Rituale, Zeichen, Bilder: Formen und Funktionen symbolischer Kommunikation im Mittelalter 9783412214012, 9783412207373

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Rituale, Zeichen, Bilder: Formen und Funktionen symbolischer Kommunikation im Mittelalter
 9783412214012, 9783412207373

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NORM UND STRUKTUR STUDIEN ZUM SOZIALEN WANDEL IN MITTELALTER UND FRÜHER NEUZEIT IN VERBINDUNG MIT GERD ALTHOFF, HEINZ DUCHHARDT, PETER LANDAU, KLAUS SCHREINER HERAUSGEGEBEN VON

GERT MELVILLE Band 40

RITUALE, ZEICHEN, BILDER Formen und Funktionen symbolischer Kommunikation im Mittelalter von

KLAUS SCHREINER herausgegeben von Ulrich Meier, Gabriela Signori und Gerd Schwerhoff

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Für die großzügige Förderung der Drucklegung danken die Herausgeber dem Böhlau Verlag, der Gesellschaft Oberschwaben für Geschichte und Kultur e.V., der Westfälisch-Lippischen Universitätsgesellschaft Bielefeld, dem Sonderforschungsbereich 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme“ in Münster und dem Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ in Dresden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20737-3

InhaltsverzeIchnIs

vorwort 7

sIgna vIctrIcIa Heilige Zeichen in kriegerischen Konflikten des Mittelalters

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»gerechtIgkeIt und FrIeden haben sIch geküsst« (Ps 84,11) Friedensstiftung durch symbolisches Handeln

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nudIs PedIbus Barfüßigkeit als religiöses und politisches Ritual

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»deIne brüste sInd süsser als weIn« Ikonographie, religiöse Bedeutung und soziale Funktion eines Mariensymbols

207

antIjudaIsmus In m arIenbIldern des sPäten m Ittelalters 243

das buch Im nacken

Bücher und Buchstaben als zeichenhafte Kommunikationsmedien in rituellen Handlungen der mittelalterlichen Kirche

283

schrIFtenverzeIchnIs k laus schreIner 323

drucknachweIse 343

vorwort

Formen symbolischer Kommunikation bestimmen das soziale Leben seit Urzeiten bis hinein in die Gegenwart. Und doch gilt insbesondere das Mittelalter als ein „Zeitalter der Zeichen“ (P. E. Schramm). Rituale, Zeichen und Bilder vermögen deshalb auf besondere Weise einen Zugang zu dieser fernen Epoche zu schaffen. Kaum jemand hat diese Möglichkeit in den letzten Jahrzehnten so lebendig, vielfältig und doch zugleich so analytisch scharf genutzt wie Klaus Schreiner. Die für diesen Band ausgewählten Arbeiten beschäftigen sich mit Kreuzen, Fahnen und Reliquien, mit Gesten und Körpermedien wie Küssen, nackten Füßen oder Marias Brüsten, mit Bildern und selbst mit Büchern und Buchstaben, die über ihren Charakter als textuelle Medien hinaus als symbolische Bedeutungsträger sichtbar gemacht werden. Stets wird hier die Fremdheit und Andersartigkeit einer Zeit erfahrbar, die im Medium der Symbole über die letzten Heilstatsachen kommunizierte; gleichzeitig aber wird immer der soziale Ort der jeweiligen Zeichen mitreflektiert und aufgezeigt, welchen gesellschaftlichen und politischen Funktionen sie dienten. Dabei werden die jeweiligen Rituale, Zeichen und Bilder als Phänomene langer Dauer thematisiert, zugleich aber Wandlungsprozesse in einer fälschlich als statisch angesehenen Epoche verdeutlicht. Die hier anlässlich seines achtzigsten Geburtstags zusammengestellten Arbeiten repräsentieren lediglich einen kleinen Ausschnitt des Oeuvres von Klaus Schreiner. Kaum jemand hat so viel auf so unterschiedlichen Forschungsfeldern mit so erstaunlichem Perspektivenreichtum publiziert wie er. Der Zeitraum, in dem sich seine Studien bewegen, reicht dabei vom Frühmittelalter bis in die Gegenwart. Das hat ihm europaweit Anerkennung verschafft. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, dass bei der Frage, wer die Bielefelder Fakultät für Geschichtswissenschaft denn in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geprägt hat, neben Reinhart Koselleck und Hans-Ulrich Wehler am häufigsten der Name Klaus Schreiner genannt wird. Seine landesgeschichtlichen Anfänge hat er schon früh überschritten. Er forschte zu klassischen mediävistischen Themen wie der Geschichte des Mönchtums, der abendländischen Frömmigkeit, der Grundherrschaft, der Geschichte des Adels und des Stadtbürgertums, der Mentalitäten und politischen Ideen. Buch-, Bildungs- und Wissensgeschichte lagen ihm sehr am Herzen und in der intensiven Beschäftigung mit dem Jahrtausendphänomen Maria konnte er sich noch in der Mitte seines Lebens ein neues historisches Arbeitsfeld abste-

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Rituale, Zeichen, Bilder

cken und erschließen. Die Rezeption des Mittelalters seit der Aufklärung und die Selbstbeschreibungen des modernen Bürgertums, das seine Wurzeln immer wieder in dieser fernen Vergangenheit suchte und fand, haben ihn durchgängig beschäftigt und umgetrieben. Weder der linguistic noch der iconographic turn, so dokumentieren nicht zuletzt die hier vorgelegten Beiträge, konnte ihn auf dem falschen Fuß erwischen. Beide Felder hatte er bereits vorher intensiv bestellt, dasselbe ließe sich von der historischen Anthropologie, der Ritualforschung oder der neuen Kulturgeschichte sagen. Außergewöhnlich an Klaus Schreiner ist auch, dass seine Beiträge in den germanistischen, theologischen, kunstgeschichtlichen oder soziologischen Fachdiskursen Aufnahme und breite Anerkennung fanden. Und, um ein Letztes zu sagen: In den Standardwerken zur Frühen Neuzeit kommt man um Schreiners Arbeiten zum Konfessionseid oder zur Toleranz ebenso wenig herum wie in neueren Handbüchern zur Geschichte des 20. Jahrhunderts um seine Beiträge zum Führerkult als Form charismatischer Herrschaftsbildung oder zum Thema Judenverfolgung im Dritten Reich als genuin modernem Phänomen. Es ist nach dem Gesagtem wohl leicht zu verstehen, dass Klaus Schreiner in seiner Bielefelder Zeit so unterschiedliche wissenschaftliche Temperamente wie die der drei Herausgeber dieses Bandes dauerhaft zu fesseln und wissenschaftlich auf den Weg zu bringen vermochte. Die Verbundenheit mit der ostwestfälischen Universität hat sein Leben bisweilen stärker geprägt als ihm selbst lieb war. Nur so kann man vielleicht verstehen, dass er 1982 gar einen Ruf nach Tübingen, an seine geliebte Heimatuniversität, zu der zurückzukehren er sich eigentlich zum Ziel gesetzt hatte, nach langem Zögern und schweren Herzens abgelehnt hat. Seine Persönlichkeit als Lehrer und Wissenschaftler, seine Lehre und insbesondere seine zahlreichen unvergesslichen Exkursionen nach Italien, Burgund, Irland, Osteuropa oder in die Niederlande böten darüber hinaus ein überaus fruchtbares Material für jeden, der gerne überschwänglich und feierlich lobt. Da das in diesem Jahr in reichlichem Maße geschehen wird, mag es am Ende dieses Vorwortes genügen, ihm für Förderung und Hilfe, vor allem aber für die vielfältigen Inspirationen zu danken, durch die er es über lange Jahre hinweg verstand, uns die Alterität der europäischen Vormoderne auf ganz spezifische Weise näher zu bringen. Uns hat das angespornt und bereichert. Ein Blick auf die noch im Druck befindlichen Titel in seinem Schriftenverzeichnis macht uns sicher, dass das so bleiben wird. Wir hoffen schließlich, dass auch die Leser des vorliegenden Bandes ein wenig von dieser Inspirationskraft spüren und mit neuer Lust an das Mittelalter herantreten werden. Bleibt noch jenen zu danken, die am Zustandekommen dieses Buches beteiligt und mit viel Engagement zur fristgerechten Fertigstellung beigetragen haben. In Bielefeld waren das Franziska Hüther, Anna Schütze und Michael Zozmann; in Konstanz beteiligten sich Lisa Haßler, Amelie Rösinger und

Vorwort

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Tilmann Meier; und in Dresden halfen mit Friederike Jung und Franziska Neumann. Ein besonderer Dank gilt Sebastian Frenzel, Dresden, in dessen Händen die Gestaltung und die Endredaktion lagen. Dem Böhlau-Verlag in Gestalt von Frau Elena Mohr ist für die professionelle Betreuung und insgesamt für seine Bereitschaft zu danken, das Projekt zu realisieren.

Im März 2011 Ulrich Meier (Bielefeld), Gerd Schwerhoff (Dresden), Gabriela Signori (Konstanz)

sIgna vIctrIcIa Heilige Zeichen in kriegerischen Konflikten des Mittelalters

Herrscher und Herren, die im Mittelalter Kriege führten, rechneten mit der Hilfe himmlischer Mächte. Ihre Kriegführung hatte eine religiöse Dimension. Ob Päpste, Kaiser oder Könige, ob Fürsten, adelige Herren oder städtische Kommunen, alle hofften auf den Beistand Gottes, wenn es darauf ankam, politische Interessen und religiöse Ziele mit Waffengewalt durchzusetzen. Weder das Christentum noch die Hochreligionen der antiken Welt verfügten über trennscharfe Kriterien, um Kriege als innerweltliche Konflikte zu definieren, die das richterliche Eingreifen überirdischer Mächte entbehrlich gemacht hätten. Der Verlauf von Kriegen unterlag der alles planenden und lenkenden Vorsehung Gottes. Wer siegte und besiegt wurde, stand in seinem Belieben. Die Kirche lehrte es so. Christen, die zum Schwert griffen, glaubten es. Kirchliche Rituale und heilige Zeichen sollten gewährleisten, daß Gott die Seinen, die für den wahren Glauben, für Recht und Gerechtigkeit kämpfen, nicht im Stich läßt. Von überirdischen Mächten Kriegshilfen zu erwarten, war keine Erfindung mittelalterlicher Christen und ihrer Kirche. Der christliche Heilige, der seinen Verehrern zum Sieg verhilft, findet seine Entsprechung in der hilfreichen Schlachtepiphanie heidnischer Götter und Heroen.1 Vertrauen in die Hilfe Gottes in Zeiten des Kriegs nährten insbesondere die Schriften des Alten Bundes. Israels Kriege waren Kriege Jahwes. Jahwe, der in der Schlacht dem Heer vorauszog, gab Siegesgewißheit.2 Die Makkabäer, die jüdischen Kriegshelden, die für die Freiheit ihres Glaubens und die politische Selbständigkeit ihres Volkes gekämpft hatten, wurden in den christlichen Heiligenhimmel aufgenommen.3 Psalmen, die in der Synagoge als Siegeslieder gesungen wurden und dann auch 1

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Vgl. Wolfgang sPeyer , Die Verehrung der Heroen, des göttlichen Menschen und des christlichen Heiligen. Analogien und Kontinuitäten, in: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Peter dInzelbacher / Dieter R. bauer , Ostfildem 1990, S. 48 - 66. Vgl. Gerhard von r ad, Der Heilige Krieg im Alten Israel, Göttingen 1951; Ralf m IggelbrInk , Der Zorn Gottes. Geschichte und Aktualität einer ungeliebten Tradition, Freiburg i. Br. u. a. 2000, hier insbesondere S. 64 - 66 (»JHWH als Kriegsgott«) und S. 122 - 124 (»Kriegstheologie des Richterbuchs«). Klaus schreIner , Die Makkabäer. Jüdische Märtyrer und Kriegshelden im liturgischen und historischen Gedächtnis der abendländischen Christenheit, in: ders., Märtyrer, Schlachtenhelfer, Friedenstifter. Krieg und Frieden im Spiegel mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Heiligenverehrung, Opladen 2000, S. 1 - 53.

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Rituale, Zeichen, Bilder

im christlichen Gottesdienst Verwendung fanden, erinnerten an das rettende Eingreifen Gottes in den heiligen Kriegen seines Volkes. Im Krieg erfuhren die Israeliten die Epiphanie Jahwes, ihres Gottes. Jahwe bewährte sich in der Geschichte Israels als siegbringender »Kriegsgott« (Max Weber). Die Bundeslade, die ›Lade Jahwes‹, sollte als militärisches Feldheiligtum einen erfolgreichen Ausgang der Schlacht garantieren. Um in Zeiten bedrängender Kriegsnot Jahwes Eingreifen zu sichern, legten Israels Truppen Gelübde ab, fasteten und übten geschlechtlich Askese. Kaiser und Könige des Mittelalters, die in den Krieg zogen, vertrauten auf die Hilfe von Heiligen, deren helfende Fürsprache bei Gott sie durch Fasten und Gebet, durch Stiftungen sowie durch Pilgerfahrten zu heiligen Stätten zu erwerben trachteten. Heiligenreliquien, die in die Schlacht mitgenommen wurden, dienten als Unterpfänder des erhofften Sieges. Städte, die sich durch äußere Feinde in ihrer Existenz bedroht fühlten, suchten den Beistand ihrer heiligen Stadtpatrone. Revoltierende Bauern schmückten ihre Fahnen mit religiösen Bildern und Symbolen, um sich der Unterstützung durch himmlische Mächte zu vergewissern. In rituellen Formen wurde die religiöse Dimension kriegerischen Handelns zur Anschauung gebracht. Herrscher ließen Messen lesen, um angesichts kriegerischer Konflikte auf Gottes Hilfe bauen zu können.4 Ehe sie zu einem Feldzug aufbrachen, nahmen sie an kirchlichen Weihehandlungen teil. Sie taten dies, um des erhofften Sieges gewiß zu sein.5 Kreuzfahrer hefteten sich das »Zeichen 4

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Die urkundlich belegten Beispiele für ein solches Verhalten sind Legion. Vgl. neben zahlreichen anderen Belegstellen Michael sIerck , Festtag und Politik. Studien zur Tageswahl karolingischer Herrscher, Weimar / Wien 1995, S. 236: »Am Ufer der Enns flehte das karolingische Heer durch dreitägige Litaneien vom 5. bis 7. September 791 und mittels Fasten, Almosengeben, Messen und Psalmengesang um einen Sieg über die Avaren. Diese Form liturgischer Vorbereitung auf den Kriegszug scheint 791 zum ersten Mal praktiziert worden zu sein. Als Vorbild fungierten die in Byzanz praktizierten liturgischen Kriegsvorbereitungen«. Vgl. auch Albert Michael koenIger , Die Militärseelsorge der Karolingerzeit. Ihr Recht und ihre Praxis, München 1918; Michael mccormIck , The Liturgy of War in the Early Middle Ages: Crisis, Litanies, and the Carolingian Monarchy, in: Viator 15 (1984), S. 352 - 354; Thomas scharFF, Die Kämpfe der Herrscher und der Heiligen. Krieg und historische Erinnerung in der Karolingerzeit, Darmstadt 2002, hier insbesondere S. 192ff. (»Die religiöse Dimension des Krieges«); Arnold a ngenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 164: Klöster des Reichs und Hausklöster des Adels mußten »für einen Kriegszug Tausende von Psalterrezitationen und Meßfeiern ableisten«. Heinrich II. nahm 1004 an der Weihe des Klosters Nienburg teil, um »die Hilfe des Himmels für den bevorstehenden Feldzug gegen Boleslav« zu erflehen (Karl Josef benz, Untersuchungen zur politischen Bedeutung der Kirchweihe unter Teilnahme der deutschen Herrscher im hohen Mittelalter. Ein Beitrag zum Studium des Verhältnisses zwischen weltlicher Macht und kirchlicher Wirklichkeit unter Otto III. und

Signa Victricia

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des heilbringenden Kreuzes« (signum salutiferae crucis) auf ihr Gewand und galten deshalb als »mit dem heiligen Kreuz Bezeichnete« (signati sancta cruce). Mit einem solchen Kreuz verband sich der Glaube, daß es Leib und Seele schützt und überdies die Hoffnung nährt, daß Gott den Seinen zum Sieg verhilft. Wer gegen Feinde der Christenheit das Schwert erhob, dem wurde die Vergebung seiner Sünden (remissio peccatorum) versprochen. Wer im Kampf gegen die Heiden den Tod fand, konnte der begründeten Hoffnung sein, durch ewiges Leben im Himmel belohnt zu werden. Zum Kampf entschlossene Krieger beichteten und empfingen die heilige Kommunion; sie fasteten und ließen sich nicht mit Freudenmädchen ein, um Gott keinen Anlaß zu geben, sie durch eine Niederlage für ihre Sünden zu bestrafen. Sie schickten vor Beginn einer Schlacht Gebete zum Himmel, auf daß Gott der gerechten Sache zum Sieg verhelfe.6 Wenn die Schweizer Eidgenossen des späten Mittelalters vor Beginn einer jeden Schlacht niederknieten, um im Angesicht ihrer Gegner mit ausgebreiteten Armen zu beten, folgten sie der »gewonheit ir[er] altvordern«7, die sich seit alters durch diesen Gebetsgestus der Hilfe Gottes vergewisserten. Stillschweigend wurde dabei vorausgesetzt, daß die gerechte Sache mit der eigenen Sache identisch sei. Für den Beginn einer Schlacht wurden Festtage von Heiligen gewählt. In der Regel handelte es sich um solche Heilige, deren helfender Macht die militärischen Bittsteller besonderes Vertrauen entgegenbrachten.8 Bilder von Heiligen schmückten die Fahnen der kriegführenden Parteien. Die Namen von Jesus und seiner Mutter Maria dienten als Schlachtrufe kriegführender Parteien. Kleriker mußten im Heer geistliche Dienste verrichten, um Kriegern Gelegenheit zur Teilnahme an der heiligen Messe und zum Empfang der Sakramente zu geben.9 Segensformeln, die über Schild und Schwert gesprochen wurden, dienten der »Heiligung der Waffen« (sanctificatio armorum).10 Spätmittelalterliche Städte

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Heinrich II., Kallmünz Oberpfalz 1975, S. 149). Teilgenommen und Geschenke gemacht habe Heinrich III. pro certioris gratia triumphi (ebd., S. 156). Gebete vor der Schlacht sichtet und erläutert John Ross / Edward blIese , Rhetoric and Morale: a Study of Battle Orations from the Central Middle Ages, in: Journal of Medieval History 15 (1989), S. 201 - 226. Gerrit h Immelsbach, Die Renaissance des Krieges. Kriegsmonographien und das Bild des Krieges in der spätmittelalterlichen Chronistik am Beispiel der Burgunderkriege, Zürich 1999, S. 213. Vgl. dazu sIerck (wie Anm. 4). Vgl. Leopold auer , Der Kriegsdienst des Klerus unter den sächsischen Kaisern, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 80 (1972), S. 48 70, hier S. 59 und Anm. 53. Ein englischer Karmeliter namens Thomas Waldes (um 1377–1431) wandte sich in einem Traktat ›De sacramentalibus‹ gegen Johannes Wyclif, der es als lächerlich empfand, Waffen zu »heiligen« (Thomas Waldensis, Doctrinale antiquitatum fidei catholicae ecclesiae de sacramentalibus, Venetiis 1759, Sp. l005: Arma quoque sanctificari Wiclef­ fus deridet).

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haben in Kriegszeiten Buß- und Bittprozessionen veranstaltet. Nach errungenen Siegen wurden Gedenkprozessionen eingerichtet und feierliche Messen abgehalten.11

1. Das Kreuz als Siegeszeichen Die Politisierung des Kreuzes beginnt mit der Bekehrung Kaiser Konstantins (306–337) und deren langfristigen Folgen (siehe Abb. 3). Ein zur Staatsreligion erhobenes Christentum konfrontierte die Kirche auf dem Felde der Politik mit neuen Aufgaben. Ihr oblag seitdem nicht nur die Sorge für das ewige Seelenheil aller Reichsbewohner. Rechtgläubigkeit sollte den Einzelnen nicht nur vor ewiger Verdammnis bewahren; die rechte Lehre sollte überdies die politisch-soziale Einheit des Reiches gewährleisten. Durch ihre Heilsmittel und Heilszeichen sollte die christliche Kirche in Zeiten des Friedens zur allgemeinen Wohlfahrt beitragen, in Zeiten des Krieges sollte sie durch ihre Gebete und ihre liturgischen Dienste dem Kaiser und seinen Truppen zum Sieg verhelfen. Aus dem Kreuz, das an die Erlösungstat Christi erinnerte, wurde ein Siegeszeichen in Angriffs- und Verteidigungskriegen. In seinem zwischen 314 und 319 verfaßten Traktat ›Über den Tod der Christenverfolger‹ berichtet Laktanz, Konstantin habe im Jahre 312 auf dem Vormarsch gegen Maxentius von Gott den Befehl erhalten, das Zeichen Christi auf den Schilden seiner Soldaten anzubringen. Unter diesem Zeichen sei er dann mit seinen Soldaten in die Schlacht gezogen und Sieger geworden.12 Der später schreibende Bischof Eusebius von Caesarea († 339) weiß von einer Erscheinung des Kreuzes am nächtlichen Himmel, die dem nach göttlicher Hilfe Ausschau haltenden Konstantin zuteil wurde. In seiner ›Vita Constantini‹ gibt Eusebius davon Kunde. Das aus strahlendem Licht gebildete Kreuz soll die Beischrift getragen haben »Durch dieses siege«. Auf Grund einer solchen Verheißung konnte Konstantin des Glaubens sein, daß dem Kreuz eine siegbringende Kraft innewohne.13 Die Fahne, die er anfertigen ließ, um sich die Kraft des Kreuzes für 11

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Vgl. Claudius sIeber-l ehmann, Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft, Göttingen 1995, S. 388f.; Gabriela sIgnorI, Ritual und Ereignis. Die Straßburger Bittgänge zur Zeit der Burgunderkriege (474–477), in: Historische Zeitschrift 264 (1997), S. 281 - 328. De morte persecutorum 44,5 - 9. Vgl. Klaus rosen, Die Constantinische Wende 312 oder Wie ein Mythos gemacht wird, in: Die religiöse Dimension im Geschichtsunterricht an Europas Schulen, hg. v. Waltraud schreIber , Neuried 2000, S. 99 - 110, hier S. 105. Vgl. dazu und zum Folgenden Eusebius, Leben Konstantins I,28 - 31, in: Des Eusebius Pamphili Bischofs von Cäsarea ausgewählte Schriften, eingel. und übers. v. Andreas bIgelmaIr , Kempten / München 1913, S. 25 - 27. – In der vorliegenden Abhandlung

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die bevorstehende Entscheidungsschlacht nutzbar zu machen, trug ein aus den beiden griechischen Anfangsbuchstaben des Namens Jesu gebildetes Christogramm. In dieser Fahne, dem sogenannten ›Labarum‹, fand die entscheidende Wendung in der Geschichte des Christentums einen symbolischen Ausdruck. Es markiert den entscheidenden Schritt zur »Ausbildung des heiligen Krieges«.14 Als Konstantin nach der siegreichen Schlacht an der Milvischen Brücke im Triumphzug in Rom einrückte, wo ihn Senatoren und hohe Beamte sowie das ganze römische Volk »als Erlöser, Heiland und Wohltäter unter Freudenrufen und unermeßlichem Jubel empfingen«, ließ sich Konstantin, wie Eusebius berichtet, »bei der ihm angeborenen Frömmigkeit gegen Gott durch die Zurufe überhaupt nicht irreführen und durch die Lobpreisungen nicht zu Hochmut verleiten, sondern befahl allsogleich in dem festen Bewußtsein, daß Gott ihm geholfen habe, daß man seinem Standbild das Zeichen des heilbringenden Leidens in die Hand gebe.«

So geschah es denn auch. Das Standbild »mit dem heilbringenden Zeichen in der Rechten« wurde an dem belebtesten Platz der Stadt Rom aufgestellt. Der Kaiser gebot, an dem Denkmal folgende lateinische Inschrift anzubringen: »Durch dieses Zeichen des Heils, den wahren Prüfstein der Tapferkeit, habe ich eure Stadt vom Joche des Tyrannen errettet und befreit und dem Senate und Volke der Römer mit der Freiheit die alte Würde und den alten Glanz wiedergegeben«. 15

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geht es um die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Konstantinsvision und der mit dem Christusmonogramm ausgestatteten Kaiserstandarte, des Labarums, nicht um die quellenkritische Rekonstruktion von Sachverhalten. Insofern kann hier darauf verzichtet werden, die von Althistorikern, Archäologen und Kirchenhistorikern über die Kreuzvision Konstantins und das Aussehen des Labarums kontrovers geführte Debatte nachzuzeichnen. Carl erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Darmstadt 1974 (unveränderter reprografischer Nachdr. der Ausgabe Stuttgart 1935), S. 32. Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte, hg. u. eingel. v. Heinrich k raFt. Die Übers. v. Philipp h aeuser wurde neu durchges. v. Hans Armin gärtner , München 1967, IX, 9 - 11, S. 400. – Mit dem »Zeichen des heilbringenden Leidens«, das der in Stein gemeißelte Kaiser in seiner Rechten hält, ist »höchstwahrscheinlich das Monogramm in der Form des Labarum« gemeint. So Erich dInkler , Das Kreuz als Siegeszeichen, in: ders., Signum Crucis. Aufsätze zum Neuen Testament und zur Christlichen Archäologie, Tübingen 1967, S. 55 - 76, hier S. 64. Aus einem solchen Befund kann jedoch nicht gefolgert werden, daß mittelalterliche Autoren, welche die Kirchengeschichte des Eusebius in der lateinischen Übersetzung des Rufinus gelesen haben, besagte Stelle so verstanden haben, wie es die historische und archäologische Wissenschaft von heute tut. Auch einem Leser von heute fällt zunächst das Kreuz ein, wenn von einem »Zeichen des heilbringenden Leidens« die Rede ist. »Leiden« verweist auf das Kreuz, den Ort des Leidens, nicht auf ein Buchstabenmonogramm.

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Legendenbildung tat ein übriges, um dem Kreuz in der Gottesvorstellung des Kaisers einen zentralen Platz einzuräumen. Gregor von Tours (538/539– 593) veranschaulicht Konstantins grenzenloses Vertrauen in die Macht des Kreuzes durch folgende Geschichte: Helena, des Kaisers Mutter, habe nicht nur das Kreuzesholz entdeckt, sondern auch die Nägel gefunden, mit denen Jesus an das Kreuz geheftet war. Zwei von diesen Nägeln habe sie in den Zaum des kaiserlichen Pferdes einschmelzen lassen, damit durch deren Kraft (virtus) die Heiden, wenn sie Widerstand leisteten, in die Flucht geschlagen würden.16 Bereits im ausgehenden 6. Jahrhundert benutzten byzantinische Herrscher Kreuzreliquien als Unterpfänder des Sieges in kriegerischen Konflikten.17 Der Verfasser der ›Vita sanctae Radegundis‹ berichtet, was Helena im Osten getan habe, das habe die heilige Radegundis in Gallien zustande gebracht. Sie, die Frau Chlothars I. (511–561), habe nämlich mit Erfolg den byzantinischen Kaiser Justinus II. (565–578) gebeten, ihr für König Sigibert († 575) »Holz vom Kreuz des Herrn« (lignum crucis domini) zu überlassen. Von diesem geheiligten Holz versprach sie sich wirksame Hilfen für das »Wohl des ganzen Landes und die Stabilität seines Reiches« ( pro totius patriae salute et eius regni stabilitate).18 Die Politisierung des Kreuzes, die das Holz, an dem Christus gelitten hatte und gestorben war, in ein Siegeszeichen verwandelte, setzte jedoch erheblich früher ein. Sie beginnt in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts in Byzanz. Als Theodosius I. (379–395) oder einer seiner Vorgänger auf dem Forum von

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Auch neuere Autoren wollen nicht grundsätzlich ausschließen, daß mit dem »Zeichen des heilbringenden Leidens« auch das Kreuzzeichen gemeint sein könnte. Vgl. Richard k leIn, Konstantin, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Sp. 1374. In der kontrovers geführten Debatte darüber, ob das »Siegeszeichen des heilbringenden Leidens« die Form eines Kreuzes, eines Zepters mit Monogramm-Kreuz oder eines vexillum besessen habe (vgl. Erika dInkler-von schubert, Kreuz, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Sp. 574), hat sich der Althistoriker Joseph Vogt für die Form des Kreuzes entschieden ( Joseph vogt, Constantinus der Große, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 3, S. 306 - 379, hier S. 326). Die Wendung »Siegeszeichen des heilbringenden Leidens« läßt, wenn man Eusebius beim Wort nimmt, m. E. keine andere Deutung zu. In rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht bleibt es bemerkenswert, daß spätantike Autoren der Überzeugung waren, daß auf dem Labarum Konstantins sowohl das Monogramm Christi als auch das Kreuz angebracht waren. Vgl. dazu erdmann (wie Anm. 14), S. 32. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, in: Gregorii Turonensis opera, hg. v. Wilhelm a rndt / Bruno k rusch (MGH Script. rer. Merow. 1,2) Hannover 1884, S. 484 - 561, cap. 5, S. 491. Vgl. Alexander Pierre bronIsch, Reconquista und heiliger Krieg. Die Deutung des Krieges im christlichen Spanien von den Westgoten bis ins frühe 12. Jahrhundert, Münster 1998, S. 290. De vita sanctae Radegundis, hg. v. Bruno k rusch (MGH Script. rer. Merow. 2) Hannover 1888, S. 358 - 395, II, 16, S. 388.

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Byzanz ein Kreuz errichtete, ging es nicht darum, dem »Gedanken der Kreuznachfolge oder des Kreuztragens im Sinne der Evangelien« eine bildhafte Form zu geben; zur Darstellung kam »der Gedanke einer durch die Aufnahme der christlichen Religion seitens des Kaiserhauses erreichten restitutio imperii«.19 Dies berechtigt zu der begründeten Annahme, daß »das Kreuz als Siegeszeichen eher der imperialen Kunst und christlichen Hofpropaganda zu entstammen« scheint »als dem innerkirchlichen Leben«.20 Im Medium eines christlichen Sinnzeichens haben politische Interessen des Kaiserhauses eine religiöse Sprache gefunden. In der Herrscher- und Adelsgeschichte des Mittelalters bewährte sich Konstantins Vertrauen in die Siegeskraft des Kreuzes als Lehrstück von großer Ausstrahlung und Faszination. Die Tatsache, daß er mit Hilfe des Kreuzes seinen Widersacher besiegt hatte, motivierte zur Nachahmung. Mittelalterliche Herren und Herrscher suchten gleich ihm von der siegbringenden Kraft des Kreuzes Gebrauch zu machen. Symptomatisch für diese Einstellung ist ein Brief, den ein sonst nicht näher bekannter Clemens Peregrinus um 772 an Herzog Tassilo von Bayern geschickt hatte, um ihm den Sieg über seine heidnischen Feinde zu wünschen. Seinem Wunsch suchte der Briefschreiber Nachdruck und Glaubwürdigkeit dadurch zu verschaffen, daß er an das Beispiel Konstantins, des Sohnes der heiligen Helena, erinnerte. Habe doch diesem in der Nacht vor der Schlacht Gott das Zeichen des Kreuzes (signum crucis) gezeigt und seine Stimme vernehmen lassen, indem er zu dem Kaiser sagte: »Konstantin, in diesem Zeichen wirst du siegen« (Constantine, in hoc signo vinces).21 Der angelsächsische König Oswald von Northumbrien (603/604–641), den Mönche von Iona zum Christentum bekehrt hatten, besiegte Ende 633 bei Haevenfield in der Nähe des Hadrianwalles Cadwallon, den König der heidnischen Briten. Beda Venerabilis (673/674–735) führte Oswalds Sieg auf ein Holzkreuz zurück, das der König zusammen mit seinen Gefolgsleuten auf dem Schlachtfeld errichtet hatte. In seiner 731 abgeschlossenen ›Kirchengeschichte des englischen Volkes‹ berichtet Beda darüber folgendes: »Jener Platz [Deniseburna, heute Rowley Water] aber wird bis heute gezeigt und in großer Verehrung gehalten, wo Oswald [König von Northumbrien], als er im Begriff war, [gegen die Briten] in die Schlacht zu ziehen, ein heiliges Kreuz errichtete und mit gebeugten Knien Gott bat, daß er in einer solchen Niederlage seinen Verehrern himmlische Hilfe schicke. Es wird auch überliefert, daß, nachdem das Kreuz hastig angefertigt und eine Grube gegraben worden war, in die es eingelassen werden sollte, Oswald selbst dieses mit flammendem Glaubenseifer anpackte und in die Grube stellte und mit beiden Händen senkrecht hielt, bis es von den Soldaten durch aufgeschüttete Erde befestigt worden war. Danach erhob er seine Stimme und rief 19 20 21

dInkler (wie Anm. 15), S. 73. Ebd., S. 68. MGH Epp., Bd. 6, S. 496 - 497, Nr. 1.

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dem ganzen Heer zu: ›Laßt uns alle die Knie beugen und den allmächtigen, lebendigen und wahren Gott gemeinsam bitten, daß er uns durch seine Bannherzigkeit vor dem überheblichen und wilden Feind schützen möge. Er weiß nämlich, daß wir für das Heil unseres Volkes einen gerechten Krieg begonnen haben!‹ Alle taten so, wie er befohlen hatte, und so rückten sie bei Morgendämmerung gegen den Feind vor und trugen den Sieg davon, den sie sich durch ihren Glauben verdient hatten. Zahlreiche Wunderheilungen sollen sich an der Stätte, an der Oswald gebetet hatte, ereignet haben zum Zeichen und zum Gedächtnis des Glaubens des Königs. Und bis zum heutigen Tag besitzen viele Splitter vom Holz des heilbringenden Kreuzes. Diese tauchen sie in Wasser und geben dieses kranken Menschen und Tieren zu trinken, oder sie besprengen diese damit. Schnell werden diese dann geheilt.« 22

Ein Kreuz, das hielt, was es versprach, wurde zur wundertätigen Reliquie. Kreuz und Kreuzverehrung nahmen auch in der politischen Religiosität der westgotischen Kirche und der westgotischen Könige eine beherrschende Stellung ein. Den Königen der Westgoten wurde, wenn sie in den Kampf zogen, ein Kreuz vorangetragen. Ein liturgischer Kriegsordo aus der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts machte aus der Übergabe des Kreuzes an den zum Krieg entschlossenen König ein förmliches Ritual. Dieses verlief folgendermaßen: Vor dem Abmarsch begibt sich der König in die Kirche der Apostel Petrus und Paulus, die ›basilica praetoriensis‹ des westgotischen Palastbezirks vor den Toren von Toledo. »Dort betet er ausgestreckt auf dem Boden. Wenn er sich wieder erhebt, wird Tobias 5,21 angestimmt: ›Gott sei auf eurer Heerfahrt mit euch, und sein Engel begleite euch.‹ Im anschließenden Gebet wird Gott als Gott der Heerscharen und Beschützer vor den Feinden gepriesen, welcher den Sieg verleiht. Der Segensspruch beschwört ihn als eigentlichen Führer des Heerzuges. Dann erhält der König aus der Hand des Bischofs ein goldenes Kreuz mit einer Reliquie vom Kreuzesholz Christi, das den König stets im Heer begleitet, und gibt es weiter an einen Priester, der es später vor ihm her tragen wird.« 23

Das Kreuz erfüllte die Funktion einer Kriegsstandarte, an deren siegbringende Wirkung geglaubt wurde. »Das Kreuz mit der Kreuzreliquie, das den König während des ganzen Unternehmens begleitet, ist das Symbol der göttlichen Führerschaft«.24

22 23 24

Beda der Ehrwürdige, Kirchengeschichte des englischen Volkes / Venerabilis Bedae historia ecclesiastica gentis Anglorum, übers. von Günter sPItzbart, Darmstadt 21997, III, 2, S. 210. bronIsch (wie Anm. 17), S. 66f. Ebd., S. 68.

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Im christlichen Spanien wurde das Kreuz zum »Symbol einer neuen Siegesgewißheit im Glaubenskampf«.25 Dies war insbesondere im 8. und 9. Jahrhundert der Fall – in einer Zeit, in der das Kreuz zunehmend für kriegerische Zwecke in Anspruch genommen wurde. Legenden vergegenwärtigten Kreuzesvisionen, die den asturisch-leonesischen Königen widerfahren seien.26 Vor der Schlacht von Covadonga im Jahre 722 soll Pelayo, dem ersten König von Asturien, am Himmel ein Kreuz erschienen sein, das ihn bewog, ein Eichenkreuz als Standarte für sein Heer anfertigen zu lassen. Pelayos fromme Strategie bewährte sich. Er besiegte die Muslime. Das nach dem Sieg als wundertätige Reliquie verehrte Kreuz habe König Alfons III. mit Gold und Edelsteinen verzieren lassen und es 908 der Kathedrale San Salvador von Oviedo als Weihegabe zum Geschenk gemacht. Seinen Namen ›Cruz de la Victoria‹ verdankte es dem Sieg, den Pelayo mit Hilfe eben dieses Kreuzes über die Sarazenen errungen hatte. Es trägt die Inschrift: HOC SIGNO TUETUR PIUS, HOC SIGNO VINCITUR INIMICUS (Durch dieses Zeichen wird der Gottesfürchtige geschützt werden, durch dieses Zeichen wird der Feind besiegt).27 Thietmar von Merseburg berichtet, in einem Feldzug gegen die Awaren (997) sei Bischof Ranwald von Minden mit einem Kreuz in der Hand dem Heer vorausgeritten.28 Anselm von Gembloux, der das ›Chronicon‹ Sigeberts von Gembloux bis 1136 weiterführte, berichtet zum Jahr 1123 über den Auszug eines Kreuzfahrerheeres gegen die erdrückende Übermacht der Sarazenen. »Die Christen«, schrieb er, »rücken vor […]. An der Spitze schreiten ihre geistlichen Anführer, der Patriarch von Jerusalem nämlich, der anstelle einer Heerfahne das Kreuz Christi trägt, dann der ehemalige Abt Pontius von Cluny mit der Lanze, welche die Seite Christi durchbohrte, und der Bischof von Bethlehem, eine Dose mit Milch von der hl. Maria tragend.« 29

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26 27

28 29

Bernhard bIschoFF, Kreuz und Buch im Frühmittelalter und in den ersten Jahrhunderten der spanischen Reconquista, in: ders., Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde und Literaturgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1967, S. 299; zum »Labarum der Reconquista« vgl. bronIsch (wie Anm. 17), S. 295. Ebd., S. 293, 317. Ebd., S. 315. Vgl. dazu die Bemerkung von Percy Ernst schramm, in: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik, Bd. 2, Stuttgart 1955, S. 485: Daß in der Inschrift »die Worte: In hoc signo vincis der Konstantinslegende anklingen, ist kein Zufall: die spanische Legende wußte zu berichten, daß bereits der erste König des Asturischen Reiches, Pelayo, bei dem von der Sage verherrlichten Sieg über die Mauren bei Covadonga sich den Holzkern dieser ›Cruz de la Victoria‹ habe vorantragen lassen, ja daß ihm dessen Form vorher vom Himmel gezeigt worden sei.« Thietmari Merseburgensis episcopi Chronicon, hg. v. Friedrich kurze (MGH SS in us. schol. 54) Hannover 1889, IV, 29, S. 81. Sigeberti Gemblacensis chronika cum continuationibus, hg. v. Ludwig Konrad bethmann (MGH SS 6) Hannover 1844, S. 268 - 474, S. 379.

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Die Macht des Kreuzes, gefestigt und erweitert durch die siegverheißenden Wirkungen der heiligen Lanze und der Milch Marias, sollte den Sieg gewährleisten. Der Edelherr Bernhard II. zur Lippe (um 1140–1224), Zisterziensermönch in Marienfelde, ein begeisterter Kreuzfahrer und Kreuzprediger, 1211 zum Abt des Klosters Dünamünde bei Riga geweiht, soll 1217 in der Schlacht bei Fellin ein Kreuz getragen haben, das dazu beitrug, die heidnischen Esten vernichtend zu schlagen.30 »Einige Indizien – so die Errichtung einer dem heiligen Kreuz geweihten Kapelle auf dem Schlachtfeld, ein später tradierter Bericht über die wundersame Hilfe durch ein Kreuzzeichen während einer kritischen Phase des Kampfes sowie nach Livland weisende spätmittelalterliche Kreuzlegenden aus Freckenhorst – könnten dafür sprechen, daß der Lipper das wunderwirkende Kreuz aus dem westfälischen Kloster Freckenhorst mit nach Livland gebracht und in dieser Schlacht eingesetzt hatte.«

Trifft dies zu, benutzte Bernhard zur Lippe das Freckenhorster Kreuz als Feldzeichen des von ihm geführten Truppenteiles. Aber nicht nur dies: In einer ausweglos anmutenden militärischen Situation errang er mit Hilfe des Kreuzes den Sieg über die Esten. Das Kreuz für kriegerische Zwecke zu instrumentalisieren, hatte Tradition. Ließ sich Bernhard von dieser in seinen militärischen Aktionen bestimmen, war dies keinesfalls ungewöhnlich. Noch 1475 schickte der Dekan des Klosters Kaufungen dem Landgrafen von Hessen das Brustkreuz Kaiser Heinrichs II. (heilge crutze keyser Heinrich), damit er, falls es zum Krieg komme, wirksam geschützt sei.31 Im Augsburger Domschatz befindet sich heute noch eine crux victorialis, ein siegbringendes Kreuz, das ein Engel Bischof Ulrich in der Schlacht auf dem Lechfeld (955) als göttliches Unterpfand des Sieges über die Ungarn übergeben haben soll – in spätmittelalterlicher Begrifflichkeit ausgedrückt: »zuo ainem zaichen vnd gewißhait der kuenfftigen ueberwindtnuß wider die feind«.32 Bei dem sogenannten ›Ulrichskreuz‹ handelt es sich um ein kleines, aus drei Teilen zusammengesetztes Holzkreuz, das in einem wenig größeren Gehäuse aus Silber liegt. Das Holz, aus dem das Kreuz gefertigt wurde, sei Holz vom Kreuze Christi. Der hl. Ulrich habe es aus Rom mitgebracht. Seit Anfang des 14. Jahrhunderts benutzten die Äbte von St. Ulrich und Afra das ›Siegeskreuz‹, 30 31 32

Vgl. dazu und zum Folgenden Ulrich m eIer , Fast ein Heiliger. Bernhard II. zur Lippe, in: »Heiliges Westfalen«. Heilige, Reliquien, Wallfahrt und Wunder im Mittelalter, hg. v. Gabriela sIgnorI, Bielefeld 2003, S. 97. Urkundenbuch des Klosters Kaufungen in Hessen, hg. v. Hermann von roques, Cassel 1902, Bd. 2, Nr. 518. Wolfgang augustyn, Das Ulrichskreuz und die Ulrichskreuze, in: Bischof Ulrich von Augsburg 890–973. Seine Zeit – sein Leben – seine Verehrung. Festschrift aus Anlaß des tausendjährigen Jubiläums seiner Kanonisation im Jahre 993, hg. v. Manfred weItlauFF, Weißenhorn 1993, S. 295.

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die crux victorialis, als Brustkreuz. Die Legendenbildung setzte im ausgehenden 15. Jahrhundert ein. In den früh- und spätmittelalterlichen Viten des hl. Ulrich wird nur erwähnt, der Bischof habe sich in seinem bischöflichen Ornat auf dem Schlachtfeld aufgehalten und sich ohne Rüstung ins Kampfgetümmel gestürzt. Es war der Augsburger Benediktinermönch Sigismund Meisterlin (um 1420– nach 1497), der in seinen stadt- und ordensgeschichtlichen Arbeiten zum ersten Mal erwähnt, daß in der Lechfeldschlacht ein Engel Bischof Ulrich ein Kreuz ausgehändigt habe (siehe Abb.1).33 In einer geringfügig gekürzten deutschen Übersetzung seiner ›Chronographia Augustensium‹ von 1457 schrieb er: »Da wared ym vom hymel ain creutz gesant / als vnsere ellteren sagent / zu ainem zaichen des syges / Das selbig creutz […] zaiget man auch inn / vnnserem doster / mit vil anderem Erwirdigen hayligtumbe.« 34 Es war nicht allein das Beispiel Konstantins, welches das Kreuz in ein Mittel der Politik und Kriegführung verwandelte. Was überdies Kreuzverehrung zu einem Politikum von weitreichenden Wirkungen, das Kreuz zu einem militärisch bedeutsamen Hilfs- und Schutzmittel machte, war die Kreuzzugsbewegung des hohen Mittelalters. Unter Berufung auf das Matthäuswort von der Nachfolge Christi (Matth 16,24) verlieh Papst Urban II., als er im Jahre 1095 in Clermont zum Kreuzzug aufrief, den Kreuzzugswilligen Stoffkreuze, welche diese auf die Schultern ihrer Mäntel, Röcke oder Joppen nähten. Vom hohen bis zum späten Mittelalter bildete das so getragene Kreuz das Abzeichen der Kreuzfahrer. Es verwies auf die Heilstat Christi, verbürgte göttlichen Schutz und brachte überdies die Zugehörigkeit zu einer rechtlich und geistlich privilegierten sozialen Schicht zum Ausdruck. Noch bei der Aufnahme in die von Kaiser Maximilian gestiftete Georgsbruderschaft heftete der Bischof an den rechten Arm des geweihten Ritters »eyn gulden chrewtz mit einer kron yn einem tzirkel«.35 Kreuz und Krieg gingen eine Symbiose ein, in der sich Religion und Kriegführung gegenseitig stützten. Sich zu bekreuzigen, war eine flüchtige Geste, die Christen vor Schaden an Leib und Seele bewahren sollte. Das aufgenähte Kreuz war ein dauerhaftes Abzeichen, das himmlischen Segen erwarten ließ, ab- und ausgrenzte. Als Zeichen kampfbereiter und kampfentschlossener Krieger brachte es die Verbindung von weltlichem und geistlichem Kriegsdienst zu Ausdruck. Als Symbol der religiösen militia und des göttlichen Sieges bestärkte es das kreuztragende Heer in

33 34 35

Ebd., S. 295f. Ebd., S. 296 und Anm. 82. Josef Plösch, Der St. Georgsritterorden und Maximilians I. Türkenpläne von 1493/94. in: Festschrift Karl Eder zum siebzigsten Geburtstag, hg. v. Helmut J. m elzer , Innsbruck 1959, S. 33 - 56; Walter wInkelbauer , Kaiser Maximilian und St. Georg, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 7 (1954), S. 523 - 550, hier S. 532.

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Abb.1: Der heilige Ulrich und Otto I. zu Pferde im Kampf gegen die Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld. In der Bildmitte erhält Ulrich das siegbringende Kreuz durch einen Engel. Aus: Sigismundus Meisterlin, Ein schöne Cronick … wye nach der Synndtfluß Noe die teutschen iren anfang enpfangen haben, besonders den ersten Namen Schwaben gehaißen worden … auch von der kaiserlichen Stadt Augsburg, Augsburg, 1522 [VD16 M 2299].

dem Glauben, daß es – iuxta visionem Magno quondam Constantino revelatam – über die Feinde des Kreuzes Christi triumphieren werde. Guillelmus Durandus (Duranti) (um 1235–1296) bringt in seinem ›Pontificale‹ ein Formular ›De benedictione et impositione crucis profiscentium in subsidium terrae sanctae‹, das der Bischof beten sollte, wenn einem Kreuzfahrer das Kreuzzeichen (signum crucis) übergeben wird. Der Bischof segnet zuerst das Kreuzzeichen, wobei er Gott bittet, dem crucis signum himmlische Kraft und Gnade zuteil werden zu lassen (celestem virtutem et gratiam impertiri), damit alle, die es zum Schutz ihres Körpers und ihrer Seele tragen, der Fülle göttlicher

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Gnade und des Schutzes göttlichen Segens teilhaftig werden. Dann bittet er für denjenigen, der das Kreuzzeichen in Empfang nimmt, es möge ihn vor allen Gefahren bewahren, von der Fessel der Sünden befreien und alles zum Guten wenden. Wenn er das Kreuzzeichen dem Kreuzfahrer aushändigt, betet er: »Empfange das Zeichen des Kreuzes (signum crucis), im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, als Zeichen des Kreuzes, der Passion und Todes Christi und zur Verteidigung deines Körpers und deiner Seele, damit du, wenn die Kreuzfahrt ihr Ziel erreicht hat, kraft der Gnade göttlicher Güte heil und sündelos zu uns zurückkehren kannst.« 36

Die Kreuzzugsbewegung kam im späten 13. Jahrhundert zum Erliegen. Ihr Scheitern tilgte aber nicht den Kreuzzugsgedanken in den Köpfen der für das Wohl der Christenheit verantwortlichen Kirchenmänner und Regenten. Er wurde zu einem Bestandteil des kirchlichen Welt- und Geschichtsbildes. Wann auch immer die Kirche sich gegen Feinde des christlichen Glaubens zur Wehr setzte, ist er als Leitidee einer von Gott gewollten und gebilligten Kriegführung von neuem aktiviert worden. Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit motivierte er zum Kampf gegen die das Abendland bedrängenden Osmanen; er rechtfertigte überdies die Verteidigung der katholischen Rechtgläubigkeit gegen Ketzer und die Anhänger der neuen reformatorischen Lehre. Nach dem Fall von Konstantinopel (1453) sollte das Kreuz von neuem militärische Funktionen erfüllen. Predigten, Gebetstexte und päpstliche Kreuzzugsbullen propagierten es als Hoffnungszeichen und Siegessymbol im Kampf gegen die Türken. Papst Calixt III. machte es zu einem Symbol der Zuversicht und des Sieges im Abwehrkampf gegen die Türken. Ein unmittelbar nach der Eroberung von Konstantinopel formuliertes Gelübde, das Ritter, die sich zur Kreuzfahrt gegen die Türken entschlossen hatten (votum transeunt­ ibus contra Turcos), ablegen mußten, kommt einer Neubelebung des traditionellen Kreuzzugsgedankens gleich. Es bringt auf ausnehmend klare Begriffe, was Kreuzfahrer an himmlischen Hilfen erwarten konnten. Da ist die Rede vom »Zeichen des Kreuzes«, das Jesus durch sein kostbares Blut geweiht hat, von der »Kraft des anbetungswürdigen heiligen Kreuzes«, die das »Menschengeschlecht von der Schuldurkunde des alten Feindes befreite«. Da wird Gott inständig beschworen, den Kreuzen, die sich die Ritter an ihr Gewand heften, »himmlische Kraft und Gnade zuteil werden zu lassen. Auf daß, wer auch immer diese zum Zeichen des Leidens und des Kreuzestodes Deines eingeborenen Sohnes, zum

36

Le Pontifical de Guillaume Durand, in: Le Pontifical Romain au Moyen Âge, Bd. 3, hg. v. Michel a ndrIeu, Città del Vaticano 1940, S. 541 - 543.

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Schutz von Leib und Seele trägt, die Fülle himmlischer Gnade und den Schutz Deines Segens zu empfangen vermag«.37 Wie der Kreuzzugsgedanke im späten Mittelalter aufgegriffen und in religiöse Praxis umgesetzt wurde, zeigt das Leben und Wirken von Johannes Kapistran (1386–1456), des weit in der Welt herumgekommenen franziskanischen Reformers, Predigers und Missionars. Nach dem Fall von Konstantinopel widmete er seine letzte Lebenskraft der Türkenabwehr. Als ›Sieger von Belgrad‹ (1456) ging er in die Literatur ein.38 Am 14. Februar 1456 hat ihm in Budapest der Kardinallegat Johannes Carvajal ein päpstliches Breve ausgehändigt, das ihn mit allen Vollmachten eines Kreuzzugspredigers ausstattete. Zugleich überreichte ihm der Kardinallegat ein vom Papst geweihtes Kreuz. In seiner Dankadresse an den Papst schrieb er: »Ich will es verteidigen bis aufs Blut und das hundertmal im Tage, wenn es so sein muß«.39 Seine italienischen Verwandten ließ er wissen: »Ich hoffe, mit dem christlichen Heer gegen die Ungläubigen ziehen zu dürfen. Mein Wunsch ist, mein Leben zu beschließen mit dem Martyrium für den, der für uns am Kreuz gestorben ist. Nur fürchte ich, einer solchen Gnade nicht würdig zu sein.«40 Ehe er am 4. Juli die Festung Belgrad verließ, las er noch die hl. Messe, forderte die Besatzung zum Aushalten aus und ermahnte seine Mitbrüder, sich am Kampf nicht zu beteiligen. Ihre Aufgabe sei es vielmehr, »mit Gebet und priesterlichen Verrichtungen und mit Werken der Liebe die Verteidigung des Platzes zu unterstützen.«41 Als er die Stadt verließ, tröstete er die Bevölkerung: Er werde in Kürze »mit einer solchen Menge an Kreuzfahrern zurückkommen, daß Christen wie Türken in Staunen geraten würden.«42 Als am 4. Juli 1456 vor Belgrad der Aufmarsch der türkischen Belagerungstruppen begann und sich die Situation der Stadt, weil das erwartete Aufgebot an Kreuzfahrern ausgeblieben war, bedrohlich zuspitzte, suchte Kapistran verängstigten Skeptikern Mut zu machen. Er betonte immer wieder, »es stehe bei Gott, den Sieg zu verleihen«.43 Von dem in der Nähe von Belgrad gelegenen Slankamen aus machten sich in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli Kapistran und Hunyadi, der Oberbefehlshaber des ungarischen Heeres, mit einem Zug angeworbener Kreuzfahrer auf den Weg nach Belgrad. Vor dem Aufbruch erteilte er dem Entsatzheer die Generalabsolution. »Das Wichtigste, was er seinen Leuten ständig einschärfte und worin er sie im Lager übte, war, im Massenchor 37 38 39 40 41 42 43

Adolph Franz, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Bd. 2, Graz 1960 (fotomech. Nachdr. der 1. Aufl., Freiburg i. Br. 1909), S. 304. Vgl. dazu und zum Folgenden Johannes hoFer , Johannes Kapistran. Ein Leben im Kampf um die Reform der Kirche, Bd. 1 - 2, neue, bearb. Aufl., Heidelberg 1964–1965. Ebd., Bd. 2, S. 361. Ebd., S. 365. Ebd., S. 377. Ebd. Ebd., S. 386.

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und mit Aufgebot aller Kraft dreimal ›Jesus‹ zu rufen.«44 Dem Zug voraus schritt ein Edelmann, der das Kreuzbanner trug. Ehe es auf der Donau zum ersten militärischen Konflikt kam, »stimmten die Geistlichen im christlichen Heer einige lateinische Antiphonen an.«45 Der Kampf auf der Donau dauerte fünf Stunden. Die Christen siegten. Während des Kampfes stand Kapistran »auf der Höhe des rechten Ufers, allen Kämpfern weithin sichtbar; er ließ das Kreuzbanner entfalten; das Kreuz schwingend schrie er bald zum Himmel auf, bald rief er den Seinen den Namen Jesus zu, bald schleuderte er gegen die Feinde des christlichen Namens die kirchlichen Beschwörungsgebete.«46

Die Woche zwischen der Schlacht auf der Donau (14. Juli) und der Hauptschlacht um die Festung Belgrad (22. Juli) verbrachte er vor Belgrad im Lager zu Semlin. Dieses glich mehr einer religiösen Besinnungsstätte als einem Heerlager von Kriegsleuten. »Täglich las er unter freiem Himmel die hl. Messe und predigte im Angesicht des Türkenlagers, das sich jenseits der Save über die Hügel hinbreitete. Auch die anderen Priester, die sich in großer Zahl im Lager befanden, zelebrierten täglich, die Ordensleute sangen ihr Offizium wie zu Hause in ihren Klöstern. Die Kämpfer empfingen in großen Scharen die Sakramente.«47

Kapistran seinerseits »beschränkte die Schulung der Leute für den Kampf darauf, sie mit einem unerschütterlichen Vertrauen auf die Kraft des Namens Jesu zu erfüllen. Seine Herolde mußten im Lager laut ausrufen, nur in diesem Namen könnten sie siegen. Alle, die bereit waren, im Namen Jesu wider die Türken zu streiten, waren ihm jetzt willkommen. Er verkündete für sein Lager einen allgemeinen Religionsfrieden, wohl das erstemal in seinem Leben! Auch Ketzer, Schismatiker und Juden sind unsere Freunde, wenn sie uns gegen die Türken helfen, ließ er den Leuten sagen […]. Sie mußten nur das eine versprechen, in den Schlachtruf ›Jesus, Jesus, Jesus‹ miteinzustimmen. Wiederholt ließ er das gesamte Heer diesen Ruf erheben, der wie Donnerrollen über die Save brauste.«48

Kapistrans Siegeszuversicht war ungebrochen. »Einmal ließ er vom Saveufer aus durch einen Dolmetscher den türkischen Wachtposten die Worte hinüberrufen: ›Meldet Eurem Großhund, wenn er von seinem verruchten Vorhaben

44 45 46 47 48

Ebd., S. 387. Ebd. Ebd., S. 388. Ebd., S. 392. Ebd., S. 394.

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nicht absteht, wird in Kürze die Hand des Herrn über ihn kommen‹.«49 Als die zahlenmäßig überlegenen Türken Vorkehrungen zum Hauptkampf trafen, schlug Hunyadi, um Schlimmeres zu verhüten, vor, sich zurückzuziehen und die Stadt kampflos den Türken zu überlassen. Kapistran hingegen blieb unbeugsam. »Allen Bedenken des Feldherrn hielt er sein unerschütterliches Vertrauen auf das Eingreifen Gottes entgegen: ›Wir werden die Festung halten und die Feinde zuschanden machen‹.«50 Der Sultan hatte den Beginn der Schlacht auf den Abend des 21. Juli festgesetzt. »Schauerlich war die Kriegsmusik der Türken und ihr Schlachtgebet anzuhören, mehr dem Brüllen von Stieren ähnlich. Auch die Kreuzfahrer stimmten ihre Gesänge an; mit wehenden Fahnen und laut den Namen ›Jesus‹ rufend bezogen sie auf den Mauern und an den Breschen ihre Stellungen.«51

Als die Türken anfingen, wegen schwerer Verluste die Belagerung aufzugeben, stimmten auf dem jenseitigen Saveufer die Kreuzfahrer ihren Schlachtruf an. Gleichzeitig stießen aus der Stadt kommende Abteilungen in die Geschützstellungen der Türken vor. Die türkischen Mannschaften ergriffen die Flucht. In dem Vorgang erblickte Kapistran die »Hand des Herrn«.52 Als die Türken, nachdem sie Verstärkungen herbeigeholt hatten, die Christen aus den Geschützlinien verdrängen wollten, spielte sich mitten im Kampfgetümmel eine Szene ab, die »zum Wahrzeichen der Belgrader Schlacht« geworden ist. »Mitten im Gewühl der Kämpfenden erklomm Kapistran einen Erdhaufen zwischen den Geschützen; hoch über den Kämpfenden, weithin sichtbar, stand er, von Geschossen umschwirrt, sein Bannerträger ihm zur Seite, das Kreuz mit der Rechten schwingend; mit gellender Stimme schrie er bald den Kämpfenden Worte der Ermutigung zu, bald rief er in jammervollen Tönen zum Himmel um Hilfe.« 53

Als sich am Abend des 22. Juli die Türken geschlagen geben mußten, sagte Kapistran freudigen Herzens: »Dies ist der Tag, den Gott gemacht« (Ps 117,24). Den siegreichen Ausgang der Schlacht betrachtete er als »Tat Gottes zur Rettung des christlichen Volkes«.54 Er selbst fühlte sich als »Josue des Kreuzheeres«.55 Der alttestamentliche Josue hatte als Nachfolger des Moses das israelische Volk ins Gelobte Land geführt. Im Kampf mit den Amoritern war es ihm gelungen, Gott zu bewegen, daß er Mond und Sonne zum Stillstand bringe, bis er gesiegt hatte. 49 50 51 52 53 54 55

Ebd. Ebd., S. 397. Ebd., S. 398. Ebd., S. 493. Ebd., S. 454. Ebd., S. 405. Ebd., S. 423.

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Abb.2: Johannes Kapistran führt, eine Kreuzfahne in seiner Rechten haltend, das christliche Heer gegen die Türken an. Aus: Rader, Matthäus: Heiliges Bayer-Land / Auß dem Lateinischen Vor Hundert Jahren Von R. P. Matthaeo Radero, Auß der Gesellschafft Jesu Verfertigten Werck Anjezo Jn die Teutsche Sprach übersetzt. Angefangen Von einem andern Priester bemelter Societet, Jn gegenwärtigen Stand gebracht. Von R. P. Maximiliano Rassler, Zweyter Theil, Augspurg 1714, S. 275. Bayrische Staatsbibliothek, München. Aus: Heilige Kriege, hg. v. Klaus schreIner , München 2008, S. 159.

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In der Wahl des alttestamentlichen Vorbildes artikulierte Kapistran eigene Führungsqualitäten und seinen Glauben an ihm zuteil gewordene göttliche Hilfe. Den Sieg des Kreuzheeres bezeichnete er in einem an Papst Calixt III. gerichteten Brief vom 17. August als »glorreichen Sieg unseres Herrn Jesus Christus.«56

2. Geweihte Fahnen, die auf den Sieg hoffen lassen Fachkollegen, die sich, gestützt auf Theoreme der Semiotik und Kommunikationstheorie, derzeit mit militärischen Feldzeichen des Mittelalters befassen, deuten und definieren diese als »optische Kommunikationsmittel mit politischer Signalwirkung und rechtlicher Verbindlichkeit«57 oder als »Zeichen, Symbole und Bilder, die helfen zu integrieren, Identität zu schaffen, dauerhafte Bindungen zu vermitteln und aktives Handeln einzuleiten«.58 Wer im Lichte religionsgeschichtlicher Deutungen den Symbol- und Funktionswert mittelalterlicher Fahnen zu erhellen sucht, fühlt sich bewogen und berechtigt, aus Fahnen »Träger magischer Schutzzeichen« zu machen, die »animistische Kräfte« beinhalten.59 Die christlichen Fahnen erscheinen dann als Umbildungen der römischen, magisch besetzten signa und vexilla. Eine solche Prämisse führt dann zu folgender These: Die römischen Zeichen und Fahnen erhalten im christlichen Religionsbereich »erneut ihren ursprünglichen religiösen ›Fetisch‹-Charakter durch Auffügung des Monogramms Christi, werden also zu einer Repräsentation des Gottessohnes und zugleich zu einer dogmatischen bzw. bekenntnismäßigen Aussage: Christus ist unter die di militares aufgenommen, bzw. er ist der eigentliche Deus militaris, der große Kampfeshelfer, der Herr der Schlachten, wie der alttestamentliche Jahwe. Das Labarum ist ein Bekenntnis zur Göttlichkeit Christi.« 60

Ob es sachlich angemessen ist, den Gebrauch von Fahnen in der Zeit des Mittelalters mit magischem Symbolhandeln gleichzusetzen oder Fahnen generell magische Wirkungen zuzuschreiben, bleibt zu prüfen. 56 57

58 59 60

Ebd., S. 412. Werner m eyer , »Der stier von Ure treib ein grob gesang«. Fahnen und andere Feldzeichen in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft, in: Information, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittelalterlichen Gemeinden, hg. v. Alfred h averkamP, München 1998, S. 201 - 235, hier S. 202. Rainer wohlFeIl , Bauernkrieg: Symbole der Endzeit?, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 20 (2001), S. 53 - 71, hier S. 53. m eyer (wie Anm. 57), S. 234. Kurt goldammer , Die heilige Fahne. Zur Geschichte und Phänomenologie eines religiösen Ur-Objektes, in: Tribus NF 4/5 (1954/1955), S. 35.

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Fahnen wurden im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit gemeinhin als signa oder zeichen benannt – sowohl von Historiographen als auch von Theoretikern, welche die Frage zu beantworten suchten, was denn Zeichen und Bilder eigentlich seien. Bild- und Zeichentheoretiker von damals definierten Zeichen als unabdingbare Hilfsmittel für die menschliche Erkenntnis. Als materieller Signifikant und geistiges Signifikat entspreche das Zeichen der sinnlich geistigen Natur des Menschen. Zeichen galten als »lebendige Schrift« (viva scriptura), die größere Wirkung auf den Betrachter ausübten als abstrakte, aus Buchstaben geformte Sprachzeichen. Gegenüber dem Geschriebenen besitzen sie einen »Mehrwert an Macht« ( plus roboris). Zeichen belehren (docere) und bewegen (movere). Demnach erregen Zeichen Affekte, emotional besetzte Strebungen des Willens – Mut und Vertrauen, Furcht und Schrecken, Liebe und Haß. Was bildhafte Zeichen zu sagen haben, sagen sie nicht stumm, sondern verkünden es lautstark »wie immerwährend tönende Posaunen« (tanquam perpetuae tubae) und prägen es »tief ins innerste Bewußtsein eines jeden Betrachters ein« (et intimis cuiusque sensibus inculcant).61 Zweifelsohne waren Fahnen in konkreten kriegerischen Handlungszusammenhängen wichtige symbolische Kommunikationsmedien. Mitteilen konnten sie aber nur das, was man ihnen zuvor an Bedeutungen und Erwartungen zugeschrieben hatte. Auskunft über solche Bedeutungen und Erwartungen geben Fahnenweihen. Im 11. Jahrhundert haben sich zwei Fahnensegen mit unterschiedlichen Akzentsetzungen herausgebildet.62 Was sie miteinander verbindet, ist die Bitte um Schutz, Hilfe und Sieg. Der eine bringt diese Anliegen folgendermaßen zur Sprache: Gott möge die Fahne, die für einen kriegerischen Zweck hergestellt wurde, mit seinem himmlischen Segen heiligen, damit sie gegen feindliche und aufbegehrende Völker stark sei. Stark war die geweihte Fahne demnach nicht durch eine ihr innewohnende Kraft; stark war sie durch den göttlichen Segen, der auf ihr ruhte. Den Feinden des christlichen Volkes, heißt es in dem Weiheordo weiter, gereiche sie zum Schrecken und denen, die auf Gott vertrauen, sei sie ein schützendes Bollwerk und eine Quelle sicheren Vertrauens in den Sieg. Denen, die auf Gott hoffen, möge Gott die Hilfe seines himmlischen Schutzes gewähren. Der andere Fahnensegen wendet sich an Christus, den Erlöser und Retter aller Menschen. Er wird mit der Bitte bestürmt, daß er die Ohren seiner Milde den demütigen Bitten derer, die zu ihm flehen und ihm vertrauen, nicht verschließe. »Durch die Fürsprache des heiligen Erzengels Michael«, heißt es dann 61

62

Susanne M. schneIder , Bayerisch-römisches Siegeszeichen. Das Programm der Münchner Michaelskirche und seine zeitgenössische Rezeption aus der Perspektive der Einweihungsfestschrift, in: Rom und Bayern. Kunst und Spiritualität der ersten Jesuiten, hg. v. Reinhold baumstark , München 1997, S. 171 - 198, hier S. 173f. erdmann (Wie Anm. 14), S. 331 - 333, hat sie ediert.

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Abb.3: Vision Konstantins am Vorabend der Schlacht um die Milvische Brücke. Aus: Homilien des Gregor von Nazianz, illuminierte byzantinische Handschrift aus dem 9. Jahrhundert (Paris, Bibliothèque Nationale, MS. gr. 510, fol. 440).

weiter, »gewähre uns die Hilfe Deiner Rechten, wie Du Abraham gesegnet hast, als er über die fünf Könige triumphierte, und König David, der zum Lob Deines Namens siegreiche Schlachten schlug«. In gleicher Weise möge er es für würdig erachten, diese Fahne zu segnen und zu weihen, die zum Schutz der Kirche gegen das Wüten ihrer Feinde getragen wird, auf daß die Getreuen und Verteidiger des christlichen Volkes, die in seinem Namen dieser Fahne folgen, sich freuen können, durch die Kraft des heiligen Kreuzes ( per virtutem sanctae crucis) den Triumph und Sieg über ihre Feinde errungen zu haben. Die Sprache des Weiheformulars ist eindeutig: An Fahnen klammerten sich Siegeserwartungen; Fahnen sollten den Schutz Gottes vermitteln und im Kampf gegen feindliche Völker ihre Stärke unter Beweis stellen. Es ist nicht der Fetisch Fahne, der zum Sieg verhilft, sondern die Kraft des Kreuzes Christi. Die beiden Fahnensegen beteuernden Zeichencharakter der geweihten Fahnen.

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Daß diesen durch ihre Weihe eine besondere, selbsttätig wirkende Kraft (virtus) zuwächst, ist den beiden Segensformularen nicht zu entnehmen. Gott möge auch die Fahne selber schützen, damit sie nicht in die Hände der Feinde fällt. Beutefahnen waren Beweise kriegerischen Erfolges. Fahnen verloren zu haben, galt als ehrenrührige Schmach. Dennoch: Ausschließen ließ sich nicht, daß sich im praktischen Umgang mit Fahnen die Grenzen zwischen theologisch korrekter Symbolik und magisch geprägter Pragmatik verwischten. Den Prototyp der siegbringenden Fahne bildete das sogenannte ›Labarum‹, jene Standarte Kaiser Konstantins, welche dieser auf Geheiß Gottes hatte anfertigen lassen (siehe Abb. 3). Mit deren Hilfe suchte sich der römische Monarch der siegbringenden Kraft des Christengottes zu vergewissern, als er im Jahre 312 an der Milvischen Brücke zur Entscheidungsschlacht gegen seinen Widersacher Maxentius antrat. Der Kirchenhistoriker Eusebius berichtet in seiner zwischen 337 und 340 verfaßten ›Vita Constantini‹ eingehend davon.63 Ihre Form verdankt die Kaiserstandarte einer Himmelserscheinung vor Beginn der Schlacht, als der Kaiser inständig zu Gott flehte, er möge ihm zu dem bevorstehenden Kampf seine hi1freiche Rechte reichen. »Während der Kaiser aber so betete und eifrig darum flehte, erschien ihm ein ganz unglaubliches Gotteszeichen«. Am Himmel sah er nämlich mit eigenen Augen »über der Sonne das Siegeszeichen des Kreuzes, aus Licht gebildet, und dabei die Worte geschrieben: ›Durch dieses siege!‹« Diese Vision habe ihn und das ganze Heer, das Zeuge dieser Vision gewesen sei, in großes Staunen versetzt. Unschlüssig und ratlos darüber, was diese Erscheinung bedeute, habe sich ihm in der Nacht während des Schlafes »der Christus Gottes mit dem am Himmel erschienenen Zeichen gezeigt und ihm aufgetragen, das am Himmel geschaute Zeichen nachzubilden und es bei seinen Kämpfen mit den Feinden als Schutzpanier zu gebrauchen«. Der Kaiser tat so. Er beauftragte Künstler, aus Gold und Silber eine mit dem göttlichen Zeichen versehene Fahne herzustellen. Eusebius beschreibt die Fahne folgendermaßen: »Ein langer goldüberzogener Lanzenschaft trug eine Querstange und hatte somit die Gestalt des Kreuzes; am oberen Rand des Ganzen war ein kunstvoll geflochtener Kranz aus Gold und Edelsteinen befestigt, in dem das Zeichen für den Namen des Erlösers angebracht war, zwei Buchstaben, die als Anfangsbuchstaben den Namen Christi bezeichneten, indem das P in der Mitte durch das X gekreuzt wurde.«

An der Querstange hing ein kostbares, mit Edelsteinen und Gold durchwirktes Tuch, ebenso lang wie breit. Wo das Tuch endete, waren am senkrechten Schaft »das goldene Brustbild des gottgeliebten Kaisers und in gleicher Weise das seiner Söhne« angebracht. »Dieses heilbringende Zeichen gebrauchte nun der Kaiser 63

Leben Konstantins I, 28 - 31 (wie Anm. 13), S. 25 - 27.

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stets als Schutzmittel gegen jede Macht, die sich ihm feindlich entgegenstellte, und er befahl, daß das Abbild desselben allen seinen Heeren vorangetragen werde.« Die Erwartungen des Kaisers erfüllten sich. Wo immer auch »dieses Zeichen

erschien, da wandten sich die Gegner zur Flucht, die Sieger dagegen begannen die Verfolgung. Da der Kaiser das bemerkte, ließ er, sobald er irgendwo eine Abteilung seines Heeres in Bedrängnis sah, das heilbringende Siegeszeichen als ein siegverleihendes Rettungsmittel dorthin bringen und auf der Stelle erschien auch zugleich mit ihm der Sieg, da durch göttliche Fügung die Kämpfenden Kraft und Stärke beseelte«.64

Eusebius berichtet von wunderbaren Wirkungen, die von den der Fahne innewohnenden göttlichen Kräften ausgingen. Ein Fahnenträger, der aus feiger Angst floh, wurde von einem tödlichen Wurfgeschoß getroffen. Wer die Fahne unerschrocken trug und emporhielt, den beschützte »das heilbringende Zeichen« und rettete ihm das Leben, »so daß der Träger von den vielen Geschossen, die auf ihn geschleudert wurden, verschont blieb, da der Schaft des Siegeszeichens die Geschosse auffing«. Dem fügte Eusebius hinzu: »Und es war in der Tat ein Wunder, größer als jedes andere; denn die Geschosse der Feinde trafen den Schaft trotz seines so geringen Umfanges, bohrten sich ein, und blieben in ihm stecken, während der Träger vor dem Tode bewahrt wurde, so daß nie einer von denen getroffen wurde, die diesen Dienst versahen.« 65

Als Gewährsmann für die Tatsächlichkeit dieser Erfahrung zitiert Eusebius den Kaiser selber, der ihm von solchen wunderbaren Wirkungen der mit dem Christusmonogramm geschmückten Fahne berichtet habe. Konstantins Kreuzesvision, die den Kaiser bewog, sich dem Schutz einer von christlichen Zeichen geprägten Fahne anzuvertrauen, fand Eingang ins Geschichtsbewußtsein der abendländischen Kirche. In einem Lehrschreiben an die Bulgaren vom Jahre 866 empfahl Papst Nikolaus I. diesen, das signum sanctae crucis als Feldzeichen zu führen. Er tat dies unter Hinweis auf das Beispiel Kaiser Konstantins, auf Moses, der das Meer teilte (Ex 14,16) und Amalech tötete (Ex 17,8-16), auf Gideon, der die Madianiter besiegte (Richter 6-7), auf Christus, der den Teufel entmachtete. In diesen Taten sei die Macht des heiligen Kreuzes offenkundig geworden. Christliche Könige und Fürsten würden deshalb das Zeichen des heiligen Kreuzes als Feldzeichen verwenden. Der Papst erweckt den Anschein, als ob in der abendländischen Welt gemeinhin das Kreuzzeichen als Feldzeichen Verwendung finde.66

64 65 66

Ebd., II, 7, S. 55. Ebd., II, 9, S. 56. Nicolai I. papae epistolae, hg. v. Ernst Perels (MGH Epp. 4) Berlin 1925, S. 257 - 690, Nr. 99, Kap. XXXIII, S. 580.

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Es waren vornehmlich die Bilder von Heiligen, die seit der Jahrtausendwende die Feldzeichen geistlicher und weltlicher Herren zeigten. Von solchen Fahnen wurde erwartet, daß sie die Fürsprache des jeweils dargestellten Heiligen und den siegbringenden Schutz Gottes vermittelten. Als Schlachtenhelfer und Kriegsheilige dargestellt wurden der heilige Benedikt, der heilige Martin, der heilige Georg und die Gottesmutter Maria. König Stephan von Ungarn (um 970–1038), 1083 auf Betreiben Ladislaus’ I. heiliggesprochen, errang »unter der Fahne des von Gott geliebten Bischofs Martin« (sub vexillo Deo dilecti pontificis Martini) einen Sieg über aufbegehrende Stammesfürsten.67 In Byzanz hatte sich bereits im 10. Jahrhundert der Brauch herausgebildet, auf Kriegsfahnen neben Christus, dem Erzengel Michael und dem heiligen Georg auch die Jungfrau und Gottesmutter Maria abzubilden.68 Bischof Walther von Chartres ließ 911, als die Normannen die Bischofsstadt belagerten, die im Besitz der Bischofskirche befindliche Hemdreliquie Marias in modum vexilli an eine Stange heften und diese den anstürmenden Feinden entgegenhalten. Als die normannischen Angreifer auf die Hemdfahne einen Pfeilhagel niedergehen ließen, seien sie auf der Stelle erblindet und von den städtischen Bürgern erschlagen worden.69 Der durch die Hemdreliquie errungene Sieg verbreitete sich über literarische Marienmirakelsammlungen normannischer Herkunft und erlangte durch die ›Legenda aurea‹ des Dominikaners Jakobus von Voragine (Varazze) einen gesamteuropäischen Bekanntheitsgrad.70 Rodulfus Glaber berichtet, Gottfried von Anjou habe bei der Belagerung von Tours im Jahre 1044 vom heiligen Martin Hilfe erfleht und aus diesem Anlaß versprochen, dem Kloster alle Besitzungen zurückzugeben, die er diesem geraubt hatte. Daraufhin habe er von den Kanonikern des heiligen Martin das Siegel des heiligen Martin erhalten, das er an seiner Fahnenlanze befestigte. Es bestehe kein Zweifel, daß Gottfried von Anjou durch die Hilfe des heiligen Martin (beato Martino auxiliante) den Sieg über Theobald und Stephan von Blois, die gegen das Kloster Räubereien begangen hatten, errungen habe.71 Ein vexillum b[eatae] semper virginis Mariae trug Bischof Ademar von Puy im ersten Kreuzzug. Es handelte sich dabei um die Fahne seiner heimischen Kathedralkirche, die der Jungfrau Maria geweiht war.72 Nach der Schlacht von 67 68 69 70 71 72

erdmann (wie Anm. 14), S. 259 und Anm. 45. Ebd., S. 46. Vgl. Gabriela sIgnorI, Maria zwischen Kathedrale, Kloster und Welt. Hagiographische und historiographische Annäherungen an eine hochmittelalterliche Wunderpredigt, Sigmaringen 1995, S. 178 - 182 (»Der legendäre Sieg über die Normannen«). Ebd., S. 179f. Vgl. erdmann (wie Anm. 14) S. 43; Heinrich FIchtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, München 1992, S. 72. Ebd. S. 169, Anm. 14.

