahren 1796–1804 in Frankreich und in Italien anders bewertet als diejenigen, die zwischen 1792 22 Bronislaw Baczko, Comment sortir de la Terreur, Paris 1989.

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und 1794 stattfanden.23 Gleichermaßen bleiben die dramatischen Auswirkungen, die die napoleonischen Kriege vor allem in Spanien zeigen, fast unbemerkt. Das Konzept der terreur ermöglicht es, ohne die Richtigkeit dieses Gedankengangs zu hinterfragen, ein politisches Vorhaben (genauer gesagt eine Revolution) mit der Ausübung von Gewalt zu assoziieren, indem impliziert wird, dass das eine mit dem anderen untrennbar verbunden ist und beides als Einheit verurteilt werden muss. Sobald ‚die Revolution‘ vorbei ist, erübrigt es sich, nach dem Terror zu suchen, dessen Existenz nicht mehr vorgesehen ist. Es handelt sich hier um einen regelrechten Taschenspielertrick, dem die tatsächliche Brutalität der Ereignisse zweifelsohne eine gewisse Berechtigung verlieh, der aber vor allem von den ab 1794–1795 entstandenen und nie in Frage gestellten intellektuellen und künstlerischen Tendenzen gestützt wurde. Zwischen der Auslöschung eines Teils der Bevölkerung in Spanien im Jahr 1808 oder in Algerien in den Jahren 1830–1840 und der terreur besteht jedoch a priori kein Zusammenhang.

V. Man kann fast sagen, dass dieser im Jahr 1794 begonnene Prozess bis ins 21. Jahrhundert andauert und auf einer unbewussten Ebene weiterhin die Gewissheit stärkt, dass terreur und Französische Revolution Synonyme sind. Jede Abbildung einer Guillotine steht für einen ganzen Abschnitt der Geschichte Frankreichs,24 ganz besonders in der anglo-amerikanischen Kultur, die durch die Pamphlete der revolutionären Phase und die Bücher von Charles Dickens, William Coleridge oder der Baronin Orczy geprägt ist.25 Die Guillotine, also die terreur, symbolisiert die ungerechtfertigte Anmaßung der Französischen Revolution, wohingegen die englische und die amerikanische Revolution ohne ein solches Übermaß an Gewalt zwei Nationen den Weg in die Modernität öffneten. In Deutschland ist die terreur in eine ganz andere Perspektive, nämlich die der Bildung eines deutschen Nationalstaates, eingebettet und ruft 23 Howard G. Brown, Mythes et massacres. Reconsidérer la „terreur directoriale“, in: Annales Historiques de la Révolution Française 325, 2001, S. 23–52 und Ders., Ending the French Revolution. Violence, Justice, and Repression from the Terror to Napoleon, Charlottesville u.  a. 2006. 24 S. für die filmische Darstellung Sylvie Dallet / Francis Gendron, Filmographie mondiale de la Révolution française, Paris 1989. 25 Dies trifft ganz besonders auf die Zweihundertjahrfeier der Revolution zu, vgl. z. B. David Bingham, The Shadow of the Guillotine, London 1990; Judith Chazin-Bennahum, Dance in the Shadow of the Guillotine, Carbondale 1988; Graeme Fife, The Terror. The Shadow of the Guillotine: France 1792–1794, New York 2006.

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dementsprechend ein anderes Echo hervor; sie wird zum Anlass, die Modalitäten einer noch ausstehenden Revolution zu überdenken, die ‚von oben‘ zu unternehmen ist oder durch ein Vorgehen, dass die Vermeidung von Gewalt zum Ziel hat. Hier ruft die terreur durch den Voluntarismus, für den sie steht, große Faszination hervor und ist gleichzeitig aufgrund der Abstraktion, die sich in ihr manifestiert, verdammenswert. Für Hegel oder Marx ist die Revolution auch ein Element, aus dem sich kommende Mobilisierungen speisen.26 Gertrude Le Fort greift diesen Gedanken in ihrem Buch „Die Letzte am Schafott“ auf, das die letzten Tage der Karmelitinnen von Compiègne im Jahr 1794 nachzeichnet und mit Reflektionen über den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland verbindet. Einige Jahre später nimmt Georges Bernanos dasselbe Ereignis zum Anlass für eine Meditation über den Zweiten Weltkrieg.27 Die terreur bezeichnet nun keine bestimmte Epoche mehr, sondern ist vielmehr eines der Beispiele für das, wozu die Menschheit außerhalb der jeweiligen kontextuellen Besonderheit in der Lage ist, und eröffnet so eine Perspektive, in der weniger Historiker als Schriftsteller und Künstler eine wichtige Rolle spielen. Als Beispiel kann die romaneske Literatur über die Chouannerie und in geringerem Ausmaß auch über den Aufstand der Vendée herangezogen werden, wobei letzterer eher in Memoiren als in Romanen verarbeitet wurde. Beide Ereignisse werden auch in künstlerischen Produktionen aufgegriffen, die ihnen einen universellen Symbolcharakter verleihen.28 Die Erschaffung eines Konzepts unter dem Eindruck der Ereignisse ist keine Besonderheit der Revolution, selbst wenn sie natürlich Anteil hat an jener Selbstkonstruktion einer Welt, die zum Wesen der Revolution gehört. Tatsächlich verfestigte sich das Wort ‚Revolution‘ im Anschluss an den Sturm auf die Bastille zur Bezeichnung dessen, was sich in Frankreich im Juli 1789 ereignet hatte und was für Beobachter einen Schlusspunkt unter einen Prozess setzte, der sich in ganz Europa und Amerika seit mehr als zwanzig Jahren abspielte. Es folgte eine ganze Reihe von Neuschöpfungen von Begrifflichkeiten zur Benennung der durch diesen Umbruch hervorgerufenen Neuerungen, die sich natürlich auch auf bereits vorhandene Konzepte stützten. Die terreur war hier keine Ausnahme.

26 Vgl. Pierre Glaudes (Hg.), Terreur et représentation, Grenoble 1996, darin die beiden Aufsätze von Michel Vanoosthuye, Eux et pas nous, S. 83–100 und von Lucien Calvié, Terreur et démocratie, de Hegel au jeune Marx, S. 109–117 als Antwort. 27 Gertrude Le Fort, Die Letzte am Schafott. Novelle, München 1931, ND Stuttgart 2005; Georges Bernanos, Les dialogues des Carmélites (Les cahiers du Rhône 80), Neuchâtel 1949. 28 S. insbesondere Jean-Clément Martin, La Vendée de la mémoire, 1800–1980, Paris 1989 und Georges Cesbron (Hg.), Vendée, chouannerie, littérature, Paris 1986.

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VI. Es sollte also ein weiterer Erklärungsansatz verfolgt werden, um das sich in den 1790er Jahren herauskristallisierende Konzept der terreur mit den ihm zugrundeliegenden, weit zurückreichenden Grundlagen zu verbinden.29 Es kann eine Verbindungslinie gezogen werden zu einer Reihe von im kollektiven Unbewussten verankerten Bildern und Ängsten, die weit über den engeren Zusammenhang der terreur hinausweisen. Die Wurzeln des kollektiven Unbewussten im Hinblick auf die terreur reichen bis zu dem Grauen zurück, welches durch das von Perseus abgeschlagene Haupt der Gorgo Medusa hervorgerufen wird; der bloße Anblick lässt den Betrachter vor Schreck erstarren. Dieses wiederholt in der klassischen Kunst aufgegriffene Thema wurde von Freud als Grauen im Angesicht des weiblichen Genitals – symbolisiert durch das Gewirr der Haare in Schlangenform – interpretiert. Diese furchterregende Darstellung findet ihr Echo in den zahlreichen Pamphleten und Stichen im Zuge der Französischen Revolution, in denen sich Frauen vor dem Feind entblößen.30 Der Mythos verweist ebenfalls auf die Urängste vor der Enthauptung und der Kastration, deren Darstellung in der Kunst – insbesondere die Enthauptung des Holofernes durch Judith – zum Bildungsschatz der von klassischer Kultur und biblischen Geschichten geprägten und mit den seit Jahrhunderten in Europa kursierenden Mythen und Legenden über Enthauptungen vertrauten Franzosen des Jahres 1789 gehört. Die terreur ist keine neue Erscheinung des politischen Lebens, ein kurzer Ausflug in die Geschichte veranschaulicht ihre Bedeutung.31 Der Einsatz von plakativer Gewalt zur Einschüchterung des Gegners ist ein gängiges Verfahren zur Beherrschung einer unterworfenen Bevölkerung. Von Nero bis Dschingis Khan, von Kreuzigungen bis hin zu aus Schädeln der Gegner errichteten Pyramiden sind die Praktiken zahlreich und den Franzosen des 18. Jahrhunderts durchaus bekannt. Daneben existiert die Erinnerung an die Massaker im Zuge der Religionskriege, deren Auswirkungen sich in Südfrankreich noch bis in die 1760er Jahre hinein bemerkbar machen; zu diesem Zeitpunkt werden hier immer noch Protestanten verfolgt. In den 1780er Jahren muss es in ganz Frankreich ungefähr 1.000 Hinrichtungen gegeben haben, mit denen die 29 Dieser Teil stützt sich insbesondere auf Jean-Clément Martin, La Terreur. Part maudite de la Révolution (Découvertes, Histoire 566), Paris 2010. 30 Sigmund Freud, Das Medusenhaupt (1922), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 17: Schriften aus dem Nachlaß 1892–1938, Frankfurt a. M. 81993, S. 47 f.; Hans-Peter Duerr, Obszönität und Gewalt (Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 3), Frankfurt a. M. 1993. 31 Insbes. Machiavellis „Fürst“ liefert eine zum Teil theoretische Annäherung an den Einsatz von Terror.

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Franzosen konfrontiert wurden. Insbesondere die Hinrichtung des Wegelagerers Mandrin (1755) und die des Königsmörders Damiens (1757) prägten die Fantasie und die Erinnerungen der Franzosen; darüber hinaus gilt der völlig unverschleierte Einsatz von Gewalt auf jedem Sklavenschiff und in den Kolonien als notwendige Gewohnheit. Die Strafen für aufbegehrende Sklaven, von Verstümmelungen bis zu Ertränkungen, sind bis Ende des Jahrhunderts üblich und werden kaum in Frage gestellt. Zwar sind die kritischen Äußerungen Voltaires zur Sklaverei bekannt, er steht mit seiner Position aber weitgehend allein. Falls Sklavenhalter für unzulässige Ermordungen verfolgt werden, geschieht dies nur, weil sie gegen geltende Standards verstoßen.32 Immer häufiger wird anerkannt, dass diese gängigen Praktiken während der revolutionären Periode insofern eine Rolle gespielt haben, als sich diese in die Reihe der Gewaltmaßnahmen einfügten, deren Einsatz als legitim erachtet wurde.

VII. Die terreur wird auch von einer Reihe weiterer Phänomene geprägt. Zum einen erhitzt in ganz Europa eine Kampagne zur Reform der Justiz die Gemüter. Bekanntester Vertreter dieser Strömung ist der Mailänder Jurist Beccaria, dessen Buch „Über Verbrechen und Strafe“ seit 1764 in französischer Übersetzung erhältlich ist und als Grundlage für viele Debatten dient. Auch im Herzogtum Florenz macht sich diese Strömung bemerkbar und führt zur Abschaffung der Todesstrafe durch den Fürsten. Der Druck ist so groß, dass der französische König den Einsatz von Folter im Prozess beschränkt und die Einstellung der Hexenverfolgungen beschließt. Die Eliten plädieren zum größten Teil für eine Reform der Justiz durch die Einführung von angemessenen Strafen, bei denen der Nutzen für die Gesellschaft im Vordergrund steht und religiöse oder politische Erwägungen keine Rolle spielen. Die Erfindung der Guillotine muss aus dieser humanitären Perspektive heraus verstanden werden, nämlich als Einführung eines mechanischen Geräts zur Vollstreckung der als unverzichtbar erachteten Todesstrafe ohne überflüssige Gewalt. Es bedarf allerdings noch einer Erklärung, warum die Guillotine auf einem Schafott aufgebaut und der Tod somit weiterhin theatralisiert wurde. Die Antwort kann in den europäischen Mentalitäten gesucht werden, die durch das Gefühl des ‚Erhabenen‘ geprägt sind, welches die Faszination des 32 Frédéric Régent, Esclavage, métissage, liberté. La Révolution française en Guadeloupe 1789– 1802, Paris 2004.

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Schreckens mit dem Ausdruck einer ästhetischen Überhöhung verbindet. Einer der ersten Repräsentanten dieser Strömung ist ab 1757 Edmund Burke, der einige Jahre später als einer der Denker der Gegenrevolution bekannt wird. Ihm folgen eine Reihe Philosophen, zu denen unter anderem Diderot, Schiller und Kant zählen. Auf trivialerer Ebene drückt sich dieses Gefühl in der Begeisterung für die Bergwelt aus, die eine Mischung aus Faszination und Schrecken ausübt, oder noch banaler in der Mode der ‚Schauerromane‘, die vor allem bei Engländerinnen der Mittelklasse hoch im Kurs stehen. Diese Anziehungskraft erklärt auch den Erfolg von Kuriositätenkabinetten oder Anatomiemuseen. Eines der eindrücklichsten Beispiele für ein solches Museum verdanken wir dem Chirurgen Fagonard, einem Cousin des Malers, der sich auf die Präparierung der sogenannten ecorchés spezialisierte, enthäuteter menschlicher Kadaver mit sichtbaren Muskeln, Blutgefäßen oder Organen. Das Burke so teure „frightful horror“33 darf trotzdem nicht als eine gewöhnliche Überspanntheit betrachtet werden, bringt es doch Schiller dazu, den ‚erhabenen Verbrecher‘34 zu behandeln, und veranlasst Diderot dazu, vom Mitleid angesichts des Leidens anderer zu schwärmen. Schließlich ist auch bekannt, dass das ‚Erhabene‘ eine in den meisten Reden der Revolutionäre immer wieder aufgegriffene Kategorie ist, so dass man ermessen kann, in welchem Ausmaß diese Emotionen zu den Überschwängen der 1790er Jahre beigetragen haben müssen. „Alles, was die Seele bewegt, was ein Gefühl des Schreckens auslöst, führt zum Erhabenen“, schrieb Diderot im Jahr 1767.35 Die Historikerin Annie Jourdan verwendet dieses Zitat, um zu erklären, warum Jacques-Lous David, Maler und Mitglied des Konvents, zu Ehren des am 20. Januar 1793 ermordeten Le Pelletier ein Fest gibt, auf dem die Leiche und die blutbefleckte Kleidung des Abgeordneten ausgestellt werden.36 Das Beispiel liefern alle Helden und Märtyrer der Revolution, in deren Taten und Opfer die revolutionären Versammlungen auf ihren Sitzungen immer wieder schwelgen. Märtyrertum wird zur Garantie für die Reinheit der Überzeugungen. Seit dem 14. Juli 1789 wird das Gedenken an die beim Sturm auf die Bastille ums Leben gekommenen Menschen von Kirche und Staat aufrechterhalten. Nach 1792 bringt der Krieg sein Maß an glorreichen Verwundeten, von denen einige ihre Wunden und Narben vor den Abgeordneten zur 33 Edmund Burke, A Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, London 1757, S. 129. 34 Friedrich Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte (1786), in: ders., Erzählungen, hg. von Hans Heinrich Borchedt (Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 16), Weimar 31995, S. 7–29. 35 Denis Diderot, Ruines et paysages: Salon de 1767 (Salons, Bd. 3), Paris 1994, S. 234. 36 Annie Jourdan, Les monuments de la Révolution, 1780–1804, Paris 1997, S. 108.

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Schau stellen. Die Akzeptanz des eigenen Todes geht mit dem Willen einher, dem Feind den Tod zu bringen, um den Sieg zu erzielen. Diese Einstellung war einem nicht unbeträchtlichen Teil der Franzosen durch die religiösen Praktiken der Jansenisten bekannt.37 Die Anhänger dieser Glaubensgemeinschaft praktizierten brutale, grands secours genannte Praktiken, bei denen mit Schlägen und sogar Kreuzigungen Buße getan wurde. Im Dienste eines leidenschaftlichen und von Nuancen völlig freien Glaubens wurde die brutalste Gewalt eingesetzt. Diese im kollektiven Unbewussten verankerten Phänomene bilden das Fundament für das Verhalten der Menge, die exemplarische Strafen für Verräter fordert oder einfach nur für Versager in Zeiten der Angst, wie sie die Revolution hervorbringt; sie erklären so die laizistischen, ästhetischen, politischen und vor allem religiösen Verwendungen der terreur, wie sie erlebt, projiziert und angewendet wird. Ist die Revolution vom Tod besessen? Zweifelsohne prägen das Streben nach Unsterblichkeit und die Bereitschaft, Opfer zu bringen, ebenso wie der Wille, alle toten Bürger gleichermaßen zu ehren, die Gemüter, und zweifelsohne bringt das Streben nach dem Erhabenen eine gewisse Verachtung gegenüber dem Tod mit sich; trotzdem wäre es voreilig, nicht zu sehen, dass sich alle diese alten und neuen Strömungen auf der Gefühlsebene vermischen, was durch die Revolution unbestreitbar vereinfacht wird.

VIII. Die Ereignisse führten zu einem Zusammentreffen der verschiedenen Dimensionen und gaben ihnen eine neue Bedeutung. Die terreur ist keine Ausnahme – im gleichen Zeitraum und aus den gleichen Gründen werden zahlreiche Worte und Konzepte neu erfunden und erhalten eine für die kommenden Jahrhunderte geltende Bedeutung. Die Beispiele révolution, peuple, nation, droits de l’homme und république zeugen von einem aus der Revolution entstandenen Vokabular, zu dem auch das Wort terreur gehört. Um davon Zeugnis abzulegen und den Kreis zu schließen, ist es notwendig, keine Schuldzuweisungen auszusprechen. Nicht aus einer moralischen Schwäche heraus, sondern aus Respekt vor den Schwierigkeiten, mit denen sich die Akteure konfrontiert sahen. Unter solch schwierigen Bedingungen ist die Verwendung von Symbolen notwendig – und gefährlich. Heutigen Histo37 Vgl. Jean-Pierre Chantin, Les Amis de l’Œuvre de la Vérité. Jansénisme, miracles et fin du monde au xixe siècle, Lyon 1998.

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rikern wie mir, die geschützt von Krieg und Tod friedlich vom Schreibtisch aus die Ereignisse bewerten, kommt es nicht zu, überstürzte Urteile zu fällen. Wir können nicht leugnen, dass das primäre Skandalon aus dem neuen Bewusstsein entspringt, welches die Revolution ihren von der Geschwindigkeit der Ereignisse überrollten Akteuren vermittelt. Der Pastor Rabaut Saint-Etienne, einer der ersten Geschichtsschreiber der Revolution, beschloss sein Werk mit folgendem Satz: „Die Geschichte der Revolution Frankreichs ist eine Sammlung von Prophezeiungen.“38 In diesen Worten klingt eine schmerzliche Ironie mit, denn ihr Verfasser bestieg 1793 das Schafott, da er den Sinn dessen, was er erlebt und unterstützt hatte, nicht verstanden hatte. Solche Beispiele, derer es viele und weithin bekannte gibt, werden regelmäßig herangezogen, um die diesem Umbruch inhärente Schwierigkeit zu betonen; einem Umbruch, der den Weg in ein neues Zeitalter freimacht und gleichzeitig in unbeschreiblichen Gewaltexzessen versinkt. Zeitgenossen der Revolution wie der Philosoph Kant mussten sich diesem immensen Widerspruch stellen, ohne eine Antwort zu finden. Auch späteren Generationen gelang es nicht, zur Lösung des Problems beizutragen, außer durch die Flucht in fatalistische Geschichtstheorien, die wahlweise die Unausweichlichkeit des Versagens trotz oder wegen der menschlichen Anmaßung oder die Unausweichlichkeit des Fortschritts trotz oder wegen etwaiger Rückschritte der Menschheit annehmen. Der Hegelianismus, der bereits in Condorcets „Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geists“ anklingt, und später der Marxismus setzten durch intellektuelle und geschichtsphilosophische Winkelzüge eine teleologische Interpretation durch, damit in der Gesamtabrechnung trotz allem höhere Gewinne als Verluste stehen. Traditionalistische, gegenrevolutionäre oder ganz einfach liberale Gegenstimmen behaupteten das Gegenteil und verwiesen auf die gefährlichen Illusionen, die durch den Glauben an die Vernunft und die Tugend des Gemeinwillens entstehen. Der Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 und die offensichtlichen Mängel des ‚realexistierenden Sozialismus‘ trugen zur Entzauberung der demokratischen Bestrebungen bei, deren Schwächen eng mit der Vagheit zusammenhängen, die sich aus ihrer revolutionären Entstehung ergibt.39 Diese Erfahrung darf nicht nur als Anekdote betrachtet werden. Ist es möglicherweise angebracht, zu François Furets Positionen zurückzukehren, der die Illusionen der ‚Revolutionäre‘ von 1789 anprangert, die ihre politische Innovation rechtfertigen, indem sie sie zum Wegbereiter der Modernität erklären? Ist es nicht 38 Jean-Paul Rabaut Saint-Etienne, Précis historique de la Révolution française, Paris 1813, S. ,0454. 39 Pierre Rosanvallon, La démocratie inachevée, Paris 2000, S. 11.

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möglicherweise ebendiese ‚Gedenkhaltung‘, die auch die terreur als ebenso bedeutendes und fast unbeschreibliches Ereignis inszeniert, um die Irrungen und Misserfolge der tatsächlich durchgeführten Politik zu erklären und gleichzeitig ‚Errungenschaften‘ der Revolution beizubehalten? Die Geschichte hätte somit diese erste Enttäuschung in Form eines Dramas erlebt, bevor dann die erneute Enttäuschung im Jahr 1989 in Form einer Parodie über die Bühne ging. Aber die Ereignisse des Jahres 1989 haben die Abkehr von der kommemorativen Geschichtsschreibung und die Hinwendung zu einer sachlichen, vergleichenden Geschichte derjenigen Revolutionen, die als Urheber unserer Moderne fungierten, möglich gemacht. Meine Hoffnung ist es, dass die Verschiebung der Dringlichkeiten der Geschichte es möglich macht, dass das Medusenhaupt der terreur keine solche Faszination mehr hervorruft. (Aus dem Französischen übersetzt von Jana Ledermann)

Christina Schröer

Sinnstiftung im Ausnahmezustand. Symbolik und Gewalt im Zeitalter der Französischen Revolution

I. Einleitung Kriege und Revolutionen, das zeigen auch die Ereignisse der jüngeren Zeitgeschichte immer wieder aufs Neue, sind ein gewaltpolitischer Sonderfall: Sie setzen die ansonsten vermeintlich klare Trennung von legitimer und illegitimer Gewalt außer Kraft und zeigen diese damit prinzipiell als verhandelbar auf. Die Französische Revolution ist in dieser Hinsicht ein anhaltender Ausnahmezustand. Sie ist gleichzeitig Chiffre für die Kritik an der gewaltsamen Politik des Ancien Régime, für den gewaltsamen Umbruch zum Nouveau Régime sowie für die Legitimierung und Legalisierung neuartiger, politisch motivierter Gewaltexzesse in Krieg und Bürgerkrieg. Jenseits aller Fragen nach Legitimität und Legalität war die Französische Revolution zunächst jedoch vor allem eine Gewalterfahrung. Untrennbar ist die Idee des gewaltsamen bzw. von Gewalt begleiteten Umbruchs seit 1789 mit dem Revolutionsbegriff verbunden.1 Trotz aller sachlich begründeten – und geschichtspolitisch beflügelten – Bestrebungen, in der Revolution vor allem die Geburtsstunde der modernen Demokratie, ihrer Verfassungskultur und schriftlich fixierten, allgemeingültigen Rechtsprinzipien zu sehen, würde man dem Ereignis nicht gerecht, wenn man nicht auch die Gewalterfahrungen oder, kurz gesagt, das „Blut der Freiheit“, wie es Rolf Reichardt in einem Buchtitel prägnant auf den Punkt gebracht hat,2 in angemessener Form in den Blick nehmen würde. So haben alle Schulen der Geschichtsschreibung zur Französischen Revolution sich an dem Thema erprobt3 – und sich an ihm prüfen lassen müssen. 1 Vgl. Reinhart Koselleck u. a., Art. „Revolution (Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg)“, in: Geschichtliche Grundbegriffe 5, 1984, S. 653–788, hier S. 726. 2 Vgl. Rolf Reichardt, Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur, Frankfurt a. M. 32002. 3 Thamer betrachtet den Umgang mit dem Gewaltthema als ein entscheidendes Kriterium zur Klassifikation der einzelnen Schulen der Revolutionsgeschichtsschreibung: vgl. Hans-Ulrich Thamer, Revolution, Krieg, Terreur. Zur politischen Kultur und Ikonographie der Französischen Revolution, in: Hagen Keller / Nikolaus Staubach (Hgg.), Iconologia Sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas. Festschrift für Karl Hauck zum 75. Geburtstag, Berlin/New York 1994, S. 632–650, hier S. 633.

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Christina Schröer

Nach zwölf Jahren Forschungsförderung zu Fragen der ‚symbolischen Kommunikation‘ steht auch der Ansatz des Münsteraner Sonderforschungsbereichs „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ auf dem Prüfstand, der sich freilich in die seit über 20 Jahren auch andernorts in Deutschland, Frankreich und den USA betriebene kulturgeschichtliche (Revolutions-)Forschung einschreibt.4 Das Teilprojekt zum Thema „Macht und Ritual im Zeitalter der Französischen Revolution“, in dessen Kontext die nachfolgenden Überlegungen entstanden sind, war dabei eines der wenigen in diesem Forschungsverbund, die sich überhaupt explizit mit Gewaltphänomenen befasst haben.5 Im Zentrum der Arbeiten stand das Thema jedoch nicht. Zu Recht erinnerte Jean-Clément Martin 2007 in seiner Einleitung zu einem Tagungsband des Projektes daran, dass zwar ein konsequentes Interesse für den Einfluss symbolischer Politik auf Machtbeziehungen zu konstatieren sei – dabei jedoch die Gewalt als eine spezifische Dimension von Macht zu kurz komme.6 An diese und andere Kritik anknüpfend, sollen im Folgenden selbstkritisch einige Fragen aufgeworfen werden: Die Fragestellung „Alles nur symbolisch?“ ist mehrdeutig. Löst sich am Ende ‚Gewalt‘ in kulturgeschichtlicher Perspektive in körperlose Repräsentationen auf, erklären wir Gewalt als ‚nur‘ symbolisch in einem einschränkenden, vom Kern des Politischen wegführenden Sinne, wie es Bernd Weisbrod einmal formuliert hat?7 Hat die Kulturge4

Wegweisend der Essay von Lynn Hunt, Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a. M. 1989 (engl. Erstausg. u. d. T. Politics, Culture and Class in the French Revolution, Cambridge 1984); außerdem vgl. z. B.: Michel Vovelle, Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 7), München 1982; Antoine de Baecque, Le corps de l’histoire: métaphores et politique (1770–1800), Paris 1993; Annie Jourdan, Les monuments de la Révolution française. Le discours des images dans l’espace parisien, 1789– 1804, Diss. Amsterdam 1993. 5 Vgl. u. a. Thamer, Revolution, Krieg, Terreur (wie Anm. 3); Rüdiger Schmidt, Zur Metaphysik expressiver Macht. Rituale der Terreur, in: Frank Becker u. a. (Hgg.), Politische Gewalt in der Moderne. Festschrift für Hans-Ulrich Thamer, Münster 2003, S. 1–22. Vgl. außerdem aus dem Kontext des Sonderforschungsbereichs u. a. Barbara Krug-Richter / Magnus Eriksson (Hgg.), Streitkultur(en). Studien zu Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16. bis 19. Jahrhundert), Köln u. a. 2003. 6 Vgl. Jean-Clément Martin, Introduction. Représentation et pouvoir à l’époque révolutionnaire, in: Natalie Scholz / Christina Schröer (Hgg.), Représentation et pouvoir. La politique symbolique en France (1789–1830), Rennes 2007, S. 13–20, hier bes. S. 14 und S. 17. – Man sei schließlich, so Martin, in der Revolution für das Tragen von schwarzen Kokarden oder eines Herzjesu-Abzeichens auf die Guillotine geschickt worden – und die Tausenden von Toten in Krieg und Bürgerkrieg seien in jedem Fall ein zwingender Beweis für die Unzulänglichkeit des Eliasschen Schemas von der Zivilisierung der Sitten; vgl. ebd., S. 17. 7 Vgl. Bernd Weisbrod, Das Politische und die Grenzen der politischen Kommunikation, in: Daniela Münkel / Jutta Schwarzkopf (Hgg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Adelheid von Saldern, Frank-

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schichte es gar versäumt, das Gewaltthema überhaupt anzugehen, und drückt sich um die Auseinandersetzung mit Gewalthaftem? Im Zentrum der sich anschließenden Argumentation steht folgende Leitfrage: Was trägt der Ansatz des Münsteraner Sonderforschungsbereichs zu einem besseren Verständnis von Gewaltphänomenen in der Französischen Revolution bei? Zur Beantwortung werden einerseits Ergebnisse aus der Projektarbeit bilanziert, andererseits darüber hinaus weitere Perspektiven zur Erforschung von Konfigurationen von Symbolik und Gewalt im Zeitalter der Französischen Revolution entwickelt. Vorangestellt werden einige kurze Bemerkungen zum Gewalt- und Symbolbegriff.

II. Begriffe und Forschungsansatz Revolutionäre Gewalt, das war die Gewalt des Volkes, in Paris und auf dem Land, aber auch die Gewalt der Obrigkeit oder die Gewalt des Krieges und Bürgerkrieges in Frankreich und in Europa. Und diese Typologie unterschiedlicher Gewaltformen ließe sich noch weiter fortsetzen, je nachdem, welche Maßstäbe der Einteilung man zugrundelegt.8 So begegnet man in der seit den 1980er Jahren in Deutschland entstandenen soziologischen und historischen Gewaltforschung – die nach wie vor große Konjunktur hat – über solche akteurs- bzw. praxisbezogenen Auffassungen von ‚Gewalt als Handlungsform‘ hinaus auch einem erweiterten Verständnis von ‚Gewalt als Strukturprinzip‘, das sich für Probleme ‚symbolischer‘9 oder ‚struktureller‘

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furt a. M./New York 2004, S. 99–112, u. a. S. 99 f. Als eigentlichen ‚Kern‘ des Politischen definiert Weisbrod die Genese politischer Entscheidungen, die Rückwirkung von materiellen Interessen oder die Öffentlichkeitswirkung von Ideen oder Glaubenssystemen. Üblicherweise beginnen Definitionen mit der Unterscheidung von potestas (im Sinne von politischer Macht bzw. Herrschaftsgewalt) und violentia (im Sinne von unrechtmäßiger ‚Eigenmacht‘), eine Unterscheidung, an die sich auch die Frage nach vermeintlicher Rechtmäßigkeit bzw. Legitimität (unterstellt für den Bereich der Herrschafts- oder Amtsgewalt) und nach Illegitimität (unterstellt für Ausschreitungen der violentia) anschließt. Vgl. z. B. Ekkart Zimmermann, Politische Gewalt. Rebellion, Revolution, Krieg, in: Günter Albrecht / Axel Groenemeyer / Friedrich W. Stallberg (Hgg.), Handbuch soziale Probleme, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 556–574, hier S. 556. Dort auch zum Folgenden. Anders als es der Titel des Aufsatzes vielleicht vermuten lässt, soll es im Folgenden nicht um ‚symbolische Gewalt‘ gehen, die nach der Definition Bourdieus durch Sprache, Vorstellungen und Gesten ausgeübt wird bzw. Prozesse der Setzung und Durchsetzung von Prinzipien sowie die damit verbundene Etablierung von Wahrnehmungsmustern von Herrschaftsverhältnissen beschreibt. Dieses Begriffsverständnis erscheint für die empirische Arbeit zu weit gefasst. Vgl. Neithard Bulst / Ingrid Gilcher-Holtey / Heinz-Gerhard Haupt, Einleitung, in: dies. (Hgg.), Gewalt im politischen Raum. Fallanalysen vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert (Historische Politikforschung 15), Frankfurt a. M./New York 2008, S. 7–23, hier S. 14; sowie Gérard Mauger, Über symbolische Gewalt, in: Catherine Colliot-Thélène / Etienne

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Gewalt10 interessiert. Das Phänomen ‚Gewalt‘ ist äußerst heterogen und die Forschung hat eine Fülle von theoretischen Modellen, methodischen Zugängen und empirischen Befunden hervorgebracht, die hier nicht alle referiert werden können. Die Übergänge zu anderen Phänomenen wie ‚Zwang‘ und ‚Macht‘ sind fließend, so dass allzu systematische Typologien meist ohnehin von Beginn an zum Scheitern verurteilt sind.11 Den folgenden Überlegungen liegt daher ein enger Gewaltbegriff zugrunde, ein Begriff „physischer“ Gewalt, der davon ausgeht, dass diese „körperlich erfahren“ bzw. „von Körpern an Körpern ausgeübt“ wird.12 Eine Ausweitung der Definition auf Phänomene psychischer oder struktureller Gewalt scheint die Trennschärfe des Gewaltbegriffes eher zu verwässern;13 in vielen Fällen erscheint in diesen Bereichen die Anwendung des Machtbegriffes angemessener. Ähnlich vieldeutig wie der Gewalt- ist auch der Symbolbegriff. Die im Folgenden behandelte Auswahl von unterschiedlichen Beziehungen bzw. ‚Konfigurationen‘ von Symbolik und Gewalt erhebt keinerlei Anspruch auf Systematik oder Vollständigkeit, sondern versteht sich als Reflexionsangebot zu einer ‚Historischen Gewaltforschung‘ unter dem Vorzeichen der Kulturgeschichte des Politischen. Die ausgewählten Beispiele stammen aus dem Umfeld meiner Dissertation, die sich unter dem Oberbegriff ‚symbolische Politik‘ mit politischem Verhalten beschäftigt, das durch die Kraft und Wirkung von Symbolen strukturiert ist.14 Gegenstandsbereich sind komplexe Sinnprodukte François (Hgg.), Pierre Bourdieu. Deutsch-französische Perspektiven, Frankfurt a. M. 2005, S. 208–230, bes. S. 216. 10 ‚Strukturelle Gewalt‘ entsteht Galtung zufolge durch Machtverhältnisse und dadurch bedingte ungleiche Lebens- und Verwirklichungschancen; vgl. Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Hamburg 1982; sowie Bulst / Gilcher-Holtey / Haupt, Einleitung (wie Anm. 9), S. 13. 11 So auch Dirk Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung, in: Archiv für Sozialgeschichte 37, 1997, S. 366–386, hier S. 366. 12 Vgl. Thomas Lindenberger / Alf Lüdtke, Einleitung, in: dies. (Hgg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995, S. 7–38, hier S. 7. Auch Gerd Schwerhoff formuliert: „G[ewalt] lässt sich als die Ausübung von physischem Zwang zur Überwindung eines Widerstandes definieren; oder sie wird – aus der Perspektive des G[ewalt]-Opfers – als Verletzung oder Beeinträchtigung der körperlichen Integrität eines Menschen gefasst.“ Gerd Schwerhoff, Art. „Gewalt, 1. Begriff – 3. ‚Innere‘ und ‚äußere‘ Gewalt im Staatsbildungsprozess“, in: Enzyklopädie der Neuzeit 4, 2006, Sp. 787–794, hier Sp. 787. 13 So auch die Meinung von Gertrud Nunner-Winkler, Überlegungen zum Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer / Hans-Georg Soeffner (Hgg.), Gewalt. Entwicklung, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt a. M. 2004, S. 21–61. 14 Vgl. Christina Schröer, Republik im Experiment. Symbolische Politik im revolutionären Frankreich, voraussichtl. Köln u. a. 2013. [in Vorbereitung]. Für weitere Fallbeispiele zur Analyse und Interpretation symbolischer Politik vgl. Rolf Reichardt / Rüdiger Schmidt / HansUlrich Thamer (Hgg.), Symbolische Politik und politische Zeichensysteme im Zeitalter der Französischen Revolutionen, 1789–1848 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 10), Münster 2005; Rüdiger Schmidt / Hans-Ulrich Thamer (Hgg.), Die

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im politischen Machtkampf, zum Beispiel sprachliche Metaphern, Bilder und Artefakte, vor allem aber symbolische Handlungssequenzen wie Rituale und Zeremonien. Diese, so eine der grundlegenden Annahmen in Anlehnung an das Gesamtkonzept des Sonderforschungsbereichs, sind zum einen deutlich auf politische Inhalte bezogen, verweisen aber zum anderen gleichzeitig in verdichteter – beispielsweise metaphorischer, visueller oder gegenständlicher –, nicht-diskursiver Form über sich selbst hinaus auf etwas Anderes, auf einen größeren Zusammenhang.15 Die empirische Analyse der offiziellen Repräsentationsformen der Ersten Französischen Republik sowie ihre Konfrontation mit der politischen Praxis der entstehenden demokratischen, autoritaristischen und royalistischen ‚Opposition‘ gibt Aufschluss über Genese, Funktion und Wirkung symbolischer Politik im Umbruch zur Moderne.16 Die Frage der Gewalt war in meiner Arbeit insofern allgegenwärtig, als Gewalt von 1789 an als Instrument und Erbe der Revolution ein zentrales Element der Politik darstellte. Alle Machtwechsel im Revolutionsjahrzehnt waren von Gewalt begleitet, alle Gruppen im Machtkampf mussten sich dazu positionieren und bemühten nicht selten eigene Strategien der Legitimierung bereits verübter Gewalt bzw. entfalteten eigene Gewaltpraktiken. Fallbeispiele zu drei verschiedenen Konfigurationen von Symbolik und Gewalt sollen im Folgenden in einem ersten Schritt drei Thesen belegen: Erstens wurde die eingangs zitierte Grenze zwischen legitimer und illegitimer Gewalt gerade im Kontext von Symbolpolitik immer wieder neu verhandelt. Damit war Symbolpolitik zweitens nicht nur nachvollziehendes Reden über Gewalt, nicht nur Spiegel bestimmter Wert- und Deutungsmuster, sondern auch aktiv an der Hervorbringung und Weiterentwicklung solcher Muster beteiligt. Drittens konnte in allen untersuchten Aktionsräumen symbolischer Politik beobachtet werden, dass Symbolpolitik zwar stets mit dem Anspruch der Gewaltvermeidung durch Gemeinschaftsstiftung und Integration antrat, jedoch häufig konfliktsteigernde Wirkungen zeitigte und selbst wieder zum Auslöser neuer Gewalttätigkeiten werden konnte. Konstruktion von Tradition. Inszenierung und Propaganda napoleonischer Herrschaft, 1799– 1815 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 32), Münster 2010. 15 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung, in: dies. (Hg), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 35), Berlin 2005, S. 9–24, hier S. 11. 16 Vgl. z. B. die symbolpolitische Kooperation und Konfrontation zwischen der Regierung des Directoire exécutif und dem aufstrebenden jungen General Napoléon Bonaparte: Christina Schröer, Vive la République versus Vive Bonaparte? Die Inszenierung Napoleon Bonapartes als Staatsmann (1795–1815), in: Schmidt / Thamer (Hgg.), Die Konstruktion von Tradition (wie Anm. 14), S. 153–189.

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III. Bilanz: Gewalt als Ursache und Gegenstand von Symbolpolitik 1. Die Legitimation des ‚Blutes der Freiheit‘ in Akten offizieller Repräsentation Anlässlich von Staatsakten, Festen und Zeremonien mussten die Verfassungsorgane und neuen Institutionen gegenüber der in der Revolution verübten Gewalt Stellung beziehen. Viele Daten des republikanischen Festkalenders erinnerten an blutige Aufstände und Gewaltakte: der 14. Juli an den Jahrestag des Bastillesturms, der 10. August an den Sturz der Monarchie und das Massaker an 600 Gardisten im Tuilerienschloss, der 21. Januar an die Hinrichtung Ludwigs XVI., der 9. und 10. Thermidor (27. und 28. Juli) als Freiheitsfest an den Sturz und die Hinrichtung Robespierres. Festreden und Inszenierungen ordneten an den entsprechenden Jahrestagen die Geschehnisse ein und versahen sie mit einer offiziellen Deutung. Mit den Regimeumbrüchen von 1792 (von der Monarchie zur Republik), 1793 (Errichtung der Diktatur des Wohlfahrtsausschusses), 1794 (Sturz Robespierres), 1795 (Verfassung und Einrichtung des Direktoriums) bzw. 1797 (Staatsstreich des Triumvirats im Direktorium vom 18. Fructidor) änderten sich diese Deutungen jedoch regelmäßig und wurden als verhandelbar und kontextabhängig erkennbar.17 Dies sollte besonders in der Spätphase der Revolution zu einem Problem werden, in der der Drahtseilakt zwischen Legitimierung der und Abgrenzung von den Gewalthandlungen vorangehender Radikalisierungsschübe immer komplizierter wurde. Nach der Hinrichtung Robespierres erlebte die Republik in den Jahren 1794 und 1795 eine krisenhafte Übergangszeit. Die im Konvent dominierende gemäßigte republikanische Mitte fühlte sich durch Anhänger der gestürzten Königs- bzw. Jakobinerherrschaft von rechts und links bedroht. Man hielt sich mit öffentlichen Auftritten und Inszenierungen eher zurück – und dennoch mussten zumindest im parlamentarischen Raum die gesetzlich vorgeschriebenen Gedenktage und Nationalfeste begangen werden. Als weniger gut bekanntes Beispiel aus diesem Kontext kann die umstrittene Feier des Jahrestages vom 31. Mai 1795 angeführt werden. Zur Erinnerung an den Aufstand der Pariser Volksbewegung vom 31. Mai bis zum 2. Juni 1793, der zum 17 Der Kampf um die Herrschaft war immer auch ein Kampf um die Deutungsmacht über die Gewalterfahrung der Revolution, über deren Erinnern oder Vergessen. Vgl. François Furet, 1789. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft (Sozialgeschichtliche Bibliothek), Frankfurt a. M. u. a. 1980 (frz. Erstausg. u. d. T. Penser la Révolution française, Paris 1978).

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Ausschluss der Girondisten und ihrer Unterstützer aus dem Konvent sowie zur Hinrichtung ihrer wichtigsten Anführer auf der Guillotine geführt hatte,18 war das Datum von Robespierre und den Montagnards per Dekret vom 18. Floréal II (7. Mai 1794) zum Nationalfeiertag erhoben worden. 1795 waren jedoch aufgrund der erneut veränderten politischen Lage die Überlebenden bereits in die parlamentarische Versammlung zurückberufen worden; eine positiv besetzte Erinnerung an den Aufstand war nunmehr undenkbar. Zudem stand der Konvent vor dem Problem, dass die Volksbewegung sich in Paris erneut zu formieren begann: Am 1. Prairial III (20. Mai 1795) war es zu gewaltsamen Unruhen und zum Eindringen der Aufständischen in den Konvent gekommen; dabei war ein Abgeordneter enthauptet und sein Kopf dem Konventspräsidenten auf einer Pike präsentiert worden (Abb. 2). Das Gedenken an diesen Mord wurde nun symbolpolitisch wirkungsvoll mit demjenigen an die Opfer von 1793 verknüpft: Die neuen Machthaber nutzen den Anlass zu einer doppelten Distanzierung von der Volksbewegung. Anstelle des von den Jakobinern gewünschten Nationalfestes zum Gedenken an den Aufstand beging man nun den 2. Juni als Jahrestag der Verhaftung der Girondisten mit einer parlamentarischen Trauerzeremonie.19 In der offiziellen proclamation wurden allerdings gleichzeitig andere gewaltsame Erhebungen der Revolution erinnert, zu denen man sich weiterhin uneingeschränkt positiv bekannte: Am 14. Juli 1789, am 10. August 1792 und 9. Thermidor II (27. Juli 1794) hätten die Abgeordneten Seite an Seite mit dem Volk für die Freiheit gekämpft. Der 31. Mai hingegen wurde nun als Wegbereiter für die Verbrechen der terreur interpretiert,20 der 1. Prairial III (20. Mai 1795) zum illegitimen Ausbruch einer archaischen Volksgewalt stilisiert. Im Kontext der bereits seit der Mitte der 1790er Jahre zutiefst gespaltenen politischen Landschaft gerieten dabei Feste nicht selten zum Auslöser von neuen Feindseligkeiten und Konflikten. Die verschiedenen politischen Gruppierungen rivalisierten bei den revolutionären Gedenkanlässen um sehr viel 18 27 Abgeordnete waren 1793 geächtet, 76 weitere Konventsmitglieder aufgrund ihrer Solidaritätsbekundungen aus dem Parlament ausgeschlossen worden; vgl. Reichardt, Das Blut (wie Anm. 2), S. 155. 19 Férauds Tod wurde zum Symbol der Bedrohung durch die Sansculotten stilisiert und zu einer Abrechnung mit der Partei Robespierres genutzt. Bereits im Kontext des Aufstandes selbst hatten die Abgeordneten an den 31. Mai 1793 erinnert: Erneut habe das Volk versucht, der Versammlung seinen Willen aufzuzwingen. Doch dank des mutigen Eingreifens zahlreicher Volksvertreter und Bürger, so ließ der Konvent am 2. Prairial in einer proclamation verlautbaren, habe sich die Geschichte nicht wiederholt – auch wenn sich die Aufständischen bemüht hätten, erneut Hunger und Elend über die Franzosen zu bringen. Vgl. Moniteur n° 247, 7 prairial III (26. Mai 1795), Convention nationale, suite de la séance du 2 prairial. 20 Vgl. Mona Ozouf, De thermidor à brumaire. Le discours de la Révolution sur elle-même, in: Revue Historique 243, 1970, S. 31–66, hier S. 57.

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Abb. 2: Pierre-Gabriel Berthault / Jean Duplessi-Bertaux, Assassinat du député Ferraud dans la Convention nationale // le 1er Prairial, An 3ème de la République, Paris, BnF, Coll. de Vinck, Inv. 6576.

mehr als ‚nur‘ um die Besetzung der Erinnerung; jede Stellungnahme zu den Gewalttaten der Vergangenheit implizierte eine politische Weichenstellung für die Zukunft. Die freudige Erinnerung der Jakobiner und der gemäßigten Republikaner an ihre jeweiligen Triumphe in den ersten Jahren der Republik schlossen sich wechselseitig so gut wie aus, was zum Beispiel im Sommer 1795 zu Problemen führen sollte, als man in integrationsstiftender Absicht versuchte, die Erinnerungen an den Sturz der Monarchie (10. August 1792) und an den Sturz der terreur (9./10. Thermidor II) in ein- und demselben Festakt zu begehen.21 Vehementer Protest durch verschiedene Redner im Konvent sollte schließlich dazu führen, dass man zwei getrennte Feiern organisierte – vorgeblich, um den jeweiligen Charakter der beiden höchst unterschiedlichen Regimeumbrüche besser zu würdigen. Solche Aussagen entpuppten sich jedoch im Kontext neuer oppositioneller Bewegungen von rechts und links 21 Vgl. Moniteur n° 310, 10 thermidor III (28. Juli 1795), Convention nationale, séance du 5 thermidor.

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rasch als hilflose Rhetorik.22 Die Krise der Republik war in Wirklichkeit so tiefgreifend, dass man glaubte, beiden gegnerischen Lagern durch Zugeständnis ihrer jeweiligen Errungenschaften und Erinnerungen entgegenkommen zu müssen, um neue Gewalttaten zu verhindern.23

2. Die ambivalente Verherrlichung von Gewalt im republikanischen Bürger- und Militärkult Jahr für Jahr sollten sich auch nach der Verabschiedung der Verfassung von 1795 und Einsetzung der neuen Regierung die Debatten um Erinnerung und ‚richtige‘ Deutung der revolutionären Gewalt fortsetzen.24 Mit dem Fest vom 9. Thermidor (27. Juli) fasste das Direktorium im Jahr IV (1796) schließlich doch die Erinnerung an die Ereignisse des 14. Juli, 10. August und des 9. Thermidor an einem Tag zusammen, offiziell motiviert als Feier des doppelten Sieges über die Tyrannei von Monarchie und Diktatur.25 Die Zeremonie konzentrierte sich – trotz des großen Protestes seitens der linken ‚Opposition‘ – vor allem auf die Erinnerung an den 9. und 10. Thermidor, also den Sturz und die Hinrichtung Robespierres, die (entgegen den Tatsachen) zur Geburtsstunde der neuen Verfassung überhöht wurden. Landesweit wurde der Triumph der Republik über das Ancien Régime und die terreur als doppelter Verfassungsund Thronsturz visualisiert; wohl als Zugeständnis an die Jakobiner wurden 22 Am 13. Vendémiaire III (4. Oktober 1794) erhoben sich die gemäßigt republikanischen und monarchistischen Pariser Sektionen gegen die per Dekret veranlasste Einschränkung der bevorstehenden Wahlen durch den republikanischen Konvent; 1796 wurde die Babeuf-Verschwörung aufgedeckt; außerdem flackerte auch die Aufstandsbewegung der Chouannerie in Nordwestfrankreich erneut auf. Zur Ereignisgeschichte vgl. Georges Lefebvre, La France sous le Directoire 1795–1799, Paris 1984 bzw. Denis Woronoff, La République bourgeoise de Thermidor à Brumaire 1794–1799 (Nouvelle Historie de la France contemporaine 3), Paris 1972, bes. S. 31 ff., S. 40 ff. und S. 55 ff. 23 „Les royalistes diraient que la Convention veut établir le règne de la terreur, puisqu’en célébrant le 10 août elle veut faire oublier le 9 thermidor, jour auquel le règne de la terreur fut détruit; les terroristes crieraient de leur côté au royalisme. La Convention, diraient-ils, veut rétablir la royauté, car elle ne célèbre pas l’anniversaire de la destruction de la royauté.“ Moniteur n° 310, 10 thermidor III (28. Juli 1795), Convention nationale, séance du 5 thermidor. 24 Vgl. dazu auch Ozouf, De Thermidor à brumaire (wie Anm. 20) sowie dies., Thermidor ou le travail de l’oubli, in: dies, L’école de la France. Essai sur la Révolution, l’utopie et l’enseignement, Paris 1984, S. 91–108. Ozouf geht davon aus, dass sich in allen Festen der Jahre 1794–1799 der Wunsch nach Beendigung der Revolution und Vergessen der grausamen Vergangenheit ausdrückte, entsprechend des „conformisme de juste milieu“. Diese Einschätzung wird in ihrer Allgemeinheit von mir nicht geteilt – immer wieder wurden Appelle wider das Vergessen in der Legislative vorgetragen und ernsthaft diskutiert. 25 Vgl. Directoire exécutif, Arrête du 17 messidor an IV, in: Moniteur n° 299, 29 messidor IV (17. Juli 1796).

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in der Hauptstadt während des Festes auch die Akte der Zerstörung der Bastille und die Ereignisse des 10. August 1792 szenisch nachgespielt.26 Solche öffentlichen Inszenierungen von Heldentaten und Kampfhandlungen trugen zu einer Überhöhung der revolutionären Gewalt bei; sie verankerten die Idee der ‚legitimen‘ Gewalt gegen potentielle ‚Unterdrücker‘ als festen Bestandteil in der republikanischen Tradition. Gleichzeitig bekämpfte man all diejenigen, die sich dem offiziellen republikanischen Deutungsmuster widersetzten und eigene Interpretationen des Geschehenen politisch mehrheitsfähig zu machen versuchten. Die fehlende parlamentarische Kultur des Kompromisses und der legitimen Opposition sowie die außerparlamentarisch fortdauernden Attacken auf die gemäßigte Mehrheit in Regierung und Parlament unterhöhlten schleichend die Autorität des republikanischen Regimes. Das Direktorium bemühte sich um die Erfindung und Institutionalisierung von Gegenmitteln. Zum wichtigsten Instrument wurde dabei die republikanische Erziehungspolitik, die sich in den späten 1790er Jahren weniger auf Schulen und Universitäten denn auf die Moral des Einzelnen und die Beeinflussung seiner Sitten und Gewohnheiten bezog. Über die Schaffung sogenannter ‚republikanischer Institutionen‘ sollte eine planvolle ‚Formung‘ der Franzosen zu Staatsbürgern erreicht werden.27 Symbolpolitik wurde zu einem Instrument weiterentwickelt, mit dem man zukünftige Gewalt verhindern wollte. Zwang, so formulierte zum Beispiel das Regierungsmitglied La Revellière-Lepeaux nach dem sogenannten ‚Staatsstreich gegen die Royalisten‘ vom Herbst 1797, reiche nicht aus, um ein Regime zu stützen bzw. aufrechtzuerhalten; nichts sei gewiss, solange man nicht die Menschen selbst in ihrem Kern verändert habe.28 Die Nationalfeste waren La Revellière zufolge das beste Mittel, um solche Veränderungen der Menschen in ihrem Kern herbeizuführen. Dieser zunächst pazifistisch daherkommende Erziehungsanspruch der Feste und anderer ‚republikanischer Institutionen‘ wurde jedoch de facto eng mit einer Idealisie26 Vgl. Programme des fêtes des 7 [sic] et 10 thermidor, pour le canton de Paris, in: Moniteur n° 304, 4 thermidor IV (22. Juni 1796). 27 Vgl. dazu auch Hans-Christian Harten, Elementarschule und Pädagogik in der Französischen Revolution, München 1990, S. 88 ff. 28 „Ce n’est pas par la contrainte que l’homme peut être solidement attaché même à ce qui doit faire sa gloire et son bonheur. […] La force […] est un moyen qui s’use […]. Je veux dire qu’il importe surtout de mettre en usage tout ce qui peut modifier, pour ainsi dire, la substance de l’homme, de manière à l’identifier avec la forme du gouvernement, et à faire de l’amour de la liberté sa passion dominante“; La Revellière-Lepeaux, Essai sur les moyens de faire participer l’universalité des spectateurs à tout ce qui se pratique dans les fêtes nationales, Lu dans la séance du 22 vendémiaire an VI de la classe des sciences morales et politiques de l’Institut national, in: Mémoires de Lareveillière-Lépeaux, membre du Directoire exécutif de la République française et de l’Institut national, Bd. 3: Pièces justificatives, Paris o. J., S. 28–39, hier S. 29.

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Abb. 3: Fête des Victoires au Champ-de-Mars, le 10 prairial an VI (29. Mai 1796), Vizille, Musée de la Révolution française, Inv. 1986–269.

rung des Opfergedankens im Dienste der ‚guten Sache‘ verquickt – also mit einer indirekten Förderung von erneuter Gewaltbereitschaft im Kampf gegen die inneren und äußeren Feinde der Republik. Schon 1795 war der dritte Jahrestag der Republikgründung umgedeutet worden zum ‚schönsten Anlass‘, um der Opferbereitschaft all derjenigen zu gedenken, die das Ende der Monarchie mit ihrem Blut besiegelt hätten.29 Solche Überzeugungen spitzten sich in der zweiten Hälfte der 1790er Jahre weiter zu und erfuhren neue Auslegungen in Theorie und Praxis. Durch Siegesfeste und Preisverleihungen zelebrierte die Regierung öffentlich militärische Tugenden und belohnte damit unter anderem auch die Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt für die Republik. Auf der Fête de la Victoire vom 10. Prairial IV (29. Mai 1796) zum Beispiel verteilte das Direktorium im Namen 29 „Quelle plus belle circonstance, pour célébrer la proclamation de la république, que celle où vous jetez des fleurs sur la tombe des hommes qui, après l’avoir préparée par leur courage, l’avoir défendue par leurs vertus, ont eu la gloire de la sceller de leur sang!“; Moniteur n° 366, 6e jour complémentaire III (22. September 1795), Convention nationale, suite de la séance du 2e jour complémentaire.

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des Vaterlandes Kronen aus Eiche und Lorbeer an die Soldaten (Abb. 3).30 Die Zeremonie auf dem Marsfeld, zu Füßen der Freiheitsstatue, wurde in einer Zeichnung festgehalten:31 Links im Bild ehren Offiziere der Italienarmee die Büste eines der ihren, der vermutlich während des Feldzugs gefallen war, mit einem Lorbeerkranz. In der Bildmitte sieht man die Direktoren im großen Staatsornat, die von einem Altar des Vaterlandes, der den Armeen der französischen Republik geweiht ist, Bürgerkronen verteilen. Von rechts nähern sich Soldaten der Szene; drei von ihnen umarmen sich untereinander. Der Betrachter hat den Eindruck, Zeuge eines militärischen Kultes zu werden – und ähnlich müssen auch die Zeitgenossen die wachsende Bedeutung der Armee als Stütze der Republik und Vorbild der Bürger wahrgenommen haben. Die Regierung unterstützte gleichzeitig auch Publikationen wie Les Fastes du peuple français,32 in denen ausgewählte heroische Taten französischer Bürger in Bild und Text beschrieben wurden. Die Drucke visualisierten zwar unter anderem auch Zivilisten, die meisten Motive zeigten jedoch Nationalgardisten oder Soldaten im Kriegseinsatz. Die Darstellung des soldatischen Alltags diente der Verherrlichung militärischer Tugenden des Mutes und Kampfgeistes als Kulisse. Anlässlich der Nationalfeste erhielten Veteranen und andere Soldaten Ehrenplätze und Auszeichnungen; ihnen wurden Inschriften und Gesänge gewidmet. Solche Heroisierungen waren ambivalent und gefährlich für das junge parlamentarische Wertesystem:33 Die Ästhetisierung der soldatischen Heldentaten führte zu einer Überhöhung und Verherrlichung der 30 Vgl. Liberté. Égalité. Programme de la fête de la Victoire, 10 Prairial de l’an IV, Paris o. J. 31 Vgl. dazu die Objektbeschreibung von Philippe Bordes, in: ders. / Alain Chevalier, Catalogue des peintures, sculptures et dessins, Musée de la Révolution française, Vizille 1996, S. 212. Bordes geht sogar davon aus, die Zeichnung nehme bereits den Militärkult des Empire vorweg. 32 Vgl. Jacques Grasset Saint-Sauveur, Les Fastes du peuple Français, ou Tableaux raisonnés de toutes les actions héroïques et civiques du soldat et du citoyen français. Edition ornée de gravures d’après les dessins du Citoyen Labrousse, Paris 1796. Die Darstellungen sind in den Sammlungen der Bibliothèque nationale de France (BnF) katalogisiert, vgl. L. F. Labrousse (graveur), Les Fastes du peuple français, gravures au pointillé, Paris, BnF, Coll. de Vinck, Inv. 7106–7133. Auch die anderen großen Sammlungen der BnF (Collection de l’Histoire de France, Collection Hennin) verzeichnen dieses Thema. 33 Vgl. die noch schärfere Formulierung bei Howard G. Brown, From Organic Society to Security State. The War on Brigandage in France, 1797–1802, in: Journal of Modern History 69, 1997, S. 661–695, sowie bei dems. / Judith Miller (Hgg.), Taking Liberties. Problems of a New Order from the French Revolution to Napoleon, Manchester u. a. 2002. Dort wird davon ausgegangen, der Regimeumbau zum autoritären Staat habe bereits 1797 begonnen; in diese Richtung argumentiert auch Kruse, der von einer ‚Militarisierung‘ der Gesellschaft im Zweiten Direktorium spricht: Wolfgang Kruse, Die Erfindung des modernen Militarismus. Krieg, Militär und bürgerliche Gesellschaft im politischen Diskurs der Französischen Revolution 1789– 1799, München 2003. Die Ergebnisse meiner Forschungen legen demgegenüber nahe, den entscheidenden Einschnitt nach wie vor im Staatsstreich von 1799 zu sehen; vgl. Schröer, Republik im Experiment (wie Anm. 14), Fazit.

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kriegerischen Gewalt, die weniger als Ausnahme und Notwendigkeit, sondern immer mehr als der Republik inhärente Kultur und Realität veranschaulicht wurde. Auch der in Italien siegreiche Feldherr Napoléon Bonaparte profitierte in dieser Hinsicht von der Symbolpolitik des Direktoriums: Über eine geschickte Propaganda konnte er leicht an die kursierenden Imaginationen von Tapferkeit und Heldentum anknüpfen – bereits seit dem Italienfeldzug inszenierte er sich über Porträts und Allegorien als neuer Held und Beschützer der Republik.34 Nach seiner Rückkehr aus Ägypten wurde ihm zu Ehren am 15. Brumaire VIII (6. November 1799) in der Kirche Saint-Sulpice ein Fest veranstaltet35 – das erste seiner Art, denn vorher waren solche Feiern großen Daten, Ideen oder Toten vorbehalten gewesen.36 Drei Tage später wurde die Herrschaft des Direktoriums durch einen Staatsstreich beendet.

3. Die Perpetuierung einer ‚politischen Kultur der Gewalt‘ im Machtkampf der Fraktionen Betrieb das republikanische Regime im Zuge von Festen und Bildpropaganda eine bewusste Umdeutung und harmonisierende Ästhetisierung der Gewalt, so brachten die oppositionellen Bewegungen mit ihrer Presse-, Lied- und Bildpropaganda eine noch radikalere, mit polarisierenden Stereotypen und Zuspitzungen argumentierende Kultur der Gewalt hervor. In den 1790er Jahren bildete sich eine ‚Gegenmacht‘ zu den staatlichen Institutionen heraus, die Formen symbolischer Kommunikation zur Stabilisierung von Gruppenzusammenhalt und Propagierung der eigenen politischen Botschaften nutzte. Gewalt wurde thematisiert und/oder visualisiert, um sich positiv vom politischen Gegner abzugrenzen. In der Übergangszeit nach dem Sturz Robespierres entbrannte in den Straßen von Paris ein Machtkampf zwischen gemäßigten Republikanern bzw. Anhängern der konstitutionellen Monarchie auf der einen Seite, Jakobinern und Demokraten auf der anderen Seite, der auch als ‚Krieg der Theater‘ bekannt geworden ist.37 Es wurde zur Mode, während Theatervorstellungen Zettel mit politischen Bekenntnissen, Aufrufen oder Liedtexten auf die Bühne zu 34 Vgl. Schröer, Vive la République oder Vive Bonaparte? (wie Anm. 16). 35 Ins Bild gesetzt von: Motte, nach Grenier und Courtin et Moreau, gravure, Paris, BnF, abgebildet in: Michel Vovelle (Hg.), La Révolution française. Images et récit, Bd. 5, Paris 1989, S. 167. 36 Vgl. Jourdan, Les Monuments (wie Anm. 4), S. 85. 37 Vgl. François Gendron, La jeunesse dorée. Episodes de la Révolution française, Québec 1979, S. 62–126. Dort auch zum Folgenden. Flankiert wurden die Aktionen durch eine Offensive der Presse. Vgl. u. a. die Berichterstattung in: Messager du soir, 2 vendémiaire III; Gazette historique

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Abb. 4: Maton de La Varenne, PierreAnne-Louis de, Les Crimes de Marat et des autres égorgeurs; ou Ma Ressurrection. Ou l’on trouve non-seulement la preuve que Marat et divers autres scélérats, membres des Autorités publiques, ont provoqué tous les massacres des prisonniers; mais encore des matériaux précieux pour l’histoire de la Révolution française, Paris, an III (1795), Frontispiz.

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werfen, die von den Darstellern vorgetragen werden sollten. Das Lied „Réveil du peuple“ beispielsweise enthielt einen Aufruf zur Abrechnung mit den Verantwortlichen der terreur, die als blutrünstige Schlächter dargestellt wurden.38 Das „französische Volk, ein Volk von Brüdern“ wurde zur Gegenwehr aufgerufen: „Was ist das für eine barbarische Langsamkeit? Beeil Dich, souveränes Volk, den Monstern des Taenarus all’ diese Säufer menschlichen Bluts auszuliefern“.39 Der Text endete mit einem Appell an die Volksvertreter, die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Trotz seines versöhnlich und vorgeblich harmonisierenden Schlusses hatten der ausdrucksstarke Inhalt sowie die Intonation des Liedes insgesamt eine stark mobilisierende Wirkung. Die Gazette française berichtete, dass in den Theatern allabendlich die Zeile „Was ist das für eine barbarische Langsamkeit?“ mit tosendem Applaus bejubelt wurde, und dieser Zuspruch bestärkte die reaktionäre Bewegung der Hauptstadt in ihren Ausschreitungen gegen die Jakobiner.40 Die Ausschreitungen machten jedoch auch vor den

et politique de la France et de l’Europe, 1er vendémiaire an III; Courrier républicain, 1re sans-culottide. 38 Vgl. Laura Mason, Singing the French Revolution. Popular Culture and Politics, 1787–1799, Ithaca, NY 1996, S. 134. Dort auch zum Folgenden. 39 Vgl. ebd., S. 131 [Übersetzung: C. S.]. 40 Andere Lieder riefen in ähnlicher Weise zur „prompte vengeance“ und zum Ausschluss der ‚Mörder‘ und ‚Henker‘ aus dem Kreis der Bürgerfamilie auf. Vgl. Narrateur impartial, 3 pluviôse, zit. n.: François-Alphonse Aulard (Hg.), Paris pendant la réaction thermidorienne et le Directoire. Recueil de documents pour l’histoire de l’esprit public à Paris, Bd. 1, Paris 1898, S. 413: „Indulgence pour les erreurs,/ Mais prompte vengeances des crimes;/ N’épargnons point les égorgeurs/ De tant d’innocentes victimes./ Chaque jour un crime nouveau/ Pour eux n’était qu’une vétille;/ Proscrivons-les, qu’aucun bourreau/ Ne soit admis dans la famille.“

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Institutionen der Republik selbst nicht Halt: So wurden in Paris wie in der Provinz zu Klängen des „Réveil du peuple“ und ähnlichen Hymnen im Zuge der sogenannten terreur blanche Gewalttaten gegenüber republikanischen Würdenträgern und Symbolen verübt. Ähnlich drastische Stereotypen und Feindbilder wie die revolutionäre Liedkultur brachte auch die Druckgraphik hervor. Im Kontext des Krieges der Theater publizierte Martainville ein Pamphlet, dessen Frontispiz eine fiktive Szene Abb. 5: Anonymus, L’ami de la justice et de der Septembermassaker vi- l’humanité. Peuple Français, Peuple des Freres!, Paris, sualisiert (Abb. 4):41 Es zeigt Musée Carnavalet, Inv. PC histoire 25 C, G. 26022. Marat inmitten einer Szene der Raserei und des Mordens. Bezichtigten die Reaktionäre mit solchen Darstellungen Marat des Aufrufs zu Gewalt und Massenmord, so wurde ihnen selbst in anderen Graphiken umgekehrt zum Vorwurf gemacht, die Verfassung mit Füßen zu treten und gewaltsam gegen die Anhänger der Volksbewegung zu agieren (Abb. 5). Es ist auffällig, wie sehr sich in den Drucken der gegensätzlichen politischen Lager die Darstellungen der Kampf- und Mordszenen im Bildhintergrund ähneln. Solche Bilder schürten ein Klima der Gewalt und trugen zur weiteren Mobilisierung bei. Das Ergebnis der thermidorianischen Reaktion war eine zutiefst gespaltene politische Landschaft, in der alle politischen Gruppen mit starken 41 Gleich zu Beginn bezeichnet das Pamphlet die Verantwortlichen der terreur als ‚Monster‘: „Si les révolutions qui régénèrent les empires y trouvent des écrivains philosophes dont les travaux n’ont pour objet que le bonheur de la patrie, elles font aussi sortir de leurs repaires des monstres, dont, si l’on peut s’exprimer ainsi, l’existence est un tort […]“, Pierre-Anne-Louis de Maton de La Varenne, Les Crimes de Marat et des autres égorgeurs; ou Ma Ressurrection. Ou l’on trouve nonseulement la preuve que Marat et divers autres scélérats, membres des Autorités publiques, ont provoqué tous les massacres des prisonniers; mais encore des matériaux précieux pour l’histoire de la Révolution française, Paris 1795.

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Feindbildern operierten.42 Die politische Kultur zeigt sich in zahlreichen Drucken und Liedern als eine Kultur der Revanche, der Provokation und der Angst. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Gestaltung der neuen politisch-sozialen Ordnung in der Ersten Französischen Republik massiv von Bildern der Gewalt begleitet wurde. Die untersuchten Beispiele belegen, wie stark die Erinnerung an vergangene Gewalterfahrungen vom jeweiligen politischen Kontext abhing. Einerseits brachte die Symbolpolitik der Regierung aktiv bestimmte Deutungsmuster hervor und versuchte, diese zu popularisieren, andererseits scheiterte sie aber immer wieder am eigenen Anspruch der Konfliktbewältigung und wurde selbst erneut zum Konfliktgegenstand – zumal oppositionelle Gruppierungen ihre eigenen Interpretationen des Geschehens in Abgrenzung zur offiziellen Deutung in Umlauf zu bringen verstanden. Popularisierung und Stereotypisierung von Gewaltbildern führten zur Perpetuierung einer ‚Kultur der Gewalt‘, die das junge republikanische System belastete und immer wieder autoritäre Konfliktlösungen nahezulegen schien. Gewalt war ein entscheidender Faktor, der alle Bereiche der neuen politischen Kultur mit prägte – und damit ein belastendes Erbe für das Konzept der Republik im 19. Jahrhundert hinterließ.

IV. Perspektiven: Gewaltpraxis, -erfahrung und -verarbeitung als symbolische Kommunikation Ging es in unseren Forschungen somit vor allem um das Reden über und Deuten von Gewalt sowie um die damit erreichten intendierten und nichtintendierten Wirkungen, so erscheint es wünschenswert, die Beziehung zwischen den Bereichen Gewalt und Symbolik in der Französischen Revolution zukünftig noch stärker aus der umgekehrten Perspektive zu betrachten, indem Gewalterfahrungen und -praktiken, die ihnen inhärente Symbolik bzw. die auf ihnen aufbauenden Mythen und Verhaltensmuster selbst noch stärker in den Fokus des Interesses rücken. Dabei erscheinen drei Konfigurationen besonders interessant.

42 Vgl. auch Bronislaw Baczko, ‚Monstres sanguinaires‘ et ‚circonstances fatales‘. Les discours thermidoriens sur la Terreur, in: François Furet / Mona Ozouf (Hgg.), The Transformation of Political Culture, 1789–1848 (The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture 3), Oxford u. a. 1989, S. 131–157.

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1. Gewalt als Symbol, Gewalt als Ritual, Gewalt als sozio-kulturelles Leitbild Gewaltphänomene haben als Ausdruck menschlichen Denkens und Handelns stets selbst eine inhärente symbolische Dimension, sie werden zum Symbol für ‚etwas‘ über ihre spezifische Motivation, ihren instrumentellen Zweck oder ihre kurzfristige Wirkung hinaus. Hier kann an vorliegende Arbeiten angeknüpft werden. Wegweisend ist zum Beispiel die Studie von Arasse über „Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit“, in dem die Guillotine als „Gegenstand von Projektionen“ und „Objekt von Wertungen“ analysiert wird.43 Arasse erklärt überzeugend, wie die Tötungsmaschine selbst zu einem Symbol der Französischen Revolution werden konnte, wie sie die Beziehung zwischen Henkern und hingerichteten Körpern revolutionierte und damit den Weg in eine neue Kultur der Gewalt der Moderne wies. Das Zeremoniell rund um den Fall und die anschließende Präsentation des abgetrennten Kopfes gegenüber der Menge wird in Anlehnung an die Arbeiten Michel Foucaults als ‚Strafliturgie‘ interpretiert, die Brandmarkung der Opfer und die Demonstration der strafenden Macht als ein ‚Ritual‘, welches nach allen Gesetzen des Theaters in mehreren Akten inszeniert wurde und der jakobinischen Ideologie zufolge beim Publikum eine reinigende Wirkung haben sollte.44 Autoren wie Lüsebrink und Reichardt haben in ihrer Studie zur Symbolik der Bastille, aber darüber hinaus auch an anderen Beispielen auf spezifisch visuelle Verarbeitungen von Gewalterfahrungen und deren Funktion im politischen Machtkampf verwiesen.45 Entsteht mit der Französischen Revolution in der Bildsprache ein neuer Typus von Gewaltdarstellungen? Herding und Reichardt sprechen beispielsweise Graphiken von Stechern wie Villeneuve „innovatorische Leistungen“ zu, da diese über ausschnitthafte Vereinzelung ihrer Sujets nicht nur dem Geschmack der populären Revolutionsgraphik entgegenkamen, sondern darüber hinaus in der „zeichenhaften Simplizität“ eine neue „Ästhetik des Plötzlichen, ja des Erschreckens“ bzw. des Gewalt43 Vgl. Daniel Arasse, Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit, Reinbek 1988, hier S. 9. 44 Vgl. ebd., S. 117 ff. 45 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink / Rolf Reichardt, Die ‚Bastille‘. Zur Symbolgeschichte von Herrschaft und Freiheit, Frankfurt a. M. 1990 sowie Rolf Reichardt, „Les Formes acerbes“. Zum Bilderkampf um republikanische Gewalt in Frankreich (1793–1872), in: Becker u. a. (Hgg.), Politische Gewalt in der Moderne (wie Anm. 5), S. 23–36, wo unter anderem herausgearbeitet wird, inwiefern im 19. Jahrhundert ein Grundkonsens zwischen radikalen und bürgerlichen Republikanern darin bestand, maßvolle Gewaltausübung als Fundamentalbestand republikanischen Regierens zu akzeptieren.

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Abb. 6: Villeneuve, Matière à réflection pour les Jongleurs couronnées, Paris 1793, Paris, Musée Carnavalet, Inv. Est. PC Histoire 20 B, G. 26.

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samen erfanden (vgl. Abb. 6).46 In der Malerei wurden ähnliche zeichenhafte Verdichtungen gleichzeitig von Künstlern wie Jacques-Louis David („La mort de Marat“) und Jean-Baptiste Regnault („La liberté ou la mort“) umgesetzt.47 Solche Ansätze gilt es systematisch weiterzuentwickeln: Welche Gewalthandlungen werden wie, wann, von wem und mit welcher Absicht ins Bild gesetzt? Welcher neue Bedeutungsüberschuss ergibt sich aus solchen Symbolisierungen?48 Es gibt erstaunlich wenig neue kulturgeschichtliche Studien über die Kriege im Zeitalter der Revolution.49 Es ist bekannt, dass die Kanonade von Valmy eher über ihre symbolische Umwertung zu einem Sieg der Revolution stilisiert wurde und dem dadurch er-

46 Vgl. Klaus Herding / Rolf Reichardt, Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, Frankfurt a. M. 1989, S. 128–130. Dort ist auch noch eine zweite Radierung reproduziert (vgl. ebd., Abb. 172), die diese These stützt: Villeneuve, Louis le traitre lis ta sentence, Aquatintaradierung, Platte 203 x 147 mm, 1792 (Paris, BnF, Coll. de Vinck, Inv. 533). 47 Vgl. ebd., S. 128; Jörg Traeger, Der Tod des Marat. Revolution des Menschenbildes, München 1986; Andreas Stolzenburg, Freiheit oder Tod – ein mißverstandenes Werk Jean-Baptiste Regnaults?, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 48/49, 1987/88, S. 463–472. 48 Für weitere Ansätze bzw. empirische Fallstudien vgl. Arasse, Guillotine (wie Anm. 44); Rolf Reichardt, „La Tête coupée“ – Vom Bedeutungswandel eines Revolutionsmotivs, in: Wolfgang Cillessen / ders. (Hgg.), Revolution und Gegenrevolution in der europäischen Bildpublizistik 1789–1889, Hildesheim u. a. 2010, S. 45–72; Christina Schröer, Die Gegenrevolution in der Opposition. Visualisierung royalistischer Regimekritik im Direktorium, in: ebd., S. 123–150; Thamer, Revolution, Krieg, Terreur (wie Anm. 3); Rüdiger Schmidt / Christina Schröer, L’ordre public et l’homme nouveau: Symbolische Auseinandersetzungen um die Neuordnung der ersten französischen Republik nach dem Ende der Schreckensherrschaft, in: Barbara Stollberg-Rilinger / Thomas Weller (Hgg.), Wertekonflikte – Deutungskonflikte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 16), Münster 2007, S. 301–326. 49 Eine wichtige Ausnahme: Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden. Alltag, Wahrnehmung, Deutung, 1792–1841, Paderborn 2007.

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zeugten Mythos kein wirklicher militärischer Sieg vorangegangen ist. Solche Deutungen und ihre mediale Verbreitung hatten großen Einfluss auf die psychologische Kriegsführung, sind jedoch kaum Gegenstand neuerer Forschungen geworden. Anregungen könnten in diesem Bereich aus der Frühneuzeitforschung bezogen werden, die sich insgesamt in den letzten Jahren sehr um die Historische Gewaltforschung verdient gemacht hat. Zu nennen sind Themen wie Hinrichtungsrituale,50 Männlichkeitskonzepte im Zusammenhang mit soldatischem Alltag oder auch Kriegserfahrungen in allgemeinerer Hinsicht.51 Es ist davon auszugehen, dass Gemeinschaftserlebnisse im Krieg oder auch das Engagement zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung wie zum Beispiel in der Nationalgarde Verhaltensmuster prägten, die über den unmittelbaren Einsatz im Kampf hinaus inkorporiert und auch in anderen Situationen abrufbar wurden. Dies gilt in einer demokratiefeindlichen, gewaltfördernden Perspektive, wurde aber auch bereits in umgekehrter Richtung als demokratisierende und konfliktreduzierende Verhaltensdisposition interpretiert. Erst die Nation in Waffen konnte die Existenz des Nationalstaates garantieren und die Erfahrungen, die im Dienst an der Nation gemacht wurden, brachten dabei gleichzeitig neue politische und gesellschaftliche Partizipationsansprüche hervor.52 Bislang dominiert in der Revolutionsforschung eindeutig eine täterzentrierte Perspektive – wünschenswert wäre entsprechend auch eine ausgewogenere Thematisierung der Opfer. Warum wird Gewalt wann von wem ‚erduldet‘? Welche Rolle spielt das fehlende ‚Vertrauen‘ in die alte und in die sich nur mühsam stabilisierende neue Ordnung, welche Wertesysteme erreichten 50 Vgl. vor allem die Arbeiten von Jürgen Martschukat, Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Köln u. a. 2000; ders., Die öffentliche Hinrichtung – ein ‚Theater des Schreckens‘? In: Kriminologisches Journal 27,3, 1995, S. 186–208; ders., Ein Freitod durch die Hand des Henkers. Erörterungen zur Komplementarität von Diskursen und Praktiken am Beispiel von ‚Mord aus Lebens-Überdruß‘ und Todesstrafe im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27,1, 2000, S. 53–74; ders., Diskurse und Gewalt. Wege zu einer Geschichte der Todesstrafe im 18. und 19. Jahrhundert, in: Reiner Keller u. a. (Hgg.), Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 2: Forschungspraxis, Wiesbaden 2003, S. 67–95. 51 Vgl. Claudia Ulbrich / Claudia Jarzebowski / Michaela Hohkamp (Hgg.), Gewalt in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD (Historische Forschungen 81), Berlin 2005 sowie Ralf Pröve, Gewalt und Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Formen und Formenwandel von Gewalt, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47, 1999, S. 792–806; Marian Füssel, Die Kultur der Niederlage – Wahrnehmung und Repräsentation einer Schlacht des Siebenjährigen Krieges am Beispiel von Hochkirch 1758, in: Sven Externbrink (Hg.), Der Siebenjährige Krieg (1756–1763). Ein europäischer Weltkrieg im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2010, S. 261–273. 52 Vgl. Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914 (Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 25), München 2008.

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demgegenüber Akzeptanz und worin wurde dies symbolisch greifbar?53 Seit den 1980er Jahren ist besonders die Bedeutung von Angst und Furcht (von der grande peur bis hin zu den Verschwörungstheorien vermeintlicher Gegenrevolutionen in den späten 1790er Jahren) als gewaltbegünstigenden Faktoren von der Forschung betont worden;54 solche Thesen gilt es mit neuen Quellengruppen wie Selbstzeugnissen oder Bildern empirisch aufzuarbeiten und regional zu differenzieren.