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Las Navas de Tolosa am 16. Juli 1212, einem Wendepunkt in der spanischen Reconquista, berichtete König Alfons VIII. von Kastilien (1158–1214) an Papst Innozenz III. folgendes: Mit der Reiterei hätten die Aragonesen angegriffen. Als Feldzeichen hätten sie ein Kruzifix sowie eine Fahne benutzt, auf der Maria und ihr Kind abgebildet waren. Als seine Truppen bemerkt hätten, wie die Sarazenen durch Steine und Pfeile das Kreuzzeichen und das Bild Marias entehren wollten, hätten sie zornentbrannt zu den Waffen gegriffen und die kaum zählbare Menge feindlicher Truppen auseinandergesprengt.73 Die Entschlossenheit, Marias verletzte Ehre zu rächen, stärkte offenkundig den Kampfesmut der kastilischen Truppen. Illustrationen zu den ›Cantigas de Santa Maria‹, einer Dichtung von König Alfons X. (1221–1284) von Kastilien und León, zeigen nicht nur Ritter, die Maria nach ihrem Sieg über die Muslime Dank abstatten; sie bilden auch Ritter ab, die mit einer Marienfahne in die Schlacht ziehen (siehe Abb. 4).74 Die Byzantiner erfuhren Maria als ihre übernatürliche Heerführerin und Schutzfrau. Nach siegreich beendeten Kriegen statteten sie ihr Dank ab. Johannes II. Komnenos (1118–1143) ließ 1133 die Ikone der siegbringenden Maria (›Nicopeia‹) auf einem prunkvoll ausgestatteten Triumphwagen in die Stadt einziehen, um sie als die »unbesiegbare Heerführerin«, der der Kaiser seine Siege verdankte, zu feiern. Auf dem Triumphwagen, mit dem sein Sohn Manuel (1143–1180) 1167 nach seinem Sieg über die Pannonen in die Stadt einzog, stand »die Ikone der Gottesmutter, der unüberwindlichen Mitstreiterin, der unbezwinglichen Generalin an der Seite des Kaisers«.75 Verhalfen Marienbilder zu militärischen Erfolgen, entbehrt es nicht der Folgerichtigkeit, wenn verfeindete christliche Parteien ihre jeweiligen Gegner dadurch zu schwächen suchten, daß sie ihnen ihre siegverbürgenden Heiligtümer wegnahmen, zu denen auch Fahnen und Bilder gehörten. Die Kreuzfahrer 73 74

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Vgl. Klaus schreIner , Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1994, S. 376. Jonathan r Iley-smIth, Illustrierte Geschichte der Kreuzzüge, Frankfurt a. M. / New York 1999, vor S. 49. – Rodrigo Jiménez de Rada (um 1170–1247), Erzbischof von Toledo, bestätigt dies in seiner 1243 abgeschlossenen Chronik ›De rebus Hispaniae‹. Er berichtet da: Erat autem in uexillis regum imago beatae Marie Virginis, que Toletane provinciae et tocius Hispanie semper tutrix extitit et patrona (Historia de rebus Hispanie sive Historia Gothica, hg. v. Juan Fernández valderde (Corpus Christianorum: continuatio mediaeualis 72 = Opera omnia pars I) Turnhout 1987, S. 273. Zum sachlichen Kontext vgl. Klaus herbers, Politik und Heiligenverehrung auf der iberischen Halbinsel. Die Entwicklung des ›politischen Jakobus‹, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. v. Jürgen Petersohn, Sigmaringen 1994, S. 177 - 275, hier S. 258. – Das Banner, unter dem König Ludwig der Große von Ungarn und sein Heer 1377 gegen türkische Hilfsvölker kämpften, trug ebenfalls ein Bild Marias mit ihrem Kind. So sah es jedenfalls der Maler, der die Schlacht 1512 auf der Mitteltafel des kleinen Mariazeller Wunderaltars darstellte (siehe Abb. 5). Vgl. schreIner (wie Anm. 73), S. 368. Hans beltIng, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, S. 571.

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Abb.4: Illustration des Kampfes spanischer Kreuzfahrer (rechts) unter Marienbanner und Kreuz gegen Muslime (links). Aus: Jonathan r Iley-smIth, Illustrierte Geschichte der Kreuzzüge, Frankfurt a.M. / New York, Einlage zwischen S. 48 und 49.

Abb.5: König Ludwig der Große von Ungarn besiegt 1375 mit Marias Hilfe die Türken. Ausschnitt vom kleinen Mariazeller Wunderaltar (1512). Steiermärkisches Landesmuseum Johanneum, Alte Galerie, Graz. Aus: Heilige Kriege, hg. v. Klaus schreIner , München 2008, Bildeinlage nach S. 192

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des vierten Kreuzzugs, die an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert nicht das Heilige Land erreichten, sondern es mit einer gewalttätigen Intervention in Konstantinopel genug sein ließen, bereicherten sich an den geistlichen und künstlerisch wertvollen Kirchenschätzen der Byzantiner. Die Bilder, Reliquienschreine und liturgischen Gerätschaften, welche sich die beutehungrigen Abendländer rücksichtslos aneigneten, waren zum einen materielle Wertgegenstände, zum anderen stellten sie Siegestrophäen dar und sollten als Gegenstände frommer Verehrung himmlischen Segen bringen. Zum Beutegut der aus Venedig und Frankreich gekommenen Eroberer zählte zum einen eine Marienikone, zum anderen das kaiserliche Banner. Das »Bildnis Unserer Lieben Frau« war, wie ein Augenzeuge berichtet, »ganz aus Gold und gänzlich mit wertvollen Edelsteinen besetzt«. Niemand habe zuvor »so etwas Schönes und so Wertvolles jemals gesehen«.76 Robert de Clari, ein französischer Augenzeuge, beschreibt in seiner Chronik des vierten Kreuzzugs die Umstände, welche die Marienikone und das kaiserliche Banner in die Hände der Eroberer gelangen ließen, folgendermaßen: »Mit Gottes Hilfe wurde der Kaiser Murtzuphlos [Alexios V. Dukas Murtzuphlos] besiegt [1204] und wäre beinahe selbst gefangengenommen worden. Er verlor sein kaiserliches Banner und eine Ikone, die er vor sich hertragen ließ, und in die er großes Vertrauen hatte, er und die anderen Griechen. Auf dieser Ikone war Unsere Frau [die Muttergottes] dargestellt.«77

Geoffroy de Villehardouin, gleichfalls ein Augenzeuge der von Siegeswille und Beutehunger diktierten Turbulenzen, schildert die Aneignung des politisch bedeutsamen Marienbildes ausführlicher.78 Er schreibt: Als Graf Henri von Blois in eine Situation Klaus Schreiner geriet, in der er nicht mehr recht wußte, wovon er sich und sein Heer ernähren sollte, machte er sich mit seiner Truppe auf den Weg nach Philae, einer Stadt am Schwarzen Meer. Als das der Kaiser Murtzuphlos erfuhr, »ließ er wohl an die viertausend Bewaffnete die Pferde besteigen und ließ eine Ikone mit sich tragen, ein Bildnis Unserer Lieben Frau, das die Griechen so nennen und das die Kaiser mit sich tragen, wenn sie in die Schlacht ziehen. Und so großes Vertrauen haben sie in diese Ikone, daß sie fest glauben, daß keiner, der sie in die Schlacht trägt, besiegt werden kann; doch weil Murtzuphlos sie nicht zu Recht trug, so glauben wir, wurde er besiegt«. Maria, so wollte der Chronist sagen, hielt es mit denen, die das Recht auf ihrer Seite hatten.

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Chroniken des Vierten Kreuzzugs. Die Augenzeugenberichte von Geoffroy de Villehardouin und Robert de Clari. Ins Neuhochdeutsche übers., eingel. und erl. v. Gerhard E. solbach (Bibliothek der Historischen Forschung 9) Pfaffenweiler 1998, S. 115f. Ebd., S. 71. Vgl. dazu und zum Folgenden ebd., S. 115f.

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Als die Franzosen die zahlenmäßig überlegenen Griechen kommen sahen, überfiel sie Furcht und Schrecken. Sie begannen deshalb, »ungestüm Gott und Unsere Liebe Frau anzurufen«. Gott erhörte ihre Bitten. Keinen der Franzosen warfen die Griechen aus dem Sattel. Die Franzosen erwiesen sich als die Stärkeren. Die Griechen flohen. Die Franzosen jagten hinter ihnen her, töteten viele und machten große Beute. Den Kaiser hetzten sie so sehr, »daß er seine kaiserliche Kopfbedeckung und das Feldzeichen und die Ikone fallen ließ, die ganz aus Gold und gänzlich mit wertvollen Edelsteinen besetzt war«. Von der Schönheit des Bildes fasziniert, gaben die Franzosen die Verfolgungsjagd auf. »Sie nahmen das Bildnis und trugen es mit großer Freude und großem Jubel«. Bei dem kostbaren Beutestück handelte es sich um die in Byzanz hochverehrte »siegbringende Maria«, welche die byzantinischen Kaiser nach militärischen Erfolgen auf einem Triumphwagen in die Stadt zu führen pflegten.79 Als Graf Henri und seine Truppe in die Nähe des Lagers des Heeres gelangten, »gingen die Bischöfe und die Geistlichen, die bei dem Heer waren, ihnen in einer Prozession entgegen. Sie nahmen die Ikone mit großer Freude und großem Jubel in Empfang und man übergab sie dem Bischof von Troyes. Der Bischof trug sie zum Lager des Heeres und in eine Kirche, in die sie gingen. Und der Bischof sang feierlich und erwies darüber große Freude. Bereits am Tag, nachdem sie gewonnen worden war, entschieden alle Barone, daß sie an Cîteaux gegeben werden sollte und später wurde sie dorthin gebracht«.80 Gleichwohl: Die Sache mit dem Bild und dem Banner hatte ein Nachspiel, das auf seine Weise deutlich zu erkennen gibt, wie heilige Zeichen zu einem konfliktträchtigen Politikum werden konnten. Als nämlich Kaiser Murtzuphlos nach Byzanz zurückkehrte, ließ er die Kunde verbreiten, daß er die Franzosen besiegt habe. Einige Griechen aber fragten nach: »Wo sind die Ikone und das Feldzeichen?« Als die Franzosen erfuhren, daß ihnen der byzantinische Kaiser Ungemach zugefügt hatte, rüsteten sie eine Galeere aus, auf deren Mast sie die Ikone und das Feldzeichen zogen. »Dann fuhren sie die Galeere mitsamt der Ikone und dem Feldzeichen von einem Ende der Stadtmauer bis zum anderen, so daß diejenigen auf der Mauer und viele andere Leute der Stadt sie sahen und genau erkannten, daß es die Ikone und das Feldzeichen des Kaisers waren«. Als dies die Griechen sahen, tadelten und schmähten sie ihren Herrscher, »daß er das Feldzeichen des Kaiserreiches und die Ikone verloren hatte«. Der Kaiser suchte nach Ausreden. Er beteuerte: »Nun seid nicht besorgt, ich werde sie sehr teuer dafür bezahlen lassen und werde mich sehr an ihnen rächen«. Bei diesen Worten blieb es. Die Marienikone, die – gleich dem kaiserlichen Feldzeichen

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beltIng (wie Anm. 75), S. 220, 228, 571. Belting (ebd., S. 220 und 228) bemüht sich um den Nachweis, daß die damals von den Griechen erbeutete »sieghafte Maria« nach Venedig gelangte.

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– den Rang und Wert eines Staatsheiligtums besaß, kehrte nie mehr nach Konstantinopel zurück. Die Ordenshauptfahne, der die Deutschordensritter bei ihren kriegerischen Unternehmungen folgten, trug gleichfalls das Bild der gekrönten Himmelskönigin. Sich im Kampf vom Bildnis Marias abzuwenden und zu fliehen, galt als schweres Vergehen, das nach den geltenden Ordenssatzungen durch schwere Kerkerhaft gesühnt werden mußte. Wer für Maria kämpfte, sollte auch bereit sein, für sie zu sterben. Als Marienritter waren die Brüder des Deutschen Ordens der Überzeugung, daß unser vrowen bilde auf ihrer Fahne ihnen helfe, im Kampf gegen die Ungläubigen Sieger zu bleiben.81 Als im März 1454 Truppen der Stadt Florenz sienesisches Gebiet angriffen, ging Siena ein Defensivbündnis mit Venedig und König Alfons V. von Aragon und Neapel ein. Der Rat der Stadt inszenierte ein Freudenfest, um das Bündnis gebührend zu feiern. Auf dem Paliowagen ließ er, wie Giovanni Bisdomini in seiner Chronik berichtet, eine weiße Fahne anbringen, »auf der die ruhmreiche Jungfrau Maria mit geöffneten Armen und mit drei Wappen, denjenigen des Königs, der Venezianer und der Sienesen« dargestellt war.82 König Maximilian erteilte 1487 den Bürgern von Ob- und Nidwalden in einem Bannerbrief das Recht, das Crucifix Cristy des »herren och Maria und Johannis in ir paner, so sy bsunder haben, verzeichnot füren mögen«.83 Die Eroberer Lateinamerikas bedienten sich gleichfalls des Mariensymbols. »Der spanische Eroberer Diego de Almagro (1475–1538) ließ eine Marienfigur auf seine Fahne malen und Pedro de Valdivia (ca. 1497–1553) eroberte Chile mit einer Marien-Statue auf seinem Sattelbogen«.84 Im Feldlager von Pavia erbaten sich Basler Heerführer für die von Kardinal Matthäus Schiner in Aussicht gestellte Wappenverbesserung »neben einem goldenen Baselstab auch ein Eckquartier mit der Verkündigung an Maria«. Sie begründeten dies mit dem Hinweis, daß deren [Marias] lob in dem heiligen concilio in unser stat sunderlich usgebreitet ist. Worum sie baten, erhielten sie auch.85 Das Schiff der katholischen Liga, das unter Don Juan d’Austria am 7. Oktober 1571 bei Lepanto gegen die türkische Flotte kämpfte

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Vgl. schreIner (wie Anm. 73), S. 390. Zitiert nach Kerstin beIer , Maria Patrona. Rituelle Praktiken als Mittel stadtbürgerlicher Krisen- und Konfliktbewältigung, Siena 1447–1456, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus schreIner , München 2002, S. 97 - 124, hier S. 107f. m eyer (wie Anm. 57), S. 225. Louis carlen, Maria im Recht, Freiburg (Schweiz) 1997, S. 89. Stefan hess, Totgesagte leben länger. Basels Abnabelung von seiner mittelalterlichen Stadtpatronin, in: Basilea. Ein Beispiel städtischer Repräsentation in weiblicher Gestalt, hg. v. ders. / Tomas l ochmann, Basel 2001, S. 48 und Abb.41 (S. 49).

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(siehe Abb. 6), führte eine Standarte mit, die die Aufschrift trug: Sancta Maria succure miseris (»Heilige Maria, komm den Bedrängten zu Hilfe«).86 Auch Bruderschaften, die sich der besonderen Verehrung Marias verschrieben hatten, bildeten die Gottesmutter auf ihren Fahnen ab. In Rom zeigte eine seit 1267 bei S. Maria Maggiore angesiedelte Bruderschaft der Schutzmantelmadonna auf ihrer Fahne die Gestalt Marias. Maria wurde auf der Fahne als Schutzfrau dargestellt, welche die Mitglieder (sodales) der Bruderschaft unter ihren Mantel ( pallium) nimmt. Laudenbrüder in Bologna bekannten in ihren Statuten, sich unter der Fahne oder dem Mantel Marias zusammengeschlossen zu haben. »Die Mantelfigur auf der Fahne und die Fahne mit dem Mantelbild sind hier in eins gesetzt: Wie sich die Brüder im Bild unter dem Mantel [Marias] sahen, so versammelten sie sich bei Prozessionen unter dem Fahnenbild«.87 In Straßburg bewährte sich die Marienfahne als dauerhaftes Symbol öffentlicher Selbstdarstellung.88 Als solches veranschaulichte die Marienfahne die politische Unabhängigkeit der Stadt und erinnerte an kriegerische Erfolge der Bürgerschaft. Seit dem 13. Jahrhundert trug das Banner der Stadt Straßburg das Bild der Gottesmutter. Es zeigt eine thronende Maria, die ihre schützenden Arme weit ausstreckt. Auf ihrem Schoß sitzt das Jesuskind, das eine Lilie in seinen Händen hält. Maria mit ausgestreckten Armen darzustellen, ging auf ein byzantinisches Vorbild zurück. Mit einer Höhe von fast viereinhalb Metern und einer Breite von vier Metern erreichte das große Banner der Stadt Straßburg ungewöhnliche Ausmaße. Am Querbalken eines auf einem Fahnenwagen befestigten Mastes wurde es aufgehängt und in die Schlacht geführt. Der Fahnenwagen begleitete auch Triumphzüge, wenn es darum ging, die militärischen Erfolge der Straßburger Bürger festlich zu begehen. Der Straßburger Franziskanermönch Thomas Murner erzählt in seiner ›Germania nova‹ (1501) eine Geschichte, die erklären soll, wie es zu diesem bellicum signum mit dem Bild der jungfräulichen Gottesmutter und ihrem Sohn eigentlich kam. Murner erinnert an Freiheitsprivilegien, die Straßburg Karl dem Großen verdankt. Dessen Erben hätten aber Straßburg als ihr Besitztum beansprucht und die von Karl dem Großen verbrieften Freiheitsrechte der Stadt liquidiert. 86 87 88

Vgl. Remigius bäumer , Türkenkriege, in: Marien-Lexikon, hg. v. ders. / Leo scheFFczyk , St. Ottilien 1994, Bd. 6, S. 481. beltIng (wie Anm. 75), S. 399. Vgl. dazu und zum Folgenden: Hans r eInhardt, La grand bannière de Strasbourg, in: Archives alsaciennes d’histoire de l’art 15 (1936), S. 7 - 17; Paul m artIn, Die Hoheitszeichen der freien Stadt Strassburg 1200–1681, in: Städtische Museen Strassburg, Strassburg 1941, S. 51 - 76; schreIner (wie Anm. 73) S. 350 - 354; ders., Maria Patrona. La sainte vierge comme ligure symbolique des villes, territoires et nations à la fin du moyen âge et au début des temps modernes, in: Identité régionale et conscience nationale en France et en Allemagne du moyen âge a l’époque moderne, hg. v. Rainer babel / Jean-Marie moeglIn, Sigmaringen 1997, S. 138 - 141.

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Abb.6: Marienemblemen aus dem 1726 in Minden gedruckten »Gnaden-Gebaeu der ubergebenedeyten Mutter Gottes / und allzeit Jungfrauen Marien«, S. 48 und G 4. Bayrische Staatsbibliothek München. Im Beitext wird Maria gerühmt als »Maria de Victoria« (Maria vom Siege), die in die Seeschlacht von Lepanto (1571) eingreift, indem sie Blitze gegen die türkische Flotte schleudert. Aus: Heilige Kriege, hg. v. Klaus schreIner , München 2008, S. 163.

Krieg sei ausgebrochen, weil sich die Straßburger Bürger ihre Freiheit nicht nehmen ließen, sondern sich gegen das unrechtmäßige Vorgehen von Kaiser Karls Erben zur Wehr setzten. Die Übermacht der feindlichen Truppen sei jedoch so groß gewesen, daß sich die Bürger der Stadt außerstande sahen, ihre Widersacher allein mit menschlichen Mitteln zu besiegen. Als die beiden kriegführenden Parteien, berichtet Murner weiter, »aufs härteste aneinandergerieten, sah man die mitleidige Gottesmutter in ungeheurer Größe mit weit ausgestreckten Armen dastehen, um ihre Stadt und ihr Volk zu schützen, und da die Straßburger wegen der gewaltigen Größe der Jungfrau nicht gesehen werden konnten, so warfen sie die Feinde unter dem Schutz dieser Mauer in blutigster Niederlage zu Boden und erlangten durch den Arm der glorreichen Jungfrau ihre Freiheit wieder.«

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Mit Maria hätten sie dann auch ihr Stadtbanner geschmückt. Sie hätten Maria in der Haltung auf ihrem Banner abgebildet, in der diese den Straßburger Bürgern erschienen war, um sie in einer militärischen Notlage gegen ihre Feinde zu verteidigen. Dies hätten sie in dem Vertrauen getan ( fiduciam habentes), daß sie künftig durch dieses Zeichen (hoc signo) von jedweden Übeln verschont bleiben. Bis ins ausgehende 17. Jahrhundert trug die strossburger strit fan das Bild Marias, der keyserin der fromen – ob aus Traditionalismus, der an bürgerlichen Kriegsruhm erinnerte, oder auf Grund eines immer noch bestehenden Vertrauensverhältnisses zu der im Himmel thronenden Maria, ist schwer zu sagen; hatten doch die reformatorischen Neuerer, die den Marienkult im Straßburger Münster abgeschafft hatten, mit Maria, insbesondere mit ihrer Rolle als Schlachtenhelferin, nichts mehr im Sinn. In katholisch gebliebenen Städten hingegen konnte Vertrauen in den Schutz und Schirm Marias immer noch im Bild eines marianischen Fahnenemblems ausgedrückt werden. Als die Stadt Basel im Rahmen einer vom Basler Weihbischof zelebrierten Messe ihren Sieg über Karl den Kühnen in der Schlacht von Grandson feierte, wurden, nachdem der Klerus das Te Deum und die Antiphon ›Sub tuam protectionem confugimus‹ gesungen hatte, die vierundzwanzig erbeuteten burgundischen Banner der Gottesmutter Maria als Weihegaben dargebracht.89 Eine besondere Form der kriegerischen Instrumentalisierung von Heiligenfahnen bildete der Fahnenwagen, der ›Carroccio‹, wie er in Italien, seinem Ursprungsland, genannt wurde. Nördlich der Alpen hieß er ›standart‹, ›karrosch‹ oder plaustrum vexilli. In ober- und mittelitalienischen Städten begegnet er seit der Mitte des 11. Jahrhunderts.90 In rheinischen Bischofsstädten ist er seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nachweisbar.91 Seine Unverwechselbarkeit verdankt der Carroccio der Fahne mit dem Bild des jeweiligen Stadtheiligen. Mitunter war der städtische Fahnenwagen auch mit einer Kreuzfahne und anderen religiösen und herrschaftlichen Symbolen ausgestattet. Das symbolisch vermittelte Bekenntnis zum Stadtheiligen, dem Träger der städtischen Freiheits- und Herrschaftsrechte, vermittelte ein Gefühl der Zu- und Zusammengehörigkeit. In der Verehrung des Stadtheiligen konstituierte sich die bürgerliche Kommune als Kultgemeinschaft, die durch religiöse Symbole und religiöses Handeln die Wohlfahrt ihrer Stadt sichern wollte. Die mit dem Bild des heiligen Kilian ge89 90 91

Vgl. sIgnorI (wie Anm. 11). Vgl. Hannelore zug tuccI, Il caroccio nella vita communale italiana, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 65 (1985), S. 1 - 104. Vgl. dazu und zum Folgenden Ernst voltmer , Fahnenwagen in der Schlacht bei Worringen, in: Der Name der Freiheit 1288–1988. Aspekte der Kölner Geschichte von Worringen bis heute, hg. v. Werner schäFke , Köln 1988, S. 299 - 312; ders., Leben im Schutz der Heiligen. Die mittelalterliche Stadt als Kult- und Kampfgemeinschaft, in: Die Okzidentale Stadt nach Max Weber. Zum Problem der Zugehörigkeit in Antike und Mittelalter, hg. v. Christian m eIer , München 1994, S. 213 - 242, hier S. 240 - 242.

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schmückte Hauptfahne, die das carracistum des Würzburger Bischofs und der Stadt Würzburg auszeichnete, soll Schreiner bewirkt haben, daß der Bischof und die Stadt im Jahre 1266, als sie bei Kitzingen gegen den Grafen von Henneberg kämpften, aus der Schlacht als Sieger hervorgingen. In der Schlacht bei Worringen im Jahre 1288 fiel der Fahnenwagen des Kölner Erzbischofs Siegfried in die Hände der Kölner Bürgerschaft. Es ist anzunehmen, daß die auf dem Fahnenwagen befestigte Hauptfahne des Kölner Kirchenfürsten dessen Hoheitszeichen trug: ein schwarzes Kreuz auf weißem Grund. Der Mainzer Karrosch fuhr im Jahre 1298 in der Schlacht bei Göllheim mit der Fahne des Stadtheiligen Martin auf. Der Mainzer Erzbischof gehörte damals zur Partei der Kurfürsten, die sich gemeinsam mit König Albrecht gegen Adolf von Nassau verbündet hatte. Eine besondere Form des Fahnenkults pflegten Frankreichs Könige seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts.92 Den Anlaß hierzu gaben Auseinandersetzungen um die Normandie, die England und Frankreich militärisch zu lösen gedachten. Dies bewog Kaiser Heinrich V., sich an der Seite König Heinrichs I. von England, seines Schwiegervaters, in den Konflikt einzumischen. Dem französischen Königtum drohte ein Zweifrontenkrieg. Der englische König rückte mit einer starken Heeresmacht gegen die Île-de-France vor. Der deutsche Kaiser erreichte mit seinen Streitkräften im August 1124 Reims. In dieser ausnehmend bedrohlichen Situation machte sich der französische König Ludwig VI. auf den Weg nach St. Denis, um dort, dem Brauch und Beispiel seiner Vorgänger (mos antecesssorum) folgend, den Schutz des heiligen Dionysius, seines besonderen Patrons (specialis patronus), zu erflehen. Suger von St. Denis, des Königs Freund und Berater, berichtet in seiner ›Vita Ludovici Grossi‹ eingehend darüber.93 Für den Schutz des französischen Königreiches ( pro defensione regni) habe er aus frommem Eifer und in hingebungsvoller Liebe die Reliquien seiner himmlischen Schutzpatrone, der heiligen Dionysius, Rusticus und Eleutherius, auf den Altar erheben lassen.94 Suger von St. Denis betont ausdrücklich: In dieser Krisensituation habe Ludwig VI. erkannt, daß der heilige Dionysius nach Gott der wahre Beschützer Frankreichs sei. Mit Gebeten und Geschenken habe deshalb der König den Heiligen beschworen, sein Reich zu schützen, seine Person unversehrt zu bewahren und den Feinden in gewohnter Weise (more solito) zu widerstehen. Nach der Erhebung der Reliquien nahm der König das Banner 92 93 94

Vgl. dazu und zum Folgenden Ursula swInarskI, Herrschen mit den Heiligen. Kirchenbesuch, Pilgerfahrten und Heiligenverehrung früh- und hochmittelalterlicher Herrscher (ca. 500–1200), Bern u. a. 1994, S. 297 - 304. Vita Ludovici VI Grossi Sive Crassi Regis Francorum [Sugerus Parisiensis], hg. u. übers. v. Henri waquet, Paris 21964, 28, S. 218 - 228, hier insbesondere S. 220 und 228. So in einer nach dem 3. August 1124 für die Abtei St. Denis ausgestellten Schenkungsurkunde. Vgl. Monuments historiques. Cartons des rois, Louis VI, Nr. 391, S. 217.

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der Grafschaft Vexin vom Altar. Indem er dies tat, gab er sich als Lehnsmann des Klosters zu erkennen, das die Lehnsherrschaft über das Vexin ausübte.95 Wenn Suger berichtet, wie ein Lehnsherr habe der heilige Dionysius dem französischen König die Fahne ausgehändigt, scheint er andeuten und ausdrücken zu wollen, daß Frankreichs Könige ihre Königsherrschaft vom heiligen Dionysius zu Lehen haben.96 Ausgerüstet mit der Fahne des heiligen Dionysius suchte Ludwig VI. die Entscheidungsschlacht mit Heinrich V. Das große Aufgebot an geistlichen und weltlichen Herren, das Ludwig VI. gegen den deutschen Kaiser hatte mobilisieren können, bewog diesen zur Umkehr. Der Abzug der kaiserlichen Truppen wurde in Frankreich wie ein Sieg auf dem Schlachtfeld gefeiert. Er galt als Erweis der Macht ( potencia) und des Ruhmes (gloria) der »Francia«. Das Beispiel Ludwigs VI. wirkte traditionsbildend. Bis zum Jahre 1465 pflegten Frankreichs Könige vor ihren Kriegszügen in einer feierlichen Zeremonie das enseigne oder gonfanon de St. Denis vom Hauptaltar der Abtei zu nehmen. Gleich Ludwig VI. waren auch sie darauf bedacht, sich der Sieg- und Schlachtenhilfe des heiligen Dionysius zu vergewissern, indem sie mit seinem Banner in den Krieg zogen. Dieses vertrauten sie einem ihrer ritterlichen Gefolgsleute an, der es, wenn es zur Schlacht kam, entfalten und dem Heer voraustragen sollte. Üppig blühende Legendenbildung gab der Fahne eine Geschichte und verwandelte sie in ein Symbol des französischen Königtums. Chlodwig, der erste König der Franken, soll sie bei seiner Taufe von Gott (divinitus) erhalten haben. Andere behaupteten, Karl der Große habe sie aus den Händen Christi empfangen. Seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert wurde die Dionysiusfahne mit der sogenannten ›Oriflamme‹ gleichgesetzt, von der die ›Chansons de geste‹ überlieferten, Karl der Große habe sie seinem Heer im Kampf gegen die ungläubigen spanischen Sarazenen voraustragen lassen. Die ›Oriflamme‹ wurde zum Kristallisationskern von Traditionen, welche die Kapetinger auf Karl den Großen zurückführten und dessen Verbindung zum heiligen Dionysius zu einem Legitimationsgrund ihres Herrschertums machten.97

95 96 97

Vgl. dazu Robert barroux , L’abbé Suger et la vassalité du Vexin en 1224, in: Le moyen âge 64 (1958), S. 1 - 26. Vgl. dazu Joachim ehlers, Kontinuität und Tradition als Grundlage mittelalterlicher Nationsbildung in Frankreich, in: Beiträge zur Bildung der französischen Nation im Früh- und Hochmittelalter, hg. v. Helmut beumann, Sigmaringen 1983, S. 24 - 26. Vgl. dazu Percy Ernst schramm, Der König von Frankreich. Das Wesen der Monarchie vom 9. zum 16. Jahrhundert, Bd. 1, Darmstadt ²1960, S. 139f.; Philippe contamIne , L’oriflamme de Saint-Denis aux XIVe et XVe siècles, Nancy 1975; Bernd schneId müller , Oriflamme, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 3 (1984), Sp. 1302 - 1305.

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3. Heiligenreliquien als Unterpfänder des Sieges Zu den Medien, die helfen, schützen und zum Sieg verhelfen sollten, gehörten auch die Gebeine und materiellen Hinterlassenschaften von Heiligen. Weil diese, wie gemeinhin geglaubt wurde, in ihren irdischen Überresten noch immer gegenwärtig waren, wurde eben diesen Hinterlassenschaften eine besondere Kraft (virtus) zugeschrieben. Die Heiligenreliquien zugeschriebene Fähigkeit zu wunderbaren Krafttaten machte sie zu vielbegehrten Helfern. Die Hinterlassenschaft Jesu bestand aus Worten und Taten. Die Evangelisten haben sie aufgeschrieben; die Urgemeinde hat sich an sie erinnert und glaubte an sie. Mit der eschatologisch geprägten Religiosität der ersten Christen war es schlechterdings unvereinbar, Reliquien von Jesu Leben und Sterben zu sammeln. Das Mittelalter hingegen kannte eine Fülle von Jesusreliquien – insbesondere solche, die mit Jesu Passion zu tun hatten: die Dornenkrone, das Rohr und den Purpurmantel der Verspottung, das Schweißtuch der Veronika, die Lanze des Longinus, die als heilige Lanze seit Anfang des 10. Jahrhunderts zu den Reichsinsignien gehörte, das Kreuz und die Nägel, mit denen Christus an dem Kreuz befestigt war. Dinglich ausgerichtete Frömmigkeit bedurfte heilsmächtiger Gegenstände. Politische Bedeutung gewannen früh Partikel vom Kreuz Christi. In Byzanz, das sich im Besitz des von Kaiserin Helena gefundenen Kreuzes glaubte, dienten bereits seit dem späten 6. Jahrhundert Reliquien vom wahren Kreuz Christi als Unterpfänder und Garanten kriegerischer Erfolge. Um den erhöhten Christus als himmlischen Kriegshelfer in die Pflicht zu nehmen, wurde eine Partikel seines Kreuzes an einer goldenen Lanze befestigt und gleichsam als Standarte dem Heer vorausgetragen. Begleitet wurden byzantinische Herrscher, wenn sie in die Schlacht zogen, von einer kreuzförmigen Staurothek, in der eine Reliquie vom wahren Kreuzesholz aufbewahrt wurde. Kreuzreliquien vermittelten die Nähe und Gegenwart Christi, die Feldzüge zu einem siegreichen Ende bringen sollten.98 Im Abendland half man sich mangels authentischer Kreuzreliquien mit den Überresten von Heiligen. Walahfrid Strabo (808/809–849) berichtet: Die Könige der Franken würden, wenn sie in den Krieg ziehen, ob adiutorium victoriae, d.h. als Hilfe und Unterpfand für den Sieg, die cappa, den Mantel des hl. Martin, bei sich tragen.99 Das schreibt auch Notker von St. Gallen (um 840–912) in seinen ›Gesta Karoli‹: Zu ihrem Schutz und zur Überwältigung ihrer Feinde (ob sui tuitionem et hostium oppressionem) würden die Frankenkönige die Cappa des hl. 98 99

Vgl. bronIsch (wie Anm. 17) S. 291. Walafridus, De exordiis et incrementis rerum ecclesiasticarum, in: Capitularia regum Francorum, hg. v. Alfred boretIus / Victor k ause (MGH Capit. Reg. Franc. 2) Hannover 1897, S. 473 - 516, cap. 32, S. 515.

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Martinus stets mit in den Krieg nehmen.100 Bereits Bonifatius hatte den Karolingern zugestehen müssen, daß sie einige Geistliche mit ins Feld nehmen durften, denen es oblag, »die Reliquien der Heiligen (sanctorum patrocinia) zu tragen«.101 In Urkunden titulierten die Karolinger den hl. Martin als patronus noster, als ihren patronus peculiaris oder patronus specialis, der das Heil der Dynastie und das allgemeine Wohl des Reiches garantieren sollte.102 Ludwig der Fromme suchte vor seinem Feldzug gegen die Bretonen im Jahre 818 das Grab des hl. Martin auf, um sich dessen Hilfe zu vergewissern. Ein frommer Poet begrüßte ihn dort mit der vielversprechenden Zusage: »Für dich, guter König, wird Martinus, ein starker Held, kämpfen ( pro te pugnabit, rex bone, Martinus atleta fortis).« Von Interesse war der hl. Martin für die Merowinger und Karolinger nicht als vorbildlicher Soldat und Heerführer, sondern als vir Dei, als Mann Gottes, der sich durch rigorose Askese bei Gott die Kraft verdiente, Außergewöhnliches zustande zu bringen. In der Anrufung von Heiligen, die das fränkische Reich schützen und erhalten sollten, zeichnet sich jedoch in den karolingischen Königsurkunden an der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert ein deutlicher Wandel ab. Die Anrufungen des hl. Dionysius nehmen sichtlich zu, diejenigen des hl. Martinus gehen zurück. Sie stellen den hl. Dionysius als »unseren besonderen großen Beschützer« (specialis protector noster magnus) heraus und feiern ihn als »unseren Patron und Herrn« ( patronus ac senior noster). Bedeutungs- und Funktionsverluste auf Reichsebene schlossen jedoch nicht aus, daß Martin in Städten und Regionen angerufen wurde, wenn kriegerische Not am Mann war. Französische Fürsten hefteten das Bild des hl. Martin auf ihre Fahnen, um – unterstützt durch den hl. Martin (beato Martino auxiliante) – ihre Gegner zu überwinden. Bürger von Tours vertrauten auf die schützende Kraft der Martinsreliquien. Davon gibt Bischof Radbod von Utrecht (899–917) in einem eigens geschriebenen ›Libellus de miraculo S. Martini‹ anschauliche Kunde.103 Mit farbenreicher Prägnanz schildert der Utrechter Bischof, wie im 100 Notker der Stammler, Taten Kaiser Karls des Großen, hg. v. Hans h aeFFle (MGH SS rer. Germ. NS 12), Berlin 1959, I, 4, S. 5. 101 Vgl. dazu den auf dem von dem karolingischen Hausmeier Karlmann 742 veranstalteten ›Concilium Germanicum‹ gefaßten Beschluß (Briefe des Bonifatius. Willibalds Leben des Bonifatius nebst einigen zeitgenössischen Dokumenten, neu bearb. v. Reinhold r au (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 4b), Darmstadt 31994, S. 378, Nr. IIa). 102 Vgl. dazu und zum Folgenden Klaus schreIner , Schutzherr, Schlachtenhelfer, Friedensstifter. Die Verehrung Martins von Tours in politischen Kontexten des Mittelalters, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 18 (1999), S. 89 - 110, hier S. 98 - 101. 103 Vgl. Radbodus episcopus Traiectensis, Libellus de miraculis Martini, hg. v. Georg waItz / Wilhelm wattenbach (MGH SS 15,2), Hannover 1888, S. 1239 - 1244,

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Jahre 903, als die Normannen die Stadt überfielen, die Gebeine Martins die Bürger von Tours gegen Untergang und Unterjochung schützten. Als den Bürgern von Tours, schreibt er, zu Ohren kam, daß die Normannen ihre Vorstadt zerstört und die dort ansässigen Bürger getötet hatten, trafen sie Vorkehrungen zur Verteidigung ihrer Stadt. Gegen die Masse der anstürmenden Normannen konnte die Stadt nur wenige Bürger aufbieten, die bereit und in der Lage waren, die Türme und Tore, Mauern und Vorwerke der Stadt zu bewachen. Die Übermacht der Feinde stürzte die Bürger von Tours in große Verzweiflung. In ihrer Bedrängnis kamen sie überein, auf Gottes Hilfe und den Beistand des hl. Martin (in Dei auxilio et sancti Martini interventu) ihre Hoffnung zu setzen. Kleriker und die kleine Schar der zur Verteidigung der Stadt entschlossenen Bürger begaben sich deshalb zum Grab des hl. Martin. Dort riefen sie inmitten seufzender Greise, weinender Knaben und klagender Frauen: Martin, du Heiliger Gottes, warum schläfst du? Warum willst du nicht aufwachen angesichts unserer Not? Wir sind im Begriff, in die Gewalt von Heiden zu gelangen und von ihnen als Gefangene weggeführt zu werden, sofern überhaupt noch einer ihren Schwertstreichen entkommt. Und du nimmst keine Notiz davon. Zeige, wir bitten dich, deine Milde; komm uns zu Hilfe. Der du ehedem viele Wunder für andere vollbracht hast, wirke wenigstens ein Wunder für die Deinen und befreie uns. Sonst werden wir zugrunde gehen und die Stadt wird sich in eine Wüste verwandeln. Der hl. Martin verschloß sich diesen Bittrufen nicht. Er half. Die Bittsteller aus dem Kleriker- und Laienstand hoben den Sarg mit den allerheiligsten leiblichen Überresten Martins aus dem Grab des Heiligen und trugen ihn zum Tor der Stadt, das die Normannen mit Gewalt aufzubrechen drohten. Der Anblick des Heiligen flößte den zum Kampf entschlossenen Bürgern von Tours Mut ein. Das anfängliche Staunen der Normannen wandelte sich in unerträgliche Angst. Sie gerieten völlig außer Fassung und ergriffen die Flucht. Die Bürger von Tours glaubten zu spüren, daß ihnen Christus auf Grund von Martins Bitten gnädig war. Sie verfolgten die fliehenden Feinde. Neunhundert von ihnen erschlugen sie. Solche Kriegstüchtigkeit bestärkte sie in der Überzeugung, daß ihnen Gott die Palme des Sieges verliehen hatte. Den Leichnam des hl. Martin brachten sie in die Kirche zurück. Dem Heiligen sagten sie allergrößten Dank, weil er, wie sie glaubten, ihnen durch seine vortreffliche Fürsprache ( praestantissima interventione) geholfen hatte. Um die Erinnerung an dieses Ereignis wach zu halten, feierte die Stadt Tours seit dem 12. Jahrhundert ein eigenes Fest, das sie als »Fest der Hilfe« (fête de la Subvention) feierlich beging. Heinrich I. erwarb von König Rudolf von Burgund die heilige Lanze. In deren Blatt war ein Nagel vom Kreuz Christi eingelassen. Die heilige Lanze erfüllte eine doppelte Funktion: Sie war Herrschaftszeichen und wundertätige S. 1242.

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Reliquie in einem. Heinrich I. soll sie als »siegbringendes Zeichen« (victoferum si­ gnum) eingeschätzt haben, von dem er erwartete, daß er mit dessen Hilfe allezeit seine Feinde abzuschrecken und in die Flucht zu schlagen vermag.104 In der Schlacht bei Birten unweit von Xanten im Jahre 939 bewies sie zum ersten Mal ihre siegbringende Kraft. Bischof Liudprand von Cremona (ca. 920– 970/972) berichtet darüber in seinem ›Liber antapodoseos‹. Als Otto der Große sich überlegt habe, wie er der Vorhut seines Heeres, von der er sich durch den Rhein getrennt sah und die mit den Truppen seines Bruders Heinrich in Kampf geraten war, helfen könne, habe er sich an das Beispiel des Moses erinnert. Dieser sei nämlich, als die Israeliten gegen die Amalekiter kämpften, den Seinen durch Gebete zu Hilfe gekommen. Der Kaiser sei vom Pferd gestiegen und habe unter Tränen vor den siegbringenden Nägeln (ante victoriferos clavos) gebetet, mit denen Christi Hände ans Kreuz geschlagen und die nunmehr in das Blatt der Lanze, die ihn durchbohrt hatte, eingelassen worden waren.105 Folgt man der Deutung Liudprands, waren es ausschließlich die victoriferi clavi, denen Otto I. in der Schlacht bei Birken seinen Sieg zu verdanken hatte. Die beiden Nägel vom Kreuz des Herrn bildeten nach Ansicht Liudprands das entscheidende Bestimmungsmerkmal der Lanze. In der Schlacht auf dem Lechfeld unterwarf Otto der Große die Lanze mit den Nägeln Christi einer weiteren Bewährungsprobe. Als die Schlacht begann, berichtet Widukind von Corvey († nach 973), habe der Kaiser seinen Schild und die »heilige Lanze« (sacra lancea) ergriffen und sei als erster gegen die Feinde losgestürmt, um seiner Pflicht als tapferster Ritter und bester Feldherr Genüge zu tun.106 Gott habe solches Vertrauen belohnt. Otto siegte, weswegen er befahl, daß in allen Kirchen desReiches Siegesfeiern abgehalten werden sollen, um der »höchsten Gottheit« (summa divinitas) in würdiger Form Lob und Dank zu sagen. Bischof Bernward von Hildesheim griff zur heiligen Lanze, um, als er im Jahre 1001 mit Kaiser Otto III. in Rom weilte, einen Aufstand der Römer niederzuwerfen. Der Hildesheimer Priester und Klosterdekan Thangmar (ca. 940/950–1003/1013/1027), sein Biograph, berichtet darüber folgendes: Die Insassen der kaiserlichen Pfalz »ließen sich von Bischof Bernward heilsam unterweisen, reinigten sich durch die Beichte und stärkten sich während der Feier der heiligen Messe mit der heiligen Wegzehrung. So rüsteten sie sich zum Ausfall und tapferen Angriff auf die Feinde. 104 Liudprandi antapodoseos. Die Werke Liudprands von Cremona, hg. v. Joseph becker (MGH SS rer. Germ. in us. schol. 41), Hannover ³1915, IV, 25, S. 119. 105 Ebd., IV, 24, S. 117. Vgl. dazu Gerd a lthoFF, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, S. 78. 106 Widukindi monachi Corbeiensis Rerum gestarum Saxonicarum libri III, hg. v. Paul h Irsch / Hans Eberhard l ohmann (MGH SS rer. Germ. in us. schol. 60), Hannover 5 1935, III, 46, S. 127f.

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Bischof Bernward ergriff die heilige Lanze, bezeichnete sich und alle andern mit dem schützenden Zeichen des lebenspendenden Kreuzes und erteilte feierlich den Segen. Während er den andern Mut und Kraft zusprach, rüstete er sich selber, um als Bannerträger mit der heiligen Lanze an der Spitze der Streitmacht auszubrechen. Am nächsten Morgen stärkte der ehrwürdige Bischof Bernward nach dem feierlichen Gottesdienst den Kaiser und seine Leute mit den himmlischen Sakramenten und mit frommen Ermahnungen. Dann zogen sie hinaus zum Kampf, in vorderster Reihe der Bischof selbst. Schreckenerregend funkelte die heilige Lanze in seiner Hand, in seinem Herzen aber erflehte er inständig den Frieden vom Urheber des Friedens. Und wirklich: Auf das Gebet seines frommen Dieners war bald Christus, der Friedensfürst, selber zugegen […]. Durch seine Gnade also wurde aller Kampf und Streit beigelegt. Die Feinde baten um Frieden, legten die Waffen nieder.«107

Folgt man den Angaben, die Landulf in seiner ›Historia Mediolanensis‹ über den Aufstand der Sachsen gegen Heinrich IV. im Jahre 1075 macht, hat Heinrich IV. damals auf die heilige Lanze zurückgegriffen, um sich deren Hilfe gegen die widerborstigen Sachsen zu vergewissern. Ein Kaplan namens Theobald habe das als Romani imperii stabilimentum eingeschätzte Heiltum bewacht.108 Ob in der Entscheidungsschlacht bei Homburg an der Unstrut die heilige Lanze den kämpfenden Truppen gezeigt und voraus getragen wurde, ist dem Bericht Landulfs nicht zu entnehmen. In den Schlachten bei Pleichfeld im Jahre 1086 und vor Gleichen in Thüringen 1089 versagte die »heilige Lanze des Kaisers« (sacram imperatoris lanceam) ihre Hilfe.109 In beiden Schlachten konnte sich Heinrich IV. nicht als Sieger behaupten. Insofern bestand auch kein Anlaß, die heilige Lanze als siegvermittelndes Heils- und Herrschaftszeichen zu rühmen. Entsprechend karg sind die Notizen, die in zeitgenössischen Chroniken und Annalen zu finden sind. »Dort [vor Gleichen in Thüringen] wurde Bischof Burchard von Lausanne getötet, der an dem Tag die heilige Lanze des Kaisers trug«. Mehr weiß Ekkehard über die Bedeutung der Schlacht vor Gleichen nicht zu berichten.110 Niederlagen schwächten das Vertrauen in die siegbringende Kraft der 107 Thangmar, Vita Bernwardi, cap. 24, in: Lebensbeschreibungen einiger Bischöfe des 10.–12. Jahrhunderts, übers. von Hatto k allFelz (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 22), Darmstadt 1973, S. 318f. Zu den Ursachen des Aufstandes vgl. Gerd a lthoFF, Otto III., Darmstadt 1996, S. 174 - 177; Hagen k eller , Die Ottonen, München 2000, S. 84. 108 Landulfi historia Mediolanensis usque ad a. 1085, hg. v. Ludwig Konrad bethmann / Wilhelm wattenbach (MGH SS 8) Hannover 1848, S. 32 - 100, III, 31, S. 98; vgl. Berent schwIneköPer , Christus-Reliquien-Verehrung und Politik. Studien über die Mentalität der Menschen des frühen Mittelalters, insbesondere über die religiöse Haltung und sakrale Stellung der früh- und hochmittelalterlichen deutschen Kaiser und Könige, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 117, 1981, S. 183 - 281, hier S. 230. 109 Adolf hoFmeIster , Die heilige Lanze, ein Abzeichen des alten Reichs, Breslau 1908, S. 27f. und Anm. 2. 110 Ekkehardi chronicon universale ad a. 1089 (MGH SS 6), S. 207.

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heiligen Lanze. Heinrich IV. war denn auch der letzte deutsche Herrscher, der glaubte, mit Hilfe der heiligen Lanze seine Feinde besiegen zu können. Keiner seiner Nachfolger hat sich, wenn er in den Krieg aufbrach, von der heiligen Lanze begleiten lassen.111 Während im Reich das Ansehen und die Bedeutung der heiligen Lanze verblaßte, kam im Heiligen Land im Jahre 1098 unter mysteriösen Umständen eine neue Lanze zum Vorschein.112 Der glückliche Finder, ein lesefähiger Provencale namens Petrus Bartholomäus, der ein einfacher Bauer oder ein entlaufener Klosterschüler gewesen sein soll, war der festen Überzeugung, die »Lanze des Herrn« (lancea Domini) gefunden zu haben. Der spektakuläre Fund löste zwiespältige Reaktionen aus: Jubel und Begeisterung, Skepsis und Kritik. Am 14. Juni 1098 war Petrus Bartholomäus in der Petrus-Kathedrale von Antiochia fündig geworden. Der heilige Apostel Petrus hatte ihm angeblich in einer Vision kundgetan, wo die gesuchte Lanze vergraben sei. Am 28. Juni errangen die Kreuzfahrer einen glänzenden Sieg. Es gelang ihnen nämlich, den Blockadering, den Ataberg Kerboga von Mosul um sie nach ihrer Eroberung von Antiochia gezogen und der so aus erfolgreichen Belagerern gedemütigte Belagerte gemacht hatte, zu durchbrechen. Die Führer der Kreuzfahrer brachten die glückliche Wendung der Dinge, die ihnen den Weg nach Jerusalem freimachte, in einen ursächlichen Zusammenhang mit der Lanze des Herrn. Sie kraft »göttlicher Offenbarung« gefunden zu haben, betrachteten sie als Akt der Barmherzigkeit Gottes. Die heilige Lanze, eine kostbare Perle, in der sich Gottes Zuwendung zu den in Bedrängnis geratenen Kreuzfahrern ausdrücke, habe das Herz aller von neuem belebt; verunsicherte und ängstliche Krieger habe sie ermutigt und bestärkt. Raimund von Aguilers vertrat sogar die Auffassung, daß diejenigen, die sich während des Befreiungskampfes in der Nähe der Lanze befunden hätten, unverwundet geblieben seien. Die Lanze, so stellt er abschließend fest, sei als Geschenk Gottes zu betrachten, das er »zur Ermutigung und zum Sieg seines Volkes« (in confortationem et victoriam sue plebis) gemacht habe. Um den Glauben an die siegbringenden Wirkungen der von ihm gefundenen Lanze zu festigten und zu erhalten, beteuerte Petrus Bartholomäus, Gott habe die Lanze den Kreuzfahrern »gleichsam als Pfand des Sieges« (quasi pignus victorie) überlassen.

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Vgl. dazu schwIneköPer (wie Anm. 108), S. 230f.: »Gelegentlich teilen Berichterstatter aus Unkenntnis oder aus Nachlässigkeit ziemlich konfuse Dinge mit. So behaupteten die Mailänder, in der Schlacht bei Lepanto im Jahre 1176 erobert zu haben scutum impe­ ratoris, vexillum, crucem et lanceam, eine völlig unzutreffende und anscheinend auf einem Zufall beruhende Reihenfolge.« Vgl. dazu und zum Folgenden Wolfgang gIese , Die lancea Domini von Antiochia (1089/99), in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica München, 16.–19. September 1986, Hannover 1988, S. 485 - 504.

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Die Lanze des Herrn gab das Gefühl, von Gott beschützt zu sein; sie ermutigte und bestärkte in der Hoffnung, als Sieger den Kampfplatz zu verlassen. Der errungene Sieg machte aus Erwartungen glückhafte Erfahrungen. Die Lanze erwies sich nicht als selbsttätige Wunderwaffe, sondern als Zeichen, von dem Wirkungen auf die geistig-seelische Verfassung der Kreuzfahrer ausgingen. Eine Feuerprobe, der sich Petrus Bartholomäus am 8. April 1099 unterzog, um die historische Echtheit der Lanze unter Beweis zu stellen, hat er nicht überlebt. Er starb an den Folgen seiner Verbrennungen. Der Tod des Petrus Bartholomäus brachte auch die Lanze des Herrn in Mißkredit. Ihr Ansehen verfiel sichtlich. Sie verschwand aus dem Blickfeld der Frommen. Heinrich II. suchte und fand, als er 1004 gegen den Polenherzog Boleslaw Chrobry ins Feld zog, im Schwert des heiligen Adrian ein Unterpfand des Sieges, das hielt, was es versprach. Die Vita Heinrichs II. berichtet über die Erwartungen, die der Herrscher mit dem Erwerb dieser Reliquie verband, folgendes: »Als sich das Heer vereinigt hatte, lenkte er [Heinrich II.] die Front gegen die bereits genannten Völker [Polen und Böhmen]. Und als er Walbeck erreichte, empfing er das Schwert des heiligen Märtyrers Adrian, das dort seit alters unter den Reliquienschätzen der Abtei verwahrt wird. Mit diesem umgürtet, sagte und betete er aus seinem ganzen Herzen: ›Herr richte meine Feinde, kämpfe gegen meine Widersacher. Ergreife Schild und Waffen und mache dich auf, mir zu helfen [Ps 35,1-2].«113

Das in der Diözese Halberstadt gelegene Chorherrenstift Walbeck war das Hauskloster der Grafen von Walbeck. Als sich dort Heinrich II. dem Schutz und der Hilfe des hl. Adrian, des Walbecker Klosterpatrons, anvertraute und sich dessen Schwert als siegverbürgende Reliquie aushändigen ließ, war Thietmar, der Enkel des Klostergründers und spätere Bischof von Merseburg, Propst des Stiftes. Die Schwertübergabe unterstreicht den religiösen Charakter des gegen den polnischen Herzog unternommenen Feldzuges. Daß Heinrich II. den Krieg gegen Boleslaw Chrobry als heiligen Krieg begriff, ist auch daran abzulesen, daß er sein Heer, als es zur entscheidenden Schlacht kam, dem Schutz der heiligen Märtyrer Laurentius, Georg und Adrian unterstellte. Als er dies tat, sah er, wie die glorreichen Märtyrer Georg, Laurentius und Adrian gemeinsam mit dem Erzengel Michael dem Heer vorauseilten und die Heerspitzen der Feinde in die Flucht schlugen. Der Verfasser der Vita deutete den Vorgang so: »Und wie das Heer des [assyrischen Königs] Sanherib vom Engel des Herrn geschlagen wurde und unterging [2 Kön 19,35], so ist auch die gesamte Menge der Barbaren, ohne daß christliches Blut floß, durch Gottes Kraft zermalmt worden.«114 113 114

Adalberti vita Heinrici II. imperatoris, hg. v. Georg waItz (MGH SS 4), Hannover 1841, S. 792 - 814, S. 793. Ebd.

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Seit den späten zwanziger Jahren des 11. Jahrhunderts waren die deutschen Herrscher im Besitz einer großen Partikel vom wahren Kreuz Christi. Kaiser Romanos III. Argyros soll sie Konrad II. im Jahre 1029 geschenkt haben. Sie gab Anlaß für die Anfertigung des Reichskreuzes. Als Behältnis der kostbaren Reliquie war das Reichskreuz gleichermaßen Heiltum und Herrschaftszeichen. Als solches sollte es, wie andere Kreuzreliquiare auch, Schutz gewähren, indem es die Feinde des Reiches und der Kirche in die Flucht schlägt. Seine diesbezügliche Inschrift lautete: ECCE CRVCEM DOMINI FVGIAT PARS HOSTIS INIQUI. HINC CHVONRADE TIBI CEDANT INIMICI (»Siehe das Kreuz des Herrn. Fliehen soll vor ihm der Anhang des bösen Feindes. Vor dir, Konrad, mögen daher alle Widersacher weichen«).115 Als siegbringende Reliquie bewährte sich die zum Reichsschatz zählende Kreuzpartikel zum ersten Mal im Jahre 1044 bei einem Feldzug Heinrichs III. gegen ungarische Adlige, die Samuel Abbas widerrechtlich zum König erhoben hatten. Als dieser 1042 plündernd in die Ostmark und in Kärnten einfiel, sah sich der Kaiser zur Gegenwehr herausgefordert. Feldzüge, die er 1042 und 1043 unternahm, führten nicht zu dem entscheidenden Erfolg. Anfang Juni 1044 versuchte er es von neuem. Die Annalen von Niederaltaich berichten ausführlich darüber.116 Auf Geheiß Gottes (iussu divinitatis) habe Heinrich III. seinen dritten Feldzug gegen Ungarn unternommen. Als »Zeichen Gottes« deutete der Annalist eine kleine Wolke am Himmel, der ein gewaltiger Wirbelwind folgte, welcher den ungarischen Kriegern die Sicht raubte. Der Kaiser besiegte das Heer des ungarischen Tyrannen bei Menfö unweit von Raab. Die von ihm inszenierte Siegesfeier gestaltete sich zu einem bußfertigen Akt des Dankes gegenüber dem Kreuz Christi. Barfuß und angetan mit einem Bußgewand, das er auf bloßer Haut trug, warf er sich »vor dem lebenstiftenden Holz des heiligen Kreuzes« (ante vitale sancte crucis lignum) nieder. Volk und Adel taten es dem Kaiser gleich und erwiesen dem Kreuzesholz die ihm gebührende Ehre. Am Verhalten des Kaisers ist die hohe Wertschätzung der Kreuzreliquie ablesbar. Unter den Reichsinsignien nahm das Reichskreuz den höchsten Rang ein. Gegenüber dem Reichskreuz verlor die heilige Lanze sichtlich an Bedeutung. Der in Gestalt des Reichskreuzes stets in der Nähe des Herrschers weilende Christus vermochte jederzeit direkt einzugreifen, um den friedlichen und kriegerischen Maßnahmen des Herrschers nach dem Glauben der Zeit zum Erfolg zu verhelfen.«117

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Vgl. Mechthild schulze-dörlamm, Reichskreuz, in: Das Reich der Salier 1024–1125. Katalog zur Ausstellung des Landes Rheinland-Pfalz, Sigmaringen 1992, S. 243 - 246. Annales Altahenses maiores, hg. v. Wilhelm gIesebrecht / Edmund L. B. von oeFele (MGH SS rer. Germ. 4), Hannover 21891, ad annum 1044, S. 35 - 37. Vgl. dazu auch schwIneköPer (wie Anm. 108), S. 230, 272f. schwIneköPer (wie Anm. 108), S. 229.

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Anders, nämlich aus päpstlicher Sicht, deutet den Vorgang Bonizo von Sutri. Folgt man seinem Bericht118, hat sich Heinrich III. vor dem Feldzug mit der Bitte an Papst Benedikt IX. gewandt, ihm im Namen des heiligen Petrus eine Fahne zu überlassen, mit deren Hilfe er das ungarische Reich seiner Botmäßigkeit unterwerfen könne. Der Papst tat so. Durch zwei Gesandte, den Kardinalbischof von Porto und Belinzo, einen römischen Edelmann von der Marmorata, ließ er Heinrich III. die erbetene Fahne überbringen. Den beiden Gesandten hatte der Papst aufgetragen, selber in der Schlacht die Fahnen zu tragen. Wenn dies dem König mißfalle, sollten sie ihm erklären: »Wir haben dir jedenfalls den Sieg gelobt. Sieh zu, daß du ihn nicht dir zuschreibst, sondern den Aposteln«. Bonizo glaubt zu wissen, daß Heinrich III. diese Weisung auch tatsächlich befolgt habe. Einen sichtbaren Beweis dafür bilde die Tatsache, daß Heinrich III. die von ihm erbeutete ungarische Königslanze den beiden päpstlichen Gesandten überlassen habe, um sie nach Rom zum Grab des heiligen Petrus zu bringen.119 Reliquien dienten auch immer dem persönlichen Schutz des einzelnen Kriegers, der, wenn er Reliquien bei sich trug, glauben konnte, gegen tödliche Gefahren geschützt zu sein. Als die Geliebte des Grafen Lantbert von Lüttich erfuhr, daß ihr Liebhaber im Begriff war, in die Schlacht zu ziehen, heftete sie ihm an die Spange seines Hemdes kostbare, in ein weißes Tüchlein eingeschlagene Reliquien, »damit er durch deren Verdienste ( per earum merita) unversehrt die Gefahren des Kampfes überstehe«.120 Solange die Reliquien Schutz gewährten, blieb er unverwundet. Als sich aber in der Hitze des Gefechtes die Reliquien aus ihrer Befestigung lösten, verlor der Graf sofort seine Kraft (virtus). Des Schutzes der von ihm verehrten Heiligen bar, erlitt er schwere Verwundungen, an deren schlimmen Folgen er starb. Solche Erfahrungen geboten Vorsicht gegen drohenden Verlust. Wer sicher gehen wollte, trug Reliquien unter dem Hemd, nähte sie in seine Kleider ein oder versenkte sie in seinem Schwertknauf. Der vergoldete Knauf Durenals, des sagenumwobenen Schwertes Rolands, enthielt folgende Reliquien: den »Zahn des heiligen Petrus und vom Blut des heiligen Basilius, Haare meines Herrn, des heiligen Dionysius«.121 Der Dichter des Rolandsliedes, der das Schwert seines Helden zu einer ungewöhnlichen, von Heiligenreliquien angereicherten Waffe machte, war überdies der Auffassung, daß Karl der Große im Knauf seines

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Bonizonis episcopi Sutrini liber ad amicum, durchges. v. Ernst dümmler (MGH libelli de lite 1) Hannover 1891, S. 568 - 620, S. 583. Vgl. dazu erdmann (wie Anm. 4), S. 43. 119 Ebd., S. 43f. 120 FIchtenau (wie Anm. 71), S. 432. 121 Peter dInzelbacher , Die ›Realpräsenz‹ der Heiligen in ihren Reliquiaren und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen, in: ders. / bauer (wie Anm. 1), S. 115 - 174, hier S. 122.

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Schwertes einen Splitter der heiligen Lanze verwahrte.122 Reliquien, die in kriegerischen Konflikten bis ins ausgehende 11. Jahrhundert wunderbar geholfen hatten, wurden zum Gegenstand frommer Phantasie. Mit Reliquien hatte sich noch Herzog Wilhelm 1066 in der Schlacht bei Hastings bewehrt. Er trug die heiligen Überreste um den Hals und in seinem Fingerring. Reliquien befanden sich überdies in seiner geistlichen Ausrüstung, dem Tragaltar, der es ermöglichte, vor Beginn der Schlacht eine Messe zu lesen.123 Es ist kaum denk- und vorstellbar, daß hundert Jahre später Friedrich Barbarossa auf den Gedanken gekommen wäre, aus Reliquien Schutzmittel für seine persönliche Sicherheit und Bürgschaften für den Erfolg seiner militärischen Unternehmungen zu machen. Un- und außergewöhnlich, fast schon anachronistisch mutet es an, als sich im Jahre 1141 die Truppen Bischof Alberos II. von Lüttich weigerten, ohne Beistand des heiligen Lambert, des Schutzpatrons der Diözese Lüttich, ihren militärischen Auftrag zu erfüllen.124 Der Heilige sollte ihnen helfen, die langwierige Belagerung der Burg Bouillon zu einem guten Ende zu bringen. Graf Rainald von Bar hatte sich der Burg, die seit 1096 im Besitz der Bischöfe von Lüttich war, gewaltsam bemächtigt. Die auf einem Bergsporn am linken Ufer der Semois gelegene Burg galt gemeinhin als uneinnehmbar. Die mutlos gewordenen Soldaten des Lütticher Bischofs verlangten nicht nur eine Verstärkung der kämpfenden Truppe; sie forderten überdies, daß die Reliquien des Diözesanpatrons, des von ihnen hochgeschätzten und verehrten Helfers, zu ihnen gebracht würden. Bischof Albero zögerte, den Wunsch seiner Soldaten zu erfüllen. Der Klerus der Stadt lehnte es ab, die kostbaren Reliquien ihres Schutzpatrons den risikoreichen Wechselfällen eines Feldzuges auszusetzen. Daraufhin erklärten die Soldaten, keinen Schritt voranzurücken, wenn ihnen nicht der hl. Märtyrer vorausgehe. Die Entschlossenheit des bischöflichen Militärs verfehlte nicht ihre Wirkung. Bischof und Klerus gaben nach. Sie holten den Körper des Heiligen aus der Krypta der Bischofskirche. Eine Prozession, der ein Splitter vom wahren Kreuz Christi als Siegeszeichen (signum victoriae) vorangetragen wurde, brachte die Reliquien des heiligen Lambert an den »Ort der Belagerung«. Der in seinen Reliquien anwesende Heilige brachte zustande, was die Truppen des Bischofs von ihm erwartet hatten. Die durch die Ankunft des Heiligen entmutigte Besatzung der Burg gab innerhalb weniger Tage ihren Widerstand auf. Zeitgenössische Beobachter deuteten und feierten den Sieg als »Triumph des 122 Vgl. Rudolf berlIner , Arma Christi, in: ders., ›The Freedom of Medieval Art‹ und andere Studien zum christlichen Bild, hg. v. Robert suckale, Berlin 2003, S. 97 - 191, hier S. 104. 123 Vgl. dInzelbacher (wie Anm. 121), S. 122. 124 Vgl. dazu Claude gaIer , Le rôle militaire des reliques et de l’étendard de saint Lambert la principauté de Liège, in: Le Moyen Âge 72 (1966), S. 235 - 249, hier S. 236 - 238.

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heiligen Lambertus über die Burg Bouillon« (Triumphus sancti Lamberti de castro Bulloni). Nicht durch menschliche Anstrengungen, sondern durch die Verdienste des heiligen Lambert (meritis sancti Lamberti, non viribus) sei binnen weniger Tage die Belagerung der Burg geglückt. Der Fortsetzer des Sigebert von Gembloux (um 1028/1029–1112) meinte: »Mit Gottes und des heiligen Lambert Hilfe« (cum Dei et sancti Lamberti auxilio) sei die Burg innerhalb weniger Tage eingenommen worden.125 Vergleichbare Beispiele finden sich auch noch im 13. und 14. Jahrhundert – allerdings nicht in Kriegen, die vom Reich geführt wurden. In Reichskriegen dieser Zeit spielt weder die heilige Lanze noch die Reliquie eines Heiligen eine siegbringende Rolle. Mit Hilfe einer Reliquie des heiligen Rumold konnte sich die Bürgerwehr von Mecheln 1303 erfolgreich gegen den Angriff Herzog Johanns von Brabant behaupten. Um den Belagerungsring der Brabanter Truppen zu sprengen, versuchten es die Bürger von Mecheln zuerst mit einer Bittprozession, bei der sie den Schrein des heiligen Rumold durch die Stadt trugen. Als der Umgang mit den Gebeinen des Heiligen nicht zu dem erhofften Erfolg führte, wählten Mechelns Bürger einen englischen Ritter zu ihrem militärischen Führer. Dieser bestand jedoch darauf, daß man ihm zu seinem Schutz und zu seiner Hilfe eine Rippe des heiligen Rumold überlasse. Die Bürger erfüllten diesen Wunsch. Der Ritter befestigte sie an seinem Schild und zog im Vertrauen auf Gott und den heiligen Rumold in die Schlacht. Die Brabanter flohen, ehe es zur Schlacht kam. Aus Dankbarkeit gegenüber dem Heiligen, der zu siegen half, ließ er die siegbringende Reliquie in Gold und Silber fassen, um sie von der Skulptur eines Engels tragen und zeigen zu lassen.126 In den Kriegen des späten Mittelalters wurden Gott und seine Heiligen immer noch und immer wieder als Sieg- und Schlachtenhelfer angerufen. Geistliche und weltliche Herren, die unter religiösen Vorzeichen ihre Kriege führten, verzichteten jedoch in der Regel darauf, ihren Hoffnungen auf Gottes und der Heiligen Hilfe in Gestalt von Reliquien ein dingliches Fundament zu geben. Ein solcher Verzicht artikuliert Vorbehalte gegenüber unrealistischen Wirkungsmöglichkeiten, die Reliquien zugeschrieben wurden. Reliquien nicht mehr für kriegerische Zwecke zu nutzen, kam überdies dem Bemühen gleich, Christen vor einer mitunter an Magie grenzenden Reliquienfrömmigkeit zu bewahren.

125 Sigeberti Gemblacensis chronika cum continuationibus (wie Anm. 29), S. 387. 126 Acta Sanctorum Juli I, S. 179 und 235.

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4. Abschließende Erwägungen Die religiöse Bedeutung und lebenspraktische Funktion der hier behandelten Zeichen beruht auf der Metaphorik der altchristlichen Bild- und Symbolsprache, deren sich Prediger und Theologen bedienten, um auszudrücken, was Gottes Heilstaten für die in Sünden verstrickte Menschheit bewirkten und immer noch bewirken. Um aus dem Kreuz ein Siegeszeichen zu machen, bedurfte es einer Theologie des Kreuzes, die den Kreuzestod Christi seiner Schmach entkleidete und zu einem Sieg über die Macht des Bösen deutete. In Kreuzreliquien, Kreuzstäben und Kreuzzeichen nahm der Glaube an die Sieghaftigkeit des von Christus erlittenen Kreuzestodes eine sinnenhafte Gestalt an. Konstitutiv für diesen Wandlungsprozeß, der aus einem Marterwerkzeug ein Siegeszeichen machte, war die Funktionalisierung der dem wahren Kreuz und seinen Nachbildungen zugeschriebenen Siegeskraft im Interesse menschlicher Bedürfnisse und Belange. Hochmittelalterliche Prediger pflegten die Wundmale, die Christus nach seiner Himmelfahrt seinem himmlischen Vater zeigte, als »Siegeszeichen« (signa victricia) zu bezeichnen.127 Den Tod Christi als Sieg zu deuten und deshalb auch seine Seitenwunden als Siegeszeichen zu charakterisieren, hatte eine bis in die alte Kirche zurückreichende Tradition. Theologen von damals haben das Kreuz als Siegeszeichen beschrieben. Kaiser Konstantin hatte es als solches erfahren. Im Falle Konstantins kamen theologische Deutung und geschichtliche Erfahrung zur Deckung. Altchristliche Schriftsteller schrieben dem Kreuz, an dem Christus den Teufel überwunden hatte, eine lebenspendende Kraft (vis viva) zu. Sie waren überdies der Überzeugung, daß jeder Splitter des Kreuzes die Wunderkraft des ganzen Kreuzes in sich berge.128 Altkirchliche Schriftsteller rühmten das Kreuz, das Christus zur Schädelstätte getragen hatte, als Zeichen der Herrschaft Christi (signum sui [Christi] imperii), das Isaias vorausgesagt hatte, als er mit folgenden Worten das Kommen des Messias ankündigte: »Er stellt für die Völker ein Zeichen auf, um die Versprengten Israels wieder zu sammeln, um die Zerstreuten Judas zusammenzuführen von den vier Enden der Erde (Is 11,12)«. Sie charakterisierten es als »das Zepter seines Reiches, sein Siegesmal, seine Trophäe, weil es dem, der sterben mußte, um zu siegen, als Waffe diente, durch die der Teufel besiegt wurde«.129 Paulinus von Nola (353–431) bezeichnete das Kreuz als

127 So Ioannes de Forda, Super extremam partem Canticorum sermones CXX, hg. v. Edmund m Ikkers (Corpus Christianorum Cont. med. 18), Turnhout 1970, sermo CXX, 6, S. 809. 128 Vgl. berlIner (wie Anm. 122), S. 108. 129 Ebd., S. 98.

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Schutzwehr des gegenwärtigen und Unterpfand des ewigen Heils (munimentum praesentis et pignus aeternae salutis).130 Es lag in der Konsequenz einer solchen Deutung und Einschätzung des Kreuzes, Kreuzzeichen und Kreuzreliquien als übel- und dämonenabwehrende Amulette zu verwenden. Und dies nicht nur im Interesse schutzsuchender Individuen, sondern auch im Hinblick auf elementare Lebensinteressen politischer Gemeinwesen. Eine Miniatur Ludwigs des Frommen mag das Gemeinte verdeutlichen. Auf einer Seite im Figurengedicht ›Über das Lob des heiligen Kreuzes‹ (De laudibus Sanctae Crucis), das Hrabanus Maurus um 840 verfaßte, wird Ludwig der Fromme als miles christianus dargestellt, der einen Kreuzstab in seinen Händen hält. In dessen Schaft und Querstange ist folgender Text eingeschrieben: In cruce, Christe, tua victoria salusque (Im Kreuz, Christ, liegt dein Sieg und dein Heil).131 Sieg und Heil, die dem Herrscher im Namen des Kreuzes zuteil werden, haben eine politische Dimension. Als miles christianus soll sich der Herrscher nicht nur selber überwinden, sondern im Kampf gegen die Feinde der Christenheit auf die helfende und siegende Kraft des Kreuzes vertrauen. Die siegbringenden Wirkungen, die vom Kreuz ausgingen, beruhten nicht auf einer dem Kreuz inhärenten göttlichen Heilsmacht, sondern auf dem Glauben derer, die auf die Heilswirkungen des von Christus erlittenen Kreuzestodes vorbehaltlos vertrauten. Eine solche Auffassung entsprach der relationalen Grundstruktur, die mittelalterliche Autoren Zeichen zuschrieben. Zeichen eignet nach Ansicht Bonaventuras (um 1217–1274) eine doppelte Beziehung: zum Signifikat, d.h. zu dem, was es bezeichnet (ad illud quod significat), auf der einen, zum Adressaten und Rezipienten, d.h. zu dem, für den es bezeichnet (ad illud cui significat), auf der anderen Seite.132 Roger Bacon (um 1214– um 1293), der in seinem Traktat ›De signis‹ schärfere Differenzierungen vornimmt, unterscheidet u. a. zwischen Zeichen, die verdeutlichen (signa demonstrativa) und solchen, die erinnern (signa rememorativa).133 Die formalen Kriterien und materialen Bestimmungen, die mittelalterliche Autoren entwickelten, um sagen zu können, was

130 Paulinus von Nola, ep. 31. Vgl. berlIner (wie Anm. 122), S. 108, Anm. 158. 131 Die Miniatur ist abgebildet in: Karl der Grosse. Werk und Wirkung. Zehnte Ausstellung unter den Auspizien des Europarates im Rathaus zu Aachen und im Kreuzgang des Domes vorn 26. Juni bis zum 19. September 1965, Aachen 1965, Abb.V, nach S. 304. Eine Beschreibung der Handschrift und der Miniatur findet sich ebd., S. 307, Nr. 497. 132 Vgl. dazu Michael rothmann, Zeichen und Wunder. Vom symbolischen Weltbild zur scientia naturalis, in: Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigung kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, hg. v. Gert m elvIlle, Köln / Weimar / Wien 2001, S. 347 - 392, hier S. 360. 133 Ebd., S. 362.

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ein Zeichen zum Zeichen macht, treffen nicht nur auf das Kreuz zu; sie gelten auch für Fahnen, die in militärischen Konflikten Verwendung fanden. Mittelalterlichen Fahnen, die das Bild von Heiligen trugen, wurde keine von ihnen ausgehende übernatürliche Wirkkraft zugeschrieben. Die Vermittlung und Übertragung von siegbringendem Heil war nicht an die materielle Gegenständlichkeit der Fahne gebunden. Was von Reliquien gesagt werden kann, daß nämlich in ihnen die Person des Heiligen, von dem sie stammen, präsent und wirksam sei134, trifft auf Fahnen nicht zu. Liturgiker des hohen Mittelalters deuteten Kirchenfahnen, deren liturgischer Gebrauch seit dem ausgehenden ersten Jahrtausend durch Quellen belegt werden kann, als Sinnbild des Triumphes Christi.135 Das vexillum triumphale getragen haben der auferstandene Christus und die Kirche unter dem Kreuz136, um anzuzeigen, daß Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung Sünde und Tod überwunden hat. Guillelmus Durandus (Duranti) erblickte einen Sinnzusammenhang zwischen Kirchenfahnen und dem rettenden Zeichen, das, auf Christus vorausweisend, der kommende Messias inmitten der Völker zu errichten verhieß (Is 11,12).137 Im Hinblick auf den Triumphcharakter der Kirchenfahnen hielt er es für richtig und sinnvoll, daß Kirchenfahnen auf den Altar gestellt werden, damit in der Kirche beständig an den Triumph Christi erinnert wird, durch den auch wir über den bösen Feind zu triumphieren hoffen.138 Symbolgeschichtlich bleibt bemerkenswert, daß sich – ungeachtet streng theologischer Sinnbezüge – die Kirche in ihrer öffentlichen Selbstdarstellung »der kriegerischen Form des Siegeszeichens« bediente.139 Eine veränderte Einstellung zum Krieg gibt auch die Tatsache zu erkennen, daß seit dem 11. Jahrhundert Kleriker mit ihren Fahnen und Kreuzen mit in die Schlacht zogen.140 Nach dem errungenen Sieg wurden die Fahnen wiederum in die Kirche zurückgebracht und an exponierter Stelle, oftmals sogar über dem Altar, aufgehängt. Festzuhalten bleibt jedoch: Die Fahne als solche ist nicht Quelle des Sieges; sie vermittelt ihn kraft der Frömmigkeit, mit der sich die unmittelbar Beteiligten den auf Heiligenfahnen dargestellten Heiligen zuwenden. Eine solche Einschätzung des mittelalterlichen Fahnen eigentümlichen Symbol- und Funk134 Vgl. Arnold a ngenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 155 - 158 (»Die einwohnende ›virtus‹«). 135 Gemma animae I, 72. 136 Lutger körntgen, Königsherrschaft und Gottes Gnade. Zu Kontext und Funktion sakraler Vorstellungen in Historiographie und Bildzeugnissen der ottonisch-frühsalischen Zeit, Berlin 2001, S. 203 und Anm. 280. 137 Durandus, Rationale VI, 102, 8. 138 Ebd. 139 erdmann (wie Anm. 14), S. 37. 140 Ebd., S. 39.

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tionswertes ist charakteristisch für mittelalterliche Chronisten, die berichten, unter welchen Umständen und in welcher Absicht Heiligenfahnen für militärische Zwecke verwendet wurden. Aimoin von Fleury (um 965–nach 1008) beschrieb eine solche Situation, die kenntlich macht, was die Fahne eines Heiligen zu leisten vermag, wenn Gefahr droht. In seinen ›Miracula S. Benedicti‹ berichtet er von Kriegsvolk, das plündernd in das Gebiet der Abtei Fleury eingefallen war, weswegen sich der Vogt des Klosters die Fahne des heiligen Benedikt habe aushändigen lassen, die dem Kloster zum Schutz gereichen solle (s. Benedicti vexillum […], quod nobis praesidio sit). Mit Hilfe dieser dem heiligen Benedikt geweihten Fahne sei es dann dem Vogt gelungen, die Feinde zu besiegen. Es war die Fahne des heiligen Benedikt, welche »die Hilfe des Heiligen, den göttlichen Schutz und den Sieg« vermittelte.141 Dasselbe gilt für Marienfahnen. Fahnen mit dem Bild der Gottesmutter erinnerten an Marias Rolle als Intervenientin bei Gott, der allein über Sieg und Niederlage entscheidet. Das geht aus einem Bericht hervor, den Wigand von Marburg über die Schlacht an der Strawa, einem Nebenfluß der Memel, anfertigte. Das kriegerische Treffen ereignete sich im Jahre 1348. Das Heer des Deutschen Ordens besiegte damals die Litauer. In seiner 1394 abgeschlossenen Reimchronik beteuert Wigand unser »vrouwen bilde sei den cristen ein gût wer gewesen«; die größte Hilfe sei von Marîen komen. In einer lateinischen Prosaübersetzung von Wigands fragmentarisch überlieferter Reimchronik heißt es: Den Sieg würde der Deutsche Orden der Fürsprache Marias (cuius [Mariae] inter­ vencio) verdanken, deren Bild auf der Ordensfahne angebracht war.142 Kriegführende Herren und Kommunen mußten freilich auch die Erfahrung machen, daß auf Fahnen kein unbedingter Verlaß war. Nicht immer bewährten sie sich als siegbringende Zeichen, die erfüllten, was Christen erwarteten, wenn sie sich dem Schutz von Heiligen anvertrauten. Die Magdeburger Schöppenchronik berichtet zum Jahre 1278, das »Volk« des Magdeburger Erzstiftes, das sich rühmen konnte, in seinem Domschatz das Banner des heiligen Mauritius zu besitzen, sei stets fröhlich unter der Fahne des heiligen Mauritius gegen seine Feinde gezogen (»dit volk toch vroliken under sunte Mauricius vanen jegen die viende«). Die Fröhlichkeit der in den Krieg ziehenden Bürger signalisierte Zuversicht und Vertrauen in die Macht des Heiligen, der den Seinen, wenn es zum Kampf kommt, siegreich beisteht. Bewährt hatte sich dieses Vertrauen im Jahre 1347, als der Magdeburger Erzbischof Otto die Fahne des heiligen Mauritius an einem starken Baum hatte befestigen lassen. Sein Gegner, Markgraf Friedrich von Meißen, ergriff die Flucht, als man ihm versicherte, noch nie habe der 141 142

Ebd., S. 41. Die Chronik Wigands von Marburg, in: Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der Preussischen Vorzeit, hg. v. Theodor h Irsch u. a., Bd. 2, Leipzig 1863, S. 512.

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Erzbischof unter der Fahne des heiligen Mauritius eine Schlacht verloren. Im Jahre 1367 riß die Siegesserie ab. Damals traf das Magdeburger Kontingent auf die Streitmacht des Hildesheimer Hochstifts, die sich dem Schutz der Gottesmutter unterstellt hatte. Unmittelbar vor dem Kampf zeigte Bischof Gerhard von Hildesheim seiner Truppe ein Marienreliquiar und rief seinen Leuten zu: »Leve Kerle truret nich, hie hebbe ick dusernt Man in mynere Mawen [Ärmel].« Maria siegte. Die Magdeburger unterlagen. Die Niederlage erklärten sich die Magdeburger weder als Folge mangelnder Stärke noch als Strafgericht Gottes für begangene Sünden. Sie erinnerten sich vielmehr, daß der heilige Mauritius nur das zu tun bereit war, was heiligen Schutzpatronen ihrem Wesen nach seit alters zukommt: nämlich schützen und verteidigen (werenn), aber nicht angreifen (heren).143 Heilige, die seit dem beginnenden 4. Jahrhundert, einer Zeit des Machtzerfalls und der sozialen Anarchie, politische Schutzpflichten und soziale Dienste erfüllten, wurden als »Beschützer« ( patroni), »Verteidiger« (defensores) und »Abwehrer« ( propugnatores) bezeichnet.144 Sie galten als heilige Wächter der Stadt und wurden mit Türmen verglichen, die gegen Angriffe von Feinden sicheren Schutz gewähren.145 Diejenigen, die Heiligenfahnen trugen und ihnen folgten, bekannten sich zur schützenden Kraft ihrer im Himmel thronenden Schutzheiligen. Fahnen mit Bildern von Heiligen verwiesen auf himmlische Quellen siegbringender Hilfen. Die geistliche und lebenspraktische Bedeutung von Reliquien hingegen erschöpfte sich nicht in ihrem Verweis- und Stellvertretungscharakter. Sie erinnerten nicht nur an die Heiligen, von denen sie stammten und die im Himmel mit Christus auf ihren Thronen sitzen (Offb 3,21) und mit ihm herrschen (Offb 5,10; 20,6) sowie bei Gott für ihre Verehrer Fürsprache einlegen; sie waren auch selber in ihren Reliquien gegenwärtig und damit auch handlungsfähig. Das Grab eines Heiligen strahlte Sakralität aus. Seine Gebeine bewährten sich als überirdische Machtquellen.146 In den leiblichen Überresten eines Heiligen waren, wie Theologen der alten Kirche lehrten, dessen »volle Gnade und die volle Virtus« enthalten.147 In jedem Teil seines Leichnams war »der Heilige vir-

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Vgl. Renate k roos, Vom Umgang mit Reliquien, in: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik, Katalog zur Ausstellung des Schnütgen-Museums in der JosefHaubrich-Kunsthalle, Bd. 3, hg. v. Anton l egner , Köln 1985, S. 25 - 49, hier S. 37. 144 Vgl. Jochen m artIn, Die Macht der Heiligen, in: Christentum und antike Gesellschaft, hg. v. ders. / Barbara quandt, Darmstadt 1990, S. 440 - 474, hier S. 448 - 450; 466f. 145 Vgl. Irene crusIus, Basilicae muros urbis ambiunt. Zum Kollegiatstift des frühen und hohen Mittelalters in deutschen Bischofsstädten, in: Studien zum weltlichen Kollegiatstift in Deutschland, hg. v. dIes., Göttingen 1995, S. 9 - 34, hier S. 14 - 26. 146 Vgl. a ngenendt (wie Anm. 4), S. 210. 147 ders. (wie Anm. 134), S. 155f.

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tuell anwesend«.148 »Weil die Reliquien aufgrund ihrer Virtus Heilsträger waren, besaßen sie eine Kraft, wie sie eigentlich nur Sakramenten zukam.«149 Aufgrund ihres quasi-sakramentalen Charakters verbanden sich in den Reliquien eines Heiligen dessen irdische Immanenz mit seiner himmlischen Transzendenz. Zum einen waren Reliquien mit überweltlicher Kraft angereicherte Heilsträger, zum anderen Zeichen, die auf Heilige verwiesen, die im Himmel mit Christus herrschten und bei Gott Fürsprache für ihre Verehrer einzulegen vermochten. In der Begrifflichkeit heutiger Symboltheorie ausgedrückt: In Reliquien verbinden sich Repräsentation, die auf Abwesendes, die im Himmel thronenden Heiligen, verweist, und Präsenz, welche gegenstandsimmanente Anwesenheit, die in Reliquien präsente Kraft eines Heiligen, auf den Begriff bringt.150 Im Blick auf die praktischen Gebrauchsformen von Kreuz, Fahnen und Reliquien fällt auf, daß sie als heilige Zeichen, die in kriegerischen Auseinandersetzungen zum Sieg verhelfen sollen, nicht isoliert verwendet wurden, sondern eingebunden waren in ein umfassendes Symbolsystem. Um Gott und seine Heiligen zu helfendem Eingreifen zu bewegen, bediente man sich nicht allein heiliger Zeichen. Es wurde, um dieses Ziel zu erreichen, auch gebetet, gebeichtet und gefastet; es wurden Messen gehalten und kommuniziert. Der Deutsche Orden pflegte Schlachten auf Marienfeste zu legen, um der Hilfe Marias sicher zu sein. An den religiösen Vorbereitungen für die Schlacht auf dem Lechfeld ist abzulesen, wie in der kriegerischen Praxis dieses Symbolsystem, innerhalb dessen heilige Zeichen nur ein Element neben anderen darstellten, zur Anwendung kam. Am Tag vor der Schlacht – es war der 9. August 955 – wurde den Kriegern des Reichsheeres befohlen, sich durch Fasten auf die Schlacht tags darauf vorzubereiten. Bei der ersten Dämmerung des folgenden Tages erhoben sich die geistlich gestärkten Ritter von ihrem Lager und gaben sich gegenseitig den Friedenskuß ( pax); einer gelobte dem anderen eidlich seine Hilfe.151 König Otto warf sich zu Boden, bekannte vor Gott seine Schuld und legte – wie Thietmar von Merseburg berichtet – unter Tränen folgendes Gelübde ab: Wenn Christus ihm an diesem Tag, an dem die Christenheit das Fest des hl. Märtyrers Laurentius feiert, »durch die Fürbitte eines solchen Sprechers in Gnaden Sieg und Leben gebe, wolle er in der Burg Merseburg zu Ehren des Siegers über das Feuer [des hl. Laurentius] ein Bistum errichten und ihm seine große, jüngst begonnene 148 Ebd., S. 154. 149 Ebd., S. 157. 150 Vgl. Karl-Siegbert r ehberg, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – Eine Einführung in systematischer Absicht, in: m elvIlle (wie Anm. 132), S. 3 - 49, hier S. 29 - 35. 151 Widukind (wie Anm. 106), III,44, S. 124.

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Pfalz zur Kirche ausbauen lassen«.152 Dann erhob er sich von der Erde, nahm an einer Meßfeier teil und empfing aus den Händen Bischof Ulrichs, seines Beichtvaters, die heilige Kommunion. Angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der Feinde ermahnte er seine Reiterkrieger, auf ihre Kriegstüchtigkeit (virtus) und vor allem auf die »Hilfe Gottes« (auxilium Dei) und den »göttlichen Schutz« ( protectio divina) zu vertrauen. Dann ergriff der König seinen Schild und die »heilige Lanze« (sacra lancea), das »siegbringende Zeichen« (victoferum signum), und stürmte als erster gegen die Feinde los, um seiner Pflicht als tapferster Ritter und bester Feldherr Genüge zu tun.153 Gott belohnte solches Vertrauen. Otto siegte und befahl, wie bereits erwähnt, in allen Kirchen des Reiches Dankesfeiern abzuhalten. Religiöse Zeichen, die für kriegerische Zwecke verwendet wurden, geben – wie andere Zeichen auch – zu erkennen, daß Frömmigkeit im Mittelalter nie eine Sache reiner Innerlichkeit war. In Gestalt von Zeichen suchten Christen des Mittelalters gemeinsame religiöse Überzeugungen auf der einen, weltliche Bedürfnisse und Interessen auf der anderen Seite zum Ausdruck zu bringen. So praktizierte Frömmigkeit ist als Denk- und Verhaltensform zu begreifen, die politischen Kollektiven helfen sollte, Krisen und Katastrophen mit Hilfe Gottes und der Heiligen zu überwinden. Hoffnung auf überirdische Hilfe war ein elementarer Beweggrund, der Christenmenschen des Mittelalters motivierte, sich in Zeiten des Krieges heiliger Zeichen zu bedienen. Zum Kreuz, zur Fahne und zu Reliquien haben sie auch immer deshalb gegriffen, weil es so und nicht anders auch die Altvorderen getan hatten. Der Gebrauch von Zeichen war durch eine lange Tradition geheiligt. Sich dieser zu erinnern, brachte positiv besetzte Erfahrungen zum Bewußtsein. Anders gesagt: Durch wiederholten Gebrauch waren Zeichen mit Erfahrungen verknüpft, die sich abrufen und aktualisieren ließen, wenn es die jeweiligen Umstände als ratsam und nutzvoll erscheinen ließen. Gegenwärtig im historischen Bewußtsein blieb überdies, daß der unsichtbare Gott der Christen dem römischen Kaiser Konstantin das Kreuz in einem Konflikt von weltgeschichtlicher Tragweite gezeigt hatte.154 In Zeichen nahm der Glaube der Christen, durch den sich Gruppen und Individuen miteinander verbunden fühlten, eine sinnenhafte Gestalt an. Von Zeichen gingen deshalb religiös vermittelte soziale Bindewirkungen aus. Sie ge152 Thietmar (wie Anm. 28), II,10. 153 Ebd. und Widukind (wie Anm. 106), III, 46, S. 127f. Die Bezeichnung der hl. Lanze als victoferum signum geht auf Liudprand, Antapodosis IV, 25, zurück. 154 Zur Bedeutung Konstantins im geschichtlichen Bewußtsein des Mittelalters vgl. Eugen ewIg, Das Bild Constantins des Großen im abendländischen Mittelalter, in: Historisches Jahrbuch 75 (1956), S. 1 - 46; Herwig wolFram, Constantin als Vorbild für den hochmittelalterlichen Herrscher, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 68 (1960), S. 226 - 243.

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hörten zu jenen symbolischen Formen, die Gesellschaft stiften. Heilige Zeichen, die in kriegerischen Konflikten des Mittelalters Verwendung fanden, begründeten kommunikative Beziehungen sowohl zu dem Heiligen, der auf der Fahne abgebildet war oder dessen Reliquien als Schutzmittel auf den Kampfplatz getragen worden waren, als auch mit den Mitgliedern des jeweiligen Kollektivs, das im Namen eines heiligen Patrons in den Krieg zog und von diesem siegbringende Hilfe erwartete. Was zu gemeinsamem Handeln befähigte, waren nicht Bande des Blutes, sondern gemeinsame religiöse Überzeugungen, Interessen und Traditionen. Die kommunikativen Leistungen heiliger Zeichen sind nicht kognitiv-diskursiver Art. Als Medien, die auf nichtsprachliche Art und Weise etwas zu sagen haben, wenden sie sich nicht an die logische Vernunft. Sie wollen Emotionen wecken, die zu gemeinsamem Handeln bewegen. Kollektivgefühle suchen sie auf ein gemeinsames Ziel auszurichten. Insofern beruht die Wirkkraft der in Kriegen verwendeten heiligen Zeichen zum einen auf dem Glauben an wunderbare Hilfen von seiten Gottes und der Heiligen, zum anderen auf der Macht, Gefühle zu erzeugen, welche die zum Kampf Entschlossenen beflügeln und ermutigen. Heilige Zeichen brachten einen emotionalen Zustand hervor, der den Glauben an den helfenden Gott und die siegbringenden Heiligen unanfechtbar machte. Ausschließen ließ sich nicht, daß in der kriegerischen Praxis heiligen Zeichen ein Überschuß an Bedeutungen zuwuchs, der durch rechtgläubige theologische Theorie nicht gerechtfertigt war. Gelebte Frömmigkeit, die Probleme des alltäglichen Lebens lösbar machen sollte, pflegte sich nicht immer mit der strengen Lehre der Theologen nahtlos zu decken. Übersteigerte Erwartungen machten aus heiligen Zeichen magisch handhabbare Medien. In deren Gebrauch vermischten sich oftmals religiöse Einstellungen mit magischen Vorstellungen, die dazu verleiteten, auf die Überreste von Heiligen Zwang auszuüben, um das Gewünschte zu erreichen. Zur religiösen und theologischen Vielfalt im späten Mittelalter gehört auch, daß sich damals Theologen fanden, die widersprachen, wenn christliche Nationen gegeneinander Krieg führten und sich, um mit Gottes Hilfe ihre Interessen durchzusetzen, derselben heiligen Zeichen bedienten. Sie mißbilligten z.B. den Krieg zwischen Polen und dem Deutschen Orden nicht zuletzt deshalb, weil zwei Gemeinwesen, die sich im Zeichen des Kreuzes zum christlichen Glauben bekennen, sich »mit eben diesen Zeichen des Kreuzes« (cum ipsis crucis insignibus) gegenseitig aufs gehässigste bekämpften.155 Widerspruch legten sie ein, weil sie 155 So der aus Mailand stammende, humanistisch gebildete Augustinereremit Andrea Biglia (1395–1435). Vgl. Otto herdIng, Humanistische Friedensideen am Beispiel zweier ›Friedensklagen‹; in: Die Humanisten in ihrer politischen und sozialen Umwelt, hg. v. ders. / Robert struPPerIch, Boldt 1976, S. 17, Anm. 27.

Signa Victricia

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auf der Universalität der christlichen Religion beharrten und es deshalb ablehnten, daß kriegführende Potentaten, die sich zum Christentum bekannten, die christliche Religion für regionale und lokale Sonderinteressen in Anspruch nahmen. Erasmus von Rotterdam zeigte kein Verständnis für gekrönte Dichter und Rhetoren, die zum Krieg entschlossenen Fürsten Triumphe über ihre Feinde verhießen. Einem frommen Fürsten zu versichern, daß Gott für ihn kämpfen wird (Deus pugnabit pro te), sei mit dem christlichen Glauben und dessen Friedensethik nicht zu vereinbaren.156 Erasmus geißelte es als Mißbrauch christlicher Werte und Symbole, wenn christliche Kriegsparteien das Kreuzzeichen verwenden, um ihre Siegeschancen zu verbessern.157

156 Vgl. Dieter m ertens, Maximilians gekrönte Dichter über Krieg und Frieden, in: Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus, hg. v. Franz Josef worstbrock , Weinheim 1986, S. 119f. und 120, Anm. 45. 157 Vgl. Markus vogl , Friedensvision und Friedenspraxis in der Frühen Neuzeit 1500– 1649, Augsburg 1996, S. 100.

»gerechtIgkeIt und FrIeden haben sIch geküsst« (Ps 84,11) Friedensstiftung durch symbolisches Handeln

Zeichen und zeichenhafte Handlungen machten das Mittelalter zu einem »Zeitalter der Zeichen«. Als im Gefolge fortschreitender Modernisierung eben diese Zeichen ihre Lesbarkeit einbüßten, habe, so Percy Ernst Schramm, eine neue Zeit ihren Anfang genommen. Fremdheit und Unverständnis gegenüber den im Mittelalter gebrauchten Zeichen sei »ein Symptom für dessen Ende«.1 Jacques Le Goff charakterisiert die Gesellschaft des Mittelalters als eine »civilisation du geste«.2 Zeichenhaftes Handeln, das den Bestand und die Funktionsfähigkeit der geltenden Rechts- und Sozialordnung sichern sollte, sei ein Strukturmerkmal mittelalterlicher Gesellschaften. Jean-Claude Schmitt spricht von der »ritualisation de la société féodale«.3 Er tut das unter Berufung auf Marc Bloch, der in seinen Untersuchungen zur mittelalterlichen Feudalgesellschaft darlegte und begründete, weshalb im Rechts- und Sozialleben des Mittelalters ein mündliches Versprechen oder eine einfache Geste die bindende Kraft einer gesetzlichen Verpflichtung besaßen. Aaron J. Gurjewitsch unterstrich die »große Rolle«, die Rituale im kulturellen und sozialen Leben mittelalterlicher Menschen spielten: »Das Ritual, die symbolische Handlung und das magische Zeremoniell, die von Gesten, Formeln, Zaubersprüchen und Schwüren begleitet waren, durchdringen das gesamte soziale Handeln des mittelalterlichen Menschen, vom obersten Feudalherrn und Kirchenhierarchen bis zum einfachen Bauern«.4 Man »stiftet Gesellschaft«, versichert Umberto Eco, »wenn man Zeichen austauscht«.5 Formen der Kommunikation geben Aufschluß darüber, wie sich eine Gesellschaft selber versteht, welchen Werten und Normen sie ihren Zusammenhalt verdankt, wie sie geordnet und geschichtet ist. Das trifft insbesondere für das Mittelalter zu, eine Zeit, in der die Legitimität, Geltungskraft und Wirkung 1 2 3 4 5

Percy Ernst schramm, Kaiser, Könige und Päpste. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters, Bd.1, 1, Stuttgart 1968, S. 23. Jacques l e goFF, La civilisation de l’Occident médiéval, Paris 1964, S. 440. Jean-Claude schmItt, La raison des gestes dans l’Occident médiéval, Paris 1990, S. 15. Aaron gurjewItsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 1980, S. 390. Umberto eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a. M. 1975, S. 108.

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Rituale, Zeichen, Bilder

politischen, sozialen und religiösen Handelns von der Einhaltung formalisierter Gesten, Zeichen und Ritualen abhängig waren. Um Hierarchien und Distanzen einer ständisch geordneten Gesellschaft sichtbar zu machen, bedurfte es der Ritualisierung politischer und sozialer Verhaltensweisen. Mangelnde Alphabetisierung machte symbolische Ordnungen, die mündlich getroffenen Vereinbarungen, sozialen Beziehungen und eingespielten Regeln politischen Verhaltens dauerhafte Geltung zu geben suchten, zur unabdingbaren Notwendigkeit. Die geregelte Wiederholung von Gesten und Riten wirkte bewusstseinsbildend. Was die zeichenhafte Repräsentation politischer und sozialer Ordnungsstrukturen bedeutete, war durch Brauch und Tradition festgelegt. Alle, die sich in der Öffentlichkeit an rituellen Praktiken beteiligten, wußten, worum es ging. Ritual, Zeremoniell und Herrschaftszeichen verwiesen auf politische Grundüberzeugungen, von deren Akzeptanz »öffentliches Heil« (salus publica) und »allgemeiner Nutzen« (bonum commune) abhingen. Der von geistlichen und weltlichen Fürsten erhobene Anspruch auf legitime Herrschaft (legitimum imperium) artikulierte sich in Zeichen, Riten und Gesten, an denen abgelesen werden konnte, wie in einer Gesellschaft Macht, Ehre und Reichtum verteilt waren. Rituelle Inszenierungen wirkten gleicher maßen trennend und integrierend. Indem sie hierarchische Ordnungen und soziale Distanzen veranschaulichten, geboten sie Fügsamkeit und Reverenz; in anderen Kontexten strahlten sie Botschaften aus, die zu loyalem Verhalten und friedfertiger Gemeinschaftlichkeit aufforderten. Wenn adlige Große dem König »die Hand geben, verpflichten sie sich damit, ihm künftig treu zu helfen; sein Geschenk belohnt ihren Dienst angemessen. Zwischen Form und Absicht zeremoniösen Verhaltens besteht kein Abstand; jeder meint, was er tut, und wer es nicht tun will, bleibt fern. So stiftet Zeremoniell Gemeinschaft.«6 In der Begrifflichkeit von Emile Durkheim ausgedrückt: Riten »bedeuten irgendein menschliches Bedürfnis, irgendeine Seite des individuellen oder sozialen Lebens.«7 Riten sind Handlungen, die »soziale Dinge« ausdrücken: »Kollektivgefühle«, »Kollektivvorstellungen«, »Kollektivwirklichkeiten«. Symbolisches Handeln, das – durch körperhafte Zeichen vermittelt – Emotionen, Normen und Werte zum Ausdruck bringt, zählt zu den epochenspezifischen Merkmalen der sogenannten mittleren Zeit. In dieser begründeten »Handlungen zeichenhaften Charakters«8 die Geltung und Dauerhaftigkeit friedenstiftender Maßnahmen. Als Geste freundschaftlichen Einvernehmens garantierte der Frie6 7 8

Arno borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt a. M. / Berlin 1973, S. 485. Emile durkheIm, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. 1981, S. 19. Gerd a lthoFF, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990, S. 185.

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denskuß das »Unterbleiben von Feindseligkeiten«. Wer einen Gast mit einem Kuß empfing, war gehalten, diesem »Gastfreundschaft im eigenen Haus« zu gewähren.9 Der Gruß brachte Vertrauen zum Ausdruck und begründete Sicherheit. »Standen sich zwei Ritter oder zwei Parteien in feindlicher Absicht gegenüber, so grüßten sie einander nicht; taten sie es, so hatte für diesen Tag jede Feindseligkeit zu unterbleiben.«10 Gruß und Grußerwiderung verpflichteten zu friedfertigem Verhalten; nicht zu grüßen signalisierte Feindseligkeit. Der bayerische Landfrieden des 13. Jahrhunderts gebot, »daß im Sinne einer spiegelnden Strafe demjenigen die Hand ›abzuschlagen‹ sei, der jemanden beraubt habe, den er ›vor gegrüzzet hat‹«.11 Im Mittelalter besaßen Rituale, Gesten und Gebärden nur deshalb den Charakter von über sich hinausweisenden Handlungen, weil – im Lichte mittelalterlicher Anthropologie betrachtet – zwischen actus animi und actus corporis, zwischen homo interior und homo exterior ein wechselseitiger Zusammenhang bestand. Aus der Einheit von Leib und Seele bedingte sich nach Auffassung mittelalterlicher Theologen, Philosophen und Moralisten die Möglichkeit, an Bewegungen des Körpers (motus corporis) Bewegungen der Seele (motus animae) abzulesen oder aus dem Gesicht (facies) einen Spiegel des Herzens (speculum cordis) zu machen und in der Haltung des Körpers (gestus corporis) ein Zeichen innerer Gesinnung (signum mentis) zu erblicken.12 Was in diesem Aufsatz über Friedensstiftung durch symbolisches Handeln nachgelesen werden kann, ist nicht die Quintessenz eines langjährigen Forschungsprojektes; es beruht auf beiläufig gemachten Beobachtungen. Des Defizits an zeitlicher und räumlicher Differenzierung bin ich mir bewußt. Mangelnde Quellendichte mag den Eindruck eines aus heterogenen Materialien zusammengestückten Flickenteppichs entstehen lassen, dessen Vielfalt kein überzeugendes Muster zu erkennen gibt. Eine umfassende, nach Epochen und Regionen gegliederte Bestandsaufnahme ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich und auch gar nicht beabsichtigt. An ausgewählten Fallbeispielen soll gezeigt 9 10

11 12

Heinrich FIchtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, München 1992, S. 59. Horst Fuhrmann, »Willkommen und Abschied«. Über Begrüßungs- und Abschiedsrituale im Mittelalter, in: Mittelalter. An näherungen an eine fremde Zeit (Schriftenreihe der Universität Regensburg. NF 19), hg. v. Wilfried h artmann, Regensburg 1994, S. 120. Ebd. Vgl. Klaus schreIner , »Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes« (Osculetur me osculo oris sui, Cant. 1,1). Metaphorik, kommunikative und herrschaftliche Funktionen einer symbolischen Handlung, in: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. v. Hedda r agotzky / Horst wenzel , Tübingen 1990, S. 89.

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werden, mit Hilfe welcher Rituale Menschen des Mittelalters ihre Friedensabsichten auszudrücken suchten. Ich möchte auf eine Thematik aufmerksam machen, die meines Erachtens stärkerer Beachtung lohnt. Am religiösen Gehalt und am politischen Anspruch von Herrschaftszeichen und Rechtssymbolen haben sich Generationen von Mediävisten abgearbeitet. Neues zu entdecken gibt es, wenn man zu entschlüsseln sucht, welche Bedeutungen, Botschaften und Interessen symbolische Handlungen ausdrücken und ver mitteln wollten. Ein solches Unterfangen wirft Probleme auf. Deren dringlichstes ist die Quellenfrage. Der Mangel an aussagekräftigen Quellen erschwert die Absicht, in anschaulicher Konkretheit jene rituellen Formen der Friedensstiftung wiederherzustellen, die Konflikte beendigen und einträchtiges Zusammenleben gewährleisten sollten. Auffallend viel ist in der Zeit des Mittelalters über De bono pacis nachgedacht und geschrieben worden.13 An Predigten und Traktaten ›De pace‹ 13

Der günstigen Quellenlage entspricht ein nachhaltiges und stark ausgeprägtes Forschungsinteresse am Friedensbegriff, an Friedensvorstellungen und an recht lichen Formen der Friedenssicherung im Mittelalter. Einige Titel, die sich mit dieser Thematik befassen, seien anstelle zahlreicher anderer genannt: Wolfgang justus, Die frühe Entwicklung des säkularen Friedensbegriffs in der mittelalterlichen Chronistik (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter 4), Köln / Wien 1975; Thomas r enna, The idea of peace in the West, 500-1150, in: Journal of Medieval History 6 (1980), S. 143 - 167; Stephen D. whIte , Feuding and Peace-Making in the Touraine around the year 1100, in: Traditio 42 (1986), S. 195 - 263; Patrick J. geary, Vivre en conflit dans une France sans État: typologie des mécanismes de réglement des conflits (1050-1200), in: Annales 41 (1986) 2, S. 1107 - 1133; Wolfgang sellert, Friedensprogramme und Friedenswahrung im Mittelalter, in: Wege europäischer Rechtsgeschichte. Karl Kroeschell zum 60. Geburtstag (Rechtshistorische Reihe 60), hg. v. Gerhard köbler , Bern / New York / Paris 1987, S. 453 - 467; Klaus a rnold, De bono pacis – Friedensvorstellungen in Mittelalter und Renaissance, in: Überlieferung, Frömmigkeit, Bildung als Leitthemen der Geschichtsforschung, hg. v. Jürgen Petersohn, Wiesbaden 1987, S. 137 - 144; Erika uItz, Zu Friedensbemühungen und Friedensvorstellungen des mittelalterlichen Städtebürger tums, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 12 (1988), S. 27 - 50; Evamaria engel , Friedensvorstellungen im europäischen Mittelalter, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 37 (1989), S. 600 - 607; Michal Frase , Friede und Königsherrschaft. Quellenkritik und Interpretation der ›Continuatio Reginonis‹ (Studien zur ottonischen Geschichtsschreibung), Frankfurta. M. u. a. 1990; Timothy r euter , Unruhestiftung, Fehde, Rebellion, Widerstand: Gewalt und Friede in der Politik der Salierzeit, in: Die Salier und das Reich, Bd. 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, hg. v. Stefan weInFurter , Sigmaringen 1992, S. 297 - 325. – Zur Verschränkung zwischen Friede und Recht vgl. Rudolf h Is, Gelobter und gebotener Friede im deutschen Mittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germ. Abt. 33 (1912), S. 139 - 223; Joachim gernhuber , Die Landfriedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235, Bonn 1952; Elmar Wadle, Heinrich IV. und die deutsche Friedensbewegung, in: Investiturstreit und Reichsverfassung (Vor-

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besteht kein Mangel. Augustin widmete das 19. Buch seines Gottesstaates dem Gedanken des Friedens und seinen verschiedenartigen Ausprägungen: der pax corporis und der pax animae, der pax domus und der pax civitatis, der pax temporalis und der pax aeterna.14 Scholastiker machten die Frage, was denn Friede sei, zum Gegenstand sozialphilosophischer Reflexionen.15 Berthold von Regensburg (um

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träge und Forschungen 17), hg. v. Josef FleckensteIn, Konstanz 1973, S. 143 - 173; ders., Frühe deutsche Landfrieden, in: Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters, hg. v. Hubert mordek , Sigmaringen 1986, S. 71 93; Theodor körner , Iuramentum und frühe Friedensbewegung (10.–12. Jahrhundert), Berlin 1977; Dietmar wIlloweIt, Die Sanktionen für Friedensbruch im Kölner Gottesfrieden von 1083. Ein Beitrag zum Sinn der Strafe in der Frühzeit der deutschen Friedensbewegung, in: Recht und Kriminalität. Festschrift für Friedrich-Wilhelm Krause zum 70. Geburtstag, hg. v. Ellen schlüchter / Klaus l aubenthal , Köln u. a. 1990, S. 37 - 52. Als exzellenten Überblick über Quellen und Sekundärliteratur, verbunden mit tiefdringenden Analysen ausgewählter Einzelprobleme, liest sich der Aufsatz von Dietrich kurze über »Krieg und Frieden im mittelalterlichen Denken«, in: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Heinz duchhardt, Köln / Wien 1991, S. 1 - 44. Das Wort vride und seinen Gebrauch in der mittelalterlichen Literatur untersucht eingehend Albrecht h agenlocher , Der guote vride. Idealer Friede in deutscher Literatur bis ins frühe 14. Jahrhundert, Berlin / New York 1992. Zur Bedeutung und Funktion des Begriffs in gesellschaftlichen und politisch-recht lichen Kontexten vgl. Wilhelm janssen, Friede, in: Geschicht liche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 543 - 591. – Beiträge zur Verbildlichung der Friedensidee im späten Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit enthält der von Brigitte tolkemItt und Rainer wohlFeIl herausgegebene Sammelband über ›Historische Bildkunde. Probleme-Wege-Beispiele‹ (Zeitschrift für Historische Forschung. Beihefte 12), Berlin 1991. Vgl. darin insbesondere Trudl wohlFeIl , Friedensvorstellungen im Werk des Petrarca-Meisters, S. 177 - 190; Hans-Martin k aulbach, Friedenspersonifikationen in der Frühen Neuzeit, S. 191 - 210; Rainer wohlFeIl , Pax antwerpiensis. Eine Fallstudie zu Verbildlichungen der Friedensidee im 16. Jahrhundert am Beispiel der Allegorie ›Kuß von Gerechtigkeit und Friede‹, S. 211 - 258. – Vgl. auch Adriano PrandI, La pace nei temi iconografici del Trecento, in: La pace nel pensiero, nella politica, negli ideali del Trecento (Convegni del centro di studi sulla spiritualità medievale 15), Todi 1975, S. 243 - 259. Joachim l auFs, Der Friedensgedanke bei Augustinus. Untersuchungen zum XIX. Buch des Werkes De Civitate Dei, Wiesbaden 1973; Stanislaw budzIk , Doctor pacis. Theologie des Friedens bei Augustinus (Innsbrucker Theologische Studien 24), Innsbruck / Wien 1988. Zum Frieden als Thema der Scholastik vgl. h agenlocher (wie Anm. 13), S. 70 - 75. Symptomatisch für dieses verstärkte Interesse am Frieden und an der Friedenswahrung in der Welt ist der von dem Franziskanertheologen Gilbert von Tournai († 1284) verfaßte ›Tractatus de pace‹, ed. Ephrem l ongPré (Bibliotheca Franciscana ascetica medii aevi 6), Quaracchi 1925. Der Dominikaner Remigius von Florenz (dei Girolami) († 1319), ein dezidierter Thomist, der am studium generale von S. Maria Novella

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1210–1272), der wortgewaltige Minderbruder, predigte ›Vom vride‹.16 Über Zeichen des Friedens oder zeichenhafte Handlungen, die Friedenswillen bekunden und bestärken sollen, ist in diesen Schriften selten oder nie die Rede. Das Interesse der Autoren richtete sich auf theologische Grundlagen und ethische Normen. Suchten sie doch ihren Lesern und Hörern einzuschärfen, was Friede eigentlich sei und zu welchen Denk- und Handlungsweisen er verpflichtet. Was Friedenssymbole wie Schwertarm, Waage, Stab und Lilie, die als Ausdrucksformen örtlicher Sonderfrieden oder als Zeichen eines ungestörten Friedens- und Rechtszustandes Verwendung fanden, bedeuten, wurde als bekannt vorausgesetzt.17 Eingehender Kommentierung bedurften sie nicht. Städtische Gesellschaften erinnerten sich vornehmlich an gewonnene Schlachten, nicht aber an gelungene Friedensschlüsse, die mörderischen Kriegen und brandschatzendem Vernichtungswillen ein Ende bereitet hatten. Ein offizielles »Friedensfest«, das bis heute den Rang eines staatlich anerkannten Feiertages besitzt, gibt es meines Wissens nur in Augsburg. Es erinnert an die im Westfälischen Frieden verbriefte Parität zwischen Katholiken und Protestanten.18 Der jüngst erschienene Sammelband über »Feste und Feiern im Mittelalter«19 unterrichtet über das farbenprächtige Panorama geistlicher und weltlicher Festkultur und deren religiöse, politische und soziale Funktionen. Die Verfasser der einzelnen Beiträge breiten eine Unsumme von Informationen über Schlachtengedenken, Hallenfreuden und Hoftage aus. Einen Aufsatz über den feierlichen Abschluß von

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in Florenz tätig war, erörterte in einem ›Tractatus de bono pacis‹ Probleme der Friedensstiftung zwischen verfeindeten Städten. Zur handschriftlichen Überlieferung des Traktats vgl. L. hödl , Art. ›Friede‹, in: Lexikon des Mittelalters Bd. 4, 1999, Sp. 920f. Der Text wurde ediert v. Charles Till davIs, Remigio de’ Girolami and Dante: A Comparison of their Conceptions of Peace, in: Studi Danteschi 36 (1959), S. 123 - 136. Zu Bertholds Predigt ›Von dem fride‹ und der von ihm getroffenen Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Frieden vgl. h agenlocher (wie Anm.13), S. 117 122. – Franz von Assisi pries in seinen Predigten »den Wert des Friedens in der Stadtgemeinde«: Hans Joachim schmIdt, Allegorie und Empirie. Interpretation und Normung sozialer Realität in Predigten des 13. Jahrhunderts, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter, hg. v. Volker m ertens / Hans-Jochen schIewer , Tübingen 1992, S. 306. Über Friedenssymbole, die ihren Betrachtern die Pflicht zur Wahrung der Rechtsordnung einschärfen wollen und auf einen ungestörten Rechtszustand hinweisen, vgl. Gernot kocher , Friede und Recht, in: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag, hg. v. Karl h auck , Berlin / New York 1986, Bd. 1, S. 405 - 415. Zum Stab als Symbol des Friedens (vridestap) vgl. auch h agenlocher (wie Anm. 13), S. 143, Anm. 262; 246f. Vgl. Hugo steIger , Geschichte der Stadt Augsburg, München / Berlin 1941, S. 229; baer , Art. ›Friedensfest‹, in: Augsburger Stadtlexikon, Augsburg 1985, S. 117. Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposion des Mediävistenverbandes, hg. v. Detlef a ltenburg / Jörg jarnut / Hans-Hugo steInhoFF, Sigmaringen 1991.

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Friedensverträgen enthält das Buch nicht. Die für die Pflege politischer Kultur geltenden Regeln sahen vor, daß nur Kriegshelden, nicht Friedensstifter festlich gestalteter memoria teilhaftig wurden; nur siegreich geschlagene Schlachten hatten im Festkalender städtischer Kommunen ihren festen Platz.20 Indes: Keine Regel ohne Ausnahme. Unter den mit Friedensproblemen befaßten Autoren des Mittelalters bringt Magister Rufinus, Lehrer des Kirchenrechts an der Universität Bologna, später Bischof von Assisi und Erzbischof von Sorrent, mit bemerkenswerter Ausführlichkeit zur Sprache, was Gegenstand dieser Abhandlung ist. In seiner um 1182 verfaßten Schrift ›De bono pacis‹ – so sie denn tatsächlich von ihm stammt – warf er die Frage auf, mit Hilfe welcher Zeichen (signa) sich menschlicher und christlich-kirchlicher Friede, die pax Babylonica und die pax Ierusalem, darstellen und erklären lasse.21 Er unterscheidet drei Repräsentationsformen: Wörter (verba), Sachen (res) und Handlungen (actus). Zu den ersteren rechnet er Begrüßungsformeln (salutationes), Verträge (pactiones) und Eide (iuramenta). Als symbolträchtige Gegenstände bezeichnet er Zweige des Lorbeerbaumes, der Olive und der Palme. Als Handlungen, die Friedensbereitschaft und Friedenswille bekunden, betrachtet Magister Rufinus das gegenseitige Geben der rechten Hand (complexio dexterarum), das Aufschichten von Steinen (coacervatio lapidum) und – wie es im alttestamentlichen Gottesvolk üblich war – das Schlachten eines Opfertieres (ictus sacrificandae victimae). Der Symbolgehalt der alttestamentlichen Rituale ist nicht mit letzter Sicherheit aufzuhellen. Wiederholt ist in den Schriften des Alten Testamentes von »friedensstiftenden Opfertieren« (pacificae victimae) die Rede (z. B. 3 Kön. 9,25; Richter 21,4), nicht aber ausdrücklich vom Aufschichten von Steinen. Möglicherweise hat Rufinus Gideon im Auge, dem Gott, indem er Pax tecum zu ihm sagte, zu verstehen gab, daß er nicht sterben werde (Richter 6,23). Daraufhin schichtete Gideon einen Altar auf und nannte diesen Domini pax (»Friede des Herrn«; im hebräischen Urtext: »Gott ist Friede«). Das ausdrucksstärkste Friedenszeichen bildet nach Ansicht des Magisters Rufinus der Kuß – allerdings nicht der Kuß des Fußes und auch nicht der Kuß auf die Stirn oder das Ohr, sondern der Kuß auf den Mund. Dessen Symbolkraft kommt, wie aus den weiteren Darlegungen des Rufinus zu entnehmen ist, am stärksten beim Friedenskuß während der heiligen Messe zum Ausdruck. Wie wir, erläutert der theologisch gebildete Magister, mit Hilfe des Mundes Absicht und Willen des Geistes deutlicher artikulieren und geschärfter zum Ausdruck zu brin20 21

Vgl. Matthias l entz, Stadtbürgerliche Gedächtniskultur. Schlachtengedenken in Lüneburg im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Bielefeld 1994 (masch. Staatsexamensarbeit). Magister Rufinus episcopus, De bono pacis, ed. A. brunaccI / G. catanzaro, AssisiFonteviva 1986, S. 209 - 211.

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gen vermögen als durch die Bewegung anderer Glieder, so verhalte es sich auch mit dem Kuß des Mundes. Der Kuß des Mundes bezeichne »angemessener« (ap­ tius) als das Küssen anderer Körperteile das hohe Gut des Friedens. Gegeben werde der »Friedenskuß Jerusalem« (pacis Ierusalem osculum) in der heiligen Messe nach der Opferung und vor dem Empfang des eucharistischen Herrenleibes. Vor der Opferung deshalb, weil im Friedenskuß der Christenheit der »Friede Gottes« (pax Dei) zuteil werde. Als »Friede der Versöhnung« (pax reconciliationis), den der Tod Christi am Kreuz bewirkt habe, werde Gottes Friede von den Amtsträgern der Kirche den Laien verkündet und geschenkt. Weil es Christus war, der durch seinen Tod diesen Frieden begründete und vollendete, werde bei der Messe der Friedenskuß nach der Opferung gegeben, die an das Sterben Christi erinnere. Um öffentlich die »Eintracht brüderlichen Friedens« (fraternae pacis concordia) zum Ausdruck zu bringen, werde er vor dem Empfang des Sakramentes »den einzelnen mitgeteilt« (in singulos communicatur). Der in reiner Gesinnung gegebene Friedenskuß mache das Herz des Menschen zu einer von jedem Haß gereinigten Heimstatt, in welche der in der Eucharistie gegenwärtige Herr eintreten und bleiben könne. Von überwältigender Gesprächigkeit ist auch Rufinus nicht. Dennoch zeigen seine Erläuterungen zur Friedenssymbolik, daß es kein sach- und quellenfremdes Unterfangen ist, nach den signa pacis zu fragen, die sowohl in Wörtern als auch in Sachen und Handlungen bestehen können. Was für Zeitgenossen Gegenstand des Nachdenkens war, mag es auch für historisch interessierte Nachfahren sein, obschon – wie gesagt – es Grenzen der Erkenntnis gibt.

1. Friedensmetaphorik im Lichte der Auslegungsgeschichte eines Psalmverses Im Bild des Kusses, den Gerechtigkeit und Friede austauschen (Ps. 84 [85], 11), verdeutlicht der Psalmist den engen Zusammenhang zwischen Rechts- und Friedensordnung (Abb. 1). Menschen des Mittelalters, die sich gegenseitig den Kuß des Friedens gaben, bekundeten ihren Willen zu konfliktfreien Beziehungen. Der körperliche Gestus löst ein, was die Metapher bildhaft zum Ausdruck bringt. Sprachliche Metaphorik und körperliche Gestik verweisen aufeinander. »Unkörperliches« (incorporea), schreibt Cassiodor in seinem Psalmenkommentar, habe der Psalmendichter im Bild der »körperlichen Umarmung« (amplexus corporeus) anschaulich machen wollen. Die liebende Umarmung (amplexus dilectionis) zwischen Gerechtigkeit und Friede mache deren »wechselseitige Eintracht« (mutua concordia)

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Abb.1: Illustration zu Ps 84 (85), 11: Misericordia et veritas obviaverunt sibi, iustitia et pax osculatae sunt, Stuttgarter Psaler (um 820/30), Landesbibliothek Stuttgart, Cod. bibl. 2° 23, fol. 100 v.

augenfällig. Das pflege auch zu geschehen, wenn sich Menschen nach einer längeren Zeit der Trennung umarmen, um Freude des Wiedersehens zu bekunden. Der nexus bracchiorum sei ein Zeichen für das studium charitatis.22 Durch den Satz iustitia et pax osculatae sunt bittet der prophetische Seher Gott, seinem Volk, das sich von ihm verlassen glaubt, Gnade und Heil zu schenken. Zuversicht in Gottes Heils- und Rettungswillen mündet in das Bekenntnis: »Ja, nah ist sein Heil seinen Frommen, daß Herrlichkeit unter uns wohne, daß Liebe und Treue sich begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Der Erde entsproßt die Treue und Gerechtigkeit blicket vom Himmel.«

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Cassiodorus, Expositio in Ps 84,11, in: Magni Avrelii Cassiodori expositio psalmorum LXXI-CL, ed. Marcus a drIaen (Corpus Christianorum. Series Latina 98), pars. 11,2, Turnhout 1958, S. 778.

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Wie wollte der Psalmist selbst sein Bitten und Beten verstanden wissen? Wie haben sich Bibelausleger, Rechtslehrer und politische Moralisten des Mittelalters diesen Text angeeignet? Wie haben sie ihn gedeutet, um ihren Zeitgenossen friedfertiges Verhalten als sittliche und religiöse Pflicht nahezubringen? Hält man sich an die Weltdeutung altorientalischer Kulte und Kulturen, sind es Naturmächte, die das Leben der Menschen bestimmen. Diese ersetzt der Psalmensänger durch geistige Mächte: durch Liebe und Treue, durch Gerechtigkeit und Frieden. Gerechtigkeit, die vom Himmel herabschaut, verweist auf den Heilswillen Gottes; Treue, die aus der Erde hervorwächst, bezieht sich auf das Denken und Verhalten der Menschen. Israel, das Volk der wahren Gottesanbeter, hat mit Jahwe einen Bund geschlossen und kann deshalb damit rechnen, daß ihm Gott zu Hilfe kommt, wenn es sich an die getroffenen Abmachungen hält. Das Bild des Kusses unterstreicht die unauflösliche Zusammengehörigkeit von Gerechtigkeit, die von Gott kommt, und Friede, nach dem Menschen sich sehnen. Das Einswerden von Gerechtigkeit und Friede bleibt in der Sicht des Psalmisten Gegenstand der Hoffnung.23 Die mittelalterliche Wirkungsgeschichte dieses Psalmverses in Recht und Politik, in Theologie und Literatur verfolgen und rekonstruieren zu wollen, würde viel, sehr viel Zeit und Platz beanspruchen. Ein solches Unternehmen würde nicht nur die Grenzen eines Aufsatzes sprengen, sondern auch eine Auslegungsund Rezeptionsgeschichte vor Augen führen, in der es viel Wiederholung und mehr topische Gebundenheit als gedankliche Innovation gibt. In Predigten ›De pace‹, in Bibelexegese und politischer Lyrik, in der sozialethischen Traktatliteratur, in Regierungsprogrammen und Beschreibungen eines idealen Herrschers werden Gerechtigkeit und Friede als politisch-soziale Grundtugenden immer wieder angemahnt und eingeschärft. Rechts- und Friedenswahrung rechtfertigte königliche Herrschaft. Um die Ziele ihrer Königsherrschaft zu beschreiben, griffen Könige auf biblische, von dem Psalmvers gespeiste Traditionen zurück. Ludwig der Fromme gelobte 825, er werde dafür Sorge tragen, »daß Frieden und Gerechtigkeit seinem ganzen Volk erhalten bleiben möge« (ut […] pax et iustitia in omni generalitate populi nostri conser vetur).24 Ihre Gesetzgebungstätigkeit wollten karolingische Herrscher als Werk »für den Frieden und die Gerechtigkeit des Volkes und die Ruhe des Reiches« (pro pace ac iustitia populi et quiete regni) verstanden wis-

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Die Psalmen. Zweiter Teil: Psalm 61-150. Übersetzt und erklärt v. Artur weIser (Das Alte Testament Deutsch 15,2), Göttingen 1950, S. 374; 376f. Admonitio ad omnes regni ordines (823–825), in: Capitularia regum Francorum, ed. Alfred boretI (MGH. Capitularia 1), Hannover 1883, S. 303. Vgl. Reinhold k aIser , Selbst hilfe und Gewaltmonopol. Königliche Friedenswahrung in Deutsch land und Frank reich im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 17 (1983), S. 58.

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sen.25 In der Verbindung von iustitia und pax gab Heinrich III. seinem Herrscherprogramm Ausdruck, das nachweislich in die seit 1043 erlassenen Friedensaufrufe einmündete.26 Politische Lyriker des Mittelalters führten Klage, daß Friede und Recht verletzt seien. Fürstenspiegler beschworen den rex iustus et pacificus. Kein Friede ohne Gerechtigkeit, proklamierten die Verfasser mittelalterlicher Friedensschriften. Durch die Wahrung von Frieden und Recht suchten die staufischen Herrscher die Ehre und Würde des Reiches wiederherzustellen. Pax et iustitia, beteuerte Otto von Freising in seinen ›Gesta Frederici‹, könnten nunmehr, nachdem der Staufer Friedrich seine Regentschaft angetreten habe, als gesichert gelten. Neben der »Ehre des Reiches« (honor imperii) und dem »heiligen Reich« (sacrum imperium) gehörten »Friede und Recht« (pax et iustitia) zu jenen Leitbegriffen, mit deren Hilfe die staufische Kanzlei öffentlich machen wollte, wie die Staufer ihr Herrscheramt verstanden und zu erfüllen gedachten.27 Im Mainzer Reichslandfrieden von 1235 bilden pax und iustitia Schlüsselbegriffe eines neuen Herrschafts- und Reichsverständnisses. In dem Text ist vom vinculum pacis et iustitie die Rede, von der observancia pacis et execucionis iusticie sowie von pacis et iusticie moderamen.28 Friedens- und Rechtswahrung sollten der auctoritas 25 26

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Capitula Pistensia 869, in: Capitularia Regum Francorum, ed. Alfred boretI / Viktor k rause (MGH. Capitularia 2), Hannover 1897, S. 334, c. 3. Vgl. k aIser (wie Anm. 24), S. 59. Ebd., S. 67. Vgl. dazu insbesondere Karl schnIth, Recht und Friede. Zum Königsgedanken im Umkreis Heinrichs III., in: Historisches Jahrbuch 81 (1962), S. 22 - 57. Abt Bern von der Reichenau (um 978–1048) bezeichnete die Brust Heinrichs III. als eine Stätte (domicilium), in der sich Barmherzigkeit und Wahrheit begegnen, Gerechtigkeit und Frieden küssen (Ps. 84,11). Anton schwob, fride unde reht sint sêre wunt. Historiographen und Dichter der Stauferzeit über die Wahrung von Frieden und Recht, in: Sprache und Recht (wie Anm. 17), Bd. 2, S. 847; 860. Vgl. auch Heinrich a PPelt, Die Kaiseridee Friedrich Barbarossas, in: Friedrich Barbarossa (Wege der Forschung 390), hg. v. Gunther wolF, Darmstadt 1975, S. 208 - 244; Klaus schreIner , Friedrich Barbarossa – Herr der Welt, Zeuge der Wahrheit, die Verkörperung nationaler Macht und Herrlichkeit, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur, hg. v. Reiner h ausherr / Christian väterleIn, Stuttgart 1979, S. 522 - 525. – Um öffentlich kundzutun, wie er sein Herrscheramt auszuüben gedachte, ließ Friedrich Barbarossa an der Pfalz von Kaiserswerth folgende Inschrift anbringen: »Die Gerechtigkeit will ich festigen, damit überall Frieden herrsche« (Iustitiam stabilire volens, ut undique pax sit). Zit. nach H.-J. becker , Art. ›Friede‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, 1999, Sp. 919; Hans-Werner goetz, Das Geschichtsbild Ottos von Freising, Ein Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts (Archiv für Kulturgeschichte. Bei hefte 19), Köln / Wien 1984, S. 297 - 299. Hans h attenhauer , Pax et iustitia, in: Berichte aus den Sitzungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e. V. 1 (1982/83) 3, S. 39f. – Zu den Paarformeln

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imperantis eine verläßliche Grundlage geben. Zu übersehen ist allerdings nicht, daß die Paarformel des Psalms umgestellt wurde. Die kaiserlichen Kanzlisten schrieben nicht iustitia et pax, sondern pax et iustitia. Im Zentrum der biblischen Auslegungstradition hingegen stand der Gedanke, daß die Verwirklichung einer gerechten Rechtsordnung die beste Voraussetzung friedlichen Zusammenlebens sei; in dem kaiserlichen Friedensmanifest bildet Frieden die unabdingbare Voraussetzung einer geordneten Rechtspflege. Bibelausleger der spätantiken und mittelalterlichen Kirche verknüpften mit dem Psalmvers friedensethische und friedenstheologische Überlegungen. In der ›Enarratio zu Psalm 84‹ ruft der Kirchenvater Augustinus seinen Hörern zu: »Übe Gerechtigkeit, und du wirst Frieden haben; damit sich Friede und Gerechtigkeit küssen. Wenn du nämlich die Gerechtigkeit nicht liebst, wirst du den Frieden nicht haben: diese zwei lieben sich nämlich, die Gerechtigkeit und der Friede, und sie küssen sich, so daß, wer die Gerechtigkeit tut, den Frieden finden wird […] Willst du zum Frieden kommen? Übe Gerechtigkeit.«29 Der augustinische Friedensgedanke bestimmte maßgebend den mittelalterlichen Friedensbegriff. Friede im Mittelalter war »seinem konkreten Inhalt nach funktionell abhängig von der jeweiligen Rechtsordnung, die er schützte; Friede herrschte dort, wo die Rechtsordnung ungestört blieb«.30 Diese Verknüpfung von iustitia und pax beruhte auf theologischen und sozialethischen Fundamenten, welche die Kirchenväter und Exegeten des Mittelalters gelegt hatten. Friede und Gerechtigkeit, betonte Beda Venerabilis (673/74–735), seien gleichsam als Schwestern zu betrachten. Eine könne ohne die andere nicht existieren. Wer die Gerechtigkeit verletze, könne keinen Frieden haben. Friede würde sich nicht einstellen, wenn Gerechtigkeit nicht vorausgehe (non veniet pax, si non praecedat justitia). In der Begegnung zwischen Barmherzigkeit (misericordia) und Wahrheit (veritas) sah Beda die Zusammengehörigkeit zwischen Juden und Heiden ausgedruckt. Die Wahrheit verweise auf die Israel zuteil gewordenen Verheißungen; Barmherzigkeit beziehe sich auf die den Heiden in Christus zuteil gewordene Gnade.31 Wer Gerechtigkeit übe, beteuerte Remigius von Auxerre (nach 841–908), finde Frieden (qui fecerit iustitiam, inveniat pacem). Willst du Frieden finden, lautete sein Grundsatz, dann übe Gerechtigkeit (vis venire ad pacem? fac justitiam). Auf den einzelnen Christen bezogen, heiße dies: In dem, was wir denken und tun, könnten sich Gerechtigkeit und Friede nur deshalb gegenseitig küssen,

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iustitia et pax sowie fride und reht vgl. auch h agenlocher (wie Anm. 13), S. 166 - 177. budzIk (wie Anm. 14), S. 376. janssen (wie Anm. 13), S. 546. Beda Venerabilis, In psalmorum librum exegesis, in: m Igne , PL 93, Sp. 939.

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weil uns Christus erlöst und gerechtfertigt habe.32 Bischof Brun von Würzburg († 1045) vertrat die Auffassung, Barmherzigkeit und Wahrheit seien sich deshalb begegnet, weil Christus als der erwartete Messias das Alte Testament erfüllt und mit dem Neuen in Übereinstimmung gebracht habe. Barmherzigkeit sei der Inbegriff der neutestamentlichen Heilsbotschaft; mit Wahrheit sei die von den alttestamentlichen Propheten verkündete Wahrheit gemeint. Der Kuß zwischen Barmherzigkeit und Wahrheit sei Voraussetzung und Ursache dafür, daß sich auch Friede und Gerechtigkeit, die dasselbe bedeuten, hätten küssen können.33 Die Erlösungstat Christi bildete demnach die Grundvoraussetzung jeder innerweltlichen Rechts- und Friedensordnung. Der im Psalm beschriebene Kuß zwischen Gerechtigkeit und Frieden sowie dessen Auslegung trugen viel dazu bei, aus Gerechtigkeit und Frieden soziale Grundtugenden zu machen, die ein theologisches Fundament besitzen. Der Verfasser des Haimo von Halberstadt († 853) zugeschriebenen Psalmenkommentars, einer Arbeit des 11. Jahrhunderts, bezeichnete Christus als jene Person, in der sich Wahrheit – die Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen – und Barmherzigkeit – der Nachlaß der Sünden – begegneten. Gerechtigkeit und Frieden hätten sich geküßt in allen Menschen, die auf das Kommen Christi warteten. Ohne die Erlösungstat Christi hätte der Mensch weder Gerechtigkeit noch Frieden mit Gott.34 Hugo von St. Viktor († 1141) sah in seiner Exegese von Psalm 84,11 einen Konflikt zwischen den göttlichen Eigenschaften Barmherzigkeit und Wahrheit angedeutet. Gelöst worden sei dieser Konflikt durch die Menschwerdung Christi. 32 33

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Remigius Autissiodorensis, Enarrationes in psalmos, in: m Igne , PL 131, Sp. 591 - 592. – Vgl. auch h atten-h auer (wie Anm. 28), S. 14. Bruno Herbipolensis episcopus, Expositio in psalmos, in: m Igne , PL 142, Sp. 319. – Der Kartäuser Brun von Köln (um 1030–1101) deutete den Kuß zwischen Friede und Gerechtigkeit als Symbol der Erlösung. Ewige Seligkeit und ewigen Frieden im Himmel könnten Menschen deshalb erlangen, weil sich durch Gottes Barmherzigkeit in den Menschen selber »Gerechtigkeit, das heißt Nachlaß der Sünden« (iustitia, id est re­ missio peccatorum), und »Friede, das ist Gottes- und Nächstenliebe geküßt haben« ( pax, id est dilectio Dei et proximi). Vgl. Bruno Carthusianus, Expositio in psalmos, in: m Igne , PL 152, Sp. 1090. Bonaventura (1217–1274) deutete den Psalmvers streng christologisch. Der Kuß, den der Psalmist beschreibe, sei ein Zeichen der Liebe und des Friedens (signum est amoris et pacis). Dessen Ursprung sei im fleischgewordenen Wort Gottes zu suchen, das die Einheit der höchsten Liebe (unio summi amoris) verkörpere und seinem Wesen nach eine Verbindung von zwei Naturen (connexio duplicis naturae) sei, »durch welche Gott uns küßt und wir den Herrn küssen« ( per quam Deus nos osculatur et nos dominum deosculamur). Vgl. Bonaventura, Expositio in Evangelium S. Lucae, in: Ders., Opera omnia, ed. A. C. PeltIer , Bd. 11, Paris 1864, S. 16. Ps.-Haymo Halberstatensis episcopus, Explanatio in psalmos, in: m Igne , PL 116, Sp. 486 - 487.

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Der Text des Psalmisten bezeichne diese durch den Kuß zwischen Gerechtigkeit und Frieden. Veritas klage den Menschen wegen seiner Sünde an. Gott, durch Barmherzigkeit bewegt, lasse dem Menschen seine rechtfertigende Gnade zuteil werden. Auf diese Weise entstehe Friede zwischen Gott und den Menschen.35 Menschen, die Gott mit seinem Frieden beschenkt habe, sollten auch unter sich im Frieden leben. Denn, so heißt es in einer Konstanzer Ratsverordnung zu Anfang des 16. Jahrhunderts: »wa der frid ist, da ist gott selbs.«36 Wer Zwietracht säte und Aufruhr weckte, galt als Werkzeug des Teufels. Psalmenillustratoren, die den Gedanken des Psalmisten ins Bild bringen wollen, zeigen zwei Frauen, die sich gegenseitig umfangen und küssen.37 Bemerkenswert bleibt, daß in den Frieden, den Gott durch seinen Sohn mit der Menschheit schloß, auch die Juden eingeschlossen wurden. Der Kirchenvater Hieronymus (347/48–419/20) hat die Begegnung zwischen Barmherzigkeit und Wahrheit sowie den Kuß zwischen Gerechtigkeit und Frieden als metaphorische Aussage für die Zusammengehörigkeit von Juden und Heiden, dem alten und dem neuen Israel, ausgelegt.38 Dieser Gedanke fand auch Eingang in die Symbolik des Kusses, den der Priester bei der Feier der heiligen Messe dem Altar und dem Evangeliar gab. Der Altar bedeute, wie es in einer Übersetzung des von Guillelmus Durandus (um 1235–1296) verfaßten ›Rationale divinorum officiorum‹ heißt, »daz judisch volkch. Awer daz půch dez ewangelii oder daz ewangelii bedewtt daz haidnisch volkch, daz gelaubt hat der ler dez ewangelii. Und darumb der pischof oder der 35 36

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Vgl. Eduard Johann m äder , Der Streit der »Töchter Gottes«. Zur Geschichte eines allegorischen Motivs, Bern / Frankfurt a. M. 1971; h agenlocher (wie Anm. 13), S. 95 - 100. Das Rote Buch, ed. Otto Feger (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen Bd. 1), Sigmaringen 1949, S. 140. Vgl. auch Gudrun wIlteck , Franziskanische Friedensvorstellungen und Stadtfrieden. Möglichkeiten und Grenzen franziskanischen Friedewirkens in mitteldeutschen Städten im Spätmittelalter, in: Bettelorden und Stadt. Bettelorden und städtisches Leben im Mittelalter und in der Neuzeit, hg. v. Dieter berg, Werl 1992, S. 156. Vgl. schreIner (wie Anm. 12), S. 92. Vgl. wohlFeIl (wie Anm. 13), S. 211 - 258. – Die Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg, Bd. 2, 3, Berlin 1912, S. 160, beschreiben einen am Rathaus Brandenburg Neustadt befindlichen Runderker folgendermaßen: Der Runderker sei von »malerischem Schmuke« begleitet gewesen. »Dieser bestand aus einem angehefteten Tafelgemälde und einer Freskomalerei. Die Tafel stellte nach Psalm 85 Vers 11 ›die Glückseligkeit eines wohlbestallten Regiments‹ derart dar, daß ›Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen‹.« Freundlicher Hinweis von Herrn Kollegen Dietrich Kurze, Berlin. Hieronymus, Breviarium in psalmos, in: m Igne , PL 26, Sp. 1142: Justitia et pax deoscu­ latae sunt, hoc est misericodia et veritas amicitiam fecerunt, hoc est, et gentilium populus et Judaeorum sub uno pastore Christo est. Vgl. auch h attenhauer (wie Anm. 28), S. 11.

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priester chust daz ewangelii und den alter [Altar], wenn Christus hat frid gegeben paidem volkche, do er ward ain ekstain und veraind paydew volkch in ainem gelauben.39 Christus selbst habe in dem ewangelii frid gepredigt.«40 »Christus unser frid« habe Juden und Christen, »czway volch«, miteinander versöhnt.41 Die Wirkungsgeschichte des Psalmverses zeigt: Friedensgedanke und Friedensstiftung besaßen im Mittelalter eine religiöse Dimension. Diese sicht-, versteh- und erfahrbar zu machen, ist die Absicht von Bildern, Symbolen und symbolischen Handlungen. Friede unter Menschen setzte voraus, daß diese mit Gott im Frieden lebten und sich dessen Friedensgebot zu eigen machten. In diesen Vorstellungswelten wurzelten Zeichen und Rituale, die Friedensgesinnung und Friedenspflicht bild- und sinnenhaft vergegenwärtigen sollten: der Friedenskuß, die geteilte Eucharistie, der Kruzifixus, die gottesdienstliche Feier, der Eid, das Mahl, der Handschlag, die Begrüßung, die öffentliche Buße, die fußfällige Unterwerfung, die Entblößung des Körpers.

2. Frühmittelalterliche Friedenszeichen Für Parteien, die sich in der Zeit des Mittelalters bekämpften und bekriegten, gab es, wenn sie ihren Streit beenden wollten, keinen festen Ordo, der die Modalitäten konfliktlösender Friedensstiftung verbindlich festlegte. Friedenswillige Könige, Adlige und Bürger, die gehalten waren, ihren Friedenswillen öffentlich kundzutun, schöpften aus einem Vorrat an überlieferten symbolischen Formen. Darüber zu entscheiden, welche rituellen Handlungen die getroffenen Vereinbarungen veranschaulichen und bekräftigen sollten, war Sache der jeweils Beteiligten. Auszuwählen war deren Recht und Pflicht; gehörte es doch zur unabdingbaren politischen Kultur des Mittelalters, Versöhnungsakte und Friedensschlüsse in Handlungen einzubetten, deren Zeichenfunktion von Akteuren und Zuschauern verstanden wurde. Offenkundig und allenthalben mit Händen zu greifen ist die Tendenz, es bei Friedensschlüssen nicht bei einer einzigen Geste oder bei einem einzigen Ritual zu belassen, sondern durch eine Sequenz von Riten die rechtliche Verbindlichkeit des vereinbarten Friedens zu unterstreichen. Unterschiede in der Bedeutung und im Gebrauch von Gesten und Riten bestehen dann, wenn Rang und Stellung der friedenschließenden Parteien zum Ausdruck gebracht werden 39 40 41

Durandus’ Rationale in spätmittelhochdeutscher Übersetzung. Das vierte Buch nach der Hs. CVP 2765, ed. G. H. buIjssen, Assen 1966, S. 61. Durandus’ Rationale (wie Anm. 39), S. 62. Ebd.

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sollen. Auch am jeweils vollzogenen Ritual sollte abgelesen werden können, wie ein Friede zustandegekommen war – ob durch fußfällige supplicatio oder durch ein pactum zwischen gleichrangigen Partnern. Ausgewählte historische Beispiele mögen das Gemeinte veranschaulichen. Der Merowingerkönig Chilperich I. (561–584) hatte sich mit seinem Sohn Merovech überworfen, weil Merovech gegen Recht und kirchliche Satzung Königin Brunichilde, die Frau seines Onkels, geehelicht hatte. Als Merovech erfuhr, daß sein Vater die Ehe zu trennen beabsichtigte, suchte er Asyl in der Kirche des hl. Martin von Rouen. Die Versöhnung zwischen Vater und Sohn wurde folgendermaßen inszeniert: Chilperich leistete einen Eid, demzufolge er Merovech und Brunichilde nicht voneinander zu trennen beabsichtige, wenn die eheliche Verbindung dem Willen Gottes entspreche. »Diesen Eid nahmen sie [Merovech und Brunichilde] an und kamen aus der Kirche; er [Chilperich] küßte sie, ahm sie geziemend auf und speiste mit ihnen.« 42 Die rituellen Elemente des Versöhnungsvorganges sind offenkundig: Der Eid, in dem Sprache und Gestus eine untrennbare Einheit bilden, sowie Kuß und Mahl43 erfüllten die Funktion symbolischer Ausdrucksformen, die das zwischen Vater und Sohn wiederhergestellte Einvernehmen publik und stabil machen sollten. Eid, Kuß und Mahl wurden bisweilen ergänzt durch Geschenke. Über den Vertrag von Andelot, den König Gunthchramn im Jahre 586 mit seinem Neffen Childebert und den Königinnen Brunichilde, Faileuba und Chlodosinda schloß, berichtet Gregor von Tours folgendes: König Gunthchramn schloß mit seinem Neffen und den Königinnen einen Friedensbund ( pacem firmavit). Nachdem sie Gaben ausgetauscht und die öffentlichen Belange geordnet hatten, hielten sie zusammen Mahl. Das neue, durch die eidlich bekräftigte pax geschaffene Verhältnis nahm Gestalt an im Tausch von Gaben und im gemeinsamen Essen. Nach dem gemeinsamen Mahl, so berichtet der Chronist, kehrten die vertragschließenden Partner »in Frieden und Freude« (cum pace et gaudio), immer wieder Gott dankend, in ihre Heimatstädte zurück, »nachdem sie die Verträge

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Gregorius episcopus Turonensis, Libri historiarum V,2. Übersetzung nach Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten – Gregorii episcopi Turonensis historiarum libri decem, ed. Rudolf buchner (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 2), Darmstadt 1955, S. 576. Zur »rechtsrituellen Handlung des gemeinsamen Mahles«, mit dem »Freundschaft, Bündnis, Genossenschaft und Frieden« geschlossen wurde, vgl. Gerd a lthoFF, Der frieden-, bündnis- und gemeinschaftsstiftende Charakter des Mahles im früheren Mittelalter, in: Essen und Trinken in Mittelalter und Neu zeit, Irmgard bItsch u. a., Sigmaringen 1987, S. 24.

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aufgezeichnet und sich gegenseitig beschenkt und geküßt hatten« (conscriptis pac­ tionibus, se remunerantes et osculantes).44 König Lothar von Westfranken und Kaiser Otto II. trafen sich im Mai 980 in Margut an der Chiers (bei Sedan), um ihre Feindseligkeiten beizulegen. Sie gaben sich gegenseitig die rechte Hand, küßten ohne Zögern einander und bekräftigten durch einen Eid, den einer dem anderen schwor, ihre Freundschaft (datisque dextris, osculum sibi sine aliqua disceptatione benignissime dederunt, amiciciam altrinsecus sacramento stabilierunt).45 Der Handschlag, ein häufig anzutreffendes Ritual friedenstiftender Konfliktbeilegung, bekräftigte den Willen, sich an den gefundenen Konsens zu halten. Mitunter begnügten sich die friedenschließenden Parteien mit einem einfachen Eid. Der zwischen Kaiser Karl dem Großen und dem Dänenkönig Hemming vereinbarte Friede ( pax condicta) wurde, wie die fränkischen Reichsannalen berichten, 811 an der Eider durch Beauftragte der beiden Herrscher abgeschlossen. An dem Grenzfluß zwischen beiden Reichen trafen sich, nachdem die Frühlingssonne die durch harten Frost geschlossenen Wege wieder freigegeben hatte, zwölf fränkische und zwölf dänische Große. Indem sie sich gegenseitig Eide leisteten, wurde der Friede abgeschlossen und bekräftigt (datis vicissim secundum ritum ac morem suum sacramentis pax confirmatur).46 Als Christen 44

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Gregorius episcopus Turonensis IX, 11 (wie Anm. 42), Bd. 2, S. 247. – Zur Bedeutung des Gabentausches vgl. Margret wIebers, Zwischenstaatliche Beziehungsformen im frühen Mittelalter (Pax, Foedus, Amicitia, Fraternitas), phil. Diss. Münster 1959, S. 79: Der Gabentausch als solcher sei »Rechtsakt«. Er bewirke »konstitutiv« den Abschluß eines Friedens- und Freundschaftsbundes (S. 78). Als Beleg zitiert sie einen Brief Ludwigs des Jüngeren an Ludwig den Stammler, in dem Ludwig erläutert, weswegen er Ludwig dem Stammler habe Geschenke zukommen lassen. Er habe das insbesondere deshalb getan, ut autem foedus inter nos conditum permaneat firmum (ebd.). Die zitierte Quelle ist meines Erachtens kein beweiskräftiger Beleg für den von der Verfasserin behaupteten rechtskonstitutiven Charakter des Gabentausches. Sie enthält eine Absichtserklärung, die durch Geschenke bekräftigt wird. Insofern ist eher davon auszugehen, daß der Austausch von Geschenken – gleich dem Eid – promissorischen Charakter besitzt. – Zurückhaltender äußert sich Jürgen bannIg, Ars donandi. Zur Ökonomie des Schenkens im früheren Mittelalter, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 37 (1986), S. 153: »Der in feierlichen Formen geregelte rituelle Geschenk austausch ist neben dem gemeinsamen Mahl, dem Bruderkuß und der gemeinsam besuchten Messe konstitutives Element bei den Herrscherbegeg nungen.« Geschenke sind demnach Bestandteile eines Rituals, das verpflichtende soziale Bindungen begründet, nicht eine rechtliche Ordnung herstellt. Yannick carré , Le baisier sur la bouche au moyen âge. Rites, symboles, mentalités, à travers les textes et les images, XIe –XVe siècles, Paris 1992, S. 170f. Annales regni Francorum ad annum 811. Zitiert nach Annales regni Francorum – Die Reichsannalen, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte – Fontes ad historiam regni Francorum aevi Karolini illustrandam, Erster Teil, neubearbeitet v. Reinhold

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pflegten die Franken ihre Schwurhand auf Reliquien zu legen. Die Dänen banden sich, nordgermanischer Gepflogenheit folgend, durch einen Waffeneid. Auch ohne Reliquien und Waffen sind Friedensvereinbarungen immer wieder beeidigt worden. König Ludwig der Deutsche, sein Bruder Karl der Kahle und ihr Neffe Lothar trafen sich am 1. Juni 860 in der Burg Koblenz. Dort verhandelten sie, wie die ›Annales Bertiniani‹ überliefern, lange über den Frieden und bekräftigten schließlich durch persönlich geleistete Eide ihre gegenseitige Eintracht und Freundschaft (de pace inter se diu tractantes, tandem concordiam atque amicitiam ipsi per se iuramento firmant).47 Auch ein einfacher Handschlag konnte die Funktion einer friedenstiftenden und friedenfestigenden Geste erfüllen. Als Friedensgestus besaß der Handschlag einen eindeutigen, allgemein verständlichen Sinn: Er war, wie es Isidor von Sevilla (um 560–636) gesagt hatte, ein Unterpfand des Friedens ( pignus pacis).48 Jordanes († 552) berichtet in seinen ›Getica‹: Als Hilfstruppen der Römer hätten die Goten gegen die Hunnen kämpfen sollen. Als sich aber die Heere kampfbereit gegenüberstanden, habe man erkannt, daß beide Heere gleich stark seien und keines von beiden weniger tapfer sei als das andere. Diese Einsicht ließ Friedensbereitschaft aufkommen: Sie – das heißt wohl: die Führer der beiden Parteien gaben sich gegenseitig die rechte Hand und kehrten auf diese Weise zum alten Einvernehmen zurück (datis dextris in pristina concordia redierunt).49 Als die Böhmen mit Karlmann im Jahre 869 Frieden schließen wollten, baten sie den König, daß er ihnen die Hand reiche. Karlmann erfüllte ihre Bitte (Behemi dextras sibi a Carlmanno dari petunt et accipiunt).50 Ein verweigerter Handschlag ließ Frieden nicht zustandekommen. Der sächsische Graf Wichmann der Jüngere,

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r au (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächt nisausgabe 5), Darmstadt 1962, S. 96 - 99. Vgl. dazu wIelers (wie Anm. 44), S. 13. »Auch 873 schworen die Dänen noch iuxta ritum gentis suae per arma sua (ebd.). Annales Bertiniani ad annum 860, ed. Georg waItz (MGH. Scriptores rer. Germ. in usum scholarum 5), Hannover 1883, S. 54. – Zum promissorischen Charakter der bei Friedensbündnissen geleisteten Eide vgl. Lothar kolmer , Promissorische Eide im Mittelalter, Regensburg 1989. Zur religiösen Dimension des Eides – karolingische Theologen bezeichnen ihn als sacramentum iuris – vgl. Paolo ProdI, Der Eid in der europäischen Verfassungsgeschichte (Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge 33), München 1992; ders., Il sacramento del potere. Il giuramento politica nella storia costitutizionale dell’ Occidente, 1992. – Zur Frage, ob der Eid bei einem pactum pa­ cis »für die Geltung des im Landfrieden niedergelegten Rechts konstitutiv oder nur deklaratorisch-bestärkend war«, vgl. wadle (wie Anm. 13), S. 79f. Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, ed. W. M. l Indsay, Bd. 2, Oxford 1911, XI, 1, 67: Dextra vocatur a dando, ipsa enim pignus pacis datur. Iordanis, Romana et Getica, ed. Theodor mommsen (MGH AA 5), Berlin 1882, S. 104. Annales Fuldenses ad annum 869, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte – Fontes ad historiam regni Francorum aevi Karoloni illustrandam, Dritter Teil, neu

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ein Neffe Hermann Billungs, wurde 967 von feindlichen Slawen umzingelt. Sie versprachen ihm, ihn unverletzt ihrem Herrn, Herzog Mieskoz, zu übergeben, falls er die Waffen strecke. Die Vereinbarung bedurfte eines Handschlags. Wichmann hielt es jedoch für unter seiner Würde, slawischen Kriegern die Hand zu geben. »Obgleich sich jener [Wichmann]«, berichtet Widukind von Corvey, »in der schlimmsten Notlage befand, vergaß er doch nicht seinen altererbten Adel und seine Tugend und weigerte sich, solchen Leuten die Hand zu geben«. Wichmanns Standesstolz blockierte die von den Slawen angebotene Vereinbarung. Diese kämpften weiter, weil es Wichmann abgelehnt hatte, durch einen Handschlag Friedenswillen zu bekunden; er wurde niedergemacht.51 Friedensschlüsse, die mit Hilfe eines einfachen Handschlages zustande kamen, sind bis ins hohe und späte Mittelalter bezeugt. Graf Wilhelm von Ypern führte im August 1127 sein Heer gegen Graf Stephan von Boulogne. Dessen Land überzog er mit Feuer und Schwert. Schließlich aber gingen vertrauenswürdige Unterhändler hin und her. Weil die beiden Grafen miteinander ver wandt waren, gaben sie sich gegenseitig ihre rechte Hand. Sie legten die Waffen nieder und beschlossen, für drei Jahre die Waffen ruhen zu lassen (quia consobrini erant sibi dextras dederunt, treugiisque triennalibus datis pacificati sunt).52 In der St. Patricks-Kathedrale von Dublin gibt es eine Sakristei, die mit einer »Tür der Versöhnung« (Door of Reconciliation) versehen ist. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie ein Loch enthält, das an einen Versöhnungsakt aus dem Jahre 1492 erinnert. Was dieses Loch mit Friedensstiftung zu tun hat, sei kurz erzählt: Zwei Grafen hatten sich in fehdeartige Konflikte verstrickt. Einer davon suchte Zuflucht in der im südlichen Querhaus der St. Patricks-Kathedrale befindlichen Sakristei. Um den beiden Streithähnen die Chance zu geben, ihrem Friedenswillen sinnenhaften Ausdruck zu geben, wurde ein Loch in die Tür geschlagen, damit sie zum Beweis ihrer Versöhnung shake hands machen konnten. Als aber das Versöhnungsritual beginnen sollte, machte sich Argwohn breit. Keiner der beiden Kontrahenten wollte, als erster die Hand durch das Loch strecken. Derjenige, der sich als der stärkere von beiden dünkte, entschloß sich schließlich, den Anfang zu machen und seine Hand als Zeichen der Versöhnung durch das

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bearb. v. Reinhold r au (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 7), Darmstadt 1960, S. 76. Widukindi monachi Corbeiensis Rerum gestarum Saxonicarom libri tres, bearb. von Paul h Irsch in Verbindung mit Hans-Eberhard l ohmann (MGH. Scriptores rer. Germ. in usum scholarum 60), Hannover 51935, S. 145: Ille, licet in ultima necessitate sit constitutus, non immemor pristine nobilitatis ac virtutis, dedignatus est talibus manum dare. Vgl. dazu Karl luser , Ritual, Zeremonie und Gestik: das ottonische Reich, in: Früh mittelalterliche Studien 27 (1993), S. 4f.; Fuhrmann (wie Anm. 10), S. 123f. The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis, Bd. 6: Books XI, XII, XIII, ed. Marjorie chIbnall , Oxford 1978, S. 372.