2. Moderne Gewalt, moderne Symbolik? Für eine Phänomenologie der Gewalt Lange Zeit verharrte der Fokus der Forschung bei den Ursachen der Revolution, was in der Regel zu einseitigen Erklärungsmustern und teleologischen Geschichtsbildern geführt hat.55 Jüngere Kontroversen entfalteten sich darüber hinaus erneut um die Bewertung der terreur – einerseits verstanden als notwendige Übergangszeit zur Demokratie,56 andererseits als illegitime Gewaltanwendung mit häufig irrationalen Zügen.57 Eine kulturgeschichtliche Perspektive ermöglicht die Erklärung von dynamischen und widersprüchlichen Entwicklungen, beschreibt die Revolution als Prozess von Aktion und Reaktion, kann die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem methodisch fassen: So dauerten zwar vielleicht in den Köpfen der Menschen einerseits traditionalistische Reaktionsmuster fort;58 gleichzeitig entstand jedoch andererseits mit der Fundamentalpolitisierung des Alltags sowie der Radikalisierung und Legalisierung von politischen Gewaltinstrumenten etwas genuin Neues.59 An dieser Stelle soll daher stärker für die differenzierte Erforschung einer Phänomenologie der Gewalt plädiert werden – ohne dabei den Debatten um Ursache 53 Vgl. Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, der darauf verweist, dass Gewalt oft gerade deshalb möglich wurde, weil niemand sie für möglich hielt. 54 Vgl. Vovelle, Die Französische Revolution (wie Anm. 4); schon in den 1930er Jahren: Georges Lefebvre, La Grande Peur de 1789, Paris 1932. 55 Vgl. eine allgemeine Kritik an der einseitigen Ursachenforschung in der Revolutionshistoriographie bei Hunt, Symbole der Macht (wie Anm. 4); s. Einleitung. 56 Vgl. für diese Position besonders Sophie Wahnich, La liberté ou la mort. Essai sur la Terreur et le terrorisme, Paris 2003, die eine zumindest partielle Rehabilitierung der terreur als rationales Instrument der Politik, zumindest aber eine erneute Erweiterung der Debatte, weg von den vermeintlich archaischen Volkskräften, anstrebt. 57 Vgl. dazu ausführlich Jean-Clément Martin, Violence et révolution. Essai sur la naissance d’un mythe national, Paris 2006. 58 Vgl. Arno J. Mayer, The Furies. Violence and Terror in the French and Russian Revolutions, Princeton 2000. 59 Vgl. Wahnich, La liberté ou la mort (wie Anm. 57).

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und Wirkung bzw. Legitimität und Illegitimität ihre hohe Relevanz, gerade für den Bereich der politischen Theorie, absprechen zu wollen. Die Kulturgeschichte sollte sich bewusst von einseitigen Erklärungsmustern distanzieren. Neuere Studien, beispielsweise zu der stark von gewaltsamen Zusammenstößen geprägten Region des Midi, belegen die hohe Relevanz von regionalen Motivationen und spezifischen Aneignungen revolutionärer Gewalterfahrungen.60 Dabei sollte auch die Frage nach dem bereits in der älteren Forschung diskutierten spezifisch ‚modernen‘ Charakter der praktizierten Gewalt keineswegs zu kurz kommen. Die Gewaltpraktiken in Krieg und Bürgerkrieg der Revolution erscheinen als unvereinbar mit dem Projekt der Aufklärung bzw. einem Selbstverständnis der Moderne, das auf eine Pazifizierung der Gesellschaft hin angelegt ist. Welche Rolle spielt die symbolische Dimension in dieser Hinsicht? Wie wird in symbolischen Ausdrucksformen versucht, das Fortdauern physischer Gewalt in Einklang mit dem selbsterklärten Anspruch auf prinzipielle Ablehnung von Gewalt zu bringen? Welche Formen von Gewalt werden bewusst nicht gezeigt?61

3. Gewalt und ‚letzte Wahrheiten‘: Sakralisierung, Ästhetisierung, Heroisierung Als letzten Punkt möchte ich noch gesondert auf die Bedeutung des Glaubens im Zusammenhang mit Gewalt, sei es in religiösem Sinne, sei es in säkularisierter oder ideologisierter Form, hinweisen.62 Die Französische Revolution experimentierte mit verschiedenen politischen Ideologien, welche jeweils den wahren, ‚einen und unteilbaren‘ Volkswillen für sich erkannt zu haben beanspruchten. In dem Moment jedoch, in dem die eigene politische Meinung als einzig ‚wahre‘ behauptet wurde, kam es im Umkehrschluss zur Ausgrenzung Andersdenkender. Das Zeitalter der Revolution ist durch beginnende gesellschaftliche Pluralisierungsprozesse gekennzeichnet, die in der politischen Kultur noch nicht als solche akzeptiert wurden.63 Zu welchen neuartigen Integ60 Vgl. Stephen Clay, Vengeance, Justice and the Reactions in the Revolutionary Midi, in: French History 23, 2009, S. 22–46.; Ders., Les réactions du Midi. Conflits, continuités et violences, in: Annales historiques de la Révolution française 345, 2006, S. 55–91. 61 Vgl. u. a. auch die Berliner Konferenz „Violence and Visibility. Historical, Cultural and Political Perspectives from the 19th Century to the Present“ (24.–26. Juni 2010); s. dazu auch den Tagungsbericht von Eva Balz / Linda Conze / Johanna Langenbrink auf H-Soz-u-Kult, ; letzter Zugriff am 13.05.2012. 62 Vgl. dazu auch Schmidt, Zur Metaphysik expressiver Macht (wie Anm. 5), S. 1–22. 63 Vgl. ähnlich auch Patrice Gueniffey, Le nombre et la raison. La Révolution française et les élections, Paris 1993.

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rationsmustern (durch Gewalt?) und Symbolisierungen derselben führte das? Wie wurden Wahrheitsansprüche begründet, wie kommuniziert? Daniel Roche hat auf den Glauben der Revolutionäre an die schöpferische Möglichkeit von Gewaltanwendung verwiesen, argumentativ untermauert mit der Notwendigkeit des Opfers für höher stehende Ziele.64 Die ‚Beanspruchung des Sakralen‘65 trug in der terreur wesentlich zur Genese von Fundamentalkonflikten und zur weiteren Radikalisierung bei. Insgesamt erscheint es vielversprechend zu untersuchen, inwiefern gerade Religion im Kontext der Legitimation von Gewalt immer wieder als symbolischer Form- und Stichwortgeber diente: Säkularisierte Heilsversprechen mobilisierten den Einzelnen zum Kampf für die vermeintlich ‚gemeinsame‘ Sache – und machten blind für die Tatsache, dass es sich bei der behaupteten ‚Wahrheit‘ nur um eine Deutung neben anderen handelte. Dieses Problem wurde freilich auch schon von den Zeitgenossen erkannt: So entlarvte die britische Druckgraphik treffsicher die sakrale Überhöhung der radikalen Gewalt in Frankreich mit satirischen Zuspitzungen (Farbabb. 4): Auf dem Altar, vor dem der vermeintlich pro-revolutionäre britische Oppositionsführer Fox in einer Karikatur von Gillray niederkniet, ist die Guillotine an die Stelle des Kreuzes getreten; sie wird gerahmt von den Köpfen Robespierres und Bonapartes. Die Monstranz ist mit einer Jakobinermütze überzogen; Gesetzestafeln mit dem „Droit de l’homme“ sowie den ins Gegenteil verkehrten zehn Geboten vervollständigen die Szene. Es ist auffällig, dass die Republikaner in ihrer Symbolpolitik zahlreiche Anleihen bei der christlichen Liturgie und Ikonographie machten (Prozessionen, Altäre des Vaterlandes, republikanische Katechismen etc.).66 Die Bildpresse nutzte solche Parallelen zur wirkmächtigen Diskreditierung des revolutionären Evangeliums als Ideologie.67 Es ist davon auszugehen, dass in diesem Kontext auch die Frage nach einer Ästhetisierung von Gewalt neu zu betrachten sein wird. Die Ästhetik der politischen Kultur und ihre spezifischen Ausdrucksformen in politischer Sprache und Metaphorik, in Ritualen und Bildern wurden jedoch bislang häufig nur am Rande vorliegender Studien als maßgeblicher Faktor im revolutionären 64 Vgl. Daniel Roche, La violence vue d’en bas. Réflexion sur les moyens de la politique en période révolutionnaire, in: Annales. Economies Sociétés Civilisations 44,1, 1989, S. 47–66. 65 Vgl. Mayer, The Furies (wie Anm. 59). 66 Vgl. Schröer, Republik im Experiment (wie Anm. 14), Kap. 2 und 3. 67 Vgl. Kap. 3: „To make the vulgar fiercely yawn…“ – Englische Politiker als Opfer des Volksgelächters, in: Wolfgang Cillessen / Rolf Reichardt / Christian Deuling (Hgg.), Napoleons neue Kleider. Pariser und Londoner Karikaturen im klassischen Weimar (Ausst.kat. Berlin u. a. 2006/7), Berlin 2006, S. 190–205, hier S. 194, Kat. Nr. III.4 (mit Abb., auch Detailvergrößerung, S. 190).

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Radikalisierungsprozess behauptet. Innovative Studien über ihre Funktion im Rahmen der Konstituierung und Mobilisierung sozialer Bewegungen im Zeitalter der Französischen Revolution stehen weiterhin aus, ebenso wie das Thema des revolutionären Helden – vom politischen Märtyrer bis hin zum charismatischen Kriegshelden – weiterhin einer systematischen Aufarbeitung harrt.68

V. Fazit: Kulturgeschichte der Gewalt im Zeitalter der Französischen Revolution Die Frage nach der Beziehung zwischen Symbolik und Gewalt ist meiner Meinung nach nicht systematisch zu beantworten: Sie ist abhängig vom jeweiligen historischen Kontext, und das heißt auch von den hier nicht weiter thematisierten strukturellen Bedingungen sowie vom sozialen Profil der zeitgenössischen Akteure. Besonders entscheidend für das Verständnis aller angesprochenen Konfigurationen von Symbolik und Gewalt erscheinen jedoch die darin aufscheinenden politisch-sozialen Wert- und Deutungsmuster sowie, damit zusammenhängend, die Frage nach der gesellschaftlichen Genese, Wahrnehmung und Wirkung von Gewalt. Trotz dieser allgemeinen Beobachtungen erscheint es wünschenswert, auch nach dem Spezifischen der Epoche zu fragen. Die Ergebnisse unserer Forschungen im Sonderforschungsbereich 496 deuten darauf hin, dass nach 1789 bzw. in den Jahren nach 1792 neue Konfigurationen, Darstellungsformen und Deutungsmuster von Symbolik und Gewalt entstanden, die die Epoche der Moderne bis in die Gegenwart hinein prägen; einige der vorgeschlagenen weiteren Perspektiven weisen in eine ähnliche Richtung. Das Zeitalter der Französischen Revolution markiert einen Epochenumbruch und kann in dieser Hinsicht auch in einem übertragenden Sinne als ‚Ausnahmezustand‘ qualifiziert werden. Die Historische Gewaltforschung kann unter anderem dazu beitragen, genauer zu erklären, wo und warum die in diesem besonderen Kontext erfolgten Sinnstiftungen zum modernen ‚Normalfall‘ wurden bzw. wann und wodurch Aktualisierung, Neuinterpretation oder auch Wandel stattfanden.69 68 Vgl. dazu die Teilprojekte A1 „Das Außeralltägliche als Faszinosum. Komparative historische Semantik des Heroischen zwischen 1780 und 1850“ und B5 „Nationale Krise und politisches Heldentum im langen 19. Jahrhundert“ im 2012 eingerichteten Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne“ an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 69 Vgl. für das Deutungsmuster der terreur in diesem Zusammenhang beispielhaft den Beitrag von Jean-Clément Martin, Repräsentationen der terreur, in diesem Band S. 201–218.

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Abschließend möchte ich die übergreifende Frage dieses Tagungsbandes bejahen: Ja – alles nur symbolisch. Aber nicht, um eine Einschränkung auszudrücken, sondern um den spezifischen Blick des Ansatzes der symbolischen Kommunikation auf vergangenes Geschehen zu formulieren – und damit die kommunikative Verfasstheit von Gewalt sowie ihre genuin symbolische Dimension in den Fokus historischer Forschung zu rücken. Kulturgeschichte fragt nicht nach dem physischen Schmerz, auch nicht nach moralischer Bewertung oder politischem Engagement, sondern nach menschlichem Handeln und Deuten in historischen Kontexten. Es handelt sich dabei um eine historiographische Beobachtungsperspektive, die prinzipiell auf jeden Gegenstand angewandt werden kann – auch auf Gewaltphänomene. Gleichzeitig erscheint es weder sinnvoll noch wünschenswert, einen Ausschließlichkeitsanspruch zu formulieren – im Gegenteil, meine Überlegungen sind von Ergebnissen anderer Ansätze inspiriert, die ganz ähnliche Erkenntnisinteressen verfolgen.70 Ebenso wenig soll verschwiegen werden, dass die Historische Gewaltforschung in den letzten Jahren unter anderen Vorzeichen bzw. im Hinblick auf andere Epochen eine ganze Reihe von innovativen Arbeiten hervorgebracht hat, die abweichende Schwerpunkte setzen.71 Der Ansatz des Münsteraner Sonderforschungsbereichs stellt jedoch meiner Meinung nach eine für die Historiographie der Gewalt wichtige Perspektive zur Verfügung, eröffnet neue Fragestellungen und Gegenstandsbereiche, indem er die kontextabhängigen Konfigurationen von Symbolik und Gewalt als Faktoren und Indikatoren politisch-sozialen Handelns in den Blick nimmt und in ihren dynamischen Entwicklungen beschreibt. Das Interesse an der Zerstörungskapazität und Verfügbarkeit von Waffen sei anderen überlassen. Ob diese mit solchen Untersuchungen dem ‚Wesen‘ der Gewalt jedoch näher kommen, sei dahingestellt.

70 Vgl. in theoretischer Hinsicht besonders Lindenberger / Lüdtke (Hgg.), Physische Gewalt (wie Anm. 12) sowie auch Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung (wie Anm. 11). Schumann versteht die Historische Gewaltforschung als sozialgeschichtlichen Ansatz, dessen erfahrungs- und emotionsgeschichtliche Perspektiven stark betont werden sollen. 71 Vgl. v. a. die Arbeiten zum 20. Jahrhundert von Jörg Baberowski, der sich stärker für die Frage interessiert, warum Menschen immer wieder Gewaltgrenzen überschreiten, wie Gewalt möglich wird und in welchen kulturellen Handlungskontexten Gewaltausübung begünstigt wird, vgl. u. a. Jörg Baberowski (Hg.), Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006; Ders. / Anselm Döring-Manteuffel, Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium. Mit einem Vorwort von Hans Mommsen, Bonn 2006; zur (alten) Debatte um die Definition und Legitimität von Gewaltanwendung in bestimmten historischen Kontexten vgl. jüngst Uffa Jensen u. a. (Hgg.), Gewalt und Gesellschaft. Klassiker modernen Denkens neu gelesen, Göttingen 2011.

Jürgen Martschukat

Von Terror, Ausnahmezuständen und guter Ordnung. Kommentar zur Sektion „Symbolik und Gewalt im Zeitalter der Französischen Revolution“

In der internationalen Forschung zum Terrorismus besteht in zweierlei Hinsicht recht große Einmütigkeit: Erstens ist die Bezeichnung einer Handlung als ‚Terrorakt‘ pejorativ. Eine Handlungsform ‚terroristisch‘ zu nennen impliziert, dass sie darauf ausgerichtet ist, eine gute und erstrebenswerte Ordnung mit Gewalt zu erschüttern und letztlich zu zerstören. Wer ‚Terror‘ sagt, verurteilt nicht nur Gewalt als Mittel, sondern auch die Ziele, die mit ihrer Anwendung in diesem spezifischen Fall verbunden sind. Zweitens existiert Konsens darüber, dass terroristische Gewaltakte nicht nur darauf abzielen, beispielsweise eine bestimmte Person zu töten, sondern auch eine bestimmte Bedeutung zu erzeugen. Wer einen Terrorakt verübt, will bemerkt werden und so ein gegebenes Gefüge wie einen Staat oder eine politische Ordnung in Frage stellen und erschüttern. Terroristische Akte sind in höchstem Maße ‚performativ‘.1 Nun wird es dann doppelt interessant, wenn wir an dieser Stelle weiterfragen: Was geschieht eigentlich, wenn die Gewalt des Staates und somit Gewalt, die von der politischen Ordnungsmacht ausgeht und die mithin per definitionem stabilisierend sein soll, als ‚Terror‘ empfunden und beschrieben wird – als terreur? Was wird abgebildet, was sind die Effekte einer solchen Beschreibung? Eine Antwort auf diese Fragen geben zu wollen, bedingt zunächst einen Schritt zurück zu treten und einen Blick auf die Konzeption staatlicher Gewalt zu werfen und diese auf ihre Performativität hin zu befragen. Staatliches Gewalthandeln soll darauf ausgerichtet sein, die Stabilität einer spezifischen Ordnung zu gewähren, und ein solches Handeln soll auch dazu beitragen, das Wissen um und den Glauben an diese Ordnung zu schaffen. Staatliches Gewalthandeln soll mithin Stabilität und Sicherheit erzeugen und indizieren, und damit sollte sie in diametralem Gegensatz zum Terror stehen. Die Etab1

Vgl. etwa den Band von Donald Bloxham / Robert Gerwarth (Hgg.), Political Violence in Twentieth Century Europe, Cambridge 2011. Ich beziehe mich hier auch auf die Arbeit der Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences (NIAS) Research Theme Group „Terrorists on Trial. The Court Room as a Stage in the Struggle for Publicity, Public Support and Legitimacy” und deren Konferenz zu „Terrorists on Trial: Performative Perspectives“, am 26./27. Mai 2011 in Wassenaar, NL.

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lierung ‚aufgeklärter‘ Staaten und ‚moderner‘ Ordnungen war und ist ganz wesentlich daran gekoppelt, dass staatliche Gewalt die Rechte Einzelner wahren sollte, die nun als ‚unveräußerlich‘ beschrieben wurden. Die körperliche Integrität der Menschen sollte selbst und insbesondere dann geachtet werden, wenn sie sich einer Strafe unterwerfen mussten. Grausamkeit sollte in einem Raster aufgeklärter Gewalt keinen Platz mehr haben. Jeder Grausamkeit entledigt, sollte so selbst die strafende Gewalttat zum Zeichen von Fortschrittlichkeit und Humanität werden, die fortan das eigene Selbstverständnis prägte. Die Geschichte der Hinrichtungsverfahren im Europa des späten 18. und 19. Jahrhunderts und in den USA bis heute vermag allerdings zu verdeutlichen, dass Entwürfe von Grausamkeit erstens kontingent sind und dass zweitens die Verbannung von sichtbarer Grausamkeit die Fortexistenz der tödlichen Strafgewalt erst legitimierte und ermöglichte. „The recent history of state killing […] reads like someone’s idea of the triumph of progress applied to the technologies of death”, fasst in diesem Sinne der Rechts- und Politikwissenschaftler Austin Sarat zusammen.2 Es gilt dabei zweierlei zu bedenken: Erstens ist nicht nur Terrorgewalt performativ, sondern dies gilt auch für die Gewalthandlungen des Staates. In modernen Staaten sollen sie Vorstellungen von Systemhaftigkeit, Ordnung, Vernunft, Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit, ja sogar von der Menschlichkeit des politisch-sozialen Gefüges erzeugen. Gewalt ist mithin auch für moderne Ordnungen konstitutiv. ‚Moderne‘ und ‚Modernität‘ benutze ich hier freilich nicht als normative konzeptionelle Kategorien, sondern zur Bezeichnung einer historischen Konfiguration, die unter anderem dadurch charakterisiert ist, dass sie eine Normativität und Hegemonialität für sich beansprucht und diesen Anspruch auch aus einer Selbstpositionierung gegenüber Gewalt und Grausamkeit herleitet.3 Zweitens soll solche Gewalt, die mit dem Ziel der Stabilisierung und Aufrechterhaltung aufgeklärt-moderner Ordnung ausgeübt wird, am besten im Verborgenen bleiben. Schon Norbert Elias hat treffend betont, dass etwa das Zerlegen der Tiere vor dem Essen zwar nicht aufgehört hat, dass es aber, wie alles unangenehm Gewordene, „hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verlegt“ worden ist und dass dieser Vorgang charak-

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Austin Sarat, When the State Kills. Capital Punishment and the American Condition, Princeton, NJ 2002, S. 65; vgl. auch Jürgen Martschukat, „The Art of Killing by Electricity“. The Sublime and the Electric Chair, in: Journal of American History 89, 2002, S. 900–921; ders., Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Köln 2000. Zu einer solchen Kritik an „modernity“ vgl. Frederick Cooper, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley, CA 2005, S. 113–114.

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teristisch sei für das, „was wir ‚Zivilisation’ nennen“.4 Ähnlich markiert das Unsichtbar-Machen die Gewalt des Staates als prinzipiell ungewünschtes Übel, das bisweilen aber ‚leider‘ notwendig und unverzichtbar sei. Allerdings darf solche Gewalt nicht zelebriert oder als tragender Teil des soziokulturellen Gefüges erstrebt werden.5 Kehren wir nun zur eigentlichen Frage zurück: Was passiert also, wenn von einem Terror des Staates die Rede ist, von der terreur in der Französischen Revolution, vom Terror in der Wiege der Demokratie, der eigentlich für alle Ewigkeit der freiheitlichen Ordnung gegenüber stehen und eben nicht mehr Teil von ihr sein sollte? Die terreur wird als Verlassen des rechten Terrains beschrieben, als ‚Entgleisung‘, als Exzess, als ‚Ausnahmezustand‘: Als ein vorübergehendes Außerkraftsetzen einer an sich ‚guten Ordnung‘, das aber dazu beitragen solle, diese letztlich zu erhalten und zu schützen. Schließlich befand man sich zu den Zeiten der terreur erstens noch in einer Phase der Etablierung und des Überganges, in der vieles möglich schien, und zweitens zu alledem im Krieg. Dieses Argument tönt heute wieder sehr vertraut, worauf ich zurückkommen werde.6 Zunächst will ich jedoch noch einen Moment bei der terreur bleiben. Deren wohl schlagkräftigstes Symbol war die Guillotine, die zugleich Vorstellungen von aufgeklärter Ordnung und von Menschlichkeit verkörperte. Die Guillotine ist folglich Zeichen der Ambivalenz: Sie stand einerseits für die Demokratisierung und Humanisierung des Strafsystems und der Gesellschaftsordnung. Bis in den verordneten Tod hinein sollten alle Bürgerinnen und Bürger gleich sein: „Tout condamné à mort aura la tête tranchée“, hieß es im dritten Artikel des Code pénal von 1791.7 Zudem sollten die Verurteilten nicht mehr langsam, qualvoll und für alle sichtbar sterben, sondern so sanft und so schnell, dass der Sterbende nurmehr einen Lufthauch am Hals 4 5

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Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bern 1969, ND Frankfurt a. M. 1995, Bd. 1, S. 163. Jürgen Martschukat, „The Duty of Society“. Todesstrafe als Performance der Modernität in den USA um 1900, in: ders. / Steffen Patzold (Hgg.), Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung, und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Norm und Struktur 19), Köln 2003, S. 229–253. Ich beziehe mich hier wie im Folgenden vor allem auf die Beiträge von Jean-Clément Martin, Repräsentationen der terreur, in diesem Band S. 201–218 und Christina Schröer, Sinnstiftung im Ausnahmezustand. Symbolik und Gewalt im Zeitalter der Französischen Revolution, in diesem Band S. 219–242; s. von Jean-Clement Martin, La Terreur. Part maudite de la Révolution, Paris 2010 und von Christina Schröer, Republik im Experiment. Symbolische Politik zwischen Ordnungsideal und Konflikterfahrung, Frankreich 1792–1799, Köln u. a. 2013 [in Vorbereitung]. Code pénal de 1791, hier nach Criminocorpus. Histoire de la Justice, des crimes et des peines, URL: (letzter Zugriff am 25.05.2012).

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verspüre und das Publikum den eigentlichen Akt der Tötung gar nicht mehr sehen könne. Auch wenn die Hinrichtung nach wie vor auf einer Bühne und öffentlich stattfand, so war doch die ‚Verbergung‘ der Tötung in Folge der rasanten Geschwindigkeit der Handlung ein wesentliches Moment, das die vielen Fürsprecher der Guillotine begeisterte: Es schien eine Humanisierung und Modernisierung des Strafens und somit der soziokulturellen wie politischen Ordnung anzuzeigen.8 In den deutschen Staaten beobachtete man die Entwicklung der ‚Köpfmaschine‘ in Frankreich sofort aufmerksam und voller Spannung, schien sie doch für alles stehen zu können, was die Menschlichkeit des modernen und aufgeklärten Staates ausmachen sollte: schnell, schmerzfrei und unsichtbar sollte aufgeklärte Gewalt sein. Doch als das Blut so zahlreich floss, dass es in der Grube unter dem Schafott nicht mehr versickern konnte (so das Bild, das die Zeitgenossen immer wieder bemühten) und die massenhaft-maschinisierte Tötungsgewalt sichtbar verkörperte, mehrten sich die Zweifel an der Humanität und den demokratischen Qualitäten der neuen Tötungstechnik. In Gestalt des Blutes auf den Straßen ließ die Guillotine die Spannungen sichtbar werden, die in dieser Konturierung moderner Staatlichkeit und aufgeklärter Ordnung angelegt waren. Vom Ende der napoleonischen Kriege bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts verfestigte sich in mehr und mehr deutschen Staaten eine diskursive Strategie, die mit der Einführung der Guillotine korrespondierte und eine entsprechende Vorstellung von Modernisierung und Humanisierung im Gewand zivilisierter Gewalt vorantrieb: Die terreur wurde zum Zeichen einer vorübergehenden ‚Entgleisung‘ umgedeutet – gewissermaßen eines ‚Ausnahmezustands‘, auch wenn man sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht der Terminologie bedienen konnte, die Carl Schmitt rund ein Jahrhundert später in die Debatte einführen sollte. Denn als ‚Ausnahmezustand‘ wird die terreur nicht nur zu einem notwendigen Akt der vorübergehenden Überschreitung, sondern auch zu einem Gegenbild, das es uns erst erlaubt, die ‚gute Ordnung‘ durch einen Akt der Abgrenzung zu konturieren. Diese Vorstellung vorübergehender Grenzverletzung im Moment der Ausnahme, so fasst Jean-Clément Martin in diesem Band zusammen, impliziere, dass man schlussendlich zu einem vorangehenden Zustand zurückkehren werde, der als Normalität verstanden werde: „Diese Vorstellung impliziert, dass eine Normalität existiert, aus der Frankreich während der Schreckensjahre der Revolution ausbrach, um dann später wieder zu ihr 8 Vgl. Daniel Arasse, Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit, Reinbek bei Hamburg 1995 (frz. Erstausg. Paris 1987); Martschukat, Inszeniertes Töten (wie Anm. 2).

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zurückzukehren.“9 Ein solcher ‚Taschenspielertrick’ solle uns glauben machen, dass die Suche nach der terreur, also der verletzenden Gewalt durch den aufgeklärt-demokratischen Staat, nirgendwohin führe und nicht mehr nötig sei, sobald der normale Gang der Dinge wieder hergestellt sei. Wie bestechend aktuell diese Diagnose ist, wird deutlich, wenn wir einen Blick auf die globalen Entwicklungen nach 9/11 und in die USA werfen. Es ist der Terror der anderen, der dazu herhalten soll, die Grenzverletzungen und den Terror des Staates seit dem 11. September 2001 zu legitimieren: Inhaftierungen, die gegen alle Prinzipien des aufgeklärten Rechtsstaates verstoßen, Entführungen, Folter – Terror, der eben nicht als Terror erscheinen soll. Kritische Stimmen vor allem der öffentlichen Debatte weisen darauf hin, dass Guantanamo, Abu Ghraib und waterboarding Zeichen dafür seien, dass sich die USA in einem globalen Krieg gegen den Terror befinden und im Zustand der Ausnahme vom Pfad des Guten und Rechten abgekommen seien, den es nun wiederzufinden gelte. Schließlich sei etwa das Verbot von „grausamen und ungewöhnlichen Strafen“, von „cruel and unusual punishment“ als achtes von zehn Grundrechten verankert, die Teil der amerikanischen Verfassung sind. Terror und gute Ordnung stehen einander in dieser Perspektive also gegenüber.10 Was aber, fragt etwa die Kultur- und Rechtswissenschaftlerin Colin Dayan, wenn die ‚Ausnahme‘ nur eine vermeintliche Ausnahme ist und die mit ihr verbundenen Praktiken viel mehr Teil einer in der Geschichte verankerten Normalität sind? Was, wenn sie konstitutiv für den Normalzustand sind? Was, wenn es eine lange Geschichte der ‚Ausnahme‘ vom Verbot von „cruel and unusual“ gibt, so dass sie zur Regel gerinnt? Die Ausnahmen reichen von der Behandlung der Sklavinnen und Sklaven weit bis in das 19. Jahrhundert hinein über die systematische Misshandlung so genannter Minderheiten im Strafsystem bis hin zu den „Maximum Security Prisons“, die sich seit den 1990er Jahren in rasantem Tempo mehren und ausweiten. Dies sind riesige Haftanstalten, in denen Menschen entrechtet, ein- und zugleich ausgeschlossen werden, und dies in zunehmendem Maße ohne jegliche öffentliche Kontrolle, sondern 9 Martin, Repräsentationen der terreur (wie Anm. 6), S. 210. Martschukat, Inszeniertes Töten (wie Anm. 2), S. 113–148; Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1922; vgl. auch Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, insbes. S. 27–28. 10 Andrew Neal, Foucault in Guantanamo. Towards an Archaeology of the Exception, in: Security Dialogue 37, 2006, S. 31–46, auf Deutsch u. d. T. Foucault in Guantanamo. Eine Archäologie des Ausnahmezustands, in: Susanne Krasmann / Jürgen Martschukat (Hgg.), Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bielefeld 2007, S. 47–74.

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vielmehr durch private Sicherheitsdienste und entzogen jedweder Sichtbarkeit und Rechtssicherheit. Wer sich die lange Geschichte von Entmenschlichung und Entrechtung „on a field of exclusion, pain, and death“ vor Augen führe, betont Dayan, der könne Guantanamo, Abu Ghraib und den Terror im Namen der guten Ordnung nur als Verlängerung eines Normalzustandes verstehen und eben nicht als Ausnahme. Wenn wir diese Perspektive einnehmen, verändert sich die Symbolik dieser beiden Orte grundlegend, ebenso wie die Handlungsweisen, zu denen sie auffordert.11

11 Colin Dayan, The Story of Cruel and Unusual. Boston 2007; vgl. zu Ausnahmezuständen und zur Verrechtlichung der Folter Susanne Krasmann, Folter im Ausnahmezustand, in: dies. / Martschukat (Hgg.), Rationalitäten (wie Anm. 10), S. 75–96.

Jürgen Heidrich und Katelijne Schiltz*

Formen und Grenzen symbolischer Kommunikation in der Musik

I. Die Musik gilt als Medium symbolischer Kommunikation schlechthin. Sie nimmt, was nachdrücklich in den kunsttheoretischen Diskursen des beginnenden 19. Jahrhunderts thematisiert wurde, im Kanon der Künste eine exponierte Rolle ein, wonach es ihr wie keiner zweiten möglich sei, das eigentlich Unsagbare zur Sprache zu bringen, somit einen Sub- respektive Metatext zu generieren und mittels eines differenzierten Zeichen- und Kommunikationssystems mit unterschiedlichsten Intentionen über sich selbst hinaus zu verweisen.1 Einige einleitende, naturgemäß kursorische Hinweise mögen dies illustrieren: So ist etwa der abbildende, tonmalerische Charakter der Musik bereits vereinzelt im 16. Jahrhundert greifbar, später ist die sogenannte Programmmusik ein Genre, in dem die Musik bisweilen überaus komplexe außermusikalische historische, literarische, naturbezogene oder religiöse Sujets gleichsam narrativ behandelt.2 Im Kontext der Nachahmungsästhetik des 18.  Jahrhunderts sodann wird ihr onomatopoetisches Kommunikationspotenzial deutlich,3 und schließlich sei noch das freilich überwiegend theologisch konnotierte, berüchtigte weite Feld der Zahlensymbolik angesprochen.4

Der Text wurde im Rahmen der Abschlusstagung des Sonderforschungsbereichs „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ von den beiden Autoren als Doppelreferat vorgetragen und in der vorliegenden Druckfassung lediglich durch Anmerkungen erweitert. Dabei stammen die Teile I, III und V von Jürgen Heidrich, die Teile II, IV und VI hingegen von Katelijne Schiltz. 1 Einführend und überblickshaft vgl. Christian Kaden, Art. „Zeichen“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 9, 21998, Sp. 2149–2220; dort auch weiterführende Literaturangaben. 2 Zu Stoffen, Motiven, Figuren und Personen in programmmusikalischen Genres vgl. Klaus Schneider, Lexikon Programmmusik, 2 Bde., Kassel u. a. 1999/2000. 3 Zum Themenfeld noch immer hilfreich: Walter Serauky, Die musikalische Nachahmungsästhetik im Zeitraum von 1700 bis 1850, Münster 1929. 4 Eine komplexe Darstellung des Phänomens fehlt bisher; einzelne Untersuchungen galten vorwiegend einzelnen Werken oder Komponisten. Als vergleichende Darstellung nützlich ist: Leopold Brauneiss, Zahlen zwischen Struktur und Bedeutung. Zehn analytische Studien zu Kompositionen von Josquin bis Ligeti und Pärt, Frankfurt a. M. u. a. 1997. *



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In unterschiedlicher Intensität oder Akzentuierung ist allen diesen Ansätzen die Vorstellung eigen, dass Musik in irgendeiner Weise eine Affinität zur Sprache besitze; auch hierzu einige markante Positionen: Unternahm etwa einerseits die Figurenlehre des 17. Jahrhunderts noch den Versuch, rhetorische Modelle mithilfe bestimmter, unterschiedlicher Codes, die unmittelbar von der Sprache abgeleitet wurden, zunächst zu generieren, um sie dann anschließend wieder dechiffrieren zu lassen, wozu regelrechte Affektkataloge bereitgestellt wurden, so wurde demgegenüber im Kontext der Gefühlsästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts im Sinne einer rigiden Sprachskepsis die ‚eigentliche‘ Sprache als unzulänglich für den Ausdruck von Gefühlen angesehen. Tatsächlich deuten kompositionsgeschichtliche Phänomene wie beispielsweise ‚Lieder ohne Worte‘ oder die ideengeschichtlich breit verankerte Vorstellung, Musik sei die ‚Sprache des Herzens‘, an, dass die Musik in gefühlsästhetischen Kategorien als besonders aufgeschlossen beurteilt wurde, dies nicht selten mit dem Hinweis auf ihre flüchtige, nicht-gegenständliche, also unbestimmte Erscheinungsform.5 Das Sprachhafte der Musik erscheint nicht zuletzt im Blick auf ihren prozessualen Charakter als ‚klassische‘ Zeitkunst plausibel und so wäre generell zu fragen, ob das sprachbezogene Denkmodell vom vierfachen Schriftsinn (des buchstäblichen, des allegorischen, des moralischen sowie anagogischen) auf die Musik im Kontext symbolischer Kommunikation übertragbar ist. Aus der jetzt nur angedeuteten, später am Einzelfall zu vertiefenden breiten Palette musikalisch-symbolischer Zeichen- und Verweisoptionen sollen in der Folge zwei Phänomene behandelt werden, die, soweit zu sehen, bisher recht wenig in den Blick genommen worden sind, zumindest nicht systematisch: Zunächst wollen wir Phänomene des musikalischen Rätsels vorstellen; der zweite Teil widmet sich dann dem Themenfeld „Musik als Bild – das Bild als Musik“. Jeweils ist die Perspektive eine zweifache, weil die Ausgangsposition im Grunde ähnlich ist: Wir gehen von der Vorstellung der bekannten dreigliedrigen Kommunikationskette aus, bestehend aus Komponist, reproduzierendem Musiker und Hörerrezipient; diese wird freilich je in zweifacher Weise ausdifferenziert: Denn unsere Überlegungen zum musikalischen Rätsel wie auch zum Thema „Musik und Bild“ gehen von der Voraussetzung aus, dass einerseits (a) dem Ausführenden, andererseits (b) dem Hörer eine besondere Dechiffrierleistung respektive Problemlösung abverlangt werden kann, die

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Vgl. Ruth E. Müller, Erzählte Töne. Studien zur Musikästhetik im späten 18. Jahrhundert, Stuttgart 1989.

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man als internen bzw. externen symbolischen Kommunikationsprozess bezeichnen könnte.

II. Anhand von musikalischen Rätseln kann man sich besonders ergiebig mit Formen der Kommunikation in der Musik auseinandersetzen. Ein Rätsel, ob es sich nun um literarische oder musikalische Enigmata handelt, ist eine komplexe Kommunikationsform: Es ist immer eine Frage – sei sie nun implizit oder explizit gestellt –, die den Rezipienten bewusst herausfordert.6 Aber es ist gleichzeitig eine besondere Art von Frage, die dadurch grundsätzlich von einer konventionellen Frage abweicht, dass der Autor bereits die Antwort kennt. Die crux einer Rätselaufgabe besteht tatsächlich darin, dass der Autor – der Autorenbegriff wird hier bewusst im weitesten Sinne verwendet – diese Antwort mittels kodierter Hinweise verschlüsselt. Da also die Lösung bereits in der Fragestellung enthalten ist, ist das Rätsel nicht nur selbstreferentiell, sondern auch autotelisch. Darüber hinaus besitzt es eine durchaus raffinierte psychologische Charakteristik: der Rezipient weiß, dass es eine Lösung gibt, die aber nur durch Nachdenken und intellektuelle Anstrengung gefunden werden kann. Anders gesagt: ein Rätsel lädt ein, leistet aber gleichzeitig Widerstand. Dadurch, dass der Autor sich mittels einer Denkaufgabe an den Rezipienten richtet, ist das Rätsel eine interaktive Kommunikationsform par excellence. Es ist auf die aktive Beteiligung des Rezipienten angewiesen. Wenn die Aufgabe zu schwierig ist oder man etwa die Lust am trial and error verliert, bleibt das Rätsel ein Rätsel. Dies ist wesentlich: der Rezipient ist ein konstitutives Element bei der Materialisierung und Konkretisierung der Lösung. Die Beseitigung der Dunkelheit und die somit zustande gekommene Transparenz sind das Ergebnis seines aktiven Mitwirkens. Man könnte also sagen, dass gerade in Rätseln, auch in musikalischen, die Grenzen der Kommunikation hervorgehoben werden. Wie sieht ein musikalisches Rätsel aus? Ungefähr ab der Mitte des 15. Jahrhunderts fingen Komponisten wie Antoine Busnoys, Jacob Obrecht und Josquin des Prez an, Motetten und Teile von Messen mit verrätselten Anweisungen zu versehen. Eine scheinbar einstimmige Melodie konnte sich so zum Beispiel als komplexe polyphone Konstruktion entpuppen. Die beglei6

Grundsätzliches zum Rätsel findet sich u. a. in Galit Hasan-Rokem / David Shulman (Hgg.), Untying the Knot: On Riddles and Other Enigmatic Modes, New York/Oxford 1996.

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tenden Anweisungen sind durch ihren elliptischen Charakter oft schwer verständlich, beziehen sich meistens metaphorisch auf die Musik und weisen so auf die Interpretation der Notation hin. Komponisten bedienten sich dabei verschiedenster Quellen und zeigten sich im Umgang mit Allgemeinwissen durchaus versiert. Häufig begegnen uns antike und biblische Texte, aber man verwendete auch griechische Notennamen oder pseudo-griechische Texte, Wortspiele und Ähnliches. Jacob Obrechts „Missa de tous bien playne“, die im späten 15. Jahrhundert komponiert wurde, basiert auf einer weltlichen Chanson von Hayne van Ghizeghem. Eine Stimme aus diesem zugrundeliegenden Lied wird jeweils im Tenor zitiert. Aber der Tenor kann diese Melodie nicht ohne Weiteres so aufführen, wie sie notiert ist. Im Gegenteil, mittels einer Überschrift macht Obrecht dem Sänger deutlich, dass er sie einer Transformation unterziehen muss. Im Credo spielt der Komponist zum Beispiel auf einen Grundsatz von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik an. „A maiori debet fieri denominatio“ heißt, der Name solle vom größeren Teil abgeleitet werden.7 Es ist die Aufgabe des Sängers, die Bedeutung dieser Anweisung metaphorisch auf die Musik zu beziehen. Im Falle von Obrechts Credo führt das dazu, dass der Tenor die Notenwerte in hierarchischer Folge singt. Dabei soll er mit dem längsten Wert anfangen und sich allmählich bis zum kleinsten Wert durcharbeiten. Konkret bedeutet dies, dass erst alle Longae auszusortieren sind, dann folgen die Breves, Semibreves etc. Das Ergebnis ist somit eine non-lineare, sprunghafte Lektüre des Notierten. Die Vorlage der Messe, die Chanson „De tous bien playne“, wird bis in ihre kleinsten Bausteine auseinandergenommen und für den Hörer so völlig unkenntlich gemacht. Nur in ihrer notierten Form erkennt man die Vorlage. Visuell ist die Identität der Chansonmelodie gewährleistet, aber durch die Transformation, die vom Sänger verlangt wird, ist sie für den Hörer nicht mehr nachvollziehbar. Vom Aufführenden wird eine doppelte Leistung verlangt: Erstens muss er die verbale Anweisung richtig verstehen, das heißt, er muss wissen, wie er sie konkret auf die Musik anwenden soll. Und nachdem er dies festgestellt hat, soll er das vom Komponisten Intendierte natürlich auch korrekt umsetzen. Es ist also Aufgabe des Sängers, die notierte Melodie der verbalen Anweisung entsprechend zu transformieren und in Klartext zu verwandeln. Anders gesagt: Der Sänger kann bei einem musikalischen Rätsel das Notierte nie so 7

Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch 9, 1168b31–35. Der Satz findet sich leicht verändert in: Thomas von Aquin, Scriptum super libros sententiarum Magistri Petri Lombardi Episcopi Parisiensis, Bd. 1, hg. von Pierre Mandonnet, Paris 1929, Buch 3, Dist. 26, Quaest. 1, Art. 4 („denominatio semper fit a principaliori“).

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ausführen, wie es notiert ist, sondern er muss es immer einer Transformation unterziehen. Notenbild und Notenklang driften auf ganz elementare Weise auseinander. Diese Transformationen sind sowohl melodischer als auch rhythmischer Art. Er kann dazu aufgefordert werden, eine Melodie rückwärts zu singen, die Intervalle zu spiegeln, die Notenwerte zu vergrößern, bestimmte Noten zu selektieren oder wegzulassen und so weiter. Genauso wie bei einem literarischen Rätsel vollzieht sich diese Transformation auf einer mentalen Ebene. Dadurch, dass die Verschlüsselung sich stets im Bereich der Notation abspielt, ist die gesungene Version bereits kein Rätsel mehr. Die gesungene Version ist ja schon die Lösung. Dem Hörer, wie man diesen auch definieren mag, bleibt im Grunde genommen eine Komposition wie jede andere. Er kann die Verrätselung per definitionem nicht hören, da durch die Leistung des Sängers die Dekodierung bereits stattgefunden hat. Mit wem kommuniziert also der Komponist? Hier liegt das Besondere eines musikalischen Rätsels, eine Besonderheit, in der die Kommunikationskonstellation der Musik konsequent zu Ende gedacht ist. Denn im Gegensatz zu anderen Kunstformen, in denen – zugegebenermaßen sehr vereinfacht gesagt – ein Sender (ein Schriftsteller, ein Maler) über seine Nachricht ‚direkt‘ mit dem Empfänger kommuniziert, braucht Musik immer einen ‚Vermittler‘, nämlich den Aufführenden. Er ist es, der die vom Komponisten in der Notation festgelegte Musik interpretiert und in Klang umsetzt. Bei einem musikalischen Rätsel ergibt sich dabei aber eine merkwürdige Situation. Durch die Verrätselung spielt der Komponist ein Spiel mit dem Aufführenden, von dem die Zuhörer von vornherein ausgeschlossen werden. Nur dem Aufführenden ist die Verschlüsselung zugänglich, da sie nur in ihrer notierten Form als Rätsel funktionieren kann. Der Etymologie des Wortes Kommunikation entsprechend, lässt der Komponist nur den Aufführenden an der intendierten Kodierung des Stückes teilhaben. Somit fungiert der Aufführende nicht als bloßer Vermittler einer Komposition, sondern er ist hier gewissermaßen – paradox ausgedrückt – das eigentliche ‚Zielpublikum‘. Warum machen Komponisten das? Warum notieren sie ihre Musik nicht so, dass man sie direkt und ohne Umwege aufführen kann? Zunächst ist festzuhalten, dass der Komponist durch die besondere Anlage der Notation dem Sänger – und uns als Analytikern – einen Einblick in die Konzeption des Werkes gewährt. Er informiert uns sozusagen über den Arbeits- und Entstehungsprozess. Wie beim Credo von Obrechts Messe zeigt er, dass ihm eine bekannte Melodie als Vorlage gedient hat, die er aber komplett seziert und wieder neu zusammenstellt. Man könnte also sagen, dass der Komponist auf diese Art und Weise mehr mitteilt als mit einer konventionellen Notation, wo der Auffüh-

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rende – und der Analytiker – selber auf die Suche nach Motiven und Verbindungen zwischen diesen gehen muss. Das Notat hat also einen unverkennbaren hermeneutischen Wert. Zweitens diente ein musikalisches Rätsel dem Komponisten auch zur Bestätigung seines sozialen und professionellen Status. Komplexe Anweisungen und musikalische Zeichen konnte schließlich nicht jeder verwenden und verstehen. Rätsel waren sowohl für den Komponisten als auch für die Aufführenden ein Vehikel zur Selbstdarstellung, zur Bekräftigung ihrer intellektuellen Kompetenz und Überlegenheit, wobei Nichteingeweihte ausgegrenzt werden. Genau die Tatsache, dass ein musikalisches Rätsel sich auf der Ebene der Notation abspielt, hat in der Musiktheorie des 15., 16. und 17. Jahrhunderts für kontroverse Diskussionen gesorgt. Der Schweizer Humanist Heinrich Glarean meint in seinem „Dodekachordon“, dass „in derartigen Kompositionen […] freilich mehr ostentatio ingenii steckt als Genuss, der die Ohren erfreut“.8 Der Komponist ist Glareans Meinung nach zu sehr darum bemüht, sein Können zur Schau zu stellen. Das Hörergebnis sei dabei sekundär – ironisch ist allerdings, dass Glarean ausgerechnet Obrecht, der von allen Komponisten fast am meisten Lust an allen möglichen Kodierungen zeigt, als Gegenbeispiel für diese Tendenz anführt. Pietro Cerone, der am Anfang des 17. Jahrhunderts sein monumentales Traktat „El Melopeo y maestro“ mit einer retrospektiven Auswahl von 45 „enigmas musicales“ krönt, betrachtet Rätsel zwar als Summum der subtilitas und der technischen Komplexität, dennoch stellt er seiner Sammlung ein bemerkenswertes Motto voran: „Voce parùm aures, plus oblecto aenigmate mentem“ (Ich gefalle dem Ohr zu wenig mit meiner Stimme, aber dem Geist mehr mit meinem Rätsel).9 Zwar ist die intellektuelle Herausforderung bei einem Rätsel die primäre Aufgabe, aber für den Hörer bleibt eine entschlüsselte Komposition. Wie gut diese klingt – oder anders gesagt: ob es unabhängig von den Rätselkomponenten eine interessante Komposition ist –, das macht wahrscheinlich dann doch das Talent des jeweiligen Komponisten aus. Sich auf ein musikalisches Rätsel einzulassen, ist riskant. Zwar ist der Lösungsweg kein Kampf auf Leben und Tod – wie bei der Sage von Oedipus und der Sphinx –, noch wird man im Falle des Versagens zu einer Strafe verdonnert – wie in Athenaios‘ „Gastmahl der Gelehrten“. Aber dennoch steht in der Musik die ‚Berufsehre‘ auf dem Spiel, und ein fehlgeschlagener Lösungsversuch führt – wenn schon nicht zum Ausschluss aus dem inner circle, dann doch we8 9

Heinrich Glarean, Dodekachordon, Basel 1547, Buch 3, Kap. 26, S. 444: „In huiuscemodi sane Symphonijs […] magis est ingenij ostentatio quam auditum reficiens adeo iucunditas“. Pietro Cerone, El Melopeo y maestro, Neapel 1613, S. 1075.

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nigstens – zu einer Blamage.10 Es gibt übrigens tatsächlich Rätsel, von denen wir wissen, dass man sie damals nicht lösen konnte – und es manchmal auch heute nicht kann –, weil die Anweisungen einfach zu verschlüsselt sind und/ oder die Aufführenden nicht über das notwendige know how verfügten. Dann sind die Grenzen der Kommunikation so eingeschränkt, dass das Werk nicht nur nicht aufgeführt werden kann, sondern es – unabhängig davon – noch nicht einmal zu einem intellektuell befriedigenden Ergebnis führt.

III. Rätselanleitungen für den Hörer sind, soweit erkennbar, im 16. Jahrhundert noch nicht bekannt, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass die Kommunikation mit einem ‚Publikum‘ im emphatischen Sinne nicht möglich war, weil es ein solches in der Frühen Neuzeit noch gar nicht gab, sondern sich im Grunde erst im 18. Jahrhundert entwickelte.11 In der Folge sei also unser Augenmerk auf Phänomene aus dem 19. Jahrhundert gerichtet. Als erstes Beispiel ist geradezu zwingend und prominent an Edward Elgars „Enigma-Variations“, ein spätromantisches Orchester-Werk von 1898, zu erinnern. Dabei handelt es sich um 14 Variationen, denen je eine Initialen-Reihe beziehungsweise ein Namenskürzel vorangestellt sind. Recht bald hat sich herausgestellt, dass mit den Signaturen Personen aus dem Umfeld Edward Elgars sowie deren persönliche Eigenheiten bezeichnet und musikalisch charakterisiert werden sollten. Das Kürzel CAE über der ersten Variation etwa meint die Gattin Alice des Komponisten; zudem ist darin jene Melodie verarbeitet, die Elgar vor sich hin zu pfeifen pflegte, wenn er des Abends heim kam. In der Sache handelt es sich also um musikalische Charakterstudien auf der Grundlage einer differenzierten Anleitung für den Hörer, die dieser – im besten Falle – dem Programmheft entnehmen kann. Wenn auch hier ebenfalls ein außermusikalisches Medium, nämlich die Liste der Abbreviaturen, für die Konstruktion des Rätsels notwendig ist, so ist unzweifelhaft, dass hier, im Gegensatz zu den zuvor geschilderten Phänomenen, die Auflösung nicht bloß intrinsisch auf 10 Vgl. zum Beispiel die Anekdote in Giovan Tomaso Cimellos Traktat (Bologna, Civico Museo Bibliografico Musicale, Ms. B 57) über einen Sänger, der den Tenor aus Josquins „Missa L’homme armé super voces musicales“ falsch interpretierte, da er den vorangestellten Kanonspruch nicht berücksichtigt habe. Cimello erzählt, dass Josquin sich darüber lustig gemacht hat. S. James Haar, Lessons in Theory from a Sixteenth-Century Composer, in: Richard Charteris (Hg.), Altro Polo: Essays on Italian Music in the Cinquecento, Sydney 1990, S. 51–81. 11 Vgl. Peter Schleuning, Das 18. Jahrhundert: Der Bürger erhebt sich, Hamburg 1984, S. 101 ff; Peter Rummenhöller, Die musikalische Vorklassik, München 1983, S. 170 ff.

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‚dem Papier‘ durch den ausführenden Musiker, sondern durch dessen klangliche Realisierung unter Mitwirkung des Rezipienten-Hörers geschieht. Zu differenzieren ist überdies – ebenfalls mit Blick auf das zuvor Angesprochene –, dass die klangliche Realisierung auch ohne direkte Dechiffrierung der Rätselfrage möglich ist: Ob es gelingt – was mittlerweile tatsächlich lückenlos der Fall ist –, beispielsweise die Kürzel beispielsweise CAE, WMB oder RPA aufzulösen oder nicht, ist für das klangliche Resultat unerheblich und betrifft allein nachgeordnete hermeneutische Kategorien des Verstehens. Salopp gesagt: Wer die Kürzel nicht auflöst, der hört zumindest hinreißend-schöne Musik; die Affinität des musikalischen Geschehens und deren charakterisierende Intention mit Blick auf Individuen aus dem Elgar-Umkreis bleibt freilich defizitär. Typologisch kann man sogar noch einen Schritt weitergehen: Genau genommen handelt es sich bei diesem Beispiel nicht um ein musikalisches Rätsel, sondern um ein kontextuell-biographisches: Denn es werden ja keineswegs musikalische Problemstellungen formuliert, die der Komponist im Sinne der bereits angesprochenen Kommunikationsabsicht formuliert und deren Lösungsansätze etwa auf satztechnisch-analytischem Wege zu ermitteln wären. Denn auch ein gänzlich unmusikalischer Mensch wäre prinzipiell in der Lage gewesen, allein vermittels historisch-biographischer Recherchen die Lösung zu finden. Zum eigentlichen tieferen Verständnis des Werks gelangt man allerdings nur, wenn beide Kommunikationsebenen, die Auflösung des Texträtsels und die nachfolgende klangliche Verifizierung bzw. Überprüfung, zusammengebracht werden. Dieser gleichsam inhärente Optimismus hinsichtlich der Werkauffassung und interpretatorischen Durchdringung wird freilich getrübt durch einen eigentümlichen Umstand: Wie es sich für eine Variationen-Reihe gehört, erstrecke sich, laut Elgars Notizen im Programmheft der Uraufführung, über die ganze Komposition noch ein anderes und größeres Thema, aus dem die Variationen zwar generiert werden, das aber nie erklinge. In der Tat ist bis heute die Lösung dieses Rätsels nicht gelungen. Zwar wurden diverse Theorien aufgestellt, doch ließe sich pointiert resümieren, dass wir vor diesem Hintergrund allenfalls die Summe der Einzelteile, nicht aber das große Ganze zu verstehen vermögen. Aus diesem Defizit lässt sich ein anderer, entschieden subtilerer Denkansatz herleiten: Gibt es Werke mit inkludierten Rätseln, die prinzipiell keine außermusikalische Anleitung für den Hörer enthalten, sondern stattdessen mit einer gewissermaßen werk- beziehungsweise kompositionsimmanenten Fragestellung aufwarten? Akzeptiert man diese Weitung des Terminus ‚Rätsel‘ im Sinne von ‚Fragestellung samt Auflösung‘, die zum Verständnis des Werkes zwingend notwen-

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dig ist, und versteht man, so wie wir, die Musik per se als dreiecksbezogenes Kommunikationsphänomen zwischen Komponisten, Aufführendem und Hörer, so erscheint es einleuchtend, intrikate Abschnitte, unkonventionelle Strukturen, harmonische und melodische Labyrinthe, exzessives Modulieren mit kalkulierter Irritation, ja Verirrung des Hörers im architektonischen Satzgebäude, Polytonalität, offene Schlüsse, dazu jedwede Form von Symbolismen als Problemstellungen für den Hörer zu begreifen. Ein erstes Beispiel rückt die Auseinandersetzung mit der Gattungskonvention, das mögliche ‚rätselhafte‘ Zurückbleiben hinter oder das dramatische Überschreiten von deren Grenzen mit den sich daraus ableitenden Problemen und Fragestellungen, ins Zentrum. Die Rezeptionserwartung eines Hörers, der mit einem Streichquartett, einer Symphonie, einem Oratorium konfrontiert wird, ist zweifelsohne vorgeprägt im objektiven Sinne durch die Gattungsgeschichte selbst, im subjektiven durch seinen eigenen diesbezüglichen Erfahrungshorizont. Ein Komponist, der das Einlösen dieser Erwartungshaltung verweigert, gibt dem Auditorium Rätsel auf, stellt die Hörer vor bis dahin unbekannte hermeneutische und ästhetische Probleme, indem er den Beteiligten neue Kategorien des Verstehens abverlangt. Als Beethoven im Jahre 1808 den Zuhörern im Theater an der Wien seine sogenannte „Chorfantasie“ op. 80 darbot, wird sich ein Teil der Anwesenden in etwa einer solchen Situation der Ratlosigkeit befunden haben. Denn das Konzept von Beethovens Schöpfung dürfte in seiner ungewöhnlichen Aneinanderreihung von freier, in der Uraufführung sogar improvisierter Fantasie für ein Soloinstrument (Klavier), nachfolgendem, zu einem großbesetzten Orchesterkonzert affinem Variationssatz und abschließendem Chorfinale Vielen als ein hybrides Konglomerat eigentlich nicht zusammengehöriger Gattungen und Stile erschienen sein und nicht unerhebliche rätselhafte Verwirrung und Irritationen hinterlassen haben. Verfolgen wir einen ersten Lösungsansatz, so hat Beethoven jenen Zeitgenossen, die den Sinn dieser ungewöhnlichen Kombination divergierender Genres verstehen wollten, ein nicht unerhebliches intellektuelles Reflexionsniveau zugemutet.12 Denn Friedrich Schlegel hatte rund ein Jahrzehnt zuvor seine Idee einer „Transzendentalpoesie“ formuliert, wonach „die moderne Kunst nicht nur sich selbst, sondern auch das sie Produzierende mit darstellen, d. h. Poesie und zugleich Poesie der Poesie sein müsse“.13 12 Nützlich dazu der Abschnitt ‚Die „Chorphantasie“ op. 80‘ in: Tobias Janz, Christus am Ölberge, Kantaten, Chorlyrik, in: Sven Hiemke (Hg.), Beethoven-Handbuch, Kassel u. a. 2009, S. 252–281, hier S. 270 ff. 13 Ebd., S. 271.

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Tatsächlich ist Beethovens Versuch, die selbstreferentiellen Implikationen des Schlegel’schen Postulats in der „Chorfantasie“ umzusetzen (wozu im Übrigen auch der abschließende, stark deklamatorisch vertonte Text beiträgt), überzeugend im Sinne eines symbolischen Kommunikationsmodells zu deuten, das den Prozess von der Imagination zum Elaborat im Sinne einer prototypischen künstlerischen Vision abbildet, zugleich also Genese und Perfektion eines musikalischen Kunstwerks darstellt. Danach symbolisiere die freie, gleichsam noch suchende Improvisation den frühesten Status der Werkgenese, in den nachfolgenden Variationen erfolge dann die thematische Verdichtung und artifizielle Ausarbeitung des Themas; beides führe schließlich zur eigentlichen, dann auch textgestützten Botschaft im Finale: „Nehmt denn hin, ihr schönen Seelen, froh die Gaben schöner Kunst.“ Ein zweiter, gleichsam diesen konfirmierender Lösungsansatz des „Chorfantasie“-Rätsels erschließt sich dem Historiker erst in der Rückschau, wenn er es im Kontext der ab Herbst 1822 entstandenen 9. Symphonie betrachtet, die sowohl die Idee des vokalbesetzten Finales als auch – mithilfe von Schillers „Ode an die Freude“ – die Idee selbstreferentiellen Kunstanspruchs aufgreift, hier freilich stärker noch im Sinne einer „Öffnung des Bildungsbegriffs“.14 * Wird das an der „Chorfantasie“ zu dokumentierende rätselhafte, grenzüberschreitende Gattungsverständnis nur in der breiten kontextuellen ideengeschichtlichen Perspektive romantischer Kunstästhetik wirksam, so sei an einem zweiten, ebenfalls Beethovens Œuvre entnommenen Beispiel noch angedeutet, wie sich ähnliche Fragestellungen auch am vergleichsweise kleinformatigen Material erheben können, gewissermaßen in der Binnenarchitektur musikalischer Konventionen. Beethovens Idee, sein Streichquartett op. 130 (vom Sommer 1825) mit einer allein schon in den Dimensionen gigantischen, jegliche kompositorischen und stilistischen Konventionen sprengenden 741 Takte langen Fuge schließen zu lassen, ließe sich womöglich noch dem zuvor behandelten Typus eines grenzüberschreitenden Gattungsverständnisses zuordnen. Freilich wird dieser Ansatz dadurch obsolet, dass Beethoven selbst den Satz alsbald vom Rest des Quartetts abtrennte, ein neues Finale komponierte und die jetzt so benannte „Große Fuge“ als op. 133 separat publizierte. „Aber den Sinn des fugirten Fi14 Konrad Küster, Die Sinfonien, in: Hiemke (Hg.), Beethoven-Handbuch (wie Anm. 12), S. 58–129, hier S. 126.

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nale wagt Ref. nicht zu deuten: für ihn war es unverständlich wie Chinesisch“, so äußerte sich ein gewiss fachkundiger zeitgenössischer Rezensent in der „Allgemeinen Musikalischen Zeitschrift“ des Jahres 1825 und rückte damit tatsächlich die musikalische Sprache und die Architektur des Einzelsatzes in den Fokus.15 Weniger die sprachsymbolische Andeutung dieser Aussage soll uns hier weiter interessieren als die irritierende Rätselhaftigkeit des musikalischen Satzes selbst; diese ist eklatant: Vokabular, Syntax und Gehalt sind in einer Weise formuliert, der ein Zeitgenosse des frühen 19. Jahrhunderts vielleicht noch zu unterstellen bereit war, dass es sich um eine musikalische Sprache handelte – verstanden hat er sie jedenfalls nicht, geschweige denn deren Sinn erfasst. Und es ist gewiss nicht Übertreibung oder Koketterie, sondern eher leise Resignation, wenn zu konstatieren ist, dass die Unfähigkeit, den ‚Sinn‘ der Fuge zu erschließen, zumindest partiell bis heute anhält, denn auch aus der analytischen Perspektive des 21. Jahrhunderts ist das Stück kaum angemessen zu durchdringen. Die Rätselhaftigkeit dieses Satzes ist im Grunde bis heute ungebrochen: Das gilt für Beethovens Kontrapunktverständnis im Ganzen, die nicht anders als bizarr zu nennende Themenkonstruktion, die Verweigerung jeglicher gliedernder dynamischer Gestaltungsmomente, überhaupt die fehlende Bereitschaft zur Modulation.16 Stattdessen erscheint die Prägung des Satzes durch eine insistierend-rhythmische und gewaltsame physische Präsenz als die wesentliche poetische Idee. Jener Komponist, der uns im Schlusssatz des F-Dur-Quartetts op. 135 (das übrigens etwa gleichzeitig wie das infolge der Eliminierung der „Großen Fuge“ notwendig gewordene Ersatzfinale entstand und Beethovens letztes vollendetes Werk überhaupt ist) mit dem Motto „Muss es sein? Es muss sein“ gleichsam Frage und Antwort zugleich als poetisch-motivische Keimzelle präsentierte, fährt in der „Großen Fuge“ ungleich schwereres Geschütz auf. Grenzen symbolischer Kommunikation mit Blick auf die musikalische Rätselkultur entstehen zunächst zwangsläufig dort, wo die Lösung des Rätsels misslingt. Dies führt in jenem Bereich, den Katelijne Schiltz im Weiteren untersucht, zur prinzipiellen Verhinderung des Kommunikationsprozesses, weil die Aufführung der inkriminierten Stücke schlichtweg nicht zustande kommt. In den thematisierten Beethoven-Beispielen kommt zwar die Kommunikation zwischen Komponist und Rezipient prinzipiell in Gang, doch sind einschlä15 [Anon.], Wien. Musikalisches Tagebuch vom Monat März, in: Allgemeine musikalische Zeitung 28, 1826, Nr. 18, Sp. 301–304 und Nr. 19, Sp. 309–315, hier Sp. 310. 16 Vgl. Jürgen Heidrich, Die Streichquartette, in: Hiemke (Hg.), Beethoven-Handbuch (wie Anm. 12), S. 174–219, hier S. 209 f.

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gige Defizite zu konstatieren, die hermeneutische Aspekte des Verstehens und Deutens betreffen, zumal nicht auszuschließen ist, dass die vom Komponisten in seinem Werk symbolhaft verarbeiteten Chiffren, Metaphern, Strukturen gar nicht für einen breiten, sondern allenfalls hermetischen Rezipientenkreis gedacht sind, im Extremfall sogar nur für eine Person. Ein berühmtes Beispiel dafür ist Alban Bergs „Lyrische Suite“ von 1925/26: Deren persönlich gefärbte Programmatik nimmt auf die geheime Liebesbeziehung des Komponisten mit Hanna Fuchs Bezug und wurde erst rund ein halbes Jahrhundert später entschlüsselt.

IV. Der Aspekt der Symbolizität wird nun aus der Perspektive eines Korpus von Werken betrachtet, das ebenfalls aus der Frühen Neuzeit stammt. Den Werken gemeinsam ist die Tatsache, dass die Musik jeweils von einem Bild begleitet wird oder sogar in der Form eines Bildes dargestellt wird. Dabei hat der bildliche Aspekt keinen ornamentalen Charakter, sondern er fügt eine wesentliche Ebene zur Interpretation des Stückes bei und ermöglicht dadurch eine symbolische Deutung. Das Themenspektrum des Bildmaterials ist vielseitig: es kommen geometrische Formen vor, aber auch religiös, politisch und kosmologisch konnotierte Bilder bis hin zu spielerischen Themen werden häufig verwendet. Besonders beliebt war der Kreis. Sein symbolisches Potential ist enorm: Mal ist er ein Sinnbild für die Ewigkeit – Anfang ohne Ende –, mal für zyklische Erneuerung und Perfektion. Aber der Kreis kann auch eine mimetische Funktion erfüllen. Tatsächlich begegnen uns aus dem späten 14. Jahrhundert einige Kompositionen, bei denen der Kreis ein Objekt darstellt, das im Text angesprochen wird. So bilden in der anonymen, dreistimmigen Ballade „En la maison Dedalus“ zwei konzentrische Kreise das Labyrinth ab, in dem der Sprecher des Textes eingeschlossen ist.17 Die Ballade ist tatsächlich ein Liebeslied und das Labyrinth wird zum Symbol für die ruhelose Suche des Mannes nach einer unerreichbaren Frau. Zusätzlich wird diese tragische Suche dadurch verstärkt, dass die zwei Unterstimmen kanonisch konzipiert sind. Das heißt, dass beide Stimmen einander ‚nachjagen‘ und zeitverschoben zwar das Gleiche singen, aber aufgrund der Konstruktionsprinzipien des Kanons nie 17 Vgl. Richard L. Crocker, A New Source for Medieval Music Theory, in: Acta Musicologica 39, 1967, S. 161–171.

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zusammenfallen können – so wie der Liebhaber seiner Dame nachjagt, aber sie nach dem Prinzip des amor de loing nie erreichen kann („ma dame vers qui ne puis aller“ / „je ne say comment a li venir“). Auch bei Baude Cordiers „Tout par compas“ entpuppt sich die Vielschichtigkeit erst in der visuellen Präsentation. Denn das hohe Maß an Selbstreferentialität dieses komplexen Werkes kommt darin zum Ausdruck, dass die konzentrischen Kreise im Zentrum den Kompass darstellen, mit dem – so der Text des Rondeau – das Stück notiert wurde: „Tout par compas suy composé“. Das Drehen der Seite, das für eine Lektüre notwendig wäre, käme so dem Versuch eines Reisenden gleich, sich mittels eines Kompasses zu orientieren. Auch im 15. und 16. Jahrhundert finden sich vermehrt kreisförmige Kompositionen mit unterschiedlichen symbolischen Aufladungen. Im achtstimmigen „Ecce quam bonum“ von Ulrich Brätel, das den Söhnen von Raymund Fugger gewidmet ist, symbolisieren die drei von Jagdszenen umgebenen Kreise die brüderliche Eintracht, die auch im Psalmtext explizit angesprochen wird: „Siehe, wie fein und lieblich ist‘s, daß Brüder einträchtig beieinander wohnen“.18 Der Kreis kann schließlich auch die in der Musik behandelten philosophischen Themen symbolisieren. Auf dem farbenprächtigen Frontispiz eines Florentiner Chansonniers befindet sich ein vierstimmiges Stück, das womöglich aus der Feder des spanischen Theoretikers Bartolomeo Ramis de Pareia stammt.19 Es versinnbildlicht die platonische Idee, dass Mikro- und Makrokosmos nach den gleichen harmonischen Proportionen organisiert sind: „Mundus et musica et totus concentus“. Der Kreis wird hier Symbol für mehrere ineinander greifende Konzepte. Er steht für Perfektion, für Harmonie, für die Geschlossenheit des Systems, aber stellt mimetisch auch den Globus dar, worauf wiederum die vier Windrichtungen hinweisen. Im Bereich der Kreuzthematik gibt es eine Fülle von Beispielen aus dem 16. Jahrhundert. Adam Gumpelzhaimers „Crux Christi“ kann als ausgeklügeltes Gesamtkunstwerk betrachtet werden, in dem Musik, Text und Bild

18 Thomas Röder, Verborgene Botschaften? Augsburger Kanons von 1548, in: Katelijne Schiltz / Bonnie J. Blackburn (Hgg.), Canons and Canonic Techniques, 14th–16th Centuries: Theory, Practice, and Reception History (Analysis in Context. Leuven Studies in Musicology 1), Leuven/Dudley, MA 2007, S. 235–251. 19 Vgl. Howard Mayer Brown (Hg.), A Florentine Chansonnier from the Time of Lorenzo the Magnificent: Florence, Biblioteca Nazionale Centrale MS Banco Rari 229, 2 Bde., Chicago/London 1983; Klaus Pietschmann, Zirkelkanon im Niemandsland. Ikonographie und Symbolik im Chansonnier Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Banco Rari 229, in: M. Jennifer Bloxam / Gioia Filocamo / Leofranc Holford-Strevens (Hgg.), „Uno gentile et subtile ingenio“. Studies in Renaissance Music in Honour of Bonnie Blackburn, Turnhout 2009, S. 605–615.

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ganz eng miteinander verknüpft und aufeinander bezogen sind.20 Die textuelle, ikonographische und kompositionstechnische Konzeption verstärkt eine theologische Deutung, in der sich alles um die Passion Christi dreht. Im neunstimmigen „Per signum crucis“ von Pieter Maessens wird eine erweiterte Kreuzdarstellung von Bibelzitaten umgeben, die als ein fast epigrammatischer theologischer Kommentar zur Karfreitagsliturgie und zum Kreuzestod gelesen werden können.21 Darüber hinaus werden an den vier Ecken des Kreuzes die Windrichtungen mit den vier Kardinalstugenden verbunden. Ein letztes Beispiel ist das vierstimmige „Ave maris stella“ von Ghiselin Danckerts, das 1535 zum ersten Mal gedruckt wurde.22 Es ist in der Form eines Schachbretts abgebildet, mit 8x8 weißen und schwarzen Feldern. Jedes Feld enthält jeweils ein Wort und Noten dazu. Grundsätzlich sind vier Leserichtungen möglich. Danckerts schreibt in seinem handschriftlich überlieferten Traktat, dass mehr als zwanzig Lösungen möglich sind. Wie diese genau aus dem Schachbrett abzuleiten sind, verrät er aber nicht. Jedenfalls ist sein „Ave maris stella“ ein Paradebeispiel musikalischer Kombinatorik, da es multiple Lektüren ermöglicht und jede Lösung gleichberechtigt ist. Durch die immer variierenden Kombinationen desselben Grundmaterials entsteht darüber hinaus ein quasi unendliches Marienlob. Die Vermutung liegt nahe, dass Danckerts mit einem sehr ähnlichen Phänomen in der Dichtung der rhétoriqueurs vertraut war und sein Schachbrett in Anlehnung daran komponiert hat. Tatsächlich gibt es auch in der visuellen Lyrik aus dieser Zeit eine ganze Reihe von Gedichten in der Form eines Schachbretts, die ebenfalls mit der Räumlichkeit, dem ordo legendi und der Potenzierung von Lektüren spielen.23 Gerade wegen ihrer visuellen Wirkung und optisch ansprechenden Gestaltung tauchen solche Kompositionen auf unterschiedlichen Medienträgern auf: Man findet sie – abgesehen von den ‚üblichen‘ Musikdrucken und -handschriften – auch auf Einblattdrucken, Gemälden und Intarsien, in Stammbüchern und sogar auf Stein und Leinentuch. Die manche von diesen Werken begleitenden Widmungen und Panegyriken lassen darauf schließen, dass sie 20 Vgl. Will Dekker, Ein Karfreitagsrätselkanon aus Adam Gumpelzhaimers Compendium musicae (1632), in: Die Musikforschung 27, 1974, S. 323–332. 21 Vgl. Laura Youens, Forgotten Puzzles. Canons by Pieter Maessens, in: Revue belge de musicologie 46, 1992, S. 81–144. 22 Hans Westgeest, Ghiselin Danckerts’ Ave maris stella. The Riddle Canon Solved, in: Tijdschrift van de Vereniging voor Nederlandse Muziekgeschiedenis 36, 1986, S. 66–79. 23 Vgl. dazu vor allem Gisela Febel, Poesia ambigua oder Vom Alphabet zum Gedicht. Aspekte der Entwicklung der modernen französischen Lyrik bei den Grands Rhétoriqueurs (Analecta romanica 62), Frankfurt a. M. 2001.

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für bestimmte Gelegenheiten angefertigt wurden; andere wiederum reflektieren über theologische und philosophische Themen; noch andere nehmen die Bildform zum Anlass, daran bestimmte kompositorische Ideen anzuknüpfen. Ähnlich wie beim musikalischen Rätsel liegt der Fokus hier eindeutig auf der Notation. Auch hier hat das Geschriebene keinen ‚Schwellenstatus‘, es ist kein bloßes ‚Medium‘ zwischen dem kompositorischen Konzept und seiner klingenden Realisierung, sondern es erhält eine gewisse Eigenständigkeit und wird ein Zweck an sich. Es ist Augenmusik, die gesehen werden will und muss, um ihr volles symbolisches Potential zu entfalten. Eine performative Umsetzung von diesen Werken – wenigstens aus den hier besprochenen Quellen – ist somit sekundär, wenn nicht sogar ausgeschlossen. Sowohl aus praktischer als auch aus ästhetischer Sicht würde dies den Sinn dieser ‚Bilder‘ verfehlen. Zunächst würde eine Aufführung eine kinetische Dimension implizieren. Das Geschriebene müsste – von mehreren Sängern gleichzeitig – rotiert und – je nach Position und je nach Bildtypus – in unterschiedliche Richtungen gedreht werden. Das kann nicht gerade bequem gewesen sein kann, ganz zu schweigen davon, dass eine solche Gestik einen recht komischen und befremdlichen Eindruck gemacht haben würde. Wenn es überhaupt zu einer Aufführung dieser Musik gekommen sein sollte, so ist es wahrscheinlich, dass die Musiker von einer anderen Quelle (Stimmbücher oder Chorbuch) sangen – tatsächlich sind einige von den hier gezeigten Werken auch in einer ‚konventionellen‘ Notationsform überliefert. Zu dieser motorischen kommt auch eine kognitive Erschwernis hinzu. Denn die Stücke aus diesen Quellen zeigen eine derartige Symbiose zwischen Musik, Bild und Text, dass sie wahrscheinlich eher als ‚Andachtsbild‘ im weiten Sinne des Wortes verstanden und ‚gelesen‘ werden sollen. Die Musik wird in ihrer Symbol- und Zeichenhaftigkeit aufgewertet, die nicht klanglich wiedergegeben werden kann. Diese Bilder laden den Betrachter zum Nachdenken, zu einem silent reading ein, sie retardieren, ja entautomatisieren sogar die Lektüre. Lesen wird hier zu einer hermeneutischen Aktivität, bei der die intermedialen Komponenten dechiffriert und in ihrem Zusammenhang betrachtet werden wollen. Ähnlich wie bei der literarischen Tradition der carmina figurata, die seit der Antike bekannt sind und sich auch in der Renaissance großer Beliebtheit erfreuten, wird sich der Betrachter durch die Intermedialität der Darstellung der Selbstreferentialität und symbolischen Kohärenz des Stückes bewusst.24 24 Zum Figurengedicht vgl. u. a. die Studien von Ulrich Ernst, Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters (Pictura et poesis 1), Köln u. a. 1991 und Ders., Intermedialität im europäischen Kulturzusammenhang.

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Aber auch hier stößt die Musik gewissermaßen an ihre Grenzen. Denn im Unterscheid zur visuellen Lyrik, die ja ohne Probleme Gegenstand einer stillen Lektüre sein kann, stellt sich bei Musik – die letztendlich ein kollektives Geschehen ist – die Frage nach dem klanglichen Ergebnis. Genau diese Problematik hat man bereits in der Frühen Neuzeit erkannt und angesprochen. Tatsächlich blieb das Phänomen der ‚visuellen Musik‘ (diesen Begriff verwenden wir in Analogie zur visuellen Lyrik) nicht ohne Kritik. Bereits im 15. Jahrhundert beklagte sich der englische Theoretiker John Hothby, dass es nichts Unsinnigeres und Absurderes („ineptum [ac] absurdum“) gäbe, als wenn Musik die Form eines Bildes annehme.25 Das Thema verschwand dann eine Weile vom theoretischen Diskurs und gewann ab der Mitte des 16. Jahrhunderts wieder an Bedeutung. Diesmal liegt das Gravitationszentrum in Italien. Theoretiker betteten ihre Kritik an optisch aufwendig gestalteter Musik in Debatten über die Sinne, über die Funktion von Musik überhaupt und in philosophische Überlegungen über Komplexität und Einfachheit ein. Nicola Vicentino bringt die Problematik auf den Punkt, wenn er schreibt, dass Musik in erster Linie das Ohr befriedigen sollte, nicht das Auge.26 Für ihn sollte Musik keine intellektuelle Übung sein, sondern zur „dolcezza d’armonia“27 führen. Ähnlich argumentiert Gioseffo Zarlino, wenn er im dritten Buch seiner „Istitutioni harmoniche“ schreibt: Was macht es aus, wenn Musik noch so kunstvoll und in den prächtigsten Farben in der Form eines Objekts abgebildet ist, wenn es die Komposition an sich dadurch nicht besser macht? Es erhöht die Komplexität, aber nicht die Harmonie, die ja zum Wesen der Musik gehört – alles andere ist nutzlos und vergebens.28 Vincenzo Galilei formuliert seine Kritik im Rahmen einer Besprechung der „Verstöße von modernen Komponisten“. In seinem „Dialogo della musica antica e moderna“ listet er eine Reihe von Objekten auf, in deren Form Musik abgebildet wurde wie beispielsweise Wappen, Blumen und Spiegel. Er betrachtet solche Stücke als „ridicole vanità“ (lächerliche Eitelkeiten), die eher zum Karnevalesken gehören und als Witz und Farce („burla e scherzo“) interpretiert werden sollten.29 Beiträge zur Theorie und Geschichte der visuellen Lyrik (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 4), Berlin 2002. 25 John Hothby, Dialogus Johannis Ottobi anglici in arte musica (Florenz, Biblioteca Magliabecchiana, Ms. XIX 36, fol. 81v–83v). 26 Vgl. Nicola Vicentino, L’antica musica ridotta alla moderna prattica, Rom 1555, Buch 4, Kap. 40, fol. 93r/v. 27 Ebd., fol. 93v. 28 Gioseffo Zarlino, Le istitutioni harmoniche, Venedig 1558, Buch 3, Kap. 71, S. 279. 29 Vincenzo Galilei, Dialogo della musica antica e moderna, Florenz 1581, S. 88.

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Diese Thematik ließe sich selbstverständlich viel ausführlicher darstellen. Allerdings offenbaren sich mit dieser Debatte unterschiedliche Ansätze zur Funktion und zum Wesen von Musik, aber auch zum Versuch, die Zeichenhaftigkeit von Musik für symbolische Zwecke nutzbar zu machen. Wenn Musik nicht zum Klingen gebracht wird, sondern vielmehr zum Betrachten dient, ist das Notierte dann nicht ‚nur symbolisch‘? Auch wenn wir es bei den gezeigten Stücken mit einer Symbiose von Musik, Text und Bild zu tun haben, ist diese Augenmusik vielleicht doch auf eine Paragone-Idee zurückzuführen. Wie Leonardo da Vinci schrieb, lässt sich die Überlegenheit vom Sehen auch dadurch erklären, dass Musik vergänglich ist, weil sie vergeht, sobald sie entsteht (das heißt: sobald man sie singt).30 Wenn sie notiert wird, hat sie – notwendigerweise stillschweigend – einen Anspruch auf Ewigkeit.