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Loch zu bewegen.53 In einer Zeit, in der Friedensvereinbarungen zunehmend formalisiert und verschriftlicht wurden, mutet der Handschlag durch das Loch einer Kirchentür ausnehmend archaisch an. Daß es ihn in dieser Form als Relikt einer unzeitgemäß gewordenen Rechtstradition immer noch gab, erscheint bemerkens- und erwähnenswert. Nicht zu übersehen ist auch dies: Gegenseitige Handreichung veranschaulichte ein Verhältnis zwischen gleichrangigen Partnern, die entschlossen waren, sich vertraglich aneinander zu binden. Auch als Unterwerfungsritual fand die Handgebärde Verwendung. Für die Unterwerfungspraxis in der antiken, spätantiken und frühmittelalterlichen Welt galt folgende Regel: »Die Besiegten strecken dem Sieger ihre Hände entgegen oder geben sich in seine Hand.« Weil die Hand als Rechtsterminus Macht ( potestas) bedeutet, verzichten die zur Handgebärde entschlossenen Unterlegenen »auf ihre potestas, ihre Freiheit, oder geben sich in die potestas des Siegers«.54 Handgebärde und Handreichung sind auch in Verbindung mit anderen Gesten als Zeichen der Unterwerfung literarisch bezeugt. An folgendem Vorfall, von dem Ordericus Vitalis († nach 1142), der normannische, im Kloster St. Evroul lebende und schreibende Benediktiner, in seiner ›Historia ecclesiastica‹ berichtet, ist das mit wünschenswerter Anschaulichkeit zu erkennen. Der normannische Herzog und englische König Wilhelm belagerte mit einem großen Heer 1073 die Stadt Le Mans. Den Einwohnern der Stadt legte er nahe, ihre Stadt, ehe sie erstürmt und verbrannt sowie ehe Blut vergossen wird, »im Frieden« (cum pace) zu übergeben. Die Bürger (cives) von Le Mans folgten dem Rat. Am nächsten Tag erschienen sie, um Frieden bittend, vor den Toren, händigten dem König die Schlüssel der Stadt aus und legten ihr Geschick in seine Hände. Der König empfing sie mit Güte und Milde. Auch die übrigen Bewohner von Le Mans (reliqui Cenomannenses) entschlossen sich, »Friedensboten« ( pacis legati) zu König Wilhelm zu schicken. Frieden schlossen sie der Not gehorchend. Einerseits fürchteten sie sich vor der Größe und Stärke des kaiserlichen Heeres, andererseits wußten sie, daß auch ihre Freunde vor dem Anblick des überaus tüchtigen Heerführers schwach geworden waren. Um ihre beiderseitige Friedensbereitschaft zu bekräftigen, gaben sich die Gesandten und der König die rechte Hand. Dann stellten die städtischen Abgesandten voll Freude ihre 53 54

D. A. chart, The Story of Dublin, Neudruck Nendeln / Liechtenstein 1971, S. 53; Victor jackson, St. Patricks Cathedral Dublin, Dublin 1991, Abb. 26 (und die dazugehörige Bildbeschreibung). Die Fränkische Vasallität. Von den Hausmeiern bis zu Ludwig dem Kind und Karl dem Einfältigen, hg. von Peter herde / Walter k Ienast, Frankfurt a. M. 1990, S. 83. – Kienast unterscheidet zwischen »Handreichung« (dextras dare) als Vertragsritual und »Handgebärde« (manus dare, in manus dare) als Unterwerfungsgestus (ebd., S. 83f., Anm. 271). – Im hohen Mittelalter ist eine scharfe Grenzziehung mit unter schwierig.

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Fahnen zu den königlichen Standarten (datis ab utrisque dextris ipsi regalibus sig­ nis sua vexilla gaudentes associauerunt).55 Von Eiden, Friedensküssen, Geschenken und Gastmählern ist hier nicht die Rede. Das ist kein Zufall. Gesten, Zeichen und symbolische Handlungen, die das hierarchische Beziehungsverhältnis verwischt und eingeebnet hätten, sollten mit Bedacht vermieden werden. Was den Handschlag der Bürger von Le Mans unzweideutig als Unterwerfungsritual erscheinen läßt, sind insbesondere die symbolischen Begleithandlungen: die Aushändigung der Stadtschlüssel und die Übergabe der Fahnen. Nicht weniger eindeutig ist die Botschaft von Friedensgesten, in denen sich die Ablehnung von Friedensangeboten ausdrückt. Zurückgewiesene Schenkungen sind ein unmißverständlicher Beweis für mangelnde Bereitschaft zum Frieden. Als die abendländischen Kreuzfahrer bei ihrem ersten Kreuzzug Tripolis belagerten, schickte der König von Tripolis den christlichen Belagerern zehn Pferde, vier Maulesel und einen großen Klumpen Gold. Die Gesandten, die diese Geschenke überbrachten, forderten als Gegenleistung Frieden und Freundschaft ( pax et amicicia). »Die Anführer der christlichen Truppen aber, die Grafen von der Normandie, von Flandern und Toulouse, schlossen mit dem König von Tripolis keinen Frieden. Die ihnen zugedachten Geschenke (ob­ lata) wiesen sie zurück. Beherzt gaben sie zur Antwort: ›Das alles, was von Dir kommt, verschmähen wir, bis Du Dich bereit erklärst, Christ zu werden.‹« 56 Abtbischof Salomon III. von Konstanz (890–919) lud, wie Ekkehard IV. (980/990–1056) in seinen ›Casus s. Galli‹ überliefert, zwei Grafen, mit denen er seit langem in Fehde lag, zu einem Friedensmahl ein.57 Gemeinsames Essen (convivium) und Geschenke (munera), die der Bischof den geladenen Edelleuten zu machen gedachte, sollten den Streit aus der Welt schaffen. Während des Mahles ließ der Bischof zwei kostbare Gefäße aus Glas in den Speisesaal bringen – in der Absicht, sie den mit ihm verfeindeten Grafen zu schenken. Diese nahmen die beiden Gläser, die sie zuvor bewundert hatten, zwar als Geschenke an, ließen sie aber vor den Augen des Bischofs auf den Boden fallen. Das war kein Mißgeschick, sondern kalkulierte Absicht. Die über den Boden zerstreuten Scherben lösten bei den beiden Grafen lautes Lachen aus. Das kostbare Geschenk des Bischofs gaben sie so der Lächerlichkeit preis. Innerhalb »eines strengen Potlatschsystems« 58 wären die beiden Grafen, die mit einer allgemein anerkannten Regel brachen, zweifelsohne Sieger geblieben. Der Bischof wollte die erlittene Kränkung nicht wort- und widerspruchslos hinnehmen und wechselte deshalb die Argumentationsebene, indem er eine christlich-caritative Norm 55 56 57 58

Ordericus Vitalis (wie Anm. 52), Bd. 2, Oxford 1969, S. 308. Ordericus Vitalis (wie Anm. 52), Bd. 5, Oxford 1975, S. 146. Vgl. dazu h annIg (wie Anm. 44), S. 159f. Ebd., S. 159.

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ins Spiel brachte. Die zerstörten Pokale, versichert er, »waren euer Eigentum, darum blieb es euch unbenommen, so kostbare Pokale zu zerbrechen. Allein, für euer Seelenheil hättet ihr viel tun können, wenn ihr sie, statt Geld zu geben, an die Armen geschenkt hättet«.59 Die Grafen aber hatten die Geschenke des Bischofs zerstört, weil sie dem geistlichen Herrn mißtrauten. Dessen Geschenkaktion betrachteten sie als kalkuliertes Manöver, bei dem innere Gesinnung und äußere Handlung nicht zusammenstimmten. Geschenke, die aus einer unehrlichen Gesinnung kommen, besaßen ihrer Auffassung nach keine konfliktlösende Kraft. »Mit Glas«, beteuerten sie, »soll man gläserne Freunde beschenken. Wir aber haben das Glas zerbrochen, weil wir nicht gläsern sein wollen.« 60 Durch diese Antwort war der friedlose Zustand, der zuvor das beiderseitige Verhältnis bestimmt hatte, wiederhergestellt. Die Fehde konnte ihren Fortgang nehmen. Auch das Mahl konnte nicht seine frieden-, bündnis- und gemeinschaftsstiftende Funktion erfüllen, wenn gegen eingespielte Regeln verstoßen wurde. Die Art des Essens signalisierte friedliche oder unfriedliche Gesinnung. Zum Beweis dessen hat Gerd Althoff einen Vorgang in Erinnerung gebracht, an dem abgelesen werden kann, daß Friedensrituale dysfunktional wirkten, wenn der ihnen innewohnende Anspruch nicht angenommen und erfüllt wurde: die Begegnung zwischen Heinrich IV. und Gregor VII. auf der Burg Canossa im Januar 1077.61 Als der Papst und der deutsche Herrscher Mahl hielten, habe, wie Bischof Anselm von Lucca berichtet, Heinrich IV. geschwiegen, keine Speisen angerührt und mit seinem Fingernagel auf der Tischplatte herumgekratzt. Dem Berichterstatter kam es nicht darauf an, den deutschen Herrscher als einen Mann mit schlechten Manieren zu brandmarken. Er wollte vielmehr zum Ausdruck bringen, daß Heinrich IV. gar nicht ernsthaft daran interessiert war, mit dem Papst Frieden zu schließen. Des Königs Verhalten widersprach dem Sinn gemeinsamen Essens, das Frieden bilden, festigen und erhalten sollte. Es mag zutreffen, daß seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert das Mahl beim Abschluß politischer Bündnisse stark zurückging und auch beim Abschluß von

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Ekkehardus IV., Casus S. Galli c. 13. Übersetzung nach: Ekkehard IV., St. Galler Klostergeschichten, hg. und übers. v. Hans F. h aeFele (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 10), Darmstadt 1980, S. 38ff. Ebd. – ›Glas‹ und ›gläsern‹ haben hier eine eindeutig negative Bedeutung, die durch Vergleichsbeispiele noch zu präzisieren wäre. Ist ›gläsern‹ mit zerbrechlich im Sinne von unzuverlässig und untreu, von hinterhältig und verschlagen gleichzusetzen? Im hohen und späten Mittelalter wurde das lichtdurchlässige weiße Glas häufig als Symbol für die Jungfräulichkeit Marias benutzt. a lthoFF (wie Anm. 43), S. 13.

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Friedensverhandlungen keine wichtige Rolle mehr spielte. 62 Andererseits ist auch mit Traditionsüberhängen zu rechnen. Zu den friedenstiftenden Ritualen, die in spätmittelalterlichen Städten gepflegt wurden, gehörte immer noch das Trinkgelage, das »die feierliche Sühne beschloß«, und »als der Zeitpunkt der endgültigen Versöhnung« angesehen wurde. 63 Friedenstreffen scheiterten gleichfalls, wenn einer der Partner, der auf Gleichrangigkeit pochte, sich durch die Art und Weise der Begrüßung in seinem Status unterschätzt und deshalb in seiner Ehre gekränkt fühlte. Als König Friedrich der Schöne (1289–1330) einsah, daß weitere Kriegführung seinem Lande nur zum Schaden gereiche, strebte er mit Johann von Luxemburg (1296– 1346), dem böhmischen König, eine concordia an. Als sich die beiden Regenten trafen, zog Johann den Hut, um dem entgegenkommenden Friedrich Ehre zu erweisen. Friedrich seinerseits, der die Bedeutung der Begegnung anscheinend verkannte, lüftete seinen Hut nur ein wenig. Um im Falle Johanns das korrekte Abnehmen des Hutes zu charakterisieren, spricht der Chronist vom gezogenen, abgenommenen Hut (detractus capucius); im Falle Friedrichs nur vom pileus ad modi­ cum elevatus. Weil Friedrich seinen Hut kaum gehoben hatte, fühlte sich Johannes verachtet (arbitrans se contemptum) und kündigte den vereinbarten Versöhnungstermin auf ( placiti diem solvit).64 Auch Abschiedszeremonien hatten es in sich. An der Art der Verabschiedung war erkennbar, ob Friedensverhandlungen zum Erfolg geführt hatten oder nicht. War keine Einigung erreicht worden, gingen die Unterhändler, wie Otto von Freising in seinen ›Gesta Friderici‹ an einem Beispiel zeigt, insalutati, ohne sich zu grüßen, auseinander. Sie gaben sich zum Abschied weder den Friedenskuß noch die rechte Hand. 65 Innere Gesinnung und körperliches Ausdrucksverhalten sollten zusammenstimmen. Körper sollten nicht lügen. Im 10. Jahrhundert gehören Widersprüche zwischen innen und außen zum diplomatischen Stil der großen Politik. So62 63 64 65

Ebd., S. 25. h Is (wie Anm. 13), S. 193. Johannes Victoriensis und andere Geschichtsquellen Deutschlands im vierzehnten Jahrhundert, ed. Joh. Friedrich boehmer (Fontes rerum Germanicarum – Geschichtsquellen Deutschlands 1), Stuttgart 1843, S. 405. Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs oder richtiger Chronica – Gesta Frederici seu rectius Cronica (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 17), Darmstadt 1965, S. 372. – Zu verweigern war der Friedenskuß auch Exkommunizierten. »Als Kaiser Friedrich II., wegen seines immer wieder aufgeschobenen Kreuzzugs mit dem Kirchenbann belegt, 1228 endlich ins Heilige Land zog, empfing ihn in Akkon Klerus und Volk ›mit großer Ehre, wie es einem solchen Manne geziemte‹. Aber als einem Gebannten verweigerten sie dem Kaiser Friedenskuß und Tischgemeinschaft« (Fuhrmann [wie Anm. 10], S. 118).

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zialistische Bruderküsse hindern nicht daran, politische Homogenität durch Waffengewalt zu erzwingen (wie im Fall der Tschechoslowakei im August 1968). Händedruck gibt keine Gewähr, daß nicht einige Tage später kriegerische Auseinandersetzungen ihren Anfang nehmen (wie im Golfkrieg). Den Bruderkuß, den Honecker und Gorbatschow im Oktober 1989 austauschten, hat der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom folgendermaßen kom mentiert: »Den Kuß führen Menschen aus, aber was sich dort küßt, das sind Strategien, politische Philosophien. Das Land, das ohne die Sowjetunion undenkbar war, wird von dem Land geküßt, das den Untergang der DDR, so wie sie ist, denkbar macht. Die von Lenin und Stalin geerbte Orthodoxie wird von der Häresie geküßt. Die Philosophie, die alles in Gang gesetzt hat, küßt die Philosophie, die am alten festhält. Das gemeinsame Haus küßt das getrennte Haus. Der eine Mann verkörpert eines der größten Abenteuer der Geschichte, eine Revolution, das der andere nun just als Verrat der Revolution empfindet. Unsichtbar auf dem Foto sind die anderen, jene, um die es geht.« 66 Frieden auf Geheiß und im Namen Gottes: Religiöse Ausprägungen mittelalterlicher Friedenssuche Ademar von Chabannes (um 988–1034) beschreibt in seiner ›Chronik der Franken‹ eine von den Bischöfen Aquitaniens einberufene Synode, die zur Befestigung des Friedens (ad corroborandam pacis stabilitatem) im November 994 in Limoges stattfand.67 Drei Tage lang, so der Bericht des Chronisten, wurde gefastet; dann wurden die sterblichen Überreste des hl. Martial an die Stätte des Friedenskonzils gebracht. Verständigt haben sich die Teilnehmer 66

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Zitiert nach Joachim sartorIus, Ich roch den Mondstaub zu meinen Füßen. Cees Nooteboom – Ein Schriftsteller aus Holland erzählt den Deutschen ihre Geschichte, in: ›Frankfurter Allgemeine‹ vom 18.2.1992 (›Sonderbeilage Bilder und Zeiten‹). Vgl. auch die Glosse über den öffentlichen Austausch von Zärtlichkeiten, die Wolf Jobst sIedler unter dem Titel »Liebe Politik. Große Männer: Sie küssen und sie streiten sich« in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ vom 3. Nov. 1994, Nr. 256, S. 35, veröffentlicht hat. Siedler schrieb: »Gestern noch sahen wir staunend, wie Honecker seinen Mund spitzte, um erst Breschnew, dann Gorbatschow zu küssen. Aber damit geben die Staats- und Parteiführer zu erkennen, daß sie dem gleichen Weltlager der verschworenen Friedensfreunde angehörten. Tito küßte Ulbricht, und Ceausescu küßte Egon Krenz. Die Gemeinschaft des Friedenslagers bekräftigte ihre Zusammengehörigkeit durch Zärtlichkeiten«. Dem fügte er hinzu: »Es haben sich die Umgangsformen gewandelt, nicht aber das harte Diktat der Interessen. Aber liebt denn jeder mann jeden, den er auf einer Party mit einem Kuß begrüßt?« Vgl. dazu und zum Folgenden Hartmut hoFFmann, Gottesfriede und Treuga Dei (MGH. Schriften 20), Stuttgart 1964, S. 30f.; Theodor körner , Iuramentum und frühe Friedensbewegung (10.–12. Jahrhundert), Berlin 1977, S. 84 - 86. Richard l andes, Between Aristocracy and Heresy: Popular Participation in the Limousin Peace of God, 994–1033, in: The Peace of God. Social Violence and Religious Response in France around the Year 1000, hg. v. Thomas head / Richard l andes, Ithaca / London 1992, S. 186 - 198.

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der Synode von Limoges über ein pactum pacis, demgemäß Streitigkeiten fürderhin von legis docti entschieden werden sollten. Zuwiderhandelnde mußten mit dem Ausschluß aus der Kirche rechnen. Die Sorge um Frieden erschöpfte sich aber nicht allein im Erlaß von Regelungsmechanismen, die friedliche Verhältnisse zu versprechen schienen. Friedenssuche nahm quasi-liturgische Züge an, als der Bischof nach dem Friedensgebet und dem Segen anfing, den versammelten Laienchristen den Friedenskuß zu geben, und diese sich zum Zeichen des Friedens gegenseitig umarmten und küßten. Das Ritual sollte Gewähr dafür geben, daß Priester und Laien in friedfertiger Eintracht miteinander leben und über ihrem Land der Friede Christi ruht. Die gens Aquitaniae, so die Deutung Ademars, habe sich durch die Beschlüsse und Handlungen des Konzils in eine filia pacis verwandelt. Der Friede, den die 994 in Limoges versammelten Bischöfe verkündeten, wurde mit jener Friedensbotschaft gleichgesetzt, die Jesus seinen Jüngern anvertraut hatte. Erfahrungen des Unfriedens, der Gewalt und Unterdrückung weckten Friedenssehnsüchte, die sich in religiösen Formen ausdrückten und mit Gottes Hilfe ihre Erfüllung finden sollten. Rodulfus Glaber berichtet von einem Friedenskonzil (concilium de pace), das 1033 in Auxerre abgehalten wurde. 68 Die dort Versammelten verständigten sich nicht allein überrechtliche Maßnahmen zur Sicherung des Friedens; sie verschärften überdies die bis dahin bestehenden Fastengebote. Strengeres Fasten beleuchtet auf seine Weise den religiösen Charakter der propagierten pax. Die herbeigeschafften Reliquien bewirkten Wunder. »Dadurch wurden«, fährt Rodulfus Glaber fort, »alle von solchem Feuer ergriffen, daß sie durch die Hände der Bischöfe den (Bischofs)Stab himmelwärts streckten, die Hände zu Gott erhoben und einmütig ›Friede! Friede! Friede!‹ (Pax! pax! pax!) riefen. Das sollte das Zeichen eines ewigen Bundes sein, den sie mit Gott geschlossen hatten.« 69 Die neue Friedens-Institution bezeichnet Rodulfus Glaber als ein pactum pacis. Diese Friedenseinung deutet er nicht als Vertrag unter Menschen, sondern wertet ihn vor allem als ein Bündnis mit Gott.70 »Alle Sonderinteressen wurden überlagert durch die gemeinsame Willensbildung, die durch die Bischöfe herbeigeführt und symbolisch ausgedrückt wurde. Es war eine Art Massenschwur, den der Chronist in die Nähe des biblischen Bundes zwischen Gott und Gottesvolk 68 69

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Vgl. hoFFmann (wie Anm. 67), S. 54 - 56. Rodulfus Glaber, Historiarum libri quinque; eiusdem auctoris vita domni Willelmi abbatis, ed. John France / Neithard bulst, Oxford 1989, Buch IV, 16, S. 196: Quibus uniuersi tanto ardore accensi ut per manus episcoporum baculum ad celum eleuarent, ipsique palmis extensis ad Deum: ›Pax! pax! pax!‹ unanimiter clamarent, ut esset uidelicet signum perpetui pacti de hoc quod spoponderant inter se et Deum. Vgl. FIchtenau (wie Anm. 9), S. 565. hoFFmann (wie Anm. 67), S. 56.

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stellt.«71 Der Verfasser der ›Gesta episcoporum Cameracensium‹ will wissen, »ein Dekret vom Himmel habe die Menschen ermahnt, den Frieden zu erneuern«.72 Der Bischofsstab, den die in Auxerre versammelten Friedensfreunde zum Himmel hin erhoben, erfüllte »die Rolle des Trägers einer Willenserklärung. Daß die erhobenen Hände, die antike Gebetsgeste, zugleich wieder den ursprünglichen Sinn erhielten, Waffenlosigkeit und friedliche Gesinnung anzudeuten, wird den Beteiligten vielleicht bewußt gewesen sein.« 73 Der Rekurs auf einen ›Himmelsbrief‹ sollte in der Überzeugung bestärken, daß der Text der Friedensschlüsse einer göttlichen Botschaft gleichkomme. Von solchen Überzeugungen, Stimmungen und Intentionen sollte ein »gewisser moralischer Druck auf die Mächtigen ausgehen«, der allerdings nicht genügte, »die unrechte Gewalt auf gewaltlosem Wege zu beseitigen«. Habe man doch »begeistertes Volk gegen kriegsgeübte Mittelschichten eingesetzt, zum Teil mit katastrophalen Folgen«.74 Die von der hohen Geist lichkeit geschürte »Erregung und Steuerung von Emotionen der Masse« erwies sich, wie Heinrich Fichtenau skeptisch bemerkt, langfristig als untaugliches Mittel der Friedenssicherung. »Auch die Friedensbewegung [des früheren Mittelalters] konnte nicht die Antinomien aufheben, die einen Teil der Epoche bildeten.«75 In einer solchen Sichtweise verschmelzen Vergangenheitsbilder und Gegenwartserfahrungen. Dennoch räumt Fichtenau ein: »Die Bewegung wirkte trotz ihrer Unvollkommenheit weiter. An ihren Prinzipien hat sich hier und dort das Landrecht späterer Zeiten orientiert, vor allem finden sich Spuren in städtischen Rechtssatzungen Frankreichs.« 76 Die Vorgänge von Limoges und Auxerre finden ihre Parallele in Vorgängen der oberitalienischen Kommunebewegung im ausgehenden 11. Jahrhundert. Nach erbitterten Kämpfen zwischen milites und populus der Stadt Piacenza, berichten die ›Annales Placentini‹ zum Jahre 1090, geschah es, »daß ›durch Urteil Gottes und nach dem Willen Jesu Christi‹ die milites ihre Irrtümer erkannten und nunmehr, von Barmherzigkeit erfüllt, in den Ruf ›Pax, pax‹ ausbrachen«.77 Dieselbe Friedensbegeisterung erfaßte auch die populares. Friedensküsse wurden 71 72 73 74 75 76 77

FIchtenau (wie Anm. 9), S. 565. Hans-Werner goetz, Kirchenschutz, Rechtswahrung und Reform: Zu den Zielen und zum Charakter der frühen Gottesfriedensbewegung in Frankreich, in: Francia 11 (1983), S. 236. FIchtenau (wie Anm. 9), S. 52. Ebd., S. 565. Ebd. Ebd., S. 565f. Gerhard dIlcher , Die Entstehung der lombardischen Stadtkommune. Eine rechtsgeschicht liche Untersuchung (Untersuchungen zur deutschen Rechtsgeschichte 7), Aalen 1967, S. 136.

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zwischen den zuvor verfeindeten Gruppen ausgetauscht. Adel und Bürgerschaft zogen, erfreut über die pax et concordia firmata, gemeinsam in die Stadt ein. In derselben Zeit hatten auch Adel und Bürgerschaft von Mailand unter dem Eindruck des Kreuzzugsgedankens eine Friedenseinung geschlossen. Die bis dahin verfeindeten Parteien vergaben sich gegenseitig ihre Unrechtstaten. Ehemalige Todfeinde tauschten auf Straßen und Plätzen Küsse aus ( per vias et plateas oscula dabant inter se inimici mortales).78 Dieselben Ausdrucksformen religiös motivierter Friedenssehnsucht begegnen in Buß- und Friedensbewegungen Oberitaliens. Dort kam es im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts zu einer engen Verschmelzung zwischen der Friedensbotschaft der Mendikanten und dem Friedensverlangen breiter Bevölkerungsschichten. Friedenspredigt und friedenstiftende Symbolik, deren sich Friedensprediger und Friedenschließende bedienten, hatten theologische Wurzeln. Franziskus, der von Bonaventura als »Engel des wahren Friedens« (an­ gelus verae pacis) gefeierte Ordensgründer, und seine Gefährten betrachteten den Frieden als Inbegriff der von Gott gewollten Ordnung menschlichen Zusammenlebens. Die junge franziskanische Bewegung verstand sich als pacis legatio. In der Wahrung der pacis hereditaria, einer Hinterlassenschaft ihres Gründers, erblickte sie einen wichtigen Auftrag. Dessen Erfüllung machten die Jünger des hl. Franziskus zu einem Kriterium ihrer Identität. Das Beispiel des Franziskus verpflichtete. Viele Menschen hatte er durch seine Predigt in filii pacis et aemuli salutis aeternae ver wandelt.79 Gesellschaftlich wirksame Friedensstiftung hatte er dadurch unter Beweis gestellt, daß er verfeindete Bürger und zerstrittene Bürgerkriegsparteien miteinander versöhnte. Als Franziskus in Bologna 78

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dIlcher (wie Anm. 77), S. 137. – Nach Hagen k eller , Die soziale und politische Verfassung Mailands in den Anfängen des kommunalen Lebens, in: Historische Zeitschrift 211 (1970), S. 51, haben sich die Mailänder Friedenseinungen des 11. Jahrhunderts folgendermaßen abgespielt: »1. Den Rahmen gab eine Versamm lung der Einwohnerschaft mit Gottesdienst bei der Kirche des heiligen Ambrosius, des Stadtpatrons, vor den Mauern. 2. Am Anfang standen ein gegenseitiges öffentliches Bekenntnis der eigenen Schuld und das Gelöbnis eines anderen Verhaltens in der Zukunft. 3. Es folgte eine Festlegung und Garantie der gegenseitigen Rechte, die 1067 sogar schriftlich fixiert wurde mit Strafkanon für Rechtsverletzungen; dabei konnte auch neues Recht gesetzt werden. 4. Darauf beschworen alle die neue Friedenseinung und eine Amnestie für alle von dieser Einung begangenen Taten«. Vgl. dazu grundlegend Dieter berg, Gesellschaftspolitische Implikationen der vita minorum, insbesondere des franziskanischen Friedensgedankens, im 13. Jahrhundert, in: Renovatio et Reformatio. Wider das Bild vom finsteren Mittelalter«. Festschrift für Ludwig Hödl zum 60. Geburtstag, hg. v. Manfred gerwIng / Godehard ruPPert, Münster 1985, S. 181 - 194. Zu Franziskus als »ein ›Engel des wahren Friedens‹, der den Menschen Frieden und Heil verkündet und durch seine Friedenspredigt zahlreiche Menschen zum Heil geführt hatte« (S. 186).

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predigte, sei, wie ein zeitgenössischer Beobachter berichtet, von seinen Worten eine solche Kraft ausgegangen, »daß er viele unter den Vornehmen, die zuvor unversöhnlich in maßlosem Blutvergießen geschwelgt hatten, zu Frieden und Eintracht bekehrte«.80 Von einem Aussätzigen den Friedenskuß zu erhalten hatte Franziskus als Auszeichnung empfunden.81 Der Kuß des Friedens überbrückte gesellschaft liche Barrieren. Symbolgeschichtlich bedeutsam ist insbesondere der von Franziskus eingeführte Friedensgruß ›Der Herr gebe dir den Frieden‹. Gott selber, beteuerte der Poverello, habe ihm diese Grußformel geoffenbart, die alle Brüder benutzen sollten, wenn sie ein Haus betreten und jemanden begrüßen. »Mit der Formel ›Dominus det tibi pacem‹ (Test 440) verdeutlichte der Heilige für sich den Kern der christlichen Heilsbotschaft: den Frieden (Eph 6, 15).« 82 Als »Mann des Friedens«, betonte Bonaventura im Prolog zu seinem ›Itinerarium mentis ad Deum‹, Friedensbotschaft, Friedenssehnsucht und Friedenswirken des heiligen Ordensstifters zusammenfassend, sei Franziskus in seiner Verkündigung zu einem repetitor des Friedensevangeliums Jesu Christi geworden. Am Anfang und Ende einer jeden Predigt habe Franziskus, »unser Vater« ( pater noster), Frieden verkündet; in jeder Begrüßung habe er dem Begrüßten Frieden gewünscht; in jeder Betrachtung habe er sich nach einer ecstatica pax gesehnt, gleichsam als »Bürger« jenes himmlischen Jerusalem, in dem vollkommener, ewiger Friede herrscht. 83 Einen Höhepunkt franziskanischen und dominikanischen Friedenswirkens bildete die Alleluja-Bewegung des Jahres 1233.84 Ihren Namen verdankt diese 80 81 82

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Carl sutter , Johann von Vicenza und die italienische Friedensbewegung im Jahre 1233, Freiburg i. Br. 1891, S. 14. schreIner (wie Anm. 12), S. 102f. berg (wie Anm. 79), S. 183. Vgl. auch Lothar h ardIck , Als Gruß, so hat mir der Herr geoffenbart, sollt ihr sagen: ›Der Herr gebe dir den Frieden‹, in: Franziskanische Studien 60 (1978), S. 328ff. – In der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters wurde der aus der Bibel stammende Friedensgruß pax vobis ( Joh. 20, 19ff.) in folgender Weise abgewandelt: der ware frid sei mit dir. Vgl. gagenlocher (wie Anm. 13), S. 121. Bonaventura, Itinerarium mentis ad Deum, Prol. 1, in: S. Bonaventurae opera omnia, edita studio et cura PP. collegii a S. Bonaventura, Bd. 5, Quaracchi 1891, S. 293. Vgl. Andre vauchez, Une campagne de pacification en Lombardie autour de 1233. L’action politique des ordres mendiants d’après la réforme des statuts communaux et les accords de paix, in: Mélanges d’archéologie et d’histoire 78 (1966), S. 522; Vito FumagallI, In margine all’ ›Alleluia‹ dell 1233, in: Bolletino dell’Istituto storico italiano per il medio evo e Archivio Muratoriano 80 (1968), S. 257 - 272; Harald dIckerhoF, Friede als Herrschaftslegitimation in der italienischen Politik des drei zehnten Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 59 (1977), S. 370 - 372; Daniel brown, The Alleluia. A Thirteenth Century Peace Movement, in: Archivum Franciscanum Historicum 81 (1988), S. 3 - 16. Augustine thomPson, Revival Preachers and Politics in Thirteenth-Century Italy. The Great Devotion of 1233, Oxford 1992.

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Bewegung Prozessionen, bei denen die Beteiligten ihrem Friedensenthusiasmus dadurch Ausdruck gaben, daß sie in stürmische Alleluja-Rufe ausbrachen. Die Zeit, die man später das ›Alleluja‹ nannte, charakterisierte der erzählfreudige, neugierige und weit herumgekommene Fra Salimbene aus Parma († nach 1288) als »Zeit der Ruhe und des Friedens« (tempus quietis et pacis), während welcher die Waffen ruhten. Er nennt sie »eine Zeit der Heiterkeit und Freude, der Wonne, Begeisterung, des Lobpreises und des Jubels«. Denn »es sangen Lieder zu Gottes Lob die Ritter und Soldaten zu Fuß, die Bürger und Bauern, Jünglinge und Jungfrauen, Greise und jüngeren Leute. In allen Städten Italiens war diese Andacht.« Große Prozessionen, denen Fahnen und Kreuze vorangetragen wurden, zogen vom Land in die Städte, um die Friedensprediger zu hören. Die Prozessionsteilnehmer hatten brennende Kerzen (cerei accensi; candelae accensae) und Baumzweige (rami arborum) in ihren Händen. Wenn sie in Kirchen und auf Plätzen Station machten, erhoben sie ihre Hände zu Gott. Trunken von göttlicher Liebe (inebriati amore divino) konnten sie nicht aufhören, Gott zu lobpreisen.85 Unverwechselbarkeit besaß die Bewegung durch die Verbindung von Predigt, Friedensstiftung und Buße. Die Bußgesinnung der Beteiligten ist nicht zuletzt daran abzulesen, daß sie sich unbeschuht (discalciati) und barfuß (nudis pedibus) auf den Weg machten, um an den Predigten franziskanischer und dominikanischer Friedensapostel teilzunehmen. Auch durch das Tragen von Kerzen sollte offenkundig Bußgesinnung zum Ausdruck gebracht werden. In spätmittelalterlichen Ablaßurkunden wird Christen, die gebeichtet haben, Ablaß gewährt unter der Voraussetzung, daß sie bei der Fronleichnamsprozession ›parfus oder mit kerzen erwirdiclich‹ dem heiligen Leichnam folgen. 86 Ihr soziales Gepräge verdankte die aus religiösen Motiven gespeiste Friedensbewegung der Tatsache, daß sich alle Gesellschaftsschichten an ihr beteiligten; politisch-rechtliche Funktionen erfüllte sie darin, daß Ordensmänner in Rechtsstreitigkeiten die Rolle von Schlichtern spielten und – mit den Vollmachten eines Podestà, eines dux und rector ausgestattet städtische Statuten ergänzten und erneuerten. Als Prediger, Schlichter und Reformer städtischer Statuten suchten wortgewaltige Mendikanten für den Frieden zu wirken. 87 Durch ihre spirituellen, 85

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Cronica Fratris Salimbene de Adam ordinis Minorum, ed. Oswald holder-egger (MGH SS 32), Hannover 1905–1913, S. 70. Bei den »Baumzweigen« handelt es sich vermutlich um Palm- oder Olivenzweige, die damals »as a typological and physical sign of the return of peace to the earth« betrachtet wurden (Amy G. r emensnyder , Pollution, Purity and Peace: An Aspect of Social Reform between the Late Tenth Century and 1076, in: The peace of God [wie Anm. 67], S. 299). Stadtarchiv Nürnberg D 2/II, Nr. 15 (Ablaßbuch). Freundlicher Hinweis von Frau Andrea Löther. IckerhoF (wie Anm. 84), S. 370: »Der Bettelmönch – gleich ob Prediger oder Minorit – war so stets Vermittler und Friedensstifter: er bewegte Feinde zur Verzeihung und

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rechtlichen und politischen Aktivitäten wollten sie aus Städten wieder das machen, was diese ihrer ursprünglichen Bestimmung nach hatten sein wollen: Gemeinschaften zur Wahrung des Rechts und zur Sicherung des Friedens. Um die Ursachen des Unfriedens zu beseitigen, predigten Mendikanten gegen den Luxus der Moden, bekämpften den Wucher, setzten sich für die Freilassung von Gefangenen ein, garantierten Verbannten Amnestie, verfluchten Friedensbrecher; prangerten Ketzer an, waren auf eine rechtliche Verankerung kirch licher Freiheitsansprüche bedacht, mahnten zur Eintracht und geboten Verzicht auf Rache. »Zwanzig Ritter und zwanzig vom Volke mußten einander auf dem Domplatz [von Piacenza] den Friedenskuß geben«,88 um den Frieden zu bekräftigen, den Bruder Leo, ein charismatisch begabter Franziskaner, im Mai 1233 zwischen den streitenden Parteien vermittelt hatte. Den Aufzug und das Auftreten Bruder Benedikts, der in der Zeit des großen ›Alleluja‹ in Parma predigte, beschreibt Salimbene folgendermaßen: »Ein langer, schwarzer Bart fiel über Kinn und Brust herab, auf seinem Kopfe saß eine armenische Mütze. Den Körper umhüllte ein langes, faltiges Gewand, von dessen schwarzer Farbe das riesige rote Kreuz, das er sich auf Brust und Rücken geheftet, möglichst grell abstach. Das Merkwürdigste war aber ein kleines, metallenes Blasinstrument (tuba parvula aenea sive de oricalco). Das trug er stets bei sich und entlockte ihm bald furchtbare, bald liebliche Töne. So zog er predigend von Kirche zu Kirche, von Platz zu Platz; es begleitete ihn eine grosse Schar von Knaben mit Baumzweigen und brennenden Kerzen.« Der Wander prediger, ein Freund der Minoriten, machte auf die städtische Bevölkerung offenkundig Eindruck. »Jede vicinia der Stadt wollte mit ihrer eigenen Fahne bei den Prozessionen paradieren, und auf jeder Fahne sollte das Martyrium des betreffenden Schutzheiligen abconterfeit sein.« 89 Als un- und außergewöhnlich rühmten Chronisten die Anziehungs- und Überzeugungskraft des Dominikaners Johannes von Vicenza. Seit den Tagen Jesu Christi sei es keinem anderen Prediger so oft gelungen, »des Friedens wegen« (sub occasione pacis) soviele Menschen um sich zu versammeln.90 Von einem Fahnenwagen aus predigte er im Sommer 1233 in Padua, um in der Lombardei, in

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zur Wiedergutmachung, nach gemeinsamem Sakramentenempfang ließ er die alten Gegner den Friedenskuß tauschen und stiftete zur Besiegelung des Ausgleichs Friedensehen.« Zitiert nach sutter (wie Anm. 80), S. 27. Ebd., S. 30f. Vgl. dazu und zum Folgenden Gerardus Maurisius, Historia, ed. L. A. Muratori (Rerum italicarum scriptores 8), Città di Castello 1913–1914, Sp. 37 - 39, sowie H. h eFele , Die Bettelorden und das religiöse Volksleben Ober- und Mittelitaliens im XIII. Jahrhundert (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 9), Leipzig / Berlin 1910, S. 122 - 125.

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der Mark und in der Romagna mit Gottes Hilfe zwischen den Städten und zwischen mächtigen Männern des Adels Frieden zu stiften. Bürger der Stadt, die im Streit miteinander lagen, unterwarfen sich seinem schiedsrichterlichen Urteil. In Paquara, vier Meilen von Verona entfernt, berief er im August desselben Jahres eine Friedensversammlung ein, bei der alle Fürsten und Barone der Lombardei, alle Rektoren, Amtsträger und Gemeinden der Städte erscheinen sollten. Vor einer riesigen Zuhörerschaft, zu der nicht nur hohe und niedere Kleriker, sondern auch der Markgraf von Este, Ritter und einfache Leute aus dem Volk, vor allem aber die Bürgerschaften zahlreicher Städte nebst deren Amtleuten zählten, predigte er über das Johanneswort »Meinen Frieden gebe ich euch, meinen Frieden hinterlasse ich euch« Joh 11,27). Allen Bewohnern der Lombardei gebot er Frieden. Friedensbrechern drohte er den Bann an. Die Äcker, Weinberge, Bäume, Tiere und alle sonstigen Besitzungen von Unruhestiftern verfluchte er. Den Friedenswahrern verhieß er Gottes Gnade und Segen. Die meisten, die die Friedensbotschaft des Johannes von Vicenza hören wollten, waren ohne Schuhe gekommen (discalciati). Manche Stadt hatte ihren Fahnenwagen (carrocium) mitgebracht. Die hinreißende Predigt des Ordensmannes motivierte viele, »aus eigenem Antrieb« mit ihren Feinden Frieden zu schließen. Um ihre Friedensabsicht zu besiegeln, gaben sie sich einen Kuß.91 Es war keinesfalls die Regel, daß ein Friedensprediger, mit der Vollmacht eines dux, rector oder comes civitatis ausgestattet, die Reform städtischer Statuten vornahm. Von größerer Breitenwirkung waren die Schlichtungsverfahren, die Friedensprediger leiteten und in eigener Verantwortung entschieden. Die Versöhnung, die ein mit Friedensaufgaben befasster Ordensmann als arbiter, arbitrator oder amicabilis compositor zustandebrachte, wurde in einem Friedensinstrument (instrumentum pacis) schriftlich festgehalten. Dieses mußte in Anwesenheit der beiden Parteien, vor Zeugen und einem größeren Publikum verlesen werden. Die beiden Parteien, die ihren Streit beendet hatten und fürderhin in Frieden miteinander leben wollten, waren gehalten, sich nach der Verlesung des Friedensinstrumentes vor aller Augen den Friedenskuß zu geben. Öffent lichkeit, Verschriftlichung und Zeichenhaftigkeit sollten dem geschlossenen Frieden Dauer geben. Aus zeitgenössischen Statuten oberitalienischer Kommunen geht hervor, dass mit dem Austausch der Friedensküsse der bestehende Streit zwischen zwei Parteien endgültig begraben war und die erreichte Aussöhnung rechtswirksam wurde. »The ›giving of the peace‹ [ pax = osculum] was a dramatic gesture and by nature more striking than the notari zation of the instrument. It signalled the conclusion of the reconciliation, not its beginning […] The kiss in

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Maurisius (wie Anm. 90), Sp. 38: Multi enim mortales inimici, propria motu pacem faciendo, osculabantur ad invicem, praedicatione ipsius [ Johannes Vicentini] ad hoc inspirati.

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public: that was the definitive, legal, end of the feud.« 92 In der Tat: »The events of 1233 demonstrated, as did the example of Saint Francis and Dominic and their followers – lay and religious – that religious fervor can have a powerful impact on all of society.« 93 Die Geißlerzüge, von denen seit dem Jahre 1260 die Städte Ober- und Mittelitaliens heimgesucht wurden, wollten Frieden durch Buße. Die Gefühlsund Gedankenwelt dieser Bußbewegung nährte sich zum einen aus tiefem Schuldgefühl, zum anderen aus machtvoller Sehnsucht nach Frieden. Ihre Friedensbotschaft propagierten die bußbeflissenen Friedensapostel in einer Welt allgegenwärtiger Gewalt. Überall, wo die büßenden Flagellanten auftauchten, kam es zu spektakulären Versöhnungen ( pacificazioni). An der Spitze der Geißlerzüge schritten Kreuz- und Fahnenträger. Ihren Oberkörper hatten die öffent lichen Büßer bis zum Gürtel entblößt. In ihren Händen trugen sie Geißeln, mit denen sie sich bis aufs Blut peinigten. Auf ihren Hüten hatten sie ein rotes Kreuz angebracht. In den Städten, die sie betraten, zogen sie von Kirche zu Kirche, stimmten Bußgesänge an und schickten Bittrufe und Stoßgebete zum Himmel, indem sie riefen: »Maria, unsere Frau, nehmt uns Sünder auf und bittet Jesum Christum, daß er uns verschone! ›Friede! Friede!‹ ›Barmherzigkeit‹.« 94 Die Bewegung der Geißler ist ein Beleg für die gemeinschaftsbildende Kraft des mittelalterlichen Bußgedankens. Bußideale ließen im Verlauf des 13. und 14. Jahrhunderts außerdem Bußbruderschaften (disciplinati) entstehen, die allabend lich für den Frieden beteten. Wille zur Buße löste auch jene Welle von Bußprozessionen aus, die sich im Jahre 1399 über Nord- und Mittelitalien ergoß. Durch Bußübungen wollten die weißgekleideten Büßer (bianchi) Gottes Erbarmen auf die sündhafte Welt herabflehen. Den Menschen in Stadt und Land, die Unfriede, Haß und Feindschaft voneinander trennten, wollten sie Frieden bringen. Ihre diesbezügliche Parole lautete: paci e concordie per la città e contado.95 Deshalb riefen sie auch pace, wenn sie über Land und durch die Städte zogen. 92

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thomPson (wie Anm. 84), S. 172. Zur Begründung seiner Auffassung zitiert Thompson ein Statut von Bologna aus dem Jahre 1252, in dem es heißt: Pacem autem intelligimus ab osculo interveniente per principales personas et procuratorem eius. Dazu Thompson (ebd.): »Here, when a party exiled for violence made peace with the victim and his family through an agent, the peace took effect from the exchange of their kiss. Accords contracted direcdy by the parties also commenced with the giving of the kiss.« brown (wie Anm. 84), S. 14f. h eFele (wie Anm. 90), S. 130. Diana M. webb, Penitence and Peace-Making in City and Contado: The Bianchi of 1399, in: The Church in Town and Countryside, hg. v. Derek baker , Oxford 1979, S. 260. Vgl. Daniel E. bornsteIn, The Bianchi of 1399, Popular Devotion in Late Medieval ltaly, Ithaca / New York 1993. Zur Rolle der Bianchi als »peacemakers« vgl. ebd., S. 47 - 51, 56 - 58, 74 - 75, 196 - 198, 205 - 207.

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In der Tat: »Everywhere the bianci went peace-making was their major function, and the miracles worked by the crucifixes they carried before them were as often as not stimulated by the refusal of the stubborn to make peace.« 96 Ihre friedenstiftende Mission führten die bianchi auf einen unmittelbaren Auftrag Christi zurück. Um diesen geschichtlich zu beglaubigen, erzählten sie, »daß Christus selbst einem hungernden Bauern auf dem Feld erschienen sei, dessen Sack mit Brot gefüllt und ihm offenbart habe, daß der Friede nicht von Reichen oder Mächtigen auf die Erde zurückgebracht werden würde, sondern von den Armen«.97 Gott wolle nämlich die Macht seiner Barmherzigkeit durch einfache, ungebildete Männer aus dem Volk sichtbar machen, da sich weder die Gelehrten noch weltliche und kirchliche Würdenträger aufraffen würden, um Gewalt und Unfrieden auf der Welt zu beseitigen. Der toskanische Kaufmann Francesco di Marco Datini beteiligte sich an einer solchen Buß- und Friedensprozession. Eingehend berichtet er davon. Kraft »der Eingebung Gottes und seiner Mutter, Unserer Lieben Frau«, notierte er am 28. August des Jahres 1399 in sein Tagebuch, habe er beschlossen, »auf Pilgerfahrt zu gehen, ganz in weißes Leinen gekleidet und barfüßig«, wie es »zu dieser Zeit für die meisten Leute, Männer und Frauen, der Stadt Florenz und des umliegenden Landes Brauch« gewesen sei. »Denn«, fährt er fort, »in dieser Zeit fühlten alle Menschen, zumindest der größte Teil der Christenheit, sich dazu getrieben, auf Pilgerschaft durch die ganze Welt zu gehen, um Gottes Lohn, von Kopf bis Fuß in weißes Leinen gehüllt […] Und an besagtem Tag machte ich mich auf mit meiner Gesellschaft von meinem Haus an der Piazza de’ Tornaquinci aus, früh am Morgen; und wir gingen von dort nach Santa Maria Novella, alle barfüßig, und nahmen dort andächtig den Leib unseres Herrn Jesu Christi in der Kommunion: darauf gingen wir andächtig zum Stadttor von San Gallo hinaus, wo das Kruzifix des Viertels von Santa Maria Novella und das Kruzifix des Viertels von Santa Croce bereit standen […] alle barfüßig mit einer Geißel in der Hand, mit der wir uns selbst schlugen, und wir beschuldigten uns vor dem Herrn Jesus Christus unserer Sünden, andächtig und von ganzem Herzen, wie es jeder gläubige Christ tun sollte […].« 98

Wo immer diese bianchi, die in weiße Gewänder gekleideten Pilger, hinkamen, war ihre erste Aufgabe ›Frieden zu stiften‹, das heißt eine Aussöhnung zu er96 97 98

webb (wie Anm. 95), S. 260. Iris orIgo, Der Heilige der Toskana. Leben und Zeit des Benardino von Siena, München 1989, S. 119f. Ausführlicher behandelt diese Erscheinung, auf welche die Bianchi ihren Ursprung zurückführen, bornsteIn (wie Anm. 95), S. 43 - 47. Iris orIgo, »Im Namen Gottes und des Geschäfts«. Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance. Francesco di Marco Datini 1335–1410, München 1985, S. 290.

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reichen zwischen Leuten, die miteinander verfeindet waren und die Konflikte, Feindschaft und Fehde gegenseitig entfremdet hatten. Kam die Aussöhnung zustande, umarmten sich die Gegner und gaben sich zum Zeichen des Friedens einen Bruderkuß. Den Friedensstiftern machten sie aus Dankbarkeit Geschenke. Zeitgenossen berichten von aufsehenerregenden Versöhnungen ( paci), bei denen, um dem Friedenswillen sichtbar Ausdruck zu geben, Küsse ausgetauscht wurden. »Männer, die sich ihr ganzes Leben lang befehdet oder sich Blutrache geschworen hatten, besiegelten ihre Versöhnung in aller Öffentlichkeit spontan mit einem Bruderkuß.« 99 Kleriker äußerten Skepsis, ob ein Frieden, der durch Aufwallungen des Gefühls zustande gekommen sei, langfristig Bestand habe. Die Praxis mochte ihnen Recht geben. Waren die weißen Büßer außer Reichweite, loderten Streit, Blutrache und Bürgerkrieg wieder auf. Das braucht nicht zu verwundern. Von charismatischen Energien gespeiste Bewegungen vermögen momentane Begeisterungsstürme zu entfachen. Um Affekte und Aggressionen zu bändigen, bedarf es kontinuierlicher Anstrengung. Diese ist nur dann zu erwarten, wenn Konflikt potentiale durch kontinuierliche Friedenssorge und rechtliche Institutionen der Friedenssicherung abgebaut werden. Prediger, die kommen und gehen, sind einer solchen Herausforderung nicht gewachsen.

3. Friede durch Buße und Unterwerfung Friedensschlüsse, die nicht von gleichrangigen Partnern ausgehandelt wurden, sondern die Sieger ihren Unterworfenen diktierten, nahmen Schuldzuschreibungen vor. Schuld gebot Buße. Einseitig aufoktroyierte Friedensbedingungen verlangten, daß sich schuldig gewordene Rechts- und Friedensbrecher zu ihrer Schuld bekannten. Friedensbildung setzte voraus, daß Schuld (culpa) durch Vergebung (remissio) aufgehoben, sündiges Verhalten ( peccatum) durch Erbarmen (misericor­ dia; indulgentia) getilgt wurde. Es gab Friedensverträge, die das Eingeständnis der Schuld zu einer kollektiven Pflicht der Unterworfenen machten. Der zwischen der Stadt Gent und Philipp dem Guten 1454 geschlossene Friedensvertrag sah vor, daß nicht weniger als zweitausend Bürger der Stadt Gent dem burgundischen Herzog auf den Knien und bloßen Hauptes ihre Schuld bekennen und ihn 99

orIgo (wie Anm. 97), S. 120. – Bemerkenswert bleibt außerdem, daß der Friedensgedanke der bianchi in allen Schichten der mittelalterlichen Gesellschaft Wurzeln schlug. »The spirituality of the Bianchi was part of the common currency of religious belief that circulated throughout all levels of late medieval society« (bornsteIn [wie Anm. 95], S. 161).

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um Gnade anflehen mußten.100 Ein solches Ritual konnte sich auf historische Vorbilder stützen. Traditionslos war es nicht. Bereits im Frühmittelalter gab es für Konfliktlösungen, die durch Unterwerfung zustande gekommen waren, besondere Formen ritueller Darstellung. Wie das im einzelnen vor sich ging, hat Gerd Althoff folgendermaßen beschrieben: Die rituelle Inszenierung einer friedenstiftenden Unterwerfung fand »in aller Regel in größtmöglicher Öffentlichkeit statt – und dies aus gutem Grund: Die Unterwerfung des Gegners gab der überlegenen Partei Genugtuung; diese satisfactio war die Leistung, die den Konflikt beendete. Und die Genugtuung war verständlicherweise um so größer, je mehr Menschen den Akt der Unterwerfung sahen.« Die Regeln des Unterwerfungsrituals konnten verändert und den Bedürfnissen der jeweiligen Situation angepaßt werden. Wer zur Unterwerfung entschlossen war, »trat barfuß im Büßergewand oder mit einem Lendenschurz bekleidet an, trug zum Teil Schwerter im Nacken oder Ruten in den Händen, die auf die eigentlich verdiente Strafe wiesen«. Derjenige, der als der Unterlegene um Frieden bat, »warf sich vor dem Gegner zu Boden, ihm zu Füßen und sagte etwas Rituelles im Sinne von: Mache mit mir, was Du willst. Der sich Unterwerfende konnte danach sofort Verzeihung finden, vom Boden aufgehoben und geküßt werden.« Vermittler (mediatores) hatten zuvor den Ablauf des Rituals, seine Bedeutung und rechtlichen Konsequenzen abgesprochen. »Die Autorität der Vermittler, bei denen es sich um hochgestellte Personen, häufig um den König selbst, handelte, reichte in aller Regel aus, um die Ein haltung der Spielregeln zu garantieren.«101 Im Falle der Belagerung Tivolis durch Otto III. waren es der Papst und Bischof Bernward von Hildesheim, die als Friedensvermittler ( pacis conciliatores) in Aktion traten, um eine gewaltfreie Lösung des Konflikts herbeizuführen. Die Bürger von Tivoli suchten sie zu bewegen, sich der Botmäßigkeit des Kaisers friedlich zu unterwerfen. Ihre Bereitschaft zu einem solchen Unterwerfungsakt dokumentierten die angesehenen Bürger der Stadt folgendermaßen: Alle folgten den beiden Vermittlern, »nur mit einem Lendenschurz bekleidet, in der Rechten ein Schwert und in der Linken eine Rute tragend«. In diesem Aufzug begaben sie sich zum kaiserlichen Hof und bekannten: »Dem Kaiser seien sie mit Hab und Gut verfallen, nichts ausbedungen, nicht einmal das nackte Leben. Die er [auf Grund ihrer Schuld] für strafwürdig erachte, möge er mit dem Schwert hinrichten, oder, sofern er Mitleid empfinde, am Pranger mit 100 Jörg FIsch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses (Sprache und Geschichte 3), Stuttgart 1979, S. 91. 101 Gerd a lthoFF, Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 34f.; 37.

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Ruten auspeitschen lassen. Wünsche er, daß die Mauern der Stadt dem Erdboden gleichgemacht würden, so wollten sie dies bereitwillig und gerne ausführen. Solange sie leben, wollten sie alle seine Befehle prompt erfüllen und sich nie den Befehlen seiner Majestät widersetzen.«102

Auf Bitten der beiden Friedensvermittler gewährte der Kaiser den Schuldigen Verzeihung. Die Stadt sollte nicht zerstört werden. Ihre Bürger sollten vom Kaiser wieder in Gnade angenommen werden. Als sich die Bürger von Ravenna im Jahre 1026 entschlossen, mit Konrad II. Frieden zu machen, erschienen sie »in härenen Gewändern barfuß und mit bloßen Schwertern vor dem Könige, wie ihr Recht es von besiegten Bürgern verlangt, und erlegten vollständig die Buße, die der König forderte«.103 Rituell geordnete Unterwerfung lieferte die um Frieden und Versöhnung bittenden Unterlegenen nicht der Willkür des Siegers aus. Das Bekenntnis, durch schuldhaftes Verhalten den Frieden verletzt zu haben, begründete zwischen Friedgeber und Friednehmer eine mutua obligatio, eine gegenseitige Ver pflichtung. Wer seine Schuld eingestand, hatte Anspruch auf Gnade und Vergebung. Die Bitte um Frieden durfte ihm nicht abgeschlagen werden. Rechtsbrecher, die den Frieden gebrochen hatten, waren zu öffentlicher Buße verpflichtet. Als Friedrich Barbarossa 1155 in Worms einen Hoftag hielt, ordnete er an, daß eine Reihe von sacrilegi, die in der Stadt Mainz und in den Rheinlanden durch Plünderung, Mord und Brandschatzung den Frieden gebrochen hatten, öffentliche Buße leisten mußten, um von neuem die Huld des in seinen Rechten verletzten Erzbischofs zu erlangen ( pro gratia tanti pontificis recuperanda).104 Die Büßer – darunter Pfalzgraf Hermann von Stahleck und Graf Emicho von Leiningen nebst weiteren Grafen – warfen sich, in Büßergewänder gekleidet, dem Mainzer Erzbischof zu Füßen. Auf ihre Häupter hatten sie Asche gestreut. Indem sie dem in seiner Ehre gekränkten Kirchenmann Genug tuung erwiesen, konnten sie erwarten, von ihm von der Exkommunikation absolviert zu werden. Als angemessene Strafe für ihr Vergehen mußten sie barfüßig eine 102 Thangmar, Vita Bernwardi episcopi Hildesheimensis, ed. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 4), Hannover 1841 S. 769f. In der oben zitierten Übersetzung folge ich, wenngleich nicht wörtlich, Lebensbeschreibungen einiger Bischöfe des 10.–12. Jahrhunderts, übers. v. Hatto k allFelz (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 22), Darmstadt 1973, S. 317 - 319. Vgl. auch a lthoFF (wie Anm. 101), S. 34f. 103 Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des Reiches, neu übertragen v. Werner trIllmIlch (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 11), Darmstadt 1968, S. 566 - 568. 104 Vgl. dazu Bernhard schwenk , Das Hundetragen. Ein Rechtsbrauch im Mittelalter, in: Historisches Jahrbuch 110 (1990), S. 289 - 308.

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deutsche Meile weit einen Hund durch die Stadt tragen. Andere trugen – je nach Stand und Würde – den Sattel eines Esels, andere ein subtellarium instrumentum, »andere je nach Vereinbarung anderes« (alii secundum suam conventiam alia).105 Alle, 105 schwenk (wie Anm. 104) deutet unter Berufung auf Otto von Freising das Hundetragen als »Vorstrafe zur eigentlichen Todesstrafe«. Der Kaiser habe aber das Leben der straffällig gewordenen Missetäter »um den Preis der öffentlichen Verächt lichmachung« geschont (ebd., S. 295). Gegen eine solche Interpretation sind Vorbehalte angebracht. In der ›Vita Arnoldi‹, die nach Ansicht des Verfassers »den Hergang tendenziös« darstellt, und den ›Gesta Frederici‹ Ottos von Freising, Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica (wie Anm. 65), S. 378f., spiegeln sich unterschiedliche Sichtweisen. Aus quellenkritischen Erwägungen erscheint es angezeigt, beide in ihrer Eigenständigkeit zu akzeptieren. Man kann sich für die eine oder andere entscheiden – für jede Option gibt es Gründe –, nicht aber beide miteinander vermischen oder die eine mit Hilfe der anderen interpretieren, so daß am Ende ein Gesamtbild herauskommt, das unvereinbare Sichtweisen und widersprüchliche Traditionen miteinander verknüpft. Der Verfasser der ›Vita Arnoldi‹ beschreibt und deutet den Vorgang als Kirchenbuße, was von Schwenk nicht deutlich genug gesehen und gesagt wurde. Otto von Freising hingegen denkt an ein Ritual, das mit der Vollstreckung der Todesstrafe zusammenhängt. Die Tatsache, daß Bischof Arnold von Mainz bei Otto von Freising unter den des Friedensbruchs Angeklagten erscheint, vom Verfasser der ›Vita Arnoldi‹ hingegen als derjenige geschildert wird, dem adlige Herren durch öffentliche Buße Genugtuung zu erweisen haben, muß überaus skeptisch stimmen. Otto von Freising beschreibt eine Schandprozession, die der Todesstrafe vorausgeht und deshalb nichts mit Kirchenbuße zu tun hat, der Verfasser der ›Vita Arnoldi‹ einen Versöhnungsakt, der sich der rituellen Formen der herkömmlichen Kirchenbuße bedient. Daß diese durch das Hundetragen erweitert und ergänzt wurde, entspricht der im Mittelalter üblichen Freiheit bei der Gestaltung von Ritualen. Eine Interpretation, die überzeugen soll, hätte zu klären, ob es sich bei dem Vorgang um eine »nichtkirchliche« Schandprozession oder um eine der Herstellung von Frieden dienende Kirchenbuße handelt. Kurzum: Nur einer der beiden Autoren verdient Vertrauen. Die historische Wahrheit ist nicht durch Addition der beiden sich widersprechenden Berichte zu erreichen. Ist die historische Wahrheit auf seiten Ottos von Freising, hat die Wormser Bußprozession niemals stattgefunden. Ein Erzbischof, der den zu bestrafenden Rechts- und Friedensbrechern zugeordnet wird, hat keinen Anspruch auf eine durch Kirchenbuße zu erbringende satisfactio. Was die ›Vita Arnoldi‹ berichtet, wäre demnach eine reine Fiktion. Ihre »Wahrheit« bestünde allein darin, daß der Autor von der durch Erfahrung gestützten Annahme ausgeht, daß durch Kirchenbuße Friede hergestellt werden kann. Vgl. dazu auch Knut schulz, »Denn sie liebten die Freiheit so sehr […]« Kommunale Aufstände und Entstehung des europäischen Bürgertums im Hochmittelalter, Darmstadt 1992, S. 173 - 175. Schulz folgt der Darstellung Ottos von Freising. Außerdem: Die An nahme, derzufolge die adligen Büßer eines todeswürdigen Vergehens schuldig waren, findet im Ritual selber keine Bestätigung. Um auszudrücken, daß ihr Verhalten eigentlich durch die Bestrafung mit dem Tode zu ahnden gewesen wäre, hätten sie in ihren Händen oder auf ihrem Nacken blanke Schwerter tragen oder sich um ihren Hals einen Strick binden müssen. Vgl. Jean-Marie moeglIn, Edouard III et les six bourgeois de Calais, in: Revue Historique 292,2 (1995), S. 253 - 267. – Eine deutsche Übersetzung für subtellarium

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die an dem Hoftag teilnahmen, waren Zeugen des Vorgangs. Was das Ritual zum Ausdruck bringen wollte, ist evident: Bußgesinnung und Unterwerfung. Offenkundig ist auch das angestrebte Ziel: Wiedergewinnung von Gnade und Huld. Asche auf dem Kopf, härenes Büßergewand und Barfüßigkeit sind Bestandteile des traditionellen Buß- und Unterwerfungsrituals. Der Hund, der Sattel für einen Esel und die anderen Gerätschaften, die Büßer zu tragen hatten, besitzen einen negativen Symbolwert. Sie stehen im Widerspruch zur Würde des eigenen Standes. Die den adligen Rechts- und Friedensbrechern abverlangte Bußleistung kommt einer öffentlichen Demütigung gleich. Es bedurfte offenkundig eines zeitweiligen Verzichtes auf ständische Ehre, um dem in seinem Recht gekränkten Mainzer Bischof Genugtuung widerfahren zu lassen. Als sich die Stadt Mailand im September 1158 Barbarossa ergab, um vom Bann gelöst zu werden und von neuem des Kaisers Gnade zu erlangen, mußten die vereinbarten Friedensbedingungen (conventio; pacis pactum; pacis conditiones) von seiten Mailands durch Unterwerfungsgesten öffentlich bestätigt und bekräftigt werden. Die führenden Repräsentanten der Stadt waren gehalten, in folgender Ordnung am Hof des Kaisers zu erscheinen: »Voran der gesamte Klerus und die Angehörigen des kirchlichen Standes mit ihrem Erzbischof, mit vorangetragenen Kreuzen, nackten Füßen und in ärmlichem Gewand; dann die Konsuln und die angesehensten Bürger der Stadt, ebenfalls ohne Obergewand, mit nackten Füßen, entblößte Schwerter auf dem Nacken tragend.« 106

Ein großes Schauspiel (ingens spectaculum), das von einer riesigen Zuschauermenge miterlebt wurde, soll das gewesen sein. Nach der Verlesung der schriftlich festgehaltenen Friedensbedingungen bekundeten die klerikalen und bürgerlichen Vertreter Mailands ihre Zustimmung. Danach empfingen sie vom Kaiser Friedenskuß und Handschlag. Der Chronist bemerkt ausdrücklich, die Initiative zum Friedenskuß und zur Handreichung sei vom Kaiser, dem Ranghöheren, ausgegangen. Der Eindruck der Gleichrangigkeit oder einer ›De-facto-Gleichinstrumentum gibt Schwenk nicht. Er tut so, als ob jeder Mediävist, der einigermaßen Latein kann, wissen müßte, worum es sich bei diesem Instrument handelt. Ich weiß es nicht; ich bin auch nicht schlau und fündig geworden, als ich in München die Zettelkästen des ›Mittellateinischen Wörterbuches‹ durchmusterte und nach erhellenden Belegen suchte. Ich vermag auch nicht genau zu sagen, was der Verfasser der ›Vita Arnoldi‹ mit den rigidae plantae algentesque meint. Die Last der Deutung und Erklärung sollte man nicht dem Leser aufbürden. – Ob subtellarius etwas mit subtolaris (= Schuh; Hufeisen) zu tun hat? 106 Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica (wie Anm. 65), S. 500f. – Zur Vor- und Nachgeschichte dieses Vorgangs vgl. ebd., S. 491 - 503.

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heit‹ konnte so erst gar nicht aufkommen. Die hierarchische Struktur der politischen und sozialen Ordnung blieb gewahrt durch das deutlich sichtbare Gefälle zwischen dem Initiator und dem Empfänger des Kusses. Als Siegeszeichen wurde in der Stadt das kaiserliche Banner aufgerichtet. Im Lager des Kaisers herrschte Jubel, Freude in der Stadt. Das Schwert auf dem Nacken der Mailänder Konsuln signalisierte Gewaltlosigkeit sowie das Eingeständnis, eigentlich den Tod verdient zu haben; ihre unbeschuhten Füße bewiesen Demut und Schuld. Die Unehre der nackten Füße hätten sich die Mailänder Konsuln gerne erspart. Durch eine Geldzahlung hatten sie die Demuts- und Schuldgebärde ablösen und ersetzen wollen. Doch der Kaiser zeigte sich un nachgiebig und lehnte ihr Angebot ab.107 Die öffentliche Demonstration seiner Macht und Überlegenheit war ihm offenkundig wichtiger als eine Geldzahlung hinter den Kulissen. Den 1162 zwischen Barbarossa und Mailand geschlossenen Frieden beschrieben staufertreue Beobachter als Ringen der Mailänder um die Barmherzigkeit des Kaisers (imperatoris misericordia).108 Die bedingungslose Übergabe, auf welcher der Kaiser bestand, schloß eine conventio oder ein pactum aus. Der Kaiser diktierte die Bedingungen, unter denen er bereit war, mit den Mailändern Frieden zu schließen. Aus den symbolischen Handlungen, die die einzelnen Stationen der Friedensverhandlungen begleiteten, ergibt sich das Bild eines einseitigen Diktatfriedens. Die Mailänder hofften auf die Milde (clementia) des Herrschers. Erwarten – im Sinne einer vom Kaiser geschuldeten Gegen leistung – konnten sie eine solche nicht. Das ungeschriebene Gesetz der Wechselseitigkeit – empfangene Genug tuung verpflichtet zur Huld – hatte damals seine Geltungskraft eingebüßt. Anfang März 1162 kamen die Konsuln nebst acht Rittern aus Mailand in das kaiserliche Lager von Lodi, um sich, mit bloßen Schwertern in den Händen, zu 107 So Vinzenz von Prag, Kapellan des böhmischen Königs im kaiserlichen Heerlager, der als Augenzeuge von dem Mailänder Vorgang in seinen Annalen (MGH SS 17, S. 675) davon berichtet, indem er schreibt: licet enim plurimam offerrent pecuniam quod eis calciatis hanc satisfactionem facere liceret, nullomodo tamen obtinere potuerant. Vgl. dazu Thomas zotz, Präsenz und Repräsentation. Beobachtungen zur königlichen Herrschaftspraxis im hohen und späten Mittelalter, in: Herrschaft als soziale Praxis, hg. v. Alf lüdtke (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 91), Göttingen 1991, S. 179. 108 Acerbus von Morena († 1167), der den von seinem Vater Otto von Morena begonnenen ›Libellus de rebus a Frederico imperatoris gestis‹ fortsetzte, beschreibt das friedenstiftende Unterwerfungsritual sehr ausführlich. Vgl. Italische Quellen über die Taten Kaiser Friedrichs I. in Italien und der Brief über den Kreuzzug Kaiser Friedrichs I., übers. v. Franz-Josef schmale (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 17a), Darmstadt 1986, S. 172 - 181. Zur oben zitierten imperatoris misericordia vgl. ebd., S. 178.

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ergeben. Sie hätten sich, berichtet Barbarossa an Bischof Roman von Gurk, zu ihrer Schuld als Majestätsverbrecher (maiestatis rei) bekannt; desgleichen hätten sie ihre Habe und die ganze Stadt cum plenaria deditione seiner Verfügungs- und Befehlsgewalt anheimgegeben.109 300 Mailänder Ritter erschienen und übergaben dem Kaiser, nachdem sie ihm die Füße geküßt hatten, die Schlüssel der Stadt. Fußvolk in einer Stärke von etwa 1000 Mann überbrachte den Fahnenwagen der Stadt. Den Carroccio, auf dem sich neben zahlreichen anderen Wimpeln das Hauptbanner (vexillum maximum) der Stadt mit dem Bildnis des heiligen Ambrosius, des Mailänder Stadt patrons, befand, übergaben sie zusammen mit zwei Trompeten dem Kaiser in signum tocius reipublice Mediolani.110 Dem Bericht des kaiserlichen Kapellans und Notars Burchard über diese Vorgänge ist außerdem zu entnehmen, »daß das Flehen der mit dem Kreuz in den Händen erscheinenden Mailänder Bürger um Erbarmen die Umstehenden zu Tränen gerührt habe, nur des Kaisers Gesicht habe sich nicht verändert, im Gegenteil, es sei beim Versuch des Grafen von Biandrate, sich für seine einstigen Freunde einzusetzen, geradezu versteinert. Doch zuletzt, nachdem die Mailänder bekannt hatten, daß es ihnen nicht mehr um eine conventio oder ein pactum gehen würde, da kündigte Barbarossa zu gegebener Zeit Barmherzigkeit an. In der Hoffnung hierauf warfen die Mailänder ihre Kreuze als Zeichen der Unterwerfung durch die Fenstergitter in die caminata der Kaiserin Beatrix, zu der sie keinen Zugang hatten. Und schon am folgenden Tag verkündete ihnen der Kaiser, daß er, obwohl sie von Rechts wegen den Tod verdient hätten, nun Barmherzigkeit walten lassen wolle.«111 Die versprochene Barmherzigkeit kam bekanntermaßen einem Strafgericht gleich. Die Mailänder mußten ihre heimischen Wohnsitze verlassen. Mailand wurde zerstört. Der Kaiser empfand sein Zerstörungswerk als Vollzug eines göttlichen Urteilsspruches (sententia divina).112 Am 17. April 1175 waren Abgesandte der lombardischen Städte in das Lager Barbarossas gekommen, das er bei Montebello aufgeschlagen hatte. Die Vertreter des Lombardenbundes legten vor dem Kaiser ihre Waffen nieder, senkten ihre Banner und suchten mit entblößten Schwertern auf ihrem Nacken um des Kaisers Gnade nach. Barbarossa gewährte ihnen diese. Seinen Friedenswillen bekundete er dadurch, daß er »den Führern des Lombardenbundes für

109 Die Admonter Briefsammlung nebst ergänzenden Briefen, ed. Günther hödl / Peter classen (MGH. Epp. Die Briefe der deutschen Kaiserzeit 6), S. 117. 110 Acerbus von Morena (wie Anm. 108), S. 174 - 176. 111 zotz (wie Anm. 107), S. 181. 112 So Friedrich Barbarossa in seinem Brief an Bischof Roman von Gurk. Siehe Admonter Briefsammlung (wie Anm. 109), S. 117.

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alle Bundesmitglieder den Friedenskuß gab«.113 Allein die vom lombardischen Städtebund gegründete Stadt Alessandria, die zum Beweis ihrer Kirchentreue den Namen Papst Alexanders III. angenommen hatte, blieb von der pax et con­ cordia des Kaisers ausgeschlossen. Alessandria mußte sich mit einem zeitlich befristeten Waffenstillstand begnügen. Einer endgültigen Friedensregelung wollte Barbarossa nur unter der Bedingung zustimmen, daß Alessandria, ein Symbol des Widerstandes, des Ungehorsams und der Unbezwingbarkeit, zerstört würde. Die Bundesstädte waren aber nicht gewillt, die Forderung des kaiserlichen Hofes zu erfüllen. Der vereinbarte Friede zerbrach. Um von neuem in des Kaisers Huld und Gnade aufgenommen zu werden, erklärten sich die Bürger von Alessandria im März 1183 bereit, der juridischen Fiktion einer Neugründung ihrer Stadt zuzustimmen. Kraft dieses kaiserlichen Gründungsaktes sollte Alessandria ihren alten, zu Ehren Papst Alexanders III. angenommenen Namen ablegen und fürderhin Cesarea heißen. Das Versöhnungsritual sah vor, daß alle Männer und Frauen die Stadt verlassen und sich solange außerhalb der Stadt aufhalten, bis sie ein kaiserlicher Gesandter in die Stadt zurückführt und ihnen diese kraft kaiserlicher Autorität zurückgibt. Alle männlichen Einwohner im Alter von vierzehn bis siebzig Jahren mußten überdies dem Kaiser einen Treueid leisten und sich zur Wahrung von Frieden und Eintracht ( pax et concor­ dia) verpflichten.114 Auch im Rechts- und Verfassungsleben spätmittelalterlicher Städte spielten Buße, Gnade und Vergebung eine maßgebliche Rolle, wenn es darum ging, verletzte Friedensbeziehungen zu heilen. Im Jahre 1359 bekannten Braunschweiger Gildebrüder vor dem städtischen Rat, daß ihnen ihr aufrührerisches Verhalten leyd sy. Der Rat möge ihnen dor god vorgheve (durch Gott vergeben) und ihnen gnade zuteil werden lassen.115 Um Gnade baten und zur Buße erboten sich auch jene Braunschweiger Ratsherren, die am 12. August 1380 in Lübeck vor den versammelten Boten der Hansestädte. Hamburg, Rostock, Stralsund, Wismar, Lüneburg, Bremen und Lübeck erschienen waren, um die Verhansung Braunschweigs, eine Strafaktion aufgrund der großen Schicht des Jahres 1374, wieder rückgängig zu machen. Das feierliche Sühne- und Versöhnungsritual fand, wie aus einer mündlichen Braunschweiger Überlieferung hervorgeht, die in der Mitte des 16. Jahrhunderts schriftlich festgehalten wurde, auf den Stufen des Lübecker Mariendomes 113 114 115

Walter h eInemeyer , Der Friede von Montebello (1175), in: Deutsches Archiv 11 (1954), S. 130. Vgl. auch schreIner (wie Anm. 12), S. 117. Reconciliation Alexandriae, bearb. v. Ludwig weIland (MGH. Constitutiones 1), Han nover 1843, S. 407. Die Chroniken der niedersächsischen Städte: Braunschweig (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 6), Leipzig 1868, S. 314.

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statt. Dort standen sie, die bußfertigen Abkömmlinge Braunschweiger Ratsgeschlechter, und baten im Namen Gottes und Marias die Boten der Hansestädte, »daß man ihnen vergeben wolle, was sie gethan hätten: sie hätten es in hastigem Muthe gethan. Und baten fürder also, daß man sie wieder aufnähme in des Kaufmanns Gerechtigkeit und ließe sie wieder zu bei der Hanse.« 116 Das geschah denn auch. Überlieferungen, die in der jüngeren Braunschweiger Stadtchronistik festgehalten und weitergegeben wurden, berichten anschaulich, »wie die acht Rathsboten, mit Wollenwant bekleidet, barhäuptig und barfuß, brennende Wachskerzen in den Händen« in Prozession zum Ort der feierlichen Sühnehandlung zogen, »fußfällig ihre Bitten vortrugen und Verzeihung« erlangten, »indem sie mit einem Eide die verlesenen Artikel des Sühnebriefes zu halten gelobten«.117 Dieser sah unter anderem vor, daß Ratsmannen und Bürger der Stadt Braunschweig in der Pfarrei St. Martin eine steinerne Kapelle mit zwei Vikarien für zwei arme Priester bauen sollten. In einer Zeit, in der Politik, Rechtspflege und Friedenssicherung einem wachsenden Rationalitätsdruck ausgesetzt waren, zeigt der »Fall Braunschweig« das Fortwirken älterer, aus dem kirchlichen Bußwesen stammender Sühne- und Versöhnungsformen – auch auf dem Felde städtischer Politik und des genossenschaftlichen Rechts. Er beweist, daß noch im Spätmittelalter verletztes Recht durch religiöse Buß- und Sühneleistungen wiederhergestellt wurde.

3. Heilige Zeichen und gottesdienstliche Handlungen als Mittel und Rahmenbedingungen von Friedensbildungen Gottfried, der gottesfürchtige Prior in der niederösterreichischen Kartause Mauerbach, konnte, wie der Kärntner Zisterzienserabt Johannes von Viktring († 1345) berichtet, im Jahre 1325 Ludwig den Bayern veranlassen, seinem Rivalen Friedrich dem Schönen zu vergeben und aus seiner Gefangenschaft in der oberpfälzischen Burg Trausnitz zu entlassen. Inständig hatte er die sich für Fürsten ziemende Milde (clemencia principum) beschworen. Den Versöhnungsakt beschreibt Johannes von Viktring folgendermaßen:

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Ebd., S. 387: »de schicht de binnen Brunswic gheschen is, de is in hastem mode gheschen unde is uns leet, unde willen dat war maken mid unsen eeden effte gi uns des nicbt verdraghen en willen, unde we bidden jů dorch god unde dorch unser leven vroůwen willen, dat gi uns dat vergheven, unde nemen uns wedder in jůwes kopmans rechticheyt, dar we ere mid je inne gewesen hebbet.« Ebd., S. 386.

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»Der Prior feierte eine hl. Messe und stärkte beide durch die heilige Kommunion von einer Hostie, versöhnte Friedrich mit Ludwig durch einen Eid und einen Kuß des Friedens.«118

So der Bericht des Johannes von Viktring. Die symbolischen Elemente des Vorganges sind kaum zu übersehen: Der Kartäuserprior teilt eine Hostie. Um den beiderseitigen Friedenswillen und die beiderseitige Friedensverpflichtung anschaulich zu machen, gibt er die eine Hälfte der Hostie Ludwig dem Bayern, die andere Friedrich dem Schönen. Beide schwören einen Friedenseid (sacramentum); beide geben sich den Kuß des Friedens (osculum pacis). Das durch gemeinsame Kommunion, durch Eid und Kuß besiegelte Friedens- und Freundschaftsverhältnis verglich der Autor mit dem Freundschaftsbund, den in alttestamentlicher Zeit David und Jonathan, der Sohn von Davids Widersacher Saul, geschlossen hatten. Verpflichtete der Empfang der Eucharistie zu friedfertigem Verhalten, lag es nahe, diesem Gedanken in einem Ritual Ausdruck zu geben. Albertus Magnus hatte die Eucharistie als sacramentum pacis gedeutet, so daß diejenigen, die den Leib Christi empfangen, Frieden unter sich haben ( pacem habere ad invicem) und sich befriedet ( pacificati) voneinander trennen.119 Der Kartäuserprior, der die Hostie teilte, um zwei Widersacher miteinander zu versöhnen, stützte sich auf Sinnpotentiale, die das Sakrament des Herrenleibes zu einem Symbol des Friedens machten. Als sich in London im Jahre 1457 Männer des Hofes und Bürger aus der Fleetstreet bis aufs Messer bekämpften, kamen Bischöfe mit Kreuzen und dem Altarsakrament, um mit Hilfe dieser heiligen Zeichen die Streithähne zu be-

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Iohannes Abbas Victoriensis, Liber certarum historiarum, ed. Fedor schneIder (MGH. Scriptores rer. Germ. in usum scholarum 36), Hannover-Leipzig 1910, S.91: officium misse sacre prior [Gotfridus] celebrat, sacra communione de una hostia ambos corroborat, sacramento Fridericum Lůdewico ac pacis osculo conciliat. Rolf sPrandel , Der Sakramentskult des Spätmittelalters im Spiegel der zeitgenössischen Chronistik, in: Das Mittelalter – unsere fremde Vergangenheit, hg. v. Joachim kuolt u. a., Stuttgart 1990, S. 306, deutet den Versöhnungsakt zwischen Ludwig dem Bayern und Friedrich dem Schönen im Jahre 1325 so: »Die Hostie dient der Eidstärkung, der Schwur verbrüderung unter Menschen«. Das schließt jedoch nicht aus, daß der Hostie eine eigenständige, vom Eid unabhängige Friedenssymbolik zukommt. Albertus Magnus, Commentarii in librum Sancti Dionysii Areopagitae de ecclesiastica hierarchia c. III, 5, in: Opera omnia, ed. Augustus borgnet, Bd. 14, Paris 1892, S. 570: pax spiritualiter in hoc sacramento datur: quia, ut dictum est, est sacramentum communionis, quae est per pacem. Ebd., c. III, 19, S. 605, bringt er den Friedenskuß in einen un mittelbaren Zusammenhang mit der Eucharistie: pax [osculum pacis] quae datur, significat quod oportet recipientes sacramentum unionis, pacem habere ad invicem, ut simili, scilicet in pacificatis, recipiatur simile, scilicet sacramentum pacis, quod est Eucharistia.

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frieden.120 Aus dem Ritual entstand eine bis in die frühe Neuzeit fortwirkende Tradition. Auch im 16. und 17. Jahrhundert sind Kreuz und Altarsakrament benutzt worden, um aufbegehrende Christen und Bürger zum Gehorsam gegen ihre Obrigkeit zu bewegen. »Als zum Beispiel in Neapel im Jahre 1585 die Menge anfing, Häuser zu plündern, tauchten die Jesuiten mit einem Kruzifix auf – vermutlich, weil die normale Reaktion auf dieses Symbol war, mit dem aufzuhören, was man gerade tat, und niederzuknien.«121 Derselbe Vorgang spielte sich 1647 in Palermo ab: »Eine Menge zog zum Haus des Marchese del Flores, um es niederzubrennen, wurde aber von Karmelitern abgehalten, die das Altarsakrament mit sich führten. Sie wandten sich stattdessen dem Haus des Herzogs von La Montagna zu, wurden aber von den Theatinern abgefangen, auch sie mit dem Altarsakrament bewaffnet und Glocken läutend, um fromme Ehrfurcht zu erzeugen. Am nächsten Tag mußten erneut Kruzifixe, Reliquien und Sakrament in Dienst genommen werden, um einen Aufruhr zu ersticken.«122

In Neapel spielte sich im Sommer 1647 Ähnliches ab. Hungersnot und steigende Lebensmittelpreise verursachten einen Aufstand der Bevölkerung. Unter ihrem Anführer Masaniello, einem jungen Fischer, zog die Masse zum Palast des Vizekönigs. Einige behaupteten, über seinem Haupt eine kreisende Taube gesehen zu haben, weswegen er als ein von Gott gesandter König gehalten wurde. Manche der revoltierenden Bürger waren mit Stöcken bewaffnet, »andere trugen Piken mit aufgespießten Brotlaiben, eine traditionelle Geste ritualisierter Aggression, als Protest gegen den Brotpreis«.123 Nicht weniger als 50.000 Menschen sollen an diesem Marsch teilgenommen haben. Mit Hilfe der üblichen religiösen Rituale suchten Vizekönig und Erzbischof die Ordnung wiederherzustellen. »Der Erzbischof ließ das Altarsakrament zusammen mit dem Blut und dem Kopf von San Gennaro ausstellen. Die Dominikaner, Fran ziskaner, Karmeliter, Jesuiten und Theatiner zogen in Prozessionen aus ihren Konventen. Auf Bitten des Vizekönigs zeigte sich der Fürst von Bisignano, der im Ruf stand, ein aristokratischer Freund des Volkes zu sein, mit einem Kruzifix in der Hand auf der Piazza del Mer-

120 So in der Chronik des Londoner Chronisten Robert Bale († 1461), in: Six Town Chronicles of England, ed. Ralph Flenley, Oxford 1911, S. 146. 121 Peter burke , Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock. Eine historische Anthropologie. Aus dem Englischen v. Wolfgang k aIser , Berlin 1987, S. 162. 122 burke (wie Anm. 121), S. 162f. 123 Ebd., S. 162.

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cato und sprach von der Kanzel der Carmine zur Menge. Er forderte sie auf, sich um der Liebe Gottes und der Jungfrau Maria willen zu beruhigen.«124

Auch in Spanien griff während des 17. Jahrhunderts der Klerus zum Altarsakrament, um bei ausbrechenden Unruhen die Menge zu beruhigen. Das war 1648 in Granada und 1691 in Valencia der Fall. In Granada versammelte sich auf dem Campo del Principe eine Menschenmenge von etwa 5.000 Personen. Um Schlimmes zu verhüten, trugen der Erzbischof und seine Domherren das Altarsakrament dorthin. Die Menge betete es an, wie ein zeitgenössischer Jesuit berichtet, und sagte, sie seien Katholiken, hätten aber Hunger und Verlangen nach Brot.125 Um Frieden herzustellen, bedurfte es heiliger Zeichen, die an heilsgeschichtliche Voraussetzungen menschlicher Friedensstiftung erinnern sollten und Friedenssorge zu einem Gebot Gottes machten. Der Rückgriff auf Kreuz und Altarsakrament erfolgte in italienischen und spanischen Städten des 16. und 17. Jahrhunderts in konfliktträchtigen Ausnahmesituationen. Sich hingegen bei der Beeidigung von Einungen und Friedensverträgen heiliger Zeichen zu bedienen, war die Regel. Das taten auch die Bürger oberitalienischer Städte, die sich im 11. und 12. Jahrhundert zu »Eidverbrüderungen« (Max Weber) zusammenschlossen, um ihr Zusammenleben selbstverantwortlich zu gestalten. Adlige und Bürger Mailands kamen 1099 überein, »unter dem Zeichen des Kreuzes« eine eidlich bekräftigte pax und concordia zu schließen.126 Im Jahre 1248 »schworen der Vizelandmeister des Deutschen Ordens in Preußen und Swantopolk [Herzog von Pommerellen] unter Berührung heiliger Reliquien und des Kreuzeszeichens bei ihrer Seele und der ihrer Nachfolger vor dem vermittelnden päpstlichen Legaten Jakob von Lüttich und vielen anderen Zeugen, daß sie alle Friedensbedingungen und jede einzelne von ihnen auf ewig unverbrüch lich halten würden.«127 Als sich am 23. Juli 1343 auf dem Felde zwischen Morin und Jungleslau der polnische König Jasimir III. und der Hochmeister des Deutschen Ordens trafen, um durch einen Friedensvertrag den jahrzehntelangen Streit um Pom merellen zu beenden, tauschten beide Vertragsurkunden aus und leisteten einen Friedensund Versöhnungseid, »der König bei seiner Krone und der Hochmeister bei seinem Kreuz«. Beide gelobten, alle Bestimmungen und jede einzelne fest ein124 Ebd. 125 Henry k amen, Spain in the Later Seventeenth Century, 1665–1700, London-New York 1980, S. 180. 126 dIlcher (wie Anm. 77), S. 144f. 127 Klaus neItmann, Die staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen 1230–1449. Studien zur Diplomatie eines spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaates (Neue Forschungen zur Brandenburg-Preussischen Geschichte 6), Köln-Wien 1986, S. 145.

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halten und erfüllen zu wollen. Dann gaben sie sich den Friedenskuß. »Auf diese Weise«, heißt es in dem Notariatsinstrument, das den »Staatsakt« festhält, sind »der Friede und die Eintracht vollendet worden.«128 Der Abschluß von Bündnisverträgen folgte demselben Ritual. Als sich der Deutsche Orden und das Großfürstentum Litauen am 19. Juni 1431 in Christ memel miteinander verbündeten, leisteten Großfürst und Hochmeister sowie die anwesenden Räte und Vasallen einen Eid uff dem lebenden holcze des heiligen crewzes ab, während die orthodoxen russischen Herzöge und die zwei Vertreter der verbündeten Walachei eine bildliche Kreuzesdarstellung küßten.129 Die Rolle, die ein Kreuz bei der Beeidigung von Friedensverträgen spielte, konnte auch ein Evangeliar erfüllen. Der Friede zwischen Herzog Swantopolk von Pommerellen und dem Deutschen Orden wurde, hält man sich an den Bericht Peters von Dusburg, im Jahre 1243 »in der Weise abgeschlossen, daß Swantopolk den Ordensbrüdern seine besiegelte Vertragsurkunde übergab und den Vertragsinhalt durch einen Eid auf die Evangelien Gottes beschwor«.130 Als am 21. September 1435 Frankreich und Burgund in der Abteikirche von St. Vaast in Arras Frieden schlossen, legten Herzöge, Grafen und der Erzbischof, dann die übrigen Unterhändler des französischen Königs sowie andere Fürsten, Barone, Ritter und Adlige den Schwur auf den Friedensvertrag ab, »indem sie die heiligen Evangelien in den Händen zweier Kardinäle berührten. Anschließend forderten die beiden Kardinäle die anderen Teilnehmer an der Zeremonie auf, die Hände zu heben, als Zeichen dafür, daß sie den Frieden einhalten würden.«131 Auf religiöse Bestandteile und Ausprägungen des mittelalterlichen Friedensbegriffes verweisen auch gottesdienstliche Formen, in welche Friedensschlüsse vielfach eingebettet waren. Der zwischen Friedrich Barbarossa und Papst Alexander III. im Jahre 1177 geschlossene Friede beweist das in eindrucksvoller Anschaulichkeit. Eine Friedensfeier, in Venedig glanzvoll inszeniert, brachte vor aller Welt zur Anschauung, was Vorverhandlungen gezeitigt und Vorverträge verbrieft hatten.132 Nachdem der Kaiser den urkundlich festgeschriebenen 128 Ebd., S. 138. 129 Ebd., S. 278. 130 Peter von Dusburg, Chronik des Preußenlandes III, 39, ed. Klaus scholz / Dieter wojteckI (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 25), Darmstadt 1989, S. 147. 131 neItmann (wie Anm. 127), S. 301. 132 Im Folgenden stütze ich mich im wesentlichen auf den Bericht Kardinals Boso († nach dem 28. Juli 1178), der in seiner Vita Papst Alexanders III. als Augenzeuge von den Vorgängen in Venedig berichtet. Vgl. Le Liber Pontificalis. Texte, introduction et commentaire, par L. duchesne , Bd. 2, Paris 1955, S. 439 - 443. Vgl. Klaus schreIner , Vom geschichtlichen Ereignis zum historischen Exempel. Eine denk würdige Begegnung

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Abmachungen seiner Unterhändler zugestimmt hatte und er selbst vom Bann gelöst war, konnte das Schauspiel beginnen. Venezianische Schiffe brachten den Kaiser und sein Gefolge am 24. Juli 1177 vom St. Nikolaus-Kloster auf dem Lido nach Venedig. Auf einem Thron vor den Pforten von St. Marco erwartete der Papst den vom Bann befreiten Kaiser. Als sich Friedrich Barbarossa dem päpstlichen Thron näherte, legte er seinen kaiserlichen Purpurmantel ab, fiel zur Erde und küßte dem Papst als dem Nachfolger Petri die Füße. Der Papst seinerseits gab dem Kaiser den ›Friedenskuß‹. Unter dem Lobgesang von Klerus und Volk ergriff Kaiser Friedrich die rechte Hand Papst Alexanders und geleitete ihn unter dem Gesang des ›Te Deum ‹ in die Kirche des venezianischen Stadt patrons St. Markus. Dort empfing er vom Papst den Segen. Nach dem Evangelium in der Messe des darauffolgenden Tages küßte der deutsche Kaiser dem römischen Papst von neuem die Füße und überreichte ihm, wie das auch die Heiligen Drei Könige im Stall von Bethlehem getan hatten, kostbare Schätze aus Gold. Nach der Messe führte der Kaiser den Papst zu dessen Pferd, hielt ihm die Steigbügel und ergriff die Zügel des Zelters. Im Palast des Patriarchen von Venedig wurde am 1. August der Friedensvertrag feierlich beschworen. Er verbriefte Eintracht zwischen Reich und Kirche, einen auf fünfzehn Jahre befristeten Frieden mit Sizilien und einen sechsjährigen Waffenstillstand mit den lombardischen Städten. Am 14. August wurde der Friedensvertrag in der Markus-Kirche von Venedig noch einmal öffentlich vorgelesen und durch zustimmenden Beifall aller Anwesenden bekräftigt und gefestigt (communi assertione roborata fuit et firmata). In einem abschließenden Zusammentreffen Mitte September ging es um die strittige Rückgabe der mathildischen Güter. Aus diesem Anlaß beugte der Kaiser vor dem Papst wiederum die Knie, küßte ihm noch einmal die Füße und empfing von ihm sowie von allen anwesenden Kardinälen den Friedenskuß. Am 18. September 1177 verließ Barbarossa Venedig und begab sich über Ravenna nach Cesena. Soweit der Bericht Kardinal Bosos († nach dem 28. Juli 1178), eines Augenzeugen des venezianischen Friedensfestes. Bosos Bericht ist in zweifacher Hinsicht von Interesse. Er unterrichtet genau und umfassend über die Kernbestimmungen des Friedensvertrages; er gibt außerdem zu erkennen, daß in der Welt des Mittelalters politisches Handeln sinnenhafter Zeichen bedarf, die kenntlich und erfahrbar machen, wie es um die wechselseitigen Beziehungen zwischen Herrschaftsträgern bestellt ist, die Öffentlichkeit herstellen und auf diese Weise die Geltungskraft der getrofzwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und Papst Alexander III. in Venedig 1177 und ihre Folgen in Geschichtsschreibung, Literatur und Kunst, in: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion (Germanistische Symposien 6), hg. v. Peter W. waPnewskI, Stuttgart 1986, S. 145 - 176; schreIner (wie Anm. 12), S. 115 - 121.

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fenen Abmachungen verstärken. Das symbolische Handeln zwischen Kaiser und Papst – der Fußkuß Barbarossas und der Friedenskuß Alexanders – faßte zusammen, was zuvor in langwierigen Verhandlungen zwischen päpstlichen und kaiserlichen Beauftragten vereinbart worden war. Fuß- und Friedenskuß machten die zwischen Reich und Kirche wiederhergestellte Eintracht, die auf zahlreichen Einzelbestimmungen rechtlicher Art aufbaute, sicht- und erlebbar. Die Ehre des Fußkusses, wie sie der Papst für sich und sein Amt beanspruchte, hatten bislang alle rechtgläubigen Kaiser dem Papst erwiesen. Barbarossas Bereitschaft, die mit einem Kreuzsymbol versehenen Pontifikalschuhe Papst Alexanders zu küssen, bildete eine unabdingbare Voraussetzung für das Zustandekommen der von päpstlicher und kaiserlicher Seite erstrebten vera pax. Indem Barbarossa dem Papst die Füße küßte, kam er einer Rechtspflicht nach, die im ersten Punkt des Friedensvertrages als debita reverentia genannt worden war. Ein Ritual, das vasallitische Abhängigkeit zum Ausdruck brachte, war Barbarossas Fußkuß nicht. Das zwischen Kaiser und Papst vereinbarte pactum grenzte Handlungsspielräume künftiger Politik ab; das osculum pedis und das osculum pacis weckten Hoffnungen auf eine kommende Zeit des Friedens und luden dazu ein, sich mit dem Gedanken der Eintracht, einem Grundwert politischer und kirchlicher Ordnung, gefühlsmäßig zu identifizieren. Kirchliche und kaiserliche Geschichtsschreiber rühmten einhellig die wiedererlangte »Eintracht zwischen Kirche und Reich« (concordia inter eccle­ siam et imperium). In der Wahrnehmung und Wertung des Fußkusses kommt ihre Standortgebundenheit unverhohlen zum Ausdruck. Kaiserlich gesinnte Geschichtsschreiber sparten den Fußkuß aus ihrer Berichterstattung aus. Sie zögerten, eine symbolische Handlung, die ihrem Empfinden nach die Würde des Kaiser geschmälert hatte, der Nachwelt zu überliefern. Kirchliche Autoren nahmen den Fußkuß zum Anlaß, die Friedensfeier in eine Siegesfeier der Kirche umzustilisieren. Den Fußkuß deuteten sie als Akt der Unterwerfung, den Kreuzzug, den Barbarossa angeblich in Venedig versprochen hatte, als verdiente Bußleistung für zuvor begangene Vergehen. Thomas von Pavia († 1280/84), Provinzialminister der Franziskaner für Tuscien, der sich in seiner Chronistik insbesondere dadurch hervortat, daß er alle über die Staufer verbreiteten Verdächtigungen und Verleumdungen kritiklos weitergab, bereicherte die Begegnung zwischen Kaiser und Papst in Venedig 1177 mit einer neuen Variante. Er schrieb: Bei dem Versöhnungsakt in Venedig sei Papst Alexander III. dem deutschen Kaiser auf den Hals getreten und habe den 13. Vers aus dem 91. (90.) Psalm zitiert, welcher lautet: »Auf Basilisk und

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Otter wirst du gehen und den Löwen und Drachen zertreten.« 133 Thomas von Pavia wollte nicht das Einvernehmen zwischen Kirche und Reich herausstellen, sondern seinen Lesern das Bild einer strahlenden ecclesia triumphans vor Augen führen. Deshalb griff er auf eine Triumphmetapher zurück, die sowohl in der biblisch-patristischen Bildsprache als auch in der kirchlichen Kunst ihren festen Platz hatte. Der Fußtritt, von dem Thomas von Pavia sprach, nahm dem Fußkuß seine janusköpfige Interpretierbarkeit. Die Tatsache, daß der Papst dem Kaiser auf den Kopf trat, präzisierte die vieldeutige Gebärde des Fußkusses, die sowohl Ehre, Versöhnung, Eintracht, Anerkennung und Ehrfurcht als auch Gehorsam und Unterwürfigkeit zum Ausdruck bringen konnte. Dem späten Mittelalter eine Säkularisierung des Friedensgedankens zu unterstellen,134 erscheint zweifelhaft und problematisch, wenn man sich vergegenwärtigt, daß im 14. und 15. Jahrhundert Friedensvereinbarungen immer noch in gottesdienstliche Handlungen eingebunden blieben. Der 1454 in Lodi geschlossene Friedensvertrag zwischen dem Herzog von Mailand und dem Dogen von Venedig sah vor, daß die Friedensurkunde in den an den militärischen Auseinandersetzungen beteiligten Städten nicht nur öffentlich verlesen, sondern der dadurch erreichte Frieden durch Meßfeiern und Prozessionen auch gebührend gefeiert werden sollte. Bereits zwei Jahre zuvor, als sich der König von Frank reich, der Herzog von Mailand und Florenz miteinander verbündet hatten, war aus diesem Anlaß in Florenz eine Messe mit großem Gepränge gefeiert worden, hatten Prozessionen stattgefunden, waren die kostbarsten Heiltümer der Stadt zur Schau gestellt und aus Impruneta das wundertätige Marienbild in die Stadt geholt worden.135 Offenkundig bedurfte es immer noch himmlischer Helfer und religiöser Zeichen, um Verträgen die ihnen gebührende Unverletzlichkeit und Geltungskraft zu geben.

4. Friedensküsse Um das, was in Recht und Politik des Mittelalters gelten sollte, öffentlich zu machen, bedurfte es gegenständlicher Zeichen und zeichenhafter Handlungen. Zu 133 Thomas Tuscus, Gesta imperatorum et pontificum, ed. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 22), Hannover 1872, S. 506. 134 So die These von Wolfgang justus, Die frühe Entwicklung des säkularen Friedensbegriffs in der mittelalterlichen Chronistik (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter 4), Köln-Wien 1975. 135 Richard trexler , Public Life in Renaissance Florence, Ithaca-London 1991, S. 284, besonders Anm. 21 und 22.

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diesen gehörte auch der Friedenskuß (osculum pacis), das fraglos ausdrucksstärkste Zeichen mittelalterlicher Friedensstiftung. Als sich Graf Otto von Teck lenburg 1257 mit Graf Gottfried von Arnsberg nach einer Fehde aussöhnte, küßten sie sich gegenseitig, um, wie es in der Friedensvereinbarung heißt, durch eine symbolische Handlung öffentlich ( publice) kundzutun, daß zwischen ihnen »jeder Stachel der Zwietracht« (omnis discordie scrupulus) beseitigt sei und eine schriftlich vereinbarte Aussöhnung (compositio) stattgefunden habe.136 Wie die beiden Herren des westfälischen Adels Frieden schlossen, entsprach mittelalterlicher Rechtstradition und den von dieser gebotenen symbolischen Formen. Geistliche und weltliche Große des Mittelalters bedienten sich in gleicher Weise des Friedenskusses, um dem wiederhergestellten Frieden sinnhaften Ausdruck zu geben. »Am 18.Juni 985«, berichtet Gerbert von Aurillac (um 950–1003), »hat Herzog Hugo den König und die Königin geküßt«, um die Versöhnung Hugo Capets mit dem karolingischen König Lothar der Nachwelt zu überliefern.137 Um zwischen Sachsen und Schwaben, die sich im Oktober 1076 in Tribur trafen, das geschlossene Bündnis und die erneuerte Freundschaft zu bekräftigen, gaben sich Herzog Otto von Nordheim, der des bayerischen Herzogsamtes beraubte Herzog, und Herzog Welf IV. von Bayern, der das bayerische Herzogtum angeblich durch unrechte Gewalt erhalten hatte, gegenseitig den Friedenskuß (sibi invicem pacis oscula dederunt).138 Um Friedenswille und Friedenspflicht in den Köpfen und Herzen möglichst vieler zu verankern, »gaben sich auch die Vasallen der zweiten und dritten Ordnung auf beiden Seiten den Friedenskuß und vergaben sich unter Tränen, was sie einander zu leide getan hatten«.139 Sie knüpften daran die Bedingung, daß nach der Wahl eines neuen Königs dieser von neuem entscheiden solle, wer rechtens Herzog von Bayern sei. Die Beispiele für Friedensküsse, die Bereitschaft zur Versöhnung und den Willen zu dauerhaftem Frieden bekunden, sind Legion. Als sich Kaiser Heinrich II. und Erzbischof Heribert von Köln 1020 miteinander versöhnten, küßte der Kaiser den Bischof dreimal – »gleichsam einen dreifachen Knoten der Liebe knüpfend« (triplicem nimirum nectens dilectionis nodum), von dem der alttestamentliche Prediger sage, ein dreifach geflochtenes Seil sei schwer auseinanderzureißen. Da dem Kaiser das noch nicht genug war, suchte 136 Westfälisches Urkundenbuch, Münster 1908, Bd. 7, Nr. 968, S. 438. 137 FIchtenau (wie Anm. 9), S. 59. 138 Brunos Buch vom Sachsenkrieg, neu bearb. von Hans-Eberhard l ohmann (MGH. Deutsches Mittelalter. Kritische Studientexte des Rechtsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde 2), Leipzig 1937, S. 82; Brunos Buch vom Sachsen krieg, neu übers. v. Franz-Josef schmale , in: Quellen zur Geschichte Kaiser Hein richs IV. (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 12), Darmstadt 1963, S. 326 - 329. 139 Wie Anm. 138.

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er den Bischof von neuem auf. Er warf sich dem heiligen Mann bußfertig zu Füßen, der ihn dann wiederum aufrichtete, umarmte und küßte ihn (in amplexus et oscula episcopi ruit), weinte und küßte zärtlich fast alle seine Glieder – Hände, Augen und Nacken.140 Im Sommer 1158 küßte Friedrich Barbarossa die päpstlichen Legaten, um dem Papst und dem gesamten römischen Klerus signo pacis et osculo öffentlich seinen Friedenswillen und seine freundschaftliche Gesinnung ( pax et amicicia) zum Ausdruck zu bringen.141 Vorausgegangen war der Eklat auf dem Hoftag von Besançon im Oktober 1157, als der päpstliche Kanzler Roland, der spätere Alexander III., und der Kardinalpriester Bernhard die Verleihung der Kaiser würde durch den Papst als »Lehen« (beneficium) bezeichnet hatten. Erst nachdem der Papst das doppeldeutige beneficium als bonum factum interpretiert hatte, fand sich der Kaiser zum Küssen der Legaten bereit. Der Kuß des Kaisers, eine Geste der Versöhnung, signalisierte die Wiederherstellung konfliktfreier Beziehungen. Die Vertreter des Papstes zu küssen, die den erhaltenen Kuß an den abwesenden Papst weitergeben sollten, war keine Form der Courtoisie, sondern ein hochpolitischer Akt, der in eindeutiger Weise über den Stand der beiderseitigen Beziehungen Aufschluß gab. Seit dem 12. Jahrhundert wurden (vornehmlich in Frankreich) Verträge durch einen »Kuß des Friedens und der Treue« (osculum pacis et fidei) bekräftigt; Rechtsstreitigkeiten fanden ihr definitives Ende durch einen Kuß in signum con­ cordiae et pacis; bei Güterübertragungen küßte der Tradent den Empfänger in signum vere oblationis; zum Akt der Kommendation gehörte es, daß Vasallen von ihren Herren in signum mutuae fidelitatis geküßt wurden.142 Beim Abschluß von Verträgen gewann der Kuß soziale und rechtliche Bedeutung als Bestandteil einer variablen Abfolge von sprachlichen und rituellen Handlungen, die von Zeugen wahrgenommen und bestätigt werden mußten. Solche rituellen Handlungssequenzen bestanden neben dem Friedenskuß gemeinhin aus formelhaften Versprechungen, Eidleistungen, Handreichung, Gabentausch sowie aus der Verschriftlichung der getroffenen Vereinbarungen. In ein »set of rites«143 eingebunden war der Friedenskuß bereits seit dem frühen Mittelalter. Im Jahre 924 versuchte Rudolf von Burgund, König des Westfrankenreiches, Herzog Wilhelm den Jüngeren (II.) von Aquitanien mit militärischer Gewalt zur Anerkennung seines Titels zu zwingen. Beider Heere 140 Vita Meinwerci episcopi Patherbrunnensis, ed. Franz tenckhoFF (MGH. Scriptores rer. Germ. in usum scholarum 59), Hannover 1921, S. 89 - 91; Lantbertus, Vita Heriberti, ed. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 4), Hannover 1841, S. 749. 141 Vgl. schreIner , »Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes« (wie Anm. 12), S. 115. 142 Ebd., S. 117 und ebd. Anm. 64. 143 Geoffrey kozIol , Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France, Ithaca / London 1992, S. 110.

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standen sich an den Ufern der Loire im Gau Autun gegenüber. Vermittler aus beiden Lagern pendelten zwischen König und Herzog einen Tag lang hin und her, um den zwischen beiden bestehenden Konflikt zu lösen. Dabei kam es darauf an, sowohl Unterordnung als auch Gleichgewicht der bestehenden Machtverhältnisse durch geeignete symbolische Handlungen in Szene zu setzen. Praktisch inszeniert wurde der Frieden folgendermaßen: Während der Nacht überschritt der Herzog von Aquitanien die Grenze zu Rudolfs Territorium. Grenzüberschreitung bedeutete Überlegenheit. Als er sich dem König näherte, stieg er, um diesem Ehre zu erweisen, vom Pferd. König Rudolf blieb im Sattel. Als Gegenleistung für diese Geste der Erniedrigung gab der König dem Herzog den Friedenskuß. Der durch den Kuß besiegelte Freundschaftspakt stellte partnerschaftliche ›Chancengleichheit‹ her. Der Kuß bedeutete formal das Ende des Konflikts.144 Der Kuß, ob er nun Freundschaft (amicitia), Ehrerbietung (honor) oder Unterwerfung (subiectio; deditio) zum Ausdruck brachte, war ein verläßlicher Gestus, um sowohl soziale Distanzen als auch den jeweiligen Charakter bilateraler Beziehungen kenntlich zu machen. Die Bedeutung, die mittelalterliche Zeitgenossen dem Friedenskuß zuschrieben, kann auch daran abgelesen werden, daß er in schwebenden Verhandlungen oder bei schwelenden Unstimmigkeiten von demjenigen Partner, der über dessen Vergabe oder Ver weigerung zu befinden hatte, als Druckmittel benutzt werden konnte. Ein aufschlußreiches Beispiel hierfür bildet das gespannte Verhältnis zwischen Hugo von Avalon, dem Bischof von Lincoln, und dem englischen König Richard I.145 Ende August 1198 trafen sie sich in Château-Gaillard nahe Rouen. Der Bischof, bewährter Ratgeber, Diplomat und Zeremonienmeister aller drei angevinischen Könige, hatte sich auf dem Konzil von Oxford im Dezember 1197 dem königlichen Ansinnen widersetzt, Richards Krieg gegen König Philipp II. von Frankreich durch die Finanzierung von dreihundert Rittern ein ganzes Jahr lang zu unterstützen. Seine Treue und Dienstpflicht gegenüber dem König, so der Bischof, ende an den Grenzen Englands (extra metas uero Anglie nil tale [= mi144 Les annales de Flodoard, ed. Ph. l auer (Collection de textes pour servir à l’étude et à l’enseignement de l’histoire 39), Paris 1905, S. 19f. Vgl. FIchtenau (wie Anm.9), S. 75f. ; kozIol (wie Anm. 143), S. 111; 306. 145 Magna vita sancti Hugonis. The Life of St Hugh of Lincoln, ed. Decima L. douIe / David Hugh Farmer , Bd. 2, Oxford 1985, S. 95 - 102. Vgl. Karl J. l eyser , The Angevin Kings and the Holy Man, in: St Hugh of Lincoln. Lectures delivered at Oxford and Lincoln to celebrate the eigth centenary of St Hugh’s consecration as bishop of Lincoln, hg. v. Henry m ayr-h artIng, Oxford 1987, S. 61ff.; Horst Fuhrmann (wie Anm. 10), S. 119f. – Im Anschluß an meinen Vortrag auf der Tagung des Konstanzer Arbeitskreises auf der Insel Reichenau hat mich Herr Timothy Reuter auf diesen Fall freundlicherweise hingewiesen.

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litare officium] ab ea [Lincolniensi ecclesia] deberi). Richard I. ließ darauf hin den gesamten bischöflichen Besitz konfiszieren (que erant episcopi precepit quamtocius confiscari). Die königlichen executores zögerten jedoch aus Angst vor dem Anathem des Bischofs, den Auftrag auszuführen. Unter dem Druck königlicher Direktiven bewegten sie den Bischof dazu, selbst mit Richard zu verhandeln. Ohne sich eines Vermittlers zu bedienen (mediatore nullo), suchte der Bischof Kontakt mit dem König. In Château-Gaillard besuchte er ihn während einer Messe. Der König saß auf einem Thron, auf beiden Seiten flankiert von den Bischöfen von Durham und Ely. Hugo grüßte Richard. Der König reagierte nicht. Demonstrativ wandte er sein Gesicht ab ( faciem ab eo auertit). Der Bischof forderte vom König: »Gib mir den Kuß, Herr König« (Da michi osculum, domine rex). Richard I. hingegen rührte sich nicht. Seinen Kopf drehte er noch weiter ab und blickte schließlich in die andere Richtung (magis auertit aspectum ab eo, uultumque et capud in partem aliam declinauit). Der Bischof wollte zum Zeichen der Versöhnung vom König geküßt werden. Der König nahm von dem ungestümen Drängen des Bischofs keine Notiz. Hugo, so berichtet der Chronist, sei daraufhin handgreiflich geworden, habe Richard an seinem Gewand gepackt und energisch den schuldigen Kuß eingefordert (›Osculum michi debes‹, inquit, ›quia de longinco ad te uenio‹). Richard war jedoch der Auffassung, daß jener keinen Kuß verdient habe (›Non‹, ait, ›meruisti ut osculer te‹). Hugo habe deshalb den König noch kräftiger durchgeschüttelt und ihm vorgehalten, daß er den Kuß verdient habe (›Immo merui […] Osculare me‹). Schließlich gab der König seinen Widerstand auf und gab dem drängenden Bischof nach einer Weile den Begrüßungskuß. Indes ging die Messe weiter. Als der Zelebrant nach dem Agnus Dei einen Erzbischof küßte, damit dieser den liturgischen Friedenskuß (signum pacis per immolationem celestis Agni) an den König weitergebe, ging Richard dem Erzbischof entgegen, ließ sich den Friedenskuß geben und reichte ihn mit seinem eigenen Mund an Hugo von Lincoln weiter (episcopo Lincolniensi per oris sui osculum porrexit). Einen Friedenskuß zu geben oder zu verweigern, war nicht allein eine Sache gegenseitiger Sympathie und Aversion. Der Kuß informierte über den Charakter von Beziehungen zwischen Herrschaftsträgern. Er hatte eine politische Dimension. Eine kaum zu unterschätzende Rolle spielte der Friedenskuß in dem Konflikt zwischen König Heinrich II. von England und Thomas Becket (1118/20–1170), dem Erzbischof von Canterbury, der in den Jahren 1169/70 das Verhältnis zwischen Königtum und Kirche schwer belastete.146 König 146 Frank barlow, Thomas Becket, London 1986. – Herr Erol Acar hat »Die Rolle des Friedenskusses im Becketstreit« in seiner Seminararbeit über »Küssen und Küssen lassen: Der Friedenskuß in politischen und sozialen Zusammenhängen des Mittelalters«

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Heinrich II. war darauf bedacht, Kronrechte, welche die Krone an den Klerus verloren hatte, im alten Umfang wiederherzustellen. Thomas Becket, ein leidenschaftlicher Vorkämpfer kirchlicher Autonomie, leistete Widerstand. Als sich die Fronten zwischen Heinrich II. und Thomas Becket verhärteten, floh der Erzbischof außer Landes und begab sich in die französische Zisterzienserabtei Pontigny ins Exil. Bewegung in die festgefahrenen und oftmals gescheiterten Friedensverhandlungen kam erst im Spätsommer des Jahres 1169. Auf die Frage des päpstlichen Legaten Vivian, eines Archidiakons von Orvieto: Quid ergo de osculo?, gab Heinrich zur Antwort, daß er wegen einer solchen unbedeutenden Sache den Frieden nicht behindern und aufhalten wolle.147 Der weitere Gang der Dinge beweist jedoch, daß der Friedenskuß alles andere war als eine belanglose Formalität. Bei der Suche nach Konflikt lösungen nahm der Friedenskuß den Charakter einer Grundsatzfrage an, von deren Beantwortung der Ausgang der Verhandlungen abhing. Dank der Vermittlung päpstlicher Legaten konnten Mitte November 1169 alle strittigen Sachfragen, die seither eine Einigung zwischen Heinrich II. und dem Erzbischof von Canterbury verhindert hatten, gütlich gelöst werden. Zu regeln blieb nur noch die forma securitatis, die gestische Ausgestaltung des Friedensschlusses, und die Frage, durch welche Körperhandlungen die Einhaltung der schriftlich fixierten Übereinkünfte bekräftigt und gewährleistet werden sollten. Der Erzbischof äußerte den Wunsch nach einem Friedenskuß. Papst Alexander III. sollte sich schriftlich darüber äußern, welche Sicherheiten von der Gewährung eines Friedenskusses zu erwarten seien. Das Problem, ob ein osculum pacis den Erzbischof und seine Untergebenen vor einer Bestrafung durch Heinrich wirksam schützen würde, löste sich allerdings von selbst. Der König sah sich nämlich aufgrund eines öffentlichen Schwures, Thomas Becket nie wieder zu küssen, zu einer solchen Geste gänzlich außerstande ( firmaveras te praefatum archiepiscopum in osculo [ pacis] nullatenus recepturum).148 Sein Sohn sollte an seiner Stelle den Kuß geben. Bemerkenswert für den Stand und weiteren Gang der Dinge bleibt die Tatsache, daß Meinungsverschiedenheiten inhaltlicher Art offenkundig nicht mehr existierten. Der englische König hatte Becket öffentlich Frieden und Sicherheit versprochen und den kirchenschädlichen consuetudines seiner Ahnen abgeschworen. Das einzige Hindernis der Aussöhnung bildete eingehend behandelt. Seiner quellennahen Rekonstruktion des Konfliktes zwischen dem englischen König und dem Erzbischof von Canterbury verdanke ich Einsichten, die der folgenden Darstellung des Vorgangs zugutekamen. 147 James Craigie robertson / J. Brigstocke shePPard, Materials for the History of Thomas Becket, Archbishop of Canterbury, Bd. 7: Epistles, DXXXI-DCCCVIII (Rolls Series 67,7), London 1885, S. 79. 148 Ebd., S. 205.

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das osculum praestandum, der zu gebende Friedenskuß. Diesen zu geben, lehnte der englische König jedoch nach wie vor ab. Papst Alexander III. suchte zu vermitteln. Weil sich der Erzbischof von Canterbury nicht mit einem Stellvertreterkuß durch Young Henry zufrieden geben wollte, entband der Papst den englischen König brieflich von seinem Schwur, Becket nie wieder zu küssen.149 Eine Affekthandlung – der Papst nannte als Motiv die »Glut des Zornes« – entbinde von der Verbindlichkeit der sonst geltenden sittlichen Normen. Heinrich wurde vom Papst aufgefordert, den Erzbischof zum Kuß zu empfangen. Der Papst verknüpfte seine Anweisung mit einem Ultimatum. Seine Legaten Rotrou von Beaumont und Bernard von StSaulge sollten, wenn Heinrich nicht innerhalb einer Frist von 40 Tagen dem Erzbischof den Friedenskuß gebe, Heinrichs französische Kron lehen mit dem Interdikt belegen.150 Falls aber der König an seiner Weigerung festhalte, sollte, so eine weitere Handlungsanweisung des Papstes an die mit der Suche nach einem Kompromiß beauftragten Bischöfe, auch Becket unter Druck gesetzt werden. Nach Ansicht des Papstes war es Becket zumutbar, einen Kuß durch den Thronfolger zu akzeptieren, wenn darin keine Gefahr für Leib und Leben des Exilierten bestünde.151 Beckets hartnäckiges Drängen auf Vollzug des Friedenskusses durch Heinrich persönlich wurzelte in einem elementaren Verlangen nach Sicherheitsgarantien (cautiones). Unter diesen spielte das osculum pacis die wichtigste, wenn auch nicht die alleinige Rolle. Neben dem Kuß forderte Thomas Becket folgende Sicherheiten: Einige Magnaten des Königreichs (wenn nicht mehrere, so doch wenigstens einer) und Bischöfe sollten als Bürgen des Königs schwören, daß die ausgehandelten Friedensbedingungen von Heinrich II. ohne jede böswillige Intrige befolgt würden. Königliche Bestätigungen der Vertragsinhalte sollten in dreifacher Ausführung an Erzbischof, Mediator und Papst geschickt werden.152 Päpstliche Briefe, welche das Interdikt autorisierten, dürften aus Sicherheitsgründen nur als Abschriften nach England gebracht werden; die Originale sollten dem Erzbischof von Sens anvertraut werden, der, falls die Sache es erfordern sollte, das Mandat der Kurie öffentlich machen würde.153 In einem Brief an den päpstlichen Legaten Bernard von St-Saulge begründete Becket die Unverzichtbarkeit des Kusses auch mit dem Hinweis, daß diese Geste eine »feierliche Form« ( forma solemnis) besitze, die in jedem Volk und in jeder Religion

149 150 151 152 153

Ebd., S. 206. Ebd., S. 200. Ebd., S. 201. Ebd., S. 248. Ebd., S. 250f.

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bekannt sei. Ohne Friedenskuß könne zwischen streitenden Parteien niemals Frieden geschlossen werden.154 Ihr Ende fand die aussichtslos erscheinende Situation auf der Friedenskonferenz von Fréteval (Touraine) in der zweiten Julihälfte 1170. Die Mediatoren beseitigten das Haupthindernis einer Aussöhnung mit dem Erzbischof von Canterbury, indem sie Heinrich II. einen Schwur abverlangten, demzufolge die Verweigerung des Friedenskusses Thomas Becket keinerlei Nachteil bringen würde.155 Beckets Zustimmung zu dem Kompromiß wurde anscheinend dadurch erleichtert, daß Erzbischof Wilhelm von Sens erklärte, der König würde den Friedenskuß zu einem späteren Zeit punkt in England nachholen. Am 22. Juli 1170 war es dann soweit. Das Schauspiel der Versöhnung konnte auf einer Wiese nahe Freteval stattfinden: Heinrich II. löste sich aus der Menge der ihn Umstehenden und schritt Thomas Becket entgegen. Becket befand sich in Begleitung des Erzbischofs von Sens und des Grafen Theobald von Blois. Der König grüßte als erster. Nach der gegenseitigen Begrüßung gaben sich der englische König und der Erzbischof von Canterbury die Hände und umarmten einander (wahrscheinlich noch immer zu Pferde).156 Heinrich II. und Becket erörterten in einem langen Gespräch unter vier Augen ihre Standpunkte. Am Ende dieser Unterhaltung stieg Becket vom Pferd und warf sich dem König zu Füßen (ab equo descendit, seque ad pedes ejus humiliavit). Heinrich erwiderte diese Geste mit einem als Marschalldienst zu deutenden Akt. Er hielt Becket beim Besteigen des Pferdes den Steigbügel (Cantuariensis, equum reascendentis, ascensorium [quod vulgo strivarium dicitur] tenuit).157 Nachdem beide zu ihren Parteigängern zurückgekehrt waren, gab der König öffentlich kund, daß er mit dem Erzbischof von Canterbury Frieden geschlossen habe. Vom Geben des Friedenskusses war nicht mehr die Rede, wie Herbert von Bosham, Beckets Vertrauter, in einer sechzehn Jahre später entstandenen Becket-Vita feststellte.158 Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang auch dies: Der Symbolwert des Friedenskusses außerhalb des Gottesdienstes und desjenigen innerhalb der Liturgie war schwerlich voneinander zu trennen. Das verdeutlichen die Umstände des ersten Zusammentreffens von Heinrich II. und Thomas Becket Ende September oder Anfang Oktober desselben Jahres in Tours, auf angevinischem Territorium also. Heinrich hatte mit Bedacht angeordnet, daß bei dieser Begegnung anstelle der üblichen Frühmesse eine Totenmesse gelesen werden solle.159 154 155 156 157 158

Ebd., S. 246. Ebd., S. 340. Ebd., S. 341. Ebd., S. 341f. William Fitzstephen / Herbert of Bosham, Materials for the History of Thomas Becket, Archbishop of Canterbury, Bd. 3, ed. James Craige robertson, London 1877, S. 66. 159 barlow (wie Anm. 145), S. 214.

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Auf diese Weise konnte er vermeiden, den Erzbischof von Canterbury innerhalb der Messe küssen zu müssen; denn das osculum, das beim Gottesdienst nach dem Pax Domini zwischen Klerikern und Laien ausgetauscht wurde, fehlte in der Regel in der Totenmesse. Dem Friedenskuß in der Messe, so darf zu Recht angenommen werden, eignete eine »Polysemantik«, kraft welcher kontextgebundene Sinnhaftigkeit aus dem Bereich der Frömmigkeit in politisch-rechtliche Bedeutungsfelder übertragen werden konnte. Heinrich II. mag eine jederzeit mögliche und denkbare politische Interpretation der liturgischen Geste gefürchtet haben. Deshalb sein Votum für die Totenmesse, die ihm den Friedenskuß ersparte und mißverständliche Deutungen ausschloß. Thomas Becket wurde im Dezember 1170 in der Kathedrale von Canterbury durch vier Ritter des königlichen Hofstaates ermordet. Ob ein Friedenskuß die Feinde Beckets hätte umstimmen und von ihrer Untat abhalten können? Unstrittig ist, daß das Zeichen des Kusses den Beziehungen zwischen Erzbischof und König eine andere Qualität gegeben hätte. Ohne Kuß kein vollkommener Friede ( pax confecta). Als Form eines öffentlich bekundeten Friedenswillens hätte der Friedenskuß zweifelsohne dazu beigetragen, die gegenseitigen Beziehungen von versteckten Vorbehalten und Negationen zu entlasten.160 Ob ungetrübte Beziehungen zwischen König und Bischof bei den Gegnern Beckets einen Sinneswandel herbeigeführt hätten, der es schlechterdings ausschloß, Thomas Becket, einem ehemaligen Gegner, aber nunmehrigen Freund des Monarchen, das Leben zu nehmen, ist schwer zu sagen. Der Bischofsmord war unstreitig ein Reflex gestörter Beziehungen. Ob aber das Leben des Bischofs einen anderen Verlauf genommen hätte, wenn es zu einer vorbehaltlosen Aussöhnung mit dem König gekommen wäre, kann gefragt, aber nicht beantwortet werden.

5. Abschließende Erwägungen In den Kontroversen und Konflikten um den streitbaren Erzbischof Thomas Becket von Canterbury erreichte der Friedenskuß eine politische Symbolkraft, für die es in der Zeit zuvor und in den Jahrhunderten danach keine Parallele gibt. Generell ist zu sagen: Rituale können nur solche Wirkungen hervorbringen, die ihnen Zeitgenossen zutrauen und zuschreiben. Ihre Wirksamkeit in politisch-sozialen Kontexten hängt von zwei Faktoren ab: vom Willen und Glauben derer, die sie vollziehen, auf der einen Seite, vom Verständnis jener, die sie wahrnehmen, auf der anderen Seite. Tendenzen der Entritualisierung 160 Zur Verkleinerung von »Negationsrisiken« durch Rituale vgl. Niklas luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977, S. 86f.

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sind beim Abschluß von Friedensverträgen seit dem 13. und noch stärker seit dem 14. Jahrhundert evident. Der Friedenskuß genügt seitdem offenkundig nicht mehr, um bei Vertragsabschlüssen dem gesteigerten Sicherheitsbedürfnis Rechnung zu tragen. Das osculum pacis wird durch rationalere Faktoren der Friedenssicherung ersetzt: durch neue, von geschulten Fachbeamten gehandhabte Formen der Verschriftlichung und Beglaubigung, durch monetäre Transferleistungen, durch eine Erhöhung der Zahl derer, die zu Eidesleistungen verpflichtet sind. Der Friedenskuß entwickelte sich zu einem zweitrangigen Begleitgestus, den zu beachten immer noch sinnvoll erschien, auf den im Zweifelsfall aber auch verzichtet werden konnte. Der offenkundigen Entritualisierung entsprach ein offenkundiger Rückgang an Motiven, Impulsen und Argumenten, die im frühen und hohen Mittelalter Friedenssuche und Friedensstiftung zu einer religiösen Pflicht gemacht hatten. Auf dem Konzil vom Reims hatte, wie der normannische Benediktiner Ordericus Vitalis (1075–1142) überliefert, Papst Calixt II. noch mit beschwörender Eindringlichkeit sagen können, der Sohn Gottes sei »für den Frieden« ( pro pace) vom Himmel auf die Erde herabgestiegen und habe des Friedens wegen aus der reinen Jungfrau Maria einen menschlichen Leib angenommen. Christus habe zwischen Gott und dem Menschen Frieden gestiftet, weswegen sich Christen bemühen sollten, seinen Gliedern, das heißt dem durch sein Blut erlösten christlichen Volk, auf jede erdenkliche Weise »Frieden und Heil« ( pacem et salutem) zu bringen. Bei seiner Abschiedsrede vor der Passion habe Jesus gesagt: »Den Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch« (Joh 14,27). Als der Auferstandene seinen Jüngern erschienen sei, habe er gesagt: »Friede sei mit euch« (Luk 24,36). Ruhe und Sicherheit bestehe dort, wo im Sinne Christi der Friede regiere. Friede sei ein zartes und heilbringendes Band gesellschaftlichen Zusammenlebens, ein allgemeines Gut aller vernunftbegabten Kreatur (blanda et salubris concatenatio cohabitantium, omnique creaturae rationali generale bonum).161 Im späten Mittelalter sind vergleichbare Äußerungen vornehmlich in Bibelkommentaren oder in theologischen Handbüchern auszumachen; als Appelle in konkreten Situationen, in denen über die Herstellung friedlicher Verhältnisse verhandelt wird, haben sie an Bedeutung eingebüßt. An die Stelle theologischer Begründungen traten in wachsendem Maß Gemeinplätze über die friedensstiftende und friedenssichernde Kraft von Verträgen: »Man schließt den Vertrag, um zukünftige Ärgernisse, Streitigkeiten, Blut vergießen zu vermeiden, überhaupt, damit die eben überwundenen schlechten Verhältnisse nicht wiederkehren.«162

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Ordericus Vitalis, The Ecclesiastical History, hg. u. übers. v. Marjorie chIbnall , Bd. 6, Oxford 1978, S. 260 - 262. 162 FIsch (wie Anm. 100), S. 439.

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Im Zeichen rationaler Pragmatik verliert der Friedenskuß zunehmend seine Aussagekraft und Verbindlichkeit. In seiner Symbol- und Wirkungsgeschichte bedeutet es einen Höhe- und Wendepunkt, als sich in Florenz am 18. Februar 1280 auf einer Empore, die man zum Zwecke der Feier des zwischen Guelfen und Ghibellinen geschlossenen Friedens auf der Piazza Santa Maria Novella er richtet hatte, die berühmtesten hundert Häupter der beiden Parteien versammelten, um sich gegenseitig den Friedenskuß zu geben. Die Lippen derer, die bislang Flüche und Todesdrohungen gegeneinander ausgestoßen hatten, sollten sich berühren, um den durch Kardinal Latino vermittelten Frieden als Richtschnur künftigen Handelns zu bekräftigen. Der Kuß, den sie sich in aller Öffentlichkeit gaben, bildete ein wichtiges Element städtischer Friedenssicherung. »Sie gaben sich gegenseitig«, so wird berichtet, »sie machten, konzedierten und empfingen von einander wahren, dauerhaften, festen und allgemeinen Frieden, welchen sie sogleich mit Küssen von Mund zu Mund bekundeten und bekräftigten.«163

163 Instrumentum Pacis, ed. Isa Lori sanFIlIPPo, La pace dei cardinale Latino a Firenze nel 1280. La sentenza e gli atti complementari, in: Bolletino dell’Istituto storico italiano per il medio evo e Archivio Muratoriano 89 (1980/81), S. 226. Vgl. Ulrich m eIer , Pax et tranquillitas. Friedensidee, Friedenswahrung und Staatsbildung im spätmittelalterlichen Florenz, in: Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter (Vorträge und Forschung 43), hg. v. Johannes Fried, Sigmaringen 1996, S. 489 - 523, hier S. 504.

Abb.1: Moses vor dem brennenden Dornbusch, aus dem ihm Gott entgegenruft, er möge seine Schuhe ausziehen, weil der Ort, auf dem er steht, heiliger Boden ist (Exodus 3,5). Wenzelsbibel, Wien, Österreichische Nationalbibliothek (Codices Vindobernenses 2759 - 2764), Cod. 2759, fol. 55v.

›nudIs PedIbus‹ Barfüßigkeit als religiöses und politisches Ritual

Moses hatte ein Beispiel gegeben. Als sich ihm Jahwe im Dornbusch zeigte, vernahm er eine Stimme, die ihn aufforderte: »Ziehe deine Schuhe aus, denn die Stätte, auf der du stehst, ist heiliges Land« (Exodus 3,5). Gottes Gegenwart und Nähe forderten Barfüßigkeit (Abb.1). »Wo Gott gebietet, darf der Mensch nicht mit dem Symbol der Macht, dem Schuh, auftreten.«1 Als Jesus seine Jünger 1

So Ludwig l evy, Die Schuhsymbolik im jüdischen Ritus, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 62 (1918), S. 181f., zu Ex. 3,5. – In der alt testamentlichen Bibelwissenschaft von heute werden andere Deutungsvorschläge gemacht. Der Göttinger und Dortmunder Rabbiner Benno Jacob (1862–1945) erklärt in seinem Kommentar zum Buch Exodus, den er 1934 in Hamburg begann und 1944 in seinem Londoner Exil zum Abschluß brachte, Jahwes an Moses gerichtete Aufforderung: »Ziehe deine Schuhe von den Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden« folgendermaßen: »So vertraut Mose mit Gott werden will, so ist und bleibt er doch Mensch, und zwischen Gott und Mensch soll immer ein Abstand sein. Selbst insoweit man sich nahen mag, darf es nur in heiliger Scheu geschehen. Daß das Ausziehen der Schuhe am heiligen Orte bedeuten solle, man dürfe mit ihnen nicht den Staub oder die Unreinheit von draußen hereintragen, ersieht man aus [Ex.] 30, 19f., wonach die Priester »Hände und Füße« zu waschen haben, bevor sie dem Dienst am Altar nahen. Auch im Tempel gingen die Priester barfuß, und der Tempelberg darf […] nicht mit Schuhen betreten werden. Daß man beim Betreten einer Moschee die Schuhe ausziehen muß, ist bekannt, ebenso halten es die Samariter in ihrem kleinen Bethaus in Nablus« (Benno jacob, Das Buch Exodus, ed. Shlomo m ayer , Stuttgart 1997, S. 47). Ausgehend von der Tatsache, daß im alten Orient und in der Antike die von Moses getragenen Sandalen nicht nur als Fußbekleidung dienten, sondern auch bei symbolischen Handlungen eine Rolle spielten – das Werfen des Schuhs bedeutete Besitzergreifung, das Ausziehen des Schuhs Besitzabtretung bzw. Besitzverzicht –, stellt Werner H. Schmidt in seinem Kommentar zum Buch ›Exodus‹ die Frage: »Hilft dieser Brauch auch den Ritus des Schuhausziehens an heiliger Stätte zu erklären, insofern von vornherein jede Möglichkeit der Inbesitznahme des Bodens durch den Menschen ausgeschlossen werden soll? Eher noch oder mindestens zugleich ist Barfußgehen Zeichen der Demütigung und Selbsterniedrigung […] Oder sollen die Sandalen etwa abgelegt werden, weil Leder, d. h. die Haut toter Tiere als unrein galt? […] Oder werden Schuhe schließlich als Träger von Staub und Schmutz vom Heiligtum ferngehalten? Für diese Deutung spricht die jüdische Regel: ›Nicht komme ein Mensch zum Tempelberg […] mit Staub an seinen Füßen‹, d. h. mit Schuhen.« Im Tempel von Jerusalem dienten die Priester nur barfuß im Tempel. »An jedem Ort, an dem sich die Schechina (Gottes Gegenwart) offenbart, ist das Anlegen von Sandalen verboten.« Angesichts solcher Deutungsmöglichkeiten kommt Schmidt zu folgendem Schluß:

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aussandte, um den Menschen das Reich Gottes zu verkünden, gebot er ihnen: »Nehmt keinen Geldbeutel, keinen Reisebeutel, keine Schuhe mit; und grüßt niemand unterwegs« (Luk 10,4).2

1. Barfüßigkeit, geistlich gedeutet Spätantike und mittelalterliche Bibelausleger waren nicht der Auffassung, daß das Verhalten des Moses und der Jünger Jesu alle Christen zum Barfußgehen verpflichtet. Angesichts der Tatsache, daß im Gottesdienst der westlichen Kirche Barfüßigkeit als Ausdrucksform christlicher Demut nicht mehr gepflegt wurde, bedurfte es allegorischer Exegesen, um den Abstand zwischen biblischer Vergangenheit und kirchlicher Gegenwart zu überbrücken. Zivilisationsschübe, die den Symbolwert des menschlichen Körpers verändert hatten, ließen blanke Füße beim Vollzug kultischer Handlungen nicht mehr zu. Die Schamschwelle hatte sich erhöht. Schuhe aus der Haut toter Tiere deutete Augustinus (354–430) als ein Sinnbild toter Werke, die Christen hindern, zum ewigen Heil zu gelangen. Als er in einer seiner Predigten auf die Aussendungsrede Jesu zu sprechen kam, erläuterte

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»Wahrscheinlich haben alle Erklärungen überhaupt nur begrenzten Wert; denn der Ritus ist gewiß älter als seine – in der schrift lichen Überlieferung noch greifbare – Motivation […] Die Entstehung des Brauchs läßt sich kaum überzeugend erklären, der Brauch als solcher ist für unterschied liche Begründungen offen« (Werner H. SchmIdt, Exodus, 1. Teilband Exodus 1–6 [Biblischer Kommentar Altes Testament II, l] Neukirchen, Vluyn 1988, S. 157f.). Zur ursprünglichen Bedeutung dieses Jesuswortes vgl. Heinz Schürmann, Das Lukasevangelium, Zweiter Teil, erste Folge: Kommentar zu Kapitel 9,51 - 11,54, Freiburg i. Br. 1994, S. 64f.: »Das Verbot von Schuhwerk […] läßt die Boten Jesu deutlich in einer rigorosen Armut auftreten, die demonstrativ wirkt.« »Da die Boten Jesu – zu dessen Lebzeiten und bei der frühen nachösterlichen Christuswerbung in Palästina – nicht auf weite Missionsreisen gesandt waren, war ein Barfußgehen nicht undenkbar, obgleich es gar sehr auffallen mußte.« »Eine rigorose Armut soll die Sendlinge also kennzeichnen, eine Armut, welche als solche zeichenhaft-demonstrativen Charakter hat, ähnlich den prophetischen Zeichenhandlungen im AT.« »Lukas kann das für die Missionare seiner Zeit gewiß nicht mehr akute Verbot stehen lassen, weil er darin die ideale Jesuszeit charakterisiert findet.« Eben diese »Idealzeit will Lukas hier schildern. Als Instruktion für die Mission seiner Zeit kann er diese Verbote nicht mehr verstehen.« Die zeitgenössische Praxis gibt der Evangelist Markus wieder, wenn er Jesus sagen läßt, seine Jünger sollten sich »geschuht« auf den Weg machen (Mark 6,9), um Buße zu predigen, Teufel auszutreiben und Kranke gesund zu machen. Die von Markus gemachte »Konzession der Sandalen paßt das Logion der Situation späterer apostolischer Missionsreisen an.«

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er den von Jesus geforderten Verzicht auf Schuhe folgendermaßen: »Schuhe, was bedeutet dieses? Die Schuhe, die wir gebrauchen, sind Haut toter Tiere, für uns Hüllen der Füße. Zu was werden wir aufgefordert? Den toten Werken zu entsagen. Diese Mahnung wurde dem Moses sinnbildlich gegeben, als Gott ihm sagte: ›Löse die Schuhe von deinen Füßen, der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land‹ (Exodus 3,5). Was ist so heiliges Land wie die Kirche Gottes? In ihr also stehend laßt uns die Schuhe lösen, d. h. laßt uns den toten Werken entsagen.« 3 Der brennende Dornbusch, mutmaßte Isidor von Sevilla (um 560–636), sei als Symbol der Kirche zu deuten. Verweise das lodernde Gebüsch auf die Kirche des Neuen Bundes, erscheine es folgerichtig, daß sich Moses nicht als beschuhter Bräutigam (sponsus calceatus) dem Ort göttlicher Selbstoffenbarung habe nähern dürfen; diese Rolle habe Gott Christus, dem wahren Bräutigam, vorbehalten, dem die Schuhriemen aufzulösen sich Johannes der Täufer nicht für würdig erachtete (Mk 1,7).4 Bischof Brun von Segni (um 1040/50–1123) dürfte den Sinn des ursprünglich Gemeinten angemessener erfaßt haben, als er in seinem Kommentar zum Buch Exodus die Auffassung vertrat, heiliges Land verbiete das Tragen von Schuhen, die aus Häuten toter Tiere gemacht worden seien.5 Das mache es auch verständlich, weshalb Adam, als er nackt das Paradies verließ, seine Scham mit einem Fell bedeckt habe (Gen 3,21). Bischof Brun wollte sagen: Tierfelle zu tragen ist symptomatisch für ein Leben, das durch den Sündenfall gebrochen ist. Auf unheiligem Land außerhalb des Paradieses leben zu müssen, ist das Los derer, die nicht fähig sind, der Macht der Sünde zu widerstehen und das Böse zu überwinden. Abt Rupert von Deutz (1075/80–1129/30) leitete aus dem Barfußgehen des Moses ein für alle Christen geltendes Denk- und Verhaltensmuster ab. Zum Ausgangs- und Anknüpfungspunkt seiner allegorischen Exegese machte er die Schuhe, deren Material an Totes erinnert und sich deshalb nicht in ein Zeichen für religiöse Sinngehalte verwandeln läßt. Die Aufforderung, an den Füßen keine Schuhe zu tragen, die aus den Häuten toter Tiere angefertigt werden, komme einer Mahnung gleich, sich nicht an das Beispiel derer zu halten, die, von welt lichem Sündenschmutz befleckt, dem ewigen Tod verfallen sind. Sich Gott barfüßig zu nähern, sei für Moses ein Akt der Demut gewesen. Gottes Weisung, die Moses »körperlich« (corporaliter) gegolten habe, gelte für uns geistlich (spiritualiter). Wissen wir doch, daß unser Gott, dem wir uns nähern, ein

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Franz Joseph dölger , Das Schuh-Ausziehen in der altchristlichen Taufliturgie, in: Antike und Christentum 5 (1976), S. 99f. Isidor von Sevilla, Quaestiones in Vetus Testamentum, in Exodum, in: m Igne , PL 83, Sp. 289f. Brun von Segni, Expositio in Exodum, in: m Igne , PL 164, Sp. 237.

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Gott der Lebenden ist und nicht der Toten.6 Jahwes Weisung an Moses erfülle derjenige, der auf Gottes lebengebende Kraft und Gnade vertraue. Hugo von Sankt Viktor († 1141) beschränkt sich auf die knappe Bemerkung: Wegen der Gegenwart Gottes ( propter divinam praesentiam) habe sich Moses seiner Schuhe entledigt.7 Dionys der Kartäuser (1402–1471) kommentierte die Stelle so: Niemand dürfe sich Gott nähern, um die göttlichen Geheimnisse zu erforschen, es sei denn mit großer Ehrfurcht. Aus Ehrfurcht vor dem heiligen Platz ( propter reverentiam loci sancti) und im Hinblick auf die Ehre Gottes (ob Dei honorem) sei Moses von Gott aufgefordert worden, seine Schuhe auszuziehen. Zu heiligem Land sei der Ort des Geschehens deshalb geworden, weil sich auf ihm göttliche Dinge abspielten: die Erscheinung Gottes, dessen heiliger Dialog mit Moses und die Offenbarung gött licher Geheimnisse. In gleicher Weise habe auch die Gesetzgebung Jahwes auf dem Berg Sinai diesen zu einer heiligen Stätte gemacht.8 Allegorische Exegese der von Moses und den Jüngern Jesu gepflegten Barfüßigkeit war eine Seite der von schriftkundigen Theologen gemachten Anstrengungen, einer in der Bibel bezeugten Verhaltensweise einen geistlichen Sinn abzugewinnen; spirituelle Auslegungen, die das Schuhe- und Sandalentragen kirchlicher Würdenträger rechtfertigen sollten, die andere. Gegenüber Rigoristen, die Barfüßigkeit zu einem Kriterium für die Wahrhaftigkeit einer am Evangelium ausgerichteten Lebensführung machten, hatte bereits Augustinus in Erinnerung gebracht, daß auch Jesus selber Schuhe getragen habe. Wäre nämlich Jesus unbeschuht gewesen, hätte Johannes der Täufer nicht von sich sagen können, daß er unwürdig sei, ihm, dem erwarteten Messias, seine Schuhriemen zu lösen. Rupert von Deutz machte aus den Sandalen eines Bischofs Zeichen für das »Schuhwerk der göttlichen Menschwerdung« (dominicae incarnati­ onis calceamentum), von dem im Psalter Davids prophezeit sei: »Bis nach Idumaea will ich mein Schuhwerk ausdehnen« (Ps 59,10). Das bedeute: Den Heiden wolle Gott seine Menschwerdung kundtun. Um nämlich für uns, die sündige Menschheit, das Priestertum wahrzunehmen, sei der Gottessohn »gleichsam mit unserem Fleisch beschuht« (nostra carne quasi calceatus) in die Welt gekommen. Die Schuhriemen der Sandalen seien als unlösliche Bande des Heiligen Geistes zu begreifen, mit denen sich die »Gottheit des Wortes« unserem Fleisch verbunden habe. Blicke ein Bischof auf den heiligen und mystischen Schmuck seines Fußes, solle er sich klarmachen, wie köstlich sein Fuß ist – eingedenk des Propheten

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Rupert von Deutz, In Exodum I, in: m Igne , PL 167, Sp. 579f. Hugo von St. Viktor, In Exodum, in: m Igne , PL 175, Sp. 62. Dionysius Cartusianus, Enarratio in Genesim, in: Ders., Opera omnia, Bd. 1, Montreuil-Tournai 1896, S. 495.

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Jesaias, der da sagte: »Wie lieblich sind auf dem Berg die Füße der Boten, die Frieden verkünden, Gutes predigen, Heil prophezeien« (Jes 52,7).9 Bernhard von Clairvaux (1090–1153) bezog die Parabel ›Von der Äthiopierin, die der Königssohn als Braut heimführte‹ auf Christus und die Kirche. Entsprechend war er gehalten, die zwei Lederschuhe, die der Bräutigam seiner Braut schenkte, als er zur Winterzeit zur Brautwerbung kam, allegorisch zu deuten. Bernhards Lesart der Parabel lautet so: »Christus schenkte zur Osterzeit seiner Braut auch zwei Lederschuhe, welche die beiden Testamente versinnbildlichen, mit denen die Gefühlsantriebe (affectus) der Braut geschützt werden, damit sie nicht die Erde berühren. Oder (sie bedeuten) die Enthaltsamkeit und Liebe, welche die beiden Gefühlsantriebe einhüllen. Derjenige, der sich auf das Fleisch bezieht, wird durch Enthaltsamkeit oder strenge Zucht geschützt; der andere, der sich auf die Laster richtet, durch die Liebe ausgelöscht.«

In der Funktion der Schuhbänder, die den Schuhen erst den richtigen Halt geben, sieht Bernhard eine Erfahrungstatsache klösterlichen Gemeinschaftslebens ausgedrückt. Denn, so sein Argument, die »beiden Schuhe rutschen von den Füßen, wenn sie nicht durch Profeß und Gehorsam zugeschnürt werden. Viele haben wir nämlich gesehen, welche die Enthaltsamkeit des Fleisches aus Liebe besaßen, oder sich zu einem Leben nach den beiden Testamenten entschlossen hatten und dennoch schwer gefehlt haben, weil sie sich nicht durch Gehorsam und Profeß gebunden hatten. Somit bedeuten die Schuhe entweder die beiden Testamente oder Enthaltsamkeit und Liebe; die Schuhbänder aber sind die Profeß und der Gehorsam.«10 Bischof Sicard von Cremona († 1215) ermahnt den Bischof, sich beim Anlegen der Sandalen an die Menschwerdung Gottes zu erinnern und, dem Beispiel der Apostel folgend, zur Ausbreitung des Evangeliums des Friedens beschuht einherzugehen. Beim Blick auf den Schmuck seiner Füße soll er des Wortes des Propheten eingedenk sein, wie köstlich die Füße derer seien, die Gutes verkünden (Jes 52,7). Sein Schuhwerk sei nicht eine Sache der Ehre, es sei eine Last; es diene nicht dem Ausruhen, sondern sei dazu bestimmt, sich auf den Weg zur Predigt zu machen.11

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Rupert von Deutz, Liber de divinis officiis, ed. Hrabanus h acke (Corpus Christia norum. Continuatio Medievalis 7), Turnhout 1967, S. 20. Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, hg. v. Gerhard B. wInkler , Innsbruck 1993, Bd. 4, S. 865. Sicard von Cremona, Mitrale seu de officiis ecclesiasticis summa, in: m Igne , PL 213, Sp. 87.

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2. Rituelle Angleichungen und Kontinuitäten Solche Exegesen entstanden in einer Zeit, als Barfüßigkeit im Gottesdienst und Zeremoniell der Kirche keine Rolle mehr spielte. In der Alten Kirche war das anders. Die Aufforderung Jahwes an Moses wurde damals als verpflichtende Norm aufgefaßt und in die Praxis gottesdienstlichen Handelns umgesetzt. Die spätantike Welt war eine Welt vielfältiger Kulte und Religionen. Interreligiöse Kommunikation brachte es mit sich, daß Barfüßigkeit, die in außerchristlichen Kulten gang und gäbe war, auch in christlichen Kirchen heimisch wurde. In der religiösen Kultur der antiken Welt waren Leder und Tod sehr eng »nebeneinander liegende Begriffe«12 . Zu dem Toten, das deren Träger kultisch unrein machte, gehörte auch das aus Fellen geschlachteter Tiere hergestellte Leder. Es war deshalb verboten, im Tempelbezirk oder beim Gottesdienst Kleider oder Schuhe zu tragen, die aus Fellen und Häuten toter oder getöteter Tiere angefertigt waren. Lederne Schuhe verwiesen auf Tod und Verderben. Sie abzulegen, entsprach abend- und morgenländischen Kultvorschriften. Mit Schuhen und Sandalen durften die Frommen Israels nicht den Tempelvorhof betreten. »Aus Ex 29,30 und Lev 8,23 läßt sich erschließen, daß die Priester (der Israeliten) mit nackten Füßen beim Opfer erschienen, da ihnen das Blut des Opfertieres auf die Zehen gestrichen wird.«13 »In Rom begaben sich die Matronen zur Zeit der Vestalia bloßen Fußes zum Tempel der Vesta, um von ihr häusliches Glück zu erbitten.«14 »Wenn in der römischen Campagna allzu heiß brennende Sonne die Saaten gefährdete, wurden die Bittgänge der sog. Nudipedalia angeordnet.« 15 Beim Opfer und Besuch der heidnischen Göttertempel sollten Frauen »Schuhwerk aus Linnen, ›das nichts vom Tode an sich trägt«‹, benutzen.16 Römer, die

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dölger (wie Anm. 3), S. 101. – In der Ausdeutung des Lederschuhs durch die Kirchenväter »liegt der Gedanke: Schuh und Sterblichkeit, Leder und Tod unmittelbar nebeneinander« (ebd., S. 100). Vgl. dazu auch Wolfgang sPeyer , Das Buch als magischreligiöser Kraftträger im griechischen und römischen Altertum, in: Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 5), hg. v. Peter ganz, Wiesbaden 1992, S. 74f.: »Aus der Geschichte der frühen Religionen ist bekannt, daß alles Tote den Träger gewöhnlich kultisch unrein macht. Deshalb waren Leder, Felle und Häute gewöhnlich vom Tempelbezirk ausgeschlossen; sie stammten von einem getöteten oder wenigstens toten Tiere, trugen also in sich einen Hinweis auf Tod und Verderben. Kultgesetze schärften dieses Verbot ein.« Ph. oPPenheIm, Artikel ›Barfüßigkeit‹, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 2, Sp. 1189. Ebd., Sp. 1187. Ebd. Ebd.

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ein Gelübde ablegten oder einlösten, zogen ihre Schuhe aus und flehten mit entblößten Füßen zu der Gottheit. Dem im Judentum und in heidnischen Kulten geübten Brauch, bei bestimmten religiösen Handlungen die Schuhe auszuziehen, suchte die Alte Kirche eine christliche Bedeutung zu geben. Im Gottesdienst des koptischen Christentums war es üblich, daß Priester innerhalb des Altarraumes ihre Schuhe ablegen.17 Von ägyptischen Mönchen berichtet Johannes Cassianus (um 360–430/35): »Die gallischen Sandalen, die sie erlaubterweise tragen, da sie ja durch das Gebot des Herrn gestattet sind, lassen sie dennoch nicht an ihren Füßen, wenn sie zur Feier oder zum Empfang der hochheiligen Mysterien herantreten«. Indem sie das tun, folgen sie der Weisung Gottes, der zu Moses gesagt hatte: »Löse den Riemen deines Schuhwerks, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden« (Exodus 3,5).18 »Die Sitte der ägyptischen Mönche, ohne Schuhe zum Empfang der Eucharistie zu kommen, entspricht der Hochschätzung der Eucharistie, aber ebensosehr der Hochschätzung des Altarraumes«.19 Taufbewerber waren gehalten, beim Exorzismus mit bloßen Füßen auf einer aus Ziegenhaar gefertigten Matte (cilicium) zu stehen, »um jegliches fremde Ding vor dem Untertauchen in das hl. Taufbad abzulegen«.20 In einer Osterpredigt, »die wahrscheinlich auf die Taufliturgie in der Osternacht Bezug nimmt«, sagte Gregor von Nazianz (329/30–um 390): »Wer in das heilige, von Gottes Fuß betretene Land hineingehen will, der löse die Schuhe von den Füßen, wie es auch jener Moses auf dem Berge tat (Exodus 3,5), damit er nichts vom Tode (μηδέυ υεκρόν) an sich trage, nichts, was sich zwischen Gott und Menschen (als Hindernis schieben könnte)«.21 Dem fügte der gelehrte, beschauliche kappadozische Theologe hinzu: »Ebenso muß auch der, der als Jünger zur Verkündigung des Evangeliums ausgeschickt wird, in einfacher Philosophenart nicht nur ohne Geld und ohne Stab und ohne zweite Tunika gehen, sondern auch mit bloßen Füßen seinen Weg wandern, damit schön erscheinen die Füße derer, die den Frieden verkünden und jegliches andere Gut«.22 In Kirchen des Ostens zogen Taufbewerber sogar ihre Kleider aus, »um sich solchermaßen aus allen bisherigen Verstrickungen zu lösen« und »frei zu werden für Christus«.23 Das Ablegen der Kleider bis zur totalen Nacktheit symbolisiert 17 18 19 20 21 22 23

dölger (wie Anm. 3), S. 104. Ebd., S. 103. Ebd., S. 106f. oPPenheIm (wie Anm. 13), Sp. 1190. dölger (wie Anm. 3), S. 97. Ebd. Gottesdienst der Kirche, Handbuch der Liturgiewissenschaft, Teil 3: Gestalt des Gottesdienstes. Sprachliche und nichtsprachliche Ausdrucksformen, Regensburg 1987, S. 316.