V. Wir haben vermittels einiger Exempla aus dem Themenfeld ‚Musik als Bild‘ solche Phänomene unter dem Aspekt der Symbolizität untersucht, in denen die Musik entweder in Gestalt eines Bildes oder doch zumindest als wesentliches Motiv einer Bildkomposition erscheint beziehungsweise von einem Bild begleitet wird. Tatsächlich richten sich solche Darstellungen nicht unmittelbar an den Hörerrezipienten, können demnach, in Anlehnung an unsere Kategorisierung bei den musikalischen Rätseln, als interne, weil visuelle und für den Ausführenden intendierte Kommunikationsform verstanden werden. Auch hierzu sei nun ein externes Gegenmodell entwickelt, das sich, wie bei den Rätseln, unmittelbar auf die auditive Wahrnehmung bezieht. Mit dem Themenkomplex ‚Bild als Musik‘ möchten wir Beispiele vorführen, in denen die musikalisch hörbare Umsetzung konkreter Bilder, gleichsam also die ‚Vertonung‘ von Bildern die zentrale künstlerische Idee ist. Dieser systematischen Beschränkung ist geschuldet, dass bestimmte Phänomene der Visualisierung von Musik hier nicht behandelt werden können. Um ein charakteristisches Beispiel zu nennen: Der „Fuge in Rot“ von Paul Klee aus dem Jahre 1921, einer bildlichen Umsetzung polyphoner Kompositionsverfahren, fehlt nicht nur jegliche traditionelle musikalische Notation, sondern auch die Absicht einer klanglichen Realisierung. 30 Vgl. dazu Bonnie J. Blackburn, Leonardo and Gaffurio on Harmony and the Pulse of Music, in: Barbara Haggh (Hg.), Essays on Music and Culture in Honor of Herbert Kellman, Paris 2001, S. 128–149.

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1874 komponierte Modest Mussorgskij seine Klaviersuite „Bilder einer Ausstellung“, in der, gleichsam einen Gang durch eine Exposition nachvollziehend, zehn Aquarelle und Genreskizzen des Petersburger Architekten Viktor Hartmann musikalisch adaptiert wurden. Hartmann war im Jahre zuvor gestorben und zu seinem Gedenken hat die besagte Ausstellung, auf der laut Ausstellungskatalog rund 400 Buchillustrationen, Reiseskizzen, Architektur- und Kostümentwürfe zu sehen waren, im Frühjahr 1874 tatsächlich stattgefunden. Nur fünf der von Mussorgskij ‚vertonten‘ Bilder sind heute noch erhalten.31 So handelt es sich bei Hartmanns Zeichnung des „Großen Tores von Kiew“ um den Architekturentwurf eines Tores im altrussischen Stil: Der Bogen ruht auf zwei Säulen mit überdimensionierten Kapitellen und der altslawischen Inschrift „Gesegnet, wer im Namen des Herrn kommt.“ Die Haube aus durchbrochenem Steinwerk wird durch den Erzengel Michael sowie den Zarenadler bekrönt. Die Kuppel des Glockenturms ist in der Form eines Kriegshelms gestaltet. Mussorgskij komponierte den Satz marsch- beziehungsweise prozessionsartig, mit majestätischem Gestus; später treten noch slawisch-kirchentonale sowie Campanella-Effekte hinzu. Das so akzentuierte Phänomen der musikalischen Umsetzung eines Bildes, dem prominent etwa auch Franz Liszts Symphonische Dichtung „Hunnenschlacht“ von 1857 (nach einem Gemälde von Wilhelm von Kaulbach) oder Paul Hindemiths Symphonie „Mathis der Maler“ (nach Mathis GothartNitharts „Isenheimer Altar“) von 1934 zur Seite gestellt werden könnten, ist keineswegs erst eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, sondern, in singulären Beiträgen, schon im 16. und 17. Jahrhundert nachweisbar. In seiner ideengeschichtlichen Tragweite ausgelotet wurde dieses Phänomen freilich dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und zwar in etlichen kunstästhetischen Schriften ab den 1770er Jahren: Gemäß der dort verwendeten Terminologie wird das an Mussorgskijs „Großem Tor von Kiew“ vorgeführte Verfahren als „musicalische Mahlerey“32 bezeichnet, dies freilich, wie gleich deutlich wird, in mehrheitlich kritischer Perspektive. Die Begriffsbildung impliziert die dahinter stehende Idee, nämlich die Adaption von Technik, Stil, Stoffund Formenwelt der einen Kunst durch eine andere. Ein Vergleich der drei genannten Beispiele veranschaulicht, welche unterschiedlichen Anforderungen die Vorlage an den Komponisten stellt: Sug31 Die Reproduktionen sind leicht zugänglich in der von Nikolaj Rimskij-Korsakow redigierten Klavier-Ausgabe von Breitkopf & Härtel (Nr. 8112): Modest P. Mussorgskij, Bilder einer Ausstellung. Für Klavier, Wiesbaden 1983. 32 Vgl. etwa Johann Jacob Engel, Ueber die musikalische Mahlerey. An den königlichen Capellmeister Herrn Reichardt, Berlin 1780.

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geriert beim „Isenheimer Altar“ allein schon das Genre mit seiner religiösen Symbolik und historisierenden Kontextualisierung eine bestimmte sakrale Tonsprache – was im darin enthaltenen selbstreferentiellen „Engelskonzert“ etwa infolge der Verwendung der alten Volksweise „Es sungen drei Engel“ realisiert wird –, so bietet der Handlungscharakter der „Hunnenschlacht“, in der paradigmatisch die Konfrontation von Christen- und Heidentum thematisiert wird, zusätzlich die Möglichkeit, die Dynamik des Schlachtengetümmels sowie dessen akustische Wahrnehmung, etwa durch Verwendung von Kriegstrompeten, unmittelbar zu realisieren, somit gleichsam eine Umsetzung der dargestellten soundscapes anzustreben. Ein statisches Sujet wie „Das Große Tor von Kiew“ bietet demgegenüber ein vergleichsweise nur geringes narratives Potenzial, zwingt also dazu, über andere musikalische Stilmittel nachzudenken, auch deshalb, weil mit Ausnahme der – allerdings offensichtlich ruhenden – Glocken keinerlei klingende Elemente dargestellt sind. Zu Möglichkeiten und Wegen der Synchronisierung der visuellen und auditiven Wahrnehmung – und in der Folge: Reflexion – ist im bereits angesprochenen Schrifttum aus unterschiedlicher Perspektive Stellung bezogen worden. Dabei entwickelte sich die ambitionierte ästhetische Auseinandersetzung um die „musicalische Mahlerey“ im Rahmen eines im 18. Jahrhundert breit thematisierten kunstanschaulichen Diskurses, der schlagwortartig als ‚Wettstreit der Künste‘ fassbar wird; auf dessen lange zurückreichende Tradition, die im Kontext der Paragone-Thematik steht, brauchen wir hier nicht weiter einzugehen. Ausgehend von der ambivalenten interdisziplinären Begriffsbildung und unter der Voraussetzung, dass beide Disziplinen über affine kunstsprachliche Mittel verfügen, erkennt etwa Carl Ludwig Junker direkte Parallelen: Angefangen bei elementaren Analogien hinsichtlich der Werkstoffe – hier Farben, dort Töne (wobei Schatten mit tiefen, dagegen Licht mit hohen Tönen gleichgesetzt werden) –, sieht Junker grundsätzliche Übereinstimmungen in der äußeren Anlage der Kunstwerke. Zeichnung, Kolorit, Ausdruck oder Bestimmung der Charaktere eines Gemäldes kehrten wieder in der Melodik, der Harmonik, dem davon abhängigen Ausdruck sowie dem Charakteristischen der Erfindung eines Musikstücks.33 Der Versuch der Analogiebildung reicht bis in die Disposition der Gegenstände: Der Solist eines Konzerts sei mit Blick auf seine Profilierung mit dem Helden eines historischen Gemäldes vergleichbar. Während jener indes die Konturen seiner Themenfindung

33 Carl Ludwig Junker, Betrachtungen über Mahlerey, Ton- und Bildhauerkunst, Basel 1778.

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der Empfindung verdanke, schöpfe dieser aus den Tatsachen.34 Junkers etwas naiver Entwurf, in Teilen als zumindest kurios zu beurteilen, dokumentiert jedenfalls jenes Bedürfnis nach regelrechten Analogiekonstrukten ebenso unmittelbar wie die seinerzeit populäre, zugleich oberflächliche Idee, Maler und Musiker einem interdisziplinären personalstilistischen Vergleich zu unterziehen: Demnach wird Mozart mit Raffael verglichen, Gluck mit Caravaggio, Pergolesi mit Correggio, Hasse gilt als der „Rubens der Tonkunst“ und Haydn als „Tintoretto von Rohrau“. Diese teils amüsanten, teils gar nicht überzeugenden Parallelisierungsbemühungen sind freilich nur die vulgärästhetische Spitze eines Eisbergs. Denn neben solchen allgemeinen, zumeist oberflächlichen Versuchen des äußeren Vergleichs, dem Versuch, sodann eine Rangordnung festzuschreiben, oder solchen rudimentär synästhetischen Phänomenen wie der Erfindung eines Augenklaviers durch Louis-Bertrand Castel bieten ambitionierte ästhetische Texte Gelegenheit, das Phänomen in den Kontext symbolischer Kommunikation einzubetten, zugleich auch deren Grenzen zu markieren.35 Zieht man etwa Johann Georg Sulzers einflussreiche Enzyklopädie „Allgemeine Theorie der Schönen Künste“ von 1773/75 zu Rate, so wird die Interdependenz musik- und kunstästhetischer Vorstellungen auf einer ungleich anspruchsvolleren intellektuellen Ebene deutlich, vergegenwärtigt man sich nur, dass im Artikel „Mahlerey“ der Rekurs auf die Musik breiten Raum einnimmt und der Artikel „Gemähld“ sogar als förmlicher musikalischer Kunstbegriff geführt wird.36 Dabei zeichnet sich eine zweigliedrige Systematisierung dieses symbolischen Kommunikationsprozesses ab. Einerseits handelt es sich um die mimetische, auch onomatopoetische Darstellung genrebedingter Umwelterscheinungen mithilfe der Tonmalerei, wozu Tierstimmen, Gewitter, ein idyllisch murmelndes Bächlein oder auch Waldesrauschen gehören. Diese, im Kontext der Nachahmungsästhetik des 18. Jahrhunderts (Serauky) verortete Tonmalerei ist, was uns nun auf die Fra34 Jürgen Heidrich, „Zwischen Pergolese und Correggio, welche Familienähnlichkeit!“ Zur Verbindung von Musik und Malerei im kunsttheoretischen Schrifttum des 18. Jahrhunderts, in: Antje Middeldorf Kosegarten (Hg.), Johann Dominicus Fiorillo. Kunstgesichte und die romantische Bewegung um 1800, Göttingen 1997, S. 420–449, hier S. 428. 35 Amüsant zu lesen ist die Abhandlung zum Gegenstand aus der Feder von Georg Philipp Telemann, Beschreibung der Augen-Orgel oder des Augen-Clavicimbels, so der berühmte Mathematicus und Jesuit zu Paris; Herr Pater Castel, erfunden und ins Werk gerichtet hat […], Hamburg 1739. Der Text ist faksimiliert und kommentiert zugänglich in: Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation von Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts 18, 1982. 36 Vgl. Johann Georg Sulzer, Art, „Gemähld“, in: ders., Allgemeine Theorie der Schönen Künste, in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinander folgenden, Artikeln abgehandelt 1, 1773, S. 607 f. und ders., Art. „Mahlerey“, in: ebd. 2, 1775, S. 206.

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gestellung des damit verbundenen symbolischen Kommunikationsprozesses leitet, bis zu einem gewissen Grade objektivierbar: Eine kleine Terz abwärts beispielsweise wird man, vorausgesetzt es liegt tatsächlich eine genrespezifische Komposition vor, nicht anders denn als Kuckucksruf deuten. So präzise dem Hörer der Nachvollzug infolge des konkretisierenden Verweises auf außermusikalische Sujets gelingt (um ein weiteres Beispiel zu nennen: In Justin Heinrich Knechts seinerzeit berühmtem Orgelstück „Die durch ein Donnerwetter unterbrochene Hirtenwonne“ wird das Gewitter durch gewiss jegliche kompositorische Konventionen des 18. Jahrhunderts sprengende Cluster dargestellt), so stark wurde dieses plakative Verfahren durch die Kunstkritik beargwöhnt und als den Möglichkeiten der Musik unangemessen beurteilt, weil mit solchen Procederes das eigentliche Potenzial der Musik nicht ausgeschöpft würde: „Der Wind, der Donner, das Brausen des Meeres, oder das Lispeln eines Baches, das Schießen des Blitzes und dergleichen Dinge, können einigermaßen durch Ton und Bewegung nachgeahmt werden, und man findet, dass auch [sogar!] verständige und geschikte Tonsetzer es thun,“ notierte Sulzer. „Aber diese Mahlereyen sind dem wahren Geist der Musik entgegen“.37 Und an anderer Stelle heißt es pointiert und auf den Kern zielend: „Der eigentliche für die Musik dienende Stoff ist leidenschaftliche Empfindung“.38 Es war andererseits der Berliner Popularphilosoph Johann Jacob Engel, der mit seiner Abhandlung „Ueber die musicalische Mahlerey“, erschienen 1780 in Berlin, eine zweite Denkrichtung kunstphilosophisch profilierte, damit zugleich die kunstästhetischen Standards systematisch wie normativ formulierte.39 Infolge der Überlegenheit der Musik gegenüber der Malerei hinsichtlich der Erweckung bestimmter Gefühle sei nicht die reale Deskription beziehungsweise der unmittelbare narrative Nachvollzug zu leisten, sondern es sei eben ihre Aufgabe, die durch Betrachtung eines Bildes, die Vorstellung eines Programms, einer Person oder einer bestimmten Genreszene angemessenen Empfindungen zu provozieren. Es ist hier nicht nötig, die komplexe Argumentation Engels weiterzuverfolgen, in der Begriffe wie „unvollständige“ und „vollständige Malerei“, die Vorstellung einer „transzendentellen Ähnlichkeit“, das Gegensatzpaar „Malerei – Ausdruck“, die Idee des „Begehrungsvermögens“, die Ausdifferenzierung in „subjektive“ und „objektive“ Empfindung, schließlich das poetische Konstrukt einer „Ideenreihe“ eine Rolle spielen. Zweifellos betreten wir mit einem solchen Ansatz den inneren Zirkel der subjektiven, kaum normierbaren beziehungsweise objektivierbaren Gefühls37 Sulzer, Art. „Gemähld“ (wie Anm. 36). 38 Ders., Art. „Mahlerey“ (wie Anm. 36). 39 Vgl. Engel, Ueber die musikalische Mahlerey (wie Anm. 32).

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ästhetik. Die Folge ist ein wenig konkretisierter, weil individuell erlebter Kommunikationsprozess, der auch in der Wahl der musikalischen Mittel relativ unbestimmt bleibt und sich insofern polyvalent gestalten kann – womit zugleich dessen Grenzen angesprochen sind. Denn die musikalische Adaption eines Bildes ist als Katalysator für subjektive Empfindungen sowohl des Komponisten wie auch des Hörers denkbar, wobei diese durchaus divergieren und zudem von den Intentionen des Malers abweichen können. Doch erwies sich ein solches Denkmodell, das jeglicher Konkretion entbehrt, das indes von der zeitgenössischen Ästhetik favorisiert wurde und zugleich in den Grenzbereich dessen vorstößt, was noch als symbolische Kommunikation bezeichnet werden kann, als visionär: Rund drei Jahrzehnte später sollte E.T.A. Hoffmann seine wirkmächtige Idee formulieren, die Musik sei Metasprache eines unbestimmten, unbekannten wunderbaren Geisterreichs, die zum Topos romantischer Musikästhetik schlechthin wurde.40 Es erscheint unter dieser ästhetischen Prämisse folgerichtig, dass Beethoven – um ja nicht der nachahmungsästhetischen Position bezichtigt zu werden – über der Violinstimme seiner 6. Symphonie, der sogenannten „Pastorale“, vorsichtshalber notierte: „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“.

VI. Ob bei einem Rätsel die Verschlüsselung nun intern, auf der Ebene der Notation, oder vielmehr extern, auf der Ebene der Hörerfahrung, zum Beispiel durch das Spielen mit Gattungskonventionen stattfindet: Der Komponist hat in beiden Fällen die Verwirrung – des Musikers oder des Zuhörers – einkalkuliert. Ob sich das Rätsel nun dem Auge oder dem Ohr stellt – oder, anders gesagt: ob es sich nun vor oder nach der Aufführung abspielt –, der Komponist hat sein Werk jeweils so konzipiert, dass es sich als eine visuelle oder auditive Denkaufgabe und somit als eine Herausforderung präsentiert. Dadurch findet eine besondere Form der Kommunikation statt, bei welcher der Komponist jeweils erkennbar macht, dass vom Rezipienten (von den Sängern oder aber vom Publikum) eine besondere hermeneutische Leistung verlangt wird. Der Komponist betont jeweils den besonderen Charakter seiner Musik und bietet dazu verrätselte Hinweise. Den unterschiedlichen Positionen über das Verhältnis von Musik zum Bild ist gemeinsam, dass sie im Laufe der Geschichte immer wieder Kritik 40 Vgl. Carl Dahlhaus, Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988, S. 111–121.

Formen und Grenzen symbolischer Kommunikation in der Musik

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hervorgerufen haben, bei denen der Musik gewissermaßen vorgeworfen wird, dass sie ihre intrinsischen Grenzen überschreitet. Ob Musik zum Bild wird (das heißt bildlich dargestellt wird) oder aber umgekehrt ein Bild zur Musik wird (das heißt in ein musikalisches Zeichensystem ‚übersetzt‘ wird): in beiden Fällen wird ihr symbolisches Potential in einen intermedialen Kontext eingebettet und somit noch erhöht. Und in beiden Fällen wird von manchen Gegnern die Synchronisierung der auditiven und visuellen Wahrnehmung als Grenzüberschreitung erfahren. Sowohl beim Phänomen der ‚visuellen Musik‘ als auch beim Themenkomplex der ‚musikalischen Malerei‘ liegt – als direkte Konsequenz des immer wieder die Musikgeschichte bestimmenden Paragone-Denkens – ein Versuch vor, Musik über sich selbst und ihr eigenes Zeichensystem hinaus zusätzlich symbolisch aufzuladen und ihren Rezipienten somit wiederum zu einer besonderen interpretatorischen Leistung aufzufordern.

Laurenz Lütteken

Kommentar zur Sektion „Grenzen symbolischer Kommunikation in der Musik“ An den zwei hier diskutierten Beispielen, die Verbindung von Musik mit Techniken der Verrätselung und die Interaktion von Musik und Bild betreffend, konnten Probleme und Grenzen symbolischer Kommunikation in der Musik anschaulich und eindrücklich vorgeführt werden.1 Der münsterische Sonderforschungsbereich (SFB 496) – dass solche Chiffren selbst Mustern symbolischer Kommunikation für die Eingeweihten entsprechen, ist dabei wohl nicht mehr als eine ironische Pointe – trägt den Titel „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“. Diese Versuchsanordnung entstammt, so erscheint es mir, einer Perspektive historischer Systematik, in der das Wechselverhältnis zwischen rituellen Denk-, Anschauungs- und Darstellungsformen, also dem, was hier ‚symbolische Kommunikation’ heißt, und ihren Bezügen zu einer sozialen Wirklichkeit im weitesten Sinne, also dem, was hier ‚gesellschaftliche Wertesysteme‘ heißt, in den Blick genommen wird; politisch, historisch oder rechtshistorisch fokussiert auf einen Zeitraum, der neuerdings wohl allzu pauschal als ‚Vormoderne‘ bezeichnet wird. Denkt man jedoch an die Künste, so erscheint dieses Konzept problematisch. Das gilt in ganz besonderem Maße für die Musik, deren Zugehörigkeit zu einem System der Künste eben nicht eine Voraussetzung des hier untersuchten Zeitraums ist, sondern eines seiner Ergebnisse, für die Musik selbst sogar eines seiner zentralen, mithin reichlich Reibungsverluste hervorrufenden Ergebnisse. Übrigens geht es dabei, historisch präziser und gegen den modernen Trend der Geisteswissenschaften, um ein System der ‚Schönen Künste‘, nicht der Medien, schon gar nicht der ‚schönen Medien‘. Die eingangs des Vortrags von Jürgen Heidrich getroffene Feststellung, dass Musik als „Medium symbolischer Kommunikation schlechthin“ gelten könne, ist ihrerseits vieldeutig: symbolische Kommunikation in, neben oder trotz gesellschaftlichen Wertesystemen? Verrätselung ist, dies haben die Überlegungen von Katelijne Schiltz gezeigt, ein immanenter Vorgang höchs-

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Um den Charakter der Entgegnung zu wahren, wurde die Form der gesprochenen Rede weitgehend beibehalten; auch beschränken sich die Nachweise, dem Genre entsprechend, auf ein Minimum.

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ter Künstlichkeit.2 Die darin erkennbare Verbindung zur Visualität bedarf des neuzeitlichen Systems der Künste, bleibt allerdings innerhalb dieses Systems selbstreferentiell. Gelingt symbolische Kommunikation in der Musik also nur, wenn diese allein und als Kunst auf sich selbst bezogen ist, oder doch auch in Interaktion mit anderen Phänomenen? Die Beziehung der Musik zum Symbol und zur symbolischen Kommunikation ist demnach schwierig einzuschätzen. Bereits 1923 hatte Ernst Cassirer den Begriff der symbolischen Form definiert, freilich unter gänzlichem Verzicht auf musikalische Phänomene.3 Auch hier zeigt sich die von Schopenhauer und Jacob Burckhardt verfestigte, von Nietzsche begeistert aufgegriffene These, die Musik nehme im System der Künste einen Sonderstatus ein – und ereigne sich, da stets ‚verspätet‘, gewissermaßen nicht in, sondern neben der Geschichte. Musik kann also in der, um den der marxistischen Theorie entlehnten Begriff von Carl Dahlhaus zu verwenden, ‚relativen Autonomie‘ ihrer Beschaffenheit wohl immanent Symbolsprachen ausbilden,4 ob sie das aber darüber, sozusagen über sich selbst hinaus, in substantieller Interaktion mit anderen Phänomenen vermag, könnte daraufhin bezweifelt werden. Musik könnte demnach selbst innerhalb eines rituellen Zusammenhangs vielleicht nur ein Symbol allgemeinster, unspezifischer Art sein – und damit als ‚Kommunikation‘ allenfalls kontextuell funktionieren. Um es zuzuspitzen: Dass Musik bei den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden erklingen musste, galt offenbar als notwendig und unbestritten. Um welche Musik es dabei aber konkret ging, könnte demnach sowohl für die Friedensverhandlungen wie für die Musik selbst vollkommen gleichgültig gewesen sein. Will man also, ausgehend von den im Vortrag aufgezeigten Perspektiven, versuchen, die Möglichkeiten und Grenzen symbolischer Kommunikation in der Musik zu ermitteln, so ergeben sich grundlegende Probleme. Schon der ontologische Status des Musikkunstwerks ist, wie man nicht erst seit Roman Ingarden weiß, nicht einfach, ja wahrscheinlich gar nicht zu bestimmen und irgendwo zwischen den ziemlich ungenauen, verschwimmenden, aporetischen 2 Vgl. Jürgen Heidrich / Katelijne Schiltz, Formen und Grenzen symbolischer Kommunikation in der Musik, in diesem Band S. 251–273. 3 Vgl. Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: Fritz Saxl (Hg.), Vorträge der Bibliothek Warburg, Bd. 1, Vorträge 1921–1922, Leipzig/ Berlin 1923, S. 11–39; wieder in: Ernst Cassirer, Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen. Auf der Grundlage der Ausgabe Ernst Cassirer, Gesammelte Werke hg. von Marion Lauschke (Philosophische Bibliothek 604), Hamburg 2009, S. 63–92; vgl. auch Marie-Dominique Popelard, De la musique comme discours au discours pragmatique sur la musique, in: Analyse musicale 35, 2000, S. 21–26. 4 Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte (Musik-Taschen-Bücher Theoretica 15), Köln 1977, S. 173 ff.

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Größen von ‚Schrift‘, ‚Aufführung‘ und ‚Wahrnehmung‘ anzusiedeln. Doch damit Musik überhaupt zum Medium und dann auch noch zu symbolischer Kommunikation werden kann, bedarf es, dies könnte man schon den Schriften von Aby Warburg entnehmen, nicht notwendig des Kunstwerks. Nur ein Bruchteil der in Ritualen spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Repräsentation beziehungsreich eingesetzten Musik ist schriftlich überliefert, doch besagt dies nichts über die Wichtigkeit und Funktion der nicht aufgezeichneten Musik. Heinrich Isaac (ca. 1450–1517) schrieb seine sechsstimmige Motette „Optime … pastor“ 1514 für die Krönung Papst Leos X. Musik partizipierte damit zweifellos an einem bedeutsamen Akt symbolischer Kommunikation. Doch das Ereignis war ebenso sicher durchtränkt von weiterer Musik, die vom einstimmigen Choral bis hin zu Instrumentalmusik gereicht haben dürfte. Nur der Motette Isaacs wurde jedoch das Privileg einer schriftlichen Überlieferung zuteil, doch in einem Zusammenhang, der mit dem Ereignis der Krönung gar nichts zu tun hatte. Und diese Aufzeichnung steht wiederum in einem denkbar ungenauen Verhältnis zu dem, was wir ‚Aufführung‘ nennen (und noch immer ist nicht klar, ob der Begriff ‚Aufführung’ die Wirklichkeit solcher Musik angemessen beschreibt). Das hier im Krönungsanlass erahnbare musikalische Differenzierungsgefälle – vom Trompetensignal bis zur Isaac-Motette – ist erheblich, es ist ein zentrales musikhistorisches Merkmal von Neuzeit; doch die dauerhafte Überlieferung durch das eigene musikalische Schriftsystem wurde nur einem ganz kleinen Ausschnitt aus der hier sich abzeichnenden Fülle zuteil. Ist damit eine Möglichkeit oder eine Grenze symbolischer Kommunikation in der Musik erkennbar? Oder ist dies gleichgültig? Ist es also ein Privileg der Musik, zur symbolischen Kommunikation nur in ihren eigenen Bezugssystemen befähigt zu sein, ansonsten aber der Beliebigkeit zu unterliegen? Ein weiteres Beispiel vermag diese Schwierigkeit zu veranschaulichen. Im März 1511 fand in Stuttgart die Hochzeit Herzog Ulrichs von Württemberg mit Sabina von Bayern statt. Während der Messfeier erklang wahrscheinlich die sechsstimmige „Missa in summis“ des herzoglichen Hofkapellmeisters Heinrich Finck (1544/45–1527), die auch auf die Hochzeit Bezug nimmt. Ein sächsischer Chronist vermerkt dazu, dass sie „von der wirtenbergischen Capelln gsungen, vnd ist ain laut gut wolgestimbt Regal darzow geschlagen wordenn“.5 Eine Stuttgarter Handschrift der Musik ist 5

Zit. nach Adolf Aber, Die Pflege der Musik unter den Wettinern und wettinischen Ernestinern. Von den Anfängen bis zur Auflösung der Weimarer Hofkapelle 1662 (Veröffentlichungen des Fürstlichen Instituts für musikwissenschaftliche Forschung Bückeburg 4,1), Bückeburg/Leipzig 1921, S. 83; auch Lothar Hoffmann-Erbrecht, Henricus Finck musicus excellentissimus (1445–1527), Köln 1982, S. 42 f.

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erhalten,6 jedoch entstand sie eine gute Generation nach dem Ereignis, lange nach Fincks Tod – und enthält weder einen Verweis auf die Aufgabe der Orgel beziehungsweise des Regals in diesem Zusammenhang noch einen Hinweis auf den Entstehungsanlass der Messe. Ist also diese Messe auch ohne ihren Anlass verständlich? Ist der von allerlei Symbolik durchzogene Anlass der Hochzeit auch ohne diese Musik denkbar? Oder mit anderer Musik? Wir können zudem nur diese Messe einigermaßen plausibel dem Anlass zuordnen, können aber mit Gewissheit annehmen, dass sie eben nur einen kleinen Teil der musikalischen Vielfalt und ihrer Bedeutungshaltigkeit in Relation zum Ereignis ausgemacht hat. Das erwähnte Regal ist dafür nur ein Indiz, allerdings ein sehr aussagekräftiges.7 Man könnte also annehmen, Musik bilde in Akten symbolischer Kommunikation allenfalls ein unspezifisches Akzidens. Dieses Akzidens ist vielgestaltig, umfasst sehr verschiedene Daseinsformen und Wirklichkeiten des Musikalischen, bleibt aber am Ende der Beliebigkeit unterworfen. Dann wäre die Macht zur Symbolkraft in der Tat vor allem ein interner, autonomer Vorgang, unabhängig von jenen Kontexten, die Musik auch und stets hat. Angesichts dieser Problemlage bietet es sich allerdings an, die Dinge noch etwas genauer in den Blick zu nehmen. Dabei soll, methodisch wagemutig, aber vielleicht doch nicht sinnlos, ein Weg eingeschlagen werden, der gleichsam das Erkenntnisinteresse dieses Sonderforschungsbereichs umkehrt, um ihn für musikhistorische Einsichten geradezu hemmungslos nutzen zu können. Bleiben wir dabei zunächst beim musikalischen Kunstwerk, denn dieses ist ja die Voraussetzung für die vorhin beschriebenen Phänomene etwa bei der württembergischen Hochzeit. Dieses Kunstwerk ist zweifellos eine Neuigkeit des 15. Jahrhunderts. Natürlich gab es zuvor schon kunstvolle, komponierte, mehrstimmige, aufgezeichnete Musik. Doch den Status des unverwechselbaren, eigenen, an die Person eines Komponisten gebundenen, mehrstimmigen musikalischen Kunstwerks gab es selbst im 14. Jahrhundert nur ansatzweise, am ehesten wohl in einigen der oberitalienischen Signorie. Selbstverständlich verdankt sich das Kunstwerk keinem ‚Gründungsakt‘ sondern es ist Ergebnis vielfältiger, nicht homogener Prozesse, die verschiedene, nicht homogenisierbare Ebenen betreffen: Schrift und Schriftlichkeit, Autorschaft und Professionalisierung, Geschichtlichkeit und historisches Gedächtnis, die Stellung der 6

Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. Mus. fol. I 28; wenig später wurde das Werk nochmals in Leipzig abgeschrieben. 7 Johann Tethinger beschreibt schon beim Einzug der Braut: „interim tubae clangunt, tympana crepitant, fistualae sonant argutissime, cantores indefesse vario concentu mulcent aures omnium“ (zit. n. Hoffmann-Erbrecht, Henricus Finck (wie Anm. 5), S. 43).

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Musik in einem sich bildenden System der Künste und noch einige andere. Das musikalische Kunstwerk ist die bedeutendste Veränderung im musikalischen Bewusstsein des Menschen nach der Entstehung der Musik und der Erfindung der Notation, also einer eigenen Schriftlichkeit nur für die Musik, und vor der Erfindung der technischen Reproduzierbarkeit von Musik.8 Blickt man aber in die früheste Schicht des hier beschriebenen Prozesses, also die Zeit um 1400, so zeichnet sich ein bemerkenswerter Umstand ab. Der erste Komponist, von dem ein wenigstens halbwegs, in Ansätzen konsistentes Œuvre nachgewiesen ist, ist Johannes Ciconia (gestorben 1412), der aus dem Norden stammte, aber die meiste Zeit seines Lebens in Padua gewirkt hat. Die Werke, die den entschiedensten Kunstcharakter tragen, also seine Messesätze, seine Motetten und manche seiner weltlichen Lieder, reagieren in neuartiger, zugespitzter Weise auf den Kontext, dem sie sich verdanken; sie sind anlassbezogen in einem emphatischen Sinne. Diese Werke sind also fester Bestandteil der rituellen Repräsentation und damit der symbolischen Kommunikation der Stadt Padua um und nach 1400, sie haben sich nach der Eroberung der Stadt durch Venedig nicht wesentlich verändert. Gerade dies hat aber nicht den Charakter des Ephemeren, der der Musik immer innewohnt, hervortreten lassen, sondern den Willen zur Dauerhaftigkeit in eigenen Aufzeichnungen, dazu unter Verzicht auf jene kontextuellen Elemente, die doch für die Entstehung des Werkes und dessen kompositorische Beschaffenheit unumgänglich waren und die für sein ‚Verständnis‘ maßgeblich, wenn nicht gar entscheidend sind. Alles an diesen Werken, Text, Textdarstellung, Klangorganisation und musikalische Konstruktion, deutet auf die anlassbezogene Einbettung in einen symbolischen Kommunikationszusammenhang hin, und sei dieser die unter bestimmten Voraussetzungen zelebrierte Messfeier. Noch deutlicher wird dies, eine Generation später, im Werk von Guillaume Dufay (ca. 1400–1474), dem ersten Komponisten, von dem es überhaupt ein wirklich ausdifferenziertes, konsistentes Œuvre gibt. In Dufays Schaffen artikuliert sich erstmals und systematisch ein neuzeitlicher Kompositionsbegriff, im Sinne von Problemstellung und Problemlösung. Die verschiedenen Lösungen eines Problems beanspruchen dabei keineswegs Kontingenz, im Gegenteil. Gerade aber die heterogene Fülle möglicher Lösungen im Sinne von Quintilians Antinomie scheint das entscheidende Interesse des Komponisten gewesen zu sein. In den bedeutendsten Segmenten dieses Schaffens, in allen seinen Motetten und fast allen seinen Messen, artikuliert sich auf emphatische Weise der 8

Vgl. dazu Laurenz Lütteken, Musik der Renaissance. Imagination und Wirklichkeit einer kulturellen Praxis, Stuttgart/Kassel 2011.

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Wille, die Musik einzubetten in einen gleichsam zugespitzten Kontext von symbolischer Kommunikation. Gerade dieses aber hat, obwohl es doch eigentlich naheliegend gewesen wäre, nicht zur Auslöschung der Musik im kollektiven Gedächtnis geführt, sondern zu ihrer nachdrücklichen Bewahrung, eben ganz jenseits des Kontextes, dem sie sich doch verdankt. Um 1460/70 scheint dieser Prozess seine Dynamik verloren zu haben, offenbar weil das Resultat erreicht war: die Ausdifferenzierung des musikalischen Kunstwerks und seine Bewahrung in eigenen, autorunabhängigen Schriftformen. Der Auslöser dieses Prozesses war aber, paradoxerweise, die immer unmittelbarere Einbeziehung des musikalischen Werkes in jene Akte symbolischer Kommunikation, die sich den sie umgebenden gesellschaftlichen Wertesystemen verdankt. Die spezifische Reaktion der Musik darauf, und diese Möglichkeit ist ein genuines Merkmal der sich formierenden Neuzeit, hat nicht deren Vergänglichkeit, sondern deren dauerhafte Bewahrung evoziert. Gerade die dadurch mögliche, in den im Referat diskutierten Beispielen auch angesprochene Selbstreferentialität ist daher nicht eine Voraussetzung, sondern ein wesentliches Ergebnis dieses Prozesses. Das, wenn man so sagen darf, Selbstbewusstsein des musikalischen Kunstwerks verdankt sich der komplizierten, beziehungsreichen Kontextualisierung in Akten symbolischer Kommunikation. Dieser Prozess hat übrigens auf andere, zuvor nicht schriftliche Musikformen wie die Instrumentalmusik ausgestrahlt. Auch sie wurde aus dem Vergessen des Ephemeren in die Dauerhaftigkeit der Schrift überführt, obwohl sie ursprünglich ganz anderen Denkformen unterlag und noch im 15.  Jahrhundert nur ausnahmsweise als schriftwürdig galt. Erst von dort an hat die konkrete Einpassung von Musik in Kontexte symbolischer Kommunikation tatsächlich ephemere, jedenfalls geringer geachtete Ergebnisse gezeitigt – im Gegensatz zu jener Musik, in der die Anlassbezogenheit zugunsten des darüber hinaus wirkenden Kunstanspruchs zurückgedrängt wurde. Auch dies ist ein typisch neuzeitlicher Prozess. Noch im 18. Jahrhundert lassen sich die Fernwirkungen erkennen, wenn etwa Johann Sebastian Bach bemüht war, kostbaren Teilen aus ephemeren Festmusiken durch die Übernahme in ein sakrales Werk gleichsam ein dauerhaftes Dasein zu verleihen oder wenn Georg Philipp Telemann bestrebt war, anlassbezogenen geistlichen Werken eine anschließende Existenz im Konzertsaal zu ermöglichen. Nur einmal noch ist der Gedanke einer Verknüpfung von Musik und symbolischer Kommunikation in engster Verbindung mit gesellschaftlichen Wertesystemen zentral geworden. Gemeint ist der Augenblick, in dem nicht mehr das musikalische Kunstwerk an einem Akt der symbolischen Kommunikation partizipiert, sondern mit ihm verschmilzt, ihn gleichsam aufsaugt und ersetzt. Gemeint ist also das hö-

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fische Festspiel, die Oper, die sowohl als dramma per musica wie als tragédie lyrique selbst zur Haupt- und Staatsaktion werden konnte und sollte – und in deren Vollzug sich wie nirgends sonst im artifiziellen Bereich, nicht einmal in der Architektur, gesellschaftliche Wirklichkeiten abzubilden vermochten.9 Dieser Sinnzusammenhang von Musik scheint dann um 1800 weitgehend zerbrochen zu sein. Die Autonomieästhetik, die an seine Stelle getreten ist, mag man daher auch als eine Art von Kompensation verstehen, als Reaktion auf eine sehr bewusst gewordene Verlusterfahrung: Kunstautonomie als gleichsam absolute, unhintergehbare Distinktion der Künste und insbesondere der Musik. Nur gelegentlich haben danach Erinnerungen an die Verknüpfung von Kunstwerk und ritueller Daseinsform eine bedeutende, neue Sinnzusammenhänge stiftende Stellung eingenommen. Richard Wagner hat in der ursprünglichen Idee seines revolutionären Festspiels davon geträumt, sein Werk auf einer improvisierten Bühne aufzuführen und diese danach, zusammen mit den Partituren, zu vernichten. Bernd Alois Zimmermann hat in seinem letzten Werk, der ‚ekklesiastischen Aktion‘ von 1970 – die den Zusammenhang ritueller, symbolischer Kommunikation gleichsam in den Titel trägt –, die Vollendung des Werkes geknüpft an die physische Existenz seines Schöpfers, diese also zwei Tage nach Vollendung der Partitur ausgelöscht im Freitod. So sehr sich also das musikalische Kunstwerk den Kontexten symbolischer Kommunikation verdankt, so sehr hat es sich von ihnen entfernt – oder diese schließlich, in der Oper, ersetzt. Möglichkeiten und Grenzen symbolischer Kommunikation von Musik liegen daher eng beieinander, und die im Vortrag beschriebene Wendung ins Innere der Musik selbst scheint eine der Möglichkeiten zu sein, dieser schwierigen Unwägbarkeit Herr zu werden. Es wäre also durchaus eine Perspektive, so scheint es mir, den damit verbundenen möglichen Einsichten genauer nachzuspüren – auch wenn dies eine eher periphere Frucht der münsterischen Forschungen sein mag.

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Und auch dieser Prozess wurde schon früh konterkariert, erst in Venedig, dann in Hamburg und in London: durch Operntheater, in denen das ständische Privileg der Teilhabe am Ereignis durch die materielle Leistung, den Kauf einer Eintrittskarte, ersetzt wurde, mit bedeutenden Auswirkungen auf die Formierung einer neuartigen musikalischen ‚Öffentlichkeit‘.

Joachim Poeschke

Kunstwerke als Medien symbolischer Kommunikation. Virtus im Herrscherporträt der Renaissance Die Fragen, die sich im Rahmen des Münsteraner Sonderforschungsbereichs „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ aus kunstgeschichtlicher Perspektive stellten, unterscheiden sich naturgemäß von denen der anderen beteiligten Projekte dadurch, dass nicht in erster Linie symbolische Handlungen und Rituale im Zentrum stehen, sondern das Hauptaugenmerk der sich in Bildwerken verschiedenster Art, in Gemälden ebenso wie in Skulpturen, vollziehenden symbolischen Kommunikation gilt. Von dieser wurde seit jeher sowohl in der Architektur als auch in den Bildkünsten auf vielerlei Weise Gebrauch gemacht. Selbst in solchen Epochen der Kunstgeschichte, in denen die mimetischen Qualitäten eines Kunstwerks hoch im Kurs standen – wie in der Antike und in der Renaissance –, begnügte man sich nicht mit der Bewunderung gelungener illusionistischer Wirklichkeitsnachahmung, sondern fragte ebenso nach dem im Bildwerk verborgenen lehrhaften Gehalt. So lässt ein Autor wie Philostrat, der in seinen „Eikones“ nicht müde wird, die täuschende Wirklichkeitsnähe in der bildlichen Wiedergabe von menschlichen Physiognomien, von Tieren, Pflanzen und Früchten zu rühmen, zugleich keinen Zweifel daran, dass sich darin der künstlerische Gehalt eines Bildes letztlich nicht erschöpfe, sondern dass es darüber hinaus auf den tieferen Sinn der Bildmotive und ihrer Gestaltung – auf deren σoφíα, wie Philostrat sagt – ankomme.1 Seit dem frühen 19. Jahrhundert hat sich das Verständnis von Symbolik in der kunsttheoretischen und kunsthistorischen Literatur allerdings erheblich gewandelt und eine Erweiterung insbesondere in dem Sinne erfahren, dass nicht mehr nur der seit jeher bewusst in Szene gesetzte Symbolgehalt, sondern auch das, was unbewusst oder versteckt an Erfahrungen, Empfindungen und Ideen, an sogenanntem Volksgeist oder Zeitgeist, an gesellschaftlichen Konventionen, Wertevorstellungen und Bildungshintergrund in ein Kunstwerk eingeflossen sein mag – um mit Panofsky zu sprechen, dessen „disguised

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Philostrat, Die Bilder, nach Vorarbeiten von Ernst Kalinka hg., übers. und erl. von Otto Schönberger, München 1968, S. 110.

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symbolism“2 – zum bevorzugten Gegenstand der Interpretation geworden ist. Diese Erweiterung des Symbolverständnisses, die in der Kunstgeschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts zu weiter Verbreitung gelangte, wurde begleitet und nicht unwesentlich gefördert durch entsprechende Entwicklungen und Tendenzen in der Kunst der Moderne, die ja bei aller Richtungsvielfalt einen gemeinsamen Nenner darin hat, dass inhaltliche Aussagen, sofern solche überhaupt angestrebt sind, so gut wie ausschließlich auf der Ebene des Symbolischen getroffen werden. Entsprechend groß ist der Spielraum für Interpretationen jedweder Art. Wie weit künstlerische Intention und Publikumsreaktion dabei auseinanderklaffen können, zeigt, als ein aktuelles Beispiel, das Denkmal für Papst Johannes Paul II., das erst vor kurzem in Rom vor der Stazione Termini enthüllt wurde (Farbabb. 5). Betitelt ist es „Conversazioni“ („Gespräche“); welchem Titel offensichtlich die angedeutete einladende Geste der linken Hand Rechnung tragen soll. Ins Auge springt jedoch nicht minder die Hohlheit der containerförmigen Bronzefigur, die als Kunstwerk beim römischen Publikum laut Umfrage auf neunzigprozentige Ablehnung stieß3 – der harmloseste Vergleich war noch der mit einem Bushäuschen – und die jedem Wilhelm-Busch-Leser unwillkürlich Bäckermeister Knickebieters Expertise zum ‚Nursymbolischen‘ ins Gedächtnis ruft.4 An dem beliebig herausgegriffenen Beispiel zeigt sich, dass nicht ohne Weiteres von heutigen Voraussetzungen ausgegangen werden kann, wenn man nach der Symbolik in Kunstwerken früherer Zeiten fragt, denn die vormoderne Kunst, insbesondere die der Renaissance, mit der sich das kunstgeschichtliche Projekt im Sonderforschungsbereich vornehmlich befasst hat, war nicht mit derselben Ausschließlichkeit wie die Moderne auf symbolische Botschaften fixiert. Daran hinderte sie nicht nur der von ihr befolgte Grundsatz ars imitatur naturam, sondern auch die Tatsache, dass sie an ein bestimmtes, durch die Jahrhunderte nur allmählich sich erweiterndes Repertoire von Aufgaben gebunden war. Diesen Aufgaben galt es gerecht zu werden, im Sinne der Angemessenheit, des decorum, auch wenn den Künstlern in der Erfüllung 2

3 4

Erwin Panofsky, Early Netherlandish Painting, Cambridge 1953, Bd. 1, S. 142; dazu die Rezension von Otto Pächt, in: The Burlington Magazine 98, 1956, S. 110–116 und S. 267–279, hier insbes. S. 275–279; ferner Lorenz Dittmann, Stil, Symbol, Struktur. Studien zu Kategorien der Kunstgeschichte, München 1967, S. 135–136; Michael Ann Holly, Panofsky and the Foundations of Art History, Ithaca/London 1984, S. 159–193. Aufregung um neue Papst-Statue in Rom: Vernichtende Kritik des „L’Osservatore Romano“, in: NZZ Online, 21.05.2011, , letzter Zugriff am 30.01.2012. Wilhelm Busch, Der Geburtstag oder Die Partikularisten. Schwank in 100 Bildern, Heidelberg 1873, Kap. 5 („Die Butterhenne“), S. 52: „Und, da das Ganze ein Symbol, / so kann’s nicht schaden, wenn es hohl.“

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ihrer Aufträge durchaus beträchtlicher Spielraum gelassen wurde und das schöpferische Potential, das sich im Kunstwerk äußerte oder zumindest äußern konnte, spätestens seit dem 16. Jahrhundert ein solches Ansehen genoss, dass nicht nur die Künstler davon profitierten, sondern auch deren Auftraggeber, für die der Besitz von bewunderten Kunstwerken und die Indienstnahme namhafter Künstler von nun an in steigendem Maße zu einer Prestigeangelegenheit wurde. Ein prominentes Beispiel dafür ist Karl V., der sich von 1533 an nur noch – wie einst Alexander der Große von Apelles – von Tizian, den er als seinen „Apelles“ betrachtete, malen lassen wollte. Zugleich wurde Tizian jedoch auch und kaum weniger von Papst Paul III. und dessen Familie, den Farnese, beansprucht, von anderen Großen der Zeit ganz zu schweigen. Angesichts der gebotenen Kürze möchte ich im Folgenden gar nicht erst den Versuch machen, auf die globale Frage nach Kunstwerken als Medien symbolischer Kommunikation eine globale Antwort zu geben, sondern einige Beispiele aus einem Teilbereich dieses großen Fragenkomplexes, nämlich dem der Porträtkunst, genauer dem des Herrscherporträts, herausgreifen, um an ihnen die in den Bildern genutzten Möglichkeiten und Modi symbolischer Inszenierung zu demonstrieren. Vom Porträt wurde bekanntlich in allen Jahrhunderten zuallererst eines verlangt: Ähnlich musste es sein. Darüber hinaus sollte es möglichst lebendig wirken und dem Status der dargestellten Person gerecht werden. So gesehen ist das Porträt die einzige der althergebrachten Bildgattungen, an deren Kriterien sich im Grunde bis heute nichts geändert hat. Als noch frischer Beleg dafür mag das Porträt von Altbundeskanzler Schröder, das vor fünf Jahren in das Bundeskanzleramt Einzug gehalten hat, gelten (Farbabb. 6). Fotografisch getreu sind die Gesichtszüge wiedergegeben. An alte Porträtfotos erinnert auch die ovale Umrahmung durch den gemalten Passepartout, die komplette Vergoldung des Konterfeis hingegen eher – mit Verlaub – an einen bekannten James-Bond-Film. Ungeachtet aller akribisch-realistischen Wiedergabe der Gesichtszüge erscheint der Porträtierte damit der Diesseitigkeit entrückt, gewissermaßen ins Idolhafte erhoben. Demgemäß urteilte der über die Übergabe des Bildes berichtende Reporter von Spiegel Online seinerzeit, dass Schröders Porträt „cäsarenhaft“ wirke,5 und ein Kommentator im Internet fühlte sich durch die massive Verwendung des Goldes gar an eine „byzantinische Kaise-

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Severin Weiland, Immendorffs Kanzler-Bild: Schröders goldene Ära bricht an, in: Spiegel Online Kultur, 18.01.2007, , letzter Zugriff am 29.01.2012.

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rikone“ erinnert6 – nicht ganz zu Unrecht, möchte man meinen, wenn sich dagegen nur nicht einwenden ließe, dass es byzantinische Kaiserikonen dieser Art nie gegeben hat. Aber um konkrete oder korrekte Bezüge solcher Art geht es letztlich nicht, sondern um vage Assoziationen, und mit solchen wartet das Kanzlerporträt reichlich auf, auch in seinem Beiwerk, das den im Ganzen vorherrschenden Eindruck des streng Hieratischen bewusst entschärft, indem es das Bildnis abschließend mit einer ironischen Note versieht, was unter anderem durch das ganz und gar ins Unhoheitliche mutierte Hoheitszeichen des Bundesadlers in der linken unteren Ecke, das zu einem gummibärchenartigen Weichgebilde geschrumpft ist, geschieht. Auf eine weitere Beschreibung kann hier verzichtet werden, denn aus dem Gesagten dürfte bereits zur Genüge deutlich geworden sein, dass ein postmodernes Porträt ebenso wenig wie ein prämodernes ohne Ähnlichkeit nicht auskommt, auch wenn es diese, um sich nicht dem Vorwurf der Unoriginalität auszusetzen, letztlich auf irgendeine Weise zu verfremden und zu konterkarieren genötigt ist. Von Haus aus rangierte in der Porträtkunst vor dem Sinnbildlichen das Abbildliche, vor der Symbolik die Wirklichkeitsnähe. So auch im Spätmittelalter, als das Porträt als eigene künstlerische Aufgabe erneut an Bedeutung gewann. Mit dem wachsenden Interesse an der individuellen Physiognomie nahm es gewissermaßen intime Züge an, diente auch keineswegs ausschließlich der öffentlichen Repräsentation, sondern ebenso dem halböffentlichen und privaten Gebrauch. Letzterem trugen nicht nur das anfänglich verhältnismäßig kleine Bildformat, sondern auch der enge, auf den Kopf des Porträtierten sich beschränkende Bildausschnitt Rechnung. Schon im 15. Jahrhundert wurde jedoch das Kopfbildnis vom Brustbildnis abgelöst, womit bereits eine gewisse Monumentalisierung des Porträts einsetzte. Gleichwohl galt das Interesse auch weiterhin vor allem der Physiognomie des Dargestellten. Eher eine Ausnahme war es jedoch, wenn mit der gesuchten Wirklichkeitsnähe zugleich eine solche Ausdrucksbetonung einherging wie in dem Porträt Herzog Sigismunds von Tirol in der Staatsgalerie Burghausen, das um 1480/96 datiert und einem Tiroler Meister zugeschrieben wird (Farbabb. 7).7 Insbesondere im Süden, in Italien, gab man dem repräsentativen Porträt vor dem expressiven entschieden den Vorzug. Ein darüber hinausgehender symbolischer Gehalt wurde ihm jedoch auch südlich der Alpen erst vom späten 15. Jahrhundert 6

Leserkommentar: Gold verdirbt den Charakter, 23.01.2007, zu Tillmann Spengler, „Das ist ja ein Ding“, in: ZEIT ONLINE vom 19.01.2007, < http://www.zeit.de/2007/04/SchroederImmendorff>, letzter Zugriff am 29.01.2012. 7 Vgl. Sabine Haag u. a. (Hgg.), Dürer – Cranach – Holbein. Die Entdeckung des Menschen: Das deutsche Porträt um 1500 (Ausst.kat. Wien/München 2011/2), München 2011, S. 63–64.

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an verliehen, wie sich vor allem an der Entwicklung des Herrscherbildnisses ablesen lässt. Ein sehr frühes und zunächst noch völlig vereinzelt dastehendes Beispiel ist das um 1476 zu datierende, ehemals Justus van Gent, heute hingegen überwiegend Pedro Berruguete zugeschriebene Ganzfigurenbildnis des Federico da Montefeltro (Farbabb. 8), das den Herzog von Urbino in voller Rüstung und zugleich im Herrscherornat unter Hinzufügung seiner sämtlichen Rangabzeichen zeigt, überraschenderweise jedoch nicht auf einer öffentlichen Bühne, wie der Ornat und die Insignien erwarten lassen könnten, sondern in der Enge und Abgeschiedenheit seines Studierzimmers und in ein Buch vertieft, begleitet von seinem Söhnchen und designierten Nachfolger Guidobaldo.8 Als in der Kriegskunst erfahren und als Liebhaber der Wissenschaft, als Fürst, der in seiner Person das Ideal der Einheit von arma und litterae, von vita activa und vita contemplativa verkörpert, wird er so vor Augen geführt. Als eine weitere Besonderheit kommt hinzu, dass er als ganze Figur im Bild erscheint. An die Stelle des bis dahin in der Porträtmalerei gängigen kleinen Formats und der fast ausschließlich fragmentarischen, sich auf den Kopf oder die Büste oder die halbe Figur beschränkenden Wiedergabe der abgebildeten Person tritt nun ein großes Format und das Ganzfigurenbild. Damit waren zugleich neue Ansprüche an die Darstellungsform gestellt. Denn die Wiedergabe des Porträtierten in ganzer Figur schloss anders als das Kopf- oder Brustbildnis die Körperhaltung und die Gestik mit ein, erfasste auch einen größeren Raumausschnitt als die nahsichtigen Porträts und erlaubte in größerem Umfang als diese die Einbeziehung von Attributen, durch die sich die Möglichkeit bot, über die physische Erscheinung des Dargestellten hinaus sein Amt und das, was die Zeitgenossen als die virtus einer Person rühmten, vor Augen zu führen. Ganz- und Halbfigurenbildnisse wurden daher im 16.  Jahrhundert zu 8

Zu dem Doppelbildnis, das seinen ursprünglichen Platz möglicherweise im Studiolo oder in der Bibliothek des Palazzo Ducale hatte, s. Giuliana Griffo Chesne Dauphiné, L’abito ceremoniale alla corte di Urbino, in: Maria Grazia Ciardi Duprè Dal Poggetto / Paolo Dal Poggetto (Hgg.), Urbino e le Marche prima e dopo Raffaello (Ausst.kat. Urbino 1983), Florenz 1983, S. 91–96; Charles M. Rosenberg, The Double Portrait of Federico and Guidobaldo da Montefeltro. Power, Wisdom and Dynasty, in: Giorgio Cerboni Baiardi / Giorgio Chittolini / Piero Floriani (Hgg.), Federico di Montefeltro. Lo stato, le arti, la cultura, Bd. 2: Le arti, Rom 1986, S. 213–222 (S. 218: „Hence, this unique portrait of father and son, through its several symbolic attributes, would have presented Federico as an exemplar of St. Thomas Aquinas’s perfect prince.“); Paolo Dal Poggetto (Hg.), Piero e Urbino. Piero e le corti rinascimentali (Ausst.kat. Urbino 1992), Venedig 1992, S. 177 f.; Jan Lauts / Irmlind Luise Herzner, Federico da Montefeltro, Herzog von Urbino. Kriegsherr, Friedensfürst und Förderer der Künste, München/Berlin 2001, S. 362–368; Paolo Dal Poggetto, La Galleria Nazionale delle Marche e le altre Collezioni nel Palazzo Ducale di Urbino, Roma 2003, S. 147 f.; Keith Christiansen / Stefan Weppelmann (Hgg.), Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst (Ausst.kat. Berlin/New York 2011/2), München 2011, S. 288–290.

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einem beliebten Format – vor allem für Porträts fürstlicher und königlicher Auftraggeber. Welche neuen Ansprüche darüber hinaus an diese gestellt werden konnten, gibt von den Zeitgenossen am deutlichsten der Mailänder Maler und Kunsttheoretiker Gian Paolo Lomazzo in seinem 1584 veröffentlichten „Trattato dell’arte della pittura, scoltura et architettura“, dessen 51. Kapitel vom Porträtieren nach der Natur handelt, zu verstehen. Bloße Ähnlichkeit im Porträt des Herrschers – und Lomazzo spricht ausschließlich über Herscherporträts – genüge nicht, heißt es dort. Unter Umständen sei es sogar ratsam, die Ähnlichkeit abzuschwächen, so etwa, wenn diese dem Porträtierten ein unvorteilhaftes Aussehen verleihe. In einem solchen Falle empfehle es sich, den „Schleier der Kunst“, wie Lomazzo sagt, darüber zu decken. Allemal mehr als die Ähnlichkeit zählten im Bildnis die „qualità“ des Porträtierten, seine geistigen und charakterlichen Vorzüge und sein sozialer Rang, seine „maestà“ (Majestät), „nobiltà“ (Adel) und „gravità“ (Würde). Diese vor allem seien im Bildnis hervorzuheben, was zum einen durch geeignete Attribute, zum anderen aber auch durch die Haltung und den Habitus des Porträtierten geschehen könne.9 Lomazzos Forderung, dass das Bildnis nicht nur äußerlich ähnlich, sondern ein „ritratto intellettuale“ zu sein habe, war nicht gänzlich neu, sondern lässt sich in der Geschichte der Bilderdiskurse weit zurückverfolgen, wurde sie doch bereits von Sokrates in den „Memorabilien“ des Xenophon erhoben. Vom „Wesen der Seele“ und den „Regungen der Seele“, die im Bildnis einer Person zu erfassen seien, ist dort die Rede.10 Allerdings übersah man im 15. und 16. Jahrhundert, wie schon zuvor in der Antike, keineswegs die medial bedingten Grenzen, die der Porträtmalerei in der Sichtbarmachung von charakterlichen und geistigen Eigenschaften einer Person gesetzt waren.11 Um dem Betrachter die virtus des im Porträt Dargestellten vor Augen zu führen, konnte 9 Gian Paolo Lomazzo, Scritti sulle arti, hg. von Roberto Paolo Ciardi, 2 Bde., Florenz 1973–1974, Bd. 2, 1974, S. 374–382; s. hierzu auch Hannah Baader, Giovan Paolo Lomazzo. Das Porträt als Zeichensystem (1584), in: dies. / Rudolf Preimesberger / Nicola Suthor (Hgg.), Das Porträt (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren 2), Berlin 1999, S. 307–315. 10 Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, hg. von Peter Jaerisch, München ²1977, 3, 10, 1–8, S. 212–216; Rudolf Preimesberger, Xenophon. Seelenmalerei bei Sokrates (um 430/25– nach 358/57 v. Chr.), in: Baader / ders. / Suthor (Hgg.), Porträt (wie Anm. 9), S. 80–90, hier insbes. S. 81–82. 11 S. das Martial-Epigramm auf Ghirlandaios Porträt der Giovanna degli Albizzi Tornabuoni, in dem gesagt wird, dass die Tugenden der im Bildnis wiedergegebenen Person nicht darstellbar gewesen seien; ferner das Epigramm auf dem Kupferstich mit dem Bildnis Melanchthons von Dürer (1526), demzufolge die physische Erscheinung des Porträtierten lebendig wiedergegeben werden könne, nicht aber seine Geistseele (mens).

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auf äußere Attribute letztlich nicht verzichtet werden. Dies gesteht, zumindest indirekt, auch Lomazzo ein, wenn er als unerlässlich für die Erstellung eines „ritratto intellettuale“ die „segni“, die Abzeichen im Sinne von Insignien und Statussymbolen, erwähnt. Nicht ganz den zeitgenössischen Usancen konform waren allerdings die Kriterien, denen er die Auswahl der Attribute unterwarf. So gehörte es in seinen Augen zu den „grandissimi errori“, wenn der Kaiser in Porträts mit einem Barett auf dem Kopf wiedergegeben sei, da eine solche Kopfbedeckung eher zu einem Kaufmann passe.12 Gleichwohl war, und zwar schon lange bevor Lomazzo solche Bedenken äußerte, das Barett in Herrscherporträts des 16. Jahrhunderts fast zur Regel geworden, die Krone dagegen zur Ausnahme. So erscheint Karl V. in den meisten seiner Porträts mit einem Barett auf dem Kopf, in manchen jedoch auch barhäuptig oder mit einem Helm als Kopfbedeckung, selten hingegen mit einer Krone auf dem Haupt, wie es der mittelalterlichen Tradition entsprochen hätte.13 Im Mittelalter gehörten Insignien wie die Krone ebenso wie die Frontalansicht des thronenden Herrschers zwangsläufig zum Bild der maiestas und das Bild des Herrschers wurde in erster Linie als ein solches, nicht hingegen als ein Bild seiner Person, als welches es uns im 16. Jahrhundert entgegentritt, verstanden. Doch ungeachtet dieses grundlegenden Wandels im Porträtverständnis galt es auch fortan, im Herrscherporträt der Herrscherwürde möglichst adäquaten Ausdruck zu verleihen. Hierfür die geeigneten Bildmittel zu finden, stellte die Porträtkunst im 16. Jahrhundert nicht nur vor neue Aufgaben, sondern führte auch zu sehr unterschiedlichen Resultaten, wie nicht zuletzt die von Karl V. überlieferten Bildnisse zeigen. Da deren Anzahl insgesamt sehr groß

12 Lomazzo, Scritti (wie Anm. 9), S. 377: „In questa parte di distribuire gl’abiti, o per ignoranza, o per poca avvertenza, si veggono grandissimi errori; come, per essempio, gl’imperatori con le berrette in testa che gli fa rassembrar piú tosto mercatanti che imperatori, cosa che tanto piú disdice e spare, quanto che all’aria loro imperiale par che si confacciano solamente le armi. E però il Carlo quinto di Tiziano e quell’altro di bronzo di Leone Aretino, i ritratti di marmo di Lorenzo e di Giuliano di Medici, duci di Fiorenza, posti nella sacristia loro insieme con altre figure di mano del Buonarotto, si veggono armati col bastone in mano e con gl’abiti tanto accommodati all’antica, che di piú eccellente per nobiltà et artificio non si può vedere.“ 13 Zu den Ausnahmen gehört das Bildnis auf der silbernen Medaille, die der Rat der Stadt Nürnberg 1521 zu Ehren Karls hat anfertigen lassen; vgl. Haag u. a. (Hgg.), Dürer (wie Anm. 7), S. 227, Kat.-Nr. 142. Mit einer Krone auf dem Haupt ist Karl V. auch auf Bologneser Gold- und Silbermünzen des Jahres 1530 wiedergegeben; vgl. Walter Cupperi, La riscoperta delle monete antiche come codice celebrativo. L’iconografia italiana dell’imperatore Carlo V d’Asburgo nelle medaglie di Alfonso Lombardi, Giovanni Bernardi, Giovanni da Cavino, „TP“, Leone e Pompeo Leoni (1530–1558), con una nota su altre medaglie cesaree di Jacques Jonghelinck e Joachim Deschler, in: Saggi e memorie di storia dell’arte 26, 2002, S. 31–85, hier S. 39 f., Abb. 17.

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ist, beschränke ich mich im Folgenden darauf, einige besonders signifikante Beispiele herauszugreifen.14 Noch ganz der niederländisch-burgundischen Tradition verhaftet sind die frühesten Bildnisse wie dasjenige im Kunsthistorischen Museum in Wien (Farbabb. 9),15 das den ungefähr 15-jährigen Karl im Reliefharnisch und mit erhobenem Schwert zeigt, geschmückt mit der Kette des Ordens vom Goldenen Vlies, die auf keinem der Porträts Karls V. fehlt. Der Bildtyp war ein damals gängiger. In Rüstung und mit aufgepflanztem Schwert präsentiert sich Karl auch in dem ersten Porträt, das Tizian von ihm gemalt hat, dessen Original jedoch verloren und nur durch eine Kopie von Rubens überliefert ist (Farbabb. 10). Nach Wethey entstand das Gemälde möglicherweise bereits 1530, das heißt in eben dem Jahr, in dem Karl in Bologna von Papst Clemens VII. zum Kaiser gekrönt wurde.16 Hierauf wird in dem Bildnis jedoch keinerlei Bezug genommen, ganz im Unterschied zu einem anderen Gemälde (Farbabb. 11), das vermutlich im selben Jahr, jedoch anders als das Tizian-Porträt nicht im kaiserlichen Auftrag entstanden ist. Der Maler, der sich damit dem Kaiser empfehlen wollte, Parmigianino, schuf es aus freien Stücken, wie Vasari berichtet.17 Die üblichen kaiserlichen Insignien fehlen zwar auch hier, doch ist die Huldigung, die dem Porträtierten als universalem Herrscher dargebracht wird, unmissverständlich. Karl, mit einer Rüstung und einem prunkvollen, perlenverzierten Mantel bekleidet, hat die linke Hand auf die Parierstange seines Schwertes gelegt, die rechte dagegen, die energisch zur Faust geschlossen ist und einen Kommandostab umgreift, auf eine Weltkugel, die ihm von einem Knaben, der einem kleinen Herkules gleicht, wie Vasari sagt, dargeboten 14 Leider fehlt bis heute „eine umfassende, moderne Ikonographie“ Karls V., wie Alfred Kohler, Karl V. 1500–1558. Eine Biographie, München ³2001, S. 22, zutreffend feststellt. 15 Petra Kruse (Red.), Kaiser Karl V. (1500–1558). Macht und Ohnmacht Europas (Ausst.kat. Bonn/Wien 2000), Mailand 2000, S. 131, Kat.-Nr. 36; Álvaro Soler del Campo (Hg.), El arte del poder. La Real Armería y el retrato de corte (Ausst.kat. Madrid 2010), Madrid u. a. 2010, S. 130 f., Kat.-Nr. 11. 16 Harold E. Wethey, The Paintings of Titian, Bd. 2: The Portraits, London 1971, S. 191–193, Abb. 48; vgl. ferner Miguel Falomir, Carlos V, Tiziano y el retrato en armadura, in: del Campo (Hg.), El arte del poder (wie Anm. 15), S. 41–53, hier S. 45. 17 Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti pittori scultori ed architettori, hg. von Gaetano Milanesi, Bd. 5, Florenz 1906, S. 229; zu dem Gemälde, das 172,7 x 119,4 cm misst und über dessen Zuschreibung an Parmigianino keine völlige Einmütigkeit besteht, s. Ferdinando Bologna, Il „Carlo V“ del Parmigianino, in: Paragone 7, 1956, S. 13–16 (erstmalige Zuschreibung an Parmigianino); Cecil Gould, Parmigianino, Mailand 1994, S. 118 und 189; Kruse (Red.), Kaiser Karl V. (wie Anm. 15), S. 161, Kat.-Nr. 79; Maria Cristina Chiusa, Parmigianino, Mailand 2001, S. 95, 96 und 214; Mary Vaccaro, Parmigianino. I dipinti, Turin 2002, S. 213; Sylvia Ferino Pagden / Lucia Fornari Schianchi (Hgg.), Parmigianino und der europäische Manierismus (Ausst.kat. Wien/Parma 2003), Mailand/Wien 2003, S. 260 f.; David Ekserdijian, Parmigianino, London/New Haven, S. 142–144.

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Abb. 7a: Giovanni Bernardi da Castel Bolognese zugeschrieben, Medaille auf Karl  V. als Sieger vor Tunis, 1535.

Abb. 7b: Augustalis Friedrichs II.

wird. Der Blick geht in die Ferne. Von hinten schwebt Fama heran, die auf die Weltkugel herabblickt und dem Herrscher mit der Rechten einen Ölzweig reicht, während sie mit der Linken einen Palmzweig über seinem Haupt hält, wodurch er als Triumphator ausgezeichnet wird, wohingegen der Ölzweig ihn zugleich als Friedensbringer kenntlich macht. Als Rubens das Gemälde von Parmigianino kopierte,18 nahm er einige bedeutsame Änderungen vor: anstelle der Fama zeigt er im Hintergrund die Kaiserkrone, und die auf die Weltkugel gelegte Faust umschließt keinen Kommandostab, sondern ein Kreuz (Farbabb. 12). 18 Das Rubens zugeschriebene Bild befindet sich in der Residenzgalerie Salzburg.

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Erst mit Parmigianinos Gemälde begann, was man die Iconographia imperialis Karls V. nennen könnte. Sie geht über die bis dahin übliche Beschränkung der Attribute auf die kaiserlichen Insignien erheblich hinaus, indem sie sich einerseits verstärkt allegorischer Begleitfiguren bedient und andererseits auf antike Vorbilder, auf antike Münzbilder insbesondere, zurückgreift. In der Ikonographie der für Karl als Sieger von Tunis in Messina, Neapel, Rom und Florenz errichteten Triumphbögen und Festdekorationen, die uns zum Teil durch Vasari überliefert ist,19 wird dies ebenso greifbar wie auf den nach 1530 entstandenen Münzen und Medaillen (Abb. 7a und 7b), in denen der Kaiser nicht selten und wie zuvor nur Karl der Große und Friedrich II. wie ein römischer Imperator im Profilbild und mit Lorbeerkranz dargestellt ist. Nicht minder anspielungsreich und symbolträchtig ist die Ikonographie der von Leone Leoni im Auftrag des Kaisers geschaffenen Bronzebildwerke. Die Büsten werden von einem Adler und einer männlichen und einer weiblichen Figur, die vermutlich Mars und Minerva darstellen, gestützt (Farbabb. 13),20 und die bald nach der Schlacht von Mühlberg geschaffene, überaus kunstvoll gearbeitete Bronzestatue im Prado zeigt Karl über den Furor triumphierend (Abb. 8 und 9),21 in einer Rüstung, die abnehmbar ist, so dass der Kaiser auch in nack-

19 Vasari, Le vite (wie Anm. 17), Bd. 5, S. 464 f. sowie Bd. 6, S. 67–69 und S. 571–574 (Festdekorationen in Rom und Florenz; auch die Dekorationen zum Einzug in Messina, die Polidoro da Caravaggio entworfen hat, werden von Vasari geschildert; s. hierzu Kohler, Karl V. (wie Anm. 14), S. 245 f.). 20 Michael P. Mezzatesta, Imperial Themes in the Sculpture of Leone Leoni, Diss. New York 1980, S. 70–107; Jesús Urrea Fernández (Hg.), Los Leoni (1509–1608). Escultores del Renacimiento italiano al servicio de la corte de España (Ausst.kat. Madrid 1994), Madrid 1994, S. 110–112; Kruse (Red.), Kaiser Karl V. (wie Anm. 15), S. 321–323, Kat.-Nr. 356 und 357. 21 Vgl. Eugène Plon, Leone Leoni et Pompeo Leoni, Paris 1887, S. 281–284; Herbert Keutner, Über die Entstehung und die Formen des Standbildes im Cinquecento, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 7, 1956, S. 138–168, hier S. 151–155; Donat de Chapeaurouge, Aktporträts des 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Berliner Museen 11, 1969, S. 161–177, hier S. 166–168; Mezzatesta, Imperial Themes (wie Anm. 20), S. 1–69; Joachim Poeschke, Die Skulptur der Renaissance in Italien, Bd. 2: Michelangelo und seine Zeit, München 1992, S. 226 f.; Urrea (Hg.), Los Leoni (wie Anm. 20), S. 102–109. Der Auftrag erging 1449. 1551 gelangte die Statue des Kaisers zur Ausführung, 1553 die Figur des Furor. Die anfänglich offenbar nicht vorgesehene Hinzufügung des Furor sollte nach eigenem Bekunden des Künstlers der Kontrastwirkung dienen und des Kaisers Herrschertugenden sinnfälliger in Erscheinung treten lassen. Gegenüber dem Minister Karls V., Antonio Perrenot de Granvela, Bischof von Arras, äußerte er sich dazu wie folgt: „Dico adunque che mi toccò un capriccio di volere ampliare la statua di Sua M.tà ala quale non gli volendo por sotto ne una provincia ne una altra vitoria, per la modestia grande di Sua M.tà, mi deliberai volerli dar tutte queste lodi senza niuna adulatione, et volendo aludere ala modestia, a i costumi, ala religione, ala pietà, li feci sotto di se conculcata la statua del Furore, la quale statua, secondo che quela del Imperadore si dimostra benigna e grave, et in aspetto magnanimo, quela, furibonda et ranichiata, con una facia orida, fremendo et minaciando, che quasi mete paura a chi la mira.“ (Plon, Leone Leoni (wie oben in dieser Anm.), S. 362, Kat.-Nr. 21).

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ter Gestalt gesehen werden kann.22 Letzteres war ein Einfall („capriccio“) des Künstlers und gänzlich ohne Vergleich in der Skulptur der Zeit, auch wenn es im 16. Jahrhundert die an antike Vorbilder sich anlehnende Heroisierung siegreicher Heerführer und Fürsten durch das Attribut partieller Nacktheit durchaus gegeben hat, wie unter anderem ein von Bronzino gemaltes Bildnis des kaiserlichen Admirals Andrea Doria, das sich heute in der Mailänder Brera befindet (Farbabb. 14), zeigt.23 Lomazzo, der mit Leoni befreundet war, gab für die nackte Darstellung von Herrschern die etwas befremdlich anmutende Erklärung, dass der Kaiser frei sein und sich dem Volke – genauer „den Völkern“ – offen zeigen müsse.24 Bei welcher Gelegenheit die Statue des Kaisers ohne Rüstung präsentiert wurde und vor welchem Publikum dies geschah, ist unbekannt. Zu diesem Punkt geben die Quellen keinerlei Auskunft, weshalb wir nicht einmal sicher sein können, dass überhaupt jemals von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde. Sollte dies jedoch der Fall gewesen sein, dann wohl kaum in der Weise, wie man es nach Lomazzo erwarten könnte, dass nämlich das Bild des nackten Kaisers den Blicken des Volkes dargeboten wurde. Man hat vermutet, dass die um 1530 noch ungewöhnliche symbolträchtige Ikonographie des von Parmigianino geschaffenen Porträts Karls V. (Farbabb. 11) einem Literaten, der dem Maler beratend zur Seite gestanden habe, zu verdanken sei und dass es sich bei diesem Berater um keinen Geringeren als Pietro Aretino gehandelt habe.25 Aretino empfahl sich den Künstlern gern als Berater, so auch Tizian, mit dem er befreundet war. Als Tizian 1547 von Karl V. nach Augsburg bestellt und unter anderem mit der Ausführung eines Reiterbildes des Kaisers (Farbabb. 15 und 16) beauftragt wurde, gab Aretino dem Maler brieflich den Rat, den Kaiser begleitet von den Allegorien der Religion und der Fama darzustellen.26 Erstere sollte ein Kreuz und einen Kelch in 22 Von diesem neuen Einfall („il mio nuovo capriccio“), für den der Künstler die Genehmigung des Kaisers erbeten wissen wollte, ist in den Briefen Leonis erstmals 1551 die Rede (Plon, Leone Leoni (wie Anm. 21), S. 367, Kat.-Nr. 33). 23 S. hierzu Chapeaurouge, Aktporträts (wie Anm. 21); Nikolaus Himmelmann, Ideale Nacktheit, Opladen 1985, hier insbes. S. 110. 24 Lomazzo, Scritti (wie Anm. 9), S. 376: „Talvolta anco si facevano ignudi, per accennare che l’imperatore deve esser libero e mostrare apertamente quello che è a popoli, e cosí che debbe essere riverito per la bontà sua e temuto per la giustizia che ministra.“ 25 Kruse (Red.), Kaiser Karl V. (wie Anm. 15), S. 161. 26 „[…] a la cui imagine, che voi rassemplate, e in su lo istesso cavallo e con le medesime armi che aveva il dì che vinse la giornata in Sansogna, vorrei vedere a lo incontro fermarsi in piedi e moversi (secondo che si move o ferma il destriere ch’egli cavalca) la Religione e la Fama; l’una con la croce e il calice in mano, che gli mostrassi il cielo; e l’altra con le ali e le trombe, che gli offerisse il mondo. Conciosia che per acquisto di quello e di questo il deificato monarca combatte e travaglia non pure il verno, come la state, ma il dì al pari de la notte; tolerando la guerra de le malvage indisposizioni che lo affliggono con una maniera di costanzia, che più non se ne scorge in un corpo senza detri-

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Abb. 8: Leone Leoni, Karl V. triumphiert über den Furor, H. 199 cm, 1549– 1553, Madrid, Prado.

den Händen halten und auf den Himmel hinweisen, letztere mit einer Fanfare und Flügeln versehen sein und dem Kaiser die Erdkugel offerieren. Einige der von Aretino empfohlenen Motive erinnern auffällig an das Gemälde Parmigianinos. Tizian folgte dem Rat des Freundes jedoch nicht, sondern verzichtete, wie sein berühmtes Gemälde im Prado zeigt, auf das allegorische Beiwerk und die damit verbundene unverhüllt propagandistische Inszenierung, um sich vor allem auf die Person, genauer noch auf die Persönlichkeit Karls V., die im Bildganzen von bestimmender Wirkung ist, zu konzentrieren. mento e disturbo. Onde il tempo e la morte se ne ramaricano e dolgono: avvenga che solo la providenzia di tale annulla con la laude la età fugace di colui, e ispegne con la gloria il fine inessorabile di costei. E ciò ritrae dal suo sembiante chi bene il considera nei ritratti di quel Tiziano, riserbato da Dio al suo secolo a ciò che il mondo si compiaccia in così fatti essempi, in virtù de lo stil vostro indubitatamente divino. Peroché non saria lecito che mortal mano dipingesse lo immortalissimo duce.“ (Pietro Aretino, Lettere sull’arte, hg. von Ettore Camesasca, Bd. 2, Mailand 1957, S. 212 f.). Der Brief Aretinos datiert vom April 1548.

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Leider liegt die Entstehungsgeschichte des Reiterbildes, des ersten Herrscherbildnisses dieser Art, das eine große Nachfolge finden sollte, völlig im Dunkeln. Wir wissen nicht, wie es zu dem Bildgedanken kam und wem er zu verdanken ist. Unbekannt ist auch, für welchen Ort das Bild ursprünglich bestimmt war.27 Des Kaisers Triumph in Mühlberg zu verewigen, wäre nach den Maßstäben der Zeit am ehesten ein öffentlich aufgestelltes Reiterstandbild die angemessene Form gewesen, von der Art, wie es nach dem Entwurf Beccafumis 1536 auf dem Domplatz von Siena als ephemeres Monument in cartapesta errichtet Abb. 9: Leone Leoni, Karl V. triumphiert über den worden war, mit drei die Furor, H. 199 cm, 1549–1553, Madrid, Prado. unterworfenen Provinzen repräsentierenden Figuren am Sockel und dem Kaiser in antikisierender Rüstung im Sattel.28 Auch ein bronzenes Reiterbild dieser Art war zeitweilig geplant,29 gelangte jedoch nicht zur Ausführung. 27 Bezeugt ist lediglich, dass es sich 1556 im Besitz von Karls Schwester, Maria von Ungarn, in Brüssel befand. Zu dem Reiterbildnis s. Wolfgang Braunfels, Tizians Augsburger Kaiserbildnisse, in: ders. (Hg.), Kunstgeschichtliche Studien für Hans Kauffmann. Hans Kauffmann zum 60. Geburtstag am 30. März 1956 überreicht von Freunden und Schülern, Berlin 1956, S. 192– 207; Herbert von Einem, Karl V. und Tizian, Köln/Opladen 1960; Wethey, The Paintings (wie Anm. 16), S. 87–90, Kat.-Nr. 21; Paloma Nogués (Hg.), La restauración de el emperador Carlos V a caballo en Mühlberg de Tiziano (Ausst.kat. Madrid 2001), Madrid 2001; Del Campo (Hg.), El arte del poder (wie Anm. 15), S. 140 f. 28 Vasari, Le vite (wie Anm. 17), Bd. 5, S. 644 f. 29 Plon, Leone Leoni (wie Anm. 21), S. 37 f. und S. 355; Poeschke, Die Skulptur (wie Anm. 21), S. 225. Ein plastisches Reiterdenkmal für Karl V. sollte unter den Päpsten Clemens VII. und Ju-

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Verglichen mit solchen von Motiven der Triumphalikonographie begleiteten Reiterstandbildern ist das gemalte Reiterbild von bemerkenswert zurückhaltender Inszenierung. Karl V. reitet einem sich verfinsternden Himmel, der nur in der Tiefe, über dem Horizont, von der untergehenden Sonne noch aufgehellt ist, entgegen, zielbewusst, mit einer Lanze in der Hand und einer Pistole am Sattel, jedoch ohne Schwert und ohne Kommandostab, welche die sonst üblichen Attribute in Reiterbildern sind. Man hat vermutet, dass die Lanze als eine Anspielung auf die Heilige Lanze, eines der Heiligtümer des Reiches seit Otto dem Großen, zu verstehen sei und dass sie, wie auf Dürers Kupferstich „Ritter, Tod und Teufel“, den Reiter als miles Christianus kennzeichne.30 Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie als kaiserliches Attribut Darstellungen der Profectio Augusti auf römischen Münzen (Abb. 10) entnommen wurde.31 Durch Avila ist zudem überliefert, dass Karl in Mühlberg kein Schwert, keinen Streitkolben und keinen Kommandostab, sondern tatsächlich eine Lanze beziehungsweise einen Speer, der kürzer gewesen sein muss als die im Bild gezeigte Lanze, getragen hat.32 Das würde, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grade, zu der Tatsache passen, dass in Tizians Gemälde nachweislich die Rüstung, die Karl in Mühlberg getragen und die sich bis heute in der königlichen Armería in Madrid erhalten hat,33 authentisch wiedergegeben ist. Solche Sachtreue in der Wiedergabe der Rüstung eines porträtierten Heerführers war damals nicht ungewöhnlich und dürfte – wie im Falle des ebenfalls von Tizian gemalten Porträts des Francesco Maria I. della Rovere in den Uffizien34 – dem ausdrücklichen Wunsch des Auftraggebers entsprochen haben.