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das durch die Taufe bewirkte Heraustreten aus allen bisherigen Bindungen, das Neugeborenwerden in der Liebe Gottes, das Anziehen eines neuen Menschen. Cyrill von Jerusalem († 386) berichtet darüber in einer seiner mystagogischen Exegesen folgendes: »Sofort beim Betreten des Baptisteriums legen die Täuflinge die letzten Kleidungsstücke ab, nackt wie Christus am Kreuz sagen sie allen feindlichen Mächten und Gewalten ab und nehmen teil an Christi Sieg; nackt stehen sie vor den Augen aller und schämen sich dabei nicht, weil sie wieder Mensch nach Gottes ursprünglichem Willen, Adam im Paradies geworden sind.« 24

Es war deshalb theologisch folgerichtig, Täuflingen zu verbieten, in der Oktav nach ihrer Taufe Kleider aus Tierfellen anzulegen und Schu he aus Leder zu tragen. Die »Zeit nach der feierlichen Taufe, besonders aber die Osteroktav, war eine Freudenzeit erster Ordnung, in der natürlich kein Anzeichen der Trauer und darum auch keine Barfüßigkeit am Platze sein konnte«.25 Nur Kleider und Schuhe aus Linnen erschienen dieser Zeit angemessen. Wenn wir, hatte Hieronymus (um 347–419/20) in einem Brief an Fabiola bemerkt, in der Taufe gewaschen werden »und wenn wir – bereit für das Kleid Christi – die aus Tierfellen gefertigten Tuniken abgelegt haben, dann werden wir bekleidet mit einem Gewande aus Linnen, das nichts vom Tode an sich hat, sondern ganz rein ist, damit wir aus der Taufe kommend unsere Lenden in Wahrheit gürten, und die ganze Schmach der früheren Sünden verdeckt wird«.26 In solchen Vorstellungen wurzelt die Bestimmung, daß in den acht Tagen nach der Taufe Täuflinge ein Linnenkleid anziehen und Schuhe aus Linnen oder Papyrus tragen mußten. Augustinus meinte: Es verdiene schärferen Tadel, »wenn jemand während seiner Oktav mit bloßem Fuße die Erde berühre, als wenn jemand seinen Geist in Weinrausch begrabe«.27 Eine liturgische Verhaltensform, die in der Alten Kirche Brauch und Regel war, nahm im Laufe des Mittelalters den Charakter einer peinlich und exotisch anmutenden Zeremonie an. Die spätantike Theologie der Nacktheit war mit dem Schamgefühl einer anderen Zeit und Welt nicht mehr zu vereinbaren. Die Überzeugung setzte sich durch, daß die Heiligkeit des Kirchenraumes durch entblößte Füße verletzt wird. Ein Mönch, konstatierte Guillelmus Durantis (um 24 25

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Ebd. Franz Joseph dölger , Das Verbot des Barfußgehens und der kultisch reine Schuh der Täuflinge in der Oktav nach der Taufe, in: Antike und Christentum 5 (1976), S. 110. Vgl. auch ebd.: »Oder war es die Scheu, die mit dem heiligen Öl gesalbten Füße mit dem Schmutze der Erde in Berührung zu bringen? Wir wissen es nicht«. Ebd., S. 109. Ebd.

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1235–1296) in seinem ›Rationale divinorum officiorum‹, der kraft seiner Ordensprofeß gehalten sei, unbeschuht einherzugehen, solle, wenn er die Messe feiert, Schuhe anziehen. Ein solches Verhalten entspreche der Weisung des Apostel Paulus, der den Ephesern eingeschärft habe: »Beschuht an den Füßen stehet bereit zur Verbreitung des Evangeliums des Friedens« (Eph. 6,15). Schuhe, die aus den Häuten toter Tiere angefertigt werden, mit denen man auf die Erde tritt und die unten geschlossen und nach oben offen sind, würden folgendes bedeuten: Der Priester müsse der Welt gestorben sein und sein Herz gegenüber allem Irdischen verschlossen halten, auf alles Unreine treten und es gering achten; öffnen aber müsse er sich gegenüber dem Himmlischen und sich danach sehnen.28

3. Traditionsbildende Wirkungen Die in der Alten Kirche heimisch gewordene Gewohnheit, im Gottesdienst barfuß zu gehen, wirkte nicht traditionsbildend. Sie war ein Akt der »kultischen Angleichung« an die Gebärdensprache außerchristlicher Kultgewohnheiten.29 Die Begründung eines solchen, in zahlreichen Kulten der griechisch-römischen Antike geübten Brauches durch christliche Schriftsteller ist deshalb zuweilen »nichts weiter als eine nachträgliche Rechtfertigung einer Sitte, die aus einer ganz anderen Kultur übernommen sein konnte«.30 Insofern braucht es nicht zu überraschen, daß in den westlichen Kirchen, in deren Umwelt der griechisch-römische Tempelkult keine Rolle spielte, das kultische Barfußgehen langfristig außer Übung kam. Auch ein verändertes Gefühl für Sittsamkeit mag dabei mitgewirkt haben. Johannes Diaconus beschreibt 28

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Guilleimus Durantis, Rationale divinorum I–IV, ed. A. davrIl / T. M. thIbodeau (Cor pus Christianorum. Continuatio Medievalis 140), Turnhout 1995, S. 259. – Eine solche Ablehnung des Barfußgehens bei gottesdienstlichen Handlungen begegnet bereits in dem um die Mitte des 10. Jahrhunderts in Mainz zusammengestellten ›Pontificale Romano-Ger manicum‹. In diesem wird ausdrücklich vermerkt, »daß das Barfußgehen bei den amtlichen liturgischen Funktionen nicht geduldet werden könne« (Gerhard römer , Die Liturgie des Karfreitags, in: Zeitschrift für katholische Theologie 77 [1955], S. 79). Eine gleich lautende Bemerkung bringt auch der Kardinaldiakon Jacobus Gaietani Stefaneschi (um 1270–1343) in seinem ›Pontifikale‹. Sie lautet: Notan­ dum quod dominus Gregorius XI. [1370–1378] necnon Urbanus VI. [1378–1389] Romani pon­ tifices, numquam voluerunt se discalceare in cathedra prope altare; creditur quod propter reverentiam altaris, quia ambo devoti erant (m Igne , PL 78, Sp. 1216). Der Benediktinerabt, Bischof und Kardinal Petrus Amelii († 1389) hat dieselbe Bestimmung aufgegriffen und von neuem zur Geltung gebracht (ebd., Sp. 1318). dölger (wie Anm. 25), S. 115. dölger (wie Anm. 3), S. 104.

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in der Mitte des 8. Jahrhunderts eine in Auflösung begriffene Gewohnheit, wenn er feststellt: die Katechumenen »werden angewiesen, mit nackten Füßen einherzugehen, damit sie nach Ablegung der von toten Tieren genommenen fleischlichen Kleidung erkennen, daß sie nun ihre Wanderung auf jenem Wege beginnen sollen, auf dem sich keine Unebenheit und Fährlichkeit mehr findet. Dies also hat die Sorgfalt der Kirche im Laufe der Zeit in vorsichtiger Weise festgesetzt, obwohl keine alte Schrift davon eine Spur zeigt«.31 In nachkarolingischen Taufordnungen ist das Barfußgehen der Täuflinge nicht mehr belegbar. In der christlichen Liturgie des frühen und hohen Mittelalters verlor das Barfußgehen sichtlich seine kultische Bedeutung. Nur am Karfreitag begaben sich Kleriker und Laien barfüßig zur Kreuzverehrung in die Kirche; dies aber nicht, um einen geheiligten Ort vor Verunreinigung zu bewahren, sondern um es Christus gleichzutun, der unbeschuht das Kreuz auf den Kalvarienberg getragen hatte. Dem »Bußcharakter des Tages entsprechend« zog »der Papst am Karfreitag unbeschuht vom Lateran nach S. Croce«, der für den päpst lichen Gottesdienst am Karfreitag vorgesehenen Stationskirche, und blieb während der ganzen liturgischen Feier barfüßig. Veränderungen dieses Brauches im 11. Jahrhundert lassen darauf schließen, daß das Barfußgehen bei liturgischen Handlungen Bedenken und Vorbehalte weckte, denen man Rechnung zu tragen suchte. »Nach der liturgischen Erneuerung um die Jahrtausendwende bleibt man zwar noch weiterhin dabei, die Kreuzprozession mit bloßen Füßen zu halten, sobald man jedoch an den Pforten von S. Croce ankommt, hält man vor dem Einzug in die Kirche inne und zieht die Schuhe an. Die Verehrung des Kreuzes nimmt der Papst wieder barfüßig vor«.32 In der von Christen am Karfreitag 31 32

Ebd., S. 96. römer (wie Anm. 28), S. 78f. – Die mit entblößten Füßen im päpst lichen Karfreitagsgottesdienst vorzunehmende Kreuzverehrung beschreibt der ›Ordo Romanus XlV‹, c. 113 aus der Feder des Kardinaldiakons Jacobus Gaietani Stefaneschi folgendermaßen: Pontifex cum chirothecis nondum extractis deponit manibus suis crucem super stratum pallium et mundissima linteamina ad radicem altaris, et discalceatus tertio prostratus solus crucem adorat. Quo facto, revertitur ad sedem suam, et ibi recipit deposita calciamenta […] Postea omnes cardinales di­ scalceati in locis suis per eorum familiares, nudis pedibus vadant bini ad adorandum crucem secundum ordinem suum, et non flectunt genua. Similiter et omnes alii ibidem praesentes eo modo eamdem crucem adorant (m Igne , PL 78, Sp. 1216). Der ›Ordo Romanus XI‹, c. 29 (12. Jh.) sieht vor, daß der Papst an der Prozession am Fest Mariä Licht meß ( purificatio beatae Mariae) barfuß (discalceatus) teilnimmt (m Igne , PL 78, Sp. 1037). Dieselbe Bestimmung findet sich auch im ›Ordo Romanus XII‹, c. 12, des Kardinals Cencio de’Savelli (vor 1160–1227), des späteren Papst Honorius III. Sie lautet: nudis pedibus vadit [dominus papa] cum aliis in Processione [in Purificatione beatae Mariae virginis] usque ad praedictam ecclesiam beatae Ma­ riae Majoris. Dem fügte er die grundsätzliche Bemerkung hinzu: Sciendum tamen quod dominus papa in omnibus processionibus, in quibus pedes [sic!] vadit, pedibus discalceatis incedit, una tantum excepta in Exaltatione Crucis, scilicet mense Septembris (m Igne , PL 78, Sp. 1069).

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geübten Barfüßigkeit sieht Guillelmus Durantis in seinem ›Rationale divinorum officiorum‹ ein Abbild der Entblößung, die Christus am Kreuz hatte erdulden müssen. Er schreibt: »Man list den passion auf einem plozzen letter [unbedecktem Lesepult], wann Christus stuend plozz an dem chrewcz […] Ez maint auch das Christus an dem chrewcz zaigat all sein haimleicheit dez herczen und dez leibes, die wurden plazz [bloß; unverhüllt] alle den, die do stunden; also daz der umbhanckch zeraiz sich in dem tempel, do ward der tempel geplozzet. Darumb schull wir hewt gen mit plozzen fuezzen.« 33

Bei den Asketen, die als Ausdruck ihrer Weltentsagung und Christusnachfolge auf Schuhe verzichteten, hielt sich der Brauch des Barfußgehens länger. Jedenfalls ist er von Männern, die sich im Abendland dem asketischen Geist der ägyptischen Wüste verpflichtet fühlten, immer wieder erneuert worden. Eugipp (wohl 465/467–nach 533) berichtet in seiner ›Vita sancti Severini‹, der Heilige habe selbst im tiefen Winter keine Schuhe getragen, um seine Leidenswilligkeit und Leidensfähigkeit unter Beweis zu stellen.34 Heiligenviten des frühen, hohen

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Die seit dem 7. Jahrhundert nachweisbare Kerzenprozession am Fest Mariä Licht meß, bei der man um Verschonung vor Krankheit und Hungersnot, um göttlichen Schutz und Segen bat, hatte einen ausgeprägten Bitt- und Bußcharakter. – oPPenheIm (wie Anm. 13), Sp. 1194, deutet die barfüßige Kreuzverehrung als einen »Akt der Trauer und Buße«. Dem fügt er hinzu: Auch »alte Scheu, sich der Gott heit zu nähern«, mag bei der Entstehung dieses Brauches mitgespielt haben. – Der ›Liber de divinis officiis‹ des Rupert von Deutz sah vor, daß auch am Aschermittwoch, wenn das Haupt der Gläubigen mit Asche bestreut wird, diese barfuß gehen. Der Staub er innere an unser »Elend« (calamitas), »weil wir Staub sind« (quia pulvis sumus). Weil sich Adam nach dem Sündenfall seiner Nacktheit (nuditas) bewußt wurde, »entblößen wir die untersten Teile des Körpers, das sind die Füße« (imas partes corporis, id est pedes, nudamus). Vgl. Rupert von Deutz, Liber de divinis officiis (wie Anm. 9), S. 116. Durandus’ Rationale in spätmittelhochdeutscher Übersetzung, Die Bücher V–VI nach der HS. CVP 2765, ed. G. H. buIjssen, Assen, 1983, S. 327. – Der Brauch, an Karfreitag barfuß zu gehen, wirkte legendenbildend. Die spätmittelalterliche Erzählung ›Von einem Räuber, der sich am Karfreitag bekehrte‹ schildert folgenden Vorgang: »Ein Räuber kam einst am Karfreitage aus dem Walde heraus, in dem er lange Zeit sein Räuberleben geführt hatte, und sah, wie viele Menschen mit bloßen Füßen zu den heiligen Stätten wallfahrten. Da ergriff ihn die Reue, und er kehrte in den Wald zurück, um einen Einsiedler aufzusuchen. Er klopfte an seine Zelle, und der Einsiedler ließ ihn, wenn auch ungern, ein. Der Räuber beichtete, aber er wollte weder fasten noch sonst eine andere Buße auf sich nehmen, als von nun an barfuß zu gehen« (Erzählungen des Mittelalters. In deutscher Übersetzung und lateinischem Urtext hg. v. Joseph k laPPer , Hildesheim-New York 1978 [Nachdruck der Ausgabe Breslau 1914], S. 111f.). Friedrich l otter , Severinus von Noricum. Legende und historische Wirklichkeit. Untersuchungen zur Phase des Übergangs von spätantiken zu mittelalterlichen Denk-

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und späten Mittelalters rühmen Barfußgehen als Zeichen von Heiligkeit. Vom hl. Wenzel (um 907–929/35), dem als Schutzpatron Böhmens verehrten Märtyrer, überliefert die Wenzels-Vita Karls IV.: Als der hl. Wenzel einmal »zur Nachtzeit barfuß zur Kirche ging, zur Winterzeit, da Schnee und Eis Feld und Weg bedeckten, da begleitete ihn sein Leibknappe Podiwen, den an die Füße fror, obwohl er beschuht war, daß er es nicht aushalten konnte. Da sagte der heilige Wenceslaus zu ihm und sprach: Setze deine Füße in meine Fußstapfen! Er tat es, und es erwärmten sich die Füße des Knappen, daß er fürderhin keine Kälte mehr empfand. Die Fußstapfen des glorreichen Martyrers aber erschienen stark mit geronnenem Blute bedeckt.« 35 Auch Päpste und Bischöfe, denen ein heiligmäßiger Lebenswandel nachgerühmt wird, gingen barfuß. Von Papst Leo IX. (1049–1054) berichtet die ›Chronik von Montecassino‹, er sei gemeinsam mit zwei oder drei Klerikern drei Mal pro Woche psalmodierend und betend vom Lateran nach St. Peter gepilgert und dies nicht in seiner Amtstracht, sondern in gewöhnlichen Kleidern ( privato habitu), nicht in seinen Pontifikalschuhen, sondern barfuß (nudis pedibus).36 Nachzuprüfen, ob dem tatsächlich so war, läßt die überlieferte Quellenlage nicht zu. Bemerkenswert bleibt allemal, daß Barfußgehen als Beweis dafür diente, um einen Papst mit dem Nimbus eines Heiligen auszustatten. Als sich Norbert von Xanten (um 1080–1134) predigend und Almosen verteilend im südlichen Frankreich aufhielt, wanderte er, »nur mit einem wollenen Leibgewand und darüber einem Mantel bekleidet, mit seinen zwei Begleitern barfuß durch schauerliche Winterkälte nach Saint-Gilles«. Am 7. November des Jahres 1118 traf er dort Papst Gelasius, der ihm die Erlaubnis erteilte, »frei und ungehindert zu predigen«. Der Papst soll ihm aber verboten haben, sich fürderhin derartigen Strapazen auszusetzen.37 Durch »knietiefen Schnee und schneidendes Eis wandernd« gelangte er nach Orléans. In der Karwoche 1119 erreichte er Cambrai. Als ihm Bischof Burchard von Cambrai »trotz der großen Kälte barfüßig und nur in ein grobes Gewand gehüllt sah, war er aufs äußerste

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und Lebensformen, Stuttgart 1976, S. 82. Kaiser Karls IV. Jugendleben und St.-Wenzels-Legende, übers. und erläutert von Anton blaschka, Weimar 1956, S. 118. Die Chronik von Montecassino, ed. Hartmut hoFFmann (MGH SS 34), Hannover 1980, S. 333. Vita domni Norberti Magdeburgensis archiepiscopi/Lebensbeschreibung des Herrn Norbert Erzbischofs von Magdeburg, in: Lebensbeschreibungen einiger Bischöfe des 10.–12. Jahrhunderts, übers. von Hatto k allFelz (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 22), Darmstadt 1973, S. 461; Berent SchwIneköPer , Norbert von Xanten als Erzbischof von Magdeburg, in: Norbert von Xanten. Adliger, Ordensstifter, Kirchenfürst, hg. v. Kaspar elm, Köln 1984, S. 190.

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erstaunt und verwundert, fiel ihm mit einem lauten Aufschrei um den Hals und sagte unter Seufzern: ›O Norbert, wer hätte das je von dir geglaubt oder gedacht!‹« 38 Als sich Norbert – vom Kaiser, vom apostolischen Legaten und den Großen der Magdeburger Kirche gedrängt – schließlich entschloß, den Bischofsthron von Magdeburg zu besteigen, und sich dann auf den Weg nach Magdeburg machte, stieg er beim Anblick der Stadt von seinem Esel, 39 entblößte »seine Füße und zog barfuß ein«.40 Den Rollenwechsel vom Wander prediger und Ordensgründer zum Erzbischof von Magdeburg kommentierte ein zisterziensischer Kritiker so: Aus dem »barfüßigen Reiter eines Esels« (nudipes ascensor asini) sei ein »wohlbeschuhter und wohlbekleideter Reiter eines mit Brustschmuck gezierten Pferdes« (bene calciatus et bene vestitus ascensor phalerati equi) geworden.41 Die Stoßrichtung dieser kritischen Einwände ist eindeutig: Der Esel veranschaulicht das Armutsideal Altclunys, der Zisterzienser und der frühen Hirsauer; das Pferd verweist auf das soziale Anspruchsniveau und den Lebensstil adliger Herren. Barfüßigkeit bekundet demütige Bußgesinnung, kostbares Schuhwerk weltlichen Stolz. Die Art und Weise, wie Norbert in die Stadt einzog – in ärmlicher Kleidung, barfuß gehend, einen Esel als Reittier benutzend –, signalisierte ein Reformprogramm; waren doch seither die Magdeburger Erzbischöfe hoch zu Roß und mit kostbaren Gewändern angetan in ihre Bischofsstadt eingezogen.42 Norberts Habitus kam einem Bekenntnis zum apostolischen Armutsideal gleich, an dem er seine bischöfliche Reformarbeit auszurichten gedachte. Der im ausgehenden 13. Jahrhundert schreibende Verfasser der ›Vita beate Hedwigis‹, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Franziskaner, deutete die von der hl. Hedwig (um 1178/80–1243) hartnäckig praktizierte Barfüßigkeit als »Zeichen der Heiligkeit« (signaculum sanctitatis).43 In der spät mittelalterlichen Kunst 38 39 40 41

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Vita Norberti (wie Anm. 37), S. 461 - 463. schwIneköPer (wie Anm. 37), S. 189. Vita Norberti (wie Anm. 37), S. 521. Le moine Idung et ses deux ouvrages: ›Argumentum super quatuor questionibus‹ et ›Dialogus duorum monachorum‹, ed. R. B. C. huygens (Biblioteca degli ›Studi medievali‹ 11), Spoleto 1980, S. 142. Zum Symbolwert des Esels und Pferdes im Mönchtum des 11. und 12. Jahrhunderts vgl. Klaus schreIner , Hirsau und die Hirsauer Reform. Spiritualität, Lebensform und Sozialprofil einer benediktinischen Er neuerungsbewegung im 11. und 12. Jahrhundert, in: Hirsau. St. Peter und Paul 1091–1991, Teil II: Geschichte, Lebens- und Verfassungsformen eines Reformklosters, bearb. von Klaus schreIner , Stuttgart 1991, S. 76 - 77. schwIneköPer (wie Anm. 37), S. 189; ders., Der Regierungsantritt der Magdeburger Erzbischöfe, in: Festschrift für Friedrich von Zahn, Bd. 1: Zur Geschichte und Volkskunde Mitteldeutschlands (Mitteldeutsche Forschungen 50,1), hg. v. Walter schlesInger , Köln / Graz 1968, S. 182 - 238. Der Hedwigs-Codex von 1353. Sammlung Ludwig, ed. Wolfgang braunFels 1972, S. 87.

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sind die Schuhe, die sie ständig unterm Arm trug, zu einem ihrer Attribute geworden. Angesichts der zahlreichen Geschichten und Episoden, die der franziskanische Anonymus von der ehemaligen Herzogin und ihrer Wiederborstigkeit gegenüber allem Schuhwerk zu erzählen weiß, braucht das nicht zu überraschen. Weshalb die hl. Hedwig mitten im Winter barfuß gehen konnte, erklärte der Autor so: »Man wundert sich nicht, daß die Dienerin Gottes dürftig gewandet und ohne Schuhe bei bitterer Winterskälte so lange im Gebet ausharren konnte, während andere trotz guter Kleidung vor Frost erstarrten. Ihr Herz brannte eben in ihr, und die Betrachtung erfüllte sie mit heiligem Feuer, so daß eine Flamme von ihr auszugehen schien. Auf diese Weise wurde nicht nur bei ihr, sondern auch bei anderen die Wirkung der Kälte gemildert. Es geschah einmal zur Winterzeit, daß sie sich lange dem frommen Gebet widmete; da mußte ihr die Dienerin, die bei ihr wartete, gestehen, sie könne es wegen der großen Kälte nicht länger bei ihr aushalten. Hedwig rückte zur Seite und befahl ihr, auf den Platz zu treten, wo sie eben noch mit bloßen Füßen gestanden hatte. Als die Magd dies getan hatte, verschwand sofort die Kälte, und angenehme Wärme umfing sie.« 44

Verzicht auf Schuhwerk verstand die Heilige offenkundig als Form der Nachfolge Christi. Ihr Biograph schreibt: »Die Gottgeweihte machte sich auch das Gehen schwer; in der Nachfolge Christi schritt sie trotz Eis und Schnee mit unbedecktem Fuß einher. Zwar hatte sie stets einfache Schuhe bei sich ohne Filz und ohne Strümpfe, sie trug sie aber ständig unter dem Arm und legte sie nur dann an, wenn sie hochgestellten Personen begegnete; waren diese vorüber gegangen, so zog sie die Schuhe sofort wieder aus. Denn bei ihren Werken suchte sie allein Gott zu gefallen, der ins Verborgene schaut, und den Lobsprüchen der Menschen aus dem Weg zu gehen. Bisweilen ging sie in Schuhen zur Kirche, um sich wegen ihrer bloßen Füße nicht dem Tadel auszusetzen. Dort angekommen legte sie bald die Schuhe ab, kniete auf dem kalten Fußboden nieder und widmete sich dem Gebet«.45 Als ihr Gemahl sie einmal unbeschuht antraf, habe sie 44

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Ebd., S. 85. Bildlich dargestellt und beschrieben ist diese Szene in der deutschsprachigen, 1504 in Breslau gedruckten ›Hedwigslegende‹. Vgl. Die Holzschnitte der deutschen Hedwigslegende (Breslau 1504). Bildbeschreibungen, buch- und kunsthistorische Bemerkungen sowie szenischer Exkurs über einen eventuellen Zusammenhang der Holzschnittfolgen und ihrer Künstler im ›Schatzbehalter‹ (Nürnberg 1491) und in der ›Hedwigslegende‹ (Breslau 1504) von Guido Pressler , Hürtgenwald 1997, S. D3a, Abb. 18. Der Hedwigs-Codex von 1353 (wie Anm. 43), S. 85f. Diese Begebenheiten werden auch beschrieben und überdies bildlich dargestellt in der deutschsprachigen ›Hedwigslegende‹ (wie Anm. 44). Zur Begegnung zwischen Hedwig und ihrem Mann, Herzog Heinrich I., vgl. ebd., S. D4a, Abb. 19. Zur Kritik ihres Beichtvaters vgl. ebd., S. D4b, Abb. 20: Herr Gunther, Abt des Zisterzienserklosters Leubus, Hedwigs Beichtvater,

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Abb.2: Der heilige Hieronymus (um 1639), der als körperlich entblößter Büßer und Asket über die Passion meditiert, in der Heiligen Schrift liest und sich selber geißelt. Als solcher wurde der spätantike Kirchenvater (347/348–419/420) seit dem späteren Mittelalter zum Vorbild strengen Asketentums. Georges de la Tour (1593–1652), Musée de Grenoble.

Christus auf wunderbare Weise mit Schuhen ausgestattet, um sie dem Unwillen und Tadel ihres Gatten entgehen zu lassen. Auch Hedwigs Beichtväter hätten Hedwig nicht bewegen können, Schuhe zu tragen, um ihre verletzten und bei Kälte blutenden Füße zu schützen (Abb.2).

»sitzt auf einer großen Kirchenbank und gebietet der vor ihm knieenden Hedwig, Schuhe zu tragen. Wegen ihrer strengen Askese trug sie die Schuhe nicht ›[…] an den fussen / sunder under yren armenn […]‹, und der Abt beschuldigte sie des Ungehorsams«. Auch Anna, die Gemahlin ihres Sohnes, »bittet Hedwigs späteren Beichtvater, den Franziskaner Herbord, entsprechend auf sie einzuwirken, denn ›[…] Ire solenn an den fussenn / mith welchen sy uff dem ertrich ploß ging / […]‹ waren ›[…] gar grob und harth […]‹ und hatten ›[…] vil großer ritze […]‹«. Vgl. auch Hedwigs Buße ebd., S. D5b, Abb. 21: »Hedwigs Buße war von tiefer Ernsthaftigkeit. Zum Besuch weit entlegener Kirchen ging sie selbst in grimmiger Winterkälte barfuß und ›[…] wan dy fusse warn yr vnder den cleydern her fur komen / alßo das sy dy cleyder nicht gantz bedackten / […]‹ sah man das geronnene Blut, das aus den ›[…] ritzen was gedrungen / an yren fussen hangen […]‹ «.

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4. Barfuß in der Öffentlichkeit büßen Heilige Asketen waren Einzelgänger; sie fühlten sich nicht an eine vorgegebene Tradition gebunden, sondern schufen sich individuelle Ausdrucksformen ihrer Christusnachfolge. Barfußgehen war eine davon. Im Falle der hl. Hedwig dürfte das Vorbild der barfuß gehenden Franziskaner eine prägende Rolle gespielt haben. Anders verhielt es sich mit der öffentlichen Buße. Barfußgehen bildete einen festen Bestandteil des Bußrituals, dessen sich Sünder, die Kapitalsünden – wie Mord, Blutschande, Ehebruch, Meineid – begangen hatten, seit dem 8. Jahrhundert unterziehen mußten.46 Ein karolingisches Reformkonzil vom Jahre 813 dekretierte: »Wer öffentlich sündigt soll mit öffentlicher Buße gezüchtigt werden.« (Si quis publice peccat, publica multetur paenitentia).47 Wie diese vonstatten ging, ist aus den ›Libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis‹ des Regino von Prüm (um 840– 915) zu erfahren. Öffentliche Büßer mußten sich an Aschermittwoch barfuß und mit einem rauhen Bußgewand bekleidet zusammen mit ihren Pfarrern vor der Kirche des Ortsbischofs einfinden. Dieser setzte das Maß der Buße fest, die öffentliche Sünder erfüllen mußten, um aller Beschränkungen die sie von den Heils- und Trostmitteln der Kirche ausschlossen, wieder ledig zu sein. Dann führte er die Büßer in die Kirche, warf sich auf den Boden und betete unter Tränen, zusammen mit dem anwesenden Klerus die sieben Bußpsalmen. Im Anschluß daran legte ihnen der Bischof die Hände auf, besprengte sie mit Weihwasser, bestreute sie mit Asche, bedeckte ihre Häupter mit dem Bußkleid (cilicium) und wies sie dann aus dem Gotteshaus, wie ehedem Gott den Urvater Adam aus dem Paradies vertrieben hatte.48 In dem Exkommunikationsritus heißt es: Wir trennen den öffentlichen Sünder »vom Empfang des Leibes und Blutes des Herrn, von der Gemeinschaft aller Gläubigen und schließen ihn von den Schwellen der heiligen Mutter Kirche im Himmel und auf Erden aus, […] verurteilen ihn als verdammt mit dem Teufel, mit dessen Engeln und mit allen Verworfenen in ewigen Feuer – es sei denn, daß er aus den Schlingen des Teufels wieder zur Besinnung kommt, Reinigung und Buße vollzieht und der Kirche

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Bernhard Poschmann, Die abendländische Kirchenbuße im frühen Mittelalter, Breslau 1930, S. 128 - 132. Im Ritual der in der Alten Kirche gepflegten öffentlichen Kirchenbuße kam Barfüßigkeit nicht vor. Vgl. ders., Die abendländische Kirchenbuße im Ausgang des christlichen Altertums, München 1928, S. 16 - 23. Arnold a ngenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 643. Regino von Prüm, Libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis I, c. 295, ed. Friedrich Wilhelm wasserschleben, Leipzig 1840, S. 136. Vgl. Adolph Franz, Die kirchlichen Benediktionen Mittelalter, Bd. 1, Graz 1976, S. 462f.

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Gottes, die er verletzt hat, Genugtuung leistet«.49 Dann sollen alle »Amen« (»So geschehe es«) oder »anathemata« (»Er sei verflucht«) rufen. Zwölf Priester, die den Bischof umstehen, sollen brennende Kerzen in Händen halten und diese nach der Verkündigung des Anathems zu Boden werfen und mit Füßen treten. Die Überreichung des Bußkleides, Handauflegung und Ausweisung aus der Kirche entsprechen altkirchlicher Praxis. Barfüßigkeit, die Besprengung mit Weihwasser und die Austeilung der Asche sind rituelle Erweiterungen der Karolingerzeit. Aus Regino von Prüm ist gleichfalls zu erfahren, daß Totschläger vierzig Tage lang in groben wollenen Gewändern und barfuß (nudis pedibus) einhergehen mußten. Während dieser Zeit durften sie auch kein Gefährt benutzen und keine Waffen tragen. Als Nahrung war ihnen nur Brot, Salz und Wasser gestattet. Desgleichen war ihnen verboten, eine Kirche zu betreten, mit Christen Gemeinschaft zu halten und mit einer Frau, nicht einmal mit ihren Ehefrauen, geschlechtlichen Umgang zu pflegen. Niemandem war es gestattet, von der Speise, die des Missetäters Hand oder Mund berührt hatte, zu essen. Tag und Nacht sollte er vor der Pforte der Kirche seine Sünde beweinen. Nach vierzig Tagen sollte er sich waschen, seine Kleider und Schuhe anziehen, sein Haar abschneiden und ein ganzes Jahr lang fasten – keinen Wein und kein Bier zu sich nehmen, sich von Fleisch, Käse und fetten Speisen fernhalten. Nach Ablauf dieses Jahres empfing er vom Bischof den Friedenskuß und durfte danach wiederum die Kirche betreten. In weniger strenger Weise mußte der Büßer noch weitere sechs Jahre fasten. Erst nach Ablauf einer Bußzeit von insgesamt sieben Jahren wurde der Büßer wiederum zur Kommunion zugelassen.50 Wie im frühen Mittelalter öffentliche Kirchenbuße vonstatten ging, schildert Ekkehard von St. Gallen (980/990–nach 1056) in seinen ›St. Galler Klostergeschichten‹. Bei den Büßern handelt es sich um die Eltern des gelehrten Magisters Iso († 871), eines Mönches von St. Gallen. Ekkehard berichtet: Wie sich Isos Eltern »denn häufig durch Enthaltsamkeit von Speisen und anderen Dingen in einstimmigem Verlangen für Gott zu kasteien pflegten, so hatten sie einmal die Fastenzeit hindurch getrennte Lager, bis sie endlich am Karsamstag ein Bad nahmen. Und nach Asche und rauhem Gewand schmückten sich beide zum Kirchgang mit den Bürgern, so wie sie es sich als Wohlgeborene erlauben konnten. Ermüdet von den Wachen ging die Frau nach dem Bade zum Schlafen in ihr Bett, das nunmehr entsprechend prächtiger aufgeschlagen war. Da kam unter Führung des Versuchers zufällig ihr Mann in jenes Gemach. Er trat zu ihr, und ohne daß sie sich sträubte, legte er sich an diesem heiligen Tage zu ihr. Nach vollbrachtem Frevel erhoben die beiden im Gemach dort so großes Wehklagen, daß das Gesinde, das rasch zur Stelle 49 50

a ngenendt (wie Anm. 47), S. 643. Regino von Prüm, De synodalibus causis II, c. 6-9 (wie Anm. 48), S. 216 - 218.

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war, nicht zu fragen brauchte, was geschehen sei, da sie mit lautem Flehen zu Gott selber kundtaten, was sie getan. Unter Tränen gingen beide abermals sich waschen; wieder zogen sie die Bußkleider an, die sie so viele Wochen hindurch getragen hatten. Und mit Asche bestreut und barfüßig fielen sie angesichts aller Bürger dem Priester des Ortes zu Füßen. Er aber billigte in gütiger Einsicht ihre Bußfertigkeit und gab ihnen Erlaß, während das Volk für sie laut zu Gott rief; und da er sie aufgerichtet hatte, ließ er sie diesen Tag und die Nacht zur Strafe vor dem Kirchenportal stehen und nicht am Abendmahl teilnehmen.« 51

Die Nacht von Karsamstag auf Ostersonntag verbrachten sie wachend, weinend und fastend. Am frühen Morgen des Ostertages »standen sie vor dem Portal, und wie das Kreuz vor der Messe herausgetragen wurde, folgten sie als die letzten. Der Priester aber führte sie unter Zustimmung des ganzen Volkes während des Kyrieleison herein und wies ihnen zuhinterst einen Platz an. Weil es jenem schon genannten Priester mißfiel, unterließen sie es, um Teilnahme am Abendmahl zu bitten. Nachdem aber die Kommunion vollzogen war, trat – so schien es – hastig jener Priester herein [den sie tags zuvor in einem Nachbardorf aufgesucht hatten], als ob er für sein Volk noch ein Meßamt halten wollte, ergriff sie bei den Händen und führte sie zum Altar. Er öffnete die Hostienbüchse und spendete den Tränenüberströmten die Kommunion, und eilig, als müßte er zu den Seinen zurück, gebot er ihnen, sich wieder umzukleiden und zu speisen; dann gab er ihnen Segen und Kuß und ging wieder.« Der in die Kirche eilende Priester war in Wirklichkeit gar nicht der Pfarrer aus dem Nachbardorf. Alles, »was geschehen war, hatte vielmehr ein Engel Gottes getan«.52 Barfüßigkeit, Bußgewand und Fasten blieben rituelle Elemente der Kirchenbuße bis ins späte Mittelalter und in die beginnende Neuzeit. Zur Anwendung kamen diese rituellen Formen der Buße und Sühne selbst dann noch, als die Kirchenbuße den Charakter einer von weltlichen Schiedsgerichten gehandhabten Totschlagsühne angenommen hatte. Seitdem es öffentliche Kirchenbuße gab, stand der Kreis derer, die sich ihr unterziehen mußten, fest. Es waren jene, die gemordet, sich an Kirchengut vergangen, die Ehe gebrochen und durch Inzest gefrevelt hatten. Ausgewählte Fallbeispiele sollen das verdeutlichen. Im Jahre 1202, höchstwahrscheinlich am Abend des 3. Dezember, wurde Bischof Konrad von Würzburg von zwei Ver wandten und deren Knechten ermordet, als er aus der Domkirche nach Hause gehen wollte.53 Die beiden adligen 51 52 53

Ekkehard IV., St. Galler Klostergeschichten, übers. von Hans F. h aeFele (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächt nisausgabe 10), Darmstadt 1991, S. 70 - 73. Ebd., S. 73. Das Bistum Würzburg, Teil 1, Die Bischofsreihe bis 1254, bearb. v. Alfred wendehorst (Germania Sacra. NF 1, Teil 1), Berlin 1962, S. 196 - 199.

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Mörder, die in Deutschland ihres Lebens nicht mehr sicher sein konnten, begaben sich mitsamt ihren beiden Knechten nach Rom, um Papst Innozenz III. um Absolution zu bitten. In einem am 18. April 1203 ausgestellten Breve legte der Papst fest, welche Bußübungen die Attentäter zu erfüllen hatten. Der Papst schrieb: »Hierauf haben wir dieselben einige Tage hindurch nackt und bloß mit Hosen bekleidet (nudos in braccis), mit Weidenbüscheln um den Hals (tortas habentes in collo), in Anwesen heit einer großen Menschenmenge öffentlich Buße tun lassen und ihnen sodann auferlegt: sie dürften ihr Leben lang keine Waffen mehr führen, es sei denn zur Ver teidigung ihres Lebens oder gegen die Sarazenen, keine farbigen, kostbaren und mit Pelz verbrämten Gewänder tragen, keine öffentlichen Spiele besuchen, und, wenn sie verheiratet sind, nach dem Tode ihrer Gattin keine zweite Ehe eingehen.« 54

Im Heiligen Land sollten sie vier Jahre lang gegen die Sarazenen kämpfen. »Außer auf dem Wege dahin müssen alle vier immer barfuß und in wollener Kleidung gehen und an allen Montagen, Mittwochen und Freitagen in der Fastenzeit und an den Vorabenden der Heiligenfeste bei Brot und Wasser fasten, außerdem noch dreimal im Jahre eine strenge 40tägige Fasten, und zwar eine vor Ostern, eine vor Pfingsten und eine vor Weihnachten, beobachten. Fleischspeisen dürfen sie nur an den eben erwähnten drei hohen Kirchenfesten genießen, nie aber an dem Tage, da sie den Bischof Konrad umgebracht haben. Tag und Nacht hindurch sollen sie hundertmal das Vater unser beten und dabei fünfzig Mal die Knie beugen und sich nicht unterstehen, das heilige Abendmahl zu empfangen, es sei denn in Todesnöten.« 55 An modifizierte Fastengebote sollten sie sich auch im Heiligen Land halten. »Wenn sie in eine namhafte Stadt Deutschlands kommen und daselbst mit Sicherheit verweilen wollen, sollen sie nackt in bloßen Hosen, mit Weiden um den Hals und Ruten in der Hand haltend, in die Hochstifts-Kirche gehen und von den Chorherren sich die Disziplin geben lassen [d. h. sich mit den Weidenruten schlagen lassen], und, befragt um die Ursache dieser Buße, ihre Missetat reumütig bekennen.« Schließlich: Wenn sie sich in Würzburg aufhalten, sollen sie an den Hochfesten und am Kilianstag

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Innocentius III., Regestorum sive epistolarum VI, Nr. 51 vom 18. April, in: m Igne , PL 215, Sp. 53. Der Würzburger Chronist Lorenz Fries (1491–1550) hat, als er in seiner ›Chronik der Bischöfe von Würzburg‹ auf den Bischofsmord zu sprechen kam, das päpstliche Breve ins Deutsche übersetzt. Vgl. Lorenz Fries, Chronik der Bischöfe von Würzburg 742–1495, ed. Ulrich wagner / Walter zIegler , Bd. 6: Die Miniaturen der Bischofschronik, Würzburg 1996, S. 95 - 97. Der lateinische Text, den Fries seiner Übersetzung zu Grunde legte, stammt aus Johannes Trithemius, Annales Hirsaugienses ad a. 1203, Bd. 1, St. Gallen 1690, S. 504f. Innocentius III., Regestorum VI, Nr. 51 (wie Anm. 54); FrIes (wie Anm. 54), S. 96.

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die Stadt verlassen, nachdem sie in ihrer Eigenschaft als Büßer der Messe im Dom beigewohnt und von Bischof und Kapitel eine Buße erbeten haben.56 Einem Schweizer Klostervogt, der 1304 das Kloster Marienberg überfallen, dessen Urkunden geraubt und dessen Abt enthauptet hatte, wurde von der Kurie folgende Strafe auferlegt: Durch alle größeren Kirchen jenes Ortes, an dem er die Untat begangen hatte, sollte er gehen, »entblößt und barfuß« (nudus et discalceatus), in seinen Händen eine Rute haltend und um seinen Hals einen Strick gebunden. Schaut man auf die ikonographischen Belege des späten Mittelalters, beschränkte sich die in dem Text angesprochene Nacktheit auf den entblößten Oberkörper. Dem ungetreuen klösterlichen Schutzherrn wurde überdies aufgetragen, sich vor den am Portal einer jeden Kirche versammelten Priestern, die den Bußpsalm beten sollten, zu geißeln und vor dem Volk in der Kirche seine Schuld zu bekennen.57 Im Jahre 1467 wurde von dem Erfurter Generalgericht, einer kirchlichen Gerichtsinstanz, ein gewisser Konrad Smed wegen Totschlags eines Priesters dazu verurteilt, »alle größeren Kirchen jenes Ortes, wo die Schandtat verübt worden war, nur noch nackt (nudus) und mit bloßen Füßen (discalceatus), allein unter Beibehaltung der Hosen, mit einem Stock in der Hand und einem Strick um den Hals zu betreten, und sich vorher außerhalb der besagten Kirchen von einem Priester geißeln zu lassen, währenddessen er [der Priester] Bußpsalmen dazu spricht«.58 Darüber hinaus hatte der Übeltäter noch genau beschriebene Fasten- und Gebetspflichten zu erfüllen. Zudem mußte er die Mühsal entbehrungsreicher Strafwallfahrten auf sich nehmen. Ein förmliches Verfahren, das 56

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Innocentius III., Regestorum VI, Nr. 51 (wie Anm. 54); FrIes (wie Anm. 54), S. 96f. – wendehorst (wie Anm. 53), trägt Indizien zusammen, die die begründete Annahme rechtfertigen, daß »wesentliche Punkte der päpstlichen Strafbestimmungen nicht erfüllt worden« sind. Eduard osenbrüggen, Das alamannische Strafrecht im deutschen Mittelalter, Aalen 1968 (Neudruck der Ausgabe 1860), S. 109. – Zur Bedeutung der Barfüßigkeit und zum Tragen eines Stricks in mittelalterlichen Buß- und Sühneritualen vgl. K. von a mIra / Cl. Frhr . von schwerIn, Rechtsarchäologie. Gegenstände, Formen und Symbole germanischen Rechts, Berlin-Dahlem 1943, S. 66f.: Barfüßigkeit und Barhäuptigkeit gehören nicht in den »magischen Ursprungsbereich«, sie sind nicht wie die völlige Nacktheit in »magischen Vorstellungen und Zusammenhängen begründet«. Die »wollene oder leinene Kleidung« erinnert an »den Aufzug des Büßers und unterstreicht noch die Absicht der Demütigung. Auch in den Fällen, in denen Unterwerfende barfuß oder barhaupt vor dem Sieger erscheinen, dabei manchmal auch ein Strafwerkzeug tragen mußten, sehe ich den Ursprung in der gleichen Absicht der Demütigung, während allerdings das Tragen von Schwert oder Galgenstrick als solches auf die verwirkte Strafe hinweist.« Georg m ay, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mittelalters. Das Generalgericht zu Erfurt, Leipzig 1956, S. 223.

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Abb.3: Beicht- und Meßgebetbuch des Kardinals Albrecht von Brandenburg, Hofbibliothek Aschaffenburg, Cod. 8. Darstellung eines Sünders, der sich mit entblößtem Oberkörper und entblößten Füßen einer öffentlichen Buße unterziehen muß, weil er öffentlich gesündigt hat. Der Priester hält eine Geißel in der Hand, mit der er, Bußpsalmen lesend, den öffentlichen Sünder geißelt.

von weltlichen Richtern in Gang gebracht wurde, um die Gewalttat zu rächen, fand nicht statt und konnte nach Lage der Dinge auch gar nicht stattfinden. Eine peinliche Bestrafung des Missetäters schloß die Kirchenbuße, die zum versöhnenden Ausgleich verpflichtete, grundsätzlich aus. In spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Totschlagsühnen wurde der rituelle Aufwand der symbolischen Handlung erheblich erweitert. Barfüßigkeit bildete einen festen Bestandteil der rituellen Sequenz, die Täter und Opfer miteinander versöhnen sollte. In einer oberschwäbischen Totschlagsühne vom Jahre 1447 heißt es: »Es solle Hans Merkh als Haubtursacher des Todtschlags am Tag der Bueß barfueß und barschenkhel […] und ab der Gürtel auch nackhend bei der proceßion umbgehn mit einer erloschenen und umgekehrten Wachskerzen, auch mit dem blossen Mordmesser in der Hand«.59 In der Reichsstadt Biberach gehörten, wie der Ratsherr und Stadtchronist Joachim von Pflummern (1480–1554) berichtet, Barfüßigkeit und entblößter Oberkörper zum Ritual der Totschlagsühne (Abb.3). »Ein Totschläger«, schreibt Joachim von Pflummern, 59

F. sauter , Todtschläger, wie solche in Schussenried vor der Carolina bestraft werden, in: Württembergische Vierteljahreshefte 3 (1880), S. 272f.

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»mußte« (bei der Prozession) vor dem Kreuz entblößt »vmbgohn« und ein Messer am Arm tragen. 60 Aufschlußreich für die Übernahme kirchlicher Buß- und Strafformen in die von bürgerlichen Richtern ausgeübte Strafgerichtsbarkeit ist der folgende Fall: Georg Bosser aus dem Attental im südlichen Schwarzwald hatte an Weihnachten 1548 seine Frau dermaßen geschlagen, daß sie tags darauf starb. Der Rat der Stadt Freiburg wollte anfangs nach dem ius strictum ein Urteil über den Totschläger fällen lassen. Bossers Nachbarn und Verwandte, desgleichen der Rektor der Freiburger Universität nebst einigen Edelleuten legten jedoch für Bosser »große treffenliche fürbitt« ein, weswegen sich der Rat entschloß, statt der Strenge des Rechts Gnade walten zu lassen. Sein Urteil lautete: »Bosser sollte für den hohen Frevel 20 Rappen zahlen, ferner am darauffolgenden Sonntag während des Umgangs der Priesterschaft im Münster mit bis auf den Gürtel entblößtem Leib und einer dreipfündigen brennenden Wachskerze mitumgehen, danach die Kerze aufstecken und während der ganzen Messe vor dem Johannesaltar knien. Alsdann sollte er in Kirchzarten während des ganzen Seelenamtes für seine Frau gleichermaßen mit entblößtem Leib und einer pfündigen brennenden Kerze vor dem Altar knien und außerdem nach seinem Vermögen armen Leuten etwas spenden.« Symptomatisch für die Verflechtung zwischen weltlichem und geistlichem Recht ist der Einspruch des Münsterpfarrers, der darauf bestand, daß der Täter zuvor vom Bischof absolviert werden mußte, der nach kirchlichem Recht über Kapitalsünden zu befinden hatte. Nachdem der Bischof dem Übeltäter in schriftlicher Form Absolution erteilt hatte, konnte dieser »offenlich vor der gemeind« Buße tun und »widerumb in dieselbig uffgenommen« werden. 61 Die erfüllte Buße bewirkte gleichermaßen die Aufnahme in die kirchliche Heilsund weltliche Rechtsgemeinschaft. Wer sich an Kloster- und Kirchengut vergriff, mußte in gleicher Weise seine Untat durch öffentliche Buße den Blicken der Allgemeinheit aussetzen. Einen Fall aus dem letzten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts, der dies beleuchtet, überliefert die ›Chronik von Montecassino‹. Raynaldus Ridellus, Graf von Pontecorvo, hatte sich gewaltsam eine Burg des Klosters Montecassino angeeignet. Um die Zurück nahme der über ihn verhängten Exkommunikation zu erreichen, leistete er öffentliche Genugtuung, indem er mit entblößten Füßen (discalciatis pedibus) den Abt des Klosters aufsuchte – es war im Februar 1091 –, der sich damals zu60

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Altbiberach um die Jahre der Reformation. Erlebt und für die kommenden Generationen der Stadt beschrieben von den Zeitgenossen und Edlen Brüdern Joachim I. und Heinrich VI. von Pflummern, Patrizier der Freien Reichsstadt Biberach, bearb. von Albert a ngele , Biberach 1962, S. 181f. Friedrich h eFele , Vom Pranger und verwandten Strafarten in Freiburg i. Br., in: Schauinsland 62 (1935), S. 74.

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sammen mit Papst Urban II. in Capua aufhielt.62 Als 1248 Bürger von Aliermont sich der stadtnahen Güter des Bischofs von Rouen bemächtigten, verhängte der Bischof eine Kirchenbuße, deren Bußleistungen so angelegt waren, daß möglichst viele Menschen von dem Vergehen erfahren sollten. Das Interesse an Publizität ist mit Händen zu greifen. Nicht weniger als drei Mal mußten sich die Rechtsbrecher in einer Bußprozession zur Kirche von Aliermont begeben, desgleichen sollten sie neun Kirchen und Kathedralen der Umgebung aufsuchen. Dabei sollten sie nudis pedibus gehen, barhäuptig, mit Hemd und Hose. In ihren Händen sollten sie Ruten tragen, mit denen sie von Klerikern der jeweiligen Kirche gezüchtigt werden sollten. 63 Der fränkische Ritter Heinrich von Tunnefeld hatte sich im Jahre 1296 Getreidezinsen des Klosters Ebrach angeeignet. Um den Konflikt beizulegen, brachte Bischof Manegold von Würzburg zusammen mit anderen geeigneten Schiedsleuten (alii viri ydonei mediantes) einen gütlichen Vergleich (compositio ami­ cabilis) zustande. Dieser sah vor, daß der Ritter Heinrich von Tunnefeld zur Genugtuung und Sühne für das begangene Unrecht ( pro satisfactione et emenda premisse iniurie et temeritatis) zusammen mit vier weiteren Standesgenossen nebst all jenen, die an dem Vergehen beteiligt waren, barfuß und im Büßerhemd (discalciati et laneis vestibus tantum induti) eine Bußwallfahrt nach Ebrach machen mußte. Um dieser Pflicht zu genügen, waren die Büßer gehalten, eine öffentliche und stark frequentierte Straße (via recta et frequentata) zu benutzen. Eine solche Bestimmung unterstreicht das Bemühen um größtmögliche Öffentlichkeit, die von dem Vergehen des Edelmannes und seiner Helfer Kenntnis nehmen sollte. Man fürchtete, der adlige Sünder und seine Begleiter könnten heimlich und auf Schleichwegen die Abtei erreichen und auf diese Weise den Zweck der Strafe unterlaufen. Am Hauptaltar des Klosters sollte ihnen der Abt die Absolution erteilen. Aber die öffentliche Bußleistung allein reichte nicht aus, um das Vergehen zu sühnen. Heinrich von Tunnefeld mußte sich überdies eidlich verpflichten, den dem Kloster zugefügten Schaden wiedergutzumachen und bis Mariä Geburt die dem Kloster geraubte annona (Getreidevorrat) vollständig zurückzuerstatten. 64 62 63

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Chronik von Montecassino (wie Anm. 36), S. 473f. Mary C. m ansFIeld, The Humiliation of Sinners: Public Penance in Thirteenth Century France, New York 1995, S. 126f. Vgl. dazu auch neuerdings Jean-Marie moeglIn, Pénitence publique et amende honorable en Moyen Age, in: Revue Historique 604 (1997), S. 238f. Auf diesen Fall hat mich Frau Dr. Elke Goez, Herzogenaurach, bei meinem Vortrag in Konstanz aufmerksam gemacht. Ihrer Kollegialität und Freundlichkeit verdanke ich die Kenntnis der einschlägigen Quelle, die von diesem Vorgang berichtet. Es handelt sich um die Urkunde BU 1166 des Staatsarchivs Bamberg, die Frau Dr. Goez im Rahmen ihrer Edition der Urkunden von Ebrach (bis 1307) veröffentlichen

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Neben Totschlag und Kirchenraub waren es vornehmlich Vergehen gegen die Ehe- und Sexualmoral – Unzucht, Ehebruch, Bigamie, außereheliche Empfängnis –, die durch öffentliche Kirchenbuße gesühnt werden mußten. Das Offizialatsregister des Klosters Cerisy-la-Forêt in der Diözese Bayeux erwähnt für das Jahr 1326 den Fall einer Frau, die ihre Ehe gebrochen hatte. Sie mußte deshalb an der sonntäglichen Prozession um die Kirche in einer Tunika (in tu­ nica), mit nackten Füßen (nudis pedibus), ohne Kopfbedeckung (incapillata) und ohne Gürtel (non cincta) teilnehmen. Eine Frau, die sich 1331 vor dem Offizialats-Gericht von Cerisy verantworten mußte, hätte die Möglichkeit gehabt, sich durch eine Geldbuße freizukaufen. Weil sie aber dazu nicht in der Lage war, kamen die geistlichen Richter überein, ihr eine publica penitencia aufzuerlegen. Sie mußte sich an der Prozession am Palmsonntag mit bloßem Haupt (caputio denudata), mit nackten Füßen (nuda pedes)[sic!], in einem Büßerhemd (in tunica) und ohne Gürtel (aliqua non cincta) beteiligen. 65

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will. – Ungewöhnlich ist der gleichfalls durch eine Ebracher Urkunde bezeugte Fall, demzufolge selbst Diebstahl durch eine Bußleistung gesühnt werden konnte. Aus besagter kopial überlieferten Urkunde vom Jahre 1301 geht hervor, daß Abt Hermann von Ebrach und Lupold von Weltingen ihren Streit um die Vogtei über den Hof in Obernbreit durch Vermittlung einer von beiden Seiten bestellten Schiedskommission dahingehend geschlichtet und beendet haben, daß Lupolt auf seine Vogtei über den Obernbreiter Hof verzichtet und die beiden Knechte, die sich zwei Pferde von besagtem Hof angeeignet hatten, »vmb dy beszerunge« an zwei Sonntagen zwischen dem 17. November und Weihnachten »vorme crucze barfues« und »in iren lynen cleidern« gehen sollen. Staatsarchiv Würzburg, Liber Privilegiorum (15. Jh.), Ebracher Bücher (D 7) 3/I und 3/II. Vgl. Protokoll Nr. 354 über die Arbeitstagung auf der Insel Reichenau vom 1.–4. Oktober 1996, S. 50. Le registre de l’officialité de Cérisy 1314–1457, in: Mémoires de la Société des Antiquaires de Normandie 30 (1880), S. 374. – Im Fürstentum Ansbach wurden noch im 18. Jahrhundert Ehebrecher durch öffentliche Kirchenbuße bestraft. »1700 wurde in Ansbach ein Ehebrecher ›zur offenlichen kirchenbus mit der ruten in der hand morgenden Sonntags angehalten, und novch geendigter predigt [solle er] vor der kirchentür ehender nicht weg – und in die stattfrohnvest geführet werden, bis die communicanten werden heimbgangen sein‹ « (Karl-Sigismund k ramer , Volksleben im Fürstentum Ansbach und seinen Nachbargebieten. 1500–1800, Würzburg 1961, S. 150). In Raintebuch hatte 1746 »ein Ehemann ein lediges Mädchen geschwängert. Es wurde verfügt, er solle ›3 Sonntag nacheinander mit einer schwaren kerzen in der hand haltend vor die kirchen gestellt werden […] Das mensch hingegen [solle], nachdem sie kindsmuetter worden […] mit aufgesezten strohkranz ausgebankt und mit 30 oxenzimenstreich ab gestrafft werden‹ « (ebd.). Wer bemittelt und vermögend war, konnte sich von der Kirchenbuße freikaufen. Mittellose mußten die öffent liche Demütigung aus- und durchstehen. Von Barfüßigkeit ist nicht ausdrücklich die Rede. Die Annahme, daß sie ein fester Bestandteil der ›offenlichen kirchenbus‹ war und deshalb keiner eigenen Erwähnung bedurfte, ist jedoch nicht unbegründet.

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Nach dem zwischen 1374 und 1401 abgefaßten Schlettstadter Stadtrecht waren Bigamisten gehalten, an die Marienkirche und an die Stadt je einen Gulden Buße zu bezahlen. Danach sollte er »drige sunnentag nachenander gan vor dem crútze umb die lútkirch mit eim rade barfus, barhoupt und in dem hemede«.66 Hinter der Bestimmung des Schlettstadter Stadtrechts verbirgt sich ein strukturelles Problem. Die Tatsache, daß sich Bürgermeister und Rat der Stadt eines kirchlichen Bußrituals bedienen, um Vergehen gegen die christliche Ehemoral zu bestrafen, verweist auf Austauschbeziehungen zwischen weltlicher und kirchlicher Rechts- und Strafpraxis. Als Strafe begegnet öffentliche Kirchenbuße sowohl in geistlichen als auch in weltlichen Gerichts- und Strafakten. Den geistlich-welt lichen Charakter spätmittelalterlicher Strafgerichtsbarkeit unterstreicht überdies die Tatsache, dass eine Geldbuße sowohl an die Stadt als auch an die Marienkirche bezahlt werden mußte. 67

66 67

Wolfgang sellert / Hinrich rüPIng, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Aufklärung, Aalen 1989, S. 124. Zusammenhänge zwischen Kirchenbuße und weltlicher Strafe hat Eberhard Freiherr von Künssberg am Beispiel des Steintragens einleuchtend nachgezeichnet. »Steintragen als Strafe«, so eine durch zahlreiche Quellenzeugnisse begründete These, ist »eine rechtliche Anwendung eines religiösen Brauches, religiöses Lehngut im Rechtsleben«. Hält man sich an die Aussagen von Weistümern aus Dörfern Österreichs, die in geistlichem Besitz sind, verlief das als Strafe verhängte Steintragen, dessen Ablauf »ganz den Charakter einer Kirchenbuße« hat, folgendermaßen: »Die Buße findet an Sonnoder Feiertagen statt, der Stein wird um den Altar oder um die Kirche getragen, von einer Kirche zur anderen. Der Pfarrer treibt. Der Büßer ist barfuß, im Büßerhemd, trägt dazu noch Ruten und Kerzen. Der Stein wird in der Kirche, vor dem Altar, an der Kirchtüre, im Torhaus, an der Kirchenwand aufbewahrt und liegt wohl auch als Zeichen der kirchlichen Gerichtsbarkeit auf dem Tisch des Sendgerichts. Ersetzt oder verschärft wird das Steinetragen durch andere Kirchbußen, Wachsopfer, Wallfahrten, Fasten, Liegen vor der Kirchentüre usw.« Den Charakter einer öffentlichen Strafe nimmt das Steintragen im städtischen Rechtsleben des späten Mittelalters an. »Der Stein wird am Rathaus oder am Pranger aufbewahrt, der Schandweg führt durch die Stadt von einem Tor zum anderen usw. Während man bei der feierlichen Kirchenbuße mit dem Büßer andächtiges Mitleid hatte, kommt jetzt bei der weltlichen Ehrenstrafe der Spott als wichtigster Bestandteil dazu; wohlüberlegte Einzelheiten dienen als Verschärfung und geben dem ganzen Vorgang das Gepräge der Volksjustiz: Beteiligung der Jugend mit Werfen von Eiern und faulen Äpfeln, Mitwirkung des Ehemanns, Musikbegleitung usw. Die Strafe wird mit anderen weltlichen Strafen, wie Prangerstehen, Mitrutenaushauen, Stadtverweisung kombiniert« (Eberhard Frhr. von künssberg, Rechtsgeschichte und Volkskunde, Köln-Graz 1965, S. 42 - 44). Die für die Buße charakteristischen Merkmale – Büßerhemd und Barfüßigkeit entfallen. An die Stelle des Büßerhemds tritt der Schandmantel.

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5. Genugtuung für erlittenes Unrecht: Barfüßigkeit als Versöhnungsritual in Akten kollektiver Buße Barfüßigkeit blieb ein wichtiger Baustein der Kirchenbuße auch dann, als letztere in Kontroversen und Konflikten zwischen geistlichen Herren auf der einen, adligen, bürgerlichen und bäuerlichen Rebellen auf der anderen Seite einen ausgesprochen politischen Charakter annahm. Kollektive Kirchenbuße, die von sozialen Gruppen gemein geleistet werden mußte, war im kirchlichen Recht nicht vorgesehen. Daß es sie tatsächlich gab, beweist die enge Verflechtung zwischen Religion und Recht, Politik und Frömmigkeit in der Zeit des Mittelalters. Barfüßigkeit und Bußgewand gehörten zum Ritual der »Genugtuung« (satis­ factio), die einem Herrn geleistet werden mußte, wenn er sich in seiner Ehre und in seinen Rechten gekränkt fühlte. So sieht es jedenfalls Lampert von Hersfeld (vor 1028–nach 1081) in seinem Bericht über den Aufstand der Kölner Bürger gegen ihren geistlichen Stadtherrn Anno im Jahre 1074. 68 Erzbischof Anno, der, um einer Ermordung durch die außer Rand und Band geratenen Bürgerschaft aus dem Weg zu gehen, aus der Stadt geflohen war, erschien vier Tage danach mit einem großen Heer vor der Stadt. Durch diese Machtdemonstration eingeschüchtert, entschlossen sich die Kölner, an den Bischof Friedensboten zu schicken. Diese machten sich barfüßig (nudis pedibus) und mit wollenen Bußgewändern angetan (laneis ad carnem induti) auf den Weg, erklärten sich im Namen ihrer Mitbürger vor dem Bischof schuldig und bereit, jede Strafe auf sich zu nehmen, sofern ihr Leben unversehrt bleibe. Der Bischof versicherte sie seiner Gnade (venia), wenn sie ihre Untat zutiefst bereuten und willens wären, ihm für erlittenes Unrecht Genugtuung (satisfactio) zu erweisen. Als es aber die Kölner Bürger ablehnten, nach den Vorschriften des kanonischen Rechts Buße ( peni­ tentia) zu tun, fielen die berittenen Anhänger des Bischofs mordend, sengend und plündernd über die Stadt her – angeblich ohne Wissen und Befragen des Bischofs. »Das Geschäft gerechter Rache« (iustae ultionis negocium) fiel jedenfalls viel härter aus, als es mit dem Ruf eines so hohen Kirchenfürsten vereinbar war. Lampert von Hersfeld erinnerte daran, daß das Amt des Bischofs zur Versöhnung durch Buße verpflichtet. Entschlossenheit zur Buße artikulierte sich in nackten, unbeschuhten Füßen. Sich den Demütigungen des Bußrituals zu un-

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Lampert von Hersfeld, Annales/Annalen, übers. von Adolf schmIdt, erl. von Wolfgang Dietrich FrItz (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 13), Darmstadt 1962, S. 237 - 249. Vgl. Reinhold k aIser , ›Mord im Dom‹. Von der Vertreibung zur Ermordung des Bischofs im frühen und hohen Mittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kan. Abt. 79 (1993), S. 125f.

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terwerfen setzte voraus, daß der in seinem Recht Verletzte zur Vergebung bereit war. Buße und Gnade bedingten sich gegenseitig. Als die Mönche von Montecassino Anfang Juli 1137 am Lago Pesole (bei Castel Lagopesole in der süditalienischen Provinz Potenza) das kaiserliche Lager erreichten, in dem sich auch Papst Innozenz II. aufhielt, traten ihnen Legaten des Papstes entgegen, um ihnen zu eröffnen, daß der Papst befohlen habe, sie müßten, ehe sie das Lager betreten, discalciatis pedibus dem Papst Genugtuung erweisen (satisfacere) und für den Gehorsamseid, den sie »dem Sohn des Petrus Leo«, das heißt dem Gegenpapst Anaclet II., geschworen hätten, »Buße empfangen« ( penitentiam recipere). Desgleichen müßten sie eidlich bekräftigen, alles unverzüglich zu erfüllen, was der Papst befehle. Als Abt Raynaldus von Montecassino und seine Mönche dem Papst Gehorsam geschworen hatten, wurden sie vom Bann gelöst (ab excommunicationis nexu soluti) und danach mit entblößten Füßen (discalciatis pedibus) vom Papst zum Fußfall (ad pape vestigia) und zum Friedenskuß (ad osculum) zugelassen und empfangen. 69 Kaiser Friedrich Barbarossa hielt 1155 in Worms einen Hoftag. Um seiner Sorge für den allgemeinen Landfrieden zu genügen, ordnete der Herrscher an, daß eine Reihe hochadliger Rechts- und Religionsfrevler (sacrilegi) öffentliche Buße leisten mußten.70 Dies deshalb, weil sie in der Stadt Mainz und in den Rheinlanden durch Plünderung, Mord und Brandschatzung den Frieden gebrochen hatten. Öffentliche Buße unter entehrenden Bedingungen bildete eine unverzichtbare Voraussetzung, um von neuem die Huld des in seinen Rechten verletzten Erzbischofs Arnold von Selenhofen (1095/1100–1160) zu erlangen. Die Büßer – darunter Pfalzgraf Hermann von Stahleck und Graf Emicho von Leiningen nebst weiteren Grafen – warfen sich, mit Asche auf dem Haupt und in Büßergewänder gekleidet, dem Mainzer Erzbischof zu Füßen. Indem sie dem in seiner Ehre gekränkten Kirchenmann Genugtuung erwiesen, konnten sie damit rechnen, daß er ihnen Vergebung zuteil werden ließ und die über sie verhängte Exkommunikation zurücknahm. Als Strafe für ihr Vergehen mußten die hochgeborenen Herren barfüßig eine deutsche Meile weit Gegenstände, die mit einem negativen Symbolwert behaftet waren, durch die Stadt tragen: einen Hund, den Sattel eines Esels, hartgefrorene Ruten. Die Ruten, so ist anzunehmen, sollten zum Ausdruck bringen, daß es rechtens und angemessen gewesen wäre die Übeltäter zu stäupen. Die Asche auf dem Kopf, das härene 69 70

Chronik von Montecassino (wie Anm. 36), S. 572. Vita Arnoldi archiepiscopi Moguntini, in: Monumenta Moguntina, ed. Philipp jaFFé (Bibliotheca rerum Germanicarum 3), Aalen 1964 (Neudruck der Ausgabe Berlin 1866), S. 614f. Zur Historizität des Vorganges und seiner kontroversen Deutung in der heutigen Geschichtswissenschaft vgl. Klaus schreIner , »Gerechtigkeit und Frieden haben sich geküßt« (Ps 84,11). Friedensstiftung durch symbolisches Handeln, im vorliegenden Band, S. 99f.; moeglIn (wie Anm. 63), S. 261f.

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Büßergewand und Barfüßigkeit sind Bestandteile des traditionellen Buß- und Unterwerfungsrituals. Hund und Eselssattel sind Zeichen standeswidriger Unehre.71 Die Bußaktion mit ihrer entehrenden Symbolik verpflichtete den Bischof, den büßenden Grafen von neuem Huld zu gewähren und mit ihnen Frieden zu schließen. Ein Akt öffentlicher Buße beendete auch die gewalttätigen Auseinandersetzungen, in die sich Bischof Wilbrand von Paderborn und die Grafen von Schwalenberg in den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts verstrickt hatten. Anlaß und Gegenstand des Konflikts waren strittige Lehns- und Vogteirechte im Herrschaftsbereich des Paderborner Fürstbischofs. Ein am 14. April 1227 ausgestellter Sühnebrief berichtet davon.72 »Wegen zahlreicher Vergehen und rechtswidriger Handlungen« ( propter multiplices excessus et iniurias) deren sich die Brüder Volkwin und Adolf von Schwalenberg in ihrem Verhalten gegenüber der Paderborner Kirche und ihren Bischöfen schuldig gemacht hätten, seien die beiden Grafen von Bischof Wilbrand exkommuniziert worden. Desgleichen habe sie der Bischof aller Lehen, die ihre Väter und sie selbst von der Kirche Paderborns innehatten, für verlustig erklärt. Um die »Gnade der Kirche« (gratia ecclesiae) und ihre verlorenen Lehen, zurückzuerhalten, hätten die beiden Brüder – »auf Anraten adliger und vernünftiger Männer« – dem Bischof und der Kirche Genugtuung geleistet (nobis et ecclesiae satisfecerunt). Deren Vollzug wurde durch eine eigene »Satisfaktionsurkunde« ( forma satisfactionis) verbrieft. Als Ursache der vom Bischof beanspruchten Genugtuung nennt die Urkunde folgenden Vorfall: Bei seiner Rückkehr von Korbach wurde Bischof Wilbrand von Adolf von Schwalenberg durch iniuriae beleidigt und gekränkt – »wahrscheinlich wurde er geohrfeigt und bezog Hiebe« 73 . Was der Bischof als Unrecht und Verletzung seiner Ehre empfand, war in den Augen Graf Adolfs von Schwalenberg die Quittung dafür, daß der Paderborner Bischof die Bürger von Korbach von ihrem Lehnseid gegenüber dem Schwalenberger Grafen entbunden und durch 71

72 73

Zum Tragen eines Sattels als Ritual öffentlicher Buße vgl. Esther cohen, The Crossroads of Justice. Law and Culture in Late Medieval France, Leiden-New YorkKöln 1993, S. 177 - 180. – Zum negativen Symbolwert des Hundes im mittelalterlichen Strafwesen vgl. Klaus schreIner , Verletzte Ehre. Ritualisierte Formen sozialer, politischer und rechtlicher Entehrung im späteren Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit, in: Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Bestandsaufnahme eines europäischen Forschungsproblems, hg. v. Dietmar wIlloweIt, Köln / Weimar / Wien 1999, S. 302 - 306. Westfälisches Urkunden-Buch, bearb. v. Roger wIlmans, Osnabrück 1973 (Neudruck der Ausgabe 1874), Bd. 4, S. 102f. Vgl. Friedhelm ForwIck , Die staatsrecht liche Stellung der ehemaligen Grafen von Schwalenberg, Münster in Westfalen 1963, S. 10. Diether PöPPel , Das Hochstift Paderborn. Entstehung und Entwicklung der Landeshoheit, Paderborn 1996, S. 85.

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einen Treueid auf die Herrschaftsrechte der Paderborner Kirche verpflichtet hatte. Am 12. April 1227 begab sich dann Adolf von Schwalenberg zusammen mit hundert Rittern und Knappen barfüßig (nudis pedibus) an den bischöflichen Hof nach Paderborn, sie warfen sich dem Bischof zu Füßen und baten in Gegenwart zahlreicher Zeugen und Zuschauer (multis presentibus) um Gnade. Die geleistete Buße löste vom Bann und beendete die Fehde. Des Friedens wegen mußten die Schwalenberger überdies auf Vogtei- und Besitzrechte verzichten. Zudem hatten sie zu geloben, die Bürger von Korbach »in ihrem alten Recht« zu belassen und weder innerhalb noch außerhalb der Stadt zum Schaden der Paderborner Kirche eine Burg zu errichten. Die Möglichkeit, aus kirchlicher Buße einen Akt politischer Unterwerfung zu machen, ist charakteristisch für den mangelnden Differenzierungsgrad traditionaler Gesellschaften, in denen Religion und Recht, kirchliche und welt liche Strafsysteme eng miteinander verflochten waren. Das geht auch aus der compo­ sitio hervor, die bereits fünf Jahre zuvor Bischof Bernhard zur Lippe und die Bürger der Stadt Paderborn miteinander vereinbart hatten.74 Ungehalten war der Bischof von Paderborn über die Bürger der Stadt deshalb, weil sie »zu seiner Schande« (in dedecus suam) die Tore verschlossen hatten, um ihm und den Seinen Gewalt antun zu können. Um vom Bischof wiederum Huld und Gnade (gratia) zu erlangen und diesem Genugtuung (expurgatio) für die zugefügte Schande zu erweisen, mußten sich im Jahre 1222 fünfzig Bürger der Stadt auf einem genau bezeichneten Weg barfüßig und in wollenen Bußgewändern (nudis pedibus et in laneis) zum bischöflichen Palast begeben. Außerdem waren sie verpflichtet, an den Bischof ein Bußgeld in Höhe von 100 Mark zu entrichten, damit sie dieser angesichts ihrer alten und neuen Vergehen in plenitudinem gratie sue annahm. Es sind Begriffe der kirchlichen Bußtheologie, die, bei dem durch Vermittler erreichten Ausgleich, handlungsleitend und sinngebend wirkten. Rituale der Kirchenbuße haben die Aussöhnung zwischen den Konfliktpartnern öffentlich und verbindlich gemacht. Barfüßigkeit und wollenes Büßergewand haben ihren angestammten Platz in der publica poenitentia der kirchlichen Bußpraxis. Öffentliche Kirchenbuße verbürgte Versöhnung durch öffentliche Demütigung. Wie in der Lebenswelt einer spätmittelalterlichen Stadt gestörter Friede durch öffentliche Buße geheilt wurde, ist am Verhalten jener Braunschweiger 74

Westfälisches Urkunden-Buch (wie Anm. 72), S. 69. – Weitere Beispiele für Barfüßigkeit in Buß- und Unterwerfungsritualen, denen sich Bischöfe und städtische Kommunen als »model of communal peacemaking« während des 13. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland bedienten, um den gestörten Stadtfrieden wiederherzustellen, bringen m ansFIeld (wie Anm. 63), S. 265 - 277; moeglIn (wie Anm. 63), S. 246 - 252; Claudia garnIer , Zeichen und Schrift. Symbolische Handlungen und literale Fixierung am Beispiel von Friedensschlüssen des 13. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 32 (1998), S. 263 - 287.

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Ratsherren abzulesen, die am 12. August 1380 in Lübeck vor den versammelten Boten der Hansestädte Hamburg, Rostock, Stralsund, Wismar, Lüneburg, Bremen und Lübeck erschienen waren, um die Verhansung Braunschweigs, eine Strafaktion aufgrund der großen Schicht des Jahres 1374, wieder rückgängig zu machen. Das feierliche Sühne- und Versöhnungsritual fand auf den Stufen des Lübecker Mariendomes statt. Dort standen sie, die bußfertigen Abkömmlinge Braunschweiger Ratsgeschlechter, und baten im Namen Gottes und Marias die Boten der Hansestädte, »daß man inen vergeben wolle, was sie gethan hätten: sie hätten es in hastigem Muthe gethan. Und baten fürder also, daß man sie wieder aufnähme in des Kaufmanns Gerechtigkeit und ließe sie wieder zu bei der Hanse«. Das geschah denn auch. Überlieferungen, die in der jüngeren Braunschweiger Stadtchronistik festgehalten und weitergegeben wurden, berichten anschaulich, »wie die acht Rathsboten, mit Wollenwant bekleidet, barhäuptig und barfuß, brennende Wachskerzen in den Händen« in Prozession zum Ort der feierlichen Sühnehandlung zogen, »fußfällig ihre Bitten vortrugen und Verzeihung« erlangten, »indem sie mit einem Eide die verlesenen Artikel des Sühnebriefes zu halten gelobten«. Dieser sah unter anderem vor, daß Ratsmannen und Bürger der Stadt Braunschweig in der Pfarrei St. Martin eine steinerne Kapelle mit zwei Vikarien für zwei arme Priester bauen sollten.75 Das Beispiel zeigt: Buß- und Sühneakte, deren rituelle Gestaltung mit dem Zeremoniell öffentlicher Kirchenbuße identisch war, konnten auch ohne Beteiligung kirchlicher Amts- und Würdenträger vollzogen werden. Das beweist auch die Konfliktlösung, die der burgundische Herzog Philipp der Gute und die Stadt Brügge im Jahre 1438 fanden, um ihren Streit zu beenden. Um der Plünderung und Zerstörung ihrer Stadt zu entgehen, sahen sich die Bürger von Brügge gehalten, Philipp dem Guten, gegen den sie sich ein Jahr zuvor erhoben und den sie zur Flucht aus der Stadt genötigt hatten, Genugtuung zu leisten und folgende Forderungen zu erfüllen: 1. »Vor dem nächsten Einzug des Herzogs in Brügge sollten ihm Bürgermeister, Ratsherren, Schöffen und jeweils zehn Vertreter aller Gilden barfuß und barhäuptig entgegenziehen bis zu einer Stelle, die ihnen angewiesen würde. Dort sollten sie sobald sie den Herzog erblickten – niederknien und mit gefalteten Händen ihre Untaten bereuen und den Herzog um Gnade bitten. Dann sollten sie dem Herzog die Schlüssel der Stadt übergeben und ihn in die Stadt geleiten. 2. An der Stelle, an welcher Bürger den Herzog um Gnade baten, sollte ein Steinkreuz errichtet werden mit der Darstellung ihrer Unterwerfung. 75

Vgl. dazu schreIner (wie Anm. 70), S. 102f.

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3. Das Tor, durch das sich der Herzog nur mit Mühe hatte retten können, sollte vollständig zerstört werden. An derselben Stelle sollte eine Kapelle errichtet werden, in welcher täglich für die Seelen der im Kampf mit den Bürgern gefallenen herzoglichen Gefolgsleute eine Messe gehalten werden sollte. 4. Für ewige Zeiten war am 22. Mai, dem Tag des Aufstandes, eine feierliche Messe für die getöteten Gefolgsleute des Herzogs in St. Donatian abzuhalten. Prominente Vertreter der Bürgerschaft mußten an dieser Messe teilnehmen, vierundzwanzig Kerzen von je sechs Pfund sollten die Feierlichkeit betonen.«76 Friedensstiftung durch Buße begegnet auch auf dem Land. Johannes Probus († 1457), regulierter Augustinerchorherr in dem in der Nähe von Paderborn gelegenen Kloster Böddeken, berichtet in seinem ›Chronicon Monasterii Bödecensis‹ von einem solchen Bußritual, dem sich bäuerliche Hintersassen des Klosters unterwarfen, um begangenes Unrecht zu sühnen.77 Worum ging es? Knechte des Klosters hatten unter dem Prior Hermann von der Strecke (1427–1432) in der Mark Tudorf, in der dem Prior von Böddeken die Rechte eines ›Holzgrafen‹ (Holtgravius) zustanden, Holz gefällt. Bauern von Obern- und Niederntudorf, etwa 24 an der Zahl, gingen daraufhin gegen die familiares des Klosters gewaltsam (violenta manu) vor. Die aufsässigen Bauern nötigten die klösterlichen Holzfäller zur Herausgabe von »Faustpfändern« ( pignora) und vertrieben sie. Zwei der Tudorfer Bauern, die sich besonders wild und verwegen benahmen, verletzten einen der Böddeker Knechte schwer. Der Chronist wertet den Vorfall als Attacke gegen Gott und die Gerechtigkeit. Der in seinen Rechten verletzte Prior war jedoch nicht auf Rache bedacht. Die Bauern aus Obernund Niederntudorf zeigten sich bußfertig. Um Gott und dem hl. Meinulf, dem Patron des Klosters, für ihre Untat Genugtuung zu erweisen, machten sie sich auf den Weg ins Kloster. Einer von ihnen, der eine brennende Kerze in seiner Hand hielt, führte den Zug der büßenden Bauern an. Er ging barfuß und ohne Kopfbedeckung (nudipes, nudoque capite incedens). Seine Komplizen folgten ihm gleichfalls barfüßig. Sie traten vor den Altar des Klosters, beugten die Knie und baten quasi uno ore den Priester inständig, ihnen das Unrecht, das sie an den klösterlichen Knechten verübt hatten, zu vergeben. Sie gelobten, sich fürderhin

76 77

Dietrich W. Poeck , Sühne durch Gedenken – Das Recht der Opfer, in: Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft, hg. v. Clemens wIschermann, Stuttgart 1996, S. 121. Johannes Probus, Chronicon monasterii Bödecensis, München 1731, S. 74f.

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als treue Untergebene ( fideles) des Klosters zu erweisen. Einer der Bauern, der es abgelehnt hatte, sich an der Bußaktion zu beteiligen, starb am nämlichen Tag.

6. Kollektive Bitt- und Bußrituale, um Gottes strafenden Zorn abzuwenden Von öffentlicher Kirchenbuße im Interesse der Konfliktbewältigung und Friedensstiftung zu unterscheiden sind kollektive Bitt- und Bußprozessionen, die Kommunen und kirchliche Gemeinschaften von sich aus unternahmen, um sich durch den Vollzug eines solchen Rituals zeitliche Wohlfahrt und ewiges Heil zu verschaffen. Der Heilssicherung im Himmel dienten Sakramentprozessionen, die mit einem Ablaß verbunden waren. In Krisen- und Katastrophenzeiten war es der städtische Rat, der Prozessionen für die gesamte Stadtbevölkerung anordnete, um Not und Gefahr von der Stadt abzuwenden. Die Teilnahme an der von dem Nürnberger Patrizier Konrad Groß gestifteten Fronleichnamsprozession (1340; 1343) gewährte all denen, die sich nach Empfang der Kommunion als barfußgehende und kerzentragende Büßer an der Fronleichnamsprozession am Sonntag der Fronleichnamsoktav beteiligten (»die den heiligen leichnam cristi enphahent oder parfus oder mit kerzen erwirdiclich nach folgent sein an dem nehsten suntag zwischen dem ahten tag kome«), einen Ablaß von vierzig Tagen.78 Durch Buße Ablaß erwerben wollten auch die Bürger der Stadt Bern, deren Rat 1476 mitten im Kriegsgeschehen »eine spektaku läre ›Romfahrt«‹ organisierte. Der als »Romfahrt« deklarierte Büßerzug nahm im Münster seinen Ausgang, bewegte sich durch bestimmte Gassen und Straßen der Stadt und führte dann zum Münster wieder zurück. Der Ablaß, den besagte »Romfahrt« ihren Teilnehmern in Aussicht stellte, war seinem zeitlichen Umfang nach dem Ablaß gleichwertig, den eine wirkliche Wallfahrt nach Rom einbrachte. Der Bußprozession der Berner Bürgerschaft lag die Absicht zugrunde, »sich moralisch von den Kriegslasten zu befreien bzw. die in Grandson und Murten begangenen Massaker zu sühnen«.79 Das Schauspiel öffentlicher Buße dauerte nicht weniger als neun Tage. Diebold Schilling († 1485) berichtet, es sei »gar ein 78

79

Andrea l öther , Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipation Nürnberg und Erfurt vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit (Norm und Struktur 12), Köln / Weimar / Wien 1999, S. 68. Gabriela sIgnorI, Ritual und Ereignis. Die Straßburger Bittgänge zur Zeit der Burgunderkriege (1474–1477), in: Historische Zeitschrift 264 (1997), S. 314.

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koestlich und erlich procession« gewesen. Unter Laien seien »vil offen sunder und sunderin von mannen und von frowen« gewesen, »die manne nacket« [mit entblößtem Oberkörper] und die »frowen barfuos mit ushenken irs hors [mit offenem Haar], als dann semlicher ofner sunder und sunderin recht ist«. 80 Was sich 1476 abspielte, wurde – wenngleich mit nachlassendem Bußeifer – in den Jahren 1478, 1480 bis 1484 und 1510 wiederholt. Barfüßigkeit wurde bei diesen Prozessionen zu einem Kennzeichen öffentlicher Sünder, deren Amoralität den gemeinen Nutzen der Stadt offenkundig am stärksten gefährdete und deshalb in einem Gestus gesühnt werden mußte, der Reuegefühle, Bußwillen und Sühnebereitschaft sicht- und lesbar machte. Ausgesprochen politischen Charakter trugen jene Prozessionen, die spätmittelalterliche Städte inszenierten, wenn Unwetter die Felder zu zerstören drohten, wenn Erdbeben und Epidemien den Fortbestand einer Stadt gefährdeten, wenn zu befürchten war, daß Kriege und Fehden Städte um ihren Wohlstand und ihre Autonomie brachten. Auch solche Prozessionen sind – religionsgeschichtlich betrachtet – keine absoluten Neuerungen. Es gibt zu diesen vergleichbare Beispiele in der staatlich reglementierten Kultpraxis des spätantiken Rom. Wenn bei anhaltender Dürre die Römer ihre Götter um Segen und Regen anflehten, veranstalteten sie Bittprozessionen, an denen das Volk nur barfüßig teilnahm. Weil alle Teilnehmer der Prozession barfuß gingen, wurden solche Veranstaltungen nudipedalia genannt. Nacktheit und nackte Füße sind auch typisch für eine Bittprozession um Regen, die 1315 von Paris nach St. Denis stattfand und bei der alle Prozessionsteilnehmer – mit Ausnahme der Frauen – nackt waren ( [omnes] exceptis mulieribus totis nudis corporibus processionaliter confluentes).81 Werden in mittelalterlichen Quellen Personen als nudus bezeichnet, bleibt zu bedenken, daß in der mittelalterlichen Latinität mit nudus unterschiedliche Grade von Entblößung bezeichnet werden können. Nudus kann sowohl barfuß als auch barhäuptig, nur mit einem Hemd bekleidet, halbnackt bis zum Gürtel oder vollkommen nackt bedeuten. Wenn der Chronist eigens hervorhebt, die Männer hätten totis nudis corporibus an der Pariser Bittprozession um Regen teilgenommen, scheint er sagen zu wollen, die männlichen Teilnehmer hätten sich aller Kleider entledigt und seien vollkommen nackt gewesen.

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Ebd. Vgl. dazu auch Claudius sIeber-l ehmann, Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 116), Göttingen 1995, S. 389. Christoph daxelmüller , Das Fromme und das Unfromme. Der Körper als Lernmittel und Lernbild in der spätmittelalterlichen ›Volksfrömmigkeit‹, in: Mein ganzer Körper ist Gericht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters, hg. v. Katrin k röll / Hugo steger , Freiburg i.Br. 1994, S. 112.

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Abt Hermann von Tournai († 1147) berichtet anschaulich und prägnant von den Beweggründen, die in Tournai eine Prozession entstehen ließen, von der sich die Bürger der Stadt erhofften, daß sie Hilfe und Heilung gegen die schrecklich wütende Epidemie des Heiligen Feuers (ignea pestilentia; Mutterkornbrand) bringe.82 Wer von der grausamen Seuche befallen wurde, dem verbrannten unter unsäglichen Schmerzen seine Glieder. Zahllose Menschen, berichtet der Chronist, hätten durch Brand ihre Beine verloren. Das grassierende Elend bewog Bischof Rabod von Tournai, die Bevölkerung der ganzen Provinz in die Marienkirche von Tournai zu rufen. Der Bischof hielt eine Predigt, schnitt mehr als tausend jungen Männern ihre Haare und ihre anstößigen, bis auf den Boden reichenden Gewänder ab. Dann ordnete er ein ganztägiges, bis in die Nacht andauerndes Fasten an, von dem auch die Säuglinge nicht ausgeschlossen bleiben sollten. Auch diese sollten in dieser Zeit nicht an den Brüsten ihrer Mütter trinken. Überdies sollte das »ganze Volk« am Fest Kreuzerhöhung barfuß eine Prozession durch die Stadt machen. Bei diesem Umgang sollten auch die in den Kirchen der Stadt verwahrten Reliquien der Heiligen mitgeführt werden. Die frommen Anstrengungen – Fasten, Gebet, Almosen, Prozession – verfehlten nicht ihre Wirkungen. Gottes Zorn wandelte sich in helfende Barmherzigkeit. Die Epidemie hörte auf. Dem fügte der Abt kritisch hinzu: Bis heute finde diese Prozession am Fest Kreuzerhöhung statt. An diesem Tag würden immer noch tausende von Menschen aus dem Umland in die Stadt strömen. Doch den meisten von ihnen sei nicht mehr bewußt, weshalb die Prozession ehedem gehalten wurde. Deshalb seien sie auch nicht mehr daran interessiert, sich mit nackten Füßen an einer Prozession zu beteiligen. Sie kämen nach Tournai nicht der Frömmigkeit sondern des Vergnügens wegen und wollten sich an Reiterspielen sowie an Wettkämpfen für Jugendliche beteiligen. Als 1329 in Dortmund der englische Schweiß über fünfhundert Menschenleben forderte, sei, so berichtet der Chronist, eine Sakramentsprozession anberaumt worden, bei der gaer inniklich und mit groter devotion das heilige Sakrament in sieben Kirchen der Stadt getragen wurde. Der Chronist bemerkt ausdrücklich, die Prozession sei barvoets gehalden worden. 83 Aus politischen Motiven zog im Jahre 1260 die ganze Bürgerschaft von Siena mit nackten Füßen bis aufs Hemd entkleidet zum Dom, um Maria, die Schutzherrin der Stadt, durch Buß- und Bittgesänge zu bewegen, daß sie die Stadt von den Löwen und Drachen, die sie zu verschlingen drohen – gemeint 82 83

Hermann von Tournai, Liber de restauratione S. Martini Tornacensis, ed. Georg waItz (MGH SS 14), Hannover 1883, S. 277. Chronik des Dietrich Westhoff von 750–1550, in: Die Chroniken der westfälischen und niederrheinischen Städte, Bd. 1: Dortmund Neuß (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 20), Göttingen 1969, S. 425.

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sind die Florentiner –, befreie. Der mit absoluter Befehlsgewalt ausgestattete Stadtsyndikus übergab die Schlüssel der Stadt der Madonna. In seiner Predigt verglich der Bischof die Befreiung Sienas mit derjenigen des Volkes Gottes aus der Gefangenschaft des Pharao und die Rettung Sienas mit der Ninives durch den Propheten Jonas.84 Bereitschaft und Wille zur Buße sollten Marias helfende Macht auf die Stadt herabzwingen. In der Mitte des 15. Jahrhunderts erinnerte sich die Bürgerschaft von Siena von neuem an die schützende Kraft Marias. Wieder einmal sollte eine Prozession die Gottesmutter gnädig stimmen und bewegen, Sienas Freiheit gegen äußere Feinde zu schützen. Als der Condottiere Jacopo Piccinino im Oktober 1455 in sienesisches Territorium eindrang und der Stadt immer gefährlicher wurde, ordnete der Rat eine Prozession an, an der sich die gesamte Bevölkerung der Stadt beteiligen sollte. Die verordnete Barfüßigkeit der Teilnehmer sollte Bußgesinnung zum Ausdruck bringen. An der hierarchischen Ordnung der Prozession war die soziale Schichtung der Stadt ablesbar. Soziale Ungleichheit war weitgehend identisch mit ungleicher Verteilung politischer Macht. Als der Sieneser Stadtchronist Giurgurta Tommasi (1541–1609) ›Geschichten von Siena‹ (Storie di Siena) verfaßte, beschrieb er, sich auf chronikalische Vorlagen des späten Mittelalters stützend, eine dieser Prozessionen folgendermaßen: »Nach dem Banner und den Kreuzen des Klerus kamen barfüßig und sich geißelnd die Bruderschaften, unterschieden durch ihre Fahnen und nach ihrem Rang geordnet. Es folgte die Schar der weiß Gekleideten. Dies waren die Tausende von Kindern, geführt von Jungfrauen und keuschen Frauen. Alle waren gleichermaßen weiß gekleidet, den Kopf bedeckt und mit Olivenzweigen bekrönt, mit Zweigen des selben Baumes in den Händen; welche alle mit einer Stimme mit Gesängen und Lauden Gott weinend um Frieden und Vergebung baten. Die Zahl sowohl des einen als auch des anderen Geschlechts war wunderbar, aber die der Jungfrauen war phantastisch. Dahinter kamen in langer Reihenfolge die Mönche und dahinter alle Ordensbrüder sowie die Priester des ganzen Klerus, die vor dem heiligen Bild der Madonna delle Gratie einhergingen, welche in der Kapelle des Doms verehrt wird […] Es wurde unter einem weißen Baldachin aus feinstem Stoff auf den Schultern der prunkvoll und reich gekleideten Priester getragen, und es folgten der Rat und alle Amtsträger, die als letztes von einer großen Zahl an Bürgern und Frauen begleitet wurden. Nachdem man zu den üblichen Orten in der Stadt gezogen und zum Dom zurückgekehrt war, tröstete der Ordensbruder alle mit seiner Predigt.« 85 84 85

Klaus schreIner , Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1994, S. 341 - 343. Zitiert nach Kerstin Beyer , Maria Patrona. Rituelle Praktiken als Mittel stadtbürgerlicher Krisen- und Konfliktlösungen: Siena 1447–1456, in: Fröm migkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus schreIner , München 2002, S. 110f. – Noch im beginnenden 16. Jahrhundert fanden in italienischen Städten Prozessionen statt, die städtische Magistrate als barfüßig zu vollziehende Bußrituale angeordnet hatten, um drohendes Unheil von ihren Ge-

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Öffentliche Buße sollte Gott gnädig stimmen und ihn davon abhalten, die Sünden der Menschen durch Krieg, Hungersnot, Mißernten, Unwetter und Seuchen zu bestrafen. Ob Gott half oder strafte, hing nicht zuletzt von der Fürsprache ab, die Heilige – durch die Bußleistungen ihrer Verehrer bewegt – bei Gott einlegten. Kollektive Buße, die göttliche Strafgerichte abwenden sollte, hatte eine politische Dimension. Krisen wurden als Folgen einer gestörten sittlichen und religiösen Ordnung gedeutet, deren Wahrung der erzürnte Gott durch unheilbringende Strafmaßnahmen einklagte. Nur der durch Bußprozessionen versöhnte Gott, so ihre Überzeugung, war zu tätiger Hilfe bereit. Als im Jahre 1120 Erdbeben in Mittelitalien – in Camino, Cocuruzzo und in Bantra – Burgen, Kirchen, Glockentürme und Häuser zum Einsturz brachten, erschien der hl. Benedikt in Termoli einem Mann, den er aufforderte, zum Abt von Montecassino zu gehen und ihm folgendes zu sagen: Alle Bewohner seines Herrschaftsbereiches sollen mit entblößten Füßen (discalciatis pedibus) das Kloster Montecassino aufsuchen und Gott um Verzeihung, Gnade und Hilfe bitten. Desgleichen solle der Abt zusammen mit seinen Mönchen discalciatis pedi­ bus von Kirche zu Kirche seines Klosters gehen und in diesen Litaneien beten. Die Sünden der Menschen seien gewachsen; ihre Vergehen gegen Gott seien um ein vielfaches größer geworden. Vielleicht sei ihnen Gott gnädig und würde ihren Bittgebeten Gehör schenken. Dem Teufel gelang es jedoch, die Beter und Büßer, die sich auf den Weg nach Montecassino gemacht hatten, von ihrem Vorhaben abzubringen. Er gaukelte ihnen vor, die Kirche der hl. Maria und der größte Teil der Klosteranlage seien zerstört. Die bußwilligen Pilger ließen sich täuschen und machten sich auf den Heimweg. Als sie am darauffolgenden Tag das Betrugsmanöver des Teufels durchschauten, beteten sie discalciatis pedibus die Litanei zu Ende. In Montecassino störten um Mitternacht Erdstöße den Schlaf der Mönche. Sie erhoben sich aus ihren Betten, gingen weinend und wehklagend zum Grab meinwesen abzuwenden. So z. B. in Mailand im Jahre 1529, »als die drei furchtbaren Geschwister Krieg, Hunger und Pest samt der spanischen Aussaugerei die höchste Verzweiflung über das Land gebracht hatten. Zufällig war es ein spanischer Mönch Fra Tommaso Nieto, auf den man jetzt hörte; bei den barfüßigen Prozessionen von alt und jung ließ er das Sakrament auf eine neue Weise mittragen, nämlich befestigt auf einer geschmückten Bahre, welche auf den Schultern von vier Priestern im Linnengewande ruhte – eine Nachahmung der Bundeslade, wie sie einst das Volk Israel um die Mauern von Jericho trug. So erinnerte das gequälte Volk von Mailand den alten Gott an seinen alten Bund mit den Menschen, und als die Prozession wieder in den Dom einzog und es schien, als müsse vor dem Jammerruf misericordia ! der Riesenbau einstürzen, da mochte wohl mancher glauben, der Himmel müsse in die Gesetze der Natur und der Geschichte eingreifen durch irgendein rettendes Wunder« ( Jacob burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, 11. Auflage, Stuttgart 1988, S. 357).

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des hl. Benedikt, bestürmten ihn mit Bitten und suchten alle Altäre des Klosters auf, um vor diesen Litaneien zu singen. Sie taten dies in der Überzeugung, daß Gott den ihn Bittenden Barmherzigkeit zuteil werden läßt. Ihr Vertrauen lohnte sich. Gott erhörte ihr Flehen. Kein einziger Stein ihres Klosters bewegte sich. Als dies die Umwohner des Klosters erfuhren, begaben sie sich gleichfalls nudis vestigiis zum Grab des hl. Benedikt nach Montecassino, auf daß sich Gott durch die Fürsprache des Heiligen auch ihrer erbarme. Ihr Hoffen und Flehen wurde nicht enttäuscht. Das Beben der Erde hörte sofort auf.86 Als im Jahre 1356 ein Erdbeben Weltuntergangsängste auslöste und die Stadt Straßburg ein Jahr später von einem Nachbeben heimgesucht wurde, erließ der Rat eine Kleiderordnung, die es Männern und Frauen verbot, ›silber und golt und ander gezierde zu tragende‹. Durch die Einschränkung der Hoffahrt glaubte der Rat, das Übel an der Wurzel packen und beseitigen zu können. Auch Bußgesinnung sollte helfen. Am Lukas-Tag sollte Jahr für Jahr eine Sakramentsprozession stattfinden, an der sich alle Mitglieder des Rates im Aufzug von Büßern – »barfuos om grouwen menteln und kugelhueten und pfundige kertzen an den henden« – beteiligen sollten. Die Kerzen sollten sie am Ende der Prozessionen Unserer Lieben Frau des Münsters überlassen, die grauen Mäntel armen Leuten zum Geschenk machen.87

7.

Barfußgehende Wallfahrer

Barfüßigkeit gehört seit dem hohen Mittelalter zum Ritual der christlichen Wallfahrt. Pilger, die im späten Mittelalter Gnadenstätten mit wundertätigen Bildern und Reliquien zum Ziel ihres Laufens und Wallens machten, haben sich, wie zeitgenössischen Quellen zu entnehmen ist, »nackat plos, parfues vnd parhawbt« auf den Weg gemacht. Exaltierte Bußgesinnung, die als Ausdruck sozialer Unrast, psychischer Bedrängnis und physischer Not zu begreifen ist, drängte zur

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Chronik von Montecassino (wie Anm. 36), S. 527 - 528. Fritsche (Friedrich) Closener’s Chronik. 1362, in: Die Chroniken der oberrheinischen Städte, Straßburg Bd. 1 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 8), Göttingen 1969, S. 137.

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Entblößung.88 Körperlich entblößt zu sein, gehörte zum Walfahrtsritual und symbolisierte ein hohes Maß an religiös motivierter Außeralltäglichkeit. 89 Die vielen Kinder und Jugendliche, desgleichen die ihren Herrschaften entlaufenen Dienstboten sowie die zahlreichen Männer und Frauen aus allen Schichten der Bevölkeung, die 1475 zum Heiligen Blut nach Wilsnack eilten, hatten sich, wie der Erfurter Vikar und Chronist Konrad Stolle berichtet, »barfuss, halbnackt, in hemden, in ketteln, barhoubt, ane gelt, ane brot unnd ane alle vorsichtigckeit« [Vorbereitung] auf den Weg gemacht. Sie hätten nicht gewußt, »was das heilige blud was, und wusten ouch nicht was sie taten« 90 . Um Erscheinungsformen eines unbedachten Wallfahrtsfiebers zu kritisieren, erzählt der Erfurter Augustinereremit Johannes von Paltz († 1511) folgende Geschichte: ein thüringischer Bauer sei mitten in der Nacht aufgestanden und »nackt« auf seinem Hof erschienen. Hätten ihn seine Frau und sein Gesinde nicht zurückgehalten, er wäre »gänzlich nackt« (nudus omnino) zu einer Wallfahrt aufgebrochen91 – vermutlich nach Grimmental in Sachsen, vielleicht auch nach Wilsnack in der Mark Brandenburg. Der Haller Chronist Georg Widmann berichtet von Wallfahrern, die, als sie 1476 in Niklashausen im Taubergrund waren, um dort der Gottesmutter Maria und dem von ihr inspirierten Prediger, dem Pauker Hans Behem Reverenz zu erweisen, »ihre kleider nackendt biß an das hembdt außzogen, in die kirch warffen und davon zogen«. Bald aber, nachdem sie sich eine Meile weit von Niklashausen entfernt hätten, seien sie von Reuegefühlen geplagt worden. Wiederum nüchtern und vernünftig geworden, verlangten sie danach, »daß sie ihre

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Vgl. dazu Joseph staber , Volksfrömmigkeit und Wallfahrtswesen des Spätmittelalters im Bistum Freising, München 1955, S. 74; Louis carlen, Wallfahrt und Recht, in: Wallfahrt kennt keine Grenzen, hg. v. Lenz k rIss-r ettenbeck / Gerda möhler , München / Zürich 1984, S. 92. Ob die sog. ›Nacktwallfahrten‹ im Recht oder in der Theologie ihren Ursprung haben, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Ob Pilger, die in spätmittelalterlichen Quellen als »nacket vnd blos« beschrieben werden, überhaupt keine Kleider trugen oder nur ihren Oberkörper entblößt gingen, ist von Fall zu Fall zu entscheiden. Vgl. Fried rich zoePFl , Nacktwallfahrten, in: Wallfahrt und Volkstum (Forschungen zur Volkskunde 16/17), hg. v. Georg schreIber , Düsseldorf 1943, S. 266 - 272. Konrad Stolle, Memoriale, Thüringisch-Erfurtische Chronik, ed. Richard thIele (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 39), Halle 1900, S. 377; 378f. Vgl. dazu Klaus schreIner , Peregrinatio laudalibus und peregrinatio vituperabilis. Zur religiösen Ambivalenz des Wallens und Laufens in der Frömmigkeitstheologie des späten Mittelalters, in: Wallfahrt und Alltag in Mittelalter und früher Neuzeit (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-Hist. Klasse Sitzungsberichte 592. Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 14), Wien 1992, S. 133.

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kleider wiederumb hetten«.92 In den Augen kirchentreuer Chronisten war das Verlangen nach Entblößung ein untrügliches Zeichen für die Unvernunft und Ketzerei, die das Volk, die »grossen houffen«, dazu verführen, in kirchlich illegitimen Ritualen Hilfe und Zuflucht zu suchen. Als der Bischof von Würzburg Hans Behem, den Initiator der Wallfahrtsbewegung, durch dreißig Gewappnete zu Pferd gefangennehmen ließ, da saß er, wenn man dem Bericht Konrad Stalles Glauben schenken darf, »nacket in der tafern unnd predigte den luten grosse wunderwergk«. Die Häscher des Bischofs hätten ihn dann »nackt uff eyn pfert« gebunden und zur bischöflichen Burg auf dem Frauenberg in Würzburg gebracht.93 Da sich Hans Behem weigerte, den ihm zur Last gelegten Irrtümern abzuschwören, wurde er – wohl ohne ordentliches Gerichtsverfahren – der Ketzerei überführt und am 19. Juli 1476 verbrannt: »Mit heller Stimme sang er seine deutschen Marienlieder, bis der Rauch die Stimme erstickte. Die Asche wurde, um sie nicht zur Reliquie und die Richtstätte nicht zu einem neuen Wallfahrtsort werden zu lassen, […] in den Main gestreut.« 94 Aus einer Geschichte, die Baldesar Castiglione (1478–1529) in seinem ›Buch vom Hofmann‹ mit ironischer Distanziertheit erzählt, ist anschaulich und genau zu erfahren, welche lebensweltlichen Umstände Christen des späten Mittelalters und der beginnenden Neuzeit mitunter veranlaßten, barfuß einen Gnadenort aufzusuchen. Castiglione berichtet: Drei Gesellen spielten im Wirtshaus Karten. Einer verlor dabei seinen letzten Pfennig, so daß er anfing, wilde Verwünschungen und Flüche gegen Unsere Liebe Frau von Loreto auszustoßen. Seinen beiden Mitspielern gelang es, ihm durch einen hinterhältigen Trick zu suggerieren, daß er blind sei. Der übel Getäuschte glaubte und bekannte: »O meine Brüder, ich bin blind!« Sogleich begann er, »Unsere Liebe Frau von Loreto anzurufen und sie zu bitten, ihm die Flüche und Verwünschungen zu verzeihen, die er gegen sie ausgestoßen hatte, als er das Geld verlor«. Die beiden Gesellen, die das Täuschungsmanöver inszeniert hatten, rieten ihm, »barfuß und nackt zu Unse92 93

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Klaus a rnold, Niklashausen 1476. Quellen und Untersuchungen zur sozialreligiösen Bewegung des Hans Behem und zur Agrarstruktur eines spätmittelalterlichen Dorfes (Saecula Spiritalia 3), Baden-Baden 1980, S. 61. Ebd., S. 263. Entehrung und Entblößung war ein Bestandteil der öffentlichen Buße, deren sich Ketzer unterziehen mußten. Die ›Rats-Chronik der Stadt Würzburg‹ berichtet zum Jahre 1446 folgendes: »ltem a. d. 1446 an sanct Marcus tag (IV 25) gingen vor dem kreutz in der procession 127 persohn von mannen undt von frawen, die in unglauben gefallen waren, undt gingen die mann bis uf die gurtel nackhendt, undt jeglich person truge ein ruten in der handt, undt darnach newet man jeglichem ein creitz uf sein kleider« (Die Rats-Chronik der Stadt Würzburg. XV. und XVI. Jahrhundert, ed. Wilhelm engel [Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 2], Würzburg 1950, S. 17). a rnold (wie Anm. 92), S. 123.

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rer Lieben Frau von Loreto zu wallfahren«, weil dies das beste Heilmittel gegen seine Blindheit sei. Der scheinbar erblindete Kartenspieler glaubte. Der Elende kniete sich sofort in seinem Bett hin »und gelobte feierlich mit unendlichen Tränen und bitterster Reue über sein Fluchen, nackt [d. h. mit entblößtem Oberkörper und ohne Schuhwerk] zu Unserer Lieben Frau von Loreto zu pilgern und ihr ein Paar silberner Augen darzubringen, kein Fleisch am Mittwoch und keine Eier am Freitag zu essen und jeden Sonnabend zu Ehren Unserer Lieben Frau bei Brot und Wasser zu fasten, wenn sie ihm die Gnade erweise, das Augenlicht wiederzugewinnen«.95 Von Wallfahrten, die Christen von sich aus unternehmen, sind gerichtlich verordnete Sühne- und Strafwallfahrten zu unterscheiden. Wer zu einer solchen verurteilt wurde, mußte barfuß gehen. Aus Ratsprotokollen von Schwyz geht hervor, daß Strafwallfahrten nach Einsiedeln barfuß und mit waagrecht ausgestreckten Armen unternommen werden mußten. Die ausgebreiteten Arme, so wurde gesagt, enthalte »Anklänge an ein prangerartiges Strafmittel«, bei welchem »der Missetäter durch gestrecktes Anbinden an Säulen und Pfähle ausgerichtet wurde«.96 Es gibt aber auch Belege, aus denen hervorgeht, daß Wallfahrer erschwerende Wallfahrtsbedingungen – wie das Barfußgehen und das Gehen mit ausgebreiteten Armen – freiwillig auf sich nahmen, um den Ernst ihrer Bußgesinnung sichtbar unter Beweis zu stellen. In solchen Fällen greift der Hinweis auf die Prangerstrafe nicht. Bereits die Kirchenväter haben die beim Gebet waagrecht ausgestreckten Arme mit dem Kreuzestod Christi in Verbindung gebracht. »Der Gläubige, zur imitatio Christi aufgerufen, bekennt und ehrt seinen Erlöser, indem er symbolisch im Gebet die Haltung des an das Kreuz Gehefteten nachvollzieht«.97 Beim Ausbruch der Pest im Jahre 1478 gebot der Berner Rat, daß nach Abschluß der Messe die Männer mit zertanen armen in krutzes wis [mit waagrecht ausgebreiteten Armen nach Art eines Kreuzes] und die frowen mit ufgehepten henden fünf Paternoster und fünf Ave Maria beten sollen. Seit dem späten 15. Jahrhundert ist das Beten mit ausgebreiteten Armen nach gerade »als Symbol eidgenössischer Zugehörigkeit« empfunden worden.98

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Baldesar Castiglione, Das Buch vom Hofmann, übers. u. erläutert von Fritz baumgart, München 1986, S. 218f. carlen (wie Anm. 88), S. 92; ders., Die Strafwallfahrt mit ausgespannten Armen, in: Schweizer Volkskunde 52 (1962), S. 55ff. Peter ochsenbeIn, Das große Gebet der Eidgenossen, Überlieferung – Text – Form und Gehalt, Bern 1989, S. 209. Ebd., S. 350f.

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8. Barfüßigkeit in religiösen Bewegungen des 13. und 14. Jahrhunderts Barfüßigkeit charakterisierte nicht nur Büßer und Pilger. Auch religiöse Bewegungen fanden in den entblößten Füßen ihrer Mitglieder ein Symbol ihres gemeinsamen Wollens. Das trifft sowohl für die barfuß gehenden Minoriten und die Alleluja-Bewegung des Jahres 1233 zu als auch für die Geißlerzüge und jene Bußbruderschaften, die im Jahre 1399 als weißgekleidete Büßer (sog. bianchi) Gottes Erbarmen auf die sündige Welt herabrufen wollten.99 Unverwechselbarkeit besaß die Alleluja-Bewegung durch die Verbindung von Predigt, Friedensstiftung und Buße. Die Bußgesinnung der Beteiligten ist nicht zuletzt daran abzulesen, daß sie sich unbeschuht (discalciati) und barfuß (nudis pedibus) auf den Weg machten, um an den Predigten franziskanischer und dominikanischer Friedensapostel teilzunehmen. Als der Dominikaner Johannes von Vinzenza 1233 in Bologna predigte, wandte er sich nicht nur gegen Wucher und weiblichen Luxus; er besuchte und heilte nicht nur Kranke, sondern forderte auch Mönche und Laien auf, durch eine Bußprozession mit nackten Füßen, die Stadt zu sühnen und von Sündenschuld zu reinigen (urbem nudis pedi­ bus tam religiosos quam laycos lustrare precepit).100 Die büßenden bianchi beriefen sich auf eine Erscheinung der Gottesmutter Maria, die ihnen befohlen habe, sich weiß zu kleiden, barfuß zu gehen und, wenn sie über Land und durch die Städte zogen, misericordia und pace zu rufen.101 Der toskanische Kaufmann Francesco di Marco Datini, der sich an einer solchen Buß- und Friedensprozession beteiligte, berichtet eingehend davon. Kraft »der Eingebung Gottes und seiner Mutter, Unserer Lieben Frau«, notierte er am 28. August des Jahres 1399 in sein Tagebuch, habe er beschlossen, »auf Pilgerfahrt zu gehen, ganz in weißes Leinen gekleidet und barfüßig«, wie es »zu dieser Zeit für die meisten Leute, Männer und Frauen, der Stadt Florenz und des umliegenden Landes Brauch« gewesen sei. »Denn«, so fährt er fort, »in dieser Zeit fühlten alle Menschen, zumindest der größte Teil der Christenheit, sich dazu getrieben, auf Pilgerschaft durch die ganze Welt zu gehen, um Gottes Lohn, von Kopf bis Fuß in weißes Leinen gehüllt […] Und an besagtem Tag machte ich mich auf mit meiner Gesellschaft von meinem Haus an der Piazza de Tornaquinci aus, früh am Morgen; und wir gingen von dort nach Santa Maria Novella, 99

Vgl. dazu Augustine thomPson, O. P., Revival Preachers and Politics in ThirteenthCentury Italy. The Great Devotion of 1233, Oxford 1992; Daniel E. bornsteIn, The Bianchi of 1399. Popular Devotion in Late Medieval Italy, lthaca-London 1993; schreIner (wie Anm. 70), S. 88ff. 100 thomPson (wie Anm. 99), S. 220. 101 bornsteIn (wie Anm. 99), S. 44.

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alle barfüßig, und nahmen dort andächtig den Leib unseres Herrn Jesu Christi in der Kommunion; darauf gingen wir andächtig zum Stadttor von San Gallo hinaus, wo das Kruzifix des Viertels von Santa Maria Novella und das Kruzifix des Viertels von Santa Croce bereit standen […] alle barfüßig mit einer Geißel in der Hand, mit der wir uns selbst schlugen, und wir beschuldigten uns vor dem Herrn Jesus Christus unserer Sünden, andächtig und von ganzem Herzen, wie es jeder gläubige Christ tun sollte«.102 Wo sich Gruppen bildeten, die stellvertretend für die Sünden anderer büßen wollten, war Barfüßigkeit eines ihrer Kennzeichen. Johannes Trithemius (1462–1516), der universalgelehrte Benediktinertheologe, Ordenschronist und Reformabt, berichtet in seiner ›Chronik des Klosters Sponheim‹, im Jahre 1501 seien aus Italien Männer nach Deutschland gekommen, »mit grauen Kitteln bekleidet, das Haupt unbedeckt und mit nackten Füßen, die in den Händen ein kleines hölzernes Kreuz hielten. Sie hatten auch weder einen Sack noch einen Ranzen, nahmen nicht einmal Geld in die Hände und benützten auch keinen Stab. Wein und Bier haben sie nicht getrunken und sich, außer am Sonntag, nur einmal täglich erquickt, indem sie Gemüse und Rettiche mit Salz und Wasser ohne jede Fettigkeit aßen. In der Kirche beteten sie auf die Erde hingestreckt in Gestalt eines Kreuzes und sie besaßen nichts außer dem Kreuz und dem Kittel. Sie gingen in den Städten und Dörfern herum und verweilten an einem Ort nicht länger als 24 Stunden, wenn sie nicht krank waren. Mehrere unter ihnen waren von geistlichem Stand und nahmen jeden, der büßen wollte – ausgenommen Frauen – in ihre Gemeinschaft auf. Als aber 5 Jahre vergangen waren, hörte ihre Buße auf«.103 Eine gewandelte Einstellung zum Barfußgehen gibt ein Dekret Kardinal Albrechts von Brandenburg (vom Jahre 1519) zu erkennen, in dem der Kardinal den alten Brauch, bei Bittprozessionen mit nackten Füßen zu gehen, mit der Bemerkung verbietet, daß dieser Brauch »nicht zur Erbauung und Erhebung, sondern vielmehr zur Herabwürdigung der Religion diene«.104

102 Iris orIgo, »Im Namen Gottes und des Geschäfts«. Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance. Francesco di Marco Datini 1335–1410, München 1985, S. 290. 103 Des Abtes Johannes Trithemius Chronik des Klosters Sponheim, übers. u. hg. v. Carl velten, Bad Kreuznach 1969, S. 224. 104 J. m ay, Beschreibung der von der vormaligen Kollegiatstiftskirche zu den Heiligen Peter und Alexander in Aschaffenburg, in: Archiv des historischen Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg 4,2 (1937), S. 93.

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9. Barfüßige Mönche Mönche, die ihren Beruf als Buße verstanden oder durch regelwidriges Verhalten schwere Schuld auf sich geladen hatten, gingen barfuß. Es sei eine sehr geringfügige Buße (minima pars poenitentiae), versicherte Petrus Damiani (1007– 1072), wenn junge Mönche jahraus jahrein, im Sommer wie im Winter in ihren Zellen weder Schuhe noch Strümpfe tragen. Es sei Brauch, Füße und Beine nackt zu lassen. Nur schwer Erkrankte müßten sich nicht an diese Regel halten. Barfüßigkeit war Bestandteil eines Reformprogramms, das Petrus Damiani in seiner Eigenschaft als Prior von Avellana entworfen hatte, um die eremitische Lebensform seiner Mitbrüder an feste Regeln zu binden. Durchzusetzen vermochte er diese Forderung nicht. Er mußte – dem Zwang der Umstände folgend – den Mönchen einräumen, über den Verzicht oder den Gebrauch von Schuhen selber zu entscheiden.105 In den Klöstern, die sich der Reform von Gorze, Cluny und Fruttuaria angeschlossen hatten, war es üblich, am Mittwoch und Freitag einer jeden Woche sowie an Bitttagen Barfußprozessionen abzuhalten.106 Zugeständnisse in dieser Frage machte Abt Odilo von Cluny (961/62–1049), als er anordnete, daß während der Wintermonate keine Barfußprozessionen mehr stattfinden sollen.107 Bernhard von Cluny fand für diese Regelung Worte warmherziger Zustimmung. »Der heilige Odilo, ein Mann voll Barmherzigkeit«, schrieb er, »wußte, wie schwer manche der Brüder litten, wenn sie bei der Rauheit des Winters (in tanta hiemis aliquando asperitate) barfuß zur Prozession gingen, und hat deshalb diese Prozession an den Mittwochen und Freitagen vom 1. November bis Aschermittwoch in seiner Güte erlassen ( pro pietate sua indulsit)«.108 Bezeichnend für die hygienische Sorgfalt der Cluniazenser ist die Tatsache, daß

105 Gerd zImmermann, Ordensleben und Lebensstandard. Die Cura corporis in den Ordensvorschriften des abendländischen Hochmittelalters, Münster in Westfalen 1973, S. 95; 363. 106 Ebd., S. 363f. 107 Ebd., S. 112. 108 Ebd., S. 396. – Damals gingen die Mönche auch nicht mehr barfuß zur Kommunion, wie das noch ihre priores patres getan hatten. Abt Odilo von Cluny erinnerte in einer seiner ›Collationes‹ (II,28) daran, daß sich die Gründergeneration der Abtei von Moses und dessen Helfer und späterem Nachfolger Josua habe bewegen lassen, mit entblößten Füßen die Kommunion zu empfangen: Quod mysterium Domini corporis qui participare debebant, discalceatis pedibus accedebant; propter illud quod Moysi et Josui praeceptum est (m Igne , PL 133, Sp. 572). – Zum Schuhausziehen der Wüstenväter vor dem Empfang der Kommunion oder vor dem Betreten des Chorraums bei der eucharistischen Feier siehe dölger (wie Anm. 3), S. 102 - 104.

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für das Waschen der Füße nach den Barfußprozessionen eigene Zeiten angesetzt waren.109 Die Gewohnheiten von Fruttuaria sehen außerdem vor, daß der Priester, der an Aschermittwoch die Asche weiht und austeilt, dies ohne Schuhe (discalcia­ tus) tun muß.110 Barfüßigkeit schreiben die ›Consuetudines Fructuarienses‹ auch demjenigen vor, der sich wegen schwerer Schuld (gravior culpa) im Schuldkapitel verantworten muß. Wenn er in den Kapitelsaal gerufen wird, muß er diesen nu­ datis pedibus betreten und sich mit dem ganzen Körper zu Boden werfen und den Abt um Vergebung bitten. Hat ihn der Abt freigesprochen, soll er dessen Füße küssen. Erst dann darf er sich erheben und wieder seine Schuhe anziehen.111 Die Bräuche des Regularkanonikerstifts Klosterrath bestimmten, dass die Kanoniker an Karfreitag von der Matutin bis zum Mittagessen keine Schuhe tragen dürfen. Am Karsamstag sollte dies von der Matutin bis zur Prim der Fall sein.112 Im Kloster Montecassino waren die Mönche des Glaubens, durch barfüßige Bußprozessionen drohendes Unheil abwenden zu können. Im Jahre 846, als Abt und Konvent fürchteten, von Sarazenen niedergemetzelt zu werden, zogen sie mit nackten Füßen, mit Asche auf dem Haupt und Litaneien singend (nudis pedibus et cinere asperso capite, cum letaniis) zum Grab des hl. Benedikt. Dieser sollte von Gott durch seine Fürsprache erreichen, daß er ihnen Milde (clementia) gewähre. Glaubten doch die Mönche, daß der Allmächtige beschlossen habe, sie einem plötzlichen Tod auszuliefern. Als im Jahre 1062 ein Blitz im Kloster einschlug, einen Mönch und einen Novizen tötete und die Umstehenden wie tot zu Boden warf, beschlossen Abt und Konvent, um Gottes Zorn zu versöhnen, an jedem ersten Freitag im Monat zu fasten und barfuß (discalciatis pedibus) eine besondere Messe zu halten.113 Desgleichen wollten sie der täglichen missa publica und dem täglichen Psalmengebet ein besonderes Gebet zur Abwehr von Blitzen hinzufügen. Im Januar 1237 machten sich zwölf Mönche des Klosters discalciatis pedibus auf den Weg zum Kanzler des normannischen Königs, um diesen zu bitten, dem Abt und Konvent Zeit für eine gemeinsame Antwort an den König zu gewähren, der das Kloster in seine Gewalt bringen wollte.114 Ein Ereignis, das Mönche zu gemeinschaftlicher Buße und Barfüßigkeit veranlaßte, beschreibt auch Hermann von Tournai († 1147) in seinem ›Liber

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Ebd., S. 123; 416. Ebd., S. 65; 86. Ebd., S. 50. Consuetudines canonicorum regularium Rodenses. Die Lebensordnung des Regularkanonikerstiftes Klosterrath, Zweiter Teilband, ed. Stefan weInFurter , übers. und eingeleitet von Helmut deutz (Fontes Christiani 11/2), Freiburg i. Br. 1993, S. 373. Chronik von Montecassino (wie Anm. 36), S. 77f.; 386. Ebd., S. 561.

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de restauratione S. Martini Tornacensis‹.115 Die Kleriker von Tournai waren mit dem Kloster St. Martin wegen Zehnt- und Begräbnisrechten in Streit geraten. Als die städtischen Kleriker durch gedungene Ritter einen Hof des Klosters plündern ließen, schickte Abt Segardus einen Mönch, der im Weltleben ein tüchtiger Ritter (strenuus miles) gewesen war, an den Ort des Geschehens. Dieser sollte das Treiben der ritterlichen Räuber unterbinden. Diese haben aber den Mönch übel gequält und mißhandelt, weswegen die Verwandten des Mönches gegen die Kleriker und ihre Helfer gewaltsam vorgingen. Achtzehn von den letzteren haben sie getötet, einigen die Füße abgehauen, alle anderen in die Flucht geschlagen. Einige von den für die Belange des Klosters kämpfenden Ritter glaubten, über sich in den Lüften den hl. Martin gesehen zu haben, wie er auf einem weißen Pferd saß und mit gezücktem Schwert die Gegner des Klosters in die Flucht schlug. Als Abt Segardus bemerkte, daß einige der jüngeren Mönche ob des Sieges vor lauter Freude in Jubel ausbrachen, ging er in die Kirche, warf sich vor dem Altar zu Boden und weinte bitterlich – zum einen für die Seelen der Erschlagenen, zum anderen für die Ausgelassenheit der jungen Mönche. Deren Rachegesinnung und Schadenfreude empfand er als regelwidrig. Deshalb ordnete er für den folgenden Tag ein gemeinschaftliches Fasten bei Wasser und Brot an. Auch sollten die Mönche – wie an Karfreitag – mit nackten Füßen aufstehen, nach der Prim den ganzen Psalter beten, eine Prozession machen und sich im Kapitel ihre »Disziplin« (d. h. einen Rutenstreich) geben lassen. Der Chronist stellt abschließend fest: Die Andacht der Mönche gefiel Gott und wirkte sogleich. Bei den franziskanischen Bettelmönchen des 13. Jahrhunderts war Barfüßigkeit nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Im Barfußgehen, das Jünger des hl. Franziskus, die fratres minores, pflegten, sah Bonaventura (1217–1274) ein Zeichen wörtlich verstandener Nachfolge Christi. Hatte doch Jesus zu seinen Jüngern gesagt, sie sollten sich »ohne Beutel, ohne Tasche und ohne Schuhe« (sine cal­ ceamentis) auf den Weg machen und den Menschen das Evangelium verkünden (Luk. 10,4; 22,35). »In diesem Punkt«, beteuerte Bonaventura, »ahmen sie [die minderen Brüder] den Herrn und seine Apostel nach, weil dies das Evangelium ausdrücklich lehrt« (in hoc ipsum Dominum imitantur [fratres minores] et Apostolos suos, quia hoc docet Evangelium manifeste).116 115 116

Hermann von Tournai, Liber de restauratione S. Martini (Anm. 82), S. 317. Bonaventura, Expositio super regulam fratrum minorum, in: S. Bonaventurae opera omnia, Bd. 8, Ad Claras Aquas 1898, S. 404. – Wie wichtig Bonaventura die Frage nach der theologischen Begründung der franziskanischen Barfüßigkeit war, ist auch daran abzulesen, daß er einen eigenen Traktat über das Schuhwerk und die Barfüßigkeit Jesu und der Apostel verfaßte. Vgl. Bonaventuras ›Epistola de sandaliis apostolorum sive de eo quod Christus et apostoli et discipuli eius incesserunt discalceati‹, in: ebd., S. 386 - 390.

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Bonaventura nennt sechs Gründe, die seiner Auffassung nach Christus bewogen hatten, den Aposteln den Gebrauch von Schuhen zu verbieten. Barfüßigkeit habe ihnen Christus geboten zum Erweis äußerster Armut (ad indicium paupertatis extremae); als Ansporn zu demütiger Buße (ad incitamentum humilitatis poenitentiae); habe doch David allen Büßern ein Beispiel gegeben, als er nudis pe­ dibus auf den mit Olivenbäumen bewachsenen Hügel stieg, um seine Sünden zu beweinen; zum Erweis spontanen Gehorsams (ad testimonium obedientiae promptae); zur Führung eines harten, entsagungsvollen Lebens (ad exercitium vitae austerae); zum Zeichen für die Trennung von allem Fleischlichen (in signum elongationis ab omni carnalitate), weswegen Gott dem Moses geboten habe, die Schuhe auszuziehen, und schließlich zum Erweis vollkommener Tugend (ad perfectae virtutis insigne).117 Andere Akzente setzte Albertus Magnus (um 1200–1280), als er in seinem Lukas-Kommentar auf die Aussendungsrede Jesu zu sprechen kam, in der dieser seinen Jüngern das Tragen von Schuhen untersagt hatte. Der Dominikanertheologe Albert weiß um die traditionelle Symbolik, derzufolge Schuhe an den Tod erinnern. Zugleich betont er jedoch, Jesus habe das Tragen von Schuhen nicht generell verboten, sondern nur vor überflüssiger Sorge um Schuhwerk (superflua sollicitudo calceamentorum) gewarnt. In einer Weltgegend, in der der Boden warm sei, bestünde keine Notwendigkeit, seine Gedanken auf Schuhe zu verwenden, die nur zur Zierde und zum Schmuck dienen. Albert vergißt auch nicht, darauf hinzuweisen, daß nach der Version des Evangelisten Markus Jesus den Aposteln das Tragen von Sandalen gestattet habe (Mark 6,34). Zudem gebe es Bibelstellen, die das Tragen von Schuhen nachgerade zur Pflicht machen; habe doch auch der Engel zu Petrus gesagt: »Ziehe deine Schuhe an« (Apg 12,8). Zudem sei es nach den Sitten und Lebensgewohnheiten der Menschen (secundum civilitates hominum et mores) unehrenhaft, die Füße zu entblößen; nachgerade unsittlich sei es, wenn man Frauen die nackten Zehen der Füße zeige.118 Indes dachte auch Bonaventura nicht daran, aus dem Barfußgehen der Apostel eine für alle Christen verbindliche Regel zu machen. Man könne nicht von der Annahme ausgehen, so seine Überlegung, daß Christus in seiner Jugend und 117 118

Bonaventura, Apologia pauperum, in: ebd., S. 306f. Albertus Magnus, In evangelium secundum Lucam, in: B. Alberti Magni opera omnia, ed. Steph. Caes. Aug. borgnet, Bd. 23, Paris 1895, S. 18. – Wenn Frauen in der mittelalterlichen Kunst mit einem nackten und einem beschuhten Fuß dargestellt werden, ist der nackte Fuß gemeinhin als Merkmal des Unkeuschen und Verwerflichen zu deuten – dies zumal dann, wenn besagte Frauen zusammen mit einem Schaf- oder Ziegenbock, dem Sinnbild unzüchtiger Sinnenlust, dargestellt werden. Vgl. Werner weIsbach, »Ein Fuß beschuht, der andere nackt«. Bemerkungen zu einigen Handzeichnungen des Urs Graf, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 4 (1942), S. 108 - 122.

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vor seinem dreißigsten Lebensjahr keine Schuhe getragen habe. Barfuß gegangen sei er erst dann, als er seinen Jüngern den Gebrauch von Schuhen untersagt habe. Bonaventura bringt auch in Erinnerung, daß Jesus die »Nackt heit der Füße« ( pedum nuditas) nicht allen Christen zur Pflicht gemacht habe, sondern nur seinen Aposteln und jenen, die sich aus freien Stücken dazu entschließen konnten, es diesen gleichzutun. Barfüßigkeit machte Bonaventura zu einem Merkmal der vita apostolica.119 Bonaventura ist jedoch kein so weltfremder Asket, um nicht zu wissen, daß die pedum nuditas eine harte Bußübung bildet – im Winter wegen der unbarmherzigen Kälte, im Sommer wegen der schwer erträglichen Hitze. Dennoch würden sich die Franziskanermönche, ohne Schmerzen und Strapazen zu scheuen, in die entlegensten Regionen der Welt begeben. Um das Wort Gottes (verbum Dei) überall kundzutun, sei ihnen die pedum nuditas nicht hinderlich, zumal ihnen die Regel erlaube, necessitate cogente, in Not- und Zwangssituationen also, Schuhe zu tragen.120 Spätmittelalterliche Kommentatoren der Franziskusregel führten Debatten darüber, was denn eine urgens necessitas sei, die Dispens vom Barfußgehen rechtfertige, und ob denn das Verbot, calciamenta, geschlossenes Schuhwerk, zu tragen, auch offenes Schuhwerk, sandalia, einschließe.121 In der chronikalischen Überlieferung wurden die von Franziskus abgelegten Schuhe zum Symbol der von ihm zu seiner Braut erwählten Armut. »Unbeschuht« (discalceatus) habe Franziskus die Botschaft Jesu verbreitet und die apostolische Lebensform ergriffen.122 Der Franziskaner Julian von Speyer (um 119 Bonaventura, Expositio super regulam (wie Anm. 116), S. 404. 120 Ebd., S. 403. 121 Expositio quatuor magistrorum super regulam fratrum minorum (1241–242), ed. Livarius olIger (OFM), Rom 1950, S. 134 - 136; Hugh of Digne’s Rule Commentary, ed. David Flood (Spicilegium Bonaventurianum 14), Grottaferrata (Rom) 1979, S. 110 - 112; Peter Olivi’s rule Commentary, ed. David Flood (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 67), Wiesbaden 1972, S. 133. 122 Rogeri de Wendover liber qui dicitur Flores Historiarum (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores 84,2), New York 1965 (Nachdruck der Ausgabe London 1889), S. 329; Matthaei Parisiensis Chronica majora (Rerum Britan nicarum medii aevi scriptores 37,3), Nedeln 1964 (Nachdruck der Ausgabe London 1883), S. 131. – Der Meister des Bardi-Retabels (1254/66) hat auf seiner Vita-Retabel des hl. Franziskus (1254/66) dargestellt, wie sich der Heilige seiner Schuhe entledigte, um ohne Abstriche und Kompromisse den in der Heiligen Schrift überlieferten Weisungen Jesu gerecht zu werden. In den insgesamt zwanzig Szenen, in denen der Maler das Leben des Poverello aus Assisi schildert, bildet das Ausziehen der Schuhe einen biographisch bedeutsamen Einschnitt. Vgl. dazu Niederösterreichische Landesausstellung: 800 Jahre Franz von Assisi. Franziskanische Kunst und Kultur des Mittelalters, Krems-Stein, Minoritenkirche 15. Mai–17. Oktober 1982, Wien 1982, S. 533. In seiner Darstellung folgt der Maler einer Franziskus-Vita des Thomas von Celano (I,12). Diese berichtet: Als in der Kirche von Portiuncula das Evangelium von der Aussendung der Jünger (Matth. 10)

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1250) deutete die Entschlossenheit des Heiligen, auf Kleider und Schuhwerk zu verzichten, als wörtlich verstandene Maxime, nackt dem nackten Christus folgen zu wollen. Die Emanzipation des hl. Franziskus von seinen Eltern sah er so: Er »zog alle seine Kleider aus und, nicht einmal die Unterkleider behaltend, gab er alles dem Vater zurück. So blieb er völlig nackt vor jedermanns Angesicht und bezeichnete sich als einen Fremdling in der Welt.« Doch der anwesende Bischof nahm ihn in seine Arme und bedeckte ihn mit seinem Mantel: »Nun hatte der nackte Gottesmann sich mit dem Nackten am Kreuz gleichgemacht, nun hatte er auf vollkommene Weise den Rat erfüllt, allem zu entsagen«.123 Das Beispiel des Franziskus steckte an. Bernhardin von Siena (1380–1444), der große franziskanische Volksprediger, ging bis an sein Lebensende barfuß. »Wenn Du«, predigte er »ins ewige Leben eingehen willst, entblöße die Füße, das bedeutet: entblöße Dich von irdischen Gefühlen. […] Schuhe sind von toten Tieren gemacht: sie sind aus Leder. Zieht sie aus, zieht sie aus!«124 Kein Schuhwerk zu tragen machte angesichts sich neu formierender Orden die franziskanischen Minderbrüder unver wechselbar. Wer jedoch als Franziskaner Schuhe trug, geriet in Mißkredit. Thomas von Eccleston schildert in seinem ›Bericht von der Ankunft der Minderbrüder in England‹ einen solchen Fall. »Da geschah es nun«, erzählt Thomas von Eccleston, »daß Bruder Walther von Madeley guten Angedenkens zwei Schuhe fand und sie sich anzog, als er zur Matutin ging. So stand er nun da während der Matutin, und es dünkte ihm, er fühle sich so wohler als sonst. Nachher aber, als er zu Bett gegangen war und ruhte, schien es ihm, er müsse durch die gefährliche Schlucht zwischen Oxford und Gloucester hindurch, die man Besselsleigh nennt, wo sich gewöhnlich Räuber aufhielten. Und als er nun in das tiefe Tal hinabstieg, liefen sie von beiden Seiten des Weges herbei, schreiend und rufend: ›Schlagt ihn tot! Schlagt ihn tot!‹ Aufs äußerste erschreckt, rief er, er sei ein Minderbruder. Doch jene riefen: ›Du lügst, du läufst ja nicht barfuß!‹ Jener aber, in der Meinung, er sei wie gewöhnlich barfuß, sagte: ›Doch! Ich laufe barfuß!‹ und als er ganz selbstsicher seinen Fuß vorstreckte, fand er sich vor ihren Augen mit den besagten Schuhen vorgelesen wurde und Franziskus hörte, »daß die Jünger Christi nicht Gold oder Silber noch Geld besitzen, noch Beutel, noch Reisetasche, noch Brot, noch einen Stab auf dem Weg mitnehmen, noch Schuhe, noch zwei Röcke tragen dürfen, sondern nur das Reich Gottes und Buße predigen sollen, frohlockte er […] und sprach: ›Das ist’s, was ich will, das ist’s, was ich suche, das verlange ich aus Herzensgrund zu tun […]‹ Allsogleich löste er die Schuhe von den Füßen, legte den Stab aus der Hand und, zufrieden mit einem einzigen Habit, vertauschte er den Ledergürtel mit einem Strick« (ebd.). 123 Julian von Speyer, Leben des Heiligen Franziskus, eingel. und übers. von Jason M. m Iskuly / Maria-Sybille bIenentreu, Werl (Westfalen) 1989, S. 56. 124 Iris orIgo, Der Heilige der Toskana, Leben und Zeit des Bernardino von Siena, München 1986, S. 25.

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bekleidet. Und vor übergroßer Verwirrung wachte er sogleich vom Schlafe auf und schleuderte die Sandalen mitten auf den Hof.«125 Barfüßigkeit bildete ein sicheres Kriterium, um die Franziskaner von Waldensern, die ihr äußeres Auftreten gleichfalls an den Aussendungsreden Jesu ausrichteten, unterscheiden zu können. Wurden die Franziskaner »Barfüßer« (nudipedes) genannt, brachte den Waldensern, die offene Sandalen (calceamenta de­ super aperta) trugen, ihr Schuhwerk den populären Namen die »Unbeschuhten« (discalceati), Sandalen- oder »Latschenträger« (insabbatati) ein.126 Bei der Aufnahme in die waldensische Gemeinschaft gelobte der neue Prediger, als Zeichen seiner Predigerwürde Sandalen zu tragen.127 Die Hartnäckigkeit, mit der die Waldenser an der Sandalentracht festhielten, als sie Innozenz III. in den Schoß der Kirche zurückführen wollte,128 beleuchtet die Bedeutung äußerer Zeichen für das Selbstverständnis und Zusammengehörigkeitsbewußtsein von Gruppen. Die von den Waldensern getragenen Sandalen waren »das Standesabzeichen, das Merkmal der Zugehörigkeit zur Predigergemeinschaft der Pauperes spiritu«.129 In einem Brief vom 5. Juli 1209 beschwor Innozenz III. den um- und rückkehrwilligen Durandus von Osca, auf die anstößigen Sandalen zu verzichten, um orthodoxe von nichtorthodoxen Waldensern unterscheiden zu können.130 Keine Schuhe zu tragen, wurde zu einem verläßlichen Indikator von Rechtgläubigkeit. Widerspruch regte sich im späten Mittelalter gegen die Begharden, die in der Öffentlichkeit barfüßig und mit langem offenen Haar gingen. Gegner verwiesen auf das Beispiel des ägyptischen Mönchsvaters Appollonius († Ende des 4. Jahrhunderts), der demonstrative Askese strikt abgelehnt hatte und nur solchen asketischen Übungen einen spirituellen Wert beimaß, die im Verborgenen stattfanden.131

125 Nach Deutschland und England. Die Chroniken der Minderbrüder Jordan von Giano und Thomas von Eccleston, ed. Lothar h ardIck (Franziskanische Quellenschriften 6), Werl (Westf.), S. 152. 126 Kurt-Victor selge , Die ersten Waldenser, Bd. 1: Untersuchung und Darstellung (Arbeiten zur Kirchengeschichte 37), Berlin 1967, S. 139; 270 und Anm. 118; Rolf zerFass , Der Streit um die Laienpredigt. Eine pastoralgeschichtliche Untersuchung zum Verständnis des Predigtamtes und zu seiner Entwicklung im 12. und 13. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1974, S. 72; Malcolm D. l ambert, Ketzerei im Mittelalter. Häresien von Bogumil bis Hus, München 1977, S. 117f. 127 selge (wie Anm. 126), S. 244. 128 Vgl. dazu zerFass (wie Anm. 126), S. 72f.; 149; 223. 129 selge (wie Anm. 126), S. 140. 130 zerFass (wie Anm. 126), S. 216. 131 Universitätsbibliothek Basel, Handschrift A. X 130, fol. 352v: Contra Beghardos publice ambulantes comate nudipedes excerptum ex Vitis patrum.

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10. Barfüßiger Amtsantritt von Bischöfen Neugewählte Bischöfe pflegten im Sattel eines Pferdes in die Stadt ihres künftigen Bischofssitzes einzureiten, um sich weihen und inthronisieren zu lassen. Bischöfe, die mit nackten Füßen die Stadt betraten, wollten ein Beispiel der Demut geben, vor allem aber zum Ausdruck bringen, daß sie ohne herrschaftliche Allüren die religiösen Pflichten ihres Amtes erfüllen wollten. Adalbert von Prag wurde im Juni 983 von Williges von Mainz, dem Metropoliten der Prager Diözese, zum Bischof von Prag geweiht. Als er, von Verona kommend, wo ihn Otto II. investiert hatte, in seine Heimat kam, betrat er, wie Cosmas von Prag berichtet, »mit nacktem Fuß und demütigem Herzen« (nudo pede et humilo corde) die Stadt.132 Als Heribert von Köln im Jahre 999 sein Bischofsamt antrat, ging er nudis pedibus in die Stadt.133 Rupert von Deutz, der ebenfalls davon berichtet, erwähnt eigens, Heribert habe durch seine Barfüßigkeit zeigen wollen, daß er seine Berufung zum Bischof nicht ad regna gentium, sondern ad ministerium sanctorum Christi discipulorum verstanden wissen wolle.134 Der zum Bischof von Lyon gewählte Friederich wurde im Jahre 1119 auf dem Konzil von Reims von Papst Calixt II. geweiht. Mit »nackten Füßen« (nudis pedibus) kehrte der Geweihte in seine Heimatstadt zurück.135 Dem fügte der Chronist hinzu: Die Bischöfe von Beauvais würden sich bis heute an diese Gewohnheit halten. Der Verfasser der ›Vita Theogeri‹ berichtet, der Abt des Reformklosters St. Georgen im Schwarzwald sei, als er Bischof von Metz wurde, barfüßig (nudis pedibus) in die Stadt eingezogen.136 Barfüßigkeit enthielt ein Bekenntnis zur Erneuerung der Kirche und ihres geistlichen Sendungsauftrages. Barfüßigkeit und aristokratischer Lebensstil schlossen sich jedoch bei Bischöfen des 12. Jahrhunderts nicht aus. In Ebbos Vita Bischof Ottos von Bamberg (um 1065–1139) wird berichtet, der spanische Eremit Bernhardus sei bei seinen Christianisierungsversuchen in Pommern nicht zuletzt deshalb gescheitert, weil er den heidnischen Pommeranen in ärmlichem Aufzug und 132 Cosmas von Prag, Chronica Boemorum 1,26, ed. Berthold bretholz (MGH Scriptores rer. Germ. NS 2), Berlin 1923, S. 49. 133 Vita S. Heriberti archiepiscopi Coloniensis auctore Lantberto monacho Tuitensi, ed. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 4), Hannover 1841, S. 744. Vgl. W. M. grauwen, De betekenis van het blootsvoets lopen in de middeleeuwen, voornameljk in de 12de eeuw, in: Archives et blibliothèques de Belgique 42 (1971), S. 151. 134 Rupert von Deutz, Vita Heriberti. Kritische Edition mit Kommentar und Untersuchungen, hg. v. Peter dInter , Bonn 1976, S. 43f. 135 Vita Frederici episcopi Leodiensis, ed. Wilhelm wattenbach (MGH SS 12), Hannover 1856, S. 504. 136 Vita Theogeri abbatis S. Georgii et episcopi Mettensis, ed. Philipp jaFFé (MGH SS 12) Hannover 1956, S. 478.

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barfuß das Evangelium verkündet habe. Bischof Otto von Bamberg hingegen, ein Mann von adligem Stamme (generosa stirpe), der kostbare Gewänder trug, zu Pferd kam und von einem berittenen Gefolge begleitet wurde, habe erreicht, was dem spanischen Asketen mißlungen sei: die Bekehrung der Pommeranen zum Christentum.137 Derselbe Otto von Bamberg stieg jedoch, wenn er nach Bamberg zurückkehrte, von seinem Pferd ab, löste seine Schuhriemen und betrat nudipes die Stadt138 , um, wie der Benediktiner Herbord vom Kloster Michelsberg ob Bamberg in seiner 1159 abgefaßten Biographie Bischof Ottos schreibt, durch sein körperliches Aussehen (habitu corporis) die Demut seines Herzens (humilitatem cordis) zu zeigen139, oder, wie Ebbo meint, um als barfüßiger Fußgänger ein Beispiel wahrer Demut und unbesiegbarer Großherzigkeit zu geben (ad demonstranda verae humilitatis et invictae magnanimitatis exempla).140 Aus englischen Klosterchroniken des 12. Jahrhunderts ist zu erfahren, daß Äbte, wenn sie von ihrer Weihe durch den zuständigen Ortsbischof ins Kloster zurückkehrten, an der Klosterpforte vom Pferd stiegen und ihre Schuhe auszogen, um barfüßig vom Prior und Sakristan ins Kloster geleitet zu werden.141 Indem sie das taten, erwiesen sie dem Kloster als einem von Gott geheiligten Bezirk Reverenz. Zugleich brachten sie zum Ausdruck, daß sie im Kloster nicht herrschen, sondern dienen wollen. Die Barfüßigkeit von Bischöfen war eine zeitlich begrenzte Erscheinung. Ob Bischöfe barfuß gehen, Schuhe tragen oder ein Pferd benutzen wollten, wenn sie nach ihrer Wahl in die Stadt zogen, um sich weihen und inthronisieren zu 137 Vgl. dazu Klaus schreIner , Sozial- und standesgeschichtliche Untersuchungen zu den Benediktinerkonventen im östlichen Schwarzwald (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen 31), Stuttgart 1964, S. 96 Anm. 25. – Eine andere Verkündigungsstrategie erforderte die Bekehrung von Ketzern. Der Verkündigungsstil gegenüber häretischen apostolischen Gruppen, argumentierte der hl. Dominikus, mache es christlichen Predigern zur unabdingbaren Pflicht, Beispiele der Demut, der Geduld, Frömmigkeit und Tugend zu geben. Einen Bischof in Südfrankreich konnte er davon überzeugen, daß sein Auftreten mit Pomp ( pompa) und weltlichem Gepränge (ostentatio gloriae secularis) der falsche Weg sei, so es darauf ankomme, abtrünnige Ketzer in den Schoß der Kirche zurückzuführen. Der Ordens- und der Kirchenmann verständigten sich dann dahingehend, barfuß (discalceati) das Gespräch und die Auseinandersetzung mit den Ketzern zu suchen (Acta ampliora S. Dominici confessoris, in: Acta Sanctorum Augusti, Bd. 1, Antwerpen 1733, S. 570). 138 Ebbonis vita Ottonis, ed. Rudolf koePke (MGH SS 12), Hannover 1856, S. 829; Monachi Prieflingensis vita Ottonis, in: ebd., S. 885. 139 Herbordi vita Ottonis (wie Anm. 138), S. 753. 140 Ebbonis vita Ottonis (wie Anm. 138), S. 829. 141 Cronica Jocelini de Brakelonda de rebus gestis Samsonis abbatis monasterii Sancti Edmundi/The Chronicle of Jocelin of Brakelond concerning the acts of Samson Abbot of the monastery of St. Edmund, übers. v. H. E. butler / D. l Itt, London 1949, S. 23.

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lassen, blieb offenkundig ihrer persönlichen Entscheidung überlassen. Die Kritik am Pferdeluxus von Bischöfen, Äbten und päpstlichen Legaten ging nicht so weit, kirchlichen Würdenträgern Barfüßigkeit zur Pflicht zu machen. Für die öffentliche Selbstdarstellung von Bischöfen gab es keine Ordnung, die über ihr Schuhwerk bindende Vorschriften gemacht hätte. Daß ihnen bei der Weihe Sandalen angelegt wurden, deren Zeichenhaftigkeit Barfüßigkeit ausschloß, schränkte ihren Entscheidungspielraum ein. Hinzu kamen verinnerlichte Regeln der Sittsamkeit, die Barfüßigkeit als einen standes- und sittenwidrigen Gestus erscheinen ließen. Bischöfe des 11. und 12. Jahrhunderts, die keine Bedenken trugen, sich ihres Schuhwerks zu entledigen, taten dies, um Demut und Reformwillen unter Beweis zu stellen. Bei den Päpsten war es nicht anders. Der reitende Papst gehörte zum geläufigen Erscheinungsbild des römischen Papsttums. Nur Außenseiter wie Coelestin V., der »Engelspapst«, benutzten einen Esel. Um »reformerische Einfachheit« zu bekunden, war Papst Leo IX. 1049 barfuß und in einem Pilgergewand in Rom eingezogen.142 Leo und Coelestin blieben Ausnahmen, deren Verhalten keine Nachahmer fand. Der Brauch, daß ein Bischof barfüßig sein Amt antritt, überdauerte die Jahrhunderte anscheinend nur in Würzburg. In der Bischofsstadt am Main ist die Barfüßigkeit des Bischofs bei seiner Weihe und Inthronisation förmlich ritualisiert worden. Lorenz Fries (1491–1550) berichtet darüber in seiner ›Chronik der Bischöfe von Würzburg‹ (742–1495): »So oft ain newer bischof erwelt würde, der selbig nach empfahung seiner weihe vf ainen benanten tag barfus vnd barhaübt in einem grahen rocke mit ainem stricke vmb gegurtet von dem brückenthor am Main den marckte gericht herauf bis an die greden [Stufen, die zur Vorhalle des Domes führen] durch die gemelten vier ambtgraüen [Marschall, Truchsäß, Schenk, Kämmerer] gefurt vnd gelaitet, da er von dem domdechant, so mit der gantzen clerisei vf der greden erscheinen vmb das erbe des hailigen sant Kilians als ein demutiger bischoff ansuchen vnd biten, vnd so ime das zugesagt worden, als dan wider mit claideren ainem bischof getzimend angelegt in den dom des Saluators gehen, dem almechtigen lob vnd danck sagen vnd nach volbrachtem gotlichem ambte als ain hertzog zu roß sitzend, da dan im vfsitzen der marschalck jme den stegraiffe halten, in sein gewonliche behaüsung oder sale reitten vnd mit den fursten, so ime zu ehren erscheinen, auch des stifts grafen, freien vnd adel zum morgen mal nidersitzen vnd die vier erbgrafen obgenant jre ambte verwesen sollen. Wa auch volgends ain bischof in gemeinen versamlungen oder herlichen grossen taegen, es treffe geistliche oder weltliche sachen an, oder jn sunderen ansehenlichen kirchfesten vnd processionen sein oder sunst vf die hochtzeitlichen feste 142

Jörg traeger , Der reitende Papst. Ein Beitrag zur Ikonographie des Papsttums (Münch ner kunsthistorische Abhandlungen 1), München / Zürich 1970, S. 110 u. Anm. 14.

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in der dom kirchen personlich erscheinen wurd, das der furnemsten seiner edlen rathe ainer ime als dem hertzogen vnd von des hertzogthumbs wegen ain schwert furtragen solte.«143

11. Barfüßigkeit als Ritual der Herrscherbuße Bischöfe und Äbte, die sich ihrer Schuhe entledigten und barfuß gingen, machten ihren Körper zu einem Mittel der Kommunikation. Durch den Gestus der Barfüßigkeit gaben sie ihm eine Sprache, mit deren Hilfe sie anderen ihre Gesinnung und ihr Amtsverständnis mitteilten. Franziskaner, die barfuß gingen, folgten dem Beispiel Christi. Öffentlich vollzogene Kirchenbuße, die von neuem in die Gemeinschaft der Christen eingliederte, gab barfuß gehenden Poenitenten ihre Sozialfähigkeit zurück und diente der Wiederherstellung einer gekränkten Rechtsordnung. In Buß-, Satisfaktions- und Unterwerfungsritualen, denen sich im frühen und hohen Mittelalter Könige, Kirchenfürsten und Männer des hohen Adels unterwarfen, sind religiöse Sinngehalte und politische Zwecke eng miteinander verwoben. Sie sollen nicht alle namentlich aufgelistet werden – die vielen büßenden Herrscher, die sich vom beginnenden 9. Jahrhundert bis ins ausgehende 12. Jahrhundert den rituellen Formen der Herrscherbuße unterwarfen, um ihr sündiges Fehlverhalten öffentlich kundzutun. Die Reihe der kaiserlichen und königlichen Büßer reicht von Ludwig dem Frommen bis Heinrich II., den englischen König, der 1174 Buße tat, weil königliche Vasallen Thomas Becket, den Erzbischof von Canterbury, ermordet hatten.144 Ich beschränke mich auf zwei Fälle, um Herr143

Lorenz FrIes, Chronik der Bischöfe von Würzburg 742–1495, Bd. 2: Von Embricho bis Albrecht II. von Heßberg (1127–1376), bearb. von Christoph bauer u. a., Würzburg 1994, S. 53. – Auf das Barfußgehen des Würzburger Bischofs hat mich Kollege Dietmar Willoweit, Würzburg, in seinem Diskussionsbeitrag zu meinem Vortrag bei der Tagung des Konstanzer Arbeitskreises auf der Reichenau aufmerksam gemacht. 144 Harald zImmermann, Der Canossagang von 1077. Wirkungen und Wirklichkeit (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 5), Mainz 1975, S. 165. Vgl. auch Mayke dejong, Power and humility in the Carolingian society: the public penance of Louis the Pious, in: Early Medieval Europe 1 (1992), S. 29 - 52; Rudolf schIeFFer , Von Mailand nach Canossa. Ein Beitrag zur Geschichte der christlichen Herrscherbuße von Theoderich d. Gr. bis Heinrich IV., in: Deutsches Archiv 28 (1972), S. 333 - 370. Zur Buße Heinrichs II. vgl. zIm mer mann, Canossagang, S. 165: »Die Buße Heinrichs II. in Canterbury 1174 erfolgte nicht vor einem Papst, sondern vor den Reliquien des kürzlich als Märtyrer kanonisierten Thomas Becket, zu dessen Grab der König in härenem Buß-

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scherbuße als einen Akt friedenstiftender ritueller Kommunikation kenntlich zu machen: die Herrscherbuße des Theodosius und den Canossagang Heinrichs IV. Die Geschichte der abendländischen Herrscherbuße beginnt mit der Kirchenbuße des Theodosius, eines rechtgläubigen, getauften und kirchenfrommen Kaisers, dem Ambrosius durch das Ritual der Buße die Grenzen kaiserlicher Gewalt zum Bewußtsein bringen wollte. Zur öffentlichen Buße hat Ambrosius den Kaiser deshalb gezwungen, weil dieser 390 in Thessalonike nach der Ermordung eines römischen Offiziers ein Blutbad unter der Bevölkerung hatte anrichten lassen.145 Die überlieferten Quellen berichten von Tränenströmen, durch die Theodosius seine Bereitschaft zur Buße öffentlich bekannt habe, nicht aber von entblößten Füßen, die des Kaisers Büßerrolle noch stärker zur Anschauung hätten bringen können. In der Kirche, schreibt Ambrosius (339–397), habe er öffentlich seine Sünde beweint (deflevit in Ecclesia publice peccatum suum); unter Seufzern und Tränen habe er um Gnade gebeten (gemitu et lacrymis oravit veniam).146 Unter Tränen habe er seine Schuld bekannt, berichtet Rufinus (um 345–410) in seiner ›Kirchengeschichte‹ (culpam cum lacrymis professus). Ohne seinen kaiserlichen Ornat (absque regali fastigio; absque imperiali fastu) habe er »öffentliche Buße« ( publica poenitentia) getan.147 Bischof Theodoret von Cyrus (um 393–um 460), von dem gesagt wurde, daß er den Konflikt zwischen dem Mailänder Bischof und dem römischen Kaiser mit viel »Phantasie und Rhetorik« ausgeschmückt habe,148 schildert in seiner ›Kirchengeschichte‹ den Vorgang so: »In der Kirche bleibt er [Theodosius] nicht stehen, beugt auch nicht bloß die Knie, sondern wirft sich der Länge nach zu Boden, rauft die Haare, schlägt an die Stirne, benetzt den Boden mit Tränen und bittet um Verzeihung«.149 Als der Kaiser nach der Opferung innerhalb der Chorschranken stehen bleibt, läßt ihn Ambrosius durch einen Diakon auffordern, den nur den Priestern vorbehaltenen Chorraum zu verlassen und unter den Laien vor den Chorschranken Platz zu nehmen. Denn, so der Mailänder gewand und mit nackten Füßen am Freitag, dem 12. Juli gewallfahrtet war, um dort zu beichten, sich geißeln zu lassen, den Tag mit Fasten und die folgende Nacht am kalten Fußboden der Kirche hingestreckt im Gebet zu verharren und weinend die Absolution zu erflehen, die ihm dann während der Frühmesse des Samstags erteilt wurde.« 145 Vgl. dazu Hugo koch, die Kirchenbuße des Kaisers Theodosius d. Gr. in Geschichte und Legende, in: Historisches Jahrbuch 38 (1907), S. 257 - 277. 146 Ambrosius, De obitu Theodosii oratio, in: m Igne , PL 16, Sp. 1396. 147 Rufinus, Historia ecclesiastica 1. II, c. 18 - 19, in: m Igne , PL 21, Sp. 525f. 148 koch (wie Anm. 145), S. 271. 149 Theodoretus, Historia ecclesiastica, in: m Igne , PL 82, Sp. 1236. Vgl. koch (wie Anm. 145), S. 271.