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lius III. auch in Rom errichtet werden, doch gelangte es über das Entwurfsstadium nicht hinaus. An dem unter Julius III. von Guglielmo della Porta geplanten Denkmal waren als Schmuck u. a. die Provinzen Italien, Deutschland, Sizilien und Afrika sowie Gefangene und Trophäen vorgesehen, vgl. Werner Gramberg, Die Düsseldorfer Skizzenbücher des Guglielmo della Porta, Bd. 1, Berlin 1964, S. 8–83 und S. 118–120. Einem, Karl V. (wie Anm. 27), S. 18–19. Mit einer Lanze in der Hand ist Karl V. auch in der Bronzestatue von Leone Leoni dargestellt (Abb. 13 und 14). Ebenso ist eine Lanze als Attribut Ferrante Gonzaga in dem ebenfalls von Leone Leoni errichteten Standbild in Guastalla beigegeben (Keutner, Entstehung (wie Anm. 21), S. 155–157; Mezzatesta, Imperial Themes (wie Anm. 20), S. 243–266, hier insbes. S. 264; Poeschke, Die Skulptur (wie Anm. 21), S. 228 f.). Erwin Panofsky, Problems in Titian Mostly Iconographic, London 1969, S. 86. Luis de Avila y Zuñiga, Commentario de la guerra de Alemaña, hecha de Carlo V, en el an. 1546 y 1547, Antwerpen 1549, fol. 63v, wo von „una media asta, casi venablo“, die der Kaiser in der Hand gehalten habe, die Rede ist. Braunfels, Kaiserbildnisse (wie Anm. 27), S. 194 f.; Del Campo (Hg.), El arte del poder (wie Anm. 15), S. 138 f. Wethey, The Paintings (wie Anm. 16), S. 135–136; aus einem Brief des Auftraggebers vom 17. Juli 1536 geht hervor, dass dieser dem Maler für die Anfertigung des Porträts seine Rüstung leihweise überließ. Vgl. hierzu ferner Joachim Poeschke, Historizität und Symbolik im Figurenprogramm der Medici-Kapelle, in: ders. / Britta Kusch-Arnhold / Thomas Weigel (Hgg.), Praemium Virtutis II. Grabmäler und Begräbniszeremoniell in der italienischen Hoch-

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Abb. 10: Goldmedaillon mit Kaiser Constantius I., dem Londinium huldigt, um 296/299 n. Chr.

Hingegen fehlt auffälligerweise jeder konkrete Hinweis auf den Schauplatz der kriegerischen Auseinandersetzung und auf diese selbst.35 Der Reiter ist allein auf weiter Flur. Gleichwohl sind Pferd und Reiter nicht in denkmalhafter Pose, sondern in Aktion gezeigt, vorwärts drängend, einem Ziel entgegenstrebend, ohne dass wir dieses Ziel jedoch zu sehen bekämen. Möglicherweise war dieser ungewöhnliche Bildgedanke von Karls V. persönlicher Devise inspiriert, jener Devise, die der Humanist Marliano für den gerade volljährig gewordenen Erzherzog Karl von Burgund erfand und die „Plus oultre“ beziehungsweise „Plus ultra“, auf Deutsch „Noch weiter“, lautete. Als Emblem gehörten zu ihr die Säulen des Herkules,36 wie sie auf dem kolorierten Holzschnitt von Cornelisz Anthonisz zusammen mit dem Wappen dem Reiterbild Karls beigegeben sind und Spätrenaissance (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 9), Münster 2005, S. 145–170. 35 Einem, Karl V. (wie Anm. 27), S. 14 f. Einem vermutet, dass der Auftrag zu dem Reiterbild im Prado von dem geplanten Reiterdenkmal, das für Kaiser Maximilian in Augsburg bei St. Ulrich und Afra errichtet werden sollte, aber nicht zur Ausführung gelangte, angeregt worden sei. Bei diesem hätte es sich jedoch um ein plastisches und das Pferd mitsamt Reiter in streng statuarischer Pose präsentierendes Reitermonument gehandelt. Del Campo (Hg.), El arte del poder (wie Anm. 15), S. 140, sieht in der politischen Rücksichtnahme auf die eigenen Untertanen den Grund dafür, dass auf jegliche Andeutung des Kampfgeschehens und auf begleitende Allegorien in dem Gemälde Tizians verzichtet wurde, was jedoch als alleinige Erklärung des Sachverhaltes schwerlich ausreichen dürfte. 36 Vgl. Kohler, Karl V. (wie Anm. 14), S. 76–78.

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(Farbabb. 17).37 Auf dem Gemälde fehlt verständlicherweise das Säulenemblem, da es hier einen Fremdkörper gebildet hätte, so dass ein innerer Zusammenhang der Darstellung mit der Devise des Dargestellten bloße Vermutung bleiben muss. Tatsache ist hingegen, dass Tizian zusammen mit der zielgerichteten Bewegung des Reiters zugleich den Ausdruck von Entschiedenheit und Unbeirrtheit in dessen Haltung, Physiognomie und Mimik betont hat. Hier war bewusste Bildregie mit im Spiel. Gegen die Annahme, dass der Maler sich lediglich am lebenden Modell orientiert habe, spricht allein schon die Tatsache, dass den sonstigen gemalten Porträts Karls V. der energische Zug, der hier der Figur in ihrer ganzen Haltung und bis in die Gesichtszüge hinein gegeben ist, gänzlich fehlt. Nicht zuletzt die feste Zielgerichtetheit des Blickes und die Straffung der Mund- und Kinnpartie, die allen wirklichkeitsnäheren Bildnissen Karls aus bekannten Gründen abgeht, tragen zu diesem Eindruck bei. Es wird dem Reiterbild auch schwerlich gerecht, in psychologisierender Annäherung einen tragischen Zug darin erkennen zu wollen.38 Vielmehr ist es ein besonders anschauliches Beispiel für das gelungene Herrscherporträt im Sinne Lomazzos, das ein „ritratto intellettuale“ sein und im Habitus des Porträtierten dessen „maestà“, „nobiltà“ und „gravità“ zur Geltung bringen müsse, und dies nötigenfalls auf Kosten der Ähnlichkeit. Deutlich wird am Reiterbild aber auch, dass in dem Maße, in dem Tizian die zeichenhaften und attributiven Elemente in seinem Gemälde zurücknimmt, den gestalthaften dagegen ein solches Gewicht verleiht, um der virtus des Porträtierten im Bild zu sichtbarem Ausdruck zu verhelfen, die Bildsprache und das, was an Symbolik in ihr enthalten ist, eine subtilere Form annehmen. Damit waren zugleich an den Betrachter eines solchen Bildes neue Ansprüche gestellt, war über die nur gegenständliche Wahrnehmung hinaus ein kunstverstehendes Sehen gefordert, das der Zeit jedoch, wie der lebhafte Bilderdiskurs im 16. Jahrhundert zu erkennen gibt, keineswegs fremd war. Bezeichnend für Tizian ist, dass er auch in seinen anderen Bildnissen Karls V. von allegorischem Beiwerk und vordergründiger Symbolik so gut wie keinen Gebrauch gemacht hat, allenfalls von Insignien, doch auch von diesen nur sehr zurückhaltend. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist das weitgehend von Gehilfenhand vollendete Münchner Porträt (Farbabb. 18),39 über dessen 37 Kruse (Red.), Kaiser Karl V. (wie Anm. 15), S. 310, Kat.-Nr. 340. 38 So Einem, Karl. V. (wie Anm. 27), S. 19 f., der „das dunkel Tragische dieses Siegerbildnisses“ hervorhebt. 39 Braunfels, Kaiserbildnisse (wie Anm. 27), S. 196 f.; Einem, Karl. V. (wie Anm. 27), S. 20 f.; Wethey, The Paintings (wie Anm. 16), S. 36 f. und S. 90 f., Kat.-Nr. 22.

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Abb. 11: Tizian, Karl V., Detail, 1548, München, Alte Pinakothek.

ursprünglichen Bestimmungsort wir ebenfalls nichts Genaues wissen. Wie Paul III. in dem gleichfalls von Tizian geschaffenem Porträt in Neapel (Farbabb. 19)40 ist Karl V. in einem Lehnstuhl sitzend, jedoch nicht wie dort in Nahsicht gezeigt. Vielmehr ist der Ausschnitt so gewählt, dass die Figur des Porträtierten in voller Größe erscheint. Gewollte Distanz entsteht so zwischen dem Dargestellten und dem Betrachter, die umso mehr ins Auge springt, als sich der Dargestellte ansonsten denkbar unprätentiös präsentiert, ohne Prunk und bar jeder herrscherlichen Attitüde, eher wie ein Privatmann,41 in schwarzer Tracht, von der nur der weiße Kragen und das Goldene Vlies abstechen. Ein vornehmes Interieur ist durch den mit rotem Samt bezogenen Armstuhl, durch den Brokatstoff der Wandbespannung und durch die auf hohem Sockel sich erhebende Säule angedeutet. Was aber am meisten den Blick auf sich zieht, sind nicht diese Requisiten, ist auch nicht die äußere Aufmachung des Porträtierten, sondern das Gesicht (Abb. 11), das eine besondere Anziehungs40 Wethey, The Paintings (wie Anm. 16), S. 122–124, Kat.-Nr. 72. 41 Einem, Karl. V. (wie Anm. 27), S. 21: „Daß diese Intimität sich dennoch mit soviel Hoheit verbindet, macht das künstlerische Geheimnis des Bildes aus.“; vgl. hierzu auch die treffenden Bemerkungen zur Haltung des Dargestellten bei Panofsky, Problems (wie Anm. 31), S. 84.

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kraft durch den Blick gewinnt, der den Betrachter aus beträchtlicher Entfernung ruhig und wirkungsvoll fixiert und dadurch umgekehrt den Blick des Betrachters vor allem auf die Person und den Charakter des Dargestellten und nicht auf dessen Amt und Attribute lenkt. Auch hier entstand ein veritables „ritratto intellettuale“ im Sinne Lomazzos, was aber noch keineswegs bedeutet, dass man, wie vorgeschlagen,42 das Münchner Porträt als ein Sinnbild der vita contemplativa, zu dem das Reiterbild in Madrid gleichsam ein die vita activa repräsentierende Gegenstück darstelle, zu verstehen hat. Alles nur symbolisch? Diese über unserem Abschlusskolloquium stehende Frage lässt sich, so meine ich, vor Werken der Kunst weder mit einem klaren Ja noch mit einem klaren Nein beantworten. Denn Bildwerke jedweder Art, auch sogenannte realistische, sind immer der Realität enthoben und enthalten immer einen symbolischen Mehrwert, der allerdings mal eindeutiger, vordergründiger und demonstrativer, bisweilen auch plakativ und propagandistisch zur Geltung gebracht wird, mal hintergründiger und diskreter und damit zugleich weniger eindeutig zum Tragen kommt, was dann für die propagandistische Wirkung zweifellos eher von Nachteil ist. Dazwischen gibt es vielerlei Abstufungen, und diesen gerecht zu werden, ist die Aufgabe des Interpreten, so wie er auch die Grenzen der Interpretation ausloten muss. So etwas wie ein Generalschlüssel steht ihm dabei nicht zur Verfügung. Immer ist vom Einzelfall auszugehen, darüber hinaus werden, was kaum der Hervorhebung bedarf, immer der Entstehungs- und Verwendungskontext der Bilder zu berücksichtigen sein, des Weiteren die jeweilige Bildgattung, die Funktion, der Bestimmungsort und der Adressat, und nicht zuletzt der verantwortliche Künstler, der, wie hier am Beispiel von Parmigianino, Leoni und Tizian gesehen, auf sehr unterschiedliche Weise den Erfordernissen der Bildsymbolik Rechnung tragen konnte.

42 Cornelia Mangold, Wahrnehmung – Bild – Gedächtnis. Studien zur Rezeption der aristotelischen Gedächtnistheorie in den kulturtheoretischen Schriften des Giovanni Paolo Lomazzo (Studien zur Kunstgeschichte 158), Hildesheim 2004, S. 166.

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Kunstwerke als Dekor und Medien symbolischer Handlungen Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Funktion von Kunstwerken als Dekor und Medien symbolischer Handlungen. Ich knüpfe zu Beginn an den Beitrag meines Kollegen Joachim Poeschke mit einer ergänzenden Anmerkung an, nämlich dass es sich bei den von ihm erörterten Porträts Karls V. um Objekte handelt, die wir heute in Museen selbstverständlich als Kunstwerke wahrnehmen, die aber ursprünglich in der Regel nicht als solche freigesetzt, sondern in Formen eines rituellen Bildgebrauchs, also symbolischen Handelns, eingebunden waren.1 Bekanntlich konnten solche Porträts des Herrschers ihn zum Beispiel bei der Vereidigung von Untertanen oder der Anbahnung von Eheschließungen in effigie repräsentieren und aufgrund dieser Stellvertreterfunktion wurden ihnen auch im Alltag Ehrerbietungen wie das Ziehen des Hutes, die Verbeugung und der Kniefall zuteil. Das von Juan Bautista Maino 1635 für den Salón de Reinos im Madrider Palacio del Buen Retiro ausgeführte Gemälde mit der Darstellung der 1625 erfolgten Wiedereinnahme der brasilianischen Hafenstadt Bahia zeigt einen solchen rituellen Bildgebrauch (Farbabb. 20). Hier unterwerfen sich rechts im Mittelgrund die besiegten holländischen Soldaten einem gewirkten Porträt König Philipps IV., während links im Vordergrund ein spanisches Paar einen verwundeten Holländer pflegt und daneben eine Mutter mit ihren Kindern als Caritas-Motiv fungiert. Als integrierte Spiegelung (mise en abyme) soll dieses Arrangement den zentralen Gehalt des Gemäldes und der Unterwerfungsszene verdeutlichen, nämlich die Milde und Nachsicht, mit der der Souverän die Unterlegenen behandelt wissen wollte: In Lope de Vegas Dichtung „El Brasilio restituido“ aus dem Jahr 1625, die Maino als literarische Grundlage diente, gibt das Porträt des Königs – der Text spricht von einem „retrado de su magestad“ – dem Kommandanten Don Fadrique de Toledo durch ein Nicken des Hauptes zu verstehen, dass er Gnade vor Recht ergehen lassen soll.2 1 Vgl. Joachim Poeschke, Kunstwerke als Medien symbolischer Kommunikation. Virtus im Herrscherporträt der Renaissance, in diesem Band S. 285–302. 2 Zu diesem ‚Schlüsselbild‘ des umfangreichen Bildprogramms des Salón de Reinos s. Jonathan Brown / John H. Elliot, A Palace for a King. The Buen Retiro and the Court of Philipp IV, New Haven/London 1980, S. 141 ff.; Ulrich Pfisterer, Malerei als Herrschaftsmetapher. Velázquez und das Bildprogramm des Salón de Reinos, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 29, 2002, S. 199–251, hier S. 220–226; Petra Gördüren, Art. „Bildnis, stellvertre-

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Peter Paul Rubens’ Gemälde aus dem Medici-Zyklus, das Heinrich  IV. zeigt, wie er das Porträt seiner zukünftigen Gemahlin empfängt (Farbabb. 21),3 ist eine prominente Darstellung der schon im Mittelalter üblichen Praxis, fürstliche Hochzeiten durch den Austausch von Porträts anzubahnen,4 die dann üblicherweise im Schlafzimmer der Umworbenen aufgehangen wurden. Wenn bei diesen Gebrauchsweisen, wie auch bei der Verwendung von effigies bei Begräbnissen und im Strafvollzug, nicht selten bildmagische Vorstellungen eine Rolle gespielt haben, so folgte der höfische Porträtgebrauch doch grundsätzlich rationalen Prinzipien. In Hinblick auf diese waren die ästhetischen Qualitäten solcher Bildnisse häufig von eher nachrangiger Bedeutung, wie auch ihre zuweilen komplexe Inhaltlichkeit mit oft symbolischen Gehalten – im Reiterporträt symbolisiert bekanntlich die am Pferd demonstrierte Naturbeherrschung die Eignung des Reiters, ein Volk zu regieren, und das gepflegte, wohlgenährte Tier bezeugt die Fürsorglichkeit seines Herrn. Großes Gewicht hatten in erster Linie die Frage, ob es sich um ein Originalbildnis, eine eigenhändige Replik des Hofmalers oder eine Kopie der Werkstatt oder von fremder Hand handelt,5 und der jeweilige Rang eines solchen Bildnisses innerhalb der Hierarchie verschiedener Porträttypen und -formate. Nach ihnen bemaß sich, an welchen Orten das Bildnis präsentiert werden und auch wem der oder die Porträtierte es als

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tendes“, in: Uwe Fleckner / Martin Warnke / Hendrik Ziegler (Hgg.), Handbuch der politischen Ikonographie, Bd. 1, München 2011, S. 152–161, hier S. 152 f. Begleitet von Francia, betrachtet der einen Prunkharnisch tragende Heinrich IV. unter den Augen von Jupiter und Juno, die im Himmel auf einer Wolkenbank thronen, das Porträt, welches ihm Hymenaios und ein geflügelter Putto präsentieren. Gemäß der uralten ikonographischen Tradition von Venus-und-Mars- und Alexander-und-Roxane-Darstellungen tragen zwei Putti Schild und Helm des Königs davon. Das Motiv verdeutlicht die kultivierende Macht der Liebe, die darauf hoffen lässt, dass der Heirat des Königs eine lange Zeit des Friedens folgen wird. S. Ronald Forsyth Millen / Robert Erich Wolf, Heroic Deeds and Mystic Figures. A New Reading of Rubens’ Life of Maria de’ Medici, Princeton 1989, S. 49–52. Bekannt ist das Beispiel Jan van Eycks, der 1429 mit der zur Brautwerbung entsandten burgundischen Gesandtschaft nach Portugal reiste, um ein „gutes, lebendiges Bild“ der Infantin Isabella zu malen. Anhand von Textquellen kann Reinle erhärten, dass diese Praxis bereits im Mittelalter verbreitet war. Adolf Reinle, Das stellvertretende Bildnis. Plastiken und Gemälde von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, München/Zürich 1984, S. 150. S. auch Martin Warnke, Art. „Herrscherbild“, in: Fleckner / Warnke / Ziegler (Hgg.), Handbuch der politischen Ikonographie, 1 (wie Anm. 1), S. 481–490, hier S. 484. Das maßgebliche Kriterium war dabei die Selbstdreingabe der Porträtierten durch das Modellstehen oder -sitzen. S. Jörg Jochen Berns, „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“. Magie und Realistik höfischer Porträtkunst in der Frühen Neuzeit, in: Jutta Held (Hg.), Kultur zwischen Bürgertum und Volk, Berlin 1983, S. 44–65, hier S. 60, der den Fall der preußischen Königin Sophie Dorothea von Preußen anführt, die sich 1728 weigerte, einem bürgerlichen Minister ein Originalbildnis zu überlassen.

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Geschenk verehren konnte.6 Angeführt wurde diese Hierarchie vom Ganzfigurenporträt mit seiner höchsten Form, dem Reiterporträt; es folgten das Kniestück, das Halbfigurenporträt und das Brustbild. Weitere Abstufungen erfolgten durch die Formate.7 So konnte selbst das repräsentative Reiterporträt, das, wie etwa Tizians 3,32 x 2,79 Meter messendes Gemälde Karls V. im Prado, die Porträtierten in der Regel in Lebensgröße zeigt, auch im Miniaturformat ausgeführt werden. Ein bekanntes Beispiel ist das „Bildnis Franz’ I. zu Pferde“ von François Clouet in den Uffizien (Farbabb. 22). Die kleine Holztafel hat mit nur 27 x 22  cm ein Format, das, wie ihre delikate Darstellung zeigt, auf eine Intimisierung, ja tendenziell sogar eine Verniedlichung dieses hochherrschaftlichen Bildtypus hinausläuft. Als besonders qualitätsvolle, eigenhändige Arbeit des Hofmalers, der 1540 seinem Vater und Lehrer Jean im Amt eines „painctre et varlet de chambre“ Franz’ I. folgte,8 wird dieses Ölgemälde, bei dem es sich um eine modifizierte, nämlich mit einem leonardesken Landschaftshintergrund versehene Kopie einer Gouache seines Vaters (Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques) handelt,9 dennoch besondere Wertschätzung erfahren haben. Es ist anzunehmen, dass es als Teil der Aussteuer der Christina von Lothringen 1589 nach Florenz kam, als diese Nichte und Erbin von Katharina de’ Medici, der Frau Heinrichs II. von Frankreich, den Großherzog 6

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Zu diesen Angemessenheitskriterien s. Berns, „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“ (wie Anm. 5); Reinle, Das stellvertretende Bildnis (wie Anm. 4); Hubert Winkler, Bildnis und Gebrauch. Zum Umgang mit dem fürstlichen Bildnis in der frühen Neuzeit. Vermählungen – Gesandtschaftswesen – Spanischer Erbfolgekrieg, Wien 1993; Friedrich Polleross, Des abwesenden Prinzen Porträt. Zeremonielldarstellung im Bildnis und Bildnisgebrauch im Zeremoniell, in: Jörg Jochen Berns / Thomas Rahn (Hgg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 1995, S. 382–409. Zum diplomatischen Gebrauch von Kunstwerken, insbesondere von Porträts, s. die jüngst publizierte, groß angelegte Studie: Friedrich Polleross, Die Kunst der Diplomatie. Auf den Spuren des kaiserlichen Botschafters Leopold Joseph Graf von Lamberg (1653–1706), Petersberg 2010. Zu Porträtgeschenken schreibt Götz-Mohr: „Je nachdem aber, vor wem repräsentiert werden soll, danach richtet sich die besondere Form des Repräsentationsporträts, das kleine oder große Bildformat, die Darstellung in Ganz- oder Halbfigur, als Hüft- oder Brustbild, sowie der Aufwand der Ausstattung, die Attribute, das Beiwerk. ‚Die verschiedenen Beziehungen – Verwandtschaft, Ebenbürtigkeit, politische Gefolgschaft, Untertanenschaft etc. – drücken sich in den jeweils anderen Typen und Formen aus‘.“ (Brita von Götz-Mohr, Porträtmalerei, in: Darmstadt in der Zeit des Barock und Rokoko (Ausst.kat. Darmstadt 1980), Darmstadt 1980, S. 14). Zit. n. Eckhart Knab, Art. „Clouet“, Abs. (2) „François Clouet“, in: Jane Turner (Hg.), The Dictionary of Art. Reprint with Minor Corrections, Bd. 7, New York 1998 (Erstausg. London 1996), S. 464. Zu dem Ölgemälde in den Uffizien und der ihm zugrundeliegenden Gouache im Louvre s. Cécile Scailliérez, François Ier par Clouet (Les dossiers du musée du Louvre), Paris 1996, S. 102–107; Ase Ødegård / Staale Sinding-Larsen, Royal Piaffe. The Two Clouet Portraits of Francis I on Horseback and Ruler Portraiture, in: Roy Eriksen / Magne Malmanger (Hgg.), Basilike eikon. Renaissance Representations of the Prince (Collana di studi sul Rinacimento 4), Rom 2001, S. 50–72.

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Ferdinando I. heiratete.10 Da die Miniatur besondere Anforderungen an den Porträtisten stellt, kam es vielfach zu einer Diskrepanz zwischen dem außerordentlichen Kunstwert solcher Pretiosen und ihrem bescheidenen, nicht repräsentativen Format. Dieses Problem wurde oft durch eine wertvolle Rahmung gelöst.11 Bei runden oder ovalen Miniaturporträts, die an einer Kette getragen werden konnten, erfolgten Abstufungen durch unterschiedliche Fassungen, wobei die besten Stücke mit Perlen oder Edelsteinen versehen wurden, wie etwa Hans Holbeins „Bildnis eines unbekannten jungen Mannes“, das einen Durchmesser von nur 38 Millimeter hat und eine goldene Fassung mit drei Perlen besitzt (Farbabb. 23).12 Wenngleich die Miniaturmalerei, die sich um 1520 aus der Buchmalerei entwickelte, sich umgehend großer Beliebtheit erfreute und an den europäischen Höfen Verbreitung fand, immer wieder solche exzeptionellen Werke hervorgebracht hat, diente sie letztlich doch überwiegend als kleine, vergleichsweise billige Variante am unteren Rand der Bildnishierarchie. So wurde etwa im spanischen Gesandtenzeremoniell des 18. Jahrhunderts zwischen drei Kategorien solcher Porträtgeschenke unterschieden, deren teuerste von 75.000 bis 90.000, die billigsten hingegen nur 15.000 bis 20.000 Reales kosten durften.13 Wenn wir also bei den Porträts von Standespersonen eine enorme Vielfalt unterschiedlicher inhaltlicher Akzentuierungen, bildsprachlicher Ausdrucksformen und stilistischer Haltungen feststellen können, so unterlag ihr Gebrauch im Rahmen des höfischen Zeremoniells doch Prinzipien, die diese Vielfalt auf eine Skala unterschiedlicher repräsentativer Niveaus reduzierte, nach denen sich, wie gesagt, die Formen ihrer jeweils angemessenen Verwendung richteten. *** 10 Mina Gregori, Uffizien und Palazzo Pitti. Die Gemäldesammlungen von Florenz, München 1994, S. 314, Nr. 423. 11 Zu den Miniaturporträts s. Angelika Dülberg, Privatporträts. Geschichte und Ikonologie einer Gattung im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1990, die diese allerdings mit dem problematischen Begriff des „Privatporträts“ bezeichnet. 12 Zu diesem Werk s. den Katalogbeitrag von Quentin Buvelot, in: Hans Holbein der Jüngere 1497/98–1543. Porträtist der Renaissance (Ausst.kat Zwolle/Den Haag 2003), Stuttgart 2003, Kat.-Nr. 35, S. 138. Dass Holbeins Miniaturporträts nicht den Mitgliedern des königlichen Hofes vorbehalten waren, zeigt das mit drei Diamanten versehene Bildnis der Jane Small, geborener Pemberton, im Victoria & Albert Museum in London, das, wenn diese rezente Identifikation zutrifft, die Frau des wohlhabenden Londoner Tuchhändlers Nicholas Small zeigt. S. Katherine Coombs, The Portrait Miniature in England, London 1998, S. 22 f. 13 Maria del Carmen Espinosa Martin, El retrato de los regalos diplomaticos en el siglo xviii, in: El arte en las cortes europeas del siglo xviii, Madrid 1989, S. 263–268; Polleross, Des abwesenden Prinzen Porträt (wie Anm. 6), S. 398.

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In Hinblick auf den Beitrag, den die bildenden Künste in der Frühneuzeit zu den sozial und politisch relevanten Formen symbolischer Kommunikation geleistet haben, sollen im Folgenden ihre Funktionen im Rahmen des Zeremoniells näher beleuchtet werden, des in dieser Epoche neben der kirchlichen Liturgie wichtigsten Bereichs symbolischer Kommunikation – auch wenn der Blick auf diese Praktiken gemessen an traditionellen Narrativen der Kunstgeschichte ernüchternd ausfällt. Das Zeremoniell diente bekanntlich in erster Linie der repraesentatio maiestatis und regelte das höfische Leben, den Umgang mit regionalen und kommunalen Institutionen und den diplomatischen Verkehr mit anderen Souveränen. Kunstwerke hatten in ihm die Funktion, als kostbare Luxusgegenstände die Magnifizenz des Herrschers und die sich über Rangunterschiede definierende Ordnung der höfischen Gesellschaft sinnfällig zu machen. In den Schlössern signalisierte entsprechend die Kostbarkeit der Ausstattung der Räume den Rang ihrer Bewohner und die repräsentative Bedeutung gemeinschaftlich genutzter Bereiche.14 Hoch beanspruchte Bedeutungsträger waren dabei Tapisserien, die neben der Palastarchitektur als wichtigste Zeichen der herrscherlichen Magnifizenz galten.15 In entsprechenden Ausführungen in der Zeremonialliteratur, Panegyriken und verwandten Textsorten werden diese textilen Kunstwerke, die in der Regel Wappen oder Prunkinitialen ihrer fürstlichen Besitzer aufwiesen, bis ins 18. Jahrhundert stets vor den Möbeln und den Gemälden aufgeführt, während sie in der frühneuzeitlichen Kunstliteratur nur eine marginale Rolle spielten. So führt zum Beispiel Baldassare Castiglione eingangs seines „Libro del Cortigiano“ aus, dass Federigo da Montefeltro seinen bewundernswürdigen Palast in Urbino nicht nur mit unerlässlichen Ausstattungsstücken wie dem Tafelsilber und golddurchwirkten Tapisserien, „apparamenti di camere di ricchissimi drappi d’oro, di seta“, sondern auch mit antiken Statuen, einzigartigen Gemälden und Musikinstrumenten versah.16 In dieser Reihenfolge wurden fortan immer wieder die primären Zeichen fürstlicher Magnifizenz aufgeführt. So betonte zum Beispiel Boyer des 14 Diese Ausstattungsprinzipien, die in der Architekturtheorie des Barock ausführlich thematisiert wurden, erörtert La Barre Starensier am Beispiel der Nutzung byzantinischer Seidenwebereien; Adele La Barre Starensier, An Art Historical Study of the Byzantine Silk Industry, Phil. Diss. Colombia University, Ann Arbor 1982. So wie Forti Grazzini am Gebrauch von Tapisserien am Hof der Este, hat Hofer sie am Stuckdekor des 18. Jahrhunderts nachgewiesen. S. Nello Forti Grazzini, L’arazzo ferrarese, Mailand 1982; Sigrid Hofer, Studien zur Stuckausstattung im frühen 18. Jahrhundert. Modi und ihre Funktionen in der Herrschaftsarchitektur am Beispiel Ottobeuren, München/Berlin 1987. 15 Zum Folgenden ausführlich Wolfgang Brassat, Tapisserien und Politik. Funktionen, Kontexte und Rezeption eines repräsentativen Mediums, Berlin 1992. 16 Baldassare Castiglione, Il libro del Cortegiano (I, 2), Mailand 1803, S. 4.

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Roches 1666 in seinem „Panégyrique de Louis XIV. Roy Tres-Chrestien“ die „Magnificence des bâtiments, Tapisseries, peinture“17 und 1711 listete Franz Caspar Freiherr von Schmid in seinem „Mundus Christiano-Bavaro-Politicus“ auf: „… bracht zaigen das Wundervolle gepäu, des churfürstl: Pallast oder Residenz, die Goltreiche Tappezerey, künsstliche Mallereyen, ganz goldene Servis […] die Cöstlichiste Cleinodien des Haus, und andere Hochschätzbare Mobilien, sambt einer grossen Menge in Silber, unnd anderen Rariteten“.18 Entsprechend hat auch Giorgio Vasari, als er in seiner Vita des Rosso Fiorentino betonte, dieser habe als Hofmaler des französischen Königs Franz’ I. „weniger den Lebensstil eines Malers als den eines Fürsten“ geführt, zum Beweis dessen Haus angeführt, „das mit Tapisserien, Silberwaren und [...] wertvollem Mobiliar ausgestattet war“.19 Als mobiler Festdekor und als portable Grandeur begleiteten Tapisserien ihre adligen Besitzer in ihrem gesamten Dasein. Diese führten ihre Bildteppiche auf Reisen und Kriegszügen mit sich und solche schmückten oft auch ihre Pferde (in Form gewirkter Schabracken), Sänften, Kutschen und Staatsschiffe. So waren zum Beispiel am 7. Juni 1520, als Franz I. von Frankreich und Heinrich VIII. von England im camp du drap d’or bei Ardres zusammentrafen, wie unter anderen Brantôme berichtet, die Zelte und Gebäude mit zahllosen prachtvollen Bildteppichen geschmückt.20 Bei wichtigen Zeremonien und Staatsakten, zum Beispiel bei Festmahlen, Fürstenhochzeiten und Krönungen, waren Tapisserien ein obligatorischer Dekor und bei herrscherlichen Entrées säumten sie oft zu Hunderten den Weg des Einzugs. Zu solchen Anlässen entliehen die ausrichtenden Städte häufig Tapisserien von Höfen und Händlern und beschäftigten zahlreiche Maler, um mit bemalten Tüchern (toiles peintes, painted clothes, arazzi finti) einen erschwinglichen Ersatz für Bildteppiche präsentieren zu können.21

17 Zit. n. Fabian Stein, Charles Le Brun. La tenture de l’Histoire du Roy, Worms 1985, S. 100. 18 Franz Caspar Freiherr von Schmid, Mundus Christiano-Bavaro-Politicus …, 1711, Ms., Bayerische Staatsbibliothek München, hier zit. n. Brigitte Volk-Knüttel, Wandteppiche für den Münchener Hof nach Entwürfen von Peter Candid, München/Berlin 1976, S. 96. Erst im 18. Jahrhundert wurde dann zuweilen von einem Vorrang der Gemälde gesprochen: „Die Mahlereyen haben gemeiniglich bey Hofe eine eigene Gallerie [...]. Alle Fürsten vergnügen sich nunmehro mit diesen kostbaren Haußrathe / wie dann gantze Gemächer von unten biß oben jetziger Zeit mit Bildern ausgezieret / welches an Kostbarkeit / auch die vortrefflichsten Tapeten übertrifft.“ (Franciscus Philippus Florinus, Oeconomus prvdens et legalis continvatvs. Oder grosser Herren Stands und Adelicher Haus-Vatter, Bd. 1, Nürnberg/Frankfurt a. M./Leipzig 1719, S. 129). 19 Giorgio Vasari, Das Leben des Rosso Fiorentino, hg. von Sabine Feser, Berlin 2004, S. 34 f. 20 Vgl. Brassat, Tapisserien und Politik (wie Anm. 15), S. 47. 21 Vgl. ebd., S. 50 f.

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Abb. 12: Anonymus, Krönung Ludwigs XV. am 22. Oktober 1722, Kupferstich, Paris, BnF.

Die Bedeutung von Tapisserien als eines nahezu obligatorischen Dekors von Festmahlen bezeugt zum Beispiel die Januar-Darstellung der „Très riches heures“ (Chantilly, Musée Condé), in der die Gebrüder Limburg ein Festmahl des Herzogs Jean I. de Berry in einem vollständig mit Bildteppichen mit Darstellungen einer Reiterschlacht behangenen Saal vergegenwärtigten. Diese Ausstattungskonventionen reflektieren auch die von Giulio Romano und der Raffael-Werkstatt 1520–1524 geschaffenen Fresken der als Speisesaal genutzten Sala di Costantino im Vatikanspalast (Farbabb. 24), die Wandteppiche vortäuschen, wobei für diesen Raum noch zusätzlich für besondere Anlässe eine ab 1521 in Brüssel nach Vorlagen Raffaels hergestellte, reich mit Goldfäden durchwirkte Folge der „Giuochi di Putti“ existierte.22 Besondere Bedeutung kam dem Wandteppichschmuck auch bei Gerichtssitzungen zu, wie bereits Jean Fouquets Darstellung des „Lit de Justice von Vendôme“, eine Buchillumination aus dem „Münchener Boccaccio“ (München, Staatsbibliothek), zeigt. Sie vergegenwärtigt die Gerichtssitzung Ludwigs XI. von Frankreich, bei der 1458 der Duc d’Alençon wegen Hochverrats zum Tode verurteilt wurde. Hans Burgkmairs Holzschnitt mit der Darstellung der „Gerichtssitzung des Weißkunigs“ und noch Abraham Girardets Kupfer22 Vgl. ebd., S. 37.

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stich mit der Darstellung des „Lit de Justice von Versailles“ am 6. August 1787 bezeugen eine viele Jahrhunderte währende Kontinuität dieser Ausstattungspraktiken.23 Besonders eindrucksvoll zeigen sich diese Ausstattungspraktiken in Zusammenhang mit den Krönungen der französischen Könige in Reims, bei denen der Hof die Bischofs- und Krönungskirche gewissermaßen in Beschlag nahm, sie nämlich bis zur Triforiumszone mit den Tapisserien der Krone auskleiden ließ. In einem Kupferstich mit der Darstellung der „Krönung Ludwigs  XV.“ (Abb. 12) am 22. Oktober 1722 folgt die Anordnung der Bildteppiche dem Gedanken der Querelle, da im Langhaus Stücke nach italienischen Vorlagen, insbesondere nach Entwürfen Raffaels, hängen, während den Chor von Charles Le Brun entworfene Stücke aus dem Alexanderzyklus und der „Histoire du Roy“ schmücken. Hier sollte der Vorrang der zeitgenössischen französischen Kunst vor der Tradition der italienischen Renaissance veranschaulicht werden, den die französische Kunsttheorie seit Ludwig XIV. nicht müde wurde zu betonen.24 Vielfach vermitteln also auch solche mobilen Ausstattungen komplexe Inhalte. Doch grundsätzlich galt, dass der Tapisseriedekor bei vielen Anlässen obligatorisch, die bloße Präsenz des Mediums also bereits Botschaft war, ungeachtet seiner Themen. Selbiges lässt sich übrigens auch bei der sehr häufigen Verwendung von Tapisserien als kostbare Geschenke an Untergebene und im diplomatischen Verkehr sagen, dass auch hier in der Regel vor allem heraldische Zeichen und der materielle Wert zählten – ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal waren dabei Edelmetallfäden, deren Verwendung den Preis einer Folge erheblich steigerte. Die Inhalte spielten zumeist nur in Hinblick auf die Gattungshierachie eine Rolle, wobei eine Skala von gewirkten Historien bis zu Laubwerk-Teppichen bestand, also solchen mit einfacher floraler Motivik. Erst im 18. Jahrhundert nahm man energisch Anstoß daran, wenn an Festtagen in der Kirche Tapeten mit „Schlachten von Alexander und Caesar“ hingen, wie dies ein Kupferstich mit einer polemischen Darstellung einer Himmelfahrtsliturgie aus F. A. Obermayrs alias Joseph Richters „Bildergalerie katholischer Mißbräuche“ (Frankfurt/Leipzig 1784) vor Augen führt,25 oder 23 S. ebd., S. 66–70 mit Abbildungen der genannten Werke. 24 So hat Charles Perrault, der spätere Autor der „Parallèle des Anciens et des Modernes“, 1668 sein Gedicht „La peinture“ veröffentlicht, eine Eloge auf Ludwig XIV. und dessen ersten Maler Charles Le Brun, in dem er erklärte, die von diesem entworfenen Tapisserien der „Histoire du Roy“ zeigten, dass nach der Antike und der italienischen Renaissance nun in Frankreich ein dritter kultureller Höhepunkt erreicht sei, dessen Zeugnisse alle ältere Kunst in den Schatten stellten (Charles Perrault, La Peinture, hg. und kommentiert von Jean-Luc Gautier-Gentès, Genf 1992). 25 Abb. in Brassat, Tapisserien und Politik (wie Anm. 15), S. 77.

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wenn, wie Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ empört beanstandete, die zukünftige französische Königin Marie Antoinette auf dem Weg nach Paris auf einer Rheininsel bei Straßburg in einem eigens für diesen Zweck errichteten Gebäude empfangen wurde, in dem die Goethe interessierenden Raffael-Teppiche in einem Nebensaal, im Hauptsaal aber die größten, golddurchwirkten Stücke hingen, deren Darstellungen ausgerechnet die Geschichte von Jason und Medea repräsentierten, also, wie Goethe schrieb, „ein Beispiel der unglücklichsten Heirat.“26 Das Zeremoniell war ein Sinn beanspruchender und stiftender, aber auch ein Sinn unterdrückender Kontext. So wie es vom Standpunkt der Liturgie unerheblich ist, wer das Altarbild gemalt hat, war auch im Rahmen zeremonieller Akte kein Raum für den Kunstgenuss gegeben. In Darstellungen solcher Staatsakte blickt denn auch nie jemand auf die präsentierten Artefakte. Und in den Quellen erfährt man zuweilen, dass die Lizenz, sich der Kunstbetrachtung zu widmen, dann nach den Zeremonien erteilt wurde, so zum Beispiel 1530 bei einem Besuch Karls V. in Reggio, wo der Kaiser, wie der Chronist Andrea Alessandro berichtet, den Wunsch äußerte, sich nach dem Festessen im Licht der Fackeln die im Palast der Este präsentierten Tapisserien genauestens anzuschauen („... vinto dalla vaghezza lore volle dopo la cena verderli tutti minutamente a lume di torchi“).27 Es gab natürlich im System der höfischen Repräsentation auch Kunstwerke, deren Urheber mit differenzierten bildsprachlichen Mitteln komplexe Inhalte vermittelt haben. Man denke nur an Rubens’ Medici-Zyklus. Und ebenso gab es fruchtbare Situationen visueller Kommunikation, wie zum Beispiel die feierlichen Entrées, bei denen die Städte durch ephemere Bildprogramme dem Herrscher ihre Erwartungen und Hoffnungen vortragen konnten. Man denke an Rubens’ Gemälde für die „Pompa Introitus Ferdinandi“.28 Doch überwiegend mussten sich Kunstwerke im Rahmen des Zeremoniells mit dem Status stummer Zeichen herrscherlicher Größe begnügen. Dies soll anhand von drei Tapisserien der „Histoire du Roy“ veranschaulicht werden, einer von Charles Le Brun entworfenen Bildteppichfolge mit den Taten Ludwigs XIV. Dieser Zyklus, dessen erste Edition ab 1665 in den Gobelins ausgeführt wurde, als der König noch keine 27 Jahre alt war, sollte als ein auf spätere Ergänzung angelegter chronistischer Bildbericht militärischer Erfolge und bedeutender 26 Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, 2. Teil, 9. Buch (Hamburger Ausgabe, Bd. 9), München 121994, S. 363. 27 Zit. n. Forti Grazzini, L’arazzo ferrarese (wie Anm. 14), S. 51. 28 S. John Ruppert Martin, The Decorations for the Pompa Introitus Ferdinandi (Corpus Rubenianum Ludwig Burchard 16), London/New York 1972.

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Staatsakte den uneingeschränkten Machtanspruch des Sonnenkönigs bekunden und seinen Primat vor allen anderen Souveränen dokumentieren.29 Neben Staatsakten und kriegerischen Handlungen ist in der „Histoire du Roy“ auch die Kunstproduktion thematisiert, nämlich in der Darstellung des königlichen Besuchs in der Manufaktur der Gobelins (Farbabb. 25). Diese zeigt einen Innenhof des Hôtel des Gobelins, in dem die Künstler und Kunsthandwerker ihre Produkte dem Souverän und seinen Begleitern präsentieren. Den Blick nach rechts zu Colbert gerichtet, weist Ludwig XIV. mit der Rechten auf die ausgestellten Werke hin, wie auch sein weiter links im Vordergrund postierter Prémier Peintre, Charles Le Brun, der zudem Direktor der königlichen Manufaktur war. Aufgrund dieser Geste erscheint der König hier nicht als Rezipient, sondern als der eigentliche Hervorbringer der präsentierten Luxusgüter, die hier die kulturelle Blüte symbolisieren, die sich seiner Magnifizenz verdankt. Die Darstellung der „Audienz des Duque de Fuentès“ (Farbabb. 26) vergegenwärtigt die Beilegung eines Konflikts mit Spanien, der im Oktober 1661 in London ausgebrochen war, wo der spanische Botschafter den Vorrang vor dem französischen erhalten hatte, was zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung führte. Im folgenden Monat drohte Ludwig XIV. Philipp IV. mit Krieg und verlangte eine Entschuldigung und die Anerkennung des Vorrangs seiner Dynastie. Beides sprach im Namen seines Königs der Herzog von Fuentès am 24. März 1662 im Grand Cabinet du Roy im Louvre vor den geladenen Botschaftern der europäischen Königshäuser aus. In seinen gleichzeitig mit der „Historie du Roy“ entstandenen Memoiren schrieb Ludwig XIV., diese Huldigung, von der seine Vorgänger nicht einmal zu träumen gewagt hätten, lasse „unseren Feinden keinen Zweifel mehr darüber [...], dass die unsrige [Dynastie] die erste der gesamten Christenheit ist“,30 und er rechtfertigte die Kriegsdrohung als angemessenes Mittel im Dienste der gloire des Staates. Auffällig ist in dieser Darstellung das reduzierte Erscheinungsrecht berühmter Kunstwerke. Nur fragmentarisch erscheinen am oberen Bildrand zwei Gemälde von Annibale Carracci, „Die Jagd“ und „Die Fischerei“. Und von den antiken Plastiken, darunter einer Kopie des Apolls von Belvedere, sieht man am linken Bildrand nicht mehr als die Beine. Diese betonte Ausschnitthaftigkeit ist auch ein Beglaubigungsmittel, das den realistischen Dar29 Zu dieser Folge s. Wolfgang Brassat, Das Historienbild im Zeitalter der Eloquenz. Von Raffael bis Le Brun, Berlin 2003, S. 349–396 (Kapitel 8: „Les exploits de Louis sans qu’en rien tu les changes“. Charles Perrault, Charles Le Brun und das Historienbild der Modernes). 30 Zit. n. Carl Hinrichs, Die Selbstauffassung Ludwigs XIV. in seinen Mémoires, in: Ernst Hinrichs (Hg.), Absolutismus, Frankfurt a. M. 1986, S. 97–115, hier S. 107.

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stellungsmodus dieser Folge unterstreicht. Doch das eingeschränkte Erscheinungsrecht der bedeutenden Kunstwerke soll hier auch verdeutlichen, dass es bei diesem zeremoniellen Akt von historischer Tragweite um Wichtigeres ging als die Künste. Ausdrücklich hat Le Brun dies thematisiert in dem Motiv des aufmerksam das Geschehen verfolgenden Lakaien am rechten Bildrand, der sich gedankenverloren an den kostbaren silbernen Topf des Orangenbäumchens lehnt, den man als Werk des Silberschmieds Veaucourt identifiziert hat. Die Aussagekraft dieses Motivs wird noch dadurch bekräftigt, dass sich ein ähnliches auch in der Darstellung der „Audienz des Kardinallegaten Chigi“ findet (Farbabb. 27). Dieser überbrachte im Sommer 1664 eine Entschuldigung von Papst Alexander VII., der nach einem wahrscheinlich von französischer Seite provozierten Rangstreit, der Besetzung Avignons und der Kriegsdrohung Ludwigs XIV. ebenfalls den Vorrang Frankreichs anerkannte, obwohl die Zeremonialliteratur selbst protestantischer Provenienz üblicherweise dem Papst eine absolute Präeminenz vor allen weltlichen Herrschern zubilligte. In der Darstellung dieser Tapisserie bedeckt ein gebannt den Worten des Legaten lauschender Aristokrat am linken Bildrand mit seiner rechten Hand das Gesicht der Karyatidenfigur eines silbernen Guéridons von Bonnaire. Es ist dies eine scheinbar unbedachte ‚Entstellung‘ des Kunstwerks, welche, in diesem Fall noch gesteigert durch die Missachtung des ästhetischen Fundamentalmaßstabs der Unversehrtheit der menschlichen Gestalt, abermals die Bedeutsamkeit des zeremoniellen Aktes akzentuiert. Lässt uns diese Darstellung ins Zentrum des Zeremoniells blicken, so soll hier auch noch ein kurzer Blick auf dessen Peripherie gerichtet sein, auf den Bereich des otium, der Geselligkeit, in dem man sich dem Kunstgenuss hingeben konnte. *** In der Frühneuzeit dienten die Künste zu großen Teilen weiterhin ihren alten Primärfunktionen im Dienste von Herrschaft und Kirche. Von diesen haben sie sich aber auch emanzipiert und in der Renaissance unter anderem eine eigene Theorie und gesonderte Orte der Kunstpräsentation hervorgebracht, wie die studioli, die Kunst- und Wunderkammern, die Galerien und Sammlerkabinette. Auf der Grundlage der antiken Rhetorik formulierte die humanistische Kunsttheorie den Erziehungsauftrag einer moralischen Unterweisung der Rezipienten und ihrer psychisch-charakterlichen Modellierung. Alberti verlangte in seinem Malereitraktat, das Gemälde solle den Forderungen der Angemessenheit, Kohärenz und Glaubwürdigkeit (decorum, perspicuitas, aptum) gehorchen und Würde, Zurückhaltung und Glaubwürdigkeit ausstrahlen (dignitas, modestia, verisimilitudo). Durch derartige Werke könne sich

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der Maler um die Sittlichkeit (costume), ja um die „bontà dell’uomo“ verdient machen und als Lohn die „benivolenza da’ cittadini“ erlangen.31 Die ethische Kompetenz, die man den Künsten nun zusprach, hat Serlio in seinem Architekturtraktat anhand der Wirkung der vollkommenen Proportionen des Pantheons in Rom verdeutlicht, in dem die Besucher, wie er schrieb, „selbst wenn sie sonst nur von mittelmäßigem Ansehen sind, eine unerklärliche Schönheit und Anmut“ annähmen.32 Sodann hat Vasari die zivilisierende Kraft der Kunst in zahllosen Anekdoten beschworen, zum Beispiel der von den marodierenden deutschen Landsknechten, die 1527 beim Sacco di Roma in das Atelier von Parmigianino stürmten, wo sie sich angesichts der „Vision des heiligen Hieronymus“, an der dieser malte, in sittsame galantuomini verwandelten und ihn ehrfurchtsvoll gewähren ließen.33 Der soziale Rahmen, in dem diese kunsttheoretischen Konzepte entstanden, war in erster Linie die humanistisch-höfische Geselligkeit. In dieser wurzelte die Kunsttheorie und in ihrem Rahmen wurden Kunstwerke in den heiteren, geselligen, oft spielerischen Formen einer ars conversationis rezipiert. Einen anschaulichen Eindruck dieser Rezeptionsformen geben uns erst die sogenannten Galeriebilder, wie zum Beispiel die „Allegorie der Malerei“ des Antwerpener Malers Frans Francken II (Farbabb. 28), der diese Gattung um 1608 begründet hat. Doch schon bei Werken wie zum Beispiel Sandro Botticellis „Primavera“ (Farbabb. 29) lässt sich erhärten, dass sie eigens für solche Rezeptionsformen geschaffen wurden. Dieses Gemälde hing ursprünglich im Erdgeschoss des alten Florentiner Medici-Palastes im Brautgemach der Semiramide Appiani, der Frau des Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medici, welches sich neben einem Speisesaal befand.34 Von Castiglione wissen wir, dass damals in Urbino die Geselligkeit, wie schon in Boccaccios „Decamerone“, unter weiblicher Regie stattfand, dass sich die Edelleute „sofort nach dem Abendessen zur Frau Herzogin“ zu begeben pflegten,35 wo sie dann Musik und Tanz genossen, schönen Fragen 31 Leon Battista Alberti, De pictura, hg. von Cecil Grayson (Biblioteca degli scrittori d’Italia degli Editori Laterza 16), Rom 1973, ND 1975, III, 52, S. 90. 32 Zit. n. Erik Forssmann, Palladio. Eine neue Architektur aus dem Geist der Antike, in: ders. (Hg.), Palladio. Werk und Wirkung. Freiburg 1997, S. 37– 81, hier S. 41. 33 Giorgio Vasari, Das Leben des Malers Francesco Mazzuoli aus Parma, in: ders., Leben der ausgezeichnetesten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567, Nachdruck der ersten deutschen Ausgabe hg. von Ludwig Schorn und Ernst Förster (1832– 1849), neu hg. und eingeleitet von Julian Kliemann, Bd. 3,2, Darmstadt 1983, S. 156 f. 34 Webster Smith, On the Original Location of the Primavera, in: The Art Bulletin 57, 1975, S. 31–40, hier S. 37. 35 Baldesar Castiglione, Das Buch vom Hofmann, aus dem Italienischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Fritz Baumgart, München 1986, 1, 5, S. 20.

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Abb. 13: Anonymus, Holzschnitt aus Boccaccios „Decamerone“, Ausgabe Venedig 1492.

nachgingen, bei Streitgesprächen flirteten, geistreiche Spiele veranstalteten und Wahlsprüche und allegorische Darstellungen erfanden. Und so wird auch Semiramide Appiani nach dem Essen im angrenzenden Speiseraum ihre Gäste in ihrem Gemach auf dem lettucio, einem Prunksofa, an dessen hoher Rückwand die „Primavera“ hing, thronend empfangen haben. Mit seiner Bedeutungsintransparenz und semantischen Offenheit diente Botticellis Gemälde bei solchen Anlässen als gemaltes Programm für zahllose Kommunikationen über die Tugenden der Frau und des Mannes, über Gott und die Welt, die Künste und eben dieses Meisterwerk. Dessen Bestimmung, als Gesprächsprogramm und als mythischer Spiegel der in ihrem Zeichen stattfindenden Geselligkeit zu dienen, reflektiert ein Holzschnitt (Abb. 13), der in einer 1492 in Venedig erschienenen Ausgabe des „Decamerone“ sieben Mal abgedruckt, nämlich all den Tagen vorangestellt ist, an denen eine Dame der vor der Pest geflohene Florentiner Gesellschaft präsidiert. Seine zwei Bildfelder zeigen jeweils die lorbeerbekränzte „Königin eines Tages“, umringt von einer geselligen Runde, welche links in einem Garten dargestellt ist. Vor einem Baum stehend, erscheint sie dort inmitten einer Gartenlaube, deren hölzernes Gerüst sie ebenso baldachinartig einrahmt wie die Orangenbäume die Venus in der „Primavera“. Der Urheber dieses Holzschnitts hat offenbar Botticellis Gemälde in Kenntnis seiner eigentlichen Funktion rezipiert. Auch die in der Frühneuzeit paradigmatische gesellige Kunstrezeption, die in Franckens Allegorie (Farbabb. 28) in lockerer Assoziation, begleitet von

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Musik, Speis’ und Trank, stattfindet,36 war eine Form konventionalisierten, ja symbolischen Verhaltens. Denn mit ihr demonstrierten die höfische Gesellschaft und später das ihrem Vorbild nacheifernde städtische Patriziat ihre Sittlichkeit und Kultiviertheit. Doch in diesem Rahmen, in dem die Gemälde das führende Medium waren, erhielten sie ihre damals besten Entfaltungsmöglichkeiten und konnten als Kunstwerke wahrgenommen werden. Auf diesen Kontext haben auch die Künstler, wie zum Beispiel Frans Francken d. J., gesetzt, nicht nur, weil sich dieser auf die Gattung der Kabinettbilder spezialisierte, sondern weil er in ihr auch die Zukunftsaussichten des Kunstsystems reflektierte. In seiner „Kunstkammer mit ikonoklastischen Eseln“ (Farbabb. 30) vergegenwärtigte er rechts die protestantischen Bilderstürme, die seit 1566 Antwerpen heimgesucht hatten, und stellte ihnen den gesicherten Raum des Sammlerkabinetts entgegen.37 In diesem Kontext eines nicht mehr rituellen Bildgebrauchs muss man womöglich mit Ignoranten rechnen, wie der am Boden zwischen Nussschalen vor einem Landschaftsbild sitzende Affe verdeutlicht, aber nicht mehr mit einer kategorischen, gewaltbereiten Ablehnung. Stellen wir abschließend die beiden hier behandelten Verwendungskontexte und -formen noch einmal gegenüber: In den repräsentativen Zusammenhängen des Zeremoniells waren Artefakte weiterhin Objekte der von Benjamin so genannten ‚auratischen Rezeption‘. In ihnen gingen ihre ästhetischen und in der Regel auch ihre diskursiven Qualitäten in einer Aura der Repräsentation auf. Die Chance einer vertieften Rezeption hatten die Kunstwerke lediglich in den an der Peripherie des Zeremoniells angesiedelten, ihnen gewidmeten Räumen, die, wie zum Beispiel die als höfische Kommunikationsräume definierten Galerien, Orte der Geselligkeit waren, also einer ‚weichen‘ Form der Vergesellschaftung, der ein egalitärer, ja sozialutopischer Anspruch innewohnte. „Geselligkeit ist eine Pflicht“, so heißt es in Zedlers „Universal-Lexicon“, „mit andern Menschen eine friedliche und dienstfertige Gesellschafft zu unterhalten, damit alle durch alle ihre Glückseligkeit erlangen mögen“.38 In nachtri36 Zu dieser komplexen Darstellung eines Kunstkabinetts, in dem Pictura an einem „Urteil des Midas“ malt und auf der Rückwand über dem Buffet eine Allegorie mit dem Sieg der Freien Künste über die Laster hängt, s. Kurt Wettengl, Frans Francken d. J.: Bildersaal mit malender Pictura, in: ders. / Ekkehard Mai (Hgg.), Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier (Ausst.kat. München/Köln 2002), Wolfratshausen 2002, S. 384 (Kat.-Nr. 167). 37 Zu diesem und weiteren Kunstkammerbildern, welche die Bilderstürme thematisieren, s. Victor I. Stoichita, Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München 1998, S. 140– 149. 38 Art. „Geselligkeit“, in: Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Halle/Leipzig 1735, Bd. 10, Sp. 1260.

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dentinischer Zeit haben katholische Theologen in der Geselligkeit sogar einen Vorschein der sorglosen Existenz der himmlischen communio gesehen.39 In Hinblick auf die soziale und politische Relevanz symbolischer Kommunikation wird man dem Bereich des Zeremoniells wohl das größere Gewicht beimessen müssen. Auf lange Sicht aber haben sich die im Kontext der Geselligkeit entstandenen Geltungsansprüche insofern durchsetzen können, als der hier etablierte hehre Kunstbegriff weiter tradiert und in der Moderne mit der Forderung der „Kunstautonomie“ entgrenzt wurde und die für diesen Kontext geschaffenen Werke in die Museen Eingang gefunden haben. Die im Zeremoniell hoch beanspruchten Tapisserien als kulturelles Erbe anzunehmen, hat sich die bürgerliche Gesellschaft hingegen lange geweigert. In der Zeit der Französischen Revolution wurden zahllose Tapisserien als Relikte des Despotismus unter Freiheitsbäumen verbrannt, in Institutionen wie dem Tribunal als Fußteppiche verschlissen und seit 1797 unter der Aufsicht eines „Chef de la liquidation du Garde-Meuble national“ verbrannt, um den Materialwert der Edelmetallfäden zu gewinnen.40

39 Walter Sparn, Christ-löbliche Fröhlichkeit. Naturrechtliche und offenbarungstheologische Legitimationen der Geselligkeit in der Frühen Neuzeit, in: Wolfgang Adam (Hg.), Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 28), Bd. 1, Wiesbaden 1997, S. 71–92. 40 S. dazu Brassat, Tapisserien und Politik (wie Anm. 15), S. 115–117.

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Bilder als Medien der symbolischen Kommunikation: Ästhetik und Geschichte. Kommentar zur Sektion „Kunstwerke als Medien symbolischer Kommunikation“

Der Blick auf die besondere Rolle, die Bildern als Medien symbolischer Kommunikation zukommt, berührt im Kern eine der ältesten und elementarsten Fragen der Bildreflexion überhaupt, nämlich diejenige nach den Strukturen und Verfahren bildlicher Bedeutungsproduktion. Zu relevanten Ergebnissen kann diese Frage allerdings erst dann führen, wenn sie pointiert auf das ästhetische Profil dieser Sinnstiftung ausgerichtet wird. Als Prämisse kann dabei gelten, dass bildliche Bedeutungsproduktion eine ästhetische Grundkategorie darstellt, die einerseits Verfahren der Repräsentation von Wirklichkeit bezeichnet, dabei andererseits aber auch eine genuine visuelle Eigen-Präsenz hervorbringt, die außerhalb der Bilder nicht zu gewärtigen ist. Diese zweifache Bestimmung des Bildes – als Repräsentation und Präsenz – ist für die Frage nach der symbolischen Kommunikation in und mit Bildern grundlegend, denn nur in der dialektischen Vermittlung dieser beiden Modalitäten kann die zentrale Bedeutung und Funktion von Bildern angemessen analysiert und differenziert beschrieben werden. Ein so ausgerichtetes Frageinteresse1 trifft auf eine derzeitige Situation der Kultur- und Bildwissenschaften, in der die allenthalben diskutierte Frage nach der Bedeutung der Bilder und nach ihren Sinnstiftungspotentialen durch eine Engführung und Polarisierung zunehmend in eine Aporie zu geraten scheint. Einerseits herrscht eine umfassende Skepsis gegenüber der bildlichen Evidenz von Natur und Gesellschaft, von Politik und Geschichte, dergestalt dass Bilder als der Sprache analoge und lesbare Zeichensysteme betrachtet werden, die über keinen spezifischen Eigensinn verfügen und als ‚gedeutet‘ verbucht werden, sobald ihre ‚Botschaft‘ entziffert und ‚gelesen‘ ist. Exemplarisch hierfür stehen jüngere Versuche, Bild und Bildlichkeit im begrifflich dominierten 1 Die folgenden Ausführungen bewahren als Kommentarbeitrag zur Tagung den Charakter des Ausschnitthaften, Improvisierten und Skizzenhaften. Sie rekurrieren dabei maßgeblich auf das Forschungsprogramm der seit Juni 2012 durch die DFG an der FU Berlin eingerichteten KollegForschergruppe „BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik“ (FOR 1627), die vom Verfasser gemeinsam mit Peter Geimer geleitet wird. Eine gemeinsame Publikation der beiden Sprecher zu den hier nur skizzierten Leitideen ist in Vorbereitung.

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‚Theorierahmen‘ einer ‚allgemeinen‘ Bildwissenschaft zu erfassen,2 ohne dabei den historischen und ästhetischen Besonderheiten des Bildes gerecht zu werden. Auf der anderen Seite wird hingegen verstärkt der Anspruch der Bilder auf eine ‚autonome‘ Sinnproduktion reklamiert, die das Bild durch eine Abkopplung seiner Bezüge auf eine außerbildliche Wirklichkeit zu bestimmen und es dabei im Grunde auf einen strukturellen Singular, auf das Bild an sich statt einer Vielzahl höchst diverser Bilder, zu reduzieren sucht. Die Berufung auf eine „unersetzbare Macht“ des Bildes sowie einen „bildlichen Urakt“3 insistiert zu Recht auf der Eigengesetzlichkeit des Ikonischen, versucht ästhetische Bedeutungsproduktion aber letztlich durch eine Loslösung des Bildes von seinen kulturellen, politischen und sozialen Dimensionen zu bestimmen. Der komplexe Wirklichkeitsbezug des Visuellen wird hier im Grunde als bloßes Akzidens betrachtet, das die eigentliche Erkenntnis der vermeintlich reinen und unverstellten Bildlichkeit überlagert und in ihrer ‚wahren‘ Substanz am Ende trübt, ja behindert. Dieser essentialistischen Tendenz zur Reduktion und Isolierung des Bildes, die deutlich genug das Signum modernistischer Denk- und Anschauungsformen trägt, leistet innerhalb der Kunstgeschichte nicht zuletzt ein teleologisches Narrativ Vorschub, das den Fortschritt der Moderne in einer zunehmenden Ausschaltung von Referenz und in der Freisetzung einer ‚reinen‘, referenzlosen Bildlichkeit sieht.4 Auch die quasi-animistische Rede vom „Leben“ der Bilder, ihren „Begierden“ und ihrem „Willen“5 und zuletzt geradewegs von ihrem Status „autonomer Subjekte“6 begegnet der aktuellen Herausforderung einer Bestimmung ästhetischer Bedeutungsproduktion mit einer ungeklärten Mythisierung ihrer genuinen Kapazitäten. Pointiert gesprochen werden somit die Bild- und Kulturwissenschaften in ihrer Programmatik von einem kaum überbrückbaren Antagonismus bestimmt. Während die ästhetische Sinnstiftungskraft der Bilder auf der einen Seite ignoriert wird, so dass diese damit in der Analyse recht eigentlich um das Substrat ihrer genuinen Wirkungsweisen und Erscheinungsformen gebracht werden, wird sie auf der anderen Seite verabsolutiert und damit herausgelöst aus ihrem elementaren Fundierungszusammenhang, der maßgeblich aus vielgestaltigen historischen, sozialen und kulturellen Bezugnahmen auf außer2 Vgl. z. B. Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005. 3 Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007. 4 Vgl. Clement Greenberg, Modernistische Malerei, in: ders., Die Essenz der Malerei. Ausgewählte Essays und Kritiken, Amsterdam/Dresden 1997, S. 265–278. 5 William J. T. Mitchell, What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago 2005. 6 Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Frankfurt a. M. 2010.

Kommentar zur Sektion

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bildliche Wirklichkeiten resultiert. Für die Poetologien des Bildes, wie sie gegenwärtig im Bereich der Bild- und Kulturwissenschaften entworfen werden, scheint somit im Grunde eine mehr oder weniger latente Vergleichgültigung gegenüber der ästhetischen Fundierung des referentiellen Gehalts charakteristisch. Hier haben alle Überlegungen zur symbolischen Kommunikation in und mit Bildern anzusetzen. Insbesondere geht es dabei um die Einsicht, Eigengesetzlichkeit und Wirklichkeitsbezug, Autonomie und Heteronomie nicht als sich wechselseitig ausschließende Pole einer Dichotomie zu verstehen, sondern vielmehr als Komponenten eines Verhältnisses, das zuallererst als intrinsische Verschränkung den ästhetischen Fundierungszusammenhang der Bilder bestimmt und eben als solches zu analysieren ist. Kriterien für diese Analyse halten nicht zuletzt die Bilder selbst bereit.7 Denn sind sie vielfach Gegenstand der theoretischen Reflexion, so verfügen sie doch zugleich auch über einen eigenen reflexiven Status. Dieser begründet sich in einem doppelten Sinn: in der Abgehobenheit der Bilder von jener Wirklichkeit, auf die sie sich gleichwohl beziehen, und in ihrer Rückbezogenheit auf ihre eigenen Produktionsbedingungen. Dass Bilder theoriehaltig sind und in diesem Sinne eine eigene Diskursivität verkörpern, ist zentral für die Frage, wie sie Sinn und Bedeutung erzeugen. Denn in Hinblick auf eben diesen Status eröffnet sich die Möglichkeit, aus den Bildern selbst verbindliche Kriterien ihrer ästhetischen Form zu gewinnen, Kriterien, die ihrerseits wieder eine beschreibbare Geschichte haben und mithin historisierbar sind. Indem das Darstellen als Darstellen nach seinem Sinn befragt wird, wird zugleich das Betrachten des Bildes und von ihm her das Feld seiner Außenbeziehungen reflektiert. So eröffnet das Unterfangen, der Kategorie der bildlichen Sinnstiftung ihre historische Tiefe zurückzugewinnen, zugleich einen gangbaren Weg, zwischen historischer Betrachtung und ästhetischem Zugang, zwischen Begriff und Anschauung und mithin zwischen dem Wirklichkeitsbezug des Bildes und seiner Eigenwirklichkeit zu vermitteln. Nur auf diese Weise kann der Besonderheit der Bilder Rechnung getragen werden, einerseits durch ihre vielfachen historischen und kulturellen Bezüge bestimmt zu sein, anderseits aber auch in ihrer heutigen Präsenz und Gegenwart unvermindert einer ästhetischen Erfahrung offen zu stehen.

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Zum Folgenden vgl. Klaus Krüger, Geschichtlichkeit und Autonomie. Die Ästhetik des Bildes als Gegenstand historischer Erfahrung, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Der Blick auf die Bilder. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch. Mit Beiträgen von Klaus Krüger und JeanClaude Schmitt (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 4), Göttingen 1997, S. 53–86.

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Um es nochmals zu pointieren: Die Frage, wie Bilder symbolisch kommunizieren, muss entschieden als Frage danach gestellt werden, wie sie in bestimmten Kontexten, seien es soziale, religiöse oder politische, seien es kulturelle, ökonomische oder epistemologische, bestimmte Anspruchs- und Repräsentationsziele nicht nur auf inhaltlich-ikonographischer Ebene, sondern auch und gerade auf dem Wege einer formästhetischen Bedeutungsproduktion artikulieren und ihnen dadurch Geltung und Wirksamkeit verleihen, die sich der Logik einer ausschließlich diskursiven Bestimmung entzieht. Die historische, sozialwissenschaftliche und kunstsoziologische Forschung bietet hierfür bislang kaum befriedigende oder hinreichend konkrete Analysemodelle an. Umfassende Entwürfe der Kunstsoziologie, wie sie etwa Luhmanns Systemtheorie, Veblens Konzept des Geltungskonsums oder Bourdieus Feldtheorie bereitstellen, sind kaum geeignet, dieses Defizit zu beheben, sparen sie doch gemeinhin eben jene gestaltästhetische Komplexität, die sich aus der je spezifischen Konkretheit, Geschichtlichkeit und Materialität der Bilder ergibt, aus ihren theoretischen Zugriffen aus. Auch dort, wo im Rahmen kultureller und gesellschaftlicher Symboltheorien die Frage nach der bildlichen Bedeutungsproduktion historisch enger fokussiert wird oder wo sie, wie etwa im Fall der gegenwärtigen Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, systematisch differenziert im Hinblick etwa auf die Medien nonverbaler Kommunikation und auf die „realitätsschaffende Macht institutioneller ‚Fiktionen’“8 verhandelt wird, figuriert der ästhetische Phänomenwert von Bildern nach wie vor nur als generell und abstrakt gefasste Kategorie, deren spezifizierte Erschließung vorderhand erst noch als Desiderat anzusehen ist.9 So gelangen gerade 8

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Karl-Siegbert Rehberg, Die stabilisierende ‚Fiktionalität‘ von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung, in: Reinhard Blänkner / Bernhard Jussen (Hgg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 138), Göttingen 1998, S. 381–407, hier S. 407. Vgl. u. a. Gerd Althoff, Zur Bedeutung der symbolischen Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 31, 1997, S. 370–389; Barbara StollbergRilinger, Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27, 2000, S. 389–405; Karl-Siegbert Rehberg, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – Eine Einführung in systematischer Absicht, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln u. a. 2001, S. 3–49; Gerd Althoff, Die Kultur der Zeichen und Symbole, in: Frühmittelalterliche Studien 36, 2002, S. 1–17; Ulrich Meier, Die Sichtund Hörbarkeit der Macht. Der Florentiner Palazzo Vecchio im Spätmittelalter, in: Susanne Rau / Gerd Schwerhoff (Hgg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und früher Neuzeit (Norm und Struktur 21), Köln u. a. 2004, S. 229–271; Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 4, 2004, S. 489–527; Ulrich Meier, Kommunen, Stadtstaaten, Republiken. Gedanken zu Erscheinungsbild, Selbst-

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gesellschaftshistorische Ansätze bei ihrem Zugriff auf Bilder am Ende kaum über einen illustrativen Gebrauch und eine fortbestehende Fixierung auf jenen ‚historischen Dokumentensinn‘ hinaus, der zwar alle erdenklichen Außenbeziehungen der Bilder in Rechnung zu ziehen sucht, nur nicht die ihnen innewohnenden und ihre ästhetische Phänomenalität allererst konstituierenden Bedingungen selbst.10 Somit bleibt das bereits 1976 von Martin Warnke in seinem soziologischen Modellentwurf „Bau und Überbau“ explizit als zukünftige Aufgabe formulierte Postulat einer „Überleitung zur Form“ nach wie vor als uneingelöstes Projekt und unerfülltes Desiderat der Kunstgeschichte bestehen.11 Unter den zahlreichen Überlegungen und Aspekten, die dabei akut werden, ist gerade für die sogenannten Bildwissenschaften die Frage nach jener spezifischen Wertbesetzung und Bedeutungsproduktion von Belang, die von Bildern durch den ihnen beigemessenen Status als ‚Kunst‘ ins Werk gesetzt wird (worauf sich der Sektionstitel der Tagung „Kunstwerke als Medien symbolischer Kommunikation“ explizit bezieht), insofern es sich dabei gerade nicht um eine allein ästhetisch definierte Wert- und Bedeutungssetzung handelt, sondern immer zugleich und unlösbar damit verknüpft um eine soziale, politische, kulturelle, ökonomische, religiöse etc. Mit einer Dichotomisierung zwischen einer Epoche des Kultes und einer der Kunst, die im Grunde auf eine unangemessene Separierung zwischen ikonographisch-symbolischen bzw. rituellen oder zeremoniellen Funktionen der Bilder und ihrer kunsthaft-ästhetischen Bedeutung hinausläuft, lässt sich demzufolge weder in historischer noch in systematischer Perspektive argumentieren. Das Gebot, eine derartige Dissoziierung methodisch und theoretisch zu vermeiden und vielmehr dem komplexen inneren Zusammenhang von symverständnis und Außensicht italienischer Städte, in: Kurt-Ulrich Jäschke / Christhard Schrenk (Hgg.), Was machte im Mittelalter zur Stadt? Selbstverständnis, Außensicht und Erscheinungsbilder mittelalterlicher Städte (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn 18), Heilbronn 2007, S. 67–89. 10 Vgl. u. a. Brigitte Tolkemitt / Rainer Wohlfeil (Hgg.), Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 12), Berlin 1991; Francis Haskell, Die Geschichte und ihre Bilder. Die Kunst und die Deutung der Vergangenheit, München 1995; Gabriela Signori, Wörter, Sachen, und Bilder. Oder: die Mehrdeutigkeit des scheinbar Eindeutigen, in: Andrea Löther u. a. (Hgg.), Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner, München 1996, S. 11–33; Oexle (Hg.), Der Blick (wie Anm. 7); Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003 (engl. Erstausg. 2001); Bernd Roeck, Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder, in: Geschichte und Gesellschaft 29, 2003, S. 294–315; ders., Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit, Göttingen 2004. 11 Martin Warnke, Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt a. M. 1976, S. 147 ff.; vgl. dazu auch die Rezension von Dieter Kimpel und Robert Suckale, in: Kritische Berichte 5, 1977, S. 62–70.

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bolischer Kommunikation und ästhetischer Bedeutungsproduktion analytische Geltung zu verleihen, sei hier durch einen kursorischen Ausblick auf das Feld der genannten Mittelalter- und Frühneuzeitforschung und auf die ästhetischen Aspekte, die einer Bildpolitik der Evidenz bzw. einer bildlich erzeugten und kommunizierten Bedeutungssetzung zuwachsen, nur selektiv und beispielhaft knapp, nämlich in Hinblick auf die öffentlichen Bildprogramme des italienischen Trecento, beleuchtet.12 Unter anderem geht es dabei um die Frage, inwieweit angesichts der zunehmenden funktionalen Ausdifferenzierung identitätsstiftender Einheitsideale und Gemeinwohlideen aus bisherigen kirchlich-religiösen Fundierungszusammenhängen, wie man sie im späten Mittelalter beobachten kann, öffentlichen Bildern und Bildprogrammen die Funktion zuwächst, nicht nur durch neuartige Ikonographien, sondern auch und gerade durch medieneigene Sprachformen und Visualisierungsstrategien ein durch diese Entwicklung aufgetretenes, gleichsam charismatisches Vakuum zu besetzen und es, gewissermaßen kompensatorisch, mit religiöser bzw. quasi-religiöser Autorität zu füllen. Was sich hier vollzieht, erscheint als ein ebenso fundamentaler wie folgewirksamer Prozess der gesellschaftlichen, politischen und juridischen Re- und Umsemantisierung durch ästhetisch operationalisierte Wertbesetzung. Wie etwa erfüllen diese Bilder, so ließe sich die Frage nach ihrem symbolischen Kommunikationspotential exemplarisch konkretisieren, die ihnen sei12 In Absehung von einer breiten und originären Analyse an dieser Stelle greifen die folgenden Hinweise im Rahmen dieses Tagungskommentars nur punktuell und stichpunktartig auf Ausführungen zurück, die vom Verfasser bereits ausführlicher und insbesondere mit Anführung und Würdigung der betreffenden Forschungsliteratur anderweitig erörtert wurden: Klaus Krüger, Selbstdarstellung im Konflikt. Zur Repräsentation der Bettelorden im Medium der Kunst, in: Otto Gerhard Oexle / Andrea von Hülsen-Esch (Hgg.), Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 141), Göttingen 1998, S. 127–186; ders., Medium and Imagination. Aesthetic Aspects of Trecento Panel Painting, in: Victor M. Schmidt (Hg.), Italian Panel Painting of the Duecento and Trecento (National Gallery of Art, Studies in the History of Art 61, Symposium Papers 38), Washington 2002, S. 57–81; ders., Bildlicher Diskurs und symbolische Kommunikation. Zu einigen Fallbeispielen öffentlicher Bildpolitik im Trecento, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 64), München 2007, S. 123–162; ders., Desintegration – Distinktion – Integration. Zur Funktion interkultureller Symbolisierung bei Bauwerken und Bildern im Mittelalter, in: Christoph Wulf / Jacques Poulain / Fathi Triki (Hgg.), Die Künste im Dialog der Kulturen. Europa und seine muslimischen Nachbarn, Berlin 2007, S. 73–99; ders., Von der Pala zum Polyptychon: Das Altarbild als Medium religiöser Kommunikation, in: Stefan Weppelmann / Wolf-Dietrich Löhr (Hgg.), Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco (Ausst.kat. Berlin 2008), Berlin 2008, S. 179–199; ders., Figuren der Evidenz. Bild, Medium und allegorische Kodierung in der Malerei des Trecento, in: Peter Strohschneider (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2009, S. 902–927.

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nerzeit verstärkt zuwachsende neuartige Aufgabe, jene professionelle, in einer rationalen, verrechtlichten und bürokratischen Amtswaltung verankerte Regierungsgewalt, die im politischen Kontext vielfach als ein säkulares Substitut und Kompensat an die Stelle der vormals göttlich legitimierten ‚Übernatur‘ herrscherlichen Handelns tritt, charismatisch zu überhöhen und aller Alltäglichkeit institutioneller Verhältnisse zu entrücken? Der Begriff des Charismas und seine ästhetische Wendung erscheint für eine derartige Fragerichtung besonders vielversprechend, wird es doch – im Anschluss an Max Weber und die Fortführung seiner Theorie durch jüngere kultursoziologische Perspektiven – als Manifestationsform außeralltäglicher Ideen verstanden, die durch die Vorgabe von Sinn Erlösung aus alltäglicher menschlicher Lebensführung, gesellschaftlicher Bedingung und je mit ihr verknüpfter Handlungsunsicherheit versprechen.13 Im hier angesprochenen historischen Rahmen des Dueund Trecento kann der Charisma-Begriff gerade in Hinblick auf die frühen italienischen Kommunen damit auf die soziostrukturelle Dimension des Ästhetischen verweisen, das es in seiner Kultur- und Gesellschaftsbedeutung zu erfassen gilt: Das Ästhetische als Medium und Agens sowohl einer Zuschreibungsdynamik, die religiöse (und zugleich auch ideologische und politische) Werte überträgt bzw. neu formiert, als auch eines Institutionalisierungsprozesses, in dessen Verlauf diese Werte erfolgreich rationalisiert, durch Symbole, Dogmen und Rituale überhöht bzw. sublimiert und in Weltbildern gefestigt und fundiert werden. Die politische und soziale Dimension einer ästhetischen Wertbesetzung in und mit Bildern erschließt sich in dieser historischen Konstellation etwa aus der Frage danach, inwieweit die politisch, ideologisch, juristisch und institutionell so vielfältig besetzten Darstellungsziele, die allesamt auf abstrakte, unanschauliche Wertbegriffe, Handlungsmuster und Leitvorstellungen abheben, mit dem Umstand korrelieren, dass sich das gemalte Bild in Italien seit der Zeit um 1300 immer stärker als mimetische Repräsentation etabliert, und inwieweit dabei ein topisches Inventar an bildlichen Mustern, ikonographischen Codes und Bild-Text-Relationen durch ein wachsendes Potential der Fiktionalisierung und der poietischen Aufladung der besagten Darstellungsziele transformiert wird, um auf solche Weise eine neuartige Darstellungsher13 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 51980, S. 140 ff.; Wolfgang Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Berlin 1985, bes. S. 63 ff.; Edith Hanke, Max Webers ‚Herrschaftssoziologie‘. Eine werkgeschichtliche Studie, in: dies. / Wolfgang J. Mommsen (Hgg.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zur Entstehung und Wirkung, Tübingen 2001, S. 19–46; Wilfried Nippel, Charisma und Herrschaft, in: ders. (Hg.), Virtuosen der Macht. Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao, München 2000, S. 7–22.

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meneutik mit zugleich ästhetischem wie wirklichkeitsdeutendem Anspruch zu etablieren. Wie entfalten die Bilder und Bildprogramme unter dem Augenschein mimetisch bestimmter Figurationen politische und regierungsrechtliche Argumente? Wie belegen sie diese mit dem Bildeindruck der Evidenz im Sinne einer unzweifelhaften Überzeugungs- und Beweiskraft? Und welche Rolle kommt dabei dem Postulat von ‚Schönheit‘ und ästhetischem Anspruchsniveau zu, das in öffentlichen Reden, Predigten und Traktaten ebenso wie in kommunalen Statuten oder regierungsadministrativen Vorschriften hierzu gehäuft und explizit ausgesprochen wurde? Inwieweit manifestiert sich in der systematischen Zusammenschau der im Einzelnen jeweils hochkomplexen und vielfältig ausdifferenzierten Ausprägung dieser Bilder eine maßgeblich auf ästhetisches Erfahren von sozialen und politischen Botschaften hin angelegte Geltungsabsicht? Ein gleichermaßen medien- und sozialhistorisch vertiefter Blick auf die „Dimensionen des Ästhetischen“, wie er etwa auch von Seiten der mediävistischen Literaturwissenschaft als Desiderat gesehen wird,14 kann nicht zuletzt verdeutlichen, dass die Frage nach der Ästhetik bildlicher Bedeutungsproduktion einseitig und verengt gerät, wenn sie sich wesentlich auf deren Begründung aus der humanistischen Kunsttheorie und Rhetoriktradition verlegt und damit das komplexe Spektrum ihrer bildgeschichtlichen Voraussetzungen auf eine vermeintlich maßgebliche Verankerung in der Renaissance verkürzt. Umgekehrt scheint sich vielmehr abzuzeichnen, dass die im Due- und Trecento elaborierten Verfahren einer genuinen Neusemantisierung sozialer, politischer und religiöser Wertbegriffe durch Ästhetisierung bereits ein substantielles Ferment für jene systematische Überhöhung, ja Sakralisierung des Ästhetischen in sich bergen, die seit der Renaissance als eine zunehmende Divinisierung des Kunstschönen und als eine dann auch kunsttheoretisch institutionalisierte Reklamierung von dessen quasi-religiöser Offenbarungsleistung zutage tritt. Damit rückt eine Konstellation in den Blick, deren Konsequenzen durchaus langfristig, bis hin zur Entfaltung der Kunstreligion im 18. und 19. Jahrhundert, virulent bleiben und die sich noch in jener Vorstellung von einer „Postfiguration“15 religiösen Erlebens durch die moderne Kunst manifestieren, der zufolge die ästhetische Immanenz des autonom gewordenen Kunstwerks 14 Vgl. Manuel Braun / Christopher John Young (Hgg.), Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters (Trends in Medieval Philology 12), Berlin 2007. 15 Thomas Rentsch, Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee, in: Jörg Herrmann / Andreas Mertin / Eveline Valtink (Hgg.), Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München 1998, S. 106–126, hier S. 120.

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als Erbe der Religion zu begreifen ist und eben von daher selbst wiederum religiös überhöht wird.16 Abschließend sei darauf verwiesen, dass sich im Horizont solcher Zusammenhänge auch die ästhetischen Kategorien von Stil und Form und die Frage nach ihrem Anteil an der Bedeutungsproduktion und Sinnstiftung mit und in Bildern ebenso sehr historisch wie methodisch präziser ins Auge fassen lassen. Stil und Form bestimmen als eminente Kategorien der Produktion bzw. Ausgestaltung und Faktur des Bildes dessen Sichtbarkeit und prägen in unterschiedlichen Kontexten ein komplexes, je spezifisches Wechselverhältnis zwischen seiner material-sinnlichen Präsenz und seiner darstellenden Verweisfunktion aus. Dabei werden vielfältige Fragen akut, die sich aus der breiten historischen und medialen Variabilität von Stil und Form begründen: Auf welche Weise etwa fördern, affirmieren und stabilisieren oder aber behindern, verschleiern und unterlaufen sie die Sichtbarkeit von dargestellter Wirklichkeit und modifizieren damit deren Plausibilität oder Gegenwärtigkeitseindruck? Anders gefragt: Wie semantisieren Stil und Form auf diesem Wege die Bedeutung von Wirklichkeit im Bild und/oder ihre Bedeutung als Bild? Als Prämisse bei der Untersuchung dieser Fragen muss gelten, dass Stil und Form keine Gleichung bilden. Denn historisch und semantisch vielfältig determiniert (etwa als Zeit- oder Epochenstil, als Personal- oder Individualstil, als Schul- oder Werkstattstil, als Gattungsstil, als Funktionsstil, als rhetorisierter Stil oder Stilmodus etc.), ist ‚Stil‘ maßgeblich ein formbegründetes „Diskurselement“,17 dem eine wechselhafte Geltung, eine flexibel ausgeprägte Normativität und darüber hinaus ein hohes Potential an kontextueller Ausdifferenzierung und Pluralisierung zukommt.18 16 Vgl. u. a. Rainer Volp / Günter Wohlfart, Art. „Kunst und Religion, VII: Vom Ausgang des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, VIII: Das 20. Jahrhundert, IX: Philosophisch“, in: Theologische Realenzyklopädie 12, 1984, S. 292–337; Alex Stock, Zwischen Tempel und Museum. Theologische Kunstkritik. Positionen der Moderne, Paderborn 1991; Walter Lesch (Hg.), Theologie und ästhetische Erfahrung, Darmstadt 1994; Wolfgang Braungart / Gotthard Fuchs /Manfred Koch (Hgg.), Ästhetische und religiöse Erfahrung der Jahrhundertwenden, 3 Bde., Paderborn 1997–2000; Herrmann / Mertin / Valtink (Hgg.), Die Gegenwart (wie Anm. 15), darin Rentsch, Der Augenblick (wie Anm. 15); Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 22009. 17 Hans Ulrich Gumbrecht / Karl Ludwig Pfeiffer (Hgg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselementes, Frankfurt a. M. 1986. 18 Vgl. Günther Binding, Art. „Stil“, in: Lexikon des Mittelalters 8, 1997, Sp. 183–184; W. G. Müller, Art. „Stil“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10, 1998, Sp. 150–159; Philip Sohm, Style in the Art Theory of Early Modern Italy, Cambridge 2001; Ulrich Pfisterer, Donatello und die Entdeckung der Stile 1430–1445, München 2002, S. 22 ff. und S. 40 ff.; Rainer Rosenberg u. a., Art. „Stil“, in: Ästhetische Grundbegriffe 5, 2003, S. 641–703; Stefan Schweizer, Stil, Bedeutung, Wahrnehmung. Genese und Entwicklung interdisziplinärer Architekturdeutung sowie ihre kulturwissenschaftlichen Perspektiven, in: ders. / Jörg Stabenow (Hgg.), Bauen als Kunst und historische Praxis. Architektur und Stadtraum im Gespräch zwischen Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissen-

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Für die Frage nach den ästhetischen Strukturen bildlicher Bedeutungsproduktion und nach der historischen Spezifik dieser Visualisierungsleistung ist dieser Zusammenhang zentral. So gilt bereits für das Trecento, dass die neuen öffentlichen Bilder sich als Medien ausweisen, die an der Schnittstelle nicht nur zu vielfältigen gesellschaftlichen und politischen Kontexten stehen, sondern auch und gerade zu reich elaborierten visuellen Diskursen und zu deren genuiner Weise der Bedeutungsproduktion. Inwieweit prägen sich dabei regelrechte ‚Bildstile‘ der gesellschaftlichen und politischen Argumentation aus? Und inwiefern sind notorisch vermerkte Stilgegensätze, wie sie etwa in der kommunalen bzw. religiösen Bildproduktion zwischen Florenz und Siena zu verzeichnen sind, im Horizont von kollektiven Symbolisierungs- und Repräsentationszielen als absichtsreiche ‚Stilisierungen‘ zu deuten, die ihre eigenen, nachhaltig wirksamen Evidenzeffekte und Bedeutungssetzungen produzieren? Lassen sich diese ‚Stilisierungen‘ auf die Vorstellung von gesellschafts-, mentalitäts- oder gar klassenspezifischen Ausdrucks- oder Stilmodi reduzieren, wie dies etwa Frederick Antal, Millard Meiss und andere gerade für die Kunst des Trecento versucht haben?19 Oder entfalten sie die genuine Leistung symbolischer Kommunikation weniger als ‚Ausdruck‘ vorgängiger sozialer und politischer Prätexte, sondern vielmehr performativ, als ästhetisch wirksame Dispositive, die sich produktiv der Praxis der sozialen und kulturellen Imagination einschreiben und auf diese Weise ihrerseits das politische Selbstbild und Bewusstsein der Gesellschaft modellieren?20 Wie es scheint, wird erst die Analyse und Beantwortung solcher Fragen am Ende zu weiterreichenden Einsichten in jene grundsätzliche Bedeutung führen, die den ästhetischen Strukturen bildlicher Sinnproduktion beim ‚Lesbarmachen‘ der Welt (Blumenberg) und bei ihrer ideologischen Wertbesetzung tatsächlich zukommt.

schaft 26), Bd. 1, Göttingen 2006, S. 21–89; Bernhard Sowinski, Art. „Stil“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 8, 2007, Sp. 1393–1419. 19 Frederick Antal, Florentine Painting and its Social Background. The Bourgeois Republic before Cosimo de’ Medici’s Advent to Power: xiv and early xv Centuries, London 1948; Millard Meiss, Painting in Florence and Siena after the Black Death, Princeton 1951; vgl. Anna Wessely, Die Aufhebung des Stilbegriffs – Frederick Antals Rekonstruktion künstlerischer Entwicklungen auf marxistischer Grundlage, in: Kritische Berichte 4, Heft 2–3, 1976, S. 16–35; Henk van Os, The Black Death and Sienese Painting: A Problem of Interpretation, in: Art History 4, 1981, S. 237–249; Bruce Cole, Some Thoughts on Orcagna and the Black Death Style, in: Antichità viva 22, 1983, S. 27–37. 20 Daniel Arasse, L’art et l’illustration du pouvoir, in: Culture et idéologie dans la genèse de l’état moderne. Actes de la table ronde organisée par le Centre National de la Recherche Scientifique et l’Ecole française de Rome (Collection de l’École Française de Rome 82), Rom 1985, S. 231–244.

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Symbolische Kommunikation zwischen Liturgie, Spiel und Fest Die Beiträge dieses Bandes thematisieren hauptsächlich Fälle, in denen symbolische Kommunikation in pragmatischen Zusammenhängen auftrat, insofern immer auch ‚instrumentelle‘ Bedeutung hatte. In den Künsten der Vormoderne (Bildende Kunst, Musik oder – darum geht es hier – Literatur) ist sie ebenfalls meist mit solch instrumenteller Bedeutung verschränkt, doch werden seit Beginn der Neuzeit pragmatische Funktionen allmählich zurückgedrängt und schließlich weitestmöglich ausgeklammert. Damit bildet sich in den Künsten ein anderer Typus von symbolischer Kommunikation aus. Dies aber ist ein langer Prozess, in dem pragmatische Elemente nur sehr langsam verschwinden (wenn das je vollständig der Fall sein sollte). Deshalb wird die vormoderne Literatur aus der Perspektive des ausdifferenzierten Systems ‚Kunst‘ zumeist als ‚Vorgeschichte‘ betrachtet. Das gilt besonders für Formen des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Spiels. Die Literaturgeschichten verzeichnen es als ‚Drama‘ – und das bedeutet: als Vorläufer des institutionalisierten Theaters der Neuzeit, obwohl die Spiele tatsächlich in den größeren Rahmen der Frömmigkeitspraxis, des kulturellen Brauchtums oder des Festes gehören. Paraliturgische Rituale wie die Osterfeiern, das Geistliche Spiel, Fastnachts- und Jahreszeitenspiele, Huldigungsakte, feierliche Entrées und dergleichen zeichnen sich gegenüber dem neuzeitlichen Schauspiel dadurch aus, dass sie in pragmatische Zusammenhänge eingebettet sind und entsprechende Funktionen zu erfüllen haben. Sie sind Teile größerer Kommunikationszusammenhänge. Erst die jüngere Wendung der Theaterwissenschaft stellt das angemessene Instrumentarium für die Untersuchung solcher Typen dramatischen Handelns bereit. Die Theaterwissenschaft hat längst ihren Untersuchungsbereich über das Feld des institutionalisierten Theaters ausgedehnt und alle Formen von Theatralität in den Blick genommen, angefangen von Alltagssituationen über Rituale und Feste bis hin zu literaturbasierten Theateraufführungen.1 Die im Folgenden zu beschreibenden Spielhandlungen stellen sich – gegenüber der 1

Vor allem Erika Fischer-Lichte und ihre Schule haben in zahlreichen Beiträgen zu Theater und Performativität – u. a. in Auseinandersetzung mit der amerikanischen Soziologie (Victor Turner) – diesen erweiterten Begriff von Theatralität theoretisch begründet und ihre Form an vielen Beispielen beschrieben, so schon in Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 21988.

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Theatralität des Alltags – bereits als relativ verfestigte, häufig an ein Skript gebundene Abläufe dar, gewissermaßen als markierte Theatralität. Entsprechend erfüllt die an sie gebundene symbolische Kommunikation bestimmte, vorab festgelegte Funktionen. Diese werden in der Regel ‚von außen‘ bestimmt, das heißt von den pragmatischen Zusammenhängen, in die das Spiel eingebettet ist. Am Beispiel von Aufführungen Geistlicher Spiele im Umkreis von kirchlichen Hochfesten oder von Darbietungen bei höfischen Festen soll dieser Typus von Kommunikation beschrieben werden. Es geht – wie es im Titel der Sektion heißt– um ‚Intertheatralität‘, um die „Polysemie von Leben und Spiel“, um die Symbolizität theatralischer Vollzüge vor, außerhalb bzw. an der Grenze des institutionalisierten Theaters.

I. Zuschauer und Gemeinde im Geistlichen Spiel2 Das Geistliche Spiel3 ist weit mehr als eine Repräsentation von Geschehnissen der Heilsgeschichte vor Zuschauern.4 Es versammelt eine christliche Ge2

3

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Der vorliegende Beitrag entstand in Verbindung mit einem anderen ( Jan-Dirk Müller, Präsenz des Heils und Repräsentation. Zur Alterität des Geistlichen Spiels (mit einem Nachwort zu anderen Formen des mittelalterlichen ‚Dramas‘), in: Anja Becker / Jan Mohr (Hgg.), Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), Berlin 2012, S. 263–284). Die Beiträge haben einige Gedankengänge und auch Formulierungen im Hinblick auf das Geistliche Spiel gemeinsam, sind aber an jeweils anderen Fragestellungen orientiert. Ich verweise auf meine älteren Arbeiten: Jan-Dirk Müller, Das Gedächtnis des gemarterten Körpers im spätmittelalterlichen Passionsspiel, in: Claudia Öhlschläger / Birgit Wiens (Hgg.), Körper – Gedächtnis – Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung (Geschlechterdifferenz & Literatur 7), Berlin 1997, S. 75–92; ders., Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters, in: Andreas Kablitz / Gerhard Neumann (Hgg.), Mimesis und Simulation (Rombach Litterae 52), Freiburg i. Br. 1998, S. 541–571; ders., Kulturwissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter, in: Gerhard Neumann / Sigrid Weigel (Hgg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, S. 53–77; ders., Ritual, pararituelle Handlungen, Geistliches Spiel. Zum Verhältnis von Schrift und Performanz, in: Horst Wenzel / Wilfried Seipel / Gotthart Wunberg (Hgg.), Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche (Schriften des Kunsthistorischen Museums 6), Wien 2001, S. 63–71; ders., Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2004, S. 113–133. Wichtig für meine Fragestellung sind ferner die eindringlichen Untersuchungen von Johan Nowé, Kult oder Drama? Zur Struktur einiger Osterspiele des deutschen Mittelalters, in: Herman Braet / ders. / Gilbert Tournoy (Hgg.), The Theatre in the Middle Ages (Mediaevalia Lovaniensia I,13), Leuven 1985, S. 269–313 und von Bruno Quast, Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit (Bibliotheca Germanica 48), Tübingen/Basel 2005, S. 109–139. Die neuere theaterwissenschaftliche Forschung hat die Betrachtung des Geistlichen Spiels revolutioniert, indem sie es als besonderen Typus von cultural performance analysierte, vgl. besonders

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meinde, um herausgehobene Feste des Kirchenjahres zu feiern und ihre Anlässe in Leben und Sterben Jesu zu vergegenwärtigen. Was gespielt wird, hat für die Anwesenden unmittelbare heilsgeschichtliche Relevanz, und das gilt analog für die Geschichten von Heiligen, die Auftritte von Propheten, Kirchenvätern, Personifikationen und dergleichen. Die Anwesenden sind daher ebensowohl Zuschauer wie Betroffene, die durch ihre eigene Heilserwartung in das dargestellte Spiel verwickelt sind. Das hat Folgen für die Dramaturgie. Das Spiel muss aus der Frömmigkeitspraxis, in die es eingebettet ist, einerseits herausgehoben werden, andererseits aber auch als deren Teil erscheinen. Beide Tendenzen lassen sich an der Rahmung der Spiele demonstrieren. In diesen Spielen ist die Grenze zwischen der Welt der Zuschauer und der Spielrealität labil und durchlässig. Sie muss meist erst in einem Prolog oder ähnlichem festgelegt werden. Im Geistlichen Spiel fordert der Gesang der Engel die Anwesenden auf, ruhig zu sein („Silete“); ein proclamator kündigt den Inhalt an und bittet das Publikum, sich nicht in die Spielrealität einzumischen und die Grenze der Spielrealität zu respektieren. Die Sphäre des Spiels muss also allererst instituiert und aus der Alltagsrealität der Zuschauer herausgehoben werden. Doch ist das nur eine Aufgabe des Prologs, denn er führt nicht nur in die Welt des Spiels ein, sondern erinnert auch an die kultische Praxis, deren Teil die Aufführung ist. Dabei übernimmt der proclamator – sonst eine Art Spielleiter – die Rolle des Priesters5 und redet die versammelten Zuschauer als Gemeinde an. Er lädt sie zu gemeinsamer kultischer Handlung ein. Im „Donaueschinger Passionsspiel“6 sind die beiden Aufgaben auf zwei Figuren verteilt. Zunächst fordert ein „kneht des proclamator“ nach den Rufen der Engel die Zuschauer auf, ruhig zu sein, doch kündigt er kein Spiel an, sonIngrid Kasten, Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, in: dies. / Erika Fischer-Lichte (Hgg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel (Trends in Medieval Philology 11), Berlin/New York 2007, S. VII–XXII sowie Erika Fischer-Lichte, Theater und Fest – Anmerkungen zum Verhältnis von Theatralität und Ritualität in den geistlichen Spielen des Mittelalters, in: ebd., S. 3–17. 5 Das bedeutet nicht, dass er tatsächlich Priester war. Allerdings werden, wie sich aus den Spielerverzeichnissen rekonstruieren lässt, bestimmte Rollen ( Jesus) oder Funktionen (Spielleiter) häufig von Priestern übernommen (vgl. die Sammlung von Spieldokumenten bei Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, 2 Bde. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 84/85), München 1987). 6 Das Donaueschinger Passionsspiel. Nach der Handschrift mit Einleitung und Kommentar neu hg. von Anthonius H. Touber, Stuttgart 1985; hieraus, jeweils mit der Sigle DP sowie Versbzw. Seitenangaben, die folgenden Zitate; die Übersetzungen stammen von mir. Die Beispiele wurden zwar hauptsächlich aus diesem einen Text gewählt, doch handelt es sich um allgemeine Charakteristika, für die sich zahlreiche Belege aus anderen Passions- und Osterspielen beibringen ließen.

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dern seinen Herrn, der wie ein Priester das Leiden Christi verkünden werde. Dieser – der eigentliche proclamator – beginnt deshalb mit einem Gebet: Almechtiger gott herre Ihesu crist der ye vnd ye gewessen bist himel vnd erde beschaffen hast der firmament gegeben glast verlich vns wisheit krafft vnd stür schick vns des hailigen gaistes für enzind in vns diner liebe flamen die des begeren sprechent amen (DP V. 24–31) (Allmächtiger Gott, Herr Jesus Christus, der du von Ewigkeit her warst, der du Himmel und Erde erschaffen hast, der du dem Firmament sein Licht gabst, gib uns Weisheit, Kraft und Hilfe, schick uns das Feuer des Heiligen Geistes und entzünde in uns die Flammen der Liebe. Die das wünschen, mögen Amen sagen).

Die Versammelten sind eine christliche Gemeinde, die alle Stände übergreift: Ir aller liebsten kind inn gott fröwen vnd man von disser rat rich vnd arm iung vnnd altt ir sigent von adel oder gewalt ieglicher genant in sinem stat (DP V. 32–36). (Ihr innig geliebten Kinder in Gott, Frauen und Männer aus dieser Schar, Reiche und Arme, Junge und Alte, ob von Adel oder mit einem Amt begabt, jedermann in seinem Stand).

In diese Gemeinschaft schließt der Sprecher sich selbst ein: „gott vns allen geben hat“ (DP V. 37, „Gott hat uns allen gegeben“). Er ist ein sündiger Mensch wie die anderen („vns armen sünder“, DP V. 46). Aber er steht der Gemeinde auch gegenüber als der Vermittler von Gottes Wort und als Vorbeter für sie („ir“). Die Anrede „liebe kind“ (DP V. 43) betont das hierarchische Verhältnis zwischen dem ‚Lehrer‘ und den Zuhörern, die er belehrt. Der Spielleiter hat priesterliche Funktionen. Dann erst kündigt er das Spiel an, das die Leidensgeschichte Jesu vor Augen stellen wird: ir werdent ir[!] sehen in menschlicher natur gar menig schön andächtig figur

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die vns armen sünder zegůtt geschechen sint vom höchsten gůt dar vmb das er vns selig macht (DP V. 44–48). (Ihr werdet in menschlicher Gestalt [durch Menschen dargestellt?] manch schönen frommen Vorgang [manch schönes frommes Bild] sehen, der uns armen Sündern zuliebe durch die Güte des Allerhöchsten geschehen ist, damit er uns erlöst).

Eine ,Figur‘ ist anschaubar-präsent, insofern buchstäblich wahr, und sie ist gleichzeitig Erscheinungsform einer unanschaulichen, spirituellen Wesenheit. Durch das Sichtbare soll man zur unsichtbaren Wahrheit vorstoßen. ‚Sehen‘ ist deshalb beim Geistlichen Spiel immer mehr als bloßes Zuschauen, nämlich Stimulus der Meditation. Wir sollen, fordert uns der proclamator auf, „betrachten sin biter sterben vnd liden“ (DP V. 57, „seinen bitteren Tod und sein Leiden betrachten“). Nicht die Wahrnehmung einer gespielten Handlung ist das Ziel, sondern die meditative Versenkung in die Heilsgeschichte. Der Gnadenakt der Erlösung liegt nicht in ferner Vergangenheit, sondern er vollzieht sich immer wieder neu: „wie wol das von vns wirt veracht / dennocht will er sich stätz erbarmen“ (DP V. 49 f., „obwohl wir darauf nicht achten, will er sich trotzdem immer wieder erbarmen“). Noch die Bitte um Ruhe, wie sie für einen ungestörten Ablauf notwendig ist (DP V. 68–71), wird nicht aus den Notwendigkeiten des Spiels begründet, sondern mit „gottes er“ (DP V. 69, „um der Ehre Gottes willen“): Gefordert wird ein kultisches Schweigen vor dem Numinosen. Erst nachdem dieser kultische Rahmen gezogen ist, wird das Spiel eröffnet: „hie mit es angefangenn ist“ (DP V. 81, „hiermit geht es los“). Die Reden des proclamator umgrenzen weniger einen Spielraum als einen kultischen Raum. Die Institutionalisierung des Spiels, wie man sie im Spätmittelalter in vielen Städten beobachten kann,7 leitet sich aus der Institution des religiösen Kultes ab.

II. Doppeladressierungen Die Reden der Akteure im Geistlichen Spiel sind deshalb nicht nur an die Mitakteure gerichtet, sondern sie dienen ebenso der Verkündigung an die versammelte Gemeinde. So kommentiert Joseph von Arimathia die Erweckung des Jünglings von Naim: 7

Spiele sind im gesamten deutschen Sprachraum verbreitet; die überlieferten Spiele stellen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Spielpraxis dar (vgl. Neumann, Schauspiel (wie Anm. 5)).

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Ein grosser prophet ist vff erstanden allen iuden hie ze schanden die kein glouben wend an in han Sehent ir frowen vnd man das got sin volck hie tüt schowen an dissem iüngling vnd der frowen dar vmb so land vns geben got allein die er an allen spot (DP V. 811–818) (Ein großer Prophet ist erschienen, der alle Juden hier zu Schanden macht, die nicht an ihn glauben wollen. Seht, Frauen und Männer, was Gott an diesem Jüngling und an dieser Frau seinem Volk sichtbar vor Augen führt. Darum lasst uns rückhaltlos allein Gott die Ehre geben).

Joseph wendet sich an die Umstehenden; zu diesen zählen die „iuden hie“ (das heißt im Spiel, denn unter den Zuschauern waren keine Juden anwesend). Joseph weiß aber auch schon, dass die Juden leugnen werden, was doch eben für jedermann zu sehen war („die kein glouben wend an in han“). Er nimmt also den Standpunkt dessen ein, der die Geschichte des Christentums und des jüdischen Glaubens kennt. Die „frowen vnd man“, an die er sich richtet, sind nicht nur die anwesenden Gefolgsleute Jesu, nicht nur die Augenzeugen der (gespielten) Szene, denen Gott stellvertretend die Augen öffnen will, sondern meinen „sin volck“ insgesamt, das heißt die gesamte Christenheit. Sie soll das Wunder betrachten. Spielrealität und Gegenwartsrealität bilden eine Einheit. Es gibt nur einen einzigen Verkündungszusammenhang. Erinnernd repräsentierte Heilsgeschichte und als präsent gewusstes Heil fallen zusammen. Das gleiche zeigt sich in der Veronica-Szene,8 die auf einer apokryphen Legende beruht. In der Legende begegnet Veronica Jesus auf dem Gang zur Kreuzigung und will dem blutverschmierten Heiland Linderung verschaffen, indem sie ihm ein Tuch reicht, mit dem er sein Gesicht abtrocknen kann. Wenn sie das Tuch zurück erhält, hat sich Jesu Gesicht darauf abgedrückt. Dieser Abdruck ist das einzige authentische Porträt des Gottessohnes, nachdem zuvor an ihm alle Malerkünste zu Schanden geworden sind. Das Tuch wird deshalb durch die Jahrhunderte als kostbare Reliquie, als vera icon, verehrt. Im Spiel nun erscheint diese Szene von vornherein im Licht der späteren Reliquienverehrung. Damit wird die zeitliche Sukzession zwischen dem Gründungsakt und seiner Heilswirkung, zwischen Ereignis und Erinnerung, 8

Vgl. jetzt Ulrich Barton, Vera icon und Schauspiel. Zur Medialität der Veronica-Szene im mittelalterlichen Passionsspiel, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 133,3, 2011, S. 451–469.

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Ursache und Folge umgedreht. Indem sie Jesus das Tuch bietet, beabsichtigt Veronica nämlich nicht, sein Leiden zu erleichtern, sondern der Christenheit ein Kultbild zu verschaffen. So bittet sie ihn: O Ihesus liebster herre min muß ich von dir gescheiden sin So bitt ich dich doch vmb ein gab da mit ich din gedechtniß hab die bildung von diner angesicht das ich din herre vergesse nicht (DP V. 3183–3188) (Liebster Herr Jesus, wenn ich mich von dir trennen muss, so bitte ich dich doch um eine Gabe, damit ich mich an dich erinnern kann: die Gestalt deines Gesichts, damit ich dich nicht vergesse).

Veronica weiß schon, was die gläubige Menge auch weiß: Dass ihr Jesu körperliche Präsenz entzogen werden wird und dass ein Surrogat für seine Absenz nötig ist, ein Memorialbild nicht nur für sie, sondern für alle Christen. Wenn Jesus sein Gesicht auf das Tuch gedrückt hat, „kert sich veronica ze ring / vmb gegen den lüten zögt / innen dis zeichen“ (DP S. 204, „dreht sich Veronica ringsum zu den Menschen und zeigt ihnen das Zeichen“). Ihre Rede ist wieder doppelt adressiert: Sehent hie ir frowen vnd man daz zeichen so Ihesus hat getan durch sin götlich gnad vnd krafft an siner an gesicht die hie hafft in minem tůch so gar verwundt das sy uch cristen allent kundt da mit ir gloübent zů aller frist das er gewarer got vnd crist vo anfang ie vnd ie ist gewessen in der hochen trinitat zässen dar vmb sond ir erbärmde han mit Ihesu dissem säligen man (DP V. 3189–3200) (Seht hier, Frauen und Männer, das Wunder, das Jesus gewirkt hat mittels seiner göttlichen Gnade und Kraft, an seinem Antlitz, das hier so schrecklich verwundet auf mein Tuch gedrückt ist. Das sei euch Christen allen verkündet, damit ihr immer glaubt, dass er wahrer Gott und Christus von Anfang ewig gewesen ist in der heiligen Dreifaltigkeit. Deshalb sollt ihr Erbarmen mit Jesus, diesem heiligen Mann, haben).

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Der erste Vers („frowen vnd man“) und die letzten beiden Verse könnten sich auch nur an die Umstehenden wenden, denen Veronica das Tuch zeigt und die sie zur „erbärmde“ mit dem blutverschmierten Jesus aufruft. Ein „zeichen“ aber ist die vera icon für sie schwerlich; das ist das Tuch erst „uch christen allent“. Wieder gleitet die Rede von den auf der Szene Anwesenden zu den die Szene Betrachtenden, von den zuschauenden Mitspielern zur zuschauenden Gemeinde. Sie alle sind angesprochen; für sie alle ist Jesus im Abdruck seines Gesichts gegenwärtig.

III. Zeit des Spiels – Zeit der Aufführung Auch die Semantik von ‚heute‘ hebt die Spielfiktion auf. Seit seiner Institutionalisierung, das heißt etwa seit der Renaissance, schneidet das Theater eine besondere Zeit aus dem Kontinuum der alltäglichen Zeit, in der die Zuschauer leben, heraus. Das setzt wieder eine Grenze voraus. ‚Heute‘ hat diesseits und jenseits der Grenze eine andere Bedeutung. Ein im Geistlichen Spiel gesprochenes ‚heute‘ dagegen bezieht sich immer auf beide Zeiten gleichzeitig, die Zeit der dargestellten Vorgänge, das heißt die Spielhandlung, und die Zeit der zuschauenden Gemeinde, ‚jetzt‘, zum Zeitpunkt der Aufführung. Es handelt sich bei diesem meist nicht um ein beliebiges Datum im Jahr, sondern ein im Ablauf des Kirchenjahres fixiertes Fest. Das Kirchenjahr wiederholt die Heilsgeschichte; auch von ihm lässt sich sagen: Es erinnert sie und macht sie zugleich präsent. Deshalb sind beide Zeiten substantiell identisch: Mit dem Zeitpunkt der Aufführung (zum Beispiel am Osterfest) ist zugleich eine ‚Heilszeit‘ gesetzt, die die Urszene des Heils erneuert, die Erlösung durch Jesu Leiden und Auferstehung. Die Osterliturgie erinnert nicht nur durch die Stellung des Festes im Kirchenjahr an das vergangene Heilsgeschehen, sondern lässt es erneut Wirklichkeit werden. Die damals vollzogene Heilswirkung vollzieht sich hier und jetzt an der gläubigen Gemeinde wieder. Das, was grundsätzlich in jeder Messfeier geschieht, wird am Hochfest enger als sonst an jene Urszene rückgebunden. Die Aufführung, die das Passions- oder Ostergeschehen szenisch vor den Zuschauern wiederholt, macht die Präsenz sinnfällig. Die spielimmanente und die spielexterne Deixis sind auf ein und denselben heilsgeschichtlichen Prozess bezogen, der sie beide umgreift. Deshalb meint ‚heute‘ in der vorgeführten Handlung zwar die Zeit des repräsentierten Geschehens (etwa Leiden, Sterben und Auferstehung des historischen Jesus), aber auch die Präsenz des Heils, das sich immer neu vollzieht.

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Das wird in den Spielen direkt ausgedrückt. Im „Redentiner Osterspiel“9 werden zum Beispiel die ‚in dieser Zeit‘, ‚hier‘ – das heißt zur Betrachtung des Spiels – Versammelten, wie folgt, angeredet: Vrowet ju an desser tid: Gy moghen werden van sunden quyt. Got de wil in desser tyt losen De dar laten van dem bosen. De dar huten myt gade upstan, de scholen vrig van sunden gan. (RO V. 11–16) (Freuet euch in [genauer: an] dieser Zeit: ihr könnt frei von Sünden werden. Gott will in dieser Zeit die erlösen, die von dem Bösen ablassen. Die heute mit Gott aufstehen [besser: auferstehen], die werden frei von Sünden [weg]gehen. [Übersetzung auf Basis von Schottmann, vgl. RO S. 23]).

Mit ‚dieser Zeit‘ ist im ersten Vers vermutlich die Zeit des Kirchenjahres gemeint, die österliche Zeit, die aber mehr als das kontingente Datum der Aufführung ist, nämlich eine Zeit besonderer Gnade, dann aber auch der Tag der Auferstehung Jesu. Beides verschmilzt im Versprechen an die, die „dar huten myt gade upstan“, sie würden von Sündenschuld befreit. Es sind die Zuschauer, die Gottes Auferstehung und seinen Sieg über den Tod erleben und darin zugleich ihre eigene Erlösung. Ähnlich beziehen sich am Ende des Stücks die Worte des conclusor zwar zunächst auf das eben aufgeführte Spiel und seine eventuellen Unvollkommenheiten, dann aber hauptsächlich auf die Heilsbotschaft des Spiels, die Überwindung der Hölle und das Versprechen des Paradieses: Unde heft der duvele helle tobraken Unde heft uns dat paradis ghegheven, Dar wy scholen ewighen myt em leven. Des wille wy uns vrowen in allen landen Unde synghen: „Cristus is up ghestanden! (RO V. 2021–2025) ([Gott] hat die Hölle der Teufel zerbrochen und hat uns das Paradies gegeben, wo wir ewig mit ihm leben werden. Deshalb wollen wir uns überall freuen und singen: Christ ist auferstanden! [Übersetzung von Schottmann, vgl. RO S. 171]).

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Das Redentiner Osterspiel. Mittelniederdeutsch und neuhochdeutsch, übersetzt und kommentiert von Brigitta Schottmann, Stuttgart 1975. Im Folgenden abgekürzt mit RO.

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In der Heilsgewissheit sollen alle den in die Osterliturgie gehörigen Gesang „Christ ist erstanden“ anstimmen. Das Spiel geht in den Kult über. Dieser Übergang ist noch deutlicher in Prozessionsspielen. Die Gemeinde nimmt am kultischen Vollzug, dem Umzug mit dem Sakrament, teil, doch zugleich werden ihr stationenweise die heilsgeschichtlichen Ereignisse vorgeführt.10 Wieder sind Repräsentation eines vergangenen Geschehens und Vergegenwärtigung von Heil zusammengeschlossen.

IV. Kult und Aggressionsritual Die Spiele unterscheiden sich nicht zuletzt dadurch von den paraliturgischen Feiern im Anschluss an kirchliche Hochfeste, dass die widergöttliche Gegenwelt ausführlich zu Wort kommt. Der Spielraum dieser Gegenwelt ist freilich durch die Heilsgewissheit begrenzt. Trotzdem scheinen die ausgedehnten Beschimpfungsrituale und Aggressionsphantasien der Spiele weder für den Verkündigungszweck noch für die erinnernde Darstellung der Passion notwendig. Zwar denunzieren sie die Grausamkeit der Henker; aber auch unter diesem Aspekt haben sie etwas Überschüssiges, sodass in ihnen am ehesten der kultische Rahmen gesprengt scheint. Doch zeigt sich, dass auch hier die theatrale Mimesis kultisch verankert ist. Rainer Warning hat vor Jahren auf den daraus resultierenden latenten Manichäismus und die Ähnlichkeiten der entsprechenden Szenen mit dem Sündenbockritual hingewiesen.11 Zwar kann der Gottessohn nicht Sündenbock sein. Das Selbstopfer des Lamms Gottes ist radikale Negation des Sündenbockrituals; in der Eucharistie wird die Passion durch ein unblutiges Opfer ersetzt.12 Sündenbock ist Jesus allenfalls aus der Perspektive seiner Feinde, der Juden.13 Tatsächlich heften ihm seine Peini10 Prozessionsspiele waren vor allem in England verbreitet; für Deutschland fehlen, meines Wissens, vergleichbare Belege; vgl. zu ihrem Status jetzt grundsätzlich Werner Röcke, Realpräsenz des Heiligen und karnevaleske Verkehrung. Annäherungen an das ‚ganz Andere‘ in geistlichen und weltlichen Prozessionsspielen des Mittelalters, in: Katja Gvozdeva / Hans Rudolf Velten (Hgg.), Medialität der Prozession. Performanz ritueller Bewegung in Texten und Bildern der Vormoderne, Heidelberg 2011, S. 307–322. 11 Rainer Warning, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 35), München 1974, S. 184–243; vgl. René Girard, Der Sündenbock, Zürich 1988 (frz. Erstausg. 1982); vgl. ders., Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987 (frz. Erstausg. 1972). 12 Zur Verabschiedung des Opfer- und Verfolgungsgedankens s. Girard, Sündenbock (wie Anm. 11), S. 281–300; vgl. ders., Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, Freiburg u. a. 1983 (frz. Erstausg. 1978). 13 In diese Richtung deutet zwar der Satz des Hohenpriesters (Io 11,50): „Es ist besser, dass ein Mensch sterbe für das Volk“, – hierzu Girard, Sündenbock (wie Anm. 11), S. 164–171 – doch handelt es sich nur scheinbar um einen Sündenbock, d. h. eine in ihrer Abwegigkeit identifizier-

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ger in einigen Passionsspielen typische soziale (z. B. „abentürer“, DP V. 2842, „Vagabund“) oder physische (zum Beispiel roter Bart, DP V. 2697; eine lange Nase, DP V. 2641) Anomalien an und stilisieren ihn zum Verbrecher („verreter“, DP V. 2544, „dieb“, ‚Krimineller‘, DP V. 2652); in ihren Reden trägt er damit die Opferzeichen des Sündenbocks. Das ist zwar nur die Sicht seiner gottlosen Gegner, aber indem die Zeichen genannt werden, gibt es eine Figur, die als Sündenbock identifizierbar ist.14 Die Aggressionsrituale sind insofern Kippphänomene. Durch die Beschimpfungen des Erlösers kommt eine Dimension ins Spiel, die mindestens einigen der geistlichen Kritiker unheimlich war, da sie zu einer Degradation des Heiligen führen konnte.15 Die verbalen Aggressionen könnten die Kultgemeinde gefährden (und haben dies wohl auch gelegentlich getan), wobei allerdings diese Gefährdung wieder selbst einen kultischen Hintergrund hat. Bekanntlich wurden im Umkreis der Aufführung besondere Schutzmaßnahmen für die Juden – in Form eines Ausgehverbots – ergriffen, da man die Wut der Christen auf die ‚Gottesmörder‘ fürchtete und den Ausbruch von Pogromen verhindern wollte. In der Tat dürften die verbalen Grausamkeiten der Henker die Emotionen der christlichen Gemeinde gefährlich aufgepeitscht haben. Es schien nahe zu liegen, sie durch Ausschreitungen gegen die Juden abzureagieren, gegen eine Gruppe, die in der Stadt lebte, jedoch aus der stadtbürgerlichen Gemeinde exkludiert war. Die Gemeinde, die sich als christliche versteht, stabilisiert ihre Identität durch die Denunziation der anderen, die den sakralen Kern, der ihre Christlichkeit begründet, verhöhnen. Sie braucht die Grausamkeit der ausgeschlossenen Anderen, der Juden, um sich ihrer selbst zu versichern. Der den Juden unterstellte Sadismus kann im Spiel lustvoll und gefahrlos ausagiert16 und zugleich durch die Projektion auf die ‚Anderen‘ auf Distanz gebracht werden. Diese ambivalente Mobilisierung der christlichen Gemeinde lässt sich am Vorgang der Kreuzigung ablesen. Die stumpfen Nägel, mit denen Jesus gekreuzigt wurde, sollen wie in den Passionsmeditationen das Mit-Leiden des Betrachters intensivieren. Aber das ist nicht alles. Im Spiel nimmt der bare Stigmatisierung (ebd., S. 172 f.); zu dieser Projektion auch Müller, Mimesis (wie Anm. 3), S. 563–568. 14 Vgl. zur „Opferselektion“ Girard, Sündenbock (wie Anm. 11), S. 30–32. 15 Neumann, Schauspiel (wie Anm. 4), zu den Kritikern bes. S. 869–873, S. 876–878 und S. 880– 928. 16 Warning hat das Artistische und Rondeauhafte der Folterszenen an den Spielen von Valenciennes herausgearbeitet: Rainer Warning, Hermeneutische Fallen beim Umgang mit dem geistlichen Spiel, in: Wolfgang Harms / Jan-Dirk Müller (Hgg.), Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 29–41.

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Zuschauer an der Zurichtung der Nägel teil, malt sich ihre schreckliche Wirkung aus: dis nagel sind doch vil ze spitz ich wil sy etwas stumpfer machen des selb mag Ihesus nit gelachen (DP V. 3274–3276). (Diese Nägel sind aber viel zu spitz; ich werde sie etwas stumpfer machen; da wird Jesus nichts zu lachen haben).

Stumpfe Nägel verletzen das Fleisch mehr. Zusätzlich sollen sie zu weit auseinander stehen, damit Jesu Körper schmerzhaft gezerrt wird, wenn man ihn ans Kreuz schlägt. Das ist als Anspielung auf einen Psalm zwar auch wieder theologisch deutbar.17 Die Deutung aber ist im Spiel ausgespart; es bleibt die bloße Ausmalung einer schrecklichen Hinrichtung. bor die löcher vngemessen wie wend dem lugner nit vergessen (DP V. 3281 f.) (Bohr die Löcher, ohne nachzumessen; wir wollen schon daran denken, dem Lügner [zu geben, was er verdient]).

Die Kreuzigung erfordert Fleiß und Sorgfalt. Daher immer wieder das Schimpfen der Henker auf die „fullen wicht“ (DP V. 3253, „faulen Burschen“), die „fullen knecht“ (DP V. 3271, „faulen Knechte“), die es an verantwortungsbewusstem Foltern fehlen lassen. Die Henker sind bei ihren Quälereien mit Lust und Liebe dabei: „das wil ich tün von herzen gern“ (DP V. 3277, „das werde ich von Herzen gern tun“). Inszeniert wird eine veritable Exekution, bei der sich der Hass der Menge auf den Delinquenten richten soll. Und wie beim Massenspektakel der Hinrichtung sonst auch wird die Menge eingeladen, sich das packende Schauspiel nicht entgehen zu lassen. In der öffentlichen Hinrichtung feiert die Gesellschaft den Triumph des Gesetzes. Die Henker und ihre Helfer nehmen die Position ein, die die Menge bei Hinrichtungen üblicherweise erwartet. Ihre Reden mobilisieren Affekte gegen einen Verbrecher. Ihre Worte formen sich zu „Verfolgungstexten“.18 Jeder Christ aber weiß, dass diese Worte eine ungeheuerliche Gotteslästerung sind. Es handelt sich um eine Hinrichtung deu17 Die Metapher ‚Jesus ans Kreuz gespannt‘, seine Gliedmaßen als ‚Saiten‘ einer ‚Harfe‘, die eine neue Weltharmonie anzeigt (vgl. Frederick P. Pickering, Literatur und darstellende Kunst im Mittelalter, Berlin 1961, S. 110, S. 153 und S. 177), wird buchstäblich umgesetzt. 18 Girard, Sündenbock (wie Anm. 11), S. 20; vgl. Ders., Ende (wie Anm. 12), S. 124–142.

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xième degré; durch die szenische Rahmung und die Bindung an eine ‚falsche‘ Sprecherinstanz schlagen die Verfolgungstexte auf die Verfolger zurück; das von ihnen bezeichnete Opfer ist kein Verbrecher, sondern der Heiland. Die falsche Stigmatisierung des Opfers soll in seine gemeinsame kultische Verehrung umschlagen; deren Folie ist aber der Hass auf diejenigen, die den Erlöser zum Sündenbock stigmatisierten. Das Spiel ist der Katalysator für den kultisch bedingten Ausschluss der ‚Anderen‘.

V. Fiktion Allen Zuschauern ist bewusst, dass es sich nur um gespielte Heilsgeschichte handelt, doch von der Fiktionalität eines neuzeitlichen Schauspiels ist das Geistliche Spiel radikal geschieden. Das lässt sich gerade dort zeigen, wo es, wie im Donaueschinger Passionsspiel, Fiktionssignale, ‚Als-ob‘-Formeln, wie Gerhard Wolf19 sie genannt hat, gibt. Die Fiktionssignale richten sich auf die Glaubwürdigkeit der Darstellung, nicht auf die Realität des Dargestellten. Etwas, das einmal wirklich war und durch das Evangelium seine Wirkkraft bis in die Gegenwart entfaltet, soll täuschend echt vor Augen gestellt werden. So heißt es: in dem / tüt pilatus fröw als ob sÿ schlieff “(DP S. 194) (jetzt tut Pilatus’ Frau so, als schliefe sie). vnd gat malchus vor dran / als ob er den saluator allen well / fachen das er sicht petrus vnd / zuckt sin schwert vnd schlecht / malchus zum kopff der falt den / nider als ob im ein or ab sy so gat / der saluator hin zů vnd thůt glich / als er im daz or wider an satzt (DP S. 154) (Malchus tritt vor, als ob er den Erlöser gefangen nehmen wolle. Das sieht Petrus und zieht sein Schwert und schlägt auf Malchus’ Kopf zu. Der fällt nieder, als ob ihm ein Ohr abgeschlagen sei. Da tritt der Erlöser hinzu und tut so, als setzte er ihm das Ohr wieder an).

Die erste Anweisung hält für einen vielleicht ungeübten Spieler oder Zuschauer des Spiels die Notwendigkeit fest, Schlaf zu mimen. Aufforderungen 19 Gerhard Wolf, Inszenierte Wirklichkeit und literarisierte Aufführung. Bedingungen und Funktion der ‚performance‘ in Spiel- und Chroniktexten des Spätmittelalters, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17) , Stuttgart/Weimar 1996, S. 381–405, insbes. S. 387 f.

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dieser Art gibt es im Donaueschinger Passionsspiel viele. Sie dürften bei den meisten anderen Spieltexten nur nicht explizit gemacht worden sein, wenn diese das, was man auf der Szene sehen soll, einfach erzählen oder in Rede und Gegenrede entfalten, ohne den Charakter des bloßen Vorgebens zu betonen; auch dort dürfte klar gewesen sein, dass die Vorgänge nur gespielt sind. Eine historia aber ist wahr. Pilati Frau schlief tatsächlich und hatte einen Traum, der dem Evangelisten Matthäus zufolge ihr, der Heidin, die Unschuld Jesu offenbarte. Sie ist Glaubenszeugin. Im zweiten Fall soll der Zuschauer den Theatertrick, dass Malchus ein Ohr abgeschlagen und wieder angesetzt wird, möglichst nicht bemerken, denn auch dieser Trick, die theatrale Illusion, steht im Dienst der erzählten und gedeuteten ‚historischen‘ Wahrheit. Er führt vor Augen, dass der Erlöser sich opfert und jede Gegenwehr vereitelt, ‚damit die Schrift erfüllt werde‘. An der Wirklichkeit und Bedeutsamkeit des Wunders besteht kein Zweifel. Auch wenn Judas bei seinem Selbstmord vom Teufel stracks vor aller Augen in die Hölle expediert wird, dann hat der entsprechende Theatertrick nicht die Aufgabe, den Blick „sehr nachdrücklich auf den Spielcharakter der Aufführung“ zu lenken und durch „aufwendige Inszenierungen [der Höllenfahrt] eine eigene Bühnenwirklichkeit [zu schaffen], die eben als eigenständig ästhetische erscheint und das Spiel als solches transparent macht“.20 Vielmehr geht es um die illusionsgestützte Visualisierung von etwas, das wirklich war und ist. Das Spiel fingiert nicht und will die Aufmerksamkeit nicht auf die theatrale Inszenierung hinlenken. Der Vorgang steht nicht unter einem Fiktionskontrakt, so wenig wie der Schlaf der uxor Pilati oder die Heilung des Malchus. Malchus und Judas sind wie die Frau des Pilatus Figuren der Spielhandlung; ihre Rollen kann man wie bei jedem Schauspieler von den Alltagsrollen ihrer Darsteller unterscheiden. Doch verkörpern sie etwas, das unabhängig von der Fiktion gilt. Das Wunder kann nicht wiederholt werden, wohl aber mit einem Theatertrick veranschaulicht. In ihm wird ‚Heil‘ bzw. ‚Heillosigkeit‘ sichtbar, wie sie ein für alle Male in der Geschichte der Erlösung Wirklichkeit wurden und wie sie heute noch das Leben der Christen bestimmen. Das Als-ob bezieht sich in allen Fällen ausschließlich auf die äußerliche Inszenierung eines spirituellen Sachverhalts. Die vom proclamator angekündigten „menig schön andächtig figur“ („manche schönen frommen Bilder“) sind nicht bloße Allegorien, sondern „vns armen sünder zegůtt“ tatsächlich „geschechen“ (DP V. 45–47, „uns armen Sündern zuliebe tatsächlich geschehen“). Die Wunde des Malchus wurde tatsächlich geheilt; die spirituelle 20 So Wolf, Wirklichkeit (wie Anm. 19), S. 389.

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Bedeutung des Dargestellten mindert nicht seinen Literalsinn. Das theatrale Als-ob ist aufgehoben in der religiösen Wahrheit. Das Gleiche gilt für die übrigen Wunder Jesu, die ohne Theatertrick auskommen, die Heilung eines Blinden, eines Lahmen und eines Kranken (DP S. 75–77) oder die Erweckung des Knaben in Naim, der auf einer Bahre gebracht wird, „als ob er tod were“ (DP S. 90). Natürlich ist der Spieler nicht tot, aber die „figur“ zeigt eine Totenerweckung, die Jesu Sieg über den Tod augenfällig macht. Der Theatertrick ist für die Geltung des Dargestellten also sekundär; er soll durch Augenschein Glaubwürdigkeit verschaffen, was bei der angeblichen Erweckung des ‚Toten‘ nicht nötig ist. Was zu sehen ist, ist so oder so wahr. Die Vorführung des Heilsgeschehens hat einen substantiellen Kern. Das Spiel zeigt nicht nur den Akt der Erlösung, es hat an ihm Teil. Das intrikate Verhältnis von fictum und factum lässt sich auch am Schweißtuch der Veronica demonstrieren. Veronica zeigt das Tuch, auf dem der Spieler von Jesus scheinbar sein blutverschmiertes Gesicht abgedrückt hat; diese Illusion wird dadurch erzeugt, dass auf dem Tuch „ein veronica gemalet sin“ soll (DP S. 204, „eine vera icon gemalt sein“): ein doppeltes Als-ob. Das bemalte Tuch simuliert den Abdruck des Gesichts, und es simuliert das Kultbild, die Reliquie, die den Abdruck für das gläubige Volk festhält. Es ist weder der Abdruck des Gesichtes des Schauspielers noch die vera icon, der wahre Kultgegenstand. Im Spiel kann nicht die vera icon gezeigt werden, sondern nur „ein veronica“. Aber der Vorgang insgesamt, die compassio Veronicas, ihr Impuls, dem leidenden Jesus ein Tuch zu reichen, dessen Vermächtnis in der vera icon, deren Aura, die noch die Replik, die gemalte „veronica“, ausstrahlt, sind ‚wahr‘, und sie sollen echte Verehrung auslösen. Für sie gilt das fiktionale Als-ob nicht, so wenig wie für das Erlösungswerk insgesamt, auch wenn es nur im Spiel vorgeführt wird. Gezeigt wird die Urszene christlichen Mit-Leidens und die Urszene eines Kults, der heute und immerdar verbindlich ist.

VI. Spiel und Fest Das gilt für vormoderne Spiele allgemein. In ihnen ist der Referenzbezug, das heißt der Bezug auf eine Realität außerhalb des Spiels, nicht gekappt. Sie sind durchweg in übergreifende Vollzüge eingebettet, die man vielleicht allgemein als ‚Fest‘ bezeichnen könnte.21 Das Fest unterbricht den Alltag und skandiert seinen Rhythmus. Es kann durch ein Spiel ausgeschmückt werden, aber wird 21 Fischer-Lichte, Theater (wie Anm. 4).

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unabhängig vom Spiel gefeiert. So gibt es Jahreszeitenfeiern, etwa bei Beginn des Frühlings, bei denen Spiele aufgeführt wurden wie etwa Neidharts „Veilchenschwank“. Dass hier ein fiktiver Sänger und ein fiktiver Hof beim Anbrechen des Frühlings durch einen unflätigen Bauern hereingelegt werden, ist jedem Zuschauer als bloßes Spiel durchschaubar, ohne dass dadurch der Anlass des Spiels, die Feier des Frühlings, in irgendeiner Weise ‚fiktionalisiert‘ würde. Er verbindet die Spielhandlung mit dem Fest. Die Fiktionselemente grenzen das Spiel nicht aus der Festrealität aus, sondern nehmen auf sie Bezug. Die Feiernden sehen, wie der fiktive Hof, der gleichfalls feiern will, am Feiern gehindert wird, und das Lachen über die düpierten Spieler gehört wieder zur Heiterkeit des wirklichen Festes. Auch hier ist die Grenze zwischen Spiel und Realität, zwischen Spielern und Publikum unfest. Ähnlich unfest ist sie bei der Inszenierung von Turnieren. Ein Turnier ist ein sportliches Ereignis und dient dem Kräftemessen. Es findet vor Zuschauern statt, doch kann mindestens ein Teil der Zuschauer selbst zu Teilnehmern werden. Ein Turnier kann auch in Form einer Spielhandlung stilisiert sein. Dann sind einige Rollen festgelegt, ohne dass dadurch der Charakter eines sportlichen Wettkampfes verloren ginge. So fordert ein ganzes Jahr lang der burgundische Ritter Jacques de Lalaing Standesgenossen heraus, sich mit ihm als dem Verteidiger der Quelle der Tränen und ihrer Dame im Kampf zu messen.22 Jacques stilisiert sich damit zum Romanhelden und bewährt sich als überlegener Turnierkämpfer; seine Gegner suchen nur den sportlichen Wettkampf. Durch beides gewinnt Jacques ritterliches Renommee und verschafft sich im burgundischen Adel einen Distinktionsgewinn. Ist das allegorisch arrangierte Turnier von anderen Wettkämpfen, in denen man nur kämpft, kategorial verschieden, weil das Drehbuch seiner Kämpfe eine allegorische Handlung erzählt? Auch die bei Hof beliebten Tierhatzen waren realer Vollzug und Spektakel zugleich: Am Ende einer solchen Hatz ist das gejagte Tier tatsächlich tot (anders als der Schauspieler im Theater, der munter vor den Vorhang treten kann), was nicht ausschließt, dass die Jagd als prächtiges Schauspiel inszeniert werden kann, bei dem man die Fähigkeiten der Akteure bewundern soll, und dass sie mit allerhand, zum Beispiel mythologischen, Fiktionen ausgestattet 22 Vgl. Gert Melville, Der Held in Szene gesetzt. Einige Bilder und Gedanken zu Jacques de Lalaing und seinen Pas d’armes de la Fontaine des Pleurs, in: Müller (Hg.), Aufführung und Schrift (wie Anm. 19), S. 253–286. In rudimentärer Form geschieht das Gleiche schon auf der Venusfahrt und beim Artus-Turnier Ulrichs von Liechtenstein. Doch scheint es dort keine eigentliche Spielhandlung gegeben zu haben. Anders ist das vor allem in den spätmittelalterlichen Turnieren in Burgund, denen ausgefeilte Drehbücher zugrundeliegen.

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wird, indem der jagende Fürst sich mit Diana, Orion oder wem immer misst. Auch hier gibt es zahlreiche Zwischenstufen zwischen sportlicher Übung und Schau-Spiel. Im Drama der Frühen Neuzeit, in den Tragödien Shakespeares etwa, speist sich aus solchen Aktionen dann nur noch der Metaphernfundus theatraler Handlungen.23 In den Festspielen des Conrad Celtis sind ein Huldigungsritual gegenüber Kaiser Maximilian I., eine Dichterkrönung und – das eigentliche Spiel – ein Auftritt mythologischer Figuren miteinander verbunden.24 Im „Ludus Dianae“ findet der Huldigungsakt tatsächlich vor dem versammelten Hof statt; die Aufführung mündet in einem Festbankett, an dem Spieler wie Hofleute teilnehmen. Dieser Huldigungsakt wird im zweiten Festspiel, der „Rhapsodia“, durch eine gespielte Huldigung ersetzt. Da nämlich der Kaiser bei der Aufführung nicht anwesend war, wurde er ebenso wie die sieben Kurfürsten gleichfalls von Spielern dargestellt. Der Huldigungsakt war also ebenfalls Theater. Anders war das jedoch mit dem zweiten ins Spiel eingelassene Ritual, der Dichterkrönung. Im „Ludus Diane“ hatte Maximilian selbst sie vorgenommen, in der „Rhapsodia“ handelte dagegen Celtis anstelle des Kaisers. Rechtlich waren diese beiden Akte trotzdem gleichwertig. Celtis hatte von Maximilian das Recht, Dichter zu krönen, verliehen bekommen; die scheinbar ‚bloß‘ theatrale Krönung war insofern ein verbindlicher Rechtsakt, aus dem der Gekrönte künftig reale Rechte ableiten konnte, auch wenn die Krönung im Rahmen theatraler Maskerade stattfand.25 Die Huldigung hingegen war im zweiten Fall nur gespielt, aber als symbolische Kommunikation über die politische Ordnung gleichfalls nicht ‚fiktional‘. Im Druck, der beide Ereignisse festhielt, kollabierte vor der politischen Öffentlichkeit ohnehin die Grenze zwischen gespieltem und tatsächlich vollzogenem Akt. 23 Andreas Höfele, Sackers on the Bear, in: Herbert Grabes (Hg.), Literary History / Cultural History. Force-fields and Tensions (Yearbook of Research in English and American Literature 17), Tübingen 2001, S. 161–177; Ders., Humanity at Stake. Man and Animal in Shakespeare’s Theatre, in: Peter Holland (Hg.), Theatres for Shakespeare (Shakespeare Survey 60), Cambridge 2007, S. 118–129; Ders., Stage, Stake, and Scaffold. Humans and Animals in Shakespeare’s Theatre, Oxford 2011. 24 Conradus Celtis Protucius, Ludi scaenici (Ludus Dianae – Rhapsodia), hg. von Felicitas Pindter (Bibliotheca scriptorum medii recentisque aevorum, Saecula XV–XVI, 13), Budapest 1945; hierzu Jan-Dirk Müller, Maximilian und die Hybridisierung frühneuzeitlicher Hofkultur. Zum „Ludus Diane“ und der „Rhapsodia“ des Konrad Celtis, in: Sieglinde Hartmann / Freimut Löser (Hgg.), Kaiser Maximilian I. (1459–1519) und die Hofkultur seiner Zeit ( Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 17), Wiesbaden 2009, S. 3–21; dort genauer zu den einzelnen Formen der Überblendung von Fest und Theater. 25 Zur Dichterkrönung Albert Schirrmeister, Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert (Frühneuzeitstudien N. F. 4), Köln u. a. 2003; John L. Flood, Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-bibliographical Handbook, 2 Bde., Berlin/New York 2006.

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Diese Verschränkung von politischem Akt und fiktiver Spielrealität zeigen auch die „Hechos del Condestable Don Miguel Lucas de Iranzo“.26 Der Text berichtet von der Feier einer adeligen Hochzeit, bei der die Hochzeitsgesellschaft plötzlich mit einem aus einem Nebenzimmer kommenden feuerspeienden Ungeheuer konfrontiert wurde, aus dessen Maul brennende Menschen sprangen. Das Nebenzimmer war von dem Raum getrennt, in dem sich die Festgesellschaft aufhielt, befand sich aber auf derselben Realitätsebene wie diese; es gibt eine Grenze, aber es ist keine Grenze zwischen einer fiktionalen und einer nicht-fiktionalen Welt; das Ungeheuer bewegt sich in beiden Räumen. Es wird umständlich erzählt, wie die Theatereffekte zustande kommen, denn natürlich brennen die Akteure nicht wirklich, obwohl sie dank naturgetreuer Darstellung – ‚als ob sie brännten‘ – Schrecken auslösen. Aber die Illusionseffekte sind nur die eine Seite. Die brennenden Pagen sagen nämlich, sie kämen aus einem fernen Land, wo bösartige Feinde sie angegriffen und ihnen alles geraubt hätten, so dass sie jetzt Schutz beim Hochzeitspaar, dem Grafen und der Gräfin Iranzo, suchen müssten. Alles ist Fake, bis auf diesen letzten Umstand, den Huldigungsakt gegenüber dem hochzeitenden Paar; der ist echt. Die angeblich aus ihrer Heimat vertriebenen Spieler sagen, was die Untertanen von Graf und Gräfin erwarten, und bescheinigen ihnen, ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Damit bestätigen sie die beiden in ihrer Herrenrolle.

VII. Der „Triumph zu Bintz“ Abschließend soll ein besonders verwickelter Fall der Interferenz von Sport, politischem Ritual, Spiel und Romanliteratur beschrieben werden. Im August 1549 richtete Maria von Ungarn, die Regentin der spanischen Niederlande, für ihren Bruder, Kaiser Karl V., und ihren Neffen Philipp (II.), den künftigen König von Spanien, in Binche (Bintz) im Süden der spanischen Niederlande mehrtägige Festlichkeiten aus, in deren Zentrum der ritterliche Kampf um das Schloss eines bösen Zauberers stand. Das Ereignis erregte großes Aufsehen und war Gegenstand mehrerer zeitgenössischer Berichte. Einer wurde 1550 bei Egenolf in Frankfurt gedruckt.27 Wo Egenolf gleich mit den 26 Hans Ulrich Gumbrecht, Für eine Erfindung des mittelalterlichen Theaters aus der Perspektive der frühen Neuzeit, in: Johannes Janota u. a. (Hgg.), Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 2 (Fortuna vitrea 8), Tübingen 1992, S. 827–848, hier S. 835–837. 27 Thournier / Kampff / vnnd Ritterspiel / Jnn Eroberunge aines Gefährlichenn Thůrns / vnnd Zauberer Schloß […]. Zu Ehren dem Hochgebornen Durchleuchtigen Fürsten vnd Herrn / Herrn Philipsen / Princen auß Hispanien etc. Zu Bintz vnd Marienberg Ritterlich gehalten. […] Auß anschickung der […] Fürstinn. Fraw Marien zu Vngern vnnd Behem Königinn […] zůgericht vnd

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sportlichen Wettkämpfen in Binche einsetzt, spannt eine andere Überlieferung den fiktionalen Rahmen weiter und setzt schon vor der Ankunft des Kaisers und seines Sohnes ein: Ein ‚irrender Ritter‘ brachte ihnen in Brüssel einen Brief, der sie aufforderte, nach Binche zu kommen und die Welt von dem dort sein Unwesen treibenden ‚Zauberer‘ zu befreien.28 Karl und Philipp kamen mit einem großen Gefolge aus dem niederländischen, spanischen, deutschen und italienischen Adel. Die Festlichkeiten bestanden aus mehreren Teilen, in deren Mittelpunkt jeweils ritterliche Wettkämpfe standen, einmal mehr, einmal weniger in eine Spielhandlung eingefügt. Am Anfang stand ein Turnier im Schlosshof zu Binche, zunächst Einzelkämpfe zu Fuß, denen sich ein „Thournier vber die Schrancken“ zu Pferd anschloss (Bl. A4v), es folgten – in einer eigens aufgebauten Ephemerarchitektur – „Die Abentheur des Finstern Schloß“ (Bl. B1r), dann – in anderen Kulissen – die fiktive Eroberung eines „Rawb Schloß“ (Bl. D1r) und zuletzt ein Turnier auf dem Marktplatz (Bl. D2v), dazwischen Tänze und Bankette. Die Kämpfe um das Zauberschloss folgten einem zuvor festgelegten Drehbuch, die Eroberung des Raubrittersitzes hatte ebenfalls einen festen Verlauf, doch auch die anderen Abschnitte waren streng durchchoreographiert. Theatrale Fiktion, Spiel, Wettkampf, höfischer Repräsentationsakt und politische Demonstration sind kaum voneinander abzugrenzen – anders als das Englische kann das Deutsche nicht einmal zwischen play und game unterscheiden. Der Bericht erzählt von unterschiedlichen Kommunikationsakten, die unablässig ineinander übergehen und immer wieder zwischen Alltagsraum, Sportarena und Schauspielraum wechseln. Beim ersten Turnier werden zuerst die Spielregeln verzeichnet, die unter anderem gewährleisten sollen, dass aus dem Spiel nicht Ernst wird. Ganz gelingt das nicht; es gibt immer wieder Verletzte; ein Ritter wird fast getötet: Die Spielrealität ist überwiegend, aber nicht vollständig aus der Alltagsreavolnbracht, Frankfurt a. M. 1550. Der Titel Bl. D4r. – Ich verdanke die Kenntnis dieses Textes Elaine Tennant (Berkeley). Eine genaue Untersuchung des Berichts, die freilich nicht auf die hier interessierende Fragestellung eingeht, lieferte Emily Peters, 1549 Knight’s Game at Binche. Constructing Philip II’s Ideal Identity in a Ritual of Honor, in: Reindert Falkenburg u. a. (Hgg.), Hof-, Staats- en Stadceremonies (Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 49), Zwolle 1999, S. 10–35. Der insgesamt grundlegende Artikel enthält wohl wegen sprachlicher Missverständnisse einige kleinere Ungenauigkeiten, was den Ablauf betrifft. Bedauerlicherweise wird, wie inzwischen leider üblich, die nicht-anglophone Forschung zum Hof des 16. Jahrhunderts nicht zur Kenntnis genommen. Der Aufsatz fällt deshalb hinter den Forschungsstand zurück. Bedenklicher noch ist, dass die frühneuzeitliche Fraktur offenbar nicht mehr sicher gelesen werden kann: Im dadurch völlig unverständlichen Zitat in Anm. 17 sind f und s longa sowie t und k verwechselt. 28 Nach Peters, Knight’s Game (wie Anm. 27), S. 11. Der fiktionale Rahmen reicht hier also vor den Beginn des Turniers zurück. Egenolfs Text spricht nur von der Einladung Marias von Ungarn.

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lität ausgegrenzt; ein Turnier ist eben auch ein bewaffneter Kampf.29 Der Schlosshof von Binche ist dabei wie eine Bühne hergerichtet mit „Antiquischen Wehren vnd Waffen geziert“ (Bl. A3r): Schon dieses Turnier führt also ein Stück weit aus der Alltagswelt hinaus, obwohl es um das Renommee in dieser Alltagswelt geht. Die Turnierkämpfer rekrutieren sich zumeist aus dem niederländisch-burgundischen Adel. Man erfährt ihre Namen und in welcher der vorgeschlagenen Waffengattungen sie sich hervortun. Sie treten in einer offenbar geordneten Folge nacheinander gegen sechs Ritter an, die sie, der Ausschreibung zufolge, in mehreren Disziplinen herausgefordert haben. Der Prinz von Spanien gehört zur letzten Gruppe im Massenkampf. Ausführlich beschrieben werden die „kostbarliche[] Rüstung vnd Kleydung“ (Bl. A3r) der Turnierkämpfer: Stoff, Farbe, Schnitt, Schmuck. Es handelt sich um einen festlichen Auftritt des Hofstaats zu Ehren des Kaisers und seines Sohnes. Am Ende werden die Kampfpreise verteilt, denjenigen im Massenkampf erhält der junge Fürst. Das aber zeichnet dem offenen Wettkampf schon eine feste politische Struktur ein; die Preisverleihung enthält eine politische Aussage: Der künftige König von Spanien steht an der Spitze seiner Ritterschaft. Die politische Demonstration ist mit fiktionalen Elementen durchsetzt: Wer die Herausforderung zum Zweikampf annimmt, muss eine Feder berühren, die die „Jungfraw von Systeltyne“ trägt (Bl. A2v); ihr Name spielt auf eine Gestalt aus dem „Amadis“-Roman an.30 Die Turnierkämpfer projizieren sich in eine Romanwelt, die, wie ihre Gewänder zeigen, weit prächtiger ist als die gewöhnliche. Einige treten aber auch gar nicht als Ritter auf; sie sind verkleidet, als Pilger, Frauen, Jäger und „Wilde mÄnner“; die Pilger haben Pilgerstäbe, die Frauen singen ein „Jacobs liedt“ (Bl. A3v/A4r), die Jäger lassen „Künglin [Kaninchen]/ Hasen vnd Katzen“ vor sich hertreiben – „alles zu eim gelechter“ –, die wilden Männer führen einen „Trachen von Leinbath [Leinwand]/ der feuer außspie“ mit sich. Der Kampf über Schranken ist „schier einer Schlacht gleich“ (Bl. A4v). Das Turnier gerät zum Schauspiel, an dem der Hof mitwirkt und über das er sich zugleich amüsiert; eine rudimentäre Spielhandlung deutet sich an. Der dritte und vierte Teil sind eindeutiger strukturiert. Das Stechen am Schluss des Festes dagegen ist vor allem sportlicher Wettkampf, dessen Teilnehmer namentlich zu verzeichnen sind, eine Ehrkonkurrenz innerhalb der Ritterschaft, freilich wieder vor „Antiquischen“ Kulissen (Bl. D3r). Beim 29 Thournier (wie Anm. 27), Bl. B4v und Bl. C2r. Einmal wird ein Kämpfer disqualifiziert (Bl. C3v). 30 Peters, Knight’s Game (wie Anm. 27), S. 13.

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vierten Teil „Sturm vnd Eroberung des Rawb Schloß“ (Bl. D1r) dominiert die Spielhandlung, die vor den erlauchten Zuschauern dargeboten wird, eine Befreiungsaktion zugunsten von zuvor angeblich entführten Frauen, „welchs sehr kurtzweylig zů sehen“ (Bl. D1v). Über all das geht der dritte Teil, das „Abentheur des Finstern Schloß“, weit hinaus. Er setzt eine allegorische Romanhandlung in Szene, die angeblich alten Ritterromanen entlehnt ist: nach art vnd manier/ als etwann von den Rittern auß Engelandt/ oder Rittern von der Runden Taffel/ vnd KÖnig Artus Hoffgesinde vnd andern/ Jn alten Historien vnd Büchern kurtweilig gelesen würdt/ erdicht vnd gefunden worden (Bl. 1r/v).

Das finstere Schloss ist eine – ins Freie gebaute – Theaterkulisse: ein Bau aus Holz und Stoffen, umgeben von „TÜchern/ so wie Wolcken gemalet“, die das Schloss anfangs den Blicken entziehen. Im Schloss herrscht ein böser Zauberer. Ziel der Handlung ist seine Beseitigung, an der sich die Ritter versuchen, so wieder ihre Kampfkraft unter Beweis stellend. Auf dem Weg dorthin gibt es einige ‚Pässe‘, enge, von Rittern bewachte Durchgänge, die im ritterlichen Kampf zu überwinden sind, dahinter ein Wasser, das man überqueren muss, dann die „Abentheurlich Jnsel“ mit einer marmorfarbenen Säule, in der ein Schwert steckt, das herauszuziehen ist, sowie zwei Säulen „mit etlichen schrifften“ (Bl. B1v). Von den Rittern, die die Pässe verteidigen, erfährt man den echten Namen – Adlige aus dem kaiserlichen Gefolge – zusammen mit einem Abenteuer-Namen (Typus: „Ritter mit dem gÜlden Lewen“). Den Zauberer gibt der Vormund des Prinzen von Oranien (auch jemand aus Karls Gefolge), dessen wirklicher Name „verkert“ ist, das heißt rückwärts gelesen den Namen des Zauberers ergibt. Doch bevor es losgeht, wird in einem „Außschreiben“31 der politische Sinn der Aventiure-Handlung expliziert. Das Ausschreiben richtet sich an den Kaiser als die Zuflucht aller Bedrängten und fordert ihn auf, wie dies von Herrschern laut „vilen alten Historien vnd geschichten“ (Bl. B2r) berichtet wird, dem Unwesen des Zauberers, der seine Umgebung tyrannisiert, die Wege blockiert und viele Ritter in seine Gefangenschaft gebracht hat, ein Ende zu machen. Es fordert dazu auf, das Schloss zu erobern, und beschreibt genau, welche Hindernisse dafür zu überwinden sind; alle Ritter sind eingeladen, sich daran zu versuchen. Das Script des geplanten Turnier-Spiels soll mithin die Erfül31 Peters, Knight’s Game (wie Anm. 27), S. 13 berichtet – wohl nach einer anderen Quelle –, dass das Ausschreiben als Brief Karl überbracht wurde, der es vorlas. Der deutsche Druck weiß nur, dass es zuvor in Brüssel publiziert worden war (Thournier (wie Anm. 27), Bl. B2r).

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lung herrscherlicher Pflichten vorführen, doch dabei den ganzen Hofstaat einbeziehen: ‚Pass‘ nach ‚Pass‘ ist zu überwinden, das Wasser zu überqueren und das Schwert zu gewinnen. Nach diesem Script nimmt das ganze Gefolge am Spiel teil. Eine Prophezeiung in alter „unbreuchlicher sprach geschriben“ (Bl. B2v) sagt jedoch, dass nur ein einziger Ritter die Welt vom Zauberer erlösen kann. Natürlich wird es der junge Fürst sein. Kombiniert sind also sportliche Wettkämpfe mit offenem Ausgang (die Zweikämpfe der einzelnen Ritter an den drei Pässen) mit einer festgelegten Abenteuer-Dramaturgie, die als politische Allegorie zu verstehen ist; der letzte Akt der Abenteuerhandlung aber ist nicht mehr offen, sondern vorweg bestimmt, denn nur der, dem in der politischen Wirklichkeit die Aufgabe zufällt, Unrecht zu beseitigen, kann den Zauberer erledigen. Angesprochen ist im Ausschreiben zwar der damals schon gichtbrüchige Kaiser selbst, gemeint aber ist sein Nachfolger, der sich noch im Turnierkämpferalter befindet. Und genau so läuft das „Abentheur des GÜldin Schwerdts“ ab (Bl. B4r): Die Ritter im kaiserlichen Gefolge versuchen sich an den Pässen, wobei sie unterschiedlich weit kommen,32 manche sogar bis zur Insel, wo ihr Name und ihre ehrenvolle Tat verzeichnet werden sollen und sie einen Siegerkranz erhalten. Wer vorher scheitert, wird zwar, wie das Drehbuch vorsieht, in die Gefangenschaft des Zauberers geführt, scheint danach aber, wie ein späterer Auftritt zeigt, eine zweite Chance zu bekommen und erneut kämpfen zu dürfen. Unablässig wird an allen Pässen gekämpft (Bl. C4r). Das ist die sportliche Seite des Spektakels. Der Bericht verzeichnet genau die wirklichen Namen der Turnierkämpfer, dazu ihre aufwendige, manchmal phantastische Kleidung, aber nennt auch ihre romanesk klingenden noms de guerre, die manchmal schon durch ihre Ausrüstung angezeigt werden.33 Oft aber sind es auch Namen aus dem „Amadis“.34 Der Sport ist zugleich ein Maskenspiel, das Bruchstücke einer Romanhandlung re-inszeniert.

32 Es trifft nicht zu, dass am ersten Tag alle am ersten Pass scheitern (Peters, Knight’s Game (wie Anm. 27), S. 17); auch gelangen mehrere Ritter bis zur Insel, wo sie gekrönt werden. In Egenolfs Druck ist keine Rede davon, dass es einem Spanier gelingt, das Schwert herauszuziehen, er jedoch wegen der Prophezeiung nicht weiter darf. In der Dramaturgie des Spiels wäre das eine Panne. 33 Etwa der „finster[] ritter“ (Thournier (wie Anm. 27), Bl. B4r); „Ritter mit dem grÜnen Schildt“ (ebd., Bl. C1v). 34 Peters, Knight’s Game (wie Anm. 27), S. 16. Peters’ Überlegungen (S. 16), das Spiel handele insofern von Identität, die „initiately ambiguous“ sei, gehen m. E. am Text vorbei. Von Anfang an steht die „true identity“ der Turnierkämpfer fest (und wird nicht erst bei erfolgreichen Kämpfen offenbart). Das höfische Spiel erlaubt ihnen daneben die schönere Rolle des Romanhelden. Das hat nichts mit „shifting identities“ zu tun.

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Zuletzt dann kommt der „Printz aus Hispanien“ (Bl. C4r) in der Rolle des unglücklich liebenden, unter dem Namen Beltenebros auftretenden Amadis,35 und fortan ist nichts mehr dem zufälligen Kriegsglück überlassen. Er bewältigt alle Hindernisse, gewinnt das Schwert, die mit Wolken bemalten Tücher fallen und geben den Blick auf das Schloss frei. Philipp bezwingt die Verteidiger des Schlosses, die zu Boden fallen, „gleich als solchs mit tugent des schwerts geschehen“. Er unterwirft den Zauberer, dessen Aufzug „vff Morisch gemacht“ ist (Bl. C4r), und befreit die gefangenen Ritter. Damit mutiert das Turnier, in dem die jungen Adligen ihre Kräfte messen, jetzt eindeutig zu einem fiktionalen Spiel, in dem sich zugleich ein politisch relevanter Huldigungsakt vollzieht. Die Spielhandlung kommuniziert eine politische Botschaft:36 Der Fürst ist der Einzige, der Ordnung halten kann. Das Spiel performiert die Legitimationsbasis fürstlicher Herrschaft. Diese pragmatische Funktion, die in den sportlichen Wettkämpfen allenfalls ansatzweise zu erkennen ist, ist an die Literarisierung des Turniers gebunden. Die theatrale Aktion wie das Sportereignis sind höfische Festakte, in denen Herrscher- und Standestugenden zur Anschauung gebracht werden. Doch die Interferenz von Sport, Politik und literarischer Fiktion geht noch weiter. Der Gedanke, dass im Verlauf des Turniers verschiedene Hindernisse überwunden werden müssen, stammt aus einem Roman, dem „Theuerdank“ Kaiser Maximilians I., des Großvaters Kaiser Karls V.37 Dieser Roman erzählt Abenteuer („gferlicheiten“) aus dem Leben des Kaisers, jedoch allegorisch verschlüsselt in der Tradition der burgundischen pas d’armes und eingebunden in den narrativen Rahmen der Brautfahrt des jungen Maximilian zu Maria von Burgund. Die Abenteuer werden zur Auseinandersetzung mit drei Gegnern stilisiert, die den jungen Fürsten an drei ‚Pässen‘ aufzuhalten suchen. Diese Konstellation kehrt im Turnier von Binche wieder. Bei Maximilian sind es die allegorischen Gegner Fürwittig, Unfalo und Neidelhart. Wie in Binche muss auch im „Theuerdank“ ein Weg freigekämpft werden. Egenolf brachte das vielleicht auf den Gedanken, den Bericht vom Turnier mit Holzschnitten aus dem Roman „Theuerdank“ zu schmücken. Daneben gibt es bei der Erstürmung des Raubschlosses eine Illustration aus dem „Weiskunig“, einem allegorisch verschlüsselten Prosaroman über die Kriegstaten Maximilians. Das auf den Holzschnitten Dargestellte passt nur ungefähr zum Turnierbericht – etwa wenn 35 Peters, Knight’s Game (wie Anm. 27), S. 17 nach dem Bericht des Calvete de Estrella. 36 Zum politischen Hintergrund einer Etablierung Philipps in den spanischen Niederlanden ebd., S. 19–21. 37 Theodor Musper u. a (Hgg.), Kaiser Maximilians Theuerdank (1517). Faksimile-Ausgabe mit Kommentar, 2 Bde., Stuttgart/Plochingen 1968.

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die Krönung des ersten Ritters, der die Insel erreicht, mit der Krönung Theuerdanks durch seine Dame Erenreich illustriert wird (Bl. C2v).38 Gleichwohl ist ein innerer Zusammenhang zwischen beiden Texten gegeben, den die Verbindung einer literarischen Form mit einer politischen Botschaft stiftet. Die literarische Fiktion zeigt an: Der Herrscher übertrifft alle anderen39 und ist deshalb Garant von Ordnung in einer feindseligen Welt. Das angeblich nach alten Romanen modellierte Turnierspiel und die allegorische Ritterfahrt erzählen „in form Mass vnd weis der heldenpÜcher“,40 das heißt die theatralische und die epische Fiktion sind bloße Vehikel eines politischen Aktes.

VIII. Resümee In all den zitierten Fällen gibt es eine substantielle Beziehung zwischen Spiel und Praxis außerhalb des Spiels. Ein fiktionales Als-ob bezieht sich allein auf die Glaubhaftigkeit des Gespielten, nicht auf das damit Vermeinte. Die theatrale (und insofern fingierende) Repräsentation dient als Mittel, Präsenz herzustellen, die Präsenz religiösen Heils oder die Präsenz legitimer Herrschaft. Im vormodernen Spiel gibt es keine feste Grenze zwischen der allen Anwesenden präsenten Alltagswelt und der vor ihnen re-präsentierten Spielwelt. Es soll gerade keine Welt neben der wirklichen entworfen werden. Fingieren bewegt sich im Rahmen dieser wirklichen Welt. Das Geistliche Spiel schließt an echte Kulthandlungen an, beutet sie aus und mündet wieder in ihnen, etwa wenn das Spiel mit dem Introitus der Ostermesse endet: „Resurrexi et adhuc tecum sum“. Durchgängig überschneiden sich mimetische und rituelle Elemente; unterschiedliche Raum- und Zeitstrukturen überlagern einander; Kultsprache und Volkssprache erlauben unterschiedliche Formen der Partizipation; spielinternes und spielexternes Sprechen gehen ineinander über. Das Spiel ist nicht eindeutig abgrenzbar von anderen, nicht-theatralen Massenereignissen, und zwar im Guten wie im Bösen: von Predigt und öffentlichem Gebet einerseits, von öffentlicher Exekution andererseits. Erwartungen in beide Richtungen werden bedient, im zweiten Fall maskiert als ‚verkehrte‘ Erfüllung durch eine exkludierte Gruppe. 38 Wie in anderen Romandrucken des 16. Jahrhunderts lässt sich hieran der Übergang von einer genau kalkulierten Text-Bild-Beziehung zur bloßen Bebilderung des Textes beobachten. 39 Dieser Überbietungszwang charakterisiert Maximilians Gedechtnus-Werk insgesamt: Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982. 40 Musper u. a. (Hgg.), Theuerdank (wie Anm. 37), Bl. a2r; vgl. Bl. A1v: „das auch mit solhem pích/ denen so vorzeiten die allten heldenpÜcher geschriben haben nachgeuolgt wurde“.

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Es gibt Ansätze zu einem theatralen Als-ob des Spiels, doch diese finden ihre Grenze dort, wo die nicht verhandelbare kerygmatische Wahrheit betroffen ist. Im höfischen Festspiel sind theatrale und politische Funktionen miteinander verklammert. Im „Triumph zu Bintz“ kommt die agonale Selbstdarstellung einer Adelsgesellschaft hinzu. Das Spiel ist die verkleidete Erscheinungsform fürstenstaatlicher Politik und adeligen Agons. Jederzeit ist Übergang von einer Bedeutungsebene zur anderen möglich. Es gibt unterschiedliche Rollen von ‚Autorschaft‘. Auf der einen Seite steht Conrad Celtis, der in seinen Festspielen alles festlegt und deshalb zur Not in der „Rhapsodia“ auf das höfische Personal verzichten, es gleichfalls fingieren kann. Auf der anderen Seite stehen Maria von Ungarn und ihre Helfer, die primär dem Adel Raum geben, sich sportlich und elegant zu präsentieren, im entscheidenden Punkt aber doch eine Spielhandlung festlegen. Natürlich gibt es auch in der Gegenwart noch Schrumpfformen dieser Art theatraler Kommunikation, aber sie sind durch das institutionalisierte Theater kontaminiert. Die Oberammergauer Passionsspiele dürften von vielen Touristen bloß noch als theatrales Event rezipiert werden, und für nur wenige mag der ursprüngliche kultische Rahmen noch relevant sein. Bei Staatsakten oder Sportereignissen geht die Entwicklung eher in die entgegengesetzte Richtung. Hier dominiert die pragmatische Funktion, und Elemente, die in die Nähe theatraler Aktionen kommen, werden eher abgestoßen. Symbolische Kommunikation hat sich direkt zu vermitteln. ‚Theatralisch‘ ist dann eher ein Schimpfwort.

Doris Kolesch

Promenaden im Park von Versailles. Permutationen von Leben und Spiel, von Alltag und Fest, von Skript und Performanz

Jan-Dirk Müllers Beitrag schlägt einen Bogen von den geistlichen und weltlichen Spielen des Mittelalters bis hin zu theatralen Festen und Repräsentationen der Frühen Neuzeit.1 Meine Ausführungen nehmen diesen chronologischen Bogen auf und erweitern ihn um ein Beispiel aus dem 17. Jahrhundert. Dabei bewege ich mich als Theaterwissenschaftlerin bewusst außerhalb des institutionalisierten Theaters, vielmehr – indem ich die Spaziergänge im Park von Versailles zur Zeit von Ludwig XIV. ins Auge fasse – in einem Feld von Theatralität. Ich möchte nämlich Jan-Dirk Müllers Thesen vom Verschwimmen der Grenzen zwischen Partizipation und Zuschauen, zwischen fiktiver Darstellung und realem Mitvollzug, zwischen Repräsentation und Präsentation zuspitzen. Hintergrund meiner Überlegungen ist eine These, welche ich zugleich als Replik auf Müllers differenzierte Ausführungen verstehen möchte. Müller betont zu Recht die Differenz zwischen mittelalterlichem geistlichem Spiel und neuzeitlichem Theater. Dies zeigt, wie hegemonial und dominant ein bestimmtes Theaterkonzept, mit Lessing möchte ich präzisieren: „Das Theater des Herrn Diderot“,2 für unser Verständnis von Theater insgesamt geworden ist. Bezeichnenderweise setzen wir damit eine historische Ausnahme, die für einen begrenzten Zeitraum in unserer Kultur maßstabbildend war, nämlich das bürgerliche Theater des 18. und 19. Jahrhunderts, mit Theater schlechthin gleich. Doch weder die Entgrenzungen von Theater seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert noch die unterschiedlichen antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Theaterformen – ganz zu schweigen von außereuropäischen Spielarten – lassen sich mit diesem Begriff von Theater adäquat fassen. Weitaus genauer erlaubt hier der Begriff der Theatralität die jeweilige Verschränkung von Prozessen der Darstellung, der Inkorporation, der Inszenierung und der Wahrnehmung zu beschreiben und damit auch jeweilige Theatralitätsgefüge, 1 Vgl. Jan-Dirk Müller, Symbolische Kommunikation zwischen Liturgie, Spiel und Fest, in diesem Band S. 331–355. 2 Denis Diderot, Das Theater des Herrn Diderot, aus dem Französischen übers. von Gotthold Ephraim Lessing, Stuttgart 1986.

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also das Verhältnis von außerkünstlerischem, gleichwohl theatralem Alltag und als besonders gerahmtem „Kunst“-Theater, zu einer bestimmten Zeit zu identifizieren. Zwischen 1689 und 1705 verfasst der französische König Ludwig XIV., auch bekannt als Sonnenkönig, eigenhändig sechs verschiedene Versionen und Manuskripte der „Manière de montrer les Jardins de Versailles“ („Anleitung, wie die Gärten von Versailles gezeigt/präsentiert werden sollen“). Während Ludwig XIV. die Beschreibung des Schlosses von Versailles André Félibien und Madeleine de Scudéry, zwei damals berühmten und angesehenen Schriftstellern, überlässt, legt er selbst die Routen der verschiedenen Promenaden fest und kümmert sich um deren schriftliche Fixierung, was zeigt, welche Relevanz er diesen Spaziergängen beimisst.3 Mein Beitrag untersucht die Promenaden als Form der symbolischen Kommunikation und als Element der Formierung der höfischen Gemeinschaft. Dabei steht der Zusammenhang von Körperbewegung und Gefühlserregung im Vordergrund; es geht mir um die Verbindung von Topographie und Choreographie und um die dadurch erzeugten affektiven Besetzungen, Werthaltungen und Ansichten. Der vom König vorgeschriebene (Spazier-)Gang ist Teil des offiziellen Besuchsprogramms, das ausländische Gesandte und Gäste erwartet. Doch auch ohne offizielle Anlässe begibt sich der König, wenn er sich in Versailles aufhält, fast täglich mit einem ausgewählten Gefolge in die Gärten (Farbabb. 31). Angesichts einer Weglänge von etwa acht Kilometern verzeichnet das Inventar des königlichen Mobiliars seit 1679 „fünfzehn Rollstühle, die mit Seidendamast unterschiedlicher Farben ausgeschlagen sind“,4 in denen der König und seine Begleitung ‚spazierenfahren‘. Die Mobilität des promenierenden oder spazierenfahrenden Körpers unterstreicht und erhöht die Dynamik des Blicks, den die Alleen von Versailles dem zeitgenössischen Betrachter bieten. Für einen Menschen von heute, dessen Auge längst das eines Road movie-Betrachters ist, der an plane Autobahnen, schnurgerade sich zum Horizont dahinstreckende Highways und Asphaltbänder gewöhnt ist, […] für einen solchen Zeitgenossen mag 3

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Simone Hoog hat 1992 die Manuskripte in einem reich bebilderten Buch publiziert und mit einem Kommentar versehen, der primär die allegorischen Aspekte sowohl der Gartengestaltung als auch der diversen Spaziergänge betont. Diese plausible und im Kontext der Zeit unabdingbare Lesart lässt jedoch theatrale und performative Dimensionen der Promenaden und ihre Funktion im höfischen Affekthaushalt außer Acht (vgl. Ludwig XIV., Manière de montrer les Jardins de Versailles, hg. von Simone Hoog, Paris 1992). „quinze chaises roulantes garnies de damas de divers couleurs“ (Ludwig XIV., Manière de montrer les Jardins de Versailles (wie Anm. 3), S. 10).

Promenaden im Park von Versailles

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Abb. 14: Pierre Le Pautre, Plan von Versailles, 1717. es einigermaßen schwierig sein, sich die Dynamik des Anblicks vorzustellen, wie ihn die Alleen von Versailles auf einen Betrachter des 17. Jahrhunderts ausgeübt haben mögen. Und doch sind diese Alleen, in symbolischer Form, Antizipationen reiner Bewegung, automobilisierte Blicke, genuine Vorläufer jener Straßen, auf denen nun wirklich Automobile verkehren.5 5

Martin Burckhardt, Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt a. M. u. a. 1994, S. 192.

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In der „Manière de montrer les Jardins de Versailles“ erscheinen die Gärten von Versailles als riesiges, unüberschaubares Labyrinth, zu dem der König allein den Schlüssel, mehr noch: den Ariadnefaden besitzt. Die spektakulären Feste und Divertissements, für die der Sonnenkönig berühmt geworden ist, bieten eine Kombination aller nur denkbaren erlaubten Vergnügen, die den Mitgliedern der Hofgesellschaft vom König offeriert werden. Damit wird der Eindruck eines einzigartigen, überwältigenden Vergnügens erzeugt, das ohne königliche Hilfe so unerreichbar wie undenkbar wäre und das die alltägliche Routine, die beständig drohende Langeweile mit Überraschungen und außergewöhnlichen Genüssen skandiert. In vergleichbarer Weise organisieren und inszenieren die königlichen Promenaden Zeitund Bewegungsabläufe ebenso wie vertraut oder auch neu und unvertraut erscheinende Örtlichkeiten. Ludwigs Instruktionen für die Spaziergänge lesen sich wie ein Filmdrehbuch avant la lettre, das nicht nur die Bildfolgen und Bildsequenzen festlegt, in die der Park von Versailles zerlegt wird, sondern auch die Schritte, die Körperdrehungen, Haltungen und Blickrichtungen der Spaziergänger. Entsprechend prägt das Zusammenspiel von Notation und Performanz, von schriftlicher Fixierung und körperlicher Bewegung die Spaziergänge in Versailles. Selbst in Abwesenheit weiß der König im Voraus, wie und wo sich die auf seine Route, seine (Weg-)Weisung verpflichteten Promenierenden bewegen. Während der großen Divertissements markieren die Körperbewegungen des Königs jeweils Beginn und Ende der unterschiedlichen Vergnügungen. Jedes Aufstehen, jedes Weitergehen und jede Drehung des Kopfes oder Körpers wird von den Höflingen nachgeahmt und stellt die Passage zu einem neuen Vergnügen, zu erneutem Staunen und neuerlicher Faszination dar. „Der König hatte sich vom Tisch erhoben, um den Damen ein neues Vergnügen zu bieten. Er führte sie, die Säulenhalle, an der die Allee Richtung Schloß führt, durchquerend, in den Ballsaal.“6 Die affektive Aufladung der so erzeugten Wahrnehmungs- und Erlebnisweisen korreliert mit einer präzisen Choreographie der Körper. Auch die Spaziergänge im Park von Versailles sind eine rhythmisierte, vom König dirigierte Abfolge prägnanter Augenblicke, bestehend aus inkorporierten Gesten des Innehaltens, Bewunderns, Genießens und Weiterschreitens. Führung und Verführung, (körperliche) Bewegung und (emotionale) Regung sind während der Promenaden nicht voneinander zu trennen. 6 „Le roi s’étant levé de table pour donner un nouveau divertissement aux Dames, et passant le portique où l’allée monte vers le château, les conduisit dans la salle du bal.“ (André Félibien, Relation de la fête de Versailles. Du dix-huit juillet mille six cent soixante-huit, hg. von Martin Meade (Collection L’art écrit), Paris 1994, S. 75).

Promenaden im Park von Versailles

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Der Park von Versailles kann als Landschaft und Raum gewordenes perspektivisches Bild beschrieben werden.7 Die Pläne, Skizzen und Entwürfe André Le Nôtres greifen über auf die Gestaltung der Natur, sie werden Teil der Lebenswirklichkeit. Dazu muss von den konkreten geographischen Gegebenheiten abgesehen und sich über diese hinweggesetzt werden,8 vergleichbar einem Maler, der die Leinwand grundiert, um ihre Textur zum Verschwinden zu bringen. In diesem Kontext ist zu betonen, dass das Schloss und der Garten von Versailles in einer Gegend angesiedelt wurden, die sowohl von den Architekten und Beratern der Könige als auch von Höflingen und kritischen Zeitgenossen als vollkommen ungeeignet eingeschätzt wurde. So vermerkt der Herzog von Saint-Simon, dem wir umfangreiche Memoiren und Aufzeichnungen über die höfische Gesellschaft zur Zeit Ludwigs XIV. verdanken: Versailles „ist ein höchst trister und unfruchtbarer Ort, der keinen Ausblick, keine Wälder, kein Wasser und keinen guten Boden bietet, weil dort Treibsand und Sumpf vorherrschen.“9 Doch weit mehr als das Bild einer Landschaft entfalten sich die Gärten von Versailles, wie Martin Burckhardt formuliert, als „Verlandschaftlichung des zentralperspektivischen Gerüstes“.10 Die begehbare, erfahrbare Landschaft wird dem Bildcharakter der imaginierten und geschauten, am besten von einem leicht erhöhten Standpunkt überschauten Landschaft untergeordnet.11 Mit dem zentralperspektivischen Gerüst diffundiert eine Bildverarbeitungsmaschine in die Wirklichkeit, die jegliches Gegebene auf die immer glei-

7 Zur Geschichte der Gartenkunst und des französischen Parks vgl. Marie-Luise Gothein, Geschichte der Gartenkunst, 2 Bde., Jena 1926, ND Hildesheim/New York 1977. Der französische Garten, wie er von Le Nôtre in Versailles angelegt wurde, ist noch nicht, der Geschichte der Empfindsamkeit folgend, zum Naturschönen und zum Empfindungsraum geworden – ja er avanciert später als ‚formale‘, ‚geometrische‘ und ‚unnatürliche‘ Anlage gar zum Feind- und Gegenbild der im ausgehenden 18. Jahrhundert dominierenden pittoresken Gartentheorie. Gleichwohl fungiert er, im Rahmen der Spaziergänge und Festinszenierungen des Sonnenkönigs, als wesentliches Element eines Dispositivs von Emotionen. Dieses postuliert nicht, wie die Theorie des pittoresken Gartens, eine Entsprechung von Landschaft und Seelenzuständen, sondern beruht auf der präzise kalkulierten, strategischen Erzeugung theatraler Situationen und performativer Prozesse, in denen im Zusammenspiel von Körperbewegung, Wahrnehmung, Empfindung, Landschaft und symbolischer Narration Machtverhältnisse ebenso choreographiert werden wie Begehrensstrukturen. 8 Vgl. Jean-Marie Pérouse de Montclos / Robert Polidori, Versailles, Köln 1996, S. 20– 36. 9 Zit. nach Pérouse de Montclos / Polidori, Versailles (wie Anm. 8), S. 26. 10 Burckhardt, Metamorphosen von Raum und Zeit (wie Anm. 5), S. 191 [Kursivierung folgt dem Original; D. K.]. 11 Auch der leicht erhöhte Betrachterstandpunkt ist aus der Malerei übernommen: sotto in su. Illustrierte Veröffentlichungen über Versailles bedienen sich von daher gerne der Vogelschauperspektive, die auch Israël Silvestre in seinem abgebildeten Stich von etwa 1687 wählt; vgl. Abb. 15.

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Abb. 15: Israël Silvestre, Ansicht des Schlosses von Versailles und seiner Gärten, um 1687, Paris, BnF, Cabinet des Estampes.

che, symmetrische Weise rastert und die durch die korrespondierende Achse von Augenpunkt und Fluchtpunkt charakterisiert ist. Das perspektivische Bild projiziert einen stetigen, homogenen, unendlichen, kurz: einen mathematischen Raum, der mit dem psychophysischen Raum eines menschlichen Betrachters – und seinen Asymmetrien zwischen rechts und links, oben und unten, vorne und hinten – gerade nicht zur Deckung kommt. In der zentralperspektivischen Konstruktion wird die Geometrie zu einer universalen Sprache, die den dargestellten Dingen eine optische Konsistenz und Gleichartigkeit verleiht, welche auf die Unterschiede in der Bedeutung des jeweils Dargestellten, vor allem aber auf die Unterschiede zwischen wirklichen und imaginären Objekten keinen Bezug mehr nimmt.12 12 Sybille Krämer, Sinnlichkeit, Denken, Medien: Von der ‚Sinnlichkeit als Erkenntnisform‘ zur ‚Sinnlichkeit als Performanz‘, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Der Sinn der Sinne (Schriftenreihe Forum 8), Göttingen 1998, S. 24–39, hier S. 26. Zu Le Nôtres Beschäftigung mit der Zentralperspektive, die als Spiegel verstanden wurde, der es erlaubt, die Dinge so darzustellen, wie sie dem Auge erscheinen, vgl. Bernard Jeannel, André Le Nôtre (Collection Architektur), Basel u. a. 1988, S. 26 f. Zum Zusammenhang von Zentralperspektive und Wahrnehmung vgl. auch Burckhardt, Metamorphosen von Raum und Zeit (wie Anm. 5),

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Damit wird nicht nur eine piktorale Funktion erfüllt, sondern eine Raumkonzeption materialisiert, die auf Beherrschung des Raumes zielt. In der geplanten und planierten Ebene von Versailles stehen keine Pflanze, kein Weg und keine Skulptur für sich; sie sind Teil einer allegorischen Serie und einer Verkettung, die – gemäß der perspektivischen Verknüpfung – ins Unendliche weist. Der Park von Versailles symbolisiert und führt bei jeder Promenade, bei jedem Blick aus den Fenstern des Spiegelsaals vor, dass Ludwig XIV. alles unter Kontrolle hat, dass er die Natur wachsen und gedeihen lässt, sie dabei aber auch bändigt und formt. Dies ist ein Grund für Saint-Simons Abscheu vor den Gärten als politisch-allegorische Manifestation der königlichen Macht, die den Einfluss und die Position des Adels so beschneidet wie die getrimmten und uniform zugeschnittenen Gewächse in Versailles. Doch im französischen Park hat sich nicht nur das Bild in die Landschaft eingebildet, auch der Raum hat sich verzeitlicht und dynamisiert. Versailles kann, wie jeder Garten, als ein Zwischen-Reich, eine Figuration zwischen Himmel und Erde, Gott und Mensch, Ordnung und Chaos, Natur und Kultur aufgefasst werden. Zahlreiche Elemente der Jardins de Versailles oszillieren zwischen Stationärem und Transitorischem, versuchen das Unbewegte zu mobilisieren. Der französische Park entwirft eine Bilderfolge, eine Aneinanderreihung in sich bewegter Tableaux. Die Fluchtpunkte der Alleen, die Aussichtspunkte, Bosketten und Kolonnaden ebenso wie die Thetisgrotte, das Trianon, die Pyramide oder die Salle du Bal sind Anlagen, die die Blicke selbst dynamisieren und immer weiter treiben. Die Zeitgenossen nehmen diese Prozessualität und Performativität sehr genau war. So führt La Fontaine in dem Gedicht „Les Amours de Psyché et de Cupidon“ über die Thetisgrotte aus: „Der Grotte Inneres ist ein Anblick ohnegleichen, / Die Blicke wissen nicht, wohin sie sollen streichen“ („le dedans de la grotte est tel que les regards, Incertains de leur choix, courent de toutes parts“).13 Durch verschiedene gartenbauliche Maßnahmen werden die Perspektiven verlängert und die Bildfolgen, als die der Park inszeniert ist, in sich dynamisiert. Auch die Allée des Ha!Ha! beim Großen Trianon exemplifiziert diese Dynamisierung des Blickes und des Raumes. Ein „Ha!Ha!“ ist eine Öffnung in der Umfassungsmauer, die jedoch S. 122 ff.; Karl Clausberg, „Wozu hat der Mensch zwei Augen?“ – Der Mythos der Perspektive, in: Wolfgang Müller-Funk / Hans Ulrich Reck (Hgg.), Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, Wien/New York 1996, S. 163–183 sowie, unter theaterwissenschaftlichem und architektonischem Aspekt, Ulrike Hass, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005. 13 Jean de La Fontaine, Les amours de Psyché et de Cupidon, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 2: Œuvres diverses, hg. von Pierre Clarac (Bibliothèque de la Pléiade 62), Paris 1958, S. 121–259, hier S. 130.

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nicht als Durchgang gedacht ist, sondern einzig die Funktion hat, die Perspektive zu eröffnen oder zu verlängern. Mit den Promenaden werden nun ihrerseits die Spaziergänger in und durch diese Bilderfolge bewegt.14 Der Park von Versailles wird so Inbegriff eines raumgewordenen Bildes, das sich seinerseits bewegt und in dem man sich selbst bewegt. Die Fortbewegung der Körper im Raum korrespondiert mit der Bewegung und Erregung der Sinne in der Überraschung, im bewundernden oder erstaunten Über-Blick. Die zeitgenössische Bewunderungspoetik verdichtet und habitualisiert sich als psychophysische Innervation der Betrachterkörper. In der „Manière de montrer les Jardins de Versailles“ werden Nähe und Distanz, Bewegung und Pause, Erregung und Beruhigung vom königlichen Regisseur inszeniert, dirigiert und rhythmisiert. Trotz des strengen Tonfalls einer königlichen Order, in dem die Anweisungen gehalten sind, schreibt sich dem Text die unaufhörliche Bewegung der Körper und Blicke, die fast atemlose, durch keinen Punkt unterbrochene Abfolge des ‚und dann... und dann... und dann‘ ein: Man gehe danach an der Pyramide vorbei, wo man einen Augenblick verweile, und gehe dann über die Marmortreppe, die zwischen Esguiseur-Statue und der Schamhaften Venus liegt, zum Schloß zurück. Am Ende der Stufen angekommen, drehe man sich, um das Parterre du Nord, die Statuen, Vasen, die Säulen, die Pyramide und das, was man vom Neptun-Brunnen erkennen kann, anzuschauen, dann verlasse man den Garten durch das gleiche Tor, durch welches man eingetreten ist. Will man am gleichen Tag die Menagerie und das Trianon sehen, sollte man, nach einer kleinen Pause am Apollon-Becken, die Boote zur Menagerie besteigen.15 14 Rudolf zur Lippe verabsolutiert das optische Phänomen der Perspektive im Hofritual, wenn er schreibt: „Der Ort des idealen Betrachters ist ein Punkt, und zwar der seines Auges; die übrige Physis kann nur sekundär ins Spiel kommen.“ (Rudolf zur Lippe, Naturbeherrschung am Menschen, Bd. 2: Geometrisierung des Menschen und Repräsentation des Privaten im französischen Absolutismus, Frankfurt a. M. 21981, S. 26). Diese Behauptung mag theoretisch schlüssig erscheinen, wird von den konkreten Verfahren und Praktiken höfischer Spektakel jedoch Lügen gestraft, da Ortsveränderungen, Körperbewegungen und Haltungen diese Veranstaltungen überhaupt erst mit-konstituieren. Die sinnliche Dimension des sich zeigenden, re-präsentierenden Körpers wird von zur Lippes wichtiger Studie leider vollkommen vernachlässigt, weil er – in der Nachfolge von Elias, Hauser und der kritischen Theorie Horkheimers und Adornos – den Kunst- und Kulturprozess eindimensional als Prozess fortschreitender Rationalisierung auffasst. 15 „On passera après à la Pyramide, où l’on s’arrestera un moment, et après on remontera au chasteau par le degré de marbre qui est entre l’Esguiseur et la Vénus honteuse, on se tournera sur le haut du degré pour voir le parterre du Nort, les statües, les vases, les couronnes, la Pyramide et ce qu’on peut voir de Neptune, et après on sortira du jardin par la mesme porte par où l’on est entré. Quand on voudra voir le mesme jour la Ménagerie et Trianon, après avoir fait la pause auprès d’Apollon, on ira s’embarquer pour aller à la Ménagerie.“ (Ludwig XIV., Manière de montrer les Jardins de Versailles (wie Anm. 3), S. 56 f.).

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Dass dem Park ein dynamisierter Blick eingepflanzt und eine körperliche Fort-Bewegung gleichsam eingewachsen ist, verdeutlicht Félibiens Beschreibung einer Theaterkulisse. Auf dem großen Fest vom 18. Juli 1668 begibt sich die Gesellschaft nach einem prunkvollen Abendessen, das entlang der fünf Alleen kunstvoll präsentiert wurde, in den eigens von Carlo Vigarani erbauten Theatersaal (Farbabb. 32).16 Als Ihre Majestäten diesen Ort, dessen Größe und Pracht den ganzen Hof erstaunte, erreicht und als Sie ihren Platz unter dem hohen Baldachin in der Mitte des Parterres eingenommen hatten, wurde der Vorhang, welcher die Theaterdekoration verbarg, gehoben. Und nun sahen sich alle Augen getäuscht, man glaubte wirklich einen Garten von außerordentlicher Schönheit vor sich zu haben.17

Im Folgenden schildert Félibien diese Gartenkulisse so detailliert, als handele es sich um einen realen Garten, um ein verkleinertes Doppel des Parks von Versailles. Das vorsichtige „man glaubte zu sehen“ weicht einer textuellen Inszenierung, die die Dynamisierung der Blicke und die Bewegung der Blickführung von einem Aussichtspunkt zum nächsten wie bei einem Spaziergang vorführt und die Theaterzuschauer gleichsam körperlich in den Theatergarten hineinholt: „Am Eingang des Gartens entdeckte man zwei Palisaden ...“; „Etwas weiter entfernt erschienen zwei weiße Marmorterrassen...“ Inszenierung der Wirklichkeit, Theaterinszenierung und textuelle Inszenierung greifen ineinander. Als würde das Publikum leibhaftig (noch oder wieder) im Park promenieren, setzt Félibien fort: „Man begab sich auf diese Terrassen...“ Der Autor betont dabei mehrfach, wie unzulänglich die verbale Sprache für die Beschreibung solch ephemerer Eindrücke und komplexer Erlebnisse sei. Diese Klage kontrastiert mit dem suggestiven Gestus seines Textes, der die Schilderung der Theaterszenerie mit dem Blick auf ein Wasserspiel enden lässt, das auch in zahlreichen realen Festen, häufig verbunden mit einem Feuerwerk, 16 Zu diesem Theatersaal schreibt Martin Meade: „Construction spectaculaire, la salle de mille deux cents places était décorée des tapisseries de la couronne, puissamment architecturées de part et d’autre des colonnes torses de plâtre et de bois imitant la marbre et le lapis. Entre les colonnes, une scène d’environ douze mètres de longueur accueillait plus de trois cent bougies dans des lustres de cristal.“ (Martin Meade, Kommentar zur Illustration der Comédie „Les fêtes de l’Amour & de Bacchus, comédie en musique représentée dans le petit parc de Versailles“ von Le Pautre 1668, in: Félibien, Relation de la fête de Versailles (wie Anm. 6), S. 22). 17 „Lorsque Leurs Majestés furent arrivées dans ce lieu dont la grandeur et la magnificence surprit toute la cour, et quand Elles eurent pris leur place sur le haut dais qui était au milieu du parterre, on leva la toile qui cachait la décoration du théâtre. Et alors, les yeux se trouvant tout à fait trompés, l’on crut voir effectivement un jardin d’une beauté extraordinaire.“ (Félibien, Relation de la fête de Versailles (wie Anm. 6), S. 43).

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den Abschluss eines Divertissements darstellt: „Das Ende des nahegelegenen Kanals war gesäumt von zwölf Springbrunnen, die ebenso viele Feuerwerksleuchter bildeten.“18 Der Park von Versailles bildet nicht bloß das Dekor oder den Hintergrund, vor dem die höfischen Menschen agieren, vielmehr ist er die Bühne, auf der sie einen Platz und einen Handlungsspielraum zugewiesen bekommen. Insofern ist das Gewahrwerden der schönen Aussicht mehr als nur der Moment einer Bildbetrachtung. Die Betrachter werden ins Bild gesetzt, sie sind Teil der königlichen Inszenierung und sie werden sich, im Aus-Blick, als diejenigen Betrachter inne, die mit den Augen des Königs sehen. Das Moment der Überraschung, Bezauberung und Überwältigung, das die höfischen Divertissements charakterisiert, ist mithin nicht nur auf den Anblick des Neuen, Unbekannten und Unerwarteten zu reduzieren. Es wird auch bewirkt durch die Selbst-Reflexion im Fremden. Nur in der Entäußerung im Anderen, im königlichen Blick kommt der Höfling zu seiner Existenz. Der Garten von Versailles ist – wie das Parkett des Schlosses – eine Bühne, in der man nicht unbestimmt geht oder herumsteht, sondern auf- und abtritt. Jede Geste wird bewusst, bedacht und unter Beobachtung vollzogen: von den Umstehenden ebenso wie vom jeweiligen Akteur. Die Mirroirs d’eau, die riesigen, spiegelnden Wasserflächen des Großen Kanals wie auch der zahlreichen kleineren Wasserbecken, sind ein glitzernder, nach außen verlegter Spiegelsaal. Darin entwickelt sich jede Handbewegung, jede Geste und jedes gesprochene Wort zur Szene, in der man sich ins rechte Licht setzen muss.19 Die eingefassten Spiegel- und Wasserflächen rahmen diese Szenerien und werfen sie in die Umgebung zurück, verdoppeln damit die höfischen Überwachungsstrukturen. Im Spiegel wird der jeweilige Selbstentwurf des Höflings sichtbar und überprüfbar. Der Blick in den Spiegel vollendet die eigene Selbstgenese und kontrolliert zugleich, ob man sich im Rahmen der Etikette bewegt. Die Etikette ist eine vertrackte, feintickende Maschinerie, bei der es allein darauf ankommt, das System gegenseitiger Ehrerbietungen einzuhalten, die Abstände und Dif18 „on crut voir“; „A l’entrée de ce jardin, on découvrait deux palissades...“; „Un peu plus loin paraissaient deux terrasses revêtues de marbre blanc...“; „On montait sur ces terrasses...“; „Le bout du canal plus proche était bordé de douze jets d’eau qui formaient autant de chandeliers“. (Félibien, Relation de la fête de Versailles (wie Anm. 6), S. 43–44). 19 Etymologisch ist der ‚Wasserspiegel‘, in Anlehnung an die Narziß-Mythe, eine poetische Umschreibung der Wasserfläche. Diesem ‚natürlichen‘ Spiegel kommt in der Anlage des Versailler Parks ein wesentliches inszenatorisches und bildnerisches Moment zu. Nicht nur die Spaziergänger, auch die Bäume, Skulpturen und Öffnungen der Wege werden um die Mirroirs d’eau in Szene gesetzt, um in der Spiegelung einen besonderen Bildeffekt, eine Steigerung des Bildcharakters entstehen zu lassen.

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ferenzen auszutarieren – und in diesem Sinn ist sie das sittliche Gerüst, eine Art symbolische Widerspiegelung dessen, was sich in der Topographie des Hofes realisiert.20

Die Etikette formt und formiert den Höfling durch eine präzise Choreographie der sozialen Interaktion. Durch sie versichern sich die Höflinge wechselseitig ihrer jeweiligen Stellung und Machtposition. Das höfische Leben wird arrangiert und choreographiert als ein Gesellschaftstanz, in dem der Höfling sein Leben tanzt und sich in die zugleich realen und symbolischen Figurationen einfügt (Farbabb. 33).21 Saint-Simon, der bei dieser Gelegenheit eigens seine Tanzkünste unterstreichen muss, schildert in seinen Memoiren den Fall des damals siebzehnjährigen Marquis de Montbron, der neu an den Hof kommt und sich – trotz gegenteiliger Versicherung – als äußerst ungeschickter Tänzer entpuppt. Die daraus resultierende Blamage zerstört jegliche Zukunftsperspektive als Höfling und verhindert eine Existenz am Hof. Kaum, daß man ihn des Abends beim Tanz erblickte, drängte man sich in seine Nähe; wer weiter entfernt war, reckte sich in die Höhe, und die Schadenfreude steigerte sich derart, daß man laut in die Hände klatschte. Jeder, selbst der König, lachte ganz ungeniert, ja etliche barsten schier vor Gelächter. Ich glaube kaum, daß irgend jemand jemals eine solche Erniedrigung hat hinnehmen müssen. Er verschwand dann auch sogleich danach und ließ sich lange Zeit nicht wieder blicken.22

20 Burckhardt, Metamorphosen von Raum und Zeit (wie Anm. 5), S. 195. 21 „Le courtisan apprend à se contrôler dans toutes les circonstances, à modeler son visage et ses gestes en fonction de la bienséance. Son maître à danser ne lui enseigne pas seulement l’art du ballet, mais aussi le maintien. Il apprend à se déplacer avec légèreté, à traverser les salons de biais ou de côté, à rendre le signe qu’exige l’étiquette, à danser sa vie.“ ( Jean-Marie Apostolidès, Le roi-machine. Spectacle et politique au temps de Louis XIV (Arguments), Paris 1981, S. 52). Dies trifft auch für den König als ersten Höfling zu: „Als im Jahre 1653 der fünfzehnjährige Ludwig XIV. im Ballet de la Nuit den Roi Soleil tanzte, ertanzte er sich die Rolle seines Lebens und seinen Titel vor der Weltgeschichte.“ (Richard Alewyn, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste, München 21989, S. 35). 22 Louis de Rouvroy de Saint-Simon, Die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon, 4 Bde., hg. von Sigrid Massenbach, Frankfurt a. M./Berlin 1991, Bd. 1, S. 29. „Dès qu’au second bal on le vit pris à danser, voilà les uns en pied, les plus reculés à l’escalade, et la huée si forte qu’elle fut poussée aux battements de mains. Chacun, et le Roi même, riait de tout son cœur, et la plupart en éclats, de telle sorte que je ne crois pas que personne ait jamais rien essuyé de semblable. Aussi disparut-il incontinent après, et ne se remontra-t-il de longtemps.“ Louis de Rouvroy de Saint-Simon, Mémoires. Additions au Journal de Dangeau, hg. von Yves Coirault, Bd. 1: 1691–1701, Paris 1983, S. 45. Nur am Rande sei hier vermerkt, daß auch diese Passage, wie zahlreiche andere in den Memoiren, Elias’ These vom kontrollierten und gemäßigten Verhalten der Höflinge entschieden widerspricht.

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Das theatrale Gefüge des Hofes bringt Figurationen hervor, äußerliche, sich plastisch in Raum und Zeit entwerfende (An-)Ordnungen, aus denen sich wiederum Ordnungen der Einbildungskraft, des Denkens und Fühlens generieren (Farbabb. 34). So entstehen Stand- und Gesichtspunkte, Ansichten, Selbst- und Weltbilder wie auch Wertungen.

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Kommentar zur Sektion „Intertheatralität. Entgrenzung, Permutation und Polysemie von Leben und Spiel“ Mit dem performative turn der 1990er Jahre erfuhr der Theaterbegriff bekanntlich eine signifikante Ausweitung; unter dem Stichwort der Theatralität rückte die Aufmerksamkeit für das Performative nicht zuletzt die theatrale Dimension von Kultur generell in den Blick.1 Zur Erweiterung des Fragehorizonts hatte einerseits die in der Postmoderne zu beobachtende Veränderung der Institution Theater geführt, beispielsweise durch die Etablierung künstlerischer Performances und die Selbstreflexivität postdramatischer Theatertexte. Andererseits interessierten den kulturwissenschaftlich geschulten Blick nun auch alltägliche, als ‚theatral‘ wahrgenommene Handlungen in ihren symbolischen Dimensionen; so wurden zunehmend verschiedene Praktiken innerhalb eines kulturellen Gefüges, künstlerische wie soziale, unter dem Aspekt der Theatralität aufeinander bezogen.2 In den beiden vorangehenden Beiträgen von Jan-Dirk Müller und Doris Kolesch werden historische Aufführungspraktiken analysiert, die in je spezifischer Weise vom Paradigma des klassischen Kunsttheaters abweichen. Beiden Studien liegt folglich ein Theatralitätsbegriff zugrunde, der dezidiert vom Theatermodell der ‚Guckkastenbühne‘ abweicht und sich nicht an der sich erst in der Neuzeit etablierenden, strikten Grenzziehung zwischen Publikum und Darstellern orientiert. Trotz dieser von beiden Referenten getroffenen methodischen Vorentscheidung für einen erweiterten Theaterbegriff liegen den von Herrn Müller und Frau Kolesch behandelten vormodernen Aufführungspraktiken doch 1

2

Aus der immensen Forschungsliteratur müssen hier nur wenige Angaben genügen: Erika FischerLichte u. a. (Hgg.), Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen/Basel 2004; Mareike Buss u. a. (Hgg.), Theatralität des sprachlichen Handelns. Eine Metaphorik zwischen Linguistik und Kulturwissenschaften, München 2009; instruktiv sind die einschlägigen Artikel in: Erika Fischer-Lichte / Doris Kolesch / Matthias Warstat (Hgg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2005. Vgl. in Fischer-Lichte / Kolesch / Warstat (Hgg.), Lexikon Theatertheorie (wie Anm. 1), die Artikel „Theaterbegriffe“ von Andreas Kotte (ebd., S. 337–344) und „Theatralität“ von Matthias Warstat (ebd., S. 358–364), sowie Doris Kolesch, Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV., Frankfurt a. M. 2006.

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höchst unterschiedliche Kommunikationssituationen zugrunde. Mir als Kommentatorin kommt nun die Rolle zu, einige der in den Beiträgen jeweils auf methodisch konsequente Weise erzielten, aufschlussreichen Erkenntnisse unter systematischer Perspektive zueinander in Beziehung zu setzen, um so vor dem Hintergrund des gemeinsamen kulturwissenschaftlichen Fragehorizonts konzeptionelle Analogien der untersuchten Praktiken ebenso zu konturieren wie partielle Differenzen in der Begriffsverwendung herauszuarbeiten. Die Vergleichsanordnung erweist sich dabei meines Erachtens nicht nur aus historischer Perspektive als höchst instruktiv. Ich möchte in meinem Kommentar knapp darstellen, in welcher Weise ein solcher interdisziplinärer Dialog im Feld der kulturwissenschaftlichen Theatralitätsforschung, wie er in dieser Sektion stattfindet, präzisierend auf die Theorie- und Begriffsbildung zurückwirken müsste. Ich versuche dies anhand dreier Stichwörter aufzuzeigen, die mir in den vorangehenden Beiträgen jeweils von zentraler Bedeutung zu sein scheinen, nämlich Grenzziehung, Fiktionalität und Bildlichkeit – und werde diese mit Blick auf das Tagungsthema jeweils skizzenhaft auf den Aspekt symbolischer Kommunikation beziehen. Schließlich stelle ich am Ende meines Kommentars Überlegungen zur Diskussion, wie sich aufgrund der Zusammenschau der untersuchten Aufführungsformen auch Kriterien der Alterität vormoderner theatraler Praktiken formulieren ließen. 1) Grenzziehungen: Nach einer gängigen Basisdefinition liegt eine theatrale Situation vor, wenn ein Schauspieler A eine Figur B darstellt, eine Person C dabei zuschaut und B als B identifiziert.3 Konstitutiv für den Begriff des Theaters ist folglich eine spezifische Beobachtungssituation. Sie stellt Theatralität als einen Modus des Handelns allererst her, indem sie basale Differenzen einzieht: zum einen die Differenzierung von Spieler und Figur und zum anderen – was im Blick auf die vorangehenden Beiträge von besonderem Interesse ist – eine Trennung von Szene und Rahmen, also die Differenzierung eines Innen und Außen. In den hier untersuchten Beispielen vormoderner Aufführungspraktiken – dem Geistlichen Spiel, den höfischen Maskenfesten sowie der Geselligkeit in den Gärten Versailles’ – stehen ebendiese Grenzen in Frage: Im Geistlichen Spiel können Priester in der Rolle von Spielleitern auftreten, die wiederum Priester darstellen; die Zuschauer der Spiele sind nicht nur Beobachtende, sondern zugleich als Gemeinde Teil der Handlung (Müller). Analoges wurde für die Theatralität arrangierter Turniere oder hö3

Grundlegend zur Semiotik des Theatralen Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 1983, hier S. 24–30.

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fischer Huldigungsrituale festgestellt: Wenn die Zuschauer zugleich Teilnehmende sind, faltet sich die theatrale Beobachtungssituation gewissermaßen selbst ein und bringt die Grenzen zwischen Akteur und Augenzeuge zum Verschwinden (Müller). In einem vergleichbaren Sinne werden in Versailles die Spaziergänger zu Darstellern, die das Skript des Königs aufführen, indem sie die von ihm – im Doppelsinn des Wortes – vor-geschriebenen Wege nachvollziehen; der König fungiert ebenso als unsichtbarer Regisseur wie als unsichtbarer Beobachter seines ‚Hoftheaters‘ (Kolesch). So wird erst im heuristischen Rahmen des Theatermodells die Gartenanlage in ihrer Funktion als Bühne beschreibbar. Der Theatersaal, der im Garten aufgebaut ist, verdoppelt beziehungsweise verschachtelt das Theatralitätsgefüge nur abermals, so wie die spiegelnden Wasserflächen die Beobachtungssituation selbst abbilden. Die soziale Form der Etikette erscheint unter diesem Blickwinkel als Theater im Rahmen eines Selbstdarstellungs- und Selbstbeobachtungsspiels (Kolesch). Angesichts der pragmatischen Funktionen, um die es Jan-Dirk Müller und Doris Kolesch auch geht, wird ersichtlich, dass der Theatralitätsbegriff für kulturwissenschaftliche Analysen nicht nur trotz, sondern gerade wegen dieser Grenzverwischungen notwendig ist. Denn erst mit ihm lässt sich beschreiben, wie die Aufhebung intrinsischer Grenzen zugleich eine neue Grenzziehung ermöglicht. Statt einer Binnendifferenzierung zwischen einem Innen und Außen innerhalb des theatralen Settings etablieren die untersuchten Praktiken andere Grenzverläufe, die von weitreichender pragmatischer, religiöser beziehungsweise sozialer Dimension sind: Eine Grenze gezogen wird hier zwischen denen, die am Schauplatz des Theaters anwesend sind und die die polyvalenten Handlungs- und Beobachterpositionen besetzen können, und zwischen jenen, die vom Schauplatz und seinen Partizipationsmöglichkeiten gänzlich ausgeschlossen sind. Anwesenheit wird zu einem Signum der Exklusivität und bedingt eine soziale Identität, die nicht zwischen Figuren und Darstellern unterscheidet, sondern zwischen Anwesenden und Abwesenden. Dabei besitzt die Distinktion unterschiedliche Reichweiten: Sie kann im Dienst von Prestigegewinn einer exklusiven Minderheit stehen (zum Beispiel des burgundischen Adels) oder der Heilsversicherung einer exklusiven Mehrheit dienen (den Christen). Von der Beobachtbarkeit dieser Grenze sind die ‚Anderen‘ aber jeweils bereits ausgeschlossen, wenn das ‚Theater‘ beginnt. Allerdings sind angesichts der hier untersuchten Felder unterschiedliche Konzepte von Anwesenheit zu unterscheiden: Geht es in den Praktiken adliger Selbstdarstellung auch um eine binnenständische Differenzierung der geladenen Gäste, so gelten die Partizipanten eines Geistlichen Spiels selbst nur als Repräsentan-

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ten einer globalen communitas. Für den Theatralitätsbegriff erscheint mir eine solche Präzisierung insofern von Bedeutung zu sein, als sie auf die systematische Unterscheidung zielt, ob sich eine Grenze als von den Anwesenden selbst beobachtbare Differenz auftut oder ob eine solche ,nur symbolisch‘ emergiert. 2) Fiktionalität: Der Vortrag von Herrn Müller hat auf überzeugende Weise den Begriff der Fiktionalität für die Geistlichen Spiele präzisiert und von den Prämissen des modernen Theaters befreit: Theatertricks stehen im religiösen Drama nicht im Dienst der Illusion einer erfundenen Geschichte, sondern im Dienst der Illustration von historischer sowie religiöser Wahrheit. Diese Fiktionalität auf der Ebene der Darstellung tastet die Wahrheit und Geltung des Dargestellten gerade nicht an. Für die von Herrn Müller überdies besprochenen Turnier- und Huldigungsspiele ist diese Aussage zwar analog gültig, doch ist hier zusätzlich ein anderer Modus des Fiktionalen eingebettet: Die Darstellung referiert zuweilen auf fiktive Figuren der Romanliteratur, wobei die Anleihe auch dort behauptet wird, wo sie zweifelhaft ist („Abentheur des Finstern Schloß“4). Das ist für die Analyse des Fiktionalitätsaspekts ein instruktives Moment: Offensichtlich ist der bloße Anschein, man theatralisiere (Unterhaltungs-)Literatur, wo man sie doch selbst gerade erst erfindet, von zentraler Bedeutung. Fiktionalität ist dann als Modus per se zeichenhaft und wird dementsprechend ostentativ als solche ausgestellt. Besitzt die feudale Romanliteratur ebenfalls eine distinktive soziale Funktion für deren höfische Rezipienten, so gehen mit ihrer Theatralisierung darüber hinaus neue symbolische Dimensionen einher: Einerseits kann so die Unbesiegbarkeit des aktuellen Regenten imaginiert werden. Andererseits wird eine semiotische Unschärfe genutzt: Im Rückgriff auf vermeintlich ‚alte Historien‘ und ‚vergangene Geschichten‘ oszilliert höfische Literatur selbst zwischen Fiktionalität und Faktualität; sie berichtet von wundersamen Ereignissen, ohne gleichwohl gänzlich auf einen Wahrheitsanspruch zu verzichten. Dieses Oszillieren wird auf den Hoffesten fortgeführt, ästhetisch aktualisiert und politisch instrumentalisiert. Im Medium theatraler Inszenierung werden also nicht nur konkrete Herrschaftsansprüche kommuniziert; mit der Fiktion einer fiktiven Vorlage bemächtigt sich der Fürst zudem auf symbolische Weise der Literatur als eines Mediums der kulturellen Selbstvergewisserung einer Gesellschaft. Macht der König mit vermeintlichen Kampferfolgen in den spätmittelalterlichen Hoffesten seinen Rang als Herrscher sichtbar und wird im Modus der Theatralität zugleich eine fiktive All-Macht imaginiert, so wird auch in 4

Vgl. hierzu den Beitrag von Jan-Dirk Müller, Symbolische Kommunikation zwischen Liturgie, Spiel und Fest, in diesem Band S. 331–355.

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den Gärten von Versailles die weltliche Macht des Königs übersteigert und sogar als eine gottgleiche inszeniert (Kolesch). Beide Male wird versucht – so ließe sich meines Erachtens mit Thomas Luckmann formulieren –, eine ‚mittlere‘ Transzendenz in eine ‚große‘ zu transformieren.5 Wobei zu beachten ist, dass das Geistliche Spiel im Vergleich mit weltlichen Aufführungspraktiken in einem komplexeren Vermittlungszusammenhang steht; das lässt sich beispielsweise anhand der Autorität des Spielleiters/Priesters im Gegensatz zur Autorität der Herrscherfiguren der weltlichen Spiele zeigen: Im religiösen Drama ist der Ranghöchste der Mitspieler selbst stets nur Mittler; die Präsenz des Heils bildet zwar den permanenten Bezugspunkt der Spiele, doch wird das Wirken der Transzendenz ausschließlich als eine zu vermittelnde Dimension verhandelt. Insofern die Theatralität des Geistlichen Spiels folglich durch ein Spannungsmoment charakterisiert wird, das durch die Gleichzeitigkeit von biblischer Geschichte und Gegenwart, von Heilspräsenz und -absenz geprägt ist, erzeugt es eine reale, wenn auch paradoxe Spur der Transzendenz. Der weltliche Schauspieler-Herrscher dagegen, der mit theatralen Strategien seinen Status inszeniert, demonstriert zwar durchaus Aspekte seiner realen Macht (über seine Untergebenen sowie über die Natur, die er durch die ihm zur Verfügung stehende Gartenbautechnik bändigen kann); doch seine Unbesiegbarkeit und ‚Göttlichkeit‘ kann er mit theatralen Mitteln – sei es im Rückgriff auf fiktionale Motive oder auf technisches Wissen – nur allegorisieren, sie bleibt ‚nur symbolisch‘. Wie auch unter dem Aspekt der Grenzziehungen zeigt sich auch unter jenem der Fiktionalität, dass der Theatralitätsbegriff seine heuristische kulturwissenschaftliche Funktion gerade dort entfaltet, wo konstitutive Elemente des bürgerlichen Theaters in historischen Aufführungspraktiken einen gänzlich anderen Stellenwert besitzen. Dass hierbei auf die Wechselwirkung mit zeitgenössischen Diskursen zu achten ist, erweist sich – wie die vorstehenden Beiträge zeigten – für die Diskussion der jeweiligen Fiktionalitätsbegriffe als wesentlich. Die historisierende Methode hat Konsequenzen für die aktuelle theoretische Konzeptionalisierung des Verhältnisses von Fiktionalität und Theatralität: Wie in den Beiträgen von Frau Kolesch und Herrn Müller vor Augen geführt, ist Fiktionalität im Dienste symbolischer Kommunikation je differenten und zu differenzierenden Ebenen und Strategien zuzuordnen. 3) Bildlichkeit: Die Fokussierung auf Theatralität hat die Kulturwissenschaften auch für die visuellen Aspekte von Kommunikation sensibilisiert. In 5

Thomas Luckmann, Über die Funktion von Religion, in: Peter Koslowski (Hg.), Die religiöse Dimension der Gesellschaft, Tübingen 1985, S. 26–41, hier S. 29–34 (mit Verweis auf Alfred Schütz / Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1984).

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den in dieser Sektion besprochenen vormodernen theatralen Formen kommt der Produktion von Bildern auf je eigene Weise ein wichtiger Status zu. Für das Geistliche Spiel hat Herr Müller mit dem Beispiel der vera icon auf die Produktion von Memorialbildern im Kontext der Aufführung aufmerksam gemacht. Wenn dieses im „Donaueschinger Passionsspiel“ gezeigte Memorialbild auch kein Original ist, so verweist es doch auf ein reales Andachtsbild, das wiederum auf ein reales ‚historisches‘ Ereignis zurückzuführen ist. Analoges kann für das Geistliche Spiel hinsichtlich anderer figuraler ‚Bilder‘ behauptet werden, etwa wenn die Schauspieler in szenischer Darstellung Motive der bildenden Kunst verkörpern und (re-)inszenieren. Das Geistliche Spiel stellt somit bekannte Bilder her und aktualisiert traditionelle Ikonographien im Modus der theatralen Aufführung. Charakteristisch für die Spektakel in den Gärten von Versailles ist im Gegensatz zum Geistlichen Spiel die Produktion neuer Bilder (Kolesch): Das Staunen, welches die kühnen Landschaftsfigurationen hervorrufen, erfüllt ein Kalkül ästhetischer Überraschung (auch wenn die Frage wohl offen bleiben muss, ob die programmierte Wirkung mit der realiter erzeugten übereinstimmte beziehungsweise ob das je neu eingeforderte Staunen mitunter selbst nicht schon ein inszenierter Affekt gewesen sein kann). Nach Doris Kolesch können die Gärten selbst als Akte der Bildproduktion unter dem Gesichtspunkt der Zentralperspektive gedeutet werden: Die Bildlichkeit dieser theatralen Inszenierung dient der Machtdemonstration des Herrschers, indem dieser neue technische Verfahren anwenden und eine neue Bildtechnik zelebrieren lässt. In der dem Modus der Theatralität eigenen Gleichzeitigkeit von Repräsentation und Präsenz kommt der Produktion von Bildern in sämtlichen historischen Kontexten folglich zwar eine zentrale Funktion zu, doch sind – wie gezeigt wurde – bedeutsame Unterschiede zu verzeichnen. Für die kulturwissenschaftliche Theatralitätsforschung verweist dieser Befund auf die Notwendigkeit, theoretische und terminologische Differenzierungen zu erarbeiten und zu ergänzen, wo Bilder von symbolischen Handlungen und Bilder als symbolische Handlungen vorgeführt werden und wo mithilfe visueller Bilder Unsichtbares symbolisch vermittelt werden soll. Ich habe meinen Kommentar ausgehend von den im Rahmen dieser Sektion vorgestellten Studien an den Stichworten Grenzziehung, Fiktionalität und Bildlichkeit festgemacht. Diese Stichworte sind natürlich nur ein möglicher Einstieg in die weiterführende Diskussion symbolischer Kommunikation theatraler Praktiken. Der Sonderforschungsbereich „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ hat auf einer breiteren historischen Basis bereits höchst

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aufschlussreiches Material aufgearbeitet und theoretisch perspektiviert.6 Für diese Studien gilt ebenso wie für die Beiträge zu dieser Sektion, dass gerade der interdisziplinäre Dialog wesentlich dazu beitragen kann, zentrale analytische Kategorien des kulturwissenschaftlichen Theatralitätsbegriffs weiter zu präzisieren. Als ein besonders wichtiges Resultat, das sich aus der Zusammenschau unterschiedlicher historischer Aufführungspraktiken ergeben hat, möchte ich hervorheben: So wenig wie das klassische Theater für alle Formen moderner Theatralität als repräsentativ gelten kann,7 so wenig kann auch von vormoderner Theatralität im Singular gesprochen werden. Spezifisch im Blick auf das Tagungsthema ist zudem zu unterstreichen, dass auch das Symbolische in der medialen Form des Theatralen auf jeweils unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Funktionszusammenhängen zu verorten ist. In dieser Sektion ist meines Erachtens nämlich deutlich erkennbar geworden, dass sich die Leistung symbolischer Kommunikation des Theatralen nicht in der Affirmation von Normen und auch nicht in der performativen Bildung einer intendierten Gemeinschaftsstruktur erschöpft. Das Spiel, das Fest und die Promenaden bedienen sich vielmehr symbolischer Kommunikationsformen (von Liturgie, Literatur und politischem Handeln) einerseits, so wie sie andererseits performativ selbst jeweils neue Modelle von Kommunikation zu erzeugen vermögen. Abschließend sei noch die These zur Diskussion gestellt, dass sich die hier untersuchten theatralen Aufführungspraktiken jeweils durch eine auffällige Heterogenität der Handlungselemente, Repräsentationsebenen und symbolischen Formen auszeichnen und dass diese Heterogenität eine wesentliche Dimension von deren Differenz gegenüber dem bürgerlichen Theater ausmacht. Die besprochenen Aufführungspraktiken erscheinen in der zeitlichen Struktur ihrer Performanz jeweils als Verkettung unterschiedlicher Repräsen6

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Als Auswahl mögen folgende Literaturhinweise dienen: Christel Meier / Heinz Meyer / Claudia Spanily (Hgg.), Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 4), Münster 2004; Christel Meier / Bart Ramakers / Hartmut Beyer (Hgg.), Akteure und Aktionen. Figuren und Handlungstypen im Drama der Frühen Neuzeit (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 23), Münster 2008; Christel Meier, Sakralität und Komik im lateinischen Drama der Frühen Neuzeit, in: Katja Gvozdeva / Werner Röcke (Hgg.), Risus sacer – sacrum risibile. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik N. F. 20), Bern u. a. 2008, S. 163–184; Christel Meier / Angelika Kemper (Hgg.), Europäische Schauplätze des frühneuzeitlichen Theaters. Normierungskräfte und regionale Diversität (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 34), Münster 2011. Vgl. hierzu den Beitrag von Doris Kolesch, Promenaden im Park von Versailles. Permutationen von Leben und Spiel, von Alltag und Fest, von Skript und Performanz, in diesem Band S. 357–368.

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tationsmodi: im Geistlichen Spiel in der Kombination von kommentierenden paradramatischen Szenen und mimetisch-darstellenden Passagen; in den Hoffesten im Nach- und Ineinander von Turnier und Theater; in den Spaziergängen in der zeitlich organisierten Progression des Promenierens und der so ermöglichten sukzessiven und prozessualen Wahrnehmung verschiedener Bildtypen. Die Kombination heterogener Elemente – realer, symbolischer, imaginärer und fiktiver – ist für die Deutung der jeweiligen Aufführungspraxis unter dem Aspekt der Theatralität von besonderem Interesse. Sie findet sich nicht nur in den Spaziergängen in Versailles (man denke hinsichtlich fiktiver Elemente an die mythologischen Figuren oder die Fiktionalisierung des Gartens durch die Ekphrasis), sondern auch in den Hoffesten und Turnieren ebenso wie im Geistlichen Spiel (man denke ebenfalls hinsichtlich fiktiver Elemente beispielsweise an die Mercator-Szenen innerhalb der visitatio sepulchri). Die Vielzahl von Ebenen, Adressierungen und Rahmungen, die durch die Kombination heterogener Elemente erzeugt wird, hält den Repräsentationsstatus der Gesamtdarstellung eigentümlich in der Schwebe und verlangt so von den Zuschauern für die Dauer der Aufführung einen steten ‚Blickwechsel‘. Unter der Perspektive der historischen Alterität bleibt zu fragen, ob und inwieweit das klassische Kunsttheater, aus dem der gängige Theaterbegriff abgeleitet wurde, sich gegenüber der hier skizzierten Heterogenität unterscheidet: Die Verfestigung der semiotischen Grenzen, die Vereinheitlichung des Fiktionalitätsstatus sämtlicher Handlungselemente und die Autoreferentialität der Bildlichkeit scheinen mit einer Homogenisierung des theatralen Repräsentationsstatus einher zu gehen. Das klassische Theater hat die Potentiale der symbolischen Kommunikation womöglich gerade darin grundlegend verändert.

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Städtischer Markt und symbolische Kommunikation* I. Einleitung Wirtschaft bestimmt unser Leben: Die Universität hängt von Haushaltszuweisungen ab, deren Höhe von politischen Vorgaben, aber auch ganz trivial von konjunkturellen Wechsellagen bestimmt wird. Wir, die Hochschullehrer, gehören inzwischen in unserem universitären Alltag der Gattung des homo oeconomicus an: Wir investieren unsere Arbeitskraft in Projektdesign und -management und erwarten als Belohnung nicht nur Reputation, sondern auch und gerade höhere Forschungsbudgets. Die Jüngeren unter uns, auf dem akademischen Arbeitsmarkt präsent, rechnen sich Berufungen respektive Gehaltserhöhungen im Rahmen von Bleibeverhandlungen aus. Nach Dienstschluss wägen wir als Konsumenten Preise und Nutzen von Gütern ab, wählen etwa zwischen Billigflieger und Linienflug, besitzen eine Bahncard und tanken montags, weil es oft billiger als an anderen Tagen ist. Wir entscheiden uns am Häuser- und Bodenmarkt für die Alternative Miete oder Immobilie; und auch am Geldmarkt sind wir tätig – Hypothekenzinsen sind für uns ebenso wichtig wie der Zinssatz auf Tagesgeld. Allein: Dieses Wissen um die zentrale Bedeutung von Wirtschaft fließt in unsere wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen kaum ein. Denn: Der münsterische Sonderforschungsbereich „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ hat dem wirtschaftlichen Geschehen in der Vormoderne keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet. In Bezug auf Produktion, Distribution und Konsumtion von Gütern und Dienstleistungen kann man sagen: Nichts war symbolisch! Die uns umtreibende ‚symbolische Kommunikation‘ war in den vergangenen zwölf Jahren fast ausschließlich an der Spitze mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gesellschaftspyramiden zu besichtigen: Päpste, Kaiser und Könige, Diplomaten, Komponisten und Maler waren die münsterischen Helden, die qua symbolischer Kommunikation ihren Rang absicherten, konsensgestützt Herrschaft ausübten, Missliebige exkludierten und ihren Wertekanon performativ zelebrierten. *

Nahezu unveränderte Fassung meines Vortrages vom 18. Juni 2011. Für die Veröffentlichung sind in den Anmerkungen neben den Belegen weiterführende Argumente sowie Hinweise der Diskussion aufgenommen worden.

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Warum diese Verengung? Hier spiegelt der Sonderforschungsbereich aktuelle Tendenzen des Faches wider, in dem die neoklassisch oder neomarxistisch inspirierte, aber auch die kulturgeschichtlich unterfütterte Wirtschaftsgeschichte eine Randstellung einnimmt.1 Das war in den 1970er und 1980er Jahren, den beiden Jahrzehnten der ‚Geschichte als historischer Sozialwissenschaft‘, anders. Wenn ich auf meine Studien- und Assistentenzeit in Bielefeld zurückschaue, dann fallen mir all die Graphen, Stabdiagramme und Kreuztabellen wieder ein, welche damals als methodisch aufwendiger und zugleich ertragreicher Zugang zu sozioökonomischen Basisprozessen angesehen wurden – der Slogan lautete: von der Quelle zur Tabelle. Doch seit der kulturalistischen Wende scheint die Zeit für analytisch-erklärende Zugriffe auf vergangenes Geschehen abgelaufen zu sein, ohne dass für die Vormoderne eine Renaissance hermeneutisch-verstehender Wirtschaftsgeschichte zu konstatieren ist. Der Mensch des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bleibt uns mit seiner Art von Geschäften fremd. Das Diktum Droysens, „Den Schrei der Angst vernehmend, empfinden wir die Angst des Schreienden“,2 ist nicht im Sinne von „Den Kaufvertrag lesend, erkennen wir die zweckrationalen Erwägungen von Käufer und Verkäufer“ zu neuen Ehren gekommen. Es hat in der Forschung den Anschein, als wenn das vergangene Geschehen auf den Märkten und in den Produktionsstätten nicht den Gesetzen von Angebot und Nachfrage und rationalem Nutzenkalkül gefolgt sei. So gerät die ökonomische Sphäre erst nach der Produktion oder nach dem Kauf von Gütern in den Blick; in dieser Perspektive mutiert die auf Geld beruhende Verkehrswirtschaft mitunter zur Gabentauschwirtschaft.3 Ostentativer Luxus wird als Mechanismus der Rangabsicherung identifiziert, akkumuliertes Kapi1

2 3

Dass Wirtschaftsbeziehungen auf kulturell geprägten Regeln, etwa Werten und Emotionen, beruhen, betonen für die Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Hartmut Berghoff / Jakob Vogel (Hgg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivwechsels, Frankfurt a. M./New York 2004 und Jakob Tanner, „Kultur“ in den Wirtschaftswissenschaften und kulturwissenschaftliche Interpretationen ökonomischen Handelns, in: Friedrich Jaeger / Jörn Rüsen (Hgg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart/Weimar 2004, S. 195–224. Vgl. die empirische Umsetzung im Themenheft „Vertrauen/Trust“ des Jahrbuches für Wirtschaftsgeschichte 2005/1. Doch bleibt der Eindruck, dass diese Ansätze in die ‚allgemeine Geschichte‘ kaum einfließen. Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik, in: ders., Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. von Rudolf Hübner, München 31958, S. 317–366, hier S. 328. Das Konzept des Gabentausches im Sinne von Marcel Mauss (Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 21994) erschließt die ökonomische Seite der Marktbeziehungen nicht, kann aber nichtsdestoweniger Einblicke in den Umgang mit Gütern geben. Vgl. Valentin Groebner, Gefährliche Geschenke: Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000.

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tal, sprich Vermögen, ist vor allem untersuchenswert, wenn es in symbolisches Kapital transformiert wurde.4 Dabei bietet uns die ältere Forschung einige Hinweise, dass die Bedeutung symbolischer Kommunikation im wirtschaftlichen Geschehen nicht zu unterschätzen ist. Deshalb möchte ich im Folgenden einige der Zeichen, Symbole und Rituale am Beispiel städtischer Marktplätze in Spätmittelalter und Früher Neuzeit vorstellen.5 Dazu gilt es, zentrale Überlegungen der älteren Forschung zur Stadtwirtschaft mit ins Gepäck zu nehmen: Sowohl die Historische Schule der Nationalökonomie als auch neomarxistische Autoren sahen zwei Pole vormoderner Wirtschaft. Einerseits betonten sie für Teilbereiche der vor- und frühkapitalistischen Wirtschaft das freie Spiel der Kräfte, andererseits sahen sie, dass Normen und Werte den Mengen-Preis-Mechanismus und individuelle Nutzenkurven beeinflussten. Preise waren somit sozial eingebunden. Sombart entwickelte seinen Idealtypus des Bedarfsdeckungsprinzips als Kontrapunkt zum Erwerbsprinzip;6 Polanyi betonte, Distribution und Reziprozität seien zentrale Mechanismen auf dem Gütermarkt gewesen.7 Welchem dieser beiden Pole, Restriktion oder kapitalistisches Spiel der Kräfte, man zuneigt, hängt auch von Stadtbildern und damit Kulturwertideen unserer Gegenwart ab. Mein Eindruck ist, dass heute bezüglich der Stadt des Mittelalters und der Frühen Neuzeit eine Rückbesinnung auf ältere Interpretationen erfolgt. ‚Stadt‘ wird erneut als Teil eines umfassenden, positiv konnotierten Modernisierungsprozesses konturiert, und zwar im Weberschen Sinne als Geburtsort des Kapitalismus, als Marktstadt von Konsumenten und Produzenten, als „Ort des Aufstiegs aus der Unfreiheit in die Freiheit durch 4

Michael Hecht beschreibt anschaulich die Mechanismen und die Fragilität dieses Transformationsprozesses. Vgl. Michael Hecht, Patriziatsbildung als kommunikativer Prozess. Die Salzstädte Lüneburg, Halle und Werl in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Städteforschung, Reihe A, 79), Köln u. a. 2010. 5 Jochen Hoock hebt hervor, dass wegen der Komplexität und Dichte der Tauschbeziehungen im Handlungsraum ‚Markt‘ die Forschung den Blick vom Kontor des Kaufmanns wieder auf die Marktplätze richten sollte: „Wie man sich am Markt verhält, muß erst erlernt werden.“ Jochen Hoock, Markt und Märkte im frühneuzeitlichen Europa, in: Renate Dürr / Gerd Schwerhoff (Hgg.), Kirchen, Märkte und Tavernen. Erfahrungs- und Handlungsräume in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2005, S. 418–426, hier S. 420. Nicht behandelt werden die Gütermärkte im Themenheft „Märkte im vorindustriellen Europa“ des Jahrbuches für Wirtschaftsgeschichte 2004/2. 6 Die zentralen Definitionen des Nahrungs- und des Erwerbsprinzips finden sich bei Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, Band 1: Die vorkapitalistische Wirtschaft, 1. Halbband, Berlin 1969, S. 188 f. und S. 319 f. 7 Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a. M. 1978, besonders Kap. I, 5 (Die Entwicklung des Marktwesens) und I, 6 (Der selbstregulierende Markt und die fiktiven Waren: Arbeit, Boden und Geld).

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das Mittel geldwirtschaftlichen Erwerbs“, so Weber.8 Diese Aspekte werden in der kürzlich erschienenen Studie des amerikanischen Ökonomen und Wirtschaftshistorikers Edward Glaeser „Triumph of the City“ herausgestellt, welche den bezeichnenden Untertitel trägt: „How our greatest invention makes us richer, smarter, greener, healthier, and happier”.9 Diese Deutung lässt es für diesen Vortrag naheliegend erscheinen, auf ältere Studien von Abel und Labrousse,10 auf neuere Studien zur englischen Stadtgeschichte11 und auf die Trierer Dissertation von Christian Jörg12 zu verweisen, die allesamt die Stadt des Okzidents als einen Ort funktionierender, das heißt in Schranken preisund mengenelastischer, Gütermärkte und als Ort der Produktion für den städtischen, regionalen und globalen Markt konturieren. Einschränkend muss jedoch dabei gesagt werden, dass diese Überlegungen anhand von Massengütern (Nahrungsmitteln und Gewerbeerzeugnissen, etwa Textilien) erstellt worden sind, auf die ich mich im Folgenden auch konzentrieren werde. Tim Neu wird in seinem Beitrag einen anderen Ansatz verfolgen.13 Meine zweite Einschränkung ist die, dass Märkte mit dem Geschehen auf dem städtischen Marktplatz gleichgesetzt werden;14 Markt als „Inbegriff der Absatzmöglichkeiten“ (Werner Sombart) wird von mir somit räumlich begrenzt, um die ‚face-to-face-Tauschbeziehungen‘ besser betrachten zu können.15 Die vom Kontor des Kaufmanns gelenkten Warenströme werden also 8 Max Weber, Die nichtlegitime Herrschaft (Typologie der Städte), in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß einer verstehenden Soziologie, Tübingen 51980, S. 727–814, hier S. 742. 9 Edward L. Glaeser, Triumph of the City. How Our Greatest Invention Makes Us Richer, Smarter, Greener, Healthier, and Happier, London 2011. 10 Vgl. Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg/Berlin ³1978; ders., Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg/Berlin 1974; Ernest Labrousse, Esquisse du mouvement des prix et des revenus en France aux xviiie siècle, 2 Bde., Paris 1933. 11 Bes. Maryanne Kowaleski, Local Markets and Regional Trade in Medieval Exeter, Cambridge/ New York 1995; Heather Swanson, Medieval Artisans. An Urban Class in Late Medieval England, Oxford 1989 und William M. Reddy, The Rise of Market Culture. The Textile Trade and French Society, 1750–1900, Cambridge/New York 1987 stellen für das spätmittelalterliche England bzw. das frühneuzeitliche Frankreich sowohl den dominanten Einfluss überregionaler Nachfrageströme als auch der städtischen Nachfrage, manifest auf den Stadtmärkten, für Wohl und Wehe des Handwerks heraus. Zu erinnern ist auch an die allein vom Weltmarkt abhängigen Konjunkturen der Protoindustrie bzw. der ländlichen Gewerbelandschaften (Eisen- und Textilerzeugnisse). 12 Vgl. Christian Jörg, Teure, Hunger, Großes Sterben. Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2008. 13 Vgl. den Beitrag von Tim Neu, Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln. Theoretische Perspektiven, in diesem Band S. 401–418. 14 Betrachtet werden periodisch stattfindende Märkte. Damit sind mehrmals in der Woche stattfindende Märkte, Wochen- und Jahrmärkte sowie Messen angesprochen. Vgl. auch Anm. 18. 15 Diesen Ansatz verfolgen die Studien von Dominique Margairaz, Foires et marchés dans la France préindustrielle, Paris 1988; Craig Muldrew, Zur Anthropologie des Kapitalismus. Kredit, Vertrauen, Tausch und die Geschichte des Marktes in England 1500–1750, in: Histori-

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nicht in die Analyse einfließen.16 Deutlich ist zudem geworden, dass ich von einem Teilsektor ‚Wirtschaft‘ mit eigenen Gesetzlichkeiten ausgehe – es geht mir um den materiellen Lebensunterhalt und Bedürfnisbefriedigung in einer auf Ware-Geld-Beziehungen beruhenden Tauschwirtschaft. Marktkultur ist folglich die zweckrationale Auseinandersetzung der Wirtschaftssubjekte mit den Mechanismen des Marktes, aber sie ist nicht ein alle gesellschaftlichen Sektoren überwölbendes Deutungssystem. Damit falle ich gewissermaßen hinter den symbolisch-konstruktivistischen Ansatz des münsterischen Sonderforschungsbereichs zurück, der den materiellen Gütern einen institutionellen Charakter zuschreibt, welcher „auf der Anerkennungsleistung seitens der Akteure beruht“ und der symbolisch vermittelt wird.17 Diese Wert- und Sinnzuschreibungen fließen, das konzediere ich sofort, in die Nutzenerwägungen ein – sie aber als Faktor der Marktlogik messen zu wollen, erscheint mir nicht möglich. Konzentrieren wir uns also auf den Zusammenhang von symbolischer Kommunikation und Kaufakten. Mit Christof Jeggle möchte ich den städtischen Markt folgendermaßen definieren: Ein Markt ist […] ein räumlich und zeitlich festgelegter Ort, an dem Waren ge- und verkauft werden. Die Preisbildung wird durch Angebot und Nachfrage geregelt. Die kommunale Obrigkeit sichert auf verschiedene Weise den Betrieb des Marktes: Sie kontrolliert Qualität und Preise von Grundnahrungsmitteln und sie gewährleistet die Marktfreiheit und -gerechtigkeit, indem sie Geschäfte außerhalb des Marktes unterbindet (Vor- und Aufkauf im Umfeld des Marktes), Ware mit Qualitätsmängeln sanktioniert und Störungen des Marktfriedens verfolgt sowie zur Schlichtung und Aufsicht ein besonderes Marktgericht bestellt.18 sche Anthropologie 6, 1998, S. 167–199, Michaela Fenske, Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln u. a. 2006 und Georg Stöger, Sekundäre Märkte? Zum Wiener und Salzburger Gebrauchtwarenhandel im 17. und 18. Jahrhundert, Wien/München 2011. 16 Vgl. Hoock, Markt (wie Anm. 5). Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. 2: Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, 1. Halbband, Berlin 1969, S. 185. 17 Finanzierungsantrag 1. Januar 2009–31. Dezember 2011 des Sonderforschungsbereichs 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“, Münster 2008, S. 17. 18 Christof Jeggle, Nahrung und Markt in Ökonomien städtischer Gewerbe in der Frühen Neuzeit. Methodische Überlegungen am Beispiel des Leinengewerbes in Münster/Westfalen, in: Robert Brandt / Thomas Buchner (Hgg.), Nahrung, Markt oder Gemeinnutz. Werner Sombart und das vorindustrielle Handwerk, Bielefeld 2004, S. 95–130, hier S. 109. Vgl. die Überblicke in Peter Johanek / Heinz Stoob (Hgg.), Europäische Messen und Märktesysteme in Mittelalter und Neuzeit, Köln 1996; als Fallstudie Franz Irsigler, Zur Hierarchie der Jahrmärkte, in: Sönke Lorenz / Thomas Zotz (Hgg.), Spätmittelalter am Oberrhein. Alltag, Handwerk und Handel 1350–1525. Aufsatzband, Stuttgart 2002, S. 89–99.

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Diese Marktdefinition mit ihrer Betonung des Preises als Knappheitsindikator und damit als Kaufanreiz19 hat Auswirkungen auf meine nachfolgende Betrachtung symbolischer Kommunikation. Meine These lautet: Symbolische Kommunikation auf den städtischen Märkten war funktional notwendig; sie senkte erstens Transaktionskosten, erleichterte zweitens die Kaufverhandlungen und erlaubte drittens die liturgische Überhöhung städtischer Marktgesellschaft. Doch war diese Marktkultur der Zeichen, Symbole und Rituale nur Teil eines komplexen, von den Intentionen der Individuen bestimmten Interaktionsgeschehens, das ergebnisoffen war. Instrumentelles, das heißt zweckorientiertes, zeichen- und symbolhaftes Handeln und symbolisch-expressives Handeln gingen ineinander über.

II. Die Senkung der Transaktionskosten Zunächst geht es um die Senkung von Transaktionskosten, also den nicht direkt pekuniär zu messenden, aber trotzdem den Kauf beeinflussenden Sicherungs-, Such- und Verhandlungskosten.20

1. Sicherungskosten: Rechtssicherheit bei gleichzeitigem Regulierungsanspruch Wirtschaftliches Handeln benötigt wechselseitiges Vertrauen, und zwar in Bezug auf die Verlässlichkeit von Verkäufer und Käufer, von Produzent und 19 Diese eher (neo-)klassische Prämisse ist in der Diskussion mehrfach kritisch angesprochen worden. Dass aber der Preis auch in der Vormoderne zentrales Kriterium für Kaufentscheidung von Massen- und Luxusgütern war, durchzieht die gesamte Forschung zum Handel und zu den Kaufleuten. Vgl. Josef Ehmer / Reinhold Reith, Märkte im vorindustriellen Europa, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2004, Heft 2, S. 9–24, und als jüngste Zusammenfassung, auch unter Einbeziehung kulturalistischer Ansätze, Mark Häberlein / Christof Jeggle (Hgg.), Praktiken des Handels. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit, Konstanz 2010. Ein unverdächtiges Zeugnis für Preiselastizität ist die Vita Otto von Bambergs, in welcher zum Jahr 1124 berichtet wird, dass der Erzbischof vor seiner Missionsreise nach Pommern seinen „economus“ Rudolfus bat, Naturaleinkünfte im sächsischen Gebiet zu Geld zu machen, sich dann zum Markt nach Halle zu begeben („ad nundinas Hallae“). Dort könne er wertvolle Tuchwaren wohlfeil finden, die in Pommern teuer seien („preciosos pannos, in terra Pomoranorum caros, frugi mercatu Hallae“); s. Arthur Bierbach (Bearb.), Urkundenbuch der Stadt Halle, ihrer Stifter und Klöster, Bd. 1: 806–1300 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, N. R. 10), Magdeburg 1930, Nr. 21, S. 27 f. 20 Ich folge hier der Argumentation von Kowaleski, Local Markets (wie Anm. 11), Kapitel 5: „Transaction costs“, S. 179–221, welche die Überlegungen von North und Thomas zu den Transaktionskosten auf die spätmittelalterlichen Märkte mit überwiegend gewerblichen Erzeugnissen anzuwenden sucht; Douglass C. North / Robert Paul Thomas, The Rise of the Western World. A New Economic History, Cambridge, MA 1973.

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Konsument. Da aber genau dies nicht immer gewährleistet war – Bekanntund Verwandtschaft sowie Kaufmannsnetzwerke waren nicht immer gegeben  –, war ein Marktrecht notwendig. Marktkreuz, Brunnen, Marktfahne oder Roland zeigten Fremden und Städtern an, dass hier stadtherrliches oder kommunales Marktrecht herrschte.21 Dieses gewährte Vertragssicherheit, ermöglichte Reklamationen bei schlechter Ware und sah Strafen bei Betrug vor. In den englischen Städten stand das Marktkreuz als Symbol königlicher Stadtherrschaft, in den deutschen Städten erlebten Roland und Marktkreuz einen Bedeutungswandel vom Symbol des stadtherrlichen Marktregals und des Kaufmannschutzes hin zum Denkmal, das an die Erringung der Bürgerfreiheit erinnerte und in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt die kommunale Marktfreiheit anzeigte.22 Mit dieser Botschaft verbunden war die Befugnis zur Kontrolle und zur Gebührenerhebung. Wohl das früheste dieser Zeugnisse ist das Trierer Marktkreuz, um 958 vom Erzbischof Heinrich nach dem Erhalt des Marktbannes durch König Otto I. errichtet.23 Schaut man sich die Befunde zu Gestalt und Ikonographie der Marktkreuze an, so ist festzuhalten, dass es keinen Einheitstyp gab. Vom einfachen Kreuz mit Wetterhahn über eine Bedachung bis hin zum großen Gebäude mit Bildprogramm, das Königsmacht und/oder städtisches Prestige vereinte, reichte das Spektrum.24 Robert Ricarts Kalender von 1479 zeigt den Markt von Bristol mit dem hohen Kreuz in der Mitte. Dieses war mit Bildern der Könige John, Henry III, Edward III und Edward IV sowie der Stadtheiligen versehen.25 21 Stadtrecht war von seiner Genese her Kaufmanns- und Marktrecht. Diese These der älteren Stadtgeschichtsforschung ist nach wie vor zu bejahen: Edith Ennen, Die europäische Stadt des Mittelalters, Göttingen 1972, S. 105–112. Wegweisend in diesem Zusammenhang Walter Schlesinger, Forum, Villa Foris, Ius Fori. Einige Bemerkungen zu Marktgründungsurkunden des 12. Jahrhunderts aus Mitteldeutschland, in: Max Braubach / Franz Petri / Leo Weisgerber (Hgg.), Aus Geschichte und Landeskunde. Forschungen und Darstellungen. Franz Steinbach zum 65. Geburtstag gewidmet von seinen Freunden und Schülern, Bonn 1960, S. 408–440. In Anlehnung an Max Weber pointiert Gerhard Dilcher diesen Zusammenhang. Vgl. Gerhard Dilcher, Personale und lokale Strukturen kaufmännischen Rechts als Vorformen genossenschaftlichen Stadtrechts, in: Klaus Friedland (Hg.), Gilde und Korporation in den nordeuropäischen Städten des späten Mittelalters, Köln/Wien 1984, S. 65–77; ders., Bürgerrecht und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter, Köln u. a. 1996. 22 Exemplarisch sei für den Bedeutungswandel vom stadtherrlichen zum kommunalen Bedeutungsträger auf das Trierer Marktkreuz hingewiesen, das zunächst Hoheitswahrzeichen des Erzbischofs war, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts jedoch, mit einer erweiterten Inschrift und dem Petruswappen der Stadt versehen, auf die errungene Autonomie der Stadt und damit auf die städtische Marktfreiheit verwies. Vgl. Hans Eichler / Richard Laufner, Hauptmarkt und Marktkreuz zu Trier. Eine kunst-, rechts- und wirtschaftsgeschichtliche Untersuchung, Trier 1958, S. 114–126. 23 Vgl. ebd., S. 101–105. 24 Vgl. James Davis, The Cross and the Pillory. Symbolic Structures of Commercial Space in Medieval English Towns, in: Susanne Ehrich / Jörg Oberste (Hg.), Städtische Räume im Mittelalter, Regensburg 2009, S. 241–259. 25 Vgl. ebd., S. 252.

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Abb. 16: Marktkreuz Trier mit Wochenmarkt, Postkarte, um 1900.

Abb. 17: Das hohe Kreuz von Bristol, Robert Ricart, The Maire of Bristowe is Kalendar, spätes 15. Jhdt., Bristol Record Office.

Der schöne Brunnen in Nürnberg, erbaut nach 1385, zeigt im ersten Geschoss die sieben Kurfürsten und die Neun Guten Helden, im zweiten Geschoss Moses und die sieben Propheten, im Brunnentrog sitzen auf Pfeilern die vier Evangelisten, die vier Kirchenväter und Personifikationen der sieben freien Künste. Demzufolge wurden das Gute Regiment, die Stadt als corpus christianum und der Status als Reichsstadt mit der Marktfreiheit in Verbindung gebracht.26

26 Hartmut Boockmann, Die Stadt im späten Mittelalter, München 1986, S. 131.

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Die Anschaulichkeit, aber auch die Mehrdeutigkeit der Marktkreuze und Brunnen werden ersichtlich. Die Bedeutung aber, die dem Marktrecht im kollektiven Bedeutungssystem zugesprochen wurde, erhielt ihre rituelle Bestätigung durch das Verlesen der königlichen Proklamationen vor dem Marktkreuz; in Städten waren es die Ratsmandate, die vor dem Brunnen oder dem Roland verkündet wurden. Dort konnte auch der Bürgereid von allen wiederholt werden.27 Die herausgehobene Bedeutung dieser steinernen Bauwerke wurde zudem durch Gesetze unterstützt: Dort begangene Gewaltakte fanden stärkere Bestrafung Abb. 18: Schöner Brunnen und Markt in Nürnberg, als an anderen Plätzen. Die Postkarte, um 1920. große Symbolkraft machten Kreuz, Brunnen und Roland auch als Standort für Verkäufer attraktiv. Dass die Einhaltung des Marktrechts der Kontrolle bedurfte und dass bei Verstoß umgehend die Sanktion erfolgte, schlug sich ebenfalls in der Topographie und Symbolik des Marktplatzes nieder: Das Rathaus, ein Gerichtsgebäude und die Waage (s. u.) zeigten an, dass Marktmeister die Aufsicht führten. Bei Messen und Jahrmärkten, also einmaligen Märkten im Jahreslauf vor den Toren der Stadt, verwies das Zelt des Marktmeisters auf Marktrecht 27 Abbildungen etwa in ebd., Tafel 131 (Retabel um 1476, das einen Hostiendiebstahl zeigt und in diesem Zusammenhang den städtischen Brunnen als Treffpunkt erkennen lässt) und Cord Meckseper, Kleine Kunstgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter, Darmstadt 1982, Tafel 152 (Luzern Weinmarkt: Bundeschwur der Bürger 1332 vor dem Brunnen des Luzerner Weinmarktes, Luzerner Chronik 1513).

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Abb. 19: Ochsenfurt: Rathaus mit Pranger, Postkarte, um 1910: Der Pranger am sogenannten Alten Rathaus befand sich im ersten Stockwerk. Er ermöglichte wie eine Bühne, dass der an den Füßen angekettete und mit einem Halseisen zusätzlich befestigte Delinquent von allen gesehen werden konnte.

und Kontrollbefugnis.28 Ebenfalls für Rechtsicherheit stand der Pranger, der sich oft in der Nähe des Rathauses oder sogar an der Front desselben befand. Von den städtischen Obrigkeiten wurde ein enger Zusammenhang zwischen dem auf dem Markt begangenen Wirtschaftsdelikt und einer öffentlichen Bestrafung am Ort des Geschehens hergestellt.29 Auch die Instandhaltungs-pflicht demonstriert, dass der 28 Vgl. Fenske, Marktkultur (wie Anm. 15), S. 78. 29 Vgl. James Masschaele, The Public Space of the Marketplace, in: Speculum 77, 2002, S. 383– 421, hier S. 405: „The close link between pillories and trade infractions partially explains why public authorities saw the marketplace as a particularly suitable place for such forms of punishment. The crimes or misdemeanors that merited public punishment in a marketplace were typically committed in the marketplace: they were, in other words, acts usually committed in public. […] without the public space the punishment had little meaning.“ Dass diese öffentliche Bestrafung im Zusammenhang mit städtischer Markfreiheit und -recht gesehen wurde, wird durch die

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Pranger unmittelbar mit Marktdelikten in Beziehung stand: „In 1269 the London authorities were upbraided because their market pillory was broken. During a long time it was not repaired which meant that they have neglected their duty of punishing recalcitrant bakers.“30 Die Szene, die die Mitteltafel vom sogenannten Hochaltar des Braunschweiger Doms zeigt (Farbabb. 35), macht deutlich, dass die an Händen, Beinen und/oder Kopf festgezurrten Delinquenten dem Spott der Marktbesucher ausgesetzt waren. Mit dem Pranger bestraft wurden in England seit dem späten 12. Jahrhundert Händler, denen Betrug, etwa bei Gewicht und Qualität der Lebensmittel, nachgewiesen wurde. Um den Nexus zwischen Delikt und Ehrenstrafe noch deutlicher zu machen, wurden die gefälschten Güter vor den Augen des betrügerischen Verkäufers verbrannt. Überliefert ist auch, dass das Eisen, mit dem der Betrüger das Brot künstlich beschwert hatte, am Körper des Delinquenten befestigt wurde.31 Diese Verweise auf korrektes Verhalten auf dem Marktplatz waren für alle verständlich. Die Umgebung des Prangers wurde von den Händlern als Standplatz gemieden; die Marktherren unterstützten die abschreckende Wirkung dadurch, dass faulige Reste und schlechte Ware nur in der Nähe des Prangers verkauft werden durften.32

2. Die Reduzierung der Suchkosten oder: die Sichtbarkeit Roland und Marktkreuz standen aber nicht nur für Vertragssicherheit und Marktrecht, sondern markierten auch den Platz, wo Transaktionen stattfinden durften: Das Feilbieten der Waren war ausschließlich in Sicht- und Reichweite des Kreuzes möglich. Zudem war etwa das Marktkreuz bevorzugter Handelsplatz, was dem Marktherrn und dem Rat die Kontrolle erleichterte. In Bristol heißt es vor 1500, dass alle Schmiede nur in der Nähe des Kreuzes verkaufen durften, um im Blickfeld der Meister der dortigen Schmiedeinnung

zeitweilige Zweitnutzung des Trierer Marktkreuzes als Pranger deutlich. Drei am Kapitellrand eingemeißelte Löcher weisen darauf hin, dass hier Bolzen für Halseisen oder Fußfesseln befestigt waren. Vgl. Eicher / Laufner, Hauptmarkt (wie Anm. 22), S. 127. 30 Davis, The Cross (wie Anm. 24), S. 255; Masschaele, Public Space (wie Anm. 29). 31 Vgl. Davis, The Cross (wie Anm. 24), S. 255–257. Eine weitere Abbildung einer Bestrafung am Pranger, die auch den Markt der Stadt zeigt, findet sich in Wolfgang Schild, Folter, Pranger, Scheiterhaufen. Rechtsprechung im Mittelalter, München 2010, S. 51 (Breslauer Bilderhandschrift des Jean Froissart 1488/89). 32 Vgl. Davis, The Cross (wie Anm. 24), S. 258.

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Abb. 20: Marktund andere Kreuze, Pranger und Verkaufsstände spätmittelalterlicher Märkte in England: Cambridge (1), Coventry (2), Norwich (3) und Salisbury (4).

von Bristol zu sein. In Salisbury wurden die Höker 1408/9 am Kreuz platziert, da ihr Gebaren misstrauisch beäugt wurde.33 Für das weite, mit zahlreichen Scharren und Läden angefüllte Marktareal, das sich vor den Vereinheitlichungen des 16. Jahrhunderts zudem auf die vielen Einmündungen von Straßen und Gassen sowie auf die Zufahrtstraßen selbst erstreckte, waren Bezeichnungen und Bauwerke notwendig, um die Platzierungen im Raum kenntlich zu machen.34 Diese Platzanweisungen beruhten zum 33 Ebd., S. 248 und S. 250. 34 Deutsche Studien zur Topographie der Märkte sind zahlreich, doch durchweg älteren Datums. Zudem konzentrieren sich die Autoren auf die hochmittelalterliche Genese und auf die Marktverfassung. Vgl. Fritz Rörig, Der Markt von Lübeck. Topographisch-statistische Untersuchungen zur deutschen

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Teil auf funktionalen Erwägungen, etwa der hygienisch bedingten Trennung von Vieh und Nahrung oder dem Platzbedarf von bestimmten Massenprodukten. Einige Beispiele für solche funktional bestimmte Markierungen von abgegrenzten Verkaufszonen durch Wörter seien erwähnt: Nottingham besaß im Spätmittelalter einen Beast Market; genannt werden weiterhin Fishergate, Goosegate, Pilchergate, Poultrygate, Fletchergate, Listergate (Färber), eine Chandlers Lane und eine Pepper Street.35 Zudem dienten Kreuze als Markierungen; sie standen im Gegensatz zum Marktkreuz nicht für komplexe Zusammenhänge, sondern wiesen nur auf einen Sachverhalt hin: Es gab in den englischen Städten Kreuze für Brot, Butter, Käse, Geflügel, Schweine und Malz.36 Diese Kreuze waren gleichzeitig Verkaufsplätze, deren Areal steinern war, um vor und nach dem Markt eine Reinigung zu ermöglichen. Selbst die eigentlichen Marktkreuze fungierten als Ortsbestimmung für bestimmte Güter.37 Neben den optischen Zeichen, welche Teilmärkte anzeigten, trugen auch akustische und optische Signale sowie fromme Rituale zur Senkung der Suchkosten bei, standen aber auch für Regulierungsbestrebungen, etwa die Ausschaltung des Vorkaufs: Da ist zum ersten die Glocke des Glocken- bzw. Uhrturmes des Rathauses oder des Kirchturms zu nennen. Diese wurde vom Läuteküster des Rates betätigt, um Beginn und Ende des Marktes einzuläuten. Gottesdienste Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1928), in: ders., Wirtschaftskräfte im Mittelalter. Abhandlungen zur Stadt- und Hansegeschichte, hg. von Paul Kaegbein, Weimar 1959, S. 36–133; Wolfgang Hess, Der Hersfelder Marktplatz. Ursprung und Bedeutung der Ebenheit für die Entwicklung der Stadt, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 4, 1954, S. 81–116; Leopold Kulke, Tausend Jahre Markt in Minden, Minden 1977. Zusammenfassend für die ältere Forschung vgl. die Tagung „Das Marktproblem im Mittelalter“ des „Kreises für Stadtgeschichte“ Konstanz 1960; die Wiedergabe der Vorträge bei Peter Schöller (Bearb.), Das Marktproblem im Mittelalter. Referate und Aussprachen auf der dritten Arbeitstagung des Kreises für Stadtgeschichte vom 30. September bis 3. Oktober 1960 in Konstanz, in: Westfälische Forschungen 15, 1962, S. 43–95. Ein informativer Überblick zur Geschichte der Marktplätze in Mittelalter und Neuzeit von Städten der ehemaligen DDR findet sich in: Marktplätze. Betrachtungen zu Geschichte und Kultur, hg. von der Bauakademie der DDR, Institut für Städtebau und Architektur, Berlin 1990. Neueren Datums sind die Kartenwerke des münsterischen Instituts für vergleichende Städtegeschichte, welche auf der Basis der Katasteraufnahmen des 19. Jahrhunderts die Wachstumsphasen der Stadt in Mittelalter und Früher Neuzeit zurückschreiben. Dabei wird dem Marktplatz bzw. den Marktplätzen eine große Bedeutung für die Stadtentwicklung zugesprochen und in der Kartierung nachvollzogen. Vgl. exemplarisch Ulrich Reuling / Daniel Stracke, Quedlinburg, Deutscher Historischer Städteatlas, Nr. 1, Münster 2006, Textheft und Karte Nr. 4.1. 35 Vgl. Terry R. Slater, Social, Cultural and Political Space in English Medieval Market Places, in: Ehrich / Oberste (Hgg.), Städtische Räume (wie Anm. 24), S. 227–239, hier S. 231. Für Salzburg und Wien zeigt Stöger, Sekundäre Märkte (wie Anm. 15), die „Verräumlichung“ der Gebrauchtwarenmärkte („Tandelmärkte“) auf. 36 Vgl. auch die Abbildung des Poultry Cross von Salisbury in Slater, Social, Cultural and Political Space (wie Anm. 35), S. 235. 37 Die erste urkundliche Nennung des Trierer Marktkreuzes lässt darauf schließen, dass in seiner Nähe Brot verkauft wurde. Wiricus gen. Cauffmann (!) und seine Ehefrau schenkten 1261 „pro remedio animarum nostrarum […] ecclesia s. Martini Treverensis mensam panis sitam apud crucem in foro Treverensis“. Zit. n. Eichler / Laufner, Hauptmarkt (wie Anm. 22), S. 127, Anm. 67.

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konnten ebenfalls, besonders bei Messen und Jahrmärkten, die Zeit des Kaufens und Verkaufens markieren. Das Glockenzeichen stand zudem auch für das Verbot des Vorkaufs für Auswärtige und gegebenenfalls die Akzeptanz des Vorkaufs für die Einheimischen, die zuerst den Markt ohne Andrang von außen besuchen durften. Auch die Marktfahne signalisierte Beginn und Ende der Marktzeit.38

3. Reduzierung der Verhandlungskosten Verhandlungskosten wurden gesenkt, wenn der Käufer sich auf Materialbeschaffenheit, Maße und Gewicht der Güter verlassen konnte. Vereinheitlichung und Kontrolle waren originär zum Schutz der Produzenten, etwa des Handwerkers, gedacht, um Konkurrenz und Pfuscher auszuschalten (Nahrungsprinzip); sie waren gleichzeitig im Rahmen der Stadtwirtschaftspolitik gewollt, um die Qualität anzuheben. Beispielhaft sei die Brottaxe angeführt, mit welcher der Rat durch die Vorgaben des Brotgewichtes und der ‚Inhaltsstoffe‘ einerseits den ‚Kornwucher‘ einzudämmen suchte, andererseits Orientierung bei der Preisbildung gab.39 Diese Aspekte wurden durch Gebäude und Zeichen deutlich gemacht. Am Markt befanden sich Stadtwaage und Leege,40 Gebäude, in denen nicht nur geeichte Gewichte, Längen- und Hohlmaße aufbewahrt wurden, sondern auch Warenproben vorzuzeigen waren. Abbildung 21 zeigt die Stadtwaage am Marktplatz von Halle, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Rathauses befand.41 Im Gebäude der Leege wurden Textilien geprüft und anschließend mit Stempeln, Siegeln, Plomben oder ähnlichen Prüfzeichen versehen. An Kirchen- oder Rathauswänden wurden die Brottaxen festgehalten, welche die geringen Gewichte der Brote in Hungerjahren angaben. So verweisen auch Evamaria Engel und Frank-Dietrich Jacob in ihrer Studie zum „Städtischen Leben im Mittelalter“ auf die am Freiburger Münster angebrachten Maße zur Bestimmung der Brotgrößen.42 Auch Längenmaße waren an Kir38 In der Marktordnung für die Stadt Weimar heißt es im 18. Jahrhundert: „ein Fähnlein/ darauf der Stadt Wappen gemahlet/ soll am Rathause aufgestecket werden/ und so lange dasselbe Fähnlein stecket [d. h. nicht über dem Markt weht, W.F.]/ soll sich kein Einwohner dieser Stadt Weimar unterstehn/ aufm Vorkauff Korn/Weizen/Gersten/Hafern/Wolle/Butter/Käse/Garn/Leinwand und anders zu kaufen.“ Zit. n. Marktplätze (wie Anm. 34), S. 10. 39 Vgl. Jörg, Teure (wie Anm. 12), S. 250–267. 40 In Minden befand sich die Waage im 17. Jahrhundert auf der südlichen Hälfte des Marktplatzes. Abbildung des Kupferstiches von Wenzel Hollar (1634) in Kulke, Markt in Minden (wie Anm. 34), S. 19. Der Rat beschloss 1593, eine Leinwandlegge einzurichten. Ebd., S. 17. 41 Vgl. Andrea Dolgner / Dieter Dolgner / Erika Kunath, Der historische Marktplatz der Stadt Halle/Saale, Halle 2001, S. 35–38. 42 Vgl. Evamaria Engel / Frank-Dietrich Jacob, Städtisches Leben im Mittelalter. Schriftquellen und Bildzeugnisse, Köln 2006, S. 48; wiedergegeben auch in Jörg, Teure (wie Anm. 12), S. 252.

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Abb. 21: Waage in Halle, Postkarte, um 1930.

Abb. 22: Grundriss des Marktes von Dortmund mit Stadthaus, den zwei Standorten der Waage, Verkaufsständen und Pranger (Kaak).

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Abb. 23: Tuchplomben sind seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nachweisbar. Es handelt sich um aus Blei gefertigte Gütezeichen, d. h. Waren- und Beschauzeichen. Um die erfolgreiche Prüfung anzuzeigen, wurde ein Bleirohling am Tuchrand befestigt und mit einer Prägung des Stadtwappens versehen. Trier, Rheinisches Landesmuseum.

chen oder Rathäusern anzutreffen.43 Selbst Heiligenbilder wurden als Preismarkierungen genutzt – das Andenken an teure Zeiten ließ Preisdifferenzen in wohlfeilen Zeiten sichtbar werden.44

III. Symbolische Kommunikation und die Kultur der Kaufverhandlungen Die Wege, die zum Kaufvertrag und damit zur Übergabe und Übereignung des Gutes führten, waren komplex. Es mussten Preis- und Qualitätsvorstellungen zwischen Käufer und Verkäufer in Einklang gebracht werden. Nutzen43 Abbildung der Längenmaße, angebracht an der 1408 errichteten Vorhalle des Regensburger Rathauses, in Boockmann, Die Stadt (wie Anm. 26), Tafel 216, S. 139, und an der Pfarrkirchen von Zabern/Elsaß und Friedberg/Wetterau ebd., Tafel 305 und 306, S. 199. 44 Jörg gibt eine Abbildung des Heiligen Christophorus im südlichen Querarm des Augsburger Doms wieder. Auf dem Gewandsaum des Heiligen sind die Getreidepreise des Hunger- und Seuchenjahres 1491 vermerkt; vgl. Jörg, Teure (wie Anm. 12), S. 380.

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und Profiterwägungen waren der Motor der Ware-Geld-Beziehungen. Es ist evident, dass die Kaufverhandlungen auch außerökonomische Funktionen aufwiesen, etwa, dass die Aufnahme derselben gegenseitige soziale Schätzung bedeutete. Insofern war der Kern der Kaufverhandlung, das Feilschen um den Preis, soziales Theater.45 Doch mir geht es um die ökonomische Funktion der Kaufverhandlungen. Kann man dabei von einem Ritual der Marktkultur sprechen? Das hängt vom Ritualbegriff ab.46 Mit einem Ansatz allerdings, der vor allem auf die Visualisierung und Stabilisierung gesellschaftlicher Wertesysteme abhebt, scheinen meines Erachtens Kaufverhandlungen und insbesondere das Feilschen um den Preis kaum kompatibel zu sein, denn zum Ersten stifteten die Preis- und Qualitätsverhandlungen keine Gemeinschaft, wenn auch der Konsens – hier in Gestalt des Kaufvertrages – das Ziel war. Zum Zweiten ließen unterschiedliche Interessen und Nutzenabwägungen im Verlaufe der Verhandlungen keine standardisierten Handlungsabläufe entstehen; es gab zwar – und dies ist der dritte Punkt – Spielregeln beim Feilschen, die performativ wirkten, aber nicht immer zum Erfolg führten. Handlungssequenzen konnten wiederholt, aber auch abgebrochen werden; das Scheitern – also der Nichtkontrakt war ebenso Normalfall wie Einigung und Übergabe des Gutes. Trotzdem können wir im Sinne des Sonderforschungsbereichs den Zusammenhang von zeichenhaften Handlungen und kollektiven Bedeutungszuschreibungen als symbolische Kommunikation identifizieren, denn vor den entscheidenden Schritten Verhandlung und Kauf erfolgte die Besichtigung: Sehen aber erforderte von Seiten des Verkäufers, Güter zu platzieren und zu inszenieren mit dem Zweck, Verkaufsbereitschaft zu demonstrieren und das Verkaufsgut im besten Licht erscheinen zu lassen. Dies erforderte die Nähe zu den Passanten und zur Straße. Das Angebot musste ausgebreitet werden, entweder im Stand auf Regalen oder dem Tisch oder auf den heruntergeklappten Fensterladen in den Häusern (Farbabb. 36).47 45 Vgl. hierzu den erhellenden Abschnitt „Das Spiel im Ernst: Feilschen“ bei Fenske, Marktkultur (wie Anm. 15), S. 195–234. Hinzuweisen ist auch auf Laurence Fontaine, Bemerkungen zum Kaufen als soziale Praxis. Feilschen, Preise festlegen und Güter ersteigern im frühneuzeitlichen Europa, in: Historische Anthropologie 14, 2006, S. 334–348. 46 Vgl. aus dem Kontext des Sonderforschungsbereichs bspw. Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 31, 2004, S. 489–527 und Gerd Althoff / Ludwig Siep, Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution. Der neue Münsterer Sonderforschungsbereich 496, in: Frühmittelalterliche Studien 34, 2000, S. 393–412. 47 Boockmann, Die Stadt (wie Anm. 26), S. 101 gibt als Beispiel für einen solchen Verkaufsstand, der das Sehen und Betasten der Ware ermöglichte, eine Abbildung aus einer Handschrift des „Buches von Troja“ aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wieder. Präsentiert und verkauft werden

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Der Streit um die besten Plätze, sprich die Platzierung um des individuellen Vorteils willen, das Verschieben und Vergrößern der Stände, all dies gehörte zum Marktalltag dazu.48 Damit war ein Angebot gemacht, das zur genauen Prüfung aufforderte, die allerdings durch die oben beschriebene Standardisierung erleichtert wurde. Konkludent wurde seitens des Passanten Kaufbereitschaft signalisiert, etwa durch das Nähertreten und ein Schnippen mit dem Finger. Dann folgten ein In-Augenschein-Nehmen und das Betasten. Die Formel „gekauft wie besehen“ hieß im Konfliktfall, wie es Michaela Fenske für Hildesheim aufzeigt, dass gesagt wurde: „der Käufer hätte besser zusehen sollen“.49 Bei Pferden war das Gebiss wichtig – dem Gaul ins Maul zu schauen war also nicht etwa nur eine Sequenz des Feilschens, sondern zuallererst seitens des Interessenten erfahrungsgesättigte Qualitätskontrolle mit offenem Ausgang.50 Selbstverständlich pries der Verkäufer sein Handelsgut; erste Preisvorstellungen wurden genannt und auch von beiden Seiten erwartet. In vielen Fällen mischten sich Zuschauer ein – sie gaben Tipps oder äußerten Kommentare zu Qualität und Preis. Die von Michaela Fenske anhand der Hildesheimer Viehmärkte herausgearbeiteten Preisverhandlungsregeln, die besagten, dass während des Feilschens kein Dritter mitbieten und dass der Verkäufer keine anderen Preisgebote berücksichtigen durfte, sollten die Interessen der Kundschaft schützen, was aber nicht in allen Fällen gelang. Ein Zuschauer ergatterte ein attraktives Tier durch eine Intervention in laufende Kaufverhandlungen, worauf der Händler auch einging und den ersten Interessenten links liegen ließ. Dieser involvierte Zuschauer konnte ein vom Händler eingesetzter Preistreiber sein, welcher entweder das Produkt zustimmend lobte oder in das Feilschen eingriff.51 Für Einigung und gegenseitige Verpflichtung steht der Handschlag, doch brachte dieser keine Vertragssicherheit mit sich,52 da auch nach dem Handschlag weiterverhandelt oder der Preis gedrückt wurde. Der Verkäufer sah den vollen Geldbeutel, wurde schwach und ließ sich auf ein nachgeschobenes Angebot des Käufers ein oder der Käufer stellte überraschenderweise fest, doch nicht so viel Geld bei sich zu haben, wie er geboten hatte. Caspar BasPlattenpanzer und Waffen. Links oben sind Keulen aufgehängt, die gerade mit den Händen geprüft werden. 48 Vgl. Fenske, Marktkultur (wie Anm. 15), S. 79–83. 49 Ebd., S. 190. 50 Bei Boockmann, Die Stadt (wie Anm. 26), S. 101, findet sich ein Ausschnitt der 1515/16 entstandenen Fresken im Kloster Stein am Rhein. Zu sehen ist der Pferdemarkt in Zurzach. In der Mitte prüft ein Käufer am Gebiss das Alter eines Pferdes. Dahinter ist der Abschluss eines Kaufes mit Handschlag zu sehen (s. u.). 51 Vgl. Fenske, Marktkultur (wie Anm. 15), S. 201 f. 52 Siehe Anmerkung 50.

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ten hatte auf dem Hildesheimer Markt 1698 für 25 Taler ein Pferd erworben, doch trotzdem musste der Verkäufer klagen. Basten behauptete, er habe nur „20 Thaler bey sich welche seine Frau ihm ohnwißend inden Beuttel gethan“.53 Die Marktordnung Minden 1701 enthielt die Regelung, dass es verboten sei, „abgeschlossene Verkäufe durch Überbietung unwirksam zu machen. Gesinde und Dienstboten, die sich hierzu hergeben, sind mit Gefängnis zu bestrafen.“54 Zahlungen unterblieben, obwohl Kaufmanns- und Marktrechte genau diese einforderten und mit Regelungen über Bürgschaften und Fristen auch Hilfestellungen anboten, was die Marktkreuze o. ä. ja auch anzeigten. Tränenreich berichtete Jürgen Klippels Frau 1717 vor dem Hildesheimer Marktgericht, dass ihr Mann das Pferd zu billig verkauft habe. Dem habe sie nicht zustimmen können und deshalb ihren Mann aufgefordert, das Pferd zu behalten. Doch auf Weisung des Gerichts hatte Klippel das Pferd dann doch dem Käufer zu übereignen.55 Deutlich wird, dass Kaufverhandlungen und Feilschen nur in Einzelaspekten mit dem oben skizzierten Ritualbegriff zu fassen sind; doch bevor es zur Verhandlung kam, mussten Produkte platziert und inszeniert werden, und auch nach der Einigung bedurfte es der symbolischen Handlungen, welche Sicherheit verhießen. Gleichwohl: Betrug und Handschlag schlossen sich nicht aus.

IV. Symbolische Kommunikation und die rituelle Konstituierung der Marktgesellschaft Nur andeuten kann ich einen Aspekt des Zusammenhangs von symbolischer Kommunikation und wirtschaftlichem Handeln: die Zelebration städtischer Marktgesellschaft. Die Stadt als Produktions- und Konsumentenstätte feierte, so meine These, im frommen Ritual ihren erzielten Wohlstand. Die Forschung hat bisher Stadtprozessionen und -patrone, Bruderschaften und Stiftungswesen sowie das geistliche Spiel vor allem im Hinblick auf kollektive Anheimstellung, Repräsentation von Herrschaft sowie Inklusions- und Exklusionsprozesse betrachtet.56 Hingegen zeigt die Studie von Richard Trexler zum 53 Fenske, Marktkultur (wie Anm. 15), S. 203. 54 Kulke, Markt in Minden (wie Anm. 34), S. 22. 55 Vgl. Fenske, Marktkultur (wie Anm. 15), S. 229 f. 56 Exemplarisch Miri Rubin, Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge 1991, bes. S. 243–271; Andrea Löther, Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit, Köln 1999; Marian Füssel, Hierarchie in Bewegung. Die Freiburger Fronleichnamsprozession als Medium sozialer Distinktion in der Frühen Neuzeit, in: Horst Carl / Patrick Schmidt (Hgg.), Stadtgemeinde und

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Abb. 24: Messe Frankfurt 1696.

Fest des heiligen Johannes in Florenz, dass der am Vortag des Heiligenfestes begangene Tag der Kaufleute eine Demonstration, eine mostra, städtischer Prosperität war.57 Im Straßenschmuck, in der Kleidung und in dem Schmuck der Zelebranten, in der Zurschaustellung der Handelsgüter und des opulenten Besitzes in den Schaufenstern sowie in Opfergaben wurden die Erfolge im Wirtschaftsgeschehen liturgisch überhöht. Im Fest äußerte sich die „Zustimmung zur Welt“ (Pieper),58 und das war die Welt des Marktes. Diese Perspektive aufnehmend, könnten städtische Rituale, vor allem die Prozessionen und gegebenenfalls der Nikolauskult, im Hinblick auf die statio am Marktplatz, auf die Rangfolge der Kaufleute in der Prozession und auf die Bedeutung der domus mercatorum neu interpretiert werden.

Ständegesellschaft. Formen der Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen Stadt, Berlin 2007, S. 31–55; Sabine von Heusinger, „Cruzgang” und „umblauf ” – Symbolische Kommunikation im Stadtraum am Beispiel von Prozessionen, in: Jörg Oberste (Hg.), Kommunikation in mittelalterlichen Städten, Regensburg 2007, S. 141–156; Franz-Josef Arlinghaus, Einheit der Stadt? Religion und Performanz im spätmittelalterlichen Braunschweig, in: Werner Freitag (Hg.), Die Pfarre in der Stadt. Siedlungskern – Bürgerkirche – Urbanes Zentrum, Köln u. a. 2011, S. 77–96. 57 Vgl. Richard Trexler, Public Life in Renaissance Florence, Ithaca/London 1980, S. 247–251. 58 Vgl. Josef Pieper, Zustimmung zur Welt. Eine Theorie des Festes, München 1963.

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V. Schlussbetrachtung Zeichen und Symbole senkten durch ihre Botschaften die Transaktionskosten; sie unterstützten das Vertrauen auf das Marktrecht, gaben Orientierung bezüglich der Lage der Verkaufsstände und sendeten Signale zu Qualität und Preisen aus. Diese Bedeutungen wurden ihnen zugeschrieben. Die Produktinszenierung war notwendige Bedingung für Kaufverhandlungen. Dieses zentrale Ritual der Marktkultur enthielt diverse Handlungssequenzen, die von Erwartungen in Bezug auf das Handeln des Gegenübers gespeist waren. Starre Abläufe gab es nicht; das Ergebnis stand nicht fest. Denn eine der Spielregeln lautete, dass das Spiel von beiden Seiten um des eigenen Vorteils willen offen gehalten wurde, was Regelverletzungen intendierte. Kontraktsicherheit verhieß hingegen das städtische Recht, das durch Zeichen und Symbole manifest war. Deshalb konnte man sich auf Preisverhandlungen einlassen. Der Zusammenhang von symbolischer Kommunikation und wirtschaftlichem Handeln wurde vom Preis-Mengen-Mechanismus, von Gewinnstreben und Nutzenpräferenzen des Einzelnen determiniert; der Marktplatz bot den sozialen Raum, der im Anschluss auf neue Platzierungen wartete: Eine englische Handreichung für die Predigt zeigt diese Zusammenhänge auf „It is in the nature of a marketplace that everything is sold and bought there and that the sellers and buyers cheat each other. […] [A]s a marketplace or a fair is now filled with people, stocked with all sorts of goods, joyful, and magnificent, and in a little while everyone goes back to his home, one with profit, another with loss, and the place at once becomes deserted, ugly, dirty, and contemptible.“59

59 Zit. n. Davis, The Cross (wie Anm. 24), S. 251.

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Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln. Theoretische Perspektiven Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Martinis klassischerweise nicht geschüttelt, sondern gerührt werden. Weniger bekannt ist hingegen, dass sich der beliebte Cocktail auch als Metapher für die Wirtschaftsgeschichte eignet: So hat der Münsteraner Wirtschaftshistoriker Richard Tilly schon vor über zwanzig Jahren – zwar halb im Spaß, aber immerhin – vorgeschlagen, man könne sich „Wirtschaftsgeschichte als einen amerikanischen Cocktail, den Martini, vorstellen, [und] dabei Ökonomie als Gin [...] und Geschichte als Wermut ansehen“.1 Im Folgenden soll, um noch für einen Moment im Bild zu bleiben, der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern es diese Rezeptur noch verbessern könnte, wenn man ‚symbolische Kommunikation‘ als eine weitere, explizit kulturgeschichtliche Zutat verwendet. Dass ein solcher Versuch heute überhaupt möglich ist und nicht umgehend als ‚Panscherei‘ zurückgewiesen wird, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich die Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften schon seit Längerem wieder aufeinander zubewegen – und zwar aufgrund eines gemeinsamen Interesses an ‚Kultur‘ im weitesten Sinne.2 Hatte die neoklassische Ökonomik, deren Status als Orthodoxie nach der vorerst letzten Finanzkrise zumindest in Frage steht, ‚Kultur‘ noch zu den sogenannten exogenen Größen gezählt und aus ihren Analysen ausgeschlossen, so haben die wichtigsten heterodoxen Ansätze, darunter die Institutionen-, die Evolutions- sowie die Verhaltensökonomik, schon vor Jahrzehnten damit begonnen, kulturelle Faktoren zu endogenisieren und Modelle wirtschaftlichen Verhaltens zu entwerfen, die inzwischen ihren Weg in die Mainstream-Ökonomie gefunden haben.3 Parallel dazu hat der sogenannte cultural turn auch in der Geschichtswissenschaft 1

Richard Tilly, Wirtschaftsgeschichte und Ökonomie. Zur Problematik der Interdisziplinarität, in: Jahrbuch für Neue politische Ökonomie 7, 1988, S. 249–265, hier S. 249. 2 Vgl. Kurt Dopfer, Wieviel Geschichte braucht die Ökonomie? Das Verhältnis von Theorie und Geschichte in evolutionstheoretischer Interpretation, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2009, S. 53–76, hier S. 64; Hansjörg Siegenthaler, Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, in: Geschichte und Gesellschaft 25, 1999, S. 276–301, hier S. 301. 3 Vgl. Hartmut Berghoff / Jakob Vogel, Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale, in: dies. (Hgg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M./New York 2004, S. 9–41, hier S. 18–24.

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dazu geführt, dass die Relevanz und Unhintergehbarkeit der Sinndimension menschlichen Handelns wieder verstärkt in den Fokus gerückt wurde.4 Als klassischem ‚Brückenfach‘ zwischen Geschichte und Ökonomik ist der Wirtschaftsgeschichte diese Annäherung ihrer beiden Bezugsdisziplinen selbstverständlich nicht verborgen geblieben.5 Nachdem der US-amerikanische Wirtschaftshistoriker Peter Temin 1997 die Frage, ob es für Wirtschaftshistoriker ‚koscher‘ sei, über Kultur zu sprechen, nachdrücklich mit ‚Ja‘ beantwortet hatte,6 setzte in der Wirtschaftsgeschichte eine bis heute anhaltende Theoriedebatte über den Umgang mit dem cultural turn ein, während gleichzeitig erste empirische Arbeiten entstanden, etwa im Bereich der Konsumund Marketinggeschichte sowie der Untersuchung von Wirtschaftsstilen und Unternehmenskultur, um nur einige zu nennen.7 ‚Kultur‘ ist, daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen, inzwischen eine anerkannte, wenngleich noch nicht allzu häufig gebrauchte Zutat für den interdisziplinären Cocktail namens Wirtschaftsgeschichte. Und da die Erforschung symbolischer Kommunikation von Grund auf ein kulturwissenschaftliches Unternehmen ist – Peter Burke bezeichnet „das Interesse für das Symbolische und dessen Deutung“ 4

Vgl. grundsätzlich Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. Hamburg 2006; für die Geschichtswissenschaft vgl. die Überblicksdarstellungen bei Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 2001 und Achim Landwehr, Kulturgeschichte, Stuttgart 2009. 5 Zu Geschichte und Selbstverständnis der Wirtschaftsgeschichte vgl. Gerold Ambrosius / Werner Plumpe / Richard Tilly, Wirtschaftsgeschichte als interdisziplinäres Fach, in: Gerold Ambrosius / Dietmar Petzina / Werner Plumpe (Hgg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 22006, S. 9–37 und Werner Plumpe, Wirtschaftsgeschichte zwischen Ökonomie und Geschichte. Ein historischer Abriss, in: ders. (Hg.), Wirtschaftsgeschichte (Basistexte Geschichte 2), Stuttgart 2008, 7–39. – Allerdings ist hinzuzufügen, dass der cultural turn in der Wirtschaftsgeschichte erst „mit einem deutlichen timelag“ einsetzte (so Susanne Hilger / Achim Landwehr, Zur Einführung. Wirtschaft – Kultur – Geschichte: Stationen einer Annäherung, in: dies. (Hgg.), Wirtschaft – Kultur – Geschichte. Positionen und Perspektiven, Stuttgart 2011, S. 7–26); vgl. auch Berghoff / Vogel, Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 9. 6 Vgl. Peter Temin, Is it Kosher to Talk about Culture?, in: Journal of Economic History 57, 1997, S. 267–287. 7 Zur Theoriedebatte vgl. die jeweiligen Beiträge in „Diskussion: Wirtschafts- und Sozialgeschichte – Neue Wege?“, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 82, 1995, S. 387– 422; Eckart Schremmer (Hg.), Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode. 17.  Jahrestagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Jena 1997 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beiheft 145), Stuttgart 1998; Siegenthaler, Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende (wie Anm. 2); Berghoff / Vogel (Hgg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte (wie Anm. 3); Karl-Peter Ellerbrock / Clemens Wischermann (Hgg.), Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics (Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozialund Technikgeschichte 24), Münster 2004; Themenschwerpunkt „Kultur in der Wirtschaftsgeschichte“, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94, 2007, S. 173–188; Themenschwerpunkt „Geschichte der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte“, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2009, S. 9–208.

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sogar als die „gemeinsame Grundlage der Kulturhistoriker“8 – lautet die Frage nicht ob, sondern nur auf welche Weise Symbol- und Wirtschaftsgeschichte produktiv miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Wie nun eine solche produktive Beziehung in der Zukunft aussehen könnte, soll im Folgenden in drei Schritten erläutert werden: Zunächst werden, ausgehend vom Titel der Sektion („Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln“), einige begriffliche Differenzierungen vorgenommen, um deutlich zu machen, dass symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln auf ganz unterschiedliche Weise miteinander verbunden werden können. Anschließend wird im Rückgriff auf die Überlegungen von Werner Freitag dargelegt, dass sein genuin ökonomischer Ansatz zwar eine wichtige, aber keineswegs die einzig mögliche Perspektive auf dieses Thema darstellt.9 Im dritten und umfangreichsten Teil wird dann – eher in Ergänzung als in Zurückweisung der Überlegungen Freitags – skizziert, was eine symbolgeschichtliche Perspektive im Hinblick auf wirtschaftliches Handeln, das sogenannte ‚ökonomische Prinzip‘ und das Grundproblem der Knappheit leisten kann.10

I. Begriffliche Differenzierung Voraussetzung dafür ist eine gewisse begriffliche Differenzierung. Durch den Sektionstitel gegeben sind ‚symbolische Kommunikation‘ einerseits und ‚wirtschaftliches Handeln‘ andererseits;11 gesucht ist deren möglichst produktive Verbindung. Eine solche aber springt nicht unmittelbar ins Auge, was vor allem daran liegt, dass es sich in beiden Fällen um abkürzende Bezeichnungen für viel komplexere Gesamtheiten handelt, in denen Forschungsgegenstände, methodische Ansätze und theoretische Annahmen miteinander verschränkt sind und die daher nicht unmittelbar und in Gänze aufeinander bezogen werden können. Daher müssen beide Begriffe sozusagen ‚ausgefaltet‘ werden, um das Herstellen von Relationen einfacher zu machen. Ein solches Verfahren 8 Peter Burke, Was ist Kulturgeschichte?, Bonn 2005 (engl. Erstausg. Cambridge u. a. 2004 ), S. 10. 9 Vgl. dazu den Beitrag von Werner Freitag, Städtischer Markt und symbolische Kommunikation, in diesem Band S. 379–399. 10 Wenn im Folgenden von ‚symbolgeschichtlichen‘ Ansätzen bzw. Perspektiven gesprochen wird, dann handelt es sich stets um pragmatische Kurzbezeichnungen für den Forschungsansatz ‚symbolische Kommunikation‘. 11 Vgl. den Tagungsbericht: Christina Brauner / Philip Hoffmann-Rehnitz, „Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation“. 16.06.2011– 18.06.2011, Münster, in: H-Soz-u-Kult, 25.07.2011, URL: , zuletzt besucht am 22.06.2012.

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bietet sich auch deshalb an, weil es die Möglichkeit eröffnet, in sehr gedrängter Form noch einmal deutlich zu machen, was die wesentlichen Eigenschaften des Münsteraner Forschungsansatzes sind. In einem ersten Zugriff lässt sich differenzieren nach Gegenstandsbereich und methodischem Ansatz (vgl. Tab. 1). Obwohl man immer wieder der gegenteiligen Auffassung begegnet, ist das Forschungskonzept ‚symbolische Kommunikation‘ nicht beschränkt auf das Interesse an Ritualen, sondern ist inzwischen von diesem besonderen Gegenstand abgelöst und zu einer grundständigen Beobachtungsperspektive ausgebaut worden. Zunächst aber zum Gegenstandsbereich: Auch wenn dieser inzwischen deutlich erweitert wurde, so gilt doch weiterhin, dass Rituale und Zeremonien die prototypischen Formen symbolischen Handelns darstellen. Mit Barbara Stollberg-Rilinger lässt sich ein Ritual dabei verstehen als eine „aus mehreren Elementen bestehende, formal normierte, symbolische Handlungssequenz [...], die eine spezifische Wirkmächtigkeit besitzt“.12 Diese Definition gilt im Prinzip auch für Zeremonien, die sich von den Ritualen nur dadurch unterscheiden, dass sie keinen Statuswechsel herbeiführen, sondern eine gegebene Ordnung dar- und herstellen.13 Abgesehen von diesem Unterschied überwiegen allerdings die Gemeinsamkeiten, vor allem im Hinblick auf die ‚spezifische Wirkmächtigkeit‘: Rituale wie Zeremonien stiften Sinn, das heißt, durch sie werden soziale Kategorien und Relationen geschaffen, aufrechterhalten, verändert oder außer Kraft gesetzt.14 Symbolisches Handeln ist somit immer performatives Handeln, weil es bewirkt, was es bedeutet.15 12 Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 31, 2004, S. 489–527, hier S. 503; vgl. auch Gerd Althoff / Ludwig Siep, Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution. Der neue Münsterer Sonderforschungsbereich 496, in: Frühmittelalterliche Studien 34, 2000, S. 393–412. – Zum theoretischen Kontext vgl. allgemein Andréa Belliger / David J. Krieger (Hgg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 32006. 13 Zu dieser Unterscheidung vgl. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne (wie Anm. 12), S. 504. Eine vergleichbare Unterscheidung trifft auch Werner Paravicini, Zeremoniell und Raum, in: ders. (Hg), Zeremoniell und Raum (Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 4/Residenzenforschung 6), Sigmaringen 1997, S. 12–27, hier S. 14. 14 Vgl. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne (wie Anm. 12), S. 497 f.; vgl. auch zusammenfassend dies. u. a. (Hgg.): Spektakel der Macht. Rituale im alten Europa 800–1800 (Ausst.kat. Magdeburg 2008/9), Darmstadt 2008 und allgemein Pierre Bourdieu, Einsetzungsriten, in: ders., Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, hg. von Georg Kremnitz, Wien 1990, S. 84–103. 15 Vgl. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne (wie Anm. 12), S. 495; vgl. auch Jürgen Martschukat / Steffen Patzold (Hgg.), Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Norm und Struktur 19), Köln u. a. 2003; Christoph Wulf / Michael Göhlich / Jörg

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Tabelle 1

Gegenstandsbereich Methodischer Ansatz Grundproblem

Symbolische Kommunikation Rituale und Zeremonien Instrumentelle und symbolische Aspekte / Sinnstiftung Sinn

Wirtschaftliches Handeln Gütererwerb durch Tausch oder Produktion Zwecke und Mittel / ‚ökonomisches Prinzip‘ Knappheit

Nun ist es kein Zufall, dass zunächst Rituale und Zeremonien im Mittelpunkt standen, denn Sinnstiftung durch Symbolisierung ist nicht nur ihre spezifische Wirkung, sondern auch ihr offenkundiger Zweck; eine Doktorpromotion beispielsweise soll ja den durch sie artikulierten Statuswechsel real werden lassen.16 Bald aber erhärtete sich der Eindruck, dass nicht nur explizit symbolisches, sondern letztlich jedes soziale Handeln auf die eine oder andere Weise mit Sinnstiftung zu tun habe; und zwar auch dann, wenn es sich auf ganz andere Zwecke richtet. An dieser Stelle machten sich einige der am Sonderforschungsbereich „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ beteiligten Forscher die Unterscheidung von instrumentellen und symbolischen Aspekten zu eigen, wie sie etwa in der System- oder der Institutionentheorie vorgenommen wird.17 Und damit war ein methodischer Ansatz etabliert, mit dem Zirfas (Hgg.), Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim/München 2001. 16 Vgl. Marian Füssel, Akademische Rituale. Deposition, Promotion und Rektorwahl an der vormodernen Universität, in: Stollberg-Rilinger u. a. (Hgg.), Spektakel der Macht (wie Anm. 14), S. 39–43. 17 Für eine systemtheoretische Fassung vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt a. M. 1983 [Erstausg. 1969]; vgl. dazu aus geschichtswissenschaftlicher Sicht Michael Sikora, Der Sinn des Verfahrens. Soziologische Deutungsangebote, in: Barbara StollbergRilinger (Hg.), Vormoderne politische Verfahren (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft  25), Berlin 2001, S. 25–51. Aus Sicht der politikwissenschaftlichen Institutionentheorie kann festgehalten werden, dass der Institutionenbegriff „ein gemeinsames Kriterium enthält, [...]: die Unterscheidung zwischen einer instrumentellen und einer symbolischen Dimension von Institutionen“ (André Brodocz, Die symbolische Dimension der Verfassung. Ein Beitrag zur Institutionentheorie, Wiesbaden 2003, S. 17). Man findet diese Unterscheidung etwa bei Gerhard Göhler, Politische Institutionen und ihr Kontext. Begriffliche und konzeptionelle Überlegungen zur Theorie politischer Institutionen, in: ders. (Hg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, S. 19–46, S. 36; vgl. auch Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt a. M. 62004 [Erstausg. 1956] und dazu Karl-Siegbert Rehberg, Eine Grundlagentheorie der Institutionen: Arnold Gehlen. Mit systematischen Schlußfolgerungen für eine kritische Institutionentheorie, in: Gerhard Göhler / Kurt Lenk / Rainer Schmalz-Bruns (Hgg.), Die

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sich im Prinzip jedes Handeln im Hinblick auf seine Sinnstiftungsfunktion beobachten lässt.18 Im Zentrum des Münsteraner Forschungskonzepts steht also gerade nicht der Gegenstandsbereich „Rituale und Zeremonien“, sondern die methodische Unterscheidung von instrumentellen und symbolischen Handlungsaspekten und die Frage nach der performativen Sinnstiftung durch Symbolisierungsleistungen.19 Rituale sind dann nur besonders aussagekräftige Sonderfälle, insofern bei ihnen beide Aspekte in eins fallen. Das ‚wirtschaftliche Handeln‘ lässt sich nun auf dieselbe Weise begrifflich ‚ausfalten‘ (vgl. Tab. 1): Als Forschungsgegenstand lässt sich „wirtschaftlich orientiertes Handeln“ mit Max Weber definieren als dasjenige Handeln, das „an der Fürsorge für einen Begehr nach Nutzleistungen orientiert ist“.20 Diese Definition ließe sich im Kontext des für die aktuelle wirtschaftsgeschichtliche Forschung wichtigen property-rights-Ansatzes noch genauer ausbuchstabieren als Ausübung von Verfügungsrechten über Nutzleistungen, aber zunächst reicht die ‚klassische‘ Definition.21 Nach Eugen von Böhm-Bawerk, von dem Weber den Begriff der Nutzleistung übernahm, lässt sich dann das wirtschaftliche ‚Gut‘ verstehen als jede wie auch immer geartete „Einheit, welche einen

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Rationalität politischer Institutionen. Interdisziplinäre Perspektiven, Baden-Baden 1990, S. 115– 144. Genauer: Da „Beobachtung“ in der „Handhabung von Unterscheidungen“ (Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1987, S. 63) besteht, ist mit der Unterscheidung ‚symbolisch/instrumentell‘ eine genuine Beobachtungsperspektive installiert. Vgl. ferner Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34, 2008, S. 155–224, hier S. 166–168. Vgl. dazu beispielsweise die empirischen Ergebnisse in: Barbara Stollberg-Rilinger, Herstellung und Darstellung politischer Einheit: Instrumentelle und symbolische Dimensionen politischer Repräsentation im 18. Jahrhundert, in: Jan Andres / Alexa Geisthövel / Matthias Schwengelbeck (Hgg.), Die Sinnlichkeit der Macht. Herrschaft und Repräsentation seit der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2005, S. 73–92; Christoph Dartmann / Marian Füssel / Stefanie Rüther (Hgg.), Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 5), Münster 2004; Marian Füssel / Thomas Weller (Hgg.), Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 8), Münster 2005; Tim Neu / Michael Sikora / Thomas Weller (Hgg.), Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 27), Münster 2009. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Studienausgabe, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 51980, S. 31. Vgl. dazu aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht exemplarisch Manfred Bardmann, Grundlagen der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre, Wiesbaden 2011, S. 359–361; vgl. auch Elisabeth Göbel, Neue Institutionenökonomik. Konzeption und betriebswirtschaftliche Anwendungen, Stuttgart 2002, S. 66–97; vgl. ferner aus geschichtswissenschaftlicher Sicht Clemens Wischermann, Der Property-Rights-Ansatz und die ‚neue‘ Wirtschaftsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 19, 1993, S. 239–258.

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Inbegriff von Nutzleistungen enthält“.22 Wirtschaftliches Handeln zeigt sich also als „Gütererwerb durch Tausch oder durch Produktion“23 und zielt auf die von den Gütern bereitgestellten und zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung begehrten Nutzleistungen. Diesem Gegenstandsbereich entspricht nun eine genuin wirtschaftswissenschaftliche Beobachtungsperspektive, für die – wie auch im Falle der symbolgeschichtlichen Perspektive – eine Unterscheidung konstitutiv ist, nämlich diejenige von Zweck und Mittel; immer geht es um die Relation von Zwecken der Bedürfnisbefriedigung zu den Mitteln des Gütererwerb durch Tausch oder Produktion. Der Orientierung an der performativen Sinnstiftung im Falle der Erforschung symbolischer Kommunikation entspricht hier eine Orientierung am sogenannten ‚ökonomischen Prinzip‘, dem immer dann Genüge getan ist, wenn gegebene Zwecke mit minimalem Mitteleinsatz erreicht werden können bzw. mit gegebenen Mitteln eine maximale Anzahl von Zwecken verwirklicht werden kann.24 Die begriffliche Differenzierung lässt sich noch ein wenig weiter treiben, denn beide Konzepte weisen zurück auf ein, wenn man so will, ‚anthropologisches Grundproblem‘ (vgl. Tab. 1): Einerseits ist der Mensch als ‚Sprachwesen‘ auf intersubjektiv geteilten Sinn angewiesen, andererseits unterliegt er als ‚Mängelwesen‘ einer existentiellen Knappheit.25

22 Eugen von Böhm-Bawerk, Rechte und Verhältnisse vom Standpunkte der volkswirthschaftlichen Güterlehre. Kritische Studie, Innsbruck 1881, S. 75, Anm. 9. Im Originaltext spricht BöhmBawerk zwar von einer „physischen Einheit“ (ebd.), aus dem Gesamtkontext wird aber deutlich, dass diese Bestimmung nicht nur für Sachgüter, sondern für Güter insgesamt gilt. Böhm-Bawerk diente nicht nur Weber als Anregung, sondern hat auch wesentliche Erkenntnisse des propertyrights-Ansatzes vorweggenommen, vgl. Nicolai J. Foss, On Austrian and Neo-Institutionalist Economics, in: William Keizer / Bert Tieben / Rudolf Willem van Zijp (Hgg.), Austrian Economics in Debate (Routledge Studies in the History of Economics 12), London 1997, S. 243–263, hier S. 249. 23 Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Nachdruck der 1. Aufl. von 1912, hg. und erg. um eine Einführung von Jochen Röpke und Olaf Stiller , Berlin 2006, S. 2. 24 Eine derartige Definition des ‚ökonomischen Prinzips‘ ist in fast jedem wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbuch enthalten; vgl. aus den beiden Hauptrichtungen bspw. Jörn Altmann, Volkswirtschaftslehre. Einführende Theorie mit praktischen Bezügen, Stuttgart 62003, S. 42–44 und Sönke Peters / Rolf Brühl / Johannes N. Stelling, Betriebswirtschaftslehre. Einführung, München 122005, S. 3–5. Dass es sich in der Tat um eine von den im engeren Sinne wirtschaftlichen Gegenständen ablösbare Perspektive handelt, zeigt paradigmatisch Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 32), Tübingen 21993. 25 Vgl. allgemein Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, darin insbesondere Gernot Böhme, Natur, S. 92–116, wo beide Bestimmungen vorkommen, für das „Sprachwesen“ mit Verweis auf Heidegger (ebd., S. 115) und das „Mängelwesen“ mit Verweis auf Arnold Gehlen (ebd., S. 100).

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Das so entstandene Tableau (Tab. 1) ist nun keineswegs innovativ, sondern veranschaulicht nur bekannte Sachverhalte. Allerdings ermöglicht es, die Frage der Relationierung von symbolischer Kommunikation und wirtschaftlichem Handeln systematisch anzugehen, weil sich nunmehr zeigt, dass zwei grundverschiedene Ansätze möglich sind: Entweder rückt man die Sinnvermitteltheit allen Handelns in den Mittelpunkt oder man geht von der Knappheit aller Ressourcen aus. Tut man Letzteres, dann nimmt man damit eine im Wortsinne ‚ökonomische‘ Perspektive ein.

II. Ökonomische Perspektiven Hier kommt nun der zweite Beitrag der Sektion „Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln“ ins Spiel. Was Werner Freitag präsentiert hat, entspricht in dem soeben ausgeführten Tableau etwa folgender Relationierung:26 Tabelle 2 Gegenstandsbereich

Rituale und Zeremonien

Gütererwerb durch Tausch oder Produktion

Methodischer Ansatz Grundproblem

Zwecke und Mittel / ‚ökonomisches Prinzip‘ Knappheit

Rituale und Zeremonien im Kontext wirtschaftlichen Handelns bilden den Gegenstandsbereich, der dann aus einer genuin ökonomischen, hier genauer: transaktionskostentheoretischen Perspektive untersucht wird. Im Ergebnis, so Werner Freitag, war rituell-symbolisches Handeln im Rahmen von Gütermärkten ein probates Mittel, um Transaktionskosten zu senken, was sich insbesondere der performativen Stiftung von Vertrauen und der darstellenden Aktualisierung von Ordnungsvorstellungen verdanken dürfte. Das Vorkommen symbolischer Kommunikationsformen in wirtschaftlichen Kontexten lässt sich also in dieser Perspektive hinreichend damit erklären, dass die Durchführung von Ritualen und Zeremonien dem ökonomischen Prinzip entsprach, weil der Nutzen, also die Senkung der Transaktionskosten, die Kosten überstieg. 26 Vgl. für das Folgende Freitag, Städtischer Markt und symbolische Kommunikation (wie Anm. 9).

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Ein solcher Ansatz, daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen, ist nicht nur legitim, sondern auch sehr hilfreich. Teile der Neuen Kulturgeschichte begnügen sich nämlich gelegentlich damit, performative Handlungssequenzen als Selbstzweck zu behandeln und ausschließlich die in ihnen her- und dargestellte Bedeutung zu rekonstruieren.27 Neben den sozio-ökonomischen Voraussetzungen gerät dabei aber vor allem aus dem Blick, dass sinnstiftende Handlungsformen sehr wohl auch in längerfristige Zweck-Mittel-Kalküle eingebunden sein können. Und insofern bieten genuin ökonomische Perspektiven auf symbolisches Handeln die Chance, diese Einseitigkeit zu korrigieren. Das gilt im Übrigen nicht nur für die bisher geschilderten ‚Wirtschaftsrituale‘, sondern für symbolisches Handeln generell, wie beispielsweise Albrecht Luttenberger jüngst für den Reichstag des 16. Jahrhunderts dargelegt hat: Da sich nämlich die zahlreichen Sessionskonflikte in sehr unterschiedlichen Kontexten ereigneten, ergaben sich, so Luttenberger, daraus „Instrumentalisierungsoptionen, die zeichenhaftes Handeln [...] in den Dienst bestimmter Zwecke stellen“.28 Wenngleich also nicht ausdrücklich solche bezeichnet, handelt es sich hier im Grunde auch um eine ökonomische Perspektive, eben weil es um die Frage geht, wie symbolisches Handeln als Mittel eingesetzt und in seinem Nutzen für Zwecke, die außerhalb der Sinnstiftung liegen, maximiert werden kann. Man kann Werner Freitag also darin zustimmen, dass solche Wege in Zukunft vermehrt beschritten werden sollten, und auch darin, dass die wichtigsten Analyseinstrumente dafür wohl von der Neuen Institutionenökonomik bereitgestellt werden, wozu neben dem schon erwähnten Transaktionskostenansatz auch der principal-agent- und der Verfügungsrechteansatz zählen.29 In 27 Vgl. Hartmut Berghoff, Nutzen und Grenzen des kulturwissenschaftlichen Paradigmas für die Wirtschaftsgeschichte, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94, 2007, S. 178–181, hier S. 181: Die jüngere Kulturgeschichte habe sich unter anderem dadurch „ihrer Anschlussfähigkeit beraubt“, dass sie sich zum Teil auf „rein textimmanente Interpretationen ohne Rekurs auf Kontextfaktoren“ beschränke. 28 Albrecht P. Luttenberger, Zeremonial- und Sessionskonflikte in der kommunikativen Praxis des Reichstages im 16. Jahrhundert, in: Neu / Sikora / Weller (Hgg.), Zelebrieren und Verhandeln (wie Anm. 19), S. 233–252, hier S. 252. Zum Phänomen der Sessionskonflikte vgl. auch Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Kunisch (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 19), Berlin 1997, S. 91–132. 29 Vgl. Göbel, Neue Institutionenökonomik (wie Anm. 21), S. 60. Vgl. auch den ansonsten zur Rezeptionsfähigkeit sehr kritischen Beitrag von Mark Spoerer, Kultur in der Wirtschaftsgeschichte: Explanandum, Explanans oder Label?, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94, 2007, S. 182–185, hier S. 185: „Die Neue Institutionenökonomik schlägt eine Brücke zwischen wirtschaftswissenschaftlich und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Historiker/inne/n.“

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einem zentralen Punkt aber besteht Dissens und zwar in der Frage, ob auch die Preisbildung, der sogenannte ‚Kern‘ des ökonomischen Geschehens, durch einen symbolgeschichtlichen Ansatz erhellt werden kann oder nicht. Werner Freitag verneint das und verweist darauf, dass hier eine rein ökonomisch rationale Logik am Werk sei, die keine symbolischen Aspekte aufweise. Sinnstiftung durch Symbolisierung sei also zwar nützlich, aber nicht konstitutiv für wirtschaftliches Handeln: Ein Wegfall der symbolischen Komponenten steigere nur die – letztlich akzidentiellen – Transaktionskosten, ohne aber die Substanz des wirtschaftlichen Handelns zu berühren. Dieses Komplementaritätsmodell – symbolische Rahmung einerseits und wirtschaftliches Kerngeschehen andererseits – kann jedoch aus zwei Gründen nicht überzeugen: Erstens bezeichnet die Chiffre ‚symbolische Kommunikation‘ vor allem eine theoretische Perspektive, einen „Sehepunckt“30, von dem aus selbstverständlich auch wirtschaftliches Handeln in den Blick genommen werden kann. Das würde nun ein Vertreter des geschilderten Modells sogar noch zugeben, müsste aber behaupten, dass eine solche Analyse zwar möglich, aber heuristisch nicht fruchtbar sei. Genau das ist aber zweitens nicht wahrscheinlich, denn letztlich ist das Knappheitsproblem vom Sinnproblem überhaupt nicht zu trennen. Dirk Baecker etwa hat in seiner 2006 erschienenen Einführung in die Wirtschaftssoziologie festgehalten, Knappheit sei „eine von der Wirtschaft im Kontext der Gesellschaft erst gemachte und immer wieder neu bestätigte soziale Konstruktion, ein ‚Faktum‘ im Wortsinn“.31 Man muss diese systemtheoretische Engführung nicht in Gänze unterschreiben, aber man wird auch dann, wenn man Knappheit für einen anthropologischen und damit unhintergehbaren Tatbestand hält, zugeben müssen, dass sie den Akteuren trotzdem nur im Medium sinnhaften sozialen Handelns und Kommunizierens gegeben ist – als soziale Konstruktion.32 Und genau deshalb gilt auch für die Kernbereiche des wirtschaftlichen Handelns, also Markt- und Preisbildungsmechanismen, dass sie – ganz analog etwa zu Akten symbolischer Kommunikation – „nicht unabhängig von den Wahrnehmungsmustern, Ordnungskategorien und Bedeu-

30 Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrheit geleget wird, Leipzig 1752, S. 100: „Der Sehepunckt ist der innerliche und äusserliche Zustand eines Zuschauers, in so ferne daraus eine gewisse und besondere Art, die vorkommenden Dinge anzuschauen und zu betrachten flüsset.“ 31 Dirk Baecker, Wirtschaftssoziologie, Bielefeld 2006, S. 12. 32 Zum Konzept der ‚sozialen Konstruktion‘ vgl. überzeugend Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.  M. 2010, S. 152–161.

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tungszuschreibungen der zeitgenössischen Akteure“33 erfasst werden können. Welche weiterführenden Fragestellungen kann nun eine symbolgeschichtliche Perspektive, die nach performativer Sinnstiftung fragt und damit auf einen besonderen Modus von Bedeutungszuschreibung spezialisiert ist, in diesem allgemeinen Rahmen bereitstellen?

III. Symbolgeschichtliche Perspektiven Ausgangspunkt ist wieder das zu Beginn entfaltete Tableau (vgl. Tab. 1). Es geht also nun darum, wirtschaftliches Handeln im Hinblick auf die Relevanz von symbolischen Aspekten und performativer Sinnstiftung zu beobachten (vgl. Tab. 3). Tabelle 3 Gegenstandsbereich Methodischer Ansatz Grundproblem

Gütererwerb durch Tausch oder Produktion Instrumentelle und symbolische Aspekte / Sinnstiftung

Zwecke und Mittel / ‚ökonomisches Prinzip‘ Knappheit

Dabei ist offenkundig, dass die ‚Bedeutung von Bedeutung‘ in einigen Bereichen der Wirtschaftsgeschichte längst anerkannt ist, etwa in der Konsum- oder der Marketinggeschichte, und auch in anderen Disziplinen eine große Rolle spielt, beispielsweise bei ethnologischen Forschungen zur Marktkultur oder wirtschaftssoziologischen Konzepten wie der ‚Einbettung‘ von Märkten.34 Da nun kompromisslose Vertreter des Komplementaritätsmodells hier einhaken 33 Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne (wie Anm. 12), S. 491. 34 Zu den Teilbereichen der Wirtschaftsgeschichte, in denen die ‚Bedeutung von Bedeutung‘ weitgehend akzeptiert ist, vgl. Berghoff / Vogel, Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 14–18 und Hilger / Landwehr, Zur Einführung (wie Anm. 5), S. 7–26, hier S. 16–19; zur Wirtschaftsethnologie vgl. Gertraud Seiser, Neuer Wein in alten Schläuchen? Aktuelle Trends in der ökonomischen Anthropologie, in: Historische Anthropologie 17, 2009, S. 157–177 und als Fallstudie Michaela Fenske, Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln u. a. 2006; zur Wirtschaftssoziologie vgl. Richard Swedberg, Grundlagen der Wirtschaftssoziologie, hg. und eingel. von Andrea Maurer, Wiesbaden 2009 und zum Konzept der ,Einbettung‘ programmatisch Mark Granovetter, Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, in: American Journal of Sociology 91, 1985, S. 481–510.

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und reklamieren würden, dass solche Forschungen nur die symbolische Rahmung, nicht aber das ökonomische Kerngeschehen zum Gegenstand hätten, werden diese Ansätze hier nicht weiter thematisiert; stattdessen stehen, wenn man so will, die ‚klassischen‘ ökonomische Phänomene im Zentrum, wie sie im Tableau dargestellt sind. Um diese drei Perspektiven (Gütererwerb durch Tausch oder Produktion, Zwecke und Mittel/‚ökonomisches Prinzip‘, Knappheit) nun mit Leben zu füllen und zu zeigen, dass ein symboltheoretischer Zugriff hier heuristisch fruchtbar ist, wird für jede Perspektive ein konkretes Beispiel vorgestellt, das in den letzten Jahren in renommierten wirtschaftshistorischen Zeitschriften diskutiert wurde. Zunächst also zum wirtschaftlichen Handeln im engeren Sinne, Gütererwerb durch Tausch oder Produktion: Patrick Wallis hat sich 2008 in der „Economic History Review“ mit Design und Ausstattung von Apotheken im frühneuzeitlichen London beschäftigt.35 Drei Ausstattungsmerkmale sind wesentlich, wie sich an einer zeitgenössischen Karikatur aufzeigen lässt (vgl. Abb. 25). Charakteristisch war vor allem die Unmenge von Apothekerkrügen, die – anders als in der Karikatur – in der Regel auch noch aufwendig verziert waren. Ergänzt wurde diese Grundausstattung durch die Zurschaustellung von Werkzeugen und Exotika, hier in Form des prototypischen Mörsers und eines ausgestopften Fischs. Dieser Befund ist zunächst einmal wenig überraschend; interessanter ist, dass Wallis eine neue Deutung dieses materiellen Arrangements vorschlägt. Die Standardinterpretation läuft darauf hinaus, dass die besondere Gestaltung der Ladenfläche Vertrauenswürdigkeit und Qualität signalisieren und das Verhältnis von Kunde und Apotheker auf eine Weise rahmen sollte, die den Verkauf medizinischer Produkte erleichterte. Träfe das zu, dann hätte man es nur mit einem weiteren Beispiel für den schon von Werner Freitag aufgezeigten Zusammenhang zu tun, insofern es dann ausschließlich um die Senkung von Transaktionskosten gegangen wäre. Hier setzt Wallis an und zeigt, dass das materielle Arrangement eine viel grundlegendere Wirkung hatte. So schreibt er in Bezug auf die Rohstoffe der Medikamente: „Yet in the apothecariesʼ [...] hands, these commonplace materials somehow also became expensive and exclusive, a transformation of muck into brass.“36 Wie ist aber diese „Verwandlung“ zu verstehen, die aus weithin bekannten Hausmitteln teure Medikamente machte? Da sich an den materiellen Eigenschaften offenbar nichts änderte, besteht die nicht ganz zu Unrecht 35 Vgl. Patrick Wallis, Consumption, Retailing, and Medicine in Early-Modern London, in: Economic History Review 61, 2008, S. 26–53. 36 Ebd., S. 43.

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Abb. 25: Thomas Rowlandson, „I have a secret art to cure“, in: The English Dance of Death, from the Designs of Thomas Rowlandson, with Metrical Illustrations by the Author of „Doctor Syntax“, Bd. 1, London 1815.

so bezeichnete „Verwandlung“ darin, dass die materiellen Komponenten mit neuer Bedeutung aufgeladen wurden – durch die Hinzufügung einer symbolischen Komponente entstand also ein neues Gut namens ‚Medikament‘. Und Wallis argumentiert überzeugend, dass dieser ‚Produktionsschritt‘ nicht zuletzt durch die für die Kunden sichtbare Ausgestaltung der Apotheke geleistet wurde; diese rahmte also nicht nur den Austausch der medizinischen Güter, sondern hatte einen wesentlichen Anteil an ihrer Produktion. Zwei Beobachtungen lassen sich hier anschließen. Erstens handelt es sich offensichtlich um einen Fall von symbolischer Kommunikation: Die standesgemäß eingerichtete Apotheke diente nicht nur in instrumenteller Hinsicht solchen Zwecken wie der Lagerung der Rohstoffe, sondern hatte darüber hinaus einen symbolischen Aspekt, weil sie als auf Dauer gestelltes Setting – gleichsam als ‚geronnenes Ritual‘ – mit dazu beitrug, dass durch kanalisierte Bedeutungszuschreibung aus bestimmten Rohstoffen medizinische Güter wurden. Zweitens ist diese symbolische Komponente nicht akzidentiell, sondern substantiell, denn zieht man sie ab, dann erhöhen sich nicht einfach die Transaktionskosten, sondern das Produkt verliert seinen Status als genuin medizinisches Gut und fällt auf die Stufe eines billigen Hausmittels zurück. Ein symbolgeschichtlicher Ansatz kann daher helfen, einen Teil der sozialen

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Konstruktionsprozesse sichtbar zu machen, die wirtschaftliche Güter zu dem machen, was sie sind. Aber nicht nur der Gegenstandsbereich des wirtschaftlichen Handelns, sondern auch der damit verbundene methodische Ansatz kann unter symbolgeschichtlichen Vorzeichen behandelt werden. Die Ökonomik gewinnt ihre Eleganz und heuristische Leistungsfähigkeit, so kann man in Anlehnung an Hansjörg Siegenthaler formulieren, aus einer universellen Rationalitätsunterstellung.37 Die notwendige Kehrseite dieser Universalität ist jedoch die ausgeprägte Formalität des ökonomischen Prinzips: Dieses gibt zwar an, wie Mittel und Zwecke in Beziehung gesetzt werden – nämlich in Minimierung des Mitteleinsatzes bzw. in Maximierung der Zweckerfüllung –, aber es sagt nichts darüber aus, welche Zwecke und Ziele konkrete Akteure auf diese Weise verfolgen und welche Rangordnung unter den Zwecken besteht. Für die Moderne, in der wirtschaftliches Handeln mehr oder weniger vollständig im Medium des Geldes stattfindet, ist das jedoch kein Problem: Man kann nämlich von den konkreten Zwecken und ihrer je unterschiedlichen Gewichtung abstrahieren, weil sich mit Geld – als einem generalisierten Medium – beliebige wirtschaftliche Zwecke erreichen lassen. So lässt sich Gewinnmaximierung im Sinne von Gelderwerb als Inbegriff wirtschaftlich rationalen Handelns ansehen. Nur: Wie lässt sich die immer schon unterstellte ökonomische Rationalität eigentlich rekonstruieren, wenn das wirtschaftliche Handeln nicht vollständig monetarisiert ist? Aus diesem Kontext stammt das zweite Beispiel, das ebenfalls der „Economic History Review“ entnommen ist. Dort hat Daniel Vickers 2010 seine Erkenntnisse über das wirtschaftliche Verhalten im ländlichen Neuengland des 18. Jahrhunderts publiziert, die er aus der Untersuchung von Tagebüchern gewonnen hat.38 In diesen Journalen, und das zeichnet sie als Quellen gegenüber Rechnungsbüchern aus, hielten die Schreibenden die ganze Bandbreite ihrer ökonomisch relevanten Handlungen fest – monetäre wie nicht-monetäre. 37 Vgl. Hansjörg Siegenthaler, Theorievielfalt in den Geschichtswissenschaften und die besondere Aufgabe der Ökonomie, in: Jan-Otmar Hesse / Christian Kleinschmidt / Karl Lauschke (Hgg.), Kulturalismus, Neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 9), Essen 2002, S. 161–173. So auch Milton Friedman, The Methodology of Positive Economics, in: ders., Essays in Positive Economics, Chicago u. a. 1966, S. 3–43, hier S. 40: „A meaningful scientific hypothesis or theory typically asserts that certain forces are, and other forces are not, important in understanding a particular class of phenomena. It is frequently convenient to present such a hypothesis by stating that the phenomena it is desired to predict behave in the world of observation as if they occurred in a hypothetical and highly simplified world containing only the forces that the hypothesis asserts to be important.“ 38 Vgl. Daniel Vickers, Errors Expected. The Culture of Credit in Rural New England, 1750– 1800, in: Economic History Review 63, 2010, S. 1032–1057.

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Vickers kann nun zeigen, dass dieselben Akteure in zwei ganz unterschiedlichen Modi miteinander verkehrten, „modes [...] which operated by different rules“39: Ging es um sehr spezielle Güter oder Dienstleistungen, so wurde ein Preis in Geld festgesetzt; Beispiele dafür sind Immobilien oder juristischer Beistand. Handelte es sich jedoch um Güter oder Dienste, die im Prinzip jeder der beteiligten Akteure hergeben oder erbringen konnte, so wurde auf eine quantifizierte Bewertung dieser Geschenke, Gefälligkeiten und Tauschhandlungen verzichtet. Zwei Sachverhalte sind nun auffällig: Zum einen hatten beide Bereiche zwar ihre eigene Logik, aber die Zuordnung der Güter war nicht immer eindeutig; so wurde etwa das gelegentliche Aushelfen auf der Farm des Nachbarn mal mit einem Preis versehen, mal aber nicht – wohlgemerkt von denselben Personen. Zum anderen zeichnet sich der nicht-monetäre Bereich dadurch aus, dass die Tauschbilanz selten ausgeglichen war, man also entweder mehr Gefallen erwies als man erhielt oder andersherum. Beide Phänomene lassen sich mit einer engen ökonomischen Logik nicht erklären. Wie aber dann? In Bezug auf den nicht-monetären Bereich schreibt Vickers: „What mattered in this balance was partly that one received roughly what one was owed [...] and partly that one was perceived around town as a dependable person.“40 Deutlicher kann man kaum benennen, dass das nicht-monetäre wirtschaftliche Handeln eben jene zwei Aspekte aufwies, an denen der Sonderforschungsbereich interessiert ist: In instrumenteller Hinsicht sollte es sicherstellen, dass man bei Bedarf auf Güter und Dienste der Nachbarn zurückgreifen konnte, in symbolischer Hinsicht aber diente es der performativen Aufrechterhaltung des Ansehens der Akteure. Und weil diese in einer Welt lebten, „where the broader agendas of economic life hung on one’s personal reputation“,41 weil also der Status als „verlässliche Person“ unmittelbar ökonomisch relevant war, musste auch in der monetären Sphäre darauf Rücksicht genommen werden. „Household self-interest“, so Vickers noch einmal, „required that everyone refrain from holding one’s neighbours too strictly to account“.42 Geleisteter Arbeit keinen Preis zuzuschreiben oder mehr Gefallen zu gewähren, als man erhielt, war also nicht nur vernünftig, sondern auch im strengen Sinne wirtschaftlich vernünftig, weil die symbolische Wirksamkeit wirtschaftlichen Handelns in das ökonomische Gesamtkalkül einbezogen war. Zugegebenermaßen schwächt sich dieser Zusammenhang ab, je vollständiger wirtschaft39 40 41 42

Ebd., S. 1038. Ebd., S. 1054. Ebd., S. 1055. Ebd.

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liches Handeln monetarisiert und entbettet wird, aber die Marktsoziologen haben herausgestellt, dass auch in der Moderne weiterhin mit symbolischen Aspekten im Wortsinne zu ‚rechnen‘ ist.43 Auch im Hinblick auf ökonomische Rationalität zeichnet sich also ab, dass ein symbolgeschichtlicher Ansatz anschlussfähig ist. Zuletzt soll noch ganz kurz angedeutet werden, dass das auch im Hinblick auf das Knappheitsproblem gilt. Wie schon erwähnt, ist menschlichen Gesellschaften zwar das Problem der Knappheit notwendigerweise vorgegeben, aber nicht die Antwort auf dieses Problem – Wirtschaft im Sinne des Umgangs mit Knappheit kann daher keine quasi-natürliche, sondern nur eine sozial konstruierte und damit historisch variable Ordnung sein. Die erfolgreichste dieser Ordnungen ist nun zweifellos die ‚moderne Wirtschaft‘ im Sinne der Neoklassik, wobei sich ihr Erfolg nicht zuletzt daran zeigt, dass sie immer wieder zu einer transhistorisch gültigen Antwort auf Knappheit überhöht wird. Hier setzt ein 2009 im „Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte“ erschienener Aufsatz von Werner Plumpe an.44 Darin unternimmt er den Versuch, ein Modell von Wirtschaft zu entwickeln, das hinreichend abstrakt ist, um auch die moderne Wirtschaft als eine historisch spezifische Variante unter anderen möglichen Varianten beschreibbar zu machen, das aber gleichzeitig konkret genug ist, um wirtschaftlichen Wandel erklären zu können. Dazu konzipiert Plumpe Wirtschaft im Sinne eines „Ermöglichungszusammenhangs, der durch semantische, institutionelle und praktische Momente konstituiert und je historisch konfiguriert wird“.45 Auf dieser Grundlage kann man dann ‚Wirtschaftsstile‘ oder ‚Wirtschaftssysteme‘ unterscheiden, die ihre jeweilige Eigenart durch eine historisch spezifische Verschränkung einer bestimmten wirtschaftlichen Semantik mit bestimmten wirtschaftlichen Institutionen und bestimmten wirtschaftlichen Praktiken gewinnen. Plumpes Vorhaben kann an dieser Stelle nicht weiter vorgestellt werden, aber es sollte klar geworden sein, dass es sich um einen breit angelegten Versuch handelt, die Historizität des Knappheitsproblems konzeptionell in den Griff zu bekommen. Auch hier bieten sich nun Möglichkeiten, die Erkenntnisse des Sonderforschungsbereichs einzubringen, und zwar im Hinblick auf eines der Hauptthemen der Wirtschaftsgeschichte, die Erklärung wirtschaftlichen Wandels. Wenn man nämlich Wirtschaftsstile als Konfigurationen von 43 Vgl. Granovetter, Economic Action and Social Structure (wie Anm. 34). 44 Werner Plumpe, Ökonomisches Denken und wirtschaftliche Entwicklung. Zum Zusammenhang von Wirtschaftsgeschichte und historischer Semantik der Ökonomie, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2009, S. 27–52. 45 Ebd., S. 34.

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semantischen, institutionellen und praktischen Momenten versteht, dann entsteht interner Wandel auf zwei Wegen: „Einerseits“, so Plumpe, „kann jedes der Momente selbst innere Dynamik gewinnen, andererseits können sich die Momente gegenseitig irritieren und zu Reaktionen zwingen“.46 Daraus folgt, dass man unter anderem konkretere Beschreibungskategorien braucht, mit denen sich die Wechselwirkung dieser drei Momente analysieren lässt. Nun befasste sich der Sonderforschungsbereich unter dem Titel „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme“ eben mit einer solchen Wechselwirkung, nämlich der von rituellen Praktiken und gesellschaftlicher Semantik. Und da eines der Hauptergebnisse lautet, dass symbolisches Handeln ein wichtiger ‚Transmissionsriemen‘ ist, mit dem sich gesellschaftliche Sinnbestände in konkrete Praxis umsetzten und zu Institutionen verdichten lassen, läge es nahe, Plumpes Modell wirtschaftlichen Wandels durch einen symboltheoretischen Ansatz zu erweitern.

IV. Ergebnisse Die Tagung, in deren Rahmen dieser Beitrag entstand, fragte im Untertitel nach „Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation“. Im Hinblick auf das Thema der Sektion scheint die Bilanz zunächst wenig erfreulich zu sein. Wirtschaftliches Handeln, darauf hat auch Werner Freitag hingewiesen, war kein zentrales Thema des Sonderforschungsbereichs; unter den zahlreichen Veröffentlichungen finden sich nur zwei Aufsätze, in denen Ökonomie im Titel erscheint.47 Allerdings, so wird man hinzufügen müssen, ist diese Tatsache schon frühzeitig als Problem erkannt worden. 2006, zu Beginn der dritten Förderphase, gründete sich eine interne Arbeitsgruppe, die sich des Themas ‚Geld und Gut‘ annahm. Ein halbes Jahr später wurden dann auf einem internen Kolloquium des Sonderforschungsbereichs erste Ergebnisse vorgestellt, die dann auch Eingang fanden in den erfolgreichen Verlängerungsantrag von 2008. Und nicht zuletzt ist ja auch die Ausrichtung einer Sektion zum Thema Wirtschaft im Rahmen des Abschlusskolloquiums 46 Ebd. 47 Vgl. Michael Jucker, Plünderung, Beute, Raubgut: Überlegungen zur ökonomischen und symbolischen Ordnung des spätmittelalterlichen Krieges 1300–1500, in: Sebastien Gueux / Valentin Groebner / Jakob Tanner (Hgg.), Kriegswirtschaft, Wirtschaftskriege (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte – Société Suisse d’histoire économique et sociale 22), Zürich 2008, S. 51–69; Barbara Stollberg-Rilinger, Zur moralischen Ökonomie des Schenkens bei Hof, in: Werner Paravicini (Hg.), Luxus und Integration. Materielle Hofkultur Westeuropas vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, München 2010, S. 187–202.

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ein Zeichen dafür, dass sich der Sonderforschungsbereich der Wichtigkeit des Themas bewusst war. Was nun die Perspektiven angeht, so ist es möglich und aussichtsreich, den symboltheoretischen Ansatz in Zukunft auch auf wirtschaftliches Handeln auszuweiten. Möglich ist es zum einen schon deshalb, weil wirtschaftliches Handeln – wie jedes menschliche Handeln – immer auch sinnhaft und sinnorientiert ist, weshalb das Knappheitsproblem nicht vom Sinnproblem zu trennen ist. Und daher liegt eine kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise nahe, ist diese doch auf die Analyse von Sinn und Bedeutung spezialisiert. Aussichtsreich ist eine solche Ausweitung zum anderen auch ganz konkret, weil sich der vom cultural turn inspirierte symbolgeschichtliche Ansatz unmittelbar an aktuelle Forschungstrends in der Wirtschaftsgeschichte anschließen lässt: Sinnstiftung durch Symbolisierungen, so zeigte sich, spielt offenbar für die Produktion von Gütern, die Logik wirtschaftlichen Handelns und den Wandel von Wirtschaftsystemen eine Rolle. In anderen Worten: Richard Tilly hatte seiner Metapher von der Wirtschaftsgeschichte als Martini-Cocktail das klassische Rezept zu Grunde gelegt – Gin und trockener Wermut, Ökonomie und Geschichte. Neben dem klassischen „Dry Martini“ führen aber die meisten Bars noch zwei weitere Varianten, nämlich den „Sweet Martini“ und den „Medium Martini“. Variiert wird dabei immer die Wermutkomponente, also im Sinne der Metapher die Zutat Geschichte. Von daher liegt es also nicht nur wissenschaftlich, sondern auch metaphorisch nahe, in der Zukunft auch ‚symbolische Kommunikation‘ als Zutat zu verwenden.

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Zuerst die Herrschaft und dann der Markt? Kommentar zur Sektion „Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln“ Von Feudalismus redet heute fast niemand mehr. Aber eine mit den Feudalismustheorien verbundene Denkfigur hat sich als sehr resistent erwiesen, dass nämlich Adelsherrschaft und Märkte in einem Verhältnis der zeitlichen Sukzession stehen. Will heißen: wo Adelsherrschaft noch dominiert, konnte sich das Marktgeschehen noch nicht entfalten, und wo Markt dann endlich vorherrschend wird, hat solche Herrschaft ihre Relevanz schon verloren. Diese Vorstellung baut nicht nur auf marxistischen Theorien über sich ablösende Gesellschaftsformationen auf. Sie passt auch bestens zum Markt- und Wirtschaftsbegriff der sehr unmarxistischen neoklassischen Ökonomie. Diese stellt ein freies, zwischen gleichberechtigten Akteuren auszutragendes Spiel von Nachfrage und Angebot ins Zentrum ihrer Analysen. Märkte, die sich in dieser Weise verstehen lassen, gab es in vorliberalen Gesellschaften tatsächlich nur in Nischen, am ehesten in der Stadt. Und entsprechend gilt die spätmittelalterliche Stadt als Insel der Modernität, die sich angeblich früh von ihrer adelsherrschaftlichen Umgebung abgelöst hatte – und damit zum würdigen Gegenstand der Wirtschaftsgeschichte geworden war. Auch wenn dieses Sukzessionsmodell heute kaum noch explizit vertreten wird, so lenkt es doch weiterhin die Aufmerksamkeitsökonomie der Forschung. Da ist zum einen die Wirtschaftsgeschichte des Spätmittelalters. Sie frönt hemmungslos ihrer Vorliebe für städtische Märkte. Dagegen zeigt sie Adel und Höfen, ja sogar der Landwirtschaft als dem eindeutig gewichtigsten Wirtschaftssektor der Vormoderne die kalte Schulter – im deutschen Sprachraum je länger, desto unverhohlener.1 Umgekehrt gönnt die Geschichte der vormodernen sozio-politischen Ordnungen wirtschaftlichen Fragestellungen bestenfalls Seitenblicke. Dabei gab es einst eine Wirtschaftsgeschichte, die nicht Brüche, sondern Kontinuitäten zwischen Adelsherrschaft und Markt suchte. Erinnert sei nur an Sombart und Veblen, denen ich im Übrigen kein Revival wünsche. Für sie generierten Rangstreitigkeiten an Höfen, ein Kernthema des Münsteraner Sonderforschungsbereichs „Symbolische Kommunikation und gesell1 Vgl. Julien Demade, The Medieval Countryside in German-language Historiography since the 1930s, in: Isabel Alfonso (Hg.), The Rural History of Medieval European Societies. Trends and Perspectives, Turnhout 2007, S. 173–252.

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schaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“, nichts Geringeres als die Dynamik des modernen Kapitalismus.2 Ich möchte hier für eine Wirtschaftsgeschichte der Vormoderne plädieren, die weniger genealogisch vorgeht, sich aus den Nischen der ‚Anfänge‘ des Kapitalismus auf den städtischen Märkten herauswagt und das wirtschaftliche Handeln in der ganzen Breite der vormodernen Gesellschaften zum Thema macht. Komplementär dazu brauchen wir eine durch den cultural turn geläuterte Geschichte von Herrschaftsordnungen, die sich daran erinnert, dass es bei der Herstellung politischer Ordnungen zentral um Zugänge zu Ressourcen geht. Wichtige Schritte in diese Richtung machen Tim Neu und Werner Freitag, die beiden Autoren dieser Sektion. Ihnen geht es vor allem um den Nachweis von Schnittstellen, an denen sich die Ansätze der Wirtschaftsgeschichte und der symbolischen Kommunikation produktiv verbinden lassen. Ihre Beiträge weisen bei allen Unterschieden kennzeichnende Gemeinsamkeiten auf. Zum einen beschreiben sie das Verhältnis zwischen Wirtschaft und symbolischer Kommunikation zwar unterschiedlich, aber gleichermaßen in scharfen Entgegensetzungen. Werner Freitag weist der symbolischen Kommunikation im Rahmen der Senkung von Transaktionskosten auf den städtischen Märkten eine zwar nicht unwichtige, aber klar untergeordnete Stellung zu.3 Wirtschaft, wie er sie konzeptionalisiert, lässt sich durch symbolische Kommunikation nicht in ihren Grundfesten erschüttern. Dagegen experimentiert Tim Neu mit einer Gegenüberstellung von symbolischer Kommunikation und Ökonomie als ebenbürtigen, konkurrierenden, aber – wie er überzeugend zeigt – nicht inkommensurablen Zugängen zur Erklärung menschlichen Handelns.4 Damit konstruiert er zwar ein etwas ungleiches Paar, kann aber schlüssig nachweisen, dass symbolische Kommunikation auch dort wirksam wird, wo nach neoklassischem Verständnis der Kern des wirtschaftlichen Handelns liegt: bei der Ausgestaltung des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage. Zum anderen sprechen beide Beiträge vom Verhältnis zwischen Ökonomie und Kommunikation, ohne Gesellschaftsordnungen ins Spiel zu bringen, die beides bestimmen. Noch in den 1980er Jahren wäre in diesem Zusammenhang zweifellos von ‚dem Feudalismus‘, ‚der traditionalen Gesellschaft‘ oder 2

3 4

Thorstein Veblen, The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions, London 1899 (ND New York 1994); Werner Sombart, Liebe, Luxus und Kapitalismus, Berlin 1992 (Erstausg. u. d. T. Luxus und Kapitalismus. Studien zur Entstehungsgeschichte des modernen Kapitalismus, Bd. 1, Leipzig 1913). Vgl. Werner Freitag, Städtischer Markt und symbolische Kommunikation, in diesem Band S. 379–399. Vgl. Tim Neu, Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln. Theoretische Perspektiven, in diesem Band S. 401–418.

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‚der Ständegesellschaft‘ als den sozialen Systemen die Rede gewesen, in denen sich Wirtschafts- und Kommunikationsformen als gleichermaßen enthalten und aufeinander bezogen denken ließen. Tatsächlich spricht manches für einen solchen Verzicht auf die großen Abstraktionen des Sozialen. Sie fahren wie Dampfwalzen über die Vielfalt konkreter Situationen hinweg und sind eng mit den historischen Meistererzählungen verbunden. Hingegen fragt sich, ob das Soziale damit auch gleich ganz aus der Gleichung ausgeklammert gehört. Gerade wo man vom sozialen Handeln und von spezifischen sozialen Institutionen ausgeht, zeigen sich Kommunikation und Wirtschaft nicht nur an neuralgischen Schnittstellen wie auf dem Marktplatz und in der Apotheke, sondern fast ständig als eng miteinander verschränkt. Diese Verschränkungen sollten wir in ihrer ganzen Vielfalt erkunden! Schließlich bleiben beide Aufsätze einem Verständnis von Wirtschaftsgeschichte treu, welches das Spiel von Angebot und Nachfrage um die Preisbildung in den Mittelpunkt stellt. Dagegen setzen aktuell stark diskutierte Zugänge zur vormodernen Wirtschaft bei Entitäten wie dem Haushalt und dem Ehepaar an, welche den Regeln der Preisbildung nur begrenzt gehorchten. So gehen für Jan de Vries die entscheidenden Impulse zu seiner „Industrious Revolution“ vom Haushalt aus, und für Martha Howell beginnt „Commerce before Capitalism“ mit einem Wandel der Ehe. Andere Arbeiten wie Laurence Fontaines „Économie Morale“ stellen die sozialen Beziehungen überhaupt in den Mittelpunkt einer Auseinandersetzung mit zutiefst wirtschaftlichen Phänomenen wie dem Kredit.5 Wirtschaftsgeschichte könnte von den Ansätzen der symbolischen Kommunikation stärker profitieren, wenn sie sich der ganzen Bandbreite der historischen Formen von Produktion, Konsum und Austausch öffnen und sich mit Ressourcenflüssen im weiten Sinn befassen würde. Dann könnte sie stärker auf gesellschaftspolitische Systeme eingehen, ebenso wie auch eine bei der symbolischen Kommunikation ansetzende Beschäftigung mit gesellschaftspolitischen Ordnungen stärker für Wirtschafts- und Ressourcenfragen anschlussfähig würde. Wieso das eine wie das andere fruchtbar wäre, möchte ich nacheinander an einigen Beispielen illustrieren. Erstens zum Desiderat der vermehrten Thematisierung sozialer Ordnungen in der Wirtschaftsgeschichte: Es gab ab dem Spätmittelalter Märkte, die erstaunlich modern konturiert, das heißt durch das Spiel von Angebot und 5

Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, Cambridge 2008; Martha Howell, Commerce Before Capitalism in Europe, 1300–1600, Cambridge 2010; Laurence Fontaine, L’économie morale. Pauvreté, crédit et confiance dans l’Europe préindustrielle, Paris 2008.

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Nachfrage bestimmt waren. Wer der neoklassischen Setzung folgt und sich nur mit diesen befasst, sieht über einen der interessantesten Sachverhalte hinweg, nämlich dass diese Märkte Seite an Seite mit ganz anderen Formen der Ressourcenzirkulation existierten.6 Wir Mittelalterhistoriker wissen das eigentlich. Unsere Quellen sprechen nicht öfter von venditio als von donatio, traditio, servitium usw.7 Zudem waren Märkte herrschaftlich konstituiert. Die wenigsten Städte und städtischen Märkte entstanden am Rand der herrschaftlichen Einflusssphäre, wie es sich Henri Pirenne und die vielen, die ihm folgten, vorgestellt haben.8 Vielmehr waren die meisten Städte fest in der sozialen Ordnung der Adelsherrschaft verankert. Sie waren jemandes Städte, ihre Märkte jemandes Märkte, die von Herren eingerichtet worden waren. Diesen ging es nicht primär darum, dem Spiel von Angebot und Nachfrage Freiraum zu gewähren, sondern unterschiedliche Ressourcenflüsse gewinnbringend aufeinander zu beziehen, die Abgabeabschöpfung bei den Bauern etwa mit Vermarktungsmechanismen zu koppeln und an diese kirchliche Stiftungen mit ihrer jenseitsorientierten Austauschlogik anzuschließen.9 Gerade wo sich unterschiedliche Zirkulationslogiken kreuzten, kamen der symbolischen Kommunikation vermutlich zentrale Funktionen zu. Werner Freitags Beobachtungen zu Symbolen, die Transaktionskosten senkten, sind in dieser Hinsicht sehr erhellend – selbst wenn der Marktplatz in den mehrheitlich kleinen mittelalterlichen Städten auch ohne Symbole gefunden worden sein dürfte. Mindestens genauso wichtig war sicher der Beitrag der Zeichen zur sozialen Konturierung des Transaktionsgeschehens. Kreuze und Rolande sagten auch, wem ein Markt gehörte und welche Jurisdiktion galt. Sie definierten Situationen und zeigten auf, welche der vielen gängigen Transaktionsformen hier zur Anwendung gelangen sollten, das heißt, dass da überhaupt ein Markt war, wo Herren nicht einfach nehmen konnten und wo Gaben unerwidert blieben. Zur symbolischen Kommunikation des Marktes gehören auch Vorgänge, die uns selbstverständlich scheinen, aber eine in der 6 Vgl. Laurent Feller, Sur la formation des prix dans l’économie du haut Moyen Âge, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales 66, 2011, S. 627–661. 7 Vgl. Monique Bourin, Facere servitium et donare censum. Le vocabulaire du prélèvement seigneurial dans la France du Midi. L’exemple du Languedoc méditerranéen, in: Dies. / Pascual Martinez Sopena (Hgg.), Pour une anthropologie du prélèvement seigneurial dans les campagnes médiévales, xie–xive siècles. Les mots, les temps, les lieux (Publications de la Sorbonne, Série Histoire ancienne et médiévale), Paris 2007, S. 87–108. 8 Vgl. Henri Pirenne, Les villes du Moyen Âge, Brüssel 1927, S. 120. Dazu kritisch auch Michel Balard u. a., Le Moyen Âge en Occident, Paris 2008, S. 160–161. 9 Vgl. Jacques Heers, La ville au Moyen Âge en Occident. Paysages, pouvoirs et conflits, Paris 1990. Zu diesen Verschränkungen aus kirchlicher Sicht: Giacomo Todeschini, Richesse franciscaine. De la pauvreté volontaire à la société de marché, o. O. 2008.

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Vormoderne keineswegs banale Abgrenzung gegenüber nicht-marktförmigen Transaktionen leisten: das Ausstellen der Ware, deren Inspektion durch die Käufer, das Feilschen, der Handschlag usw.10 Eine Wirtschaftsgeschichte, die sich mit vielfältigen Transaktionsformen befasst, wird zentral mit der symbolischen Kommunikation beschäftigt sein, die deren Abgrenzung und Differenzierung leistete. Zweitens möchte ich der vermehrten Beachtung von Ressourcenfragen bei der Untersuchung gesellschaftspolitischer Ordnungen und ihrer symbolischen Kommunikation das Wort reden. Ich bin ganz mit Werner Freitag einverstanden, wenn er bedauert, dass die Münsteraner Beschäftigung mit der symbolischen Kommunikation bisher nur vereinzelt auf Themenfelder wie Arbeit, Kapital und Preisbildung ausgedehnt wurde. Eine Besonderheit des Ansatzes der symbolischen Kommunikation und namentlich der Untersuchung von Ritualen besteht ja gerade darin, dass sie nicht einseitig auf die Ebene des Bedeutens, sondern zugleich auf jene des Bewirkens abzielen. Hier werden Sinngebilde nicht einfach in ihrer Selbstreferentialität, sondern mit Blick auf ihre Implikationen für die Praxis und vor allem für die politische Organisation untersucht. Und gerade in Mittelalter und Früher Neuzeit ist politische Organisation oft ganz unmittelbar an die Verteilung von Ressourcen gekoppelt, etwa indem Herrschaftsansprüche an Abgaben und Tribute oder Ämter an Pensionen, Honorare und Partizipationsrechte an Monopole gebunden sind. Das heißt jedoch nicht, dass sich über die Ämterordnung oder politische Rituale die Logik der Ressourcenverteilung so klar erschließt, dass diese nicht eigens beachtet zu werden bräuchte. Vielmehr verdienen Spannungsfelder zwischen rituell hergestellten und durch Ressourcenflüsse vermittelten Ordnungen besondere Aufmerksamkeit. In dieser Hinsicht erscheinen mir Gadi Algazis letztlich gar nicht so unkulturalistische Beobachtungen zu den Weistümern, den dörflichen Rechtstexten des Spätmittelalters, als beispielhaft. Weistümer schildern Rituale der Reziprozität, des Gabentauschs und des Dialogs zwischen Herrschaft und Bauern. Diese las Algazi mit Blick auf Ressourcenflüsse neu. Denn letztere waren statt durch Reziprozität durch Zwang geprägt, statt durch eine Gaben- durch eine Abgabenlogik und statt durch Verhandlungen durch herrschaftliche Setzung.11 Mindestens vom Ansatz her wegweisend sind auch die Arbeiten von 10 Vgl. Feller, Sur la formation des prix (wie Anm. 6), S. 640. 11 Vgl. Gadi Algazi, Feigned Reciprocities. Lords, Peasants, and the Afterlife of Late Medieval Social Strategies, in: ders. / Valentin Groebner / Bernhard Jussen (Hgg.), Negotiating the Gift. Pre-modern Figurations of Exchange (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 188), Göttingen 2003, S. 99–127.

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Daniel Schläppi zu kommunalen Institutionen der Frühen Neuzeit. Er untersucht diese nicht nur unter politischen Gesichtspunkten, sondern in Anlehnung an Theorien von Ellinor Ostrom auch als Inhaber von kollektivem Besitz und als Verteilzentralen der daraus fließenden Ressourcen.12 Wo in Städten und Fürstentümern Ämter zeremoniell verteilt wurden, ging es formell um das Oben und Unten in Hierarchien, implizit aber auch um Prozentsätze der Erträge aus Steuern, Bußen, Allmenden und Salzmonopolen. Als letztes Beispiel seien Adelsfamilien angeführt. Sie mobilisierten am Ausgang des Mittelalters ein imposantes Aufgebot an Symbolen, um patrilinearen Dynastien zu sozialer Wirklichkeit zu verhelfen: Wappenscheiben, Stammtafeln, Helmzierden und Namengebungspraktiken.13 Dies alles ließ Familien als reine Vater-Sohn-Abfolgen unter Ausschluss der Töchter erscheinen – und damit als Generationen überdauernde Entitäten. Auf die so suggerierte Dauerhaftigkeit von Familien kam es vor allem an, wo man diese in formalisierte politische Ordnungssysteme, beispielsweise eben in „Geschlechterherrschaften“, integrieren wollte.14 Diese Symbolisierungspraktiken erscheinen in neuem Licht, seitdem wir sie mit familiären Ressourcenflüssen konfrontieren. Denn die dynastische Weitergabe vom Vater auf den Sohn gelang in der Praxis nur, wenn sie auf der Ebene der Ressourcenflüsse unterlaufen wurde. Die Güter und Herrschaften, die Väter an ihre Söhne weitergaben, mussten mit Schulden belastet werden, so dass Töchtern liquide Mitgiften in ihre Ehen mitgegeben werden konnten. So entstanden komplexe Geflechte aus Schuldverhältnissen, Zinszahlungen und Verpfändungen zwischen den Geschlechtern. Diese zwischendynastischen Verflechtungen waren zwar in der formalen Symbolik unterrepräsentiert, aber materiell hochwirksam.15

12 Vgl. Daniel Schläppi, Corporate Property, Collective Ressources and Statebuilding in Older Swiss History, in: Wim Blockmans u. a. (Hgg.), Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe, 1300–1900, Farnham u. a. 2009, S. 163–172; ders., Marktakteure und -beziehungen ohne „Markt“? Frühneuzeitliches Handeln und Aushandeln im Licht ökonomischer Theorien, in: Margrit Müller u. a. (Hgg.), Regulierte Märkte. Zünfte und Kartelle (Marchés regulés. Corporations et cartels), Zürich 2011, S. 121–139. Vgl. Elinor Ostrom, Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Action, Cambridge 1990. 13 Vgl. Joseph Morsel, Geschlecht als Repräsentation. Beobachtungen zur Verwandtschaftskonstruktion im fränkischen Adel des späten Mittelalters, in: Otto Gerhard Oexle / Andrea von Hülsen-Esch (Hgg.), Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder –  Objekte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 141), Göttingen 1998, S. 259–325. 14 Vgl. David Warren Sabean / Simon Teuscher, Kinship in Europe. A New Approach to Long-Term Development, in: dies. / Jon Mathieu (Hgg.), Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900), New York/Oxford 2007, S. 1–32. 15 Simon Teuscher, Male and Female Inheritance. Property Devolution, Sucession, and Credit in Late Medieval Nobilities in the Southwest of the Holy Empire, in: Simonetta Cavaciocchi

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Eine letzte Bemerkung: In Barbara Stollberg-Rilingers Entgegensetzung von Instrumentellem und Symbolischem sollten Ressourcen nicht einseitig der Seite des Instrumentellen zugeordnet werden. Ressourcen haben auch Mediencharakter.16 Wo sie fließen, bilden sich Sinnstrukturen. Und diese gehen komplexe Interaktionen mit den Sinnstrukturen ein, die in Ritualen hergestellt und in Zeremonien sichtbar gemacht werden. Vielleicht können wir dieses Wechselspiel in Anlehnung an Pierre Bourdieu verstehen. Er hat uns gelehrt, bei Praktiken aller Art, gerade auch bei Ritualen und Zeremoniellen sehr genau, geradezu in phänomenologischer Manier, hinzuschauen, das dabei in der Situation Sichtbare dann aber vor dem Hintergrund von etwas Unsichtbarem zu deuten: nämlich der Positionierung der Beteiligten im sozialen Raum.17 Dieser Ansatz ließe sich vielleicht dynamisieren, indem man neben den statischen sozialen Positionen der Akteure die sie verbindenden Ressourcenflüsse miteinbezieht.

(Hg.), The Economic Role of the Family in the European Economy from the 13th to the 18th Centuries, Florenz 2009, S. 599–618. 16 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger / Tim Neu, Einleitung, in diesem Band, S. 11–31, hier S. 22– 24. 17 Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und „Klassen“. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985.

Bildnachweis Schwarz-weiß-Abbildungen Abb. Seite 12:  © Kunsthistorisches Museum, Wien. Abb. 1:  entnommen aus: Andrea von Hülsen-Esch, Romanische Skulptur in Oberitalien als Reflex der kommunalen Entwicklung im 12. Jahrhundert. Untersuchungen zu Mailand und Verona, Berlin 1994, Abb. 32; © Prof. Dr. Andrea von Hülsen-Esch. Abb. 2:  © Bibliothèque nationale de France, Paris. Abb. 3:  © Musée de la Révolution française / Domaine de Vizille. Abb. 4:  © Bibliothèque nationale de France, Paris. Abb. 5:  entnommen aus: Ausst.Kat. Au Temps des Merveilleuses. La société parisienne sous le Directoire et le Consulat, Musée Carnavalet, 9. März– 12. Juni 2005, Paris 2005, S. 24, Kat.Nr. 10. Abb. 6:  © Photothèque des musées de la Ville de Paris. Abb. 7a:  entnommen aus: Kaiser Karl V. (1550–1558). Macht und Ohnmacht Europas (Ausst.kat. Bonn/Wien 2000), Bonn u.a. 2000, S. 208, Abb. 170.1. Abb. 7b:  © Wikimedia commons. Abb. 8 und 9:  entnommen aus: Joachim Poeschke (Hg.), Die Skulptur der Renaissance in Italien, Bd. 2: Michelangelo und seine Zeit, München 1992, Tafeln 248 und 249. Abb. 10:  entnommen aus: John P. C. Kent, Die römische Münze, München 1973, Tafel 131, Abb. 591. Abb. 11:  entnommen aus: Harold E. Wethey (Hg.), The Paintings of Titian. Complete Edition, Bd. 2: The Portraits, London 1971, Abb. 146. Abb. 12:  © Bibliothèque nationale de France, Paris. Abb. 13:  entnommen aus: Giovanni Boccaccio, Das Decameron. Mit den Holzschnitten der venezianischen Ausgabe von 1492, hrsg. und übers. von Peter Brockmeier, Stuttgart 2012, S. 29. Abb. 14:  © Bridgeman Art Library. Abb. 15:  © Bibliothèque nationale de France, Paris. Abb. 16:  © Postkartensammlung, Institut für vergleichende Städtegeschichte, Münster. Abb. 17:  © Wikimedia commons. Abb. 18:  © Postkartensammlung, Institut für vergleichende Städtegeschichte, Münster. Abb. 19:  © Postkartensammlung, Institut für vergleichende Städtegeschichte, Münster.

Bildnachweis

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Abb. 20:  entnommen aus: Terry R. Slater, Social, cultural and political space in English medieval market places, in: Susanne Ehrich / Jörg Oberste (Hgg.), Städtische Räume im Mittelalter, Regensburg 2009, S. 227–240, hier S. 232. Abb. 21:  © Postkartensammlung, Institut für vergleichende Städtegeschichte, Münster. Abb. 22:  entnommen aus: Heinz Stoob, Dortmund, in: Deutscher Städteatlas, Lieferung 1, Nr. 3, Dortmund 1973. Abb. 23:  © Rheinisches Landesmuseum, Trier, Foto: Th. Zühmer. Abb. 24:  entnommen aus: Waldemar Kramer (Hg.), Bilder zur Frankfurter Geschichte. Unter Benutzung der Sammlungen und Vorarbeiten des Städtischen Historischen Museums, des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek, Frankfurt a. M. 1950, S. 155, Abb. 136. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Stadtgeschichte, Frankfurt a. M. Abb. 25:  © Trustees of the British Museum.

Farbabbildungen (Tafelteil) Abb. 1:  entnommen aus: Die Miniaturen des Soester Nequambuchs von 1315 mit stadtgeschichtlichen Erläuterungen v. Gerhard Köhn, hg. v. Walter Wilkes, Darmstadt 1975, S. 12 © Stadt Soest. Abb. 2:  © Landeshauptarchiv Koblenz. Abb. 3:  © Bayerische Staatsbibliothek München. Abb. 4:  entnommen aus: Wolfgang Cilleßen / Rolf Reichardt / Christian Deuling (Hgg.), Napoleons neue Kleider. Pariser und Londoner Karikaturen im klassischen Weimar (Ausst.kat. Berlin 2006/7), Berlin 2006, S. 194, Abb. III.4. Abb. 5:  Vom Autor angefertigte Fotografie. Abb. 6:  © Bundeskanzleramt. Abb. 7:  © Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München. Abb. 8:  © Palazzo Ducale (Galleria Nazionale delle Marche), Urbino. Abb. 9:  entnommen aus: Kaiser Karl V. (1550–1558). Macht und Ohnmacht Europas (Ausst.kat. Bonn/Wien 2000), Bonn u.a. 2000, S. 132, Abb. 36. Abb. 10:  entnommen aus: Peter Humfrey (Hg.), Titian. The Complete Paintings, New York/London 2007, S. 144. Abb. 11:  entnommen aus: Kaiser Karl V. (1550–1558). Macht und Ohnmacht Europas (Ausst.kat. Bonn/Wien 2000), Bonn u.a. 2000, Frontispiz. Abb. 12:  © Residenzgalerie, Salzburg. Abb. 13:  entnommen aus: Kaiser Karl V. (1550–1558). Macht und Ohnmacht Europas (Ausst.kat. Bonn/Wien 2000), Bonn u.a. 2000, S. 322, Abb. 356.

428 Bildnachweis Abb. 14:  entnommen aus: Edi Baccheschi (Hg.), L’opera completa del Bronzino, Mailand 1973, Abb. LVI. Abb. 15 und 16:  entnommen aus: Miguel Falomir (Hg.), Tiziano (Ausst.kat. Madrid 2003), Madrid 2003, S. 211f. Abb. 17:  entnommen aus: Kaiser Karl V. (1550–1558). Macht und Ohnmacht Europas (Ausst.kat. Bonn/Wien 2000), Bonn u.a. 2000, S. 311, Abb. 340. Abb. 18:  entnommen aus: Cornelia Syre (Hg.), Alte Pinothek. Italienische Malerei, München 2007, S. 263. Abb. 19:  entnommen aus: Miguel Falomir (Hg.), Tiziano (Ausst.kat. Madrid 2003), Madrid 2003, S. 195. Abb. 20:  © Prado, Madrid. Abb. 21:  © Louvre, Paris. Abb. 22:  © Uffizien, Florenz. Abb. 23:  © Stichting Historische Verzamelingen van het Huis Oranje-Nassau, Den Haag. Abb. 24:  © Vatikan, Rom. Abb. 25:  © Mobilier National, Paris. Abb. 26:  © Mobilier National, Paris. Abb. 27:  © Mobilier National, Paris. Abb: 28:  © Johnny van Haeften, London. Abb. 29:  © Uffizien, Florenz. Abb. 30:  © Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München. Abb. 31:  © Château de Versailles et de Trianon. Abb. 32:  © Theatersammlung, Albertina, Wien. Abb. 33:  © Bibliothèque nationale de France, Paris. Abb. 34:  © Château de Versailles et de Trianon. Abb. 35:  © Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig. Abb. 36:  © Wikimedia commons.

Bibliografie Ausgewählte Publikationen des Sonderforschungsbereichs (2000–2013) Publikationsreihe „Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst“, hg. von Gerd Althoff, Barbara Stollberg-Rilinger und Horst Wenzel Hermann Kamp, Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter, Darmstadt 2001. Knut Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert, Darmstadt 2001. Corinna Dörrich, Poetik des Rituals. Konstruktion und Funktion politischen Handelns in mittelalterlicher Literatur, Darmstadt 2002. Thomas Scharff, Die Kämpfe der Herrscher und der Heiligen. Krieg und historische Erinnerung in der Karolingerzeit, Darmstadt 2002. Andreas Pečar, Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711–1740), Darmstadt 2003. Christiane Witthöft, Ritual und Text. Formen symbolischer Kommunikation in der Historiographie und Literatur des Spätmittelalters, Darmstadt 2004. Theo Broekmann, „Rigor iustitiae“. Herrschaft, Recht und Terror im normannisch-staufischen Süden (1050–1250), Darmstadt 2005. Natalie Scholz, Die imaginierte Restauration. Repräsentationen der Monarchie im Frankreich Ludwigs XVIII., Darmstadt 2006. Thomas Weller, Theatrum praecedentiae. Zeremonieller Rang und gesellschaftliche Ordnung in der frühneuzeitlichen Stadt. Leipzig 1500–1800, Darmstadt 2006. André Krischer, Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der frühen Neuzeit, Darmstadt 2006. Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006. Claudia Garnier, Die Kultur der Bitte. Herrschaft und Kommunikation im mittelalterlichen Reich, Darmstadt 2008. Jenny Rahel Oesterle, Kalifat und Königtum. Herrschaftsrepräsentation der Fatimiden, Ottonen und frühen Salier an religiösen Hochfesten, Darmstadt 2009.

430 Bibliografie Mihai-D. Grigore, Ehre und Gesellschaft. Ehrkonstrukte und soziale Ordnungsvorstellungen am Beispiel des Gottesfriedens (10.–11. Jh.), Darmstadt 2009. Christoph Friedrich Weber, Zeichen der Ordnung und des Aufruhrs. Heraldische Symbolik in italienischen Stadtkommunen des Mittelalters, Köln u. a. 2011. Tim Neu, Die Erschaffung der landständischen Verfassung. Kreativität, Heuchelei und Repräsentation in Hessen (1509–1655), Köln u. a. 2013. Barbara Stollberg-Rilinger / Tim Neu / Christina Brauner (Hgg.), Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation, Köln u. a. 2013. Christina Schröer, Republik im Experiment. Symbolische Politik im revolutionären Frankreich (1792–1799), vorauss. Köln u. a. 2013. Katrin Bourrée, Dienst, Verdienst und Distinktion. Fürstliche Selbstbehauptungsstrategien der Hohenzollern im 15. Jahrhundert, vorauss. Köln u. a. 2013. Lukas Wolfinger, Die Herrschaftsinszenierung Rudolfs IV. von Österreich, vorauss. Köln u. a. 2013.

Publikationsreihe „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme – Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496“ Bd. 1: Joachim Poeschke / Thomas Weigel / Britta Kusch (Hgg.), Tugenden und Affekte in der Philosophie, Literatur und Kunst der Renaissance, Münster 2002. Bd. 2: Joachim Poeschke / Britta Kusch / Thomas Weigel (Hgg.), Praemium virtutis. Grabmonumente und Begräbniszeremoniell im Zeichen des Humanismus, Münster 2002. Bd. 3: Gerd Althoff (Hg.) unter Mitarbeit von Christiane Witthöft, Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Münster 2004. Bd. 4: Christel Meier / Heinz Meyer / Claudia Spanily (Hgg.), Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation, Münster 2004. Bd. 5: Christoph Dartmann / Marian Füssel / Stefanie Rüther (Hgg.), Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung gesell-

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schaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster 2004. Bd. 6: Barbara Krug-Richter / Ruth E. Mohrmann (Hgg.), Praktiken des Konfliktaustrags in der Frühen Neuzeit, Münster 2004. Bd. 7: Volker Janning, Der Chor im neulateinischen Drama. Formen und Funktionen, Münster 2005. Bd. 8: Marian Füssel / Thomas Weller (Hgg.), Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft, Münster 2005. Bd. 9: Joachim Poeschke / Britta Kusch-Arnhold / Thomas Weigel (Hgg.), Praemium virtutis II. Grabmäler und Begräbniszeremoniell in der italienischen Renaissance des 16. Jahrhunderts, Münster 2005. Bd. 10: Rolf Reichardt / Rüdiger Schmidt / Hans-Ulrich Thamer (Hgg.), Symbolische Politik und politische Zeichensysteme im Zeitalter der Französischen Revolutionen1789–1848, Münster 2005. Bd. 11: Günther Wassilowsky / Hubert Wolf (Hgg.), Werte und Symbole im frühneuzeitlichen Rom, Münster 2005. Bd. 12: Oliver Plessow unter Mitwirkung von Volker Honemann und Mareike Temmen, Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Allegorie und Exempel – Symbolik des Spiels und Wertevermittlung im Schachtraktat des Jacobus de Cessolis im Kontext seiner spätmittelalterlichen Rezeption, Münster 2007. Bd. 13: Ingmar Krause, Konflikt und Ritual im Herrschaftsbereich der frühen Capetinger. Untersuchungen zur Darstellung und Praxis der Konfliktführung und symbolischen Kommunikation der westfränkisch-französischen Führungsschichten (10.–12. Jahrhundert), Münster 2006. Bd. 14: Wolfram Washof, Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren und protestantische Theologie im lateinischen und deutschen Bibeldrama der Reformationszeit, Münster 2007. Bd. 15: Joachim Poeschke / Thomas Weigel / Britta Kusch-Arnhold (Hgg.), Die Virtus des Künstlers in der italienischen Renaissance, Münster 2006. Bd. 16: Barbara Stollberg-Rilinger / Thomas Weller (Hgg.), Wertekonflikte – Deutungskonflikte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 19.–20. Mai 2005, Münster 2007. Bd. 17: Christoph Dartmann / Carla Meyer (Hgg.), Identität und Krise? Zur Deutung vormoderner Selbst-, Welt- und Fremderfahrungen, Münster 2007.

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Michael Hecht, Patriziatsbildung als kommunikativer Prozess. Die Salzstädte Lüneburg, Halle und Werl in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Städteforschung A79), Köln u. a. 2010. Jürgen Heidrich (Hg.), Die Habsburger und die Niederlande. Musik und Politik um 1500 (troja – Kolloquium und Jahrbuch für Renaissancemusik 8), Kassel u. a. 2010. Silke Hensel (Hg.) in Zusammenarbeit mit Ulrike Bock / Katrin Dircksen, Constitución, poder y representación. Las dimensiones simbólicas del cambio político durante de época de la independencia mexicana, Frankfurt a. M./Madrid 2011. Georg Jostkleigrewe, Das Bild des Anderen. Entstehung und Wirkung deutsch-französischer Fremdbilder in der volkssprachlichen Literatur und Historiographie des 12. bis 14. Jahrhunderts (Orbis mediaevalis 9), Berlin 2008. Michael Jucker / Martin Kintzinger / Rainer C. Schwinges (Hgg.), Rechtsformen internationaler Politik. Theorie, Norm und Praxis vom 12. bis 18. Jahrhundert (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 45), Berlin 2011. Barbara Krug-Richter / Ruth E. Mohrmann (Hgg.), Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 65), Köln u. a. 2009. Öffentlichkeit und Schriftdenkmal in der mittelalterlichen Gesellschaft. Ein Kolloquium des Teilprojekts A1 „Urkunde und Buch in der symbolischen Kommunikation mittelalterlicher Rechtsgemeinschaften und Herrschaftsverbände“ im Sonderforschungsbereich 496 (Münster 27.–28. Juli 2003), in: Frühmittelalterliche Studien 38, 2004, S. 277–491. Peter Oestmann (Hg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 56), Köln u. a. 2009. Ders. (Hg.), Gemeine Bescheide. Teil 1: Reichskammergericht 1497–1805 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 26,1) Köln u. a. 2013. Elmar Rickert, Johannes Kerckmeisters Schulkomödie „Codrus“ (1485) als Zeugnis für den Humanismus im nordwestdeutschen Raum. Mit einem Faksimile des Erstdrucks von 1485, Münster 2011. Heike Riedel-Bierschwale, Das ‚Laiendoctrinal‘ des Erhart Groß. Edition und Untersuchung (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 15), Münster 2009.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Gerd Althoff Professor emeritus für Mittelalterliche Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Kontakt: [email protected]; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997; Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003; Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter, Darmstadt 2003; gem. mit Christel Meier, Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik, Darmstadt 2011; „Selig sind, die Verfolgung ausüben“. Päpste und Gewalt im Hochmittelalter, Darmstadt 2013. Prof. Dr. Lucien Bély Professor für Neuere Geschichte an der Université Paris-Sorbonne (Paris-IV); Kontakt: [email protected]; Publikationen zur Diplomatiegeschichte: Espions et ambassadeurs au temps de Louis XIV (Nouvelles études historiques), Paris 1990; gem. mit Isabelle Richefort (Hgg.), L’Invention de la diplomatie, Paris 1998; La Société des princes, Paris 1999; L’Art de la paix en Europe. Naissance de la diplomatie moderne, xvie–xviiie siècle, Paris 2007; Les Secrets de Louis XIV. Mystères d’État et pouvoir absolu, Paris 2013. Prof. Dr. Wolfgang Brassat Professor für Kunstgeschichte, insbesondere Neuere und Neueste Kunstgeschichte, an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg; Kontakt: wolfgang. [email protected]; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Tapisserien und Politik. Funktionen, Kontexte und Rezeption eines repräsentativen Mediums, Berlin 1992; La tapisserie, in: Joël Cornette / Alain Merot (Hgg.), Le xviie siècle (Histoire artistique de l’Europe), Paris 1999, S. 282– 287; Die Raffael-Gobelins in der Kunstakademie München (Schriftenreihe der Akademie der bildenden Künste München), München 2002; „Les exploits de Louis sans qu’en rien tu les changes“. Charles Perrault, Charles Le Brun und das Historienbild der Modernes, in: ders., Das Historienbild im Zeitalter der Eloquenz. Von Raffael bis Le Brun (Studien aus dem Warburg-Haus 6), Berlin 2003, S. 349–396; Das Gespräch über die Künste im Spannungsfeld von Geselligkeit und Staatsräson, in: Pablo Schneider / Philipp Zitzlsperger (Hgg.), Bernini in Paris. Das Tagebuch des Paul Fréart de Chantelou über den Aufenthalt Gianlorenzo Berninis am Hofe Ludwigs XIV., Berlin 2006, S. 313–336.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Christina Brauner, M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Kontakt: [email protected]; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: „wu is all dinck so sehr verkehrt“. Rituale und Semantiken der Verkehrung im Münsteraner Täuferreich, in: Dominik Fugger (Hg.), Verkehrte Welten? Forschungen zum Motiv der ‚rituellen Inversion‘ zwischen Antike und Früher Neuzeit (Historische Zeitschrift Beiheft 60), München 2013, S. 191–216; Ein Schlüssel für zwei Truhen. Diplomatie als interkulturelle Praxis am Beispiel einer westafrikanischen Gesandtschaft nach Frankreich (1670/1), in: Historische Anthropologie 21,2 (2013), S. 199–226; Beim König von Anomabo. Audienzen an der westafrikanischen Goldküste als Schauplatz afrikanischer Politik und europäischer Konkurrenz (1751/2), in: Peter Burschel / Christine Vogel (Hgg.), Die Audienz. Ritualisierter Kulturkontakt in der Frühen Neuzeit, voraussichtl. Köln u. a. 2013 [im Druck]; „wie die Papisten bei ihrer Meß“. Zeremoniell- und Ritualkritik im europäischen Diskurs über Westafrika, in: Dorothee Linnemann / Christel Meier (Hgg.), Grenzgänge: Mediale Transfigurationen zwischen Bildtheater und Zeremoniell, voraussichtl. Münster 2013 [in Vorbereitung] Prof. Dr. Werner Freitag Professor für Westfälische und Vergleichende Landesgeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Kontakt: wfreitag@uni-muenster. de; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Spenge 1900–1950. Lebenswelten in einer ländlich-industriellen Dorfgesellschaft, Bielefeld 1988; Volks- und Elitenfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster, Paderborn 1991; (Hg.), Das Dritte Reich im Fest. Führermythos, Feierlaune und Verweigerung in Westfalen 1933–1945, Bielefeld 1995; (Hg.), Die Salzstadt. Alteuropäische Strukturen und frühmoderne Innovation, Bielefeld 2004; gem. mit Jan Brademann (Hgg.), Leben bei den Toten. Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 19), Münster 2007. Prof. Dr. Jürgen Heidrich Professor für Musikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Kontakt: [email protected]; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: „Zwischen Pergolese und Correggio, welche Familien Aehnlichkeit! – “ Zur Verbindung von Musik und Malerei im kunsttheoretischen Schrifttum des 18. Jahrhunderts, in: Antje Middeldorf

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Kosegarten (Hg.), Johann Dominicus Fiorillo. Kunstgeschichte und die romantische Bewegung um 1800. Akten des Kolloquiums „Johann Dominicus Fiorillo und die Anfänge der Kunstgeschichte in Göttingen“, Göttingen 1997, S. 420–449; „Fridericus dux saxonie. Kyrie leison“. Politische (Selbst-)Inszenierung in der polyphonen Messe des frühen 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2008, S. 269–277; Aspekte der Institutionalisierung. Friedrich der Weise und die kursächsische Kapelle, in: Birgit Lodes / Laurenz Lütteken (Hgg.), Institutionalisierung als Prozess. Organisationsformen musikalischer Eliten im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts (Analecta musicologica 43), Laaber 2009, S. 153–165; Authentizität und Symbol. Spätmittelalterliche Musikalien und ihre Visualisierung, in: Barbara Stollberg-Rilinger / Thomas Weissbrich (Hgg.), Die Bildlichkeit symbolischer Akte (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 28), Münster 2010, S. 389–406. Dr. Cornelia Herberichs Akademische Rätin am Institut für Literaturwissenschaft, Abt. Germanistische Mediävistik der Universität Stuttgart; Kontakt: cornelia.herberichs@ ilw.uni-stuttgart.de; Publikationen zum Drama des Mittelalters: Lektüren des Performativen. Zur Medialität geistlicher Spiele des Mittelalters, in: Ingrid Kasten / Erika Fischer-Lichte (Hgg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, Berlin/New York 2007, S. 169–185; Das Moselfränkische Katharinenspiel, in: dies. / Christian Kiening (Hgg.), Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, Zürich 2008, S. 316–336; Im Zeichen der Schrift. Die Medialität des Geistlichen Spiels im späten Mittelalter [in Vorbereitung]. Prof. Dr. Doris Kolesch Professorin für Theaterwissenschaft und Dekanin des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften an der Freien Universität Berlin; Kontakt: [email protected]; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV., Frankfurt a. M./New York 2006; gem. mit Sybille Krämer (Hgg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a. M. 2006; Politik als Theater. Plädoyer für ein ungeliebtes Paar, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42, 2008, S. 35–40; Austauschverhältnisse. Die Geburt des modernen Subjekts auf dem Theater, in: Friedemann Kreuder u. a. (Hgg.), Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld 2012, S. 21–39; Staging Voices, in: Journal of Contemporary Drama in English 1, 2013, S. 1–10.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Klaus Krüger Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin; Kontakt: [email protected]; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001; Die Lesbarkeit von Bildern. Bemerkungen zum bildungssoziologischen Kontext von kirchlichen Bildausstattungen im Mittelalter, in: Christian Rittelmeyer / Erhard Wiersing (Hgg.), Bild und Bildung. Ikonologische Interpretationen vormoderner Dokumente von Erziehung und Bildung (Wolfenbütteler Forschungen 49), Wiesbaden 1991, S. 105–133; Geschichtlichkeit und Autonomie. Die Ästhetik des Bildes als Gegenstand historischer Erfahrung, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Der Blick auf die Bilder. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch. Mit Beiträgen von Klaus Krüger und Jean-Claude Schmitt (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 4), Göttingen 1997, S. 53–86; Bilder als Medien der Kommunikation. Zum Verhältnis von Sprache, Text und Visualität, in: KarlHeinz Spieß (Hg.), Medien der Kommunikation im Mittelalter (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 15), Stuttgart 2003, S. 155–204; Bildlicher Diskurs und symbolische Kommunikation. Zu einigen Fallbeispielen öffentlicher Bildpolitik im Trecento, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 64), München 2007, S. 123–162. Prof. Dr. Susanne Lepsius, M.A. (University of Chicago) Universitätsprofessorin für Gelehrtes Recht, Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte sowie Bürgerliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Kontakt: [email protected]; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Von Zweifeln zur Überzeugung. Der Zeugenbeweis im Gelehrten Recht ausgehend von der Untersuchung des Bartolus von Sassoferrato, Frankfurt a. M. 2003; Kontrolle von Amtsträgern durch Schrift, in: dies. / Thomas Wetzstein (Hgg.), Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter, Frankfurt a. M. 2008, S. 389– 473; Appellationen vor weltlichen Gerichte in Italien (13.–15. Jh.), in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 3, 2013, S. 27–51. Prof. Dr. Laurenz Lütteken Professor für Musikwissenschaft an der Universität Zürich; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Ritual und Krise. Die neapolitanischen L’homme armé-Zyklen und die Semantik der Cantus firmus-Messe, in: Hermann Danu-

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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ser / Tobias Plebuch (Hgg.), Musik als Text. Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung Freiburg i. B. 1993, Bd. 1: Hauptreferate, Symposien, Kolloquien, Kassel u.  a. 1998, S. 207–218; Text und Texte. Die liturgische Musik des 15. Jahrhunderts zwischen Ritus und Werk, in: Ludolf Kuchenbuch (Hg.), ‚Textus‘ im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 216), Göttingen 2005, S. 232–336; Memoria oder Monument? Entrückung und Vergegenwärtigung in der musikalischen Totenklage um 1500, in: Andreas Dorschel (Hg.), Resonanzen. Vom Erinnern in der Musik (Studien zur Wertungsforschung 47), Wien u. a. 2007, S. 58–77; Musik der Renaissance. Imagination und Wirklichkeit einer kulturellen Praxis. Stuttgart/Weimar 2011. Prof. Dr. Jean-Clément Martin Professor emeritus für Geschichte der Französischen Revolution an der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne; Kontakt: [email protected]; Publikationen zur Französischen Revolution: Violence et Révolution, Paris 2006; La Terreur, part maudite de la Révolution, Paris 2010; Nouvelle Histoire de la Révolution française, Paris 2012; La Machine à fantasmes, Paris 2012; Un détail inutile, le dossier des peaux tannées, Vendée, 1793, Paris 2013. Prof. Dr. Jürgen Martschukat Professor für nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt; Kontakt: [email protected]; Publikationen zur Geschichte der Gewalt: Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Köln u. a. 2000; Die Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika. Von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart, München 2002; gem. mit Susanne Krasmann (Hgg.), Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bielefeld 2007; gem. mit Silvan Niedermeier (Hgg.), Violence and Visibility in Modern History, New York 2013; Gewalt. Kritische Überlegungen zur Historizität ihrer Formen, Funktionen und Legitimierungen, in: Body Politics – Zeitschrift für Körpergeschichte 2 (2013). Prof. Dr. Jan-Dirk Müller Professor emeritus für deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Kontakt: jan-dirk.mueller@lrz. uni-muenchen.de; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982; (Hg.), Aufführung und Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

1994, Stuttgart/Weimar 1996; Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998; Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007; Kulturwissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter, in: Gerhard Neumann / Sigrid Weigel (Hgg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, S. 53–77. Dr. Tim Neu Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Georg-August-Universität Göttingen; Kontakt: [email protected]; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Zeremonielle Verfahren. Zur Funktionalität vormoderner politisch-administrativer Prozesse am Beispiel des Landtags im Fürstbistum Münster, in: Stefan Haas / Mark Hengerer (Hgg.), Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600–1950, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 23–50; gem. mit Michael Sikora / Thomas Weller (Hgg.), Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 27), Münster 2009; Sitzen, Sprechen und Votieren. Symbolische und instrumentelle Dimensionen landständischer Handlungssequenzen in Hessen-Kassel (17./18. Jahrhundert), in: ebd., S. 119–143; The Importance of Being Seated. Ceremonial Conflict in Territorial Diets, in: Jason P. Coy / Benjamin Marschke / David W. Sabean (Hgg.), The Holy Roman Empire, Reconsidered (Spektrum 1), New York u. a. 2010, S. 125–142; Die Erschaffung der landständischen Verfassung. Kreativität, Heuchelei und politische Repräsentation in Hessen (1509–1655) (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Köln u. a. 2013. Prof. Dr. Peter Oestmann Professor für Bürgerliches Recht und Deutsche Rechtsgeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Kontakt: oestmann@uni-muenster. de; Publikationen zur Prozessrechtsgeschichte und zur Form im Recht: (Hg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß, Köln u. a. 2009; Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge, Köln u. a. 2012; (Hg.), Gemeine Bescheide. Teil 1: Reichskammergericht 1497–1805, Köln u. a. 2013. Prof. Dr. Steffen Patzold Professor für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen; Kontakt: steffen.patzold@

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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uni-tuebingen.de; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: gem. mit Jürgen Martschukat (Hgg.), Geschichtswissenschaft und ‚performative turn‘. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Norm und Struktur 19), Köln u. a. 2003; ... inter pagensium nostrorum gladios vivimus. Zu den „Spielregeln“ der Konfliktführung in Niederlothringen zur Zeit der Ottonen und frühen Salier, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 118, 2001, S. 578–599; Monastische Konflikte als geregelte Spiele? Umbruch und Erneuerung in den Klöstern des Reiches im 11. und frühen 12. Jahrhundert, in: Jörg Jarnut / Matthias Wemhoff (Hgg.), Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert – Positionen der Forschung (MittelalterStudien 13), München 2006, S. 275–291. Prof. Dr. Joachim Poeschke Professor emeritus für Kunstgeschichte an der Universität Münster; Kontakt: [email protected]; Publikationen zum Thema Kunst und symbolische Kommunikation: gem. mit Britta Kusch-Arnhold / Thomas Weigel (Hgg.), Praemium Virtutis, 3 Bde., Münster 2002–2008; gem. mit Thomas Weigel (Hgg.), Leitbild Tugend. Die Virtus-Darstellungen in italienischen Kommunalpalästen und Fürstenresidenzen des 14. bis 16. Jahrhunderts, Münster 2013. Prof. Dr. Frank Rexroth Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen; Kontakt: [email protected]; Publikationen zur Geschichte des späteren Mittelalters: Kodifizieren und Auslegen. Symbolische Grenzziehungen zwischen päpstlich-gesetzgeberischer und gelehrter Praxis im späteren Mittelalter (1209/10–1317), in: Frühmittelalterliche Studien 41, 2007 [erschienen 2009], S. 395–414; (Hg.), Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 73), Ostfildern 2010; Die Einheit der Wissenschaft und der Eigensinn der Disziplinen. Zur Konkurrenz zweier Denkformen im 12. und 13. Jahrhundert, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 67, 2011, S.  19–50; Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts, in: Björn Reich / Frank Rexroth / Matthias Roick (Hgg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne (Historische Zeitschrift Beiheft 57), München 2012, S. 12–44.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Joachim Rückert Professor emeritus für Neuere Rechtsgeschichte, Juristische Zeitgeschichte, Zivilrecht und Rechtsphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main; Kontakt: [email protected]; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, Hannover 1988; Die Bewertung der Leges Visigothorum. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Gesetzen, in: Gerhard Köbler (Hg.), Wege europäischer Rechtsgeschichte. Karl Kroeschell zum 60. Geburtstag dargelegt von Freunden, Schülern und Kollegen, Frankfurt a. M. 1987, S. 339–360; Die Rechtswerte der germanistischen Rechtsgeschichte im Wandel der Forschung, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 111, 1994, S. 275–309; Rechtsbegriff und Rechtsbegriffe – germanisch, kirchlich, heutig?, in: Gerhard Dilcher / Eva-Marie Distler (Hgg.), Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, Berlin 2006, S.  569–602; Rechtsgewohnheiten und Denkgewohnheiten, in: Rechtsgeschichte 17, 2010, S. 74–79. Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Schilling Professor emeritus für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Höfe und Allianzen. Deutschland 1648–1763 (Das Reich und die Deutschen 6), Berlin 1994; Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660 (Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen 2), Paderborn u. a. 2007; Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, München 22013. PD Dr. Katelijne Schiltz Privatdozentin für Musikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Kontakt: [email protected]; Publikationen zur musikalischen Rätselkultur in der Frühen Neuzeit: Verschlüsselung als Form symbolischer Kommunikation in der polyphonen Messe, in: Andrea Ammendola / Daniel Glowotz / Jürgen Heidrich (Hgg.), Polyphone Messen im 16. Jahrhundert. Funktion, Kontext, Symbol, Göttingen 2012, S. 321–332; Music and Riddle Culture in the Renaissance, Habilitationsschrift LudwigMaximilians-Universität München 2012.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Dr. Christina Schröer Akademische Rätin am Lehrstuhl für Geschichte des Romanischen Westeuropa der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Kontakt: christina.schroeer@ geschichte.uni-freiburg.de; Publikationen zur symbolischen Kommunikation: gem. mit Natalie Scholz (Hgg.), Représentation et pouvoir. La politique symbolique en France (1789–1830), Rennes 2007; Die Gegenrevolution in der Opposition. Visualisierung royalistischer Regimekritik im Direktorium, in: Wolfgang Cilleßen / Rolf Reichardt (Hgg.), Revolution und Gegenrevolution in der europäischen Bildpublizistik 1789–1889, Hildesheim u. a. 2010, S. 123–150; Vive la République versus Vive Bonaparte? Die Inszenierung Napoleon Bonapartes als Staatsmann, in: Rüdiger Schmidt / Hans-Ulrich Thamer (Hgg.), Die Konstruktion von Tradition. Inszenierung und Propaganda napoleonischer Herrschaft, 1799–1815, Münster 2010, S. 153–189; Symbolic Politics and the Visualisation of the Constitutional Order in the First French Republic, 1792–1799, in: Silke Hensel u. a. (Hgg.), Constitutional Cultures. On the Concept and Representation of Constitutions in the Atlantic World, Newcastle upon Tyne 2012, S. 163–188; Le retour de l’Ancien Régime ou l’apogée de l’idéologie républicaine? Stratégies de la représentation du pouvoir politique dans l’espace parisien à l’époque du Directoire, in: Actes du Colloque „Les histoires de Paris, xvie–xviie siècles“, Université de Laval, Bd. 2, Paris 2013, S. 547–560. Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Westfälischen Wilhelms-Universität; Kontakt: [email protected]; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Forschungsperspektiven – Thesen, in: Zeitschrift für historische Forschung 31, 2004, S. 489–527; gem. mit Thomas Weller (Hgg.), Wertekonflikte – Deutungskonflikte (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 16), Münster 2007; gem. mit Thomas Weißbrich (Hgg.), Die Bildlichkeit symbolischer Akte, Münster 2009; gem. mit Gerd Althoff u. a. (Hgg.), Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800–1800 (Ausst. kat. Magdeburg 2008/9), Darmstadt 2008; Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008. Prof. Dr. Simon Teuscher Professor für Allgemeine Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich; Kontakt: [email protected]; Publikationen zum Thema des Sammelbandes: gem. mit David W. Sabean / Jon Mathieu (Hgg.), Kinship

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900), New York 2007; Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter, Frankfurt a. M. 2007; Devianz, Gewalt, Soziabilität und Verwandtschaft am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 18,1, 2011, S. 77–103; gem. mit Christopher H. Johnson / Bernhard Jussen / David W. Sabean (Hgg.), Blood and Kinship. Matter for Metaphor from Ancient Rome to the Present, New York/Oxford 2013: Prof. Dr. Christian Windler Professor für Neuere Geschichte und Direktor der Abteilung für Neuere Geschichte an der Universität Bern; Kontakt: [email protected]; Publikationen zur Geschichte von Außenbeziehungen in der Frühen Neuzeit: La diplomatie comme expérience de l’Autre. Consuls français au Maghreb (1700–1840), Genève 2002; gem. mit Jean-François Chanet (Hgg.), Les ressources des faibles. Neutralités, sauvegardes, accommodements en temps de guerre (xvie–xviiie siècle), Rennes 2009; gem. mit Hillard von Thiessen (Hgg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel (Externa 2), Köln u. a. 2010; gem. mit Stefano Andretta u. a. (Hgg.), Paroles de négociateurs. L’entretien dans la pratique diplomatique de la fin du Moyen Age à la fin du xixe siècle (Collection de l’École française de Rome 433), Rom 2010; gem. mit Corina Bastian u. a. (Hgg.), Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert (Externa 5), Köln u. a. 2013.

Farbabbildungen

Tafeln zum Beitrag von Susanne Lepsius

Farbabb. 1: Anklage vor dem sitzenden Richter mit übergezogener Gugel, Nequambuch der Stadt Soest (zwischen 1315–1421), Soest, Stadtarchiv, A Nr. 2771*, Bl. 3, hg. v. der Historischen Kommission für die Provinz Westfalen, Leipzig 1924, Abb. 3.

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Tafeln zum Beitrag von Susanne Lepsius

Farbabb. 2: Kaiser Heinrich VII. hält Gericht über die aufständischen Bürger von Brescia, „Kaiser Heinrichs Romfahrt“ (Balduineum), angefertigt für Erzbischof Balduin von Trier, 1330–1340, Koblenz, Landeshauptarchiv, 1 C Nr. 1, fol. 15b.

Tafeln zum Beitrag von Susanne Lepsius

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Farbabb. 3: Ein auf einem Kastenthron sitzender Richter, mit parallel gestellten Beinen, gibt Anweisungen an den auf dem Boden sitzenden Gerichtsschreiber, Guilelmus Durantis, Speculum iudiciale, Illumination am Ende des 2. Buchs (zum Verfahren in Zivilsachen) und vor Beginn des 3. Buchs (zum Verfahren in Strafsachen), Handschrift, Anfang 14. Jhdt., München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 18047, fol. 166ra.

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Tafel zum Beitrag von Christina Schröer

Farbabb. 4: James Gillray, Shrine at St Ann’s Hill, Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe, Inv. E. 1901/56.

Tafeln zum Beitrag von Joachim Poeschke

Farbabb. 5: Oliviero Rainaldi, „Conversazioni“, Denkmal für Papst Johannes Paul II. vor der Stazione Termini, 2011, Rom.

Farbabb. 6: Jörg Immendorff, Porträt Gerhard Schröder, 100 x 130 cm, 2007, Berlin, Bundeskanzleramt.

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Tafeln zum Beitrag von Joachim Poeschke

Farbabb. 7: Tiroler Meister, Herzog Sigismund von Tirol, 52,1 x 36,3 cm, um 1480–1496, Burghausen, Staatsgalerie (Bayerische Staatsgemäldesammlungen).

Farbabb. 8: Pedro Berruguete (?), Porträt Federico da Montefeltro in ganzer Figur, 135 x 80 cm, um 1476, Urbino, Palazzo Ducale (Galleria Nazionale delle Marche).

Tafeln zum Beitrag von Joachim Poeschke

Farbabb. 9: Süddeutscher Meister, Bildnis Karls V., 60 x 42,5 cm, um 1515, Wien, Kunsthistorisches Museum.

Farbabb. 10: Rubens nach Tizian, Karl V., 118,8 x 92,6 cm, 1603, englischer Privatbesitz.

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Tafeln zum Beitrag von Joachim Poeschke

Farbabb. 11: Il Parmigianino, Karl V. als Weltenherrscher, 172,7 x 119,4 cm, 1530, Privatbesitz.

Farbabb. 12: Rubens nach Parmigianino, Karl V. als Weltenherrscher, um 1604, Salzburg, Residenzgalerie.

Tafeln zum Beitrag von Joachim Poeschke

Farbabb. 13: Leone und Pompeo Leoni, Bronzebüste Karls V., H. 112 cm, um 1553, Madrid, Prado.

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458

Tafeln zum Beitrag von Joachim Poeschke

Farbabb. 14: Bronzino, Andrea Doria als Neptun, 115 x 53 cm, um 1540–1550, Mailand, Brera.

Tafeln zum Beitrag von Joachim Poeschke

Farbabb. 15: Tizian, Reiterbild Karls V., 332 x 279 cm, 1548, Madrid, Prado.

Farbabb. 16: Tizian, Reiterbild Karls V., Detail, 1548, Madrid, Prado.

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460

Tafeln zum Beitrag von Joachim Poeschke

Farbabb. 17: Cornelisz Anthonisz, Karl V. zu Pferde, kolorierter Holzschnitt, 27 x 28 cm, 1538–1548, Amsterdam, Rijksmuseum, Rijksprentenkabinet.

Tafeln zum Beitrag von Joachim Poeschke

Farbabb. 18: Tizian, Karl V., 205 x 122 cm, 1548, München, Alte Pinakothek.

Farbabb. 19: Tizian, Papst Paul III. Farnese, 114 x 89 cm, 1543, Neapel, Museo di Capodimonte.

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Tafeln zum Beitrag von Wolfgang Brassat

Farbabb. 20: Juan Bautista Maino, Die Wiedereinnahme von Bahia, 309 x 381 cm, 1635, Madrid, Prado.

Tafeln zum Beitrag von Wolfgang Brassat

Farbabb. 21: Peter Paul Rubens, Heinrich IV. empfängt das Bildnis der Maria de’ Medici, 394 x 295 cm, 1623–1625, Paris, Louvre.

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Tafeln zum Beitrag von Wolfgang Brassat

Farbabb. 22: François Clouet, Franz I. von Frankreich zu Pferde, 27 x 22 cm, 1540, Florenz, Uffizien.

Farbabb. 23: Hans Holbein d. J., Bildnis eines unbekannten jungen Mannes, Durchmesser 3,8 cm, um 1540–1543, Den Haag, Stichting Historische Verzamelingen van het Huis OranjeNassau.

Tafeln zum Beitrag von Wolfgang Brassat

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Farbabb. 24: Raffael-Werkstatt unter der Leitung von Giulio Romano, Fresken der Sala di Costantino, 1520–1524, Rom, Vatikanspalast.

Farbabb. 25: Manufaktur der Gobelins nach Charles Le Brun u. a., Der Besuch in den Gobelins, Tapisserie, 6. Serie, basse lisse mit Goldfäden, 370 x 576 cm, 1729–1734, Mobilier National.

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Tafeln zum Beitrag von Wolfgang Brassat

Farbabb. 26: Manufaktur der Gobelins nach Charles Le Brun u. a., Die Audienz des Duque de Fuentès am 24. März 1662, Tapisserie, 6. Serie, basse lisse mit Goldfäden, 376 x 573 cm, 1732–1735, Mobilier National.

Farbabb. 27: Manufaktur der Gobelins nach Charles Le Brun u. a., Die Audienz des Kardinallegaten Mario Chigi am 29. Juli 1664, Tapisserie, 3. Serie, basse lisse mit Goldfäden, 374 x 579 cm, 1665–1680, Mobilier National.

Tafeln zum Beitrag von Wolfgang Brassat

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Farbabb. 28: Frans Francken d. J., Allegorie der Malerei, 92 x 123 cm, 1636, London, Johnny van Haeften.

Farbabb. 29: Sandro Botticelli, Primavera, 203 x 314 cm, 1482/83 (?), Florenz, Uffizien.

468

Tafeln zum Beitrag von Wolfgang Brassat

Farbabb. 30: Frans Francken d. J., Kunstkammer mit ikonoklastischen Eseln, 54 x 63 cm, 1612–1614, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Inv.-Nr. 1988, Leihgabe Bayreuth, Schloss.

Tafeln zum Beitrag von Doris Kolesch

469

Farbabb. 31: Pierre-Denis Martin, Besuch der Gärten mit Ludwig XIV. (Vue du bassin d’Apollon et du Grand Canal de Versailles en 1713), Château de Versailles et de Trianon.

470

Tafeln zum Beitrag von Doris Kolesch

Farbabb. 32: Israël Silvestre, Gartentheater für Molières Princesse d’Elide, 1664, Wien, Albertina, Theatersammlung.

Tafeln zum Beitrag von Doris Kolesch

471

Farbabb. 33: Ludwig XIV. als Apoll, Kostümentwurf, 1653, Paris, BnF, Cabinet des Estampes.

Farbabb. 34: Pierre Patel, Vue perspective du château de Versailles en 1668, Château de Versailles et de Trianon.

472

Tafel zum Beitrag von Werner Freitag

Farbabb. 35: Mitteltafel vom sogenannten Hochaltar des Braunschweiger Doms, ca. 1505. Gezeigt wird die Verkündigung des Pilatus-Urteils über Christus, die vom Maler auf den Marktplatz der spätmittelalterlichen Stadt verlegt wurde. Das Rathaus wird als Gerichtsstätte gezeigt. Unterhalb der Empore, auf der der Richter gerade seine Hände in Unschuld wäscht, sind drei Verbrecher angekettet, unter ihnen Barabas, der in diesem Moment freigelassen wird. Deutlich werden Spott und Beschimpfungen; selbst die Kinder verhöhnen die Delinquenten. Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum. Farbabb. 36: Der Laden eines Figurenverkäufers: Im Hintergrund der von einem Retabelwerk von Konrad Witz stammenden Tafel (ca. 1440), die Maria Magdalena und Katharina zeigt, blickt man auf einen städtischen Platz – wohl ein Marktplatz – , der auf der hinteren Seite durch ein Haus mit zwei Kaufläden begrenzt wird. Auf dem vorderen Laden sind zwei Figuren ausgestellt, also handelt es sich wohl um die Werkstatt eines Bildschnitzers oder um die Verkaufsstelle von in Kleinserie hergestellten Figuren. Im Hintergrund sieht man Kaufinteressent und Verkäufer im Gespräch – die Hand des Interessanten ist erhoben. 161 x 131 cm, Straßburg, Musée des Beaux-Arts.

SymboliSche KommuniK ation in der Vormoderne studien zur geschichte, literatur und Kunst herausgegeben von gerd althoff, barbara stollberg-rilinger und horst Wenzel

christoph friedrich Weber

christina schröer

Zeichen der ordnung und deS

republiK im experiment

aufruhrS

symboliscHe politik im

HeraldiscHe symbolik in

revolutionären frankreicH

italieniscHen stadtkommunen des

(1792–1799)

mittelalters

2013. ca. 656 s. ca. 80 s/W-abb. gb.

2011. X, 647 s. 8 farb. abb. auf 8 taf.

isbn 978-3-412-20783-0

gb. | isbn 978-3-412-20494-5

in planung

tim neu

Katrin bourrée

die erSchaffung der

dienSt, VerdienSt und diStinKtion

landStändiSchen VerfaSSung

fürstlicHe selbstbeHauptungs-

kreativität, HeucHelei und

strategien der HoHenzollern im

repräsentation in Hessen

15. JaHrHundert

(1509–1655)

2013. ca. 632 s. ca. 23 s/W-abb. gb.

2013. X, 581 s. gb.

isbn 978-3-412-20981-0

isbn 978-3-412-20980-3

in planung

barbara stollberg-rilinger, tim

luKas Wolfinger

neu, christina brauner (hg.)

die herrSchaftSinSZenierung

alleS nur SymboliSch?

rudolfS iV. Von ÖSterreich

bilanz und perspektiven der

2013. ca. 944 s. ca. 35 s/W-abb. gb.

erforscHung symboliscHer

isbn 978-3-412-20982-7

kommunikation

in planung

2013. 472 s. 25 s/W- und 37 farb. abb.

HC637

gb. | isbn 978-3-412-21061-8

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CHRISTOPH KAMPMANN, ULRICH NIGGEMANN (HG.)

SICHERHEIT IN DER FRÜHEN NEUZEIT NORM – PRAXIS – REPRÄSENTATION (FRÜHNEUZEIT-IMPULSE, BAND 2)

Der Band versammelt über fünfzig Beiträge aus verschiedenen Teilbereichen der Frühneuzeitforschung, die von der Geschichte der internationalen Politik, über die Versicherungsgeschichte und die Sozialgeschichte bis hin zur Umweltgeschichte reichen und so einer umfassenden wissenschaftlichen Bestandsaufnahme frühneuzeitbezogener Sicherheitsforschung dienen. Zugleich erlaubt die Beschäftigung mit der Sicherheit, gemeinsame Frageperspektiven zu entwickeln und zu verfolgen, von der auch für die Forschungsdiskussion wichtige Anregungen ausgehen können. Überdies eröffnen sich neue Perspektiven auf jüngst wieder verstärkt diskutierte Problemfelder wie die Universalität oder Partikularität von Leitvorstellungen und dem Umgang mit der Zukunft. 812 S. 64 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-22129-4

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CORINA BASTIAN

VERHANDELN IN BRIEFEN FRAUEN IN DER HÖFISCHEN DIPLOMATIE DES FRÜHEN 18. JAHRHUNDERTS (EXTERNA, BAND 4)

Im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) ging es um nicht weniger als die Vorherrschaft in Europa und den Kolonien. Inmitten der komplizierten Verhandlungsstränge führten zwei Frauen einen Briefwechsel: die morganatische Ehefrau Ludwigs XIV., Madame de Maintenon, und die Princesse des Ursins, die als Erste Kammerdame das junge spanische Königspaar, Philipp V. und Maria Luisa von Savoyen, beriet. Sie tauschten sich über politische Nachrichten aus Europa, Interna der beiden Höfe und der Königsfamilien, aber auch persönliche Angelegenheiten aus. Durch die erstmalige systematische Auswertung dieser umfangreichen Korrespondenz und ihren Vergleich mit Archivmaterial aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien zeigt die Autorin, dass die Frauen parallel, ergänzend und manchmal im Widerstreit mit den Amtsträgern verhandelten. Ihr Beispiel steht für eine höfische Form der Diplomatie, wie sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht in Konkurrenz, sondern in Synergie mit bürokratischen Elementen funktionierte. 2013. 497 S. GB. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-21042-7

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ALEXANDER DROST, MICHAEL NORTH (HG.)

DIE NEUERFINDUNG DES RAUMES GRENZÜBERSCHREITUNGEN UND NEUORDNUNGEN

Globale Warenströme, Arbeitsmigranten und unzählige Touristen haben nicht nur zu einer Erhöhung des grenzüberschreitenden Austausches geführt, sondern beeinflussen mehr und mehr auch unsere mentalen Landkarten von Landschaften und Regionen in der Welt. Die nationalstaatlichen Grenzen bilden nicht mehr den einzigen Ordnungsrahmen für die Verortung von „Eigenem“ und „Fremden“. Vielmehr eröffnen sich auf allen Ebenen des täglichen Lebens, in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft neue Räume, in denen wir uns zurechtzufinden suchen. Diese Räume und ihre Konstruktion nimmt der vorliegende Band in den Blick. 2013. 256 S. 6 S/W ABB, 5 TAB. BR. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-20741-0

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SUSANNE RODE-BREYMANN, ANTJE TUMAT (HG.)

DER HOF ORT KULTURELLEN HANDELNS VON FRAUEN IN DER FRÜHEN NEUZEIT (MUSIK-KULTUR-GENDER, BAND 12)

Die europäischen Fürstenhöfe der Frühen Neuzeit waren nicht nur Orte der Macht, sondern auch der Kultur: Neben der Dichtung, der bildenden Kunst, der Baukunst oder Gartenarchitektur tat sich gleichfalls im Bereich Musik ein breites Handlungsfeld auf, in dem Frauen eine bislang unterschätzte Rolle spielten. Vor allem die Fürstinnen selbst prägten während der Regentschaft ihrer Gatten die höfische Kultur und wurden zu Auftraggeberinnen von Kunst und Musik. Sie komponierten selbst, sangen, spielten Instrumente oder unterhielten eigene Hofmusik kapellen. Sie dichteten, riefen Akademien ins Leben und sammelten Bücher. Der interdisziplinäre Band eröffnet neue Perspektiven auf weibliche Handlungsspielräume an den Schnittstellen von Hof- und Musikgeschichte. 2013. 382 S. 34 S/W- U. 14 FARB. ABB. BR. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-21102-8

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OTTO ULBRICHT (HG.)

SCHIFFBRUCH! DREI SELBSTZEUGNISSE VON KAUFLEUTEN DES 17./18. JAHRHUNDERTS. EDITION UND INTERPRETATION (SELBSTZEUGNISSE DER NEUZEIT, BAND 21)

Drei Selbstzeugnisse von zwei Seehandel treibenden Kaufleuten werden in diesem Band veröffentlicht. Sie erschließen thematisch wie räumlich neue Horizonte. Die Autoren der Texte stammten aus Flensburg und stiegen dort zu Bürgermeistern auf. Der erste Text aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lässt Seereisen über einen Zeitraum von über 20 Jahren Revue passieren. Eine dieser Reisen, die mit einem Schiff bruch endete, schildert die zweite Quelle im Detail. Die dritte Quelle bietet eine ,normale‘ Autobiographie eines Kaufmanns aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, der auf seinen Reisen ebenfalls häufig in Seenot geriet. Alle drei Zeugnisse werden umfassend kommentiert und interpretiert. 2013. VI, 220 S. 12 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-20965-0

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