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Bischof, »der Purpur mache zum Kaiser, aber nicht zum Priester«.150 Von Barfüßigkeit des römischen Kaisers ist weder in den Berichten des Ambrosius noch in der Kirchengeschichte des Theodoret die Rede. Ein solcher Befund mag überraschen. Hatte doch Ambrosius inständig ermahnt, gleich David, dem König Israels, Buße zu tun. Nur von David wird im Alten Testament berichtet (2. Sam 15,30), daß er mit entblößten Füßen (nudis pedibus) Buße getan habe. Der Symbolwert des Barfußgehens, das damals seinen Platz im Gottesdienst und in der Taufe hatte, sperrte sich offenkundig gegen Barfüßigkeit im Kontext von Sühne und Versöhnung. Man kann, wenn man der mittelalterlichen Legendenbildung folgt, in der öffentlichen Kirchenbuße des Theodosius »ein erstes ›Canossa‹« erblicken. Die spätantiken Berichterstatter lenkten das Interesse ihrer Leser jedoch nicht auf die »Beugung der weltlichen Gewalt«, nicht auf den »Triumph der priesterlichen Herrschaft«. Sie wollten »ein geistliches Geschehen und eine Gewissensentscheidung des Kaisers« beschreiben, »der sich selber ehrte, indem er die Unverbrüchlichkeit von Gottes Geboten anerkannte. So gesehen, ist die Kirchenbuße des Theodosius der Endpunkt in dem fortschreitenden Prozeß der Christianisierung des Kaisertums, der mit Konstantin dem Großen begonnen hatte. Jetzt hat die Kirche aufgehört, bloß Werkzeug oder Nutznießer der regierenden Gewalt zu sein; sie hat sie auch von innen ergriffen und duldet eine öffentliche Mißachtung ihrer sittlichen Grundsätze ebenso wenig wie die Verleugnung ihres dogmatischen Gebots«.151 In einem Brief vom August 1076 an Bischof Hermann von Metz erinnerte Gregor VII. an die Herrscherbuße des Theodosius, um sein eigenes Verhalten gegenüber dem deutschen König zu rechtfertigen. In Rudolf Schieffers Studie ›Von Mailand nach Canossa‹ bildet dieser Brief einen Schlüsseltext zum Verständnis der Vorgänge in Canossa.152 Zwischen dem Ritual von Mailand (Weihnachten 390) und Canossa (1077) gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Sowohl in Mailand als auch Canossa bemühen sich Vermittler um friedenstiftende Konfliktlösungen. Sowohl Theodosius als auch Heinrich IV. legen ihren Herrscherornat ab. Beide vergießen Tränen, aber nur Theodosius rauft sich die Haare. In beiden Fällen bleibt der Versöhnungsakt eingebunden in die Feier der Eucharistie. In Mailand keine Parallele finden des Königs nackte Füße, der von Heinrich geleistete Königseid, das Mahl, zu dem der Papst den Kaiser einlädt, sowie der Friendeskuß ( pax), mit dem der Papst den König entläßt.

150 Theodoretus, Historia ecclesiastica (wie Anm. 149), Sp. 1236. Vgl. koch (wie Anm. 145), S. 271. 151 Hans FreIherr von camPenhausen, Lateinische Kirchenväter, Stuttgart 1960, S. 102. 152 schIeFFer (wie Anm. 144), S. 362 - 368.

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Heinrichs Canossagang zeigt auch, daß Rituale verschiedenartige Lesarten zulassen. Heinrich IV. betrachtete und bewertete sein Auftreten im Burghof von Canossa, in dem er drei Tage nach Art der Büßer ( poenitentes) – in härenem Gewand (laneis indutus), mit nackten Füßen (nudis pedibus), frierend ( frigorosus), voll Trauer (luctuosus) und weinend (lacrimosus) – zugebracht hatte, als officium humili­ tatis. Italienische Parteigänger des Königs sahen in dem Bußakt einen Vorgang, der seine königliche Ehre beeinträchtigt und beschädigt habe. Seine Gegner in Deutschland behaupteten, das, was sich in Canossa ereignet habe, sei eine Schande für den Kaiser gewesen.153 Timothy Reuter hat vorgeschlagen, Heinrichs Unterwerfung zu Canossa als eine deditio zu deuten und »nicht so sehr« als »eine umfunktionierte öffentliche Buße«.154 Gerd Althoff vertrat, Reuters Deutungsangebot aufgreifend und weiterführend, die Auffassung, daß das Verhalten des Königs »weniger aus der Tradition der Kirchenbuße als aus dem Ritual der deditio verständlich wird«.155 Was für eine solche Deutung spricht, sind Fußfall, Fußkuß und die vermittelnden Aktionen hochgestellter Fürbitter. Elemente, die aus dem zeitüblichen Bußritual stammen, sind die nackten Füße und das härene Bußgewand. Zwischen Buße und Unterwerfung in Gestalt der deditio bestehen überdies strukturelle Affinitäten. Sie haben ein gemeinsames Ziel: satisfactio, reconciliatio, gratia – den Rückgewinn verlorener Huld. Die Sprache der politischen Unterwerfung ist identisch mit der Sprache der Buße. Sünder und Rebellen wollten Huld zurückgewinnen, indem sie dem in seiner Ehre verletzten göttlichen und weltlichen Herrn Genugtuung (satisfactio) erwiesen. Rebellion gegen die von Gott eingesetzten Regenten war eine Sünde gegen Gott. Sowohl ideell als auch rituell ist die Buße im Akt der deditio präsent. Bemerkens- und erwähnenswert bleibt überdies: Der fromme Heinrich IV. blieb zeitlebens ein Büßer. An Karfreitag 1105 zog er barfuß in Quedlinburg ein; im bitterkalten Januar des Jahres 1106 unternahm er nudis pedibus eine Bußwallfahrt nach Aachen.156 153 zImmermann (wie Anm. 144), S. 194f. 154 Timothy r euter , Unruhestiftung, Fehde, Rebellion, Widerstand: Gewalt und Frieden in der Politik der Salierzeit, in: Die Salier und das Reich, Bd. 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, hg. v. Stefan weInFurter , Sigmaringen 1992, S. 323. 155 Gerd a lthoFF, Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 37. 156 zImmermann (wie Anm. 144), S. 174. Zur Wallfahrt nach Quedlinburg vgl. P. scheFFer-boIchorst, Annales Patherbrunnenses. Eine ver lorene Quellenschrift des zwölften Jahrhunderts aus Bruchstücken wiederhergestellt, Innsbruck 1870, S. 109. Zur Wallfahrt nach Aachen vgl. Chronicon S. Huberti Andaginensis, ed. Ludwig C. bethmann / Wilhelm wagenbach (MGH SS 8), Hannover 1848, S. 629: […] vix de custodia eius [Heinrici V.] elapsus [Henricus IV.], Coloniam venit […] indeque ut privatus nudis pedibus in asperima hieme Aquisgrani palatium peraccessit. – Zu der Frage, ob die Lösung vom Kir-

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12. Barfüßigkeit als Ausdrucksform persönlicher Frömmigkeit Im Falle der Herrscherbuße bildeten religiöse Symbolik und rechtlich-politische Funktion eine untrennbare Einheit. Das Ritual der von der Kirche verordneten Herrscherbuße gebot Barfüßigkeit als unabdingbare Pflicht. Könige und Kaiser des Mittelalters haben aber auch immer wieder das Barfußgehen zu einer aus freien Stücken praktizierten Demutsgeste gemacht. Knut der Große (um 995–1035), König von England, Dänemark und Norwegen, wallfahrte »mit bloßen Füßen wie ein anderer Pilger zu dem Grab des hl. Kuthbert in Durham«157, um seiner Bußgesinnung sowie seinem Eifer für die Kirche und die christliche Religion Ausdruck zu verschaffen. Sich als Büßer oder Pilger zu fühlen und deshalb barfuß zu gehen, gehörte im 11. Jahrhundert zum Frömmigkeitsstil der deutschen Herrscher. Beim Begräbnis seiner Mutter Gisela, berichtet Bern von Reichenau, tat Heinrich III. öffentliche Buße ( publica poenitentia). Er legte sein königliches Purpurgewand ab, zog ein Büßergewand an, ging barfuß (nudis pedibus) und sank – coram omni populo – mit kreuzförmig ausgestreckten Armen auf die Erde und benetzte den Boden mit Tränen – ein Verhalten, das alle Anwesenden zu Tränen rührte.158 Durch sein Weinen und seine Buße erwies er den Priestern als Repräsentanten der Kirche Genugtuung und versöhnte die göttliche Barmherzigkeit. Vorausgegangen war ein Konflikt zwischen Mutter und Sohn. »Daß der Gedanke mitspielte, Heinrich habe dabei Schuld auf sich geladen«,159 die vor Gott und der Kirche nach Genugtuung und Sühne verlangte, ist möglich und liegt nahe. Das Bußritual sollte den Herrscher überdies als sündigen Christen zeigen, der Gottes Barmherzigkeit bedarf – sowohl für das ewige Heil seiner Seele als auch für die Verwaltung seines königlichen und kaiserlichen Amtes. chenbann, die absolutio excommunicationis, die Heinrich IV. von Papst Gregor VII. in Canossa erfuhr, als deditio einzuschätzen ist oder als poenitentia, vgl. neuerdings Werner goez, Canossa als deditio?, in: Studien zur Geschichte des Mittelalters. Jürgen Petersohn zum 65. Geburtstag, hg. v. Matthias thumser u. a., Stuttgart 2000, S. 92 - 99. Goez sichtet zeitgenössische Quellenbelege, deren Aussage- und Beweiskraft m. E. die Annahme rechtfertigt, daß die Begegnung zwischen Heinrich IV. und Gregor VII. dem Ritual einer öffentlichen Buße ( poenitentia publica) folgte und nicht als Akt der Unterwerfung (deditio) gedeutet werden kann. 157 Albert h auck , Kirchengeschichte Deutschlands, Teil 3, 8. Auflage, Berlin 1954, S. 640. 158 Die Briefe des Abtes Bern von Reichenau, ed. Franz-Josef schmale (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe A/6), Stuttgart 1961, S. 54. Vgl. dazu auch Stefan weInFurter , Herrschaft und Reich der Salier. Grundlinien einer Umbruchzeit, Sigmaringen 1991, S. 86. 159 Heinrich FIchtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, München 1992, S. 65.

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Nach seinem Sieg über die Ungarn im Juni 1044 hatte Heinrich III. auf dem Schlachtfeld an der Raab eine Siegesfeier veranstaltet, um Gott für den wunderbaren Sieg zu danken: »der König, barfuss, nur mit dem wollenen Büßergewand bekleidet, ihm folgend die Fürsten und das ganze Heer, warfen sich dankend vor einer Partikel des heiligen Kreuzes nieder, die das Heer als Reliquie mit sich führte«, um dem die Ehre zu geben, der ihnen den Sieg verliehen hatte.160 In Stuhlweißenburg setzte Heinrich III. den rechtmäßigen König wieder in sein Amt ein, indem er ihm die königlichen Insignien aushändigte und ihn auf den Thron setzte. Der ungarische König folgte dem Beispiel Kaiser Heinrichs, als er mit nackten Füßen und in ein Büßergewand gehüllt sämtliche Kirchen von Stuhlweißenburg aufsuchte und deren Altäre mit kostbaren Tüchern bekleidete.161 Abt Bern von Reichenau rühmt Heinrich als einen von Gott begnadeten Friedensstifter, weil er in Ungarn den tyrannischen pseudorex Ovo vertrieben und den rechtmäßigen König Peter, einen »Gesalbten des Herrn« (christus Domini), wieder eingesetzt habe.162 Ungeteiltes Lob zollte Bern dem Kaiser nicht zuletzt deshalb, weil dieser nach seinem triumphalen Sieg seine gratiarum vota, seine Gelübde zum Erwerb göttlicher Huld, eingelöst habe. Heinrich habe erfüllt, was er gelobt hatte, indem er nudis pedibus auf dem Schlachtfeld einherging, ›Kyrie eleyson‹ zum Himmel rief und allen seinen Widersachern indulgentiam, Vergebung und Huld gewährte.163 Fürwahr: »Wenn ein König auf dem Gipfel des Glückes, nach einem Sieg über seine Feinde, mit nackten Füßen in der Prozession einherging und ›Kyrie eleison‹ sang, wie es von Heinrich III. berichtet wird, mußte das außerordentlichen Eindruck auf die Zuschauer machen. Es war eine dem Laien zugängliche und seinem Stand angemessene Handlung, die zugleich den halb geistlichen Charakter des Herrschertums betonte«.164 Nachdenkens- und bemerkenswert bleibt auch dies: Heinrich III. veranstaltete keinen Triumphzug, um seine Feinde zu demütigen; er wählte rituelle Handlungsformen, die Dank gegenüber Gott, Friedenswille und Versöhnungsbereitschaft gegenüber seinen Feinden sowie – was sich keinesfalls von selber versteht – Reue- und Bußgesinnung zum Ausdruck bringen sollte. Wofür aber sollte ein siegreicher Herrscher, 160 h auck (wie Anm. 157), S. 574. Vgl. Annales Altahenses maiores ad a. 1044, ed. Edmund L. B. oeFele (mgh Scriptores rer. Germ. in usum scholarum 4), Hannover 1890, S. 37: Denique caesar discalciatus et laneis ad carnem indutus ante vitale sanctae crucis lignum procidit, idemque populus una cum principibus fecit, ipsi reddentes honorem et gloriam, qui illis dederat tantam victoriam, tam mirificam, tam incruentam, sed et pro divino munere omnes omnibus dimiserunt, qui quippiam in se committentes eis debitores fuerunt. Vgl. auch Briefe des Abtes Bern von Reichenau (wie Anm. 158), S. 57 - 60. 161 Annales Altahenses maiores (wie Anm. 160), S. 37. 162 Briefe des Abtes Bern von Reichenau (wie Anm. 158), S. 60. 163 Ebd. 164 FIchtenau (wie Anm. 159), S. 65.

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der einen heiligen Krieg geführt hatte,165 Buße tun? Möglicherweise spielte dabei die Vorstellung eine Rolle, daß erschlagene Feinde der Sühne bedürfen, weil das Töten von Menschen immer in Schuld verstrickt. Auch das Vorbild Davids mag das Verhalten Heinrichs III. bestimmt haben. Abt Bern von Reichenau rühmte Heinrich als beherzten »Nachahmer« (imitator) des alttestamentlichen Königs.166 Petrus Damiani beschwor in einem Brief an Heinrich König David als »Vorbild heiliger Könige« (exemplum sanctorum regum).167 Beide Autoren erinnern an Davids vorbildhafte Feindesliebe und Versöhnungsbereitschaft. Zum Königtum Davids gehörte aber auch Bereitschaft zur Buße. Nur von David wird im Alten Testament berichtet, daß er barfuß (nudis pedibus) Buße getan habe (2. Sam 15,30). Barfuß, bei »schneidender Kälte« ( frigor seviens) und mitten im Winter, als die Erde gefroren und von Schnee bedeckt war, trug Heinrich II. einen nicht geringen Teil der Reliquien des hl. Mauritius, die zu den Heiltümern des südlich der Magdeburger Domburg gelegenen Reichsklosters St. Johann gehörten, von dort in die Stadt und übereignete sie dem Hauptaltar der dortigen Domkirche. Überdies bestimmte er, daß der Tag, an dem er die Reliquien des hl. Mauritius vom Kloster Berge in den Magdeburger Dom brachte, fürderhin als Festtag (dies celebris) begangen werden sollte.168 Stattgefunden hat diese spektakuläre Translation, bei der Heinrich barfuß ging, dreißig Tage nach dem Tod des am 25. Januar 1004 verstorbenen Bischofs Giselher. Der Verfasser der ›Gesta archiepiscoporum Magdeburgensium‹ deutet den Vorgang als Zeichen und Beweis für die dem Herrscher eigene »große Frömmigkeit« (magna devotio). Dank der Glut seiner inneren Andacht und Ehrfurcht (calor pietatis) habe ihm die äußere Kälte nichts anhaben können. Der Beschreibung über die vom Kaiser selber vorgenommene Reliquientranslation voraus geht ein Bericht über die von Heinrich II. betriebene Wiederherstellung des Bistums Merseburg, das auf Veranlassung des kurz zuvor verstorbenen Bischofs Giselher aufgelöst worden war. Um, so der Magdeburger Chronist, dem Vorwurf zu entgehen, der König habe durch die Neugründung von Merseburg dem Erzbistum Magdeburg Schaden zugefügt, habe er der Magdeburger Domkirche eine Güterschenkung gemacht. Auch die Übertragung der Mauritius-Reliquien vom

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Carl erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Darmstadt 1974 (Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1935), S. 58f. 166 Briefe des Abtes Bern von Reichenau (wie Anm. 158), S. 59. 167 So in einem um 1055/56 an Kaiser Heinrich III. gerichteten Brief. Vgl. Die Briefe des Petrus Damiani, ed. Kurt r eIndel (MGH Die Briefe der Deutschen Kaiserzeit 4, Teil 2), München 1988, S. 5. 168 Gesta archiepiscoporum Magdeburgensium, ed. Wilhelm schum (MGH SS 14), Hannover 1883, S. 393.

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Kloster Berge in den Magdeburger Dom rückt der Verfasser in diesen Kontext einer denkbaren Schadensbegrenzung oder geschuldeten Wiedergutmachung.169 Wie es eigentlich gewesen ist, läßt sich an Hand der überlieferten Quellen nicht mehr mit Sicherheit ausmachen. Zweifel sind angebracht, ob der Verfasser der ›Taten der Magdeburger Erzbischöfe‹ die Intentionen und Verhaltensweisen Heinrichs II. korrekt wiedergibt. Thietmar von Merseburg (975–1018) sieht und deutet den Hergang anders. »Nach seinem Aufbruch von Merseburg«, berichtet Thietmar, »begab er [König Heinrich] sich nach Magdeburg [24./25. Februar 1004], wo er zum hl. Mauritius betete um Fürsprache bei Gott und Glück für seinen Zug«.170 Mit dem Zug meint Thietmar Heinrichs ersten Zug nach Italien, wo sich Markgraf Arduin von Ivrea in Pavia, der alten Krönungsstadt, hatte zum König von Italien krönen lassen. Der von Heinrich unternommene Zug über die Alpen, durch den er den Gegenkönig Arduin unterwerfen wollte, führte zu dem erstrebten Erfolg. Am 14. Mai 1004 wurde Heinrich II. von Erzbischof Aenulf von Mailand in Pavia zum König Italiens gekrönt. Thietmar erwähnt weder des Königs Barfüßigkeit, noch spricht er von dessen Reliquientranslation. Hält man sich an die Sichtweise Thietmars, gab Heinrich seiner Verehrung des Reichsheiligen Mauritius sinnfälligen Ausdruck. Des Königs Vertrauen in die Schutzkraft des Heiligen war groß. Die Fürsprache und die Verdienste des hl. Mauritius, betonte er 1006 in einer Stiftungsurkunde für die erzbischöfliche Kirche zu Magdeburg, hätten ihn von Kindheit an geschützt, 169

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In der Diskussion meines Vortrages auf der Reichenau hat mich Kollege Althoff, Münster, darauf aufmerksam gemacht, daß der amerikanische Mediävist Warner in einer Studie zu dem hier zur Diskussion stehenden Fragenkomplex die Auffassung vertrete, des Königs Barfüßigkeit sei Bestandteil eines Bußrituals, dessen Sinn es sei, »Erzbischof Giselher um Verzeihung zu bitten« (David A. warner , Henry II at Magdeburg: kingship, ritual and the cult of saints, in: Early Medieval Europe 3 [1994], S. 141 - 145). Althoff sagte zu Recht: »Ich halte diese Interpretation für sehr gewagt« (Protokoll Nr. 54 über die Arbeitstagung auf der Insel Reichenau vorn 1.–4. Oktober 1996 über ›Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Früh- und Hochmittelalter‹, S. 54). Warners Deutung ist nicht nur gewagt, sondern schief und abwegig. Aus der Chronik Thietmars hätte Warner erfahren können, daß Heinrich dem schwer krank darniederliegenden Giselher ins Gewissen reden ließ, »er möge im Gedanken an den Herrn doch wenigstens in seinen letzten Tagen freiwillig die Sünde wiedergutmachen, die er bis jetzt durch die Aufhebung des Merseburger Bistums auf sich geladen habe« (Thietmar von Merseburg, Chronik, übertragen und erläutert von Werner trIllmIch (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom SteinGedächt nisausgabe 9), Darmstadt 1962, S. 235). Heinrich mahnte den Magdeburger Erzbischof zur Reue und Buße; ihn, der nicht aus Sorge für die Belange der Kirche, sondern aus persönlichem Machtstreben die Aufhebung des von Otto dem Großen eingerichteten Bistum Merseburg angestrebt und mit Erfolg durchgesetzt hatte, um Verzeihung zu bitten, bestand für Heinrich nicht der geringste Anlaß. Thietmar, Chronicon IV, 3 (wie Anm. 169), S. 245.

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vor Unglück bewahrt und am Leben erhalten.171 Vor Feldzügen, in denen es um wichtige Belange des Reiches ging, pflegte er den Heiligen um seine Hilfe zu bitten. Auch im Jahre 1015 »zog er nach Magdeburg und bat Christi Ritter Mauritius demütig um Beistand zur Überwindung seines hartnäckigen Feindes Boleslaw [Chrobry, des Herzogs von Polen].172 Otto III. entledigte sich wiederholt seiner Schuhe, um die Rolle des Herrschers mit der Rolle des Büßers und Pilgers zu vertauschen. Nudis pedibus brach Otto 999 von Rom auf, um eine Bußwallfahrt auf den Monte Gargano zu machen, die ihm angeblich Romuald, der Eremit, für sein Vergehen gegen Crescentius und Johannes Philagathos auferlegt haben soll.173 Ein Jahr später begab er sich nach Gnesen, um dort das Grab des Märtyrerbischofs Adalbert zu besuchen. Als er von weitem die Stadt sah, zog er seine Schuhe aus. Als demütiger Pilger zog er in die Stadt ein. Bischof Unger von Posen geleitete ihn in die Kirche zum Grab des hl. Adalbert. Vor diesem betete er unter Tränen, daß ihm durch die Fürsprache des heiligen Märtyrers Adalbert die Gnade Christi zuteil werde.174 In der neueren Literatur wird Ottos Barfüßigkeit verschiedenartig gedeutet: als Zeichen von Buße, als Form von Pilgerschaft, als Ausdruck der Ehrfurcht vor der Würde der durch Reliquien geheiligten Stadt. »Den letzten Teil der Strecke«, so Mathilde Uhlirz, »legt Otto, um den Charakter der Wallfahrt zu betonen, in Büßeraufzug ›nudis pedibus‹ zurück«.175 »Zuletzt«, so Johannes Fried, »löst Otto seine Schuhe, barfuß betritt er das durch Reliquien geheiligte Gnesen. Herrscher-›Adventus‹ und Bußpilgerfahrt fließen im Zeremoniell zusammen«.176 »Im Angesicht der Stadt«, so Gerd Althoff, »wurde der Kaiser zum barfüßigen Pilger«177, um durch einen Akt öffentlicher Buße »den Sünder demonstrativ über den Herrscher« zu stellen.178 Solche Überlegungen mögen Otto bewogen haben, im Blick auf Gnesen, den Begräbnisort des hl. Adalbert, sein Schuhwerk abzulegen. Ein christlicher Herrscher, der alles politische und militärische Mißgeschick, das dem Reich 171 172 173 174

Heinrici et Arduini diplomata (MGH DD 3), S. 137, Nr. 111. Thietmar, Chronicon IV, 3 (wie Anm. 169), S. 369 - 371. Gerd a lthoFF, Otto III., Darmstadt 1996, S. 130. Thietmar, Chronicon IV, 45 (wie Anm. 169), S. 161 - 163. Vgl. a lthoFF (wie Anm. 173), S. 138. Eine umfassende Dokumentation des Vorgangs an Hand zahl reicher Quellen des 11. und 12. Jahrhunderts bringt Mathilde uhlIrz (Bearb.), Die Regesten des Kaiserreiches unter Otto III. 980 (983)–1002 ( J. F. böhmer , Regesta Imperii II: Sächsisches Haus: 919–1024, Dritte Abt., Graz-Köln 1956, S. 745 - 747). 175 uhlIrz (wie Anm. 174), S. 745. 176 Johannes FrIed, Otto III. und Boleslaw Chrobry. Das Widmungsbild des Aachener Evangeliars, ›Der Akt von Gnesen‹ und das frühe polnische und ungarische Königtum (Frankfurter historische Abhandlungen 30), Stuttgart 1989, S. 102. 177 a lthoFF (wie Anm. 173), S. 138. 178 Ebd., S. 194.

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widerfuhr, mit seinen eigenen Sünden in einen ursächlichen Zusammenhang brachte, hatte Grund, immer und nicht nur im Falle eines eklatanten sündhaften Fehlverhaltens Buße zu tun. Insofern hat die Bußgesinnung eines Herrschers, die in öffentlichem Barfußgehen konkrete Gestalt annimmt, stets eine politische Dimension. Angesichts der mittelalterlichen Ritualen eigentümlichen Bedeutungsvielfalt läßt sich der Gedanke, Otto habe bei seinem barfüßigen Einzug in Gnesen durch einen Akt der Selbstdemütigung den hl. Adalbert als himmlischen Fürsprecher gewinnen wollen, der ihm hilft, seine Pläne zu verwirklichen und seine Unternehmungen zum Erfolg zu führen, nicht a priori von der Hand weisen. Gemeinsam mit Bischof Franco von Worms suchte er im gleichen Jahr, angetan mit einem Bußgewand und mit völlig nackten Füßen ( pedibus penitus denudatis), in Rom eine Höhle neben der Kirche S. Clemente auf, um dort vierzig Tage lang zu beten, zu fasten und Nachtwachen zu halten.179 Ob der Kaiser privat oder öffentlich betete, büßte und barfuß ging, es war stets dieselbe Gesinnung, aus der sich seine öffentlichen und nichtöffentlichen Bußübungen speisten: Sorge um die Verwirklichung einer in Gottes Willen verankerten Ordnung, die ihm, seiner Familie und den Untertanen seines Reiches zeitliche Wohlfahrt und ewiges Heil verbürgte. Es mag sein, daß Otto III. durch sein Verhalten »den sündigen und bereuenden Menschen stärker betont als andere Herrscher seiner Zeit«.180 Das Amt des christlichen Herrschers beinhaltete Freiräume, die ein König nach eigenem Ermessen gestalten konnte. Ottos wiederholt geübte Barfüßigkeit war überdies keine traditionswidrige Neuerung. Bereits Otto der Große ist, wie die wohl noch ins 10. Jahrhundert gehörende Halberstadter Tradition zu berichten weiß, »barfüßig und im Büßergewand in Halberstadt eingezogen, um einen Konflikt mit Bischof Bernhard von Halberstadt zu beenden«.181 Einen Schluß- und Wendepunkt in der Geschichte der mittelalterlichen Herrscherbuße bilden Verhandlungen, die Gesandte Heinrichs V. mit Legaten Papst Calixts II. im Oktober 1119 in Reims führten, um das immer noch ungelöste Investiturproblem einer für beide Seiten an nehmbaren Lösung zuzuführen. Von kaiserlicher Seite wurde bei diesem Treffen geltend gemacht: Heinrich V., dem deutschen Herrscher, erscheine es unerträglich (importabile), sich einem Versöhnungsritual zu unterwerfen, bei dem er mit nackten Füßen vor dem Papst erscheinen müsse.182 Die Ehre des Reiches schloß es ihrer Ansicht nach aus, daß 179 180 181 182

Ebd., S. 193. Ebd., S. 195. Ebd., S. 194 Udalrici Codex Nr. 199, in: Monumenta Bambergensia, ed. Philipp jaFFé (Bibliotheca rerum Germanicarum 5), Aalen 1964 (Neudruck der Ausgabe Berlin 1869), S. 360: durum sibi immo importabile videri, si more aliorum dominus suus nudis pedibus ad absolutionem accederet. Vgl. Percy Ernst schramm, Das Herrscherbild in der Kunst des frühen Mittel-

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sich dessen höchster Repräsentant in der Rolle eines barfüßigen Büßers mit dem Papst in Verhandlungen einläßt. Der Traditionsbruch, der zugleich einen Mentalitätsbruch zu erkennen gibt, ist evident. Buße, die durch nackte Füße zum Ausdruck gebracht werden soll, ist in den Beziehungen zwischen Reich und Kirche seitdem kein Thema mehr. Weshalb das so ist, kann durch Hypothesen erschlossen, nicht aber durch Quellen bewiesen werden. Ehrgefühl trat an die Stelle von Bußgesinnung, die verhindert hatte, daß Schamgefühle den Gedanken religiös verdienstlicher Selbsterniedrigung verdrängten. Zudem ließ eine Staatsauffassung, in welcher die Person des Herrschers und sein physischer Körper an Bedeutung verlor, das Gehen mit nackten Füßen obsolet werden. Bußgesinnung, die ein christlicher Herrscher, sich der Deutungsmacht der christlichen Theologie beugend, durch ein Ritual öffentlich machte, und Verlangen nach standesgemäßer Selbstdarstellung, das die Würde des Amtes und die Ehre des Reiches geboten, waren nicht mehr miteinander in Einklang zu bringen. Im Widerstreit unversöhnlicher Einstellungen und Bedürfnisse erwies sich das Verlangen nach Repräsentation als das stärkere Handlungsmotiv. Barfüßigkeit wurde zu einer Sache privater Frömmigkeit. Als Kaiser Lothar im Zusammenhang seines Feldzuges gegen die Normannen 1137 in Monte Cassino Station machte, ging er, wie Petrus Diaconus (1107/10–nach 1159) in seiner Klosterchronik berichtet, »mit entblößten Füßen« (discalciatis pedibus) durch alle Kapellen des Klosters.183 Der letzte deutsche Herrscher, der barfuß ging, um mit einem Papst Frieden zu schließen, war, wenn man der ›Continuatio Sigeberti Aquicinctina‹ Glauben schenken darf, Friedrich Barbarossa.184 Zum Versöhnungsritual, das 1177 in Venedig den zwischen dem Staufer und Alexander III. ausgehandelten Frieden öffentlich machen sollte, gehörten nach Ansicht des Verfassers der ›Continuatio‹ die nackten Füße des Kaisers, der abgelegte Kaiserornat und der Kuß der päpstlichen Pontifikalschuhe. Bußgesinnung sowie Bereitschaft zum Gehorsam gegenüber dem Papst und der Kirche habe der Kaiser auch dadurch gezeigt, daß er unter Tränen die päpstlichen Pontifikalschuhe küßte. Friedrich Barbarossa aber wollte diese symbolischen Handlungen weder als Buße noch als Unterwerfung verstanden wissen. Er wollte dem Papst geschuldete Ehrerbietung (debita reverentia) erweisen, nicht aber sich als reumütiger Sünder darstellen, dem daran lag, durch öffentliche Buße die verlorene

alters, in: Vorträge der Bibliothek Warburg, Bd. 2: Vorträge 1922–1923, 1. Teil, hg. v. Fritz saxl , S. 176f. 183 Petrus Diaconus, Chronica monasterii Casinensis IV, 124, ed. Harry breslau (MGH SS 34), Hannover 1934, S. 598. 184 Continuatio Sigeberti Aquicinctina, ed. Ludwig Conrad bethmann (MGH SS 6), Hannover 1844, S. 416.

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Huld des Papstes zurückzugewinnen.185 Im Ritual des in Venedig inszenierten Friedensfestes muten deshalb die nackten Füße des Kaisers wie ein sperriger Fremdkörper an. Insofern sind Zweifel angebracht, ob der Verfasser der ›Continuatio‹ die Vorgänge in Venedig wahrheitsgemäß wiedergibt. Kardinal Boso († nach 1178), ein Augenzeuge des venezianischen Friedensfestes, der über die Vorgeschichte und den Verlauf des Friedensschlusses eingehend berichtet, weiß von nackten Füßen Friedrich Barbarossas nichts.186 Sie scheinen ein Interpretament des Verfassers der ›Continuatio Sigeberti Aquicinctina‹ zu sein. Diesem lag offensichtlich daran, den Papst nicht zuletzt dadurch als strahlenden Sieger erscheinen zu lassen, daß er den Kaiser in die Rolle eines öffentlichen Büßers drängte, der den höchsten Repräsentanten der Kirche um Vergebung bitten muß. Deshalb unterstreicht er des Barbarossas Demut (humilitas), der unter Tränen die Füße des Papstes geküßt habe; deshalb hebt er besonders hervor, wie sehr sich Barbarossa bemüht habe, der Kirche und dem Papst Gehorsam zu erweisen. Davon abzuheben ist jene Barfüßigkeit, derer sich Herrscher als Ausdrucksform ihrer persönlichen Frömmigkeit bis ins ausgehende 13. Jahrhundert bedienten. Friedrich II. ging barfuß, als am 1. Mai 1236 das Grab der hl. Elisabeth von Thüringen geöffnet und ihre Gebeine unter Beteiligung einer riesigen Menschenmenge in die dem hl. Franziskus geweihte Kapelle ihres Hospitals überführt wurden. »Friedrich II., barfuß und in einem grauen Gewand – wohl der Zisterzienserkutte – half mit, den Sarg aus dem Grab zu heben. Dann setzte er dem Schädel der Heiligen eine goldene Krone auf und legte ihr seinen goldenen Trinkbecher in den Sarg.« 187 Der letzte König, der aus religiösen Antrieben barfuß ging, war meines Wissens Ludwig der Heilige von Frankreich. Den Reliquienschrein mit der Dornenkrone Christi trug er im August 1239 zusammen mit seinem älteren Bruder Robert barfuß und nur mit einem Büßerhemd angetan von Villeneuve-l’Archevêque nach Sens. Die Ritter, die ihn begleiteten, hatten gleichfalls ihre Schuhe ausgezogen. Barfuß ging der heilige König auch im Juni 1248, als er sich, begleitet von einer großen Volksmenge, von St. Denis auf den Weg nach Paris machte.188 In St. Denis hatte ihn der Kardinallegat für 185 Klaus schreIner , Vom geschichtlichen Ereignis zum historischen Exempel. Eine denkwürdige Begegnung zwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und Papst Alexander III. in Venedig 1177 und ihre Folgen in Geschichtsschreibung, Literatur und Kunst, in: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion, hg. v. Peter waPnewskI, Stuttgart 1986, S. 148. 186 Le Liber Pontificalis. Texte, introduction et commentaire, ed. Louis duchesne , Bd. 2, Paris 1955, S. 439f. Vgl. schreIner (wie Anm. 96), S. 106ff. 187 Hans Martin schaller , Die Frömmigkeit Kaiser Friedrichs II., in: Deutsches Archiv 51 (1995), S. 512. 188 Jacques l e goFF, Saint Louis, Paris 1996, S. 144f.; 184.

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den anstehenden Kreuzzug mit der Oriflamme, mit Pilgergürtel und Pilgerstab ausgerüstet. In der bildenden Kunst des Spätmittelalters wurde – dank der ›Legenda aurea‹ – Kaiser Herakleios (545–641) zum Typus des barfußgehenden Herrschers. Eingang ins mittelalterliche Geschichtsbewußtsein fand Herakleios deshalb, weil er auf einem seiner Perserzüge das von dem Perserkönig Cosdras geraubte Kreuz zurückgewann und 628 (oder 630) nach Jerusalem zurückführte. Als er aber, vom Ölberg kommend, auf einem Pferd sitzend und angetan mit kaiserlichen Gewändern durch das Stadttor von Jerusalem einreiten wollte, da fielen plötzlich die Steine des Tores herab und türmten sich auf zu einer abwehrenden, unübersteigbaren Mauer. »Und«, so berichtet Jacobus de Voragine (1226–1298) in seiner um 1263/67 abgefaßten Legendensammlung, »über dem Tore erschien ihnen der Engel des Herrn, daß sie alle erschraken, und hielt das Zeichen des Kreuzes in seinen Händen und sprach ›Da der König aller Himmel zu seinem Leiden durch diese Pforte zog, da ritt er demütig auf einem Esel ein und nicht in königlicher Pracht; damit hat er ein Beispiel der Demütigkeit gelassen denen, die ihn anbeten‹. Mit diesen Worten verschwand der Engel. Da weinte der Kaiser bitterlich und zog sich selbst seine Schuh aus, und legte all sein Gewand ab bis auf das Hemd und nahm das Kreuz des Herrn und trug es demütig bis an das Tor. Und siehe, die harten Steine vernahmen das Gebot des Herrn, und das Gemäuer hub sich wider auf an seine Statt, und ward ein offen Eingang allen Menschen.«189

Nicht auf einem Pferd und nicht in kaiserlichem Ornat sollte ein Herrscher durch ein Tor reiten, durch das ehedem Jesus auf einem Esel und barfuß in Jerusalem eingezogen war, um durch sein Leiden die Menschheit von Sünde und Schuld zu befreien (Abb.4).

189 Jacobus de Voragine, Legenda aurea, übers. von Richard benz, Heidelberg o. J. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1925), S. 700. Eine spätmittelalterliche Übersetzung dieser Legende bringt die ›Elsässische Legenda Aurea‹, Bd. 1: Das Normalcorpus, ed. Ulla wIllIams / Werner wIllIams-k raPP, Tübingen 1980, S. 610f. Jakob Twinger von Königshofen († 1420), Kanoniker im Straßburger Thomas-Stift, legt in seiner ›Chronik‹ dem Engel, der Heraklius den Eintritt nach Jerusalem versperrte, folgende Worte in den Mund: »gottes sun, ein künig aller hymele, der reit durch diese porte uf eime esel demuetekliche.« Dann verschwand der Engel. »Do erschrag der keyser und sas abe sime rosse und zoch abe sine keyserliche gezierde, und nam daz crüze und ging barfuos zuo der porten« (Chroniken der oberrheinischen Städte, Straßburg, Bd. 1 (Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 8), Göttingen 1961 (Nachdruck der 1. Auflage, Leipzig 1870), S. 392).

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Abb.4: Der byzantinische Kaiser Herakleios bringt das von den Persern geraubte Heilige Kreuz nach Jerusalem zurück. Barfüßig und das Kreuz wie der kreuztragende Christus geschultert durchschreitet er das Tor von Jerusalem. Hans Multscher-Werkstatt, Ulm, um 1440, Stadtmuseum Ulm.

13. Vasallen, die barfußgehen, um Genugtuung (satisfactio) zu leisten und verlorene Huld (gratia) zurückzugewinnen Politische Konflikte wurden gelöst und geregelt durch Genugtuung, die der Rechts- und Friedensbrecher dem für Rechts- und Friedenswahrung zuständigen Herrschaftsträger schuldete. Genugtuung (satisfactio) kam durch rituelle Unterwerfung (deditio) zustande, durch Übergabe der eigenen Person in die Hände dessen, der rechtens Genugtuung beanspruchen darf. Zum Ritual dieser Selbstübergabe, die einer Unterwerfung gleichkam, gehörte Barfüßigkeit. Ich möchte hier nicht alle Unterwerfungsakte aufzählen und ausbreiten, die Gerd Althoff, Geoffrey Koziol und Timothy Reuter in ihren Arbeiten zusammengetragen und als Rituale gütlicher Konfliktbewältigung interpretiert haben.190 Mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen und exemplarischen Hin190 Gerd a lthoFF, Königsherrschaft und Konfliktbewältigung im 10. und 11. Jahrhundert, in: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 21 - 56; ders., Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, in: ebd., S. 99 - 125; ders., Huld. Überlegungen zu einem Zentralbegriff der mittelalterlichen Herrschaftsordnung, in:

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weisen mag es deshalb genug sein, um Barfüßigkeit als rituelles Element von Unterwerfung kenntlich zu machen. Die deditio, durch die Frieden gestiftet werden sollte, war an eingespielte Regeln gebunden. Das Ritual der Unterwerfung sah vor, daß der um Huld Bittende barfüßig, mit einem Bußgewand angetan oder mit einem Lendenschurz bekleidet vor seinem Gegner erschien und sich diesem zu Füßen warf. Mitunter trug er ein Schwert im Nacken, einen Strick um den Hals oder eine Rute in den Händen, um auf die Strafe hinzuweisen, die er eigentlich verdient hatte.191 Vor dem König mit nackten Füßen zu erscheinen, war ein Erfordernis des honor regius, wie der Verfasser der ›Niederalteicher Annalen‹ bemerkt, als sich 1041 Bratislav von Böhmen Heinrich III. unterwarf.192 Ein rebellischer Magnat erfüllte diese Forderung, indem er sich durch die vorgeschriebenen rituellen Formen selber demütigte und entehrte. Zwei Beispiele aus der Zeit Konrads II. sollen das Gemeinte veranschaulichen. Poppo, der Patriarch von Aquileia, sei, wie die ›Annalen von Niederalteich‹ berichten, zum Majestätsverbrecher (reus maiestatis) geworden, weil er den vom Kaiser verhafteten Erzbischof Aribert von Mailand, für dessen Bewachung er verantwortlich war, wieder freigelassen habe. Poppo habe sich danach gleichfalls vom kaiserlichen Hof entfernt, sei aber zurückgekehrt ohne Schuhe und mit einem wollenen Gewand bedeckt (discalciatus et laneis ad carnem tectus) und habe die Huld des Kaisers (gratia imperatoris) erlangt.193 Als sich die Bürger von Ravenna im Jahre 1026 entschlossen, mit Konrad II. Frieden zu machen, erschienen sie »in härenem Bußgewand, barfuß und mit bloßen Schwertern vor dem Könige, wie ihr Recht es besiegten Bürgern ge-

ebd., S. 199 - 228; ders., Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in: ebd., S. 229 - 258; ders., Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 383. Geoffrey kozIol , Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France, Ithaca-London 1992; ders., England, France, and the Problem of Sacrality in Twelfth-Century Ritual, in: Cultures of Power. Lordship, Status, and Process in Twelfth-Century Europe, ed. by Thomas N. bIsson, Philadelphia 1995, S. 125f.; r euter (wie Anm. 154), S. 297 - 326. Beispiele der Unterwerfung im Habitus eines barfüßigen und armselig gekleideten Büßers vor Heinrich II. bringt Knut görIch, Eine Wende im Osten: Heinrich II. und Boleslaw Chrobry, in: Otto III. – Heinrich II. Eine Wende? Mittelalter-Forschungen, Bd. 1, hg. v. Bernd schneIdmüller / Stefan weInFurter Sigmaringen 1997, S. 152f. 191 Vgl. a lthoFF (wie Anm. 190), S. 211f.; ders. (wie Anm. 190), S. 238. 192 Annales Altahenses maiores ad a. 1041 (wie Anm. 160), S. 27. Vgl. a lthoFF (wie Anm. 190), S. 212; görIch (wie Anm. 190), S. 145 - 148 (»Der honor regius ist Heinrichs Handlungsmaxime«). 193 Annales Altahenses maiores ad a. 1041 (wie Anm. 160), S. 21.

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bietet«; sie taten alles, was der König von ihnen als Genugtuung verlangte.194 Rituell geordnete Unterwerfung lieferte die um Frieden und Versöhnung bittenden Unterlegenen nicht der Willkür des Siegers aus. Das Bekenntnis, durch schuldhaftes Verhalten den Frieden verletzt zu haben, begründete zwischen Friedgeber und Friednehmer eine mutua obligatio, eine gegenseitige Verpflichtung. Wer seine Schuld eingestand, hatte Anspruch auf Gnade und Vergebung. Die Bitte um Frieden durfte ihm nicht abgeschlagen werden. Satisfactio, die treubrüchig gewordene Vasallen in den hierfür vorgesehenen rituellen Formen ihren Herren erwiesen hatten, verpflichtete diese, Gnade vor Recht ergehen zu lassen.195 Die Unterwerfung auf Gnade und Ungnade wurde, wie Timothy Reuter in seinen Studien über ›Gewalt und Frieden in der Politik der Salierzeit‹ gezeigt hat, vielfach einem förmlichen Prozeß vorgezogen. »Der Grund ist einfach: der Preis, den der Herrscher für die öffentliche Anerkennung seiner Autorität und die öffentliche Demütigung seines Gegners zu zahlen hatte, war offenbar ein weitgehender Verzicht auf Strafen mit dauerhafter Wirkung«.196 Vom ius deditionis oder ius satisfactionis konnten, wenn ich recht sehe, im 11. Jahrhundert nur freie Vasallen Gebrauch machen, die durch Untreue oder Rebellion ihre Treuepflicht verletzt hatten. Aufschlußreich und beweiskräftig sind in diesem Zusammenhang die Beispiele, welche die ›Gesta Normannorum Ducum‹ für das 11. Jahrhundert überliefern. Wilhelm von Bellême erstrebte des Herzogs Milde (clementia) »mit nackten Füßen und einen Pferdesattel auf den Schultern tragend« (nudis vestigiis, equestrem sellam ad satisfaciendum ferens humeris). Wilhelm von Bellême wird als Adliger beschrieben, der nur in geheuchelter Weise Genugtuung leistete ( ficte satisfaciens). Nachdem ihm der Herzog seine Güter zurückgegeben hatte, setzte er seine Politik der Untreue und des Widerstandes fort.197 Hugo von Châlons trug den Sattel auf dem Kopf, als er sich mit

194 Wiponis gesta Chuonradi imperatoris, in: Die Werke Wipos, 3. Auflage, ed. Harry breslau (MGH. Scriptores rer. Germ. in usum scholarum 61), Hannover 1915, S. 35: Ravennates […] in cilicio et nudis pedibus atque exertis gladiis, ut lex eorum praecipit victis civibus, ante regem venientes, sicut ipse praecipit, omnibus modis satisfaciebant. 195 Auf den Wechselbezug zwischen der Leistung von Genugtuung (satisfactio) durch Unterwerfung (deditio) und die Gewährung von Huld (gratia) hat Gerd Althoff in seinen Studien über ›Spielregeln der Politik im Mittelalter‹ immer wieder hingewiesen. Vgl. ders. (wie Anm. 190), S. 214: Man versteht den Vorgang der Unter werfung »nur halb, wenn man vergißt, daß die Huld wieder gewährt werden mußte, wenn eine angemessene Genugtuung angeboten wurde«. 196 r euter (wie Anm. 154), S. 320. 197 The Gesta Normannorum Ducum of William of Jumièges, Orderic Vitalis and Robert of Torigini, Bd. 2, ed. und übers. von Elisabeth M. C. van houts, Oxford 1995, S. 50. Vgl. kozIol (wie Anm. 190), S. 186f.; cohen (wie Anm. 71), S. 178.

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Herzog Richard III. von der Normandie aussöhnte.198 Um die Schimpflichkeit dieses Rituals zu steigern, wurde bisweilen eigens bestimmt, daß der Sattel von einem toten Kriegspferd oder von einem unansehnlichen Packgaul herrühren müsse.199 Die rituellen Formen gütlicher Konfliktbewältigung waren alles andere als einheitlich. Vielfalt war eines ihrer Kennzeichen, weil es einen traditionsgesättigten Vorrat an abrufbaren rituellen Gestaltungsmöglichkeiten gab, Wandelbarkeit ein anderes. Was sich veränderte, verweist nicht auf grundsätzliche Brüche. Aber selbst das, was beiläufig anders wurde, gibt gewandelte Einstellungen zu erkennen, die Beachtung verdienen. Der Konflikt zwischen Kaiser Lothar und den staufischen Herzögen Friedrich und Konrad mag das Gemeinte verdeutlichen. Die Wahl Lothars von Sachsen zum deutschen König im Jahre 1125 verursachte zwischen diesem und seinen staufischen Neffen, den Herzögen Friedrich und Konrad, langwierige Zerwürfnisse. Die Güter, die Herzog Friedrich als Erbschaft des salischen Hauses an sich zog, beanspruchte König Lothar als Eigengut des Reiches. Den Grad der Feindseligkeit beleuchtet ein Brief, den König Lothar an Pfingsten 1132 unmittelbar vor seiner Romfahrt an Herzog Heinrich von Bayern richtete, um diesem während seiner Abwesenheit die Reichsverwesung zu übertragen. In diesem heißt es: »Wohlan Teuerster, wie Judas Maccabäus standhaft gegen Nikanor gekämpft und wie er mit eigener Hand den Apollonius erschlug, so erschlage Du ihn, damit Du, wie der Erbe meiner Liebe, so der Erbe meines Reiches werdest«.200 Als Friedensbote zwischen Kaiser Lothar und dem staufischen Brüderpaar bewährte sich Abt Bernhard von Clairvaux. Nach dem Fall Ulms begaben sich der Kaiser und seine Gemahlin Richenza in die Abtei Fulda. Herzog Friedrich, von vielen im Stich gelassen, nahte sich im November 1134, den Zwängen seiner Notlage gehorchend (necessitate compulsus), der Kaiserin mit bloßen Füßen (nudis pedibus) und bat inständig um ihre Huld (gratia). Zugleich hoffte er, daß er »durch sie, weil er ihr Neffe war, in die Huld des Kaisers gelangen werde« (sperans, se per illam, quia neptis sua erat, in gratiam cesaris deventurum). So geschah es denn auch. Durch einen päpstlichen Legaten ließ sie ihn vom Bann befreien, der sieben Jahre lang auf ihm gelastet hatte. Wiederum in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen, verpflichtete er sich eidlich, dem Kaiser fürderhin treu und erge198 Gesta Normannorum Ducum (wie Anm. 197), S. 38: Considerans igitur Hugo contra tantum exercituum robur se nullo pacto posse resistere, equestrem sellam ferens humeris genibus prouolutus adolescentis Richardi, prece supplici ueniam precabatur commissi. Vgl. cohen (wie Anm. 71), S. 178. 199 Ebd. 200 Christoph Friedrich von stälIn, Württembergische Geschichte, Teil 2, Aalen 1975 (Neudruck der Ausgabe Stuttgart 1847), S. 62.

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ben ( fideliter et devote) anzuhängen und beim nächsten Hoftag in Anwesenheit der Fürsten mit deren Hilfe die Huld des Kaisers zu erlangen.201 Der nächste Hoftag fand am 17. März 1135 in Bamberg statt. Dort warf er sich, obgleich er sich eine Zeitlang dagegen sträubte, in aller Öffentlichkeit dem Kaiser zu Füßen ( publice provolutus pedibus illius), bat demütig um dessen Huld (gratia) und erlangte sie dann auch. Auf dem Hoftag, der am 29. September desselben Jahres im thüringischen Mühlhausen abgehalten wurde, söhnte sich Herzog Konrad, Friedrichs Bruder, mit dem Kaiser aus – gleichfalls durch die Fürsprache der Kaiserin ( per intercessionem imperatricis) und gleichfalls nach vorausgegangenem Fußfall ( pedibus imperatoris provolutus).202 Konrad erhielt von Lothar überdies Geschenke (dona) und wurde – italienischen Berichten zufolge – zum Träger des Reichsbanners (imperatoris vexillifer) ernannt.203 Die Staufer waren bereit, sich dem Kaiser zu unterwerfen, um in den ungestörten Besitz ihrer Güter zu gelangen. Der Kaiser seinerseits mußte daran interessiert sein, hartnäckige Widersacher an sich zu binden. Bemerkenswert bleibt jedoch, daß in dem offiziellen Versöhnungsritual, wie es sich auf den Hoftagen in Bamberg und Mühlhausen abspielte, Barfüßigkeit nicht mehr vorkommt. Die beiden staufischen Brüder waren offenkundig nicht gewillt, in der Öffentlichkeit ihre Füße zu entblößen, die sie als reumütige Sünder hätten erscheinen lassen. Nur der Kaiserin Richenza hatte sich Herzog Friedrich, abgeschirmt von der Öffentlichkeit, barfüßig genaht. Männern von hohem Adel war es offenkundig nicht mehr zumutbar, in der Öffentlichkeit barfuß zu gehen. Akzentverschiebungen zeichnen sich auch in der Wahrnehmung und Einschätzung der von den staufischen Herzögen geleisteten Unterwerfung ab. Was die schwäbischen Herzöge und die ihnen freundlich gesinnten Chronisten als rituell inszenierte Aussöhnung betrachteten, wertete Lothar als überlegenen Sieg. Von Pavia aus schrieb er dem Papst am 24. April 1136: Als Gottes Werkzeug habe er »mit der Schleuder und dem Steine eines wahren Davids den zweiten Goliath, den nichtswürdigen Philister, den Schwabenherzog Friederich niedergeschmettert«.204 Diese Äußerung zeigt, daß es deditiones gab, in denen die rechtlich konzipierte mutua obligatio umgedeutet werden konnte in ein Beziehungsverhältnis, das Sieg und Unterlegenheit zum Ausdruck brachte. Als Mittel der Konfliktbewältigung zwischen König und Adel kam die deditio in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts außer Übung. Ihre Rechtssymbolik hat sich in den Formen öffentlicher Kirchenbuße erhalten. Mary Mansfield be201 Annales Magdeburgenses, ed. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 16), Hannover 1859, S. 185. 202 Ebd. 203 stälIn (wie Anm. 200), S. 65f. 204 Ebd., S. 66

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legt dies in ihrem Buch ›The humiliation of sinner‹ durch zahlreiche Beispiele.205 Die deditio hat sich überdies fortgesetzt in Unterwerfungsritualen von Städten, in denen aber – so mein Eindruck – der Gedanke der mutua obligatio sichtlich schwächer wird und an Geltungskraft verliert.

14. Bürger und Bauern, die sich barfüßig ihren Herren unterwerfen Als sich die Stadt Mailand im September 1158 Barbarossa ergab, um vom Bann gelöst zu werden und von neuem des Kaisers Gnade zu erlangen, mußten die vereinbarten Friedensbedingungen (conventio; pacis pactum; pacis conditiones) von seiten Mailands durch Unterwerfungsgesten öffentlich bestätigt und bekräftigt werden. Die führenden Repräsentanten der Stadt waren gehalten, in folgender Ordnung am Hof des Kaisers zu erscheinen: »Voran der gesamte Klerus und die Angehörigen des kirchlichen Standes mit ihrem Erzbischof, mit vorangetragenen Kreuzen, nackten Füßen und im ärmlichen Gewand; dann die Konsuln und die angesehensten Bürger der Stadt, ebenfalls ohne Obergewand, mit nackten Füßen, entblößte Schwerter auf dem Nacken tragend«.206 Ein großes Schauspiel (ingens spectaculum), das von einer riesigen Zuschauermenge miterlebt wurde, soll der Zug der Büßer und Bittsteller gewesen sein. Nach der Verlesung der schriftlich verankerten Friedensbedingungen bekundeten die klerikalen und bürgerlichen Vertreter Mailands ihre Zustimmung. Danach empfingen sie vom Kaiser Friedenskuß und Handschlag. Der Chronist bemerkt ausdrücklich, die Initiative zum Friedenskuß und zur Handreichung sei vom Kaiser, dem Ranghöheren, ausgegangen. Der Eindruck der Gleichrangigkeit oder eine ›De-facto-Gleichheit‹ konnte so erst gar nicht aufkommen. Die hierarchische Struktur der politischen und sozialen Ordnung blieb gewahrt durch das deutlich sichtbare Gefälle zwischen dem Initiator und dem Empfänger des Kusses. Als Siegeszeichen wurde in der Stadt das kaiserliche Banner aufgerichtet. Im Lager des Kaisers herrschte Jubel, Freude in der Stadt. Das Schwert auf dem Nacken der Mailänder Konsuln signalisierte Gewaltlosigkeit sowie das Eingeständnis, eigentlich den Tod verdient zu haben; ihre unbeschuhten Füße bewiesen Demut und Schuld. Die Unehre der nackten Füße hätten sich die Mailänder Konsuln gerne erspart. Durch eine Geldzahlung hat205 m ansFIeld, The humiliation of sinner (Anm. 63), passim. 206 Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica, ed. Franz-Josef schmale (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 17), Darmstadt 1965, S. 501.

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ten sie die Demuts- und Schuldgebärde ablösen und ersetzen wollen. Doch der Kaiser zeigte sich unnachgiebig und lehnte ihr Angebot ab.207 Die öffentliche Demonstration seiner Macht und Überlegenheit war ihm offenkundig wichtiger als eine Geldzahlung hinter den Kulissen. Bei der öffentlichen Unterwerfung, die Barbarossa den rebellischen Mailändern im Jahre 1180 von neuem abverlangte, trugen diese nicht nur blanke Schwerter auf ihren Nacken, sondern auch Stricke um den Hals. In dieser Aufmachung, berichtet Gottfried von Viterbo, hätten sich die Mailänder dem Kaiser zu Füßen geworfen. Daß sie das barfüßig taten, erwähnt der Chronist nicht.208 Im Jahre 1311 suchten die rebellischen Cremonesen die verletzte Ehre Heinrichs VII. dadurch wiederherzustellen, daß sie sich ihm barfüßig, barhäuptig, mit einem Hemd angetan und mit einem Strick um den Hals zu Füßen warfen, um von ihm Gnade und Huld zu erlangen. Der Kaiser ließ sich aber durch diese Form der ihm zugedachten Genugtuung nicht beeindrucken. Er ließ die Stadtmauern und zahlreiche Häuser einreißen.209 Der Automatismus zwischen deditio und gratia schien – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr zu funktionieren.210 207 Thomas zotz, Präsenz und Repräsentation. Beobachtungen zur königlichen Herrschaftspraxis im hohen und späten Mittelalter, in: Herrschaft als soziale Praxis, hg. v. Alf lüdtke (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 91), Göttingen 1991, S. 179. 208 Gottfried von Viterbo, Gesta Friderici I. et Heinrici VI., ed. Georg Heinrich Pertz (MGH. Scriptores rer. Germ. in usum scholarum 30), Hannover 1870, S. 19. Bemerkenswert bleibt allerdings, daß Gottfried von Viterbo bei seiner Beschreibung des Unterwerfungsaktes von 1158 (ebd., S. 14) eine Barfüßigkeit der Bürger gleichfalls nicht erwähnt. Die Tradition eines eingespielten Rituals spricht dafür, daß die Bürger von Mailand auch im Jahre 1180 barfuß gingen, um von neuem die Gnade (venia) des Kaisers zu erwerben. 209 La Cronica di Dino Compagni delle cose occorrenti né tempi suoi, ed. L. A. muratorI (Raccolta degli storici ltaliani dal cinquecento al millecinquecento 9), Teil 2, Città di Castello 1907, S. 233f. Vgl. auch Kaiser Heinrichs Romfahrt. Die Bilderchronik von Kaiser Heinrich VII. und Kurfürst Balduin von Luxemburg 1308–1313. Mit einer Einleitung und Erläuterungen hg. v. Franz-Josef heyen, München 1978, S. 72; JeanMarie moeglIn, Edouard III et les six bourgeois de Calais, in: Revue historique 292 (1994), S. 260f. 210 Gleich den Cremonesen erging es auch der Stadt Brescia. Am 18. September 1311 beugte sich die Stadt der Belagerung durch das Heer König Heinrichs VII. und kapitulierte. Am 24. September zog der König in die Stadt ein. »Mit einem Strick um den Hals zum Zeichen ihrer völligen Unterwerfung traten ihm die Bürger Brescias entgegen« und flehten um Gnade. Aber Heinrich kannte keine Milde. Selbst als »Bischof Nikolaus von Butrinto um Begnadigung der noch immer gefangengehaltenen Cremoneser bat, lehnte es der König ab« (Kaiser Heinrichs Romfahrt (wie Anm. 209), S. 80).

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Um Gnade baten und zur Buße erboten sich 1347 nicht nur die Bürger von Calais, die mit entblößten Füßen und mit einem Strick um den Hals vor Eduard III. erschienen, 211 sondern auch jene bereits erwähnten Braunschweiger Ratsherren, die am 12. August 1380 in Lübeck, mit einem wollenen Bußgewand angetan, barhäuptig und barfuß und mit brennenden Wachskerzen in ihren Händen vor den versammelten Boten der Hansestädte erschienen waren, um die Verhansung Braunschweigs wieder rückgängig zu machen.212 Das spielte sich ab in einer Zeit, in der Politik, Rechtspflege und Friedenssicherung einem wachsenden Rationalitätsdruck ausgesetzt waren. Dennoch konnte der veränderte Zeitgeist nicht verhindern, daß auf dem Felde städtischer Politik und des genossenschaftlichen Rechts ältere, aus dem kirchlichen Bußwesen stammende Sühne- und Versöhnungsformen fort- und nachwirkten. Noch im Spätmittelalter ist, wie der »Fall Braunschweig« zeigt, verletztes Recht durch religiöse Buß- und Sühneleistungen wiederhergestellt worden. An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert sind es Bauern, die barfüßig ihre Untertänigkeit und politische Ohnmacht zum Ausdruck bringen. In der Klosterherrschaft Ochsenhausen hatte sich 1502 ein seit langem schwelender Streit um das Erbrecht zu einem handfesten Konflikt zwischen Abt und Bauernschaft zugespitzt. Der Schwäbische Bund »eine Vereinigung der oberdeutschen Fürsten, Grafen, Adligen, Prälaten und Reichsstädte zur Sicherung des Landfriedens« – intervenierte, um die illegitime Revolte der Bauern niederzuschlagen. Die geistlichen und weltlichen Herren feierten ihren Sieg, indem sie die Bauern einem demütigenden Ritual unterwarfen. »Mit entblößtem Haupt, barfuß und entwaffnet mußten sie sich dem Abt zu Füßen werfen, ihm und dem Konvent aufs neue einen Huldigungseid leisten und ihren Bund auflösen«.213 Barfüßigkeit in der mittelalterlichen Welt gibt, unter sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten betrachtet, eine sozial absteigende Linie zu erkennen. Zuerst haben die Könige aufgehört, barfuß zu gehen, dann der Adel, dann die Bürger. Um 1500 waren es nur noch Bauern, die, wenn sie in Konfliktsituationen die Huld ihres Herrn verspielt hatten, zur Barfüßigkeit genötigt wurden.

211 moeglIn (wie Anm. 209), S. 229 - 267. 212 Siehe oben unter Punkt 5. 213 Peter blIckle, Arbeit, Alltag und Recht. Wandlungen in der Ochsenhausener Grundherrschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Ochsenhausen. Von der Benediktinerabtei zur oberschwäbischen Landstadt, hg. v. Max h erold, Weißenhorn 1994, S. 127.

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15. Barfuß oder beschuht zum Letzten Gericht? Den Weltgerichtsdarstellungen des späten Mittelalters ist die Alternative zwischen entblößten und beschuhten Füßen fremd. Ihre Aussage ist eindeutig: Christus, der Weltenrichter, sitzt barfüßig auf dem Regenbogen oder einem Thron, um Gericht zu halten. Die Erlösten machen sich nackt und barfuß auf den Weg in die himmlischen Gefilde. Die »Barfüßigkeit« der Engel, schreibt Dionysius Areopagita in seinen theologischen Reflexionen über die ›Himmlische Hierarchie‹, bedeute »das Freigelassensein, das leichte Losgelöstsein, das Schrankenfreie, das Reinsein von äußeren Anhängseln und die möglichste Verähnlichung mit der göttlichen Einfachheit«.214 Der Osnabrücker Augustiner-Eremit Gottschalk Hollen (um 1441–um 1481) zitiert diese Stelle in einer Predigt ›De peregrinatione‹, um darzutun, daß Pilger, die eine Wallfahrt machen wollen, zum Zeichen ihrer andächtigen Gesinnung barfuß gehen sollen. Barfüßigkeit deutet Hollen als Gestus der Freiheit von niedrigen, weltzugewandten Strebungen, als Verzicht auf alle zeitlichen Güter, die Menschen bei ihrem Weg zu Gott hinderlich im Wege stehen, als Ausdruck der Nachfolge Christi, der seinen Jüngern das Tragen von Schuhen untersagte (Matth. 10,10) und nicht zuletzt als Bereitschaft, es Moses, dem Lehrer der Juden, gleichzutun, der angesichts von Gottes Gegenwart seine Schuhe auszog.215 Es gibt jedoch Texte und Gewohnheiten, die es nahelegen, daß die Erretteten auf ihrem Weg zum Himmel Schuhe tragen. An den Brauch, Tote mit Schuhen auszustatten, denkt Guillelmus Durantis, wenn er in seinem liturgischen Handbuch ›Rationale divinorum officiorum‹ bemerkt: Manche behaupten, aufgebahrte Verstorbene müßten an den Waden Gamaschen und an den Füßen Schuhe tragen, »damit dadurch ausgedrückt wird, daß sie zum Gericht bereit sind«.216 Caesarius von Heisterbach (1180–1240) berichtet in seinem ›Dialogus miraculorum‹ von der sterbenden Konkubine eines Priesters, die inständig darum bat, sie für ihre Jenseitsreise mit neuen und guten Schuhen auszustatten.

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Dionysius Areopagita, Himmlische Hierarchie XV, 3, in: Des heiligen Dionysius Areopagita angebliche Schriften über die beiden Hierarchien, übers. von Josef stIglmayr , Kempten-München 1911, S. 80. 215 Gottschalcus holen, Sermo de peregrinatione, in: Sermonum opus exquisitissimum, secunda pars: Sermones dominicales super epistolas Pauli partis estivalis, Hagenau 1520, fol. Dd 4r-v. 216 Peter dInzelbacher , verba hec tam mistica ex ore tam ydiote glebonis. Selbstaussagen des Volkes über seinen Glauben – unter besonderer Berücksichtigung der Offenbarungsliteratur und der Vision Gottschalks, in: Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, hg. v. Peter dInzelbacher / Dieter r. bauer , Paderborn u. a. 1990, S. 81.

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Ihre Bitte war nicht unbegründet; mußte sie doch, als sie tot war, vor dem Höllenjäger über Stock und Stein fliehen.217 Die Notwendigkeit von Schuhen auf dem Weg zum Himmel schildert drastisch und eindringlich der holsteinische Bauer Gottschalk, der im Dezember 1189 eine Vision hatte. Deren Botschaft lautet: Wer zu Lebzeiten Arme mit Schuhen versorgte, der muß auch auf seiner Jenseitswanderung nicht barfuß gehen, sondern wird auf eine Linde stoßen, an deren Ästen Schuhe in Hülle und Fülle hängen. Gottschalk, im Dienst für Heinrich den Löwen erschöpft und erkrankt, fiel in eine fünf Tage dauernde Ekstase, in der er von zwei Engeln an die Hand genommen und ins Jenseits geführt wurde. Auf ihrem Weg dorthin, berichtet Gottschalk, kamen sie »an einen Lindenbaum von ungewöhnlichem Umfang und besonderer Schönheit; in seiner Höhe übertraf er eine übliche, besonders hoch gewachsene Linde freilich nicht, aber er lud gewaltig in die Breite aus; er hatte ein Kleid von breiten Blättern wie eine Platane, sein dicker Stamm maß gegen acht große Ellen. An den einzelnen Ästen und über das ganze Astwerk hin war die Linde dicht an dicht mit Paaren von Schuhen beladen, so wie wir die Schuhmacher ihre Erzeugnisse an länglichen Stangen tragen sehen: Niemand hätte glauben mögen, daß es eine solche Menge in der ganzen Welt gebe. Alle diese Schuhe, hoch genug die Wade einzuhüllen, hatten lange Riemen eingearbeitet, um sie von der Ferse bis hoch oben ganz fest zuschnüren zu können. Zwar verdeckten die äußeren Blätter des Baumes dieses Schuhzeug wie auch den Baum selber und hüllten es ein, als geschehe das zum Schutz gegen die Unbilden der Witterung; trotzdem blieb es den Beschauern nicht verborgen. Als Gottschalk sich über die Unzahl von Schuhen verwunderte und neugierig fragte, was das denn solle, wies der gesprächige Engel mit ausgereckter Hand auf die ihm näherkommende Gefahr: ›Siehst du nicht‹, sagte er, ›was dir bevorsteht? Alle, die für würdig befunden sind, von diesen Schuhen etwas abzubekommen, werden diese schreckliche Gefahr unversehrt und unbesorgt durchstehen können‹.« 218

Verteilt wurden die Schuhe von einem Engel, der in der Krone der Linde seinen Platz hatte. Für jeden einzelnen, der an die Linde herantrat, langte er unaufgefordert – denn er erkannte selber, wer dieser Gnade wert war – nicht bündelweise und nicht an einer einzigen Stelle, sondern an einzelnen, weit voneinander entfernten Ästen nach einem Paar Schuhe, indem er in wundersamer Beweglichkeit im gleichen Augenblick eben noch oben, wieder nach unten stieg, und hielt es ihnen einzeln hin. Doch obwohl in dieser Weise ausgeteilt wurde, blieb keine Stelle leer, von der entnommen wurde, und die Fülle, aus der fortge-

217 Ebd. 218 Godeschalcus und Visio Godeschalci, übers. u. hg. v. Erwin a ssmann (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 74), Neumünster 1979, S. 55 - 57.

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nommen wurde, minderte sich offensichtlich nicht; schnell und in wundersamer Weise wurde die Entnahme wieder ausgeglichen«.219 Auf die Frage Gottschalks, »um welcher Verdienste willen sie denn dieser Gabe gewürdigt worden seien«, antwortete der Engel: »Durch Werke der Barmherzigkeit hätten sie solches verdient, und ein jeder könne sich das erdienen. Denn wer sich im irdischen Leben in göttlicher Liebestätigkeit getrieben fühle, nach seinem Vermögen einem Darbenden zu helfen, indem er ihm zum Beispiel Schuhwerk schenke oder, wenn die Armut den Spender dazu zwinge, auch nur so etwas, was eben aus Riemen zusammengeschustert sei, so gedenke Gott, weil er in seinem Armen beschenkt worden sei, der empfangenden Liebestat und spende ihm deshalb in so schlimmer Gefahr solchen Trost. Habe aber jemand nicht die Mittel, so hätten guter Wille und frommes Mitleiden für ihn den gleichen Wert, und er empfange den gleichen tröstlichen Lohn von Gott.« 220

Gottschalk ging leer aus. Ungeschützten Fußes schritt er über die mit spitzen Dornen bestückte »Heide des Schrecken«: »Als Gottschalk nun von dem Engel gefragt wurde, warum er denn nicht weitergehe, antwortete er, auf so nadelspitze Dornen könne er nicht treten, wo er doch barfuß sei. Deshalb wurde der dienstbare Engel von dem anderen aufgefordert, zur Linde umzukehren und ihm von dort Schuhzeug zu bringen, und er holte es schnell und gab es Gottschalk zum Anziehen. Während er es anzog, wandte sich der dienstbare Engel derweilen den Schuhträgern zu und beglückwünschte sie, daß sie sich den Geboten Gottes und der Lehre der Priester gehorsam gefügt und auf alles, was ihnen an Nützlichem zum Heil ihrer Seele gepredigt worden sei, gehört und in rechtem Eifer mit ihrem Handeln bewährt hätten.« 221

Trifft es zu, daß Visionen nicht nur Hoffnungen ausdrücken, sondern auch Alltagswelten widerspiegeln, besteht auch im Fall des Bauern Gottschalk ein Zusammenhang zwischen irdischer und himmlischer Barfüßigkeit. Auf Erden zählte Gottschalk zum Kreis jener, die, weil sie sich keine Schuhe leisten können, barfüßig ihrer Arbeit nachgehen. Schuhe im Himmel verdankte er der Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft des Engels, als es ihm nicht gelang, die mit Stacheln und Dornen übersäte Jenseitsheide zu überqueren. Kann letztere als Abbild der heimischen Landschaft gelten, spiegeln sich in der erlittenen Pein und im helfenden Eingriff des Engels Erfahrungen und Hoffnungen eines Bauern, den es viel Schweiß und Mühsal kostet, sich und die Seinen zu ernähren.

219 Ebd., S. 57 - 59. 220 Ebd., S. 59. 221 Ebd., S. 61.

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Als Gottschalk aus seiner Vision erwachte und seines Verstandes wieder mächtig wurde, hat ihn auch die schmerzhafte Realität seiner körperlichen Existenz und seines bäuerlichen Alltags wieder eingeholt. Er spürte »Schmerz an den Füßen, den er sich von den stechenden Dornen der Heide zugezogen hatte, solange er noch barfuß über sie hinschritt«.222 Der Gang durch die stechende Jenseitsheide hatte ihn so mitgenommen, »daß sich die schwielige Haut der Fußsohlen wie die Sohlen von zerrissenem Schuhzeug völlig ablöste; die Haut ging dabei nicht stückweise in Fetzen, sondern sie blieb völlig heil, aber löste sich allmählich, wobei sie noch eine Zeitlang an den Füßen hängenblieb, bis sie sich von der Ferse bis zu den Zehen völlig abhob und dann abfiel. Als sie sich gelöst hatte, konnte er wegen der zarten Haut, die unter der anderen, während sie sich lockerte, nachgewachsen war, nicht fest auftreten, bis sie von Tag zu Tag härter wurde und ihm das gewohnte Gehen wieder erlaubte.« 223

In der Tat: Etwas »Knechthaftes« kommt in nackten, ungeschützten Füßen zum Ausdruck, 224 wenn Menschen, der Not gehorchend, auf Schuhwerk verzichten müssen. Der Bauer Gottschalk veranschaulicht Barfüßigkeit nicht als asketische Praxis, sondern als soziale Tatsache, an der die soziale Lage und Zugehörigkeit von Unbeschuhten abgelesen werden kann.

16. Abschließende Erwägungen Die Sprache der Quellen ist eindeutig: die nuditas pedum war in der Zeit des Mittelalters eine schichtenübergreifende Verhaltensform. Barfuß ging der Sünder, dem öffentliche Buße auferlegt war; barfuß ging der Pilger, um sich die Hilfe eines Heiligen zu verdienen; barfuß gingen Mönche, um sich als Sendboten Gottes auszuweisen, die die Nachfolge Jesu und der Apostel ganz wörtlich nehmen. Barfuß gingen Bauern, Bürger und Adlige, um von ihren Herren wiederum in Huld angenommen zu werden. Barfuß gingen Könige und Kaiser, um sich mit Gott und dem Papst zu versöhnen. Barfußgehen ist jenen symbolischen Handlungen zuzurechnen, die religiöse Gesinnungen zum Ausdruck bringen und friedenstiftende Funktionen erfüllen. Die nackten Füße sind gleichermaßen in Religion und Politik anzutreffen; in beiden Bereichen haben sie ihren Platz. Aus

222 Ebd., S. 147. 223 Ebd. 224 Hartmut zwahr , Herr und Knecht. Figurenpaare in der Geschichte, Leipzig u. a. 1990, S. 85.

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welchem Anlaß und in welchen Situationen sich Menschen ihrer Schuhe entledigen, ist durch Brauch und Herkommen geregelt. Der Gestus des Barfußgehens bündelt Bedeutungen aus verschiedenartigen Sinnwelten und Erfahrungsräumen. Er verweist auf Buße, Genugtuung und Sühne, auf Demut und Endlichkeit, auf den Willen zur Nachfolge Jesu und der Apostel. Barfußgehen, das form- und situationsgerecht vollzogen wird, dient nicht allein der Sicherung persönlichen Heils, sondern auch der Wiederherstellung einer gestörten rechtlich-politischen Ordnung. Das Gehen mit nackten Füßen ist symptomatisch für die Religion und Rechtskultur einer weitgehend analphabetischen Gesellschaft. Ohne Rituale, zu denen auch die Barfüßigkeit gehörte, keine religiöse, politische und soziale reconciliatio – weder mit Gott noch mit den Menschen. Das Verschwinden von Ritualen verweist auf ein verändertes, neues Verständnis von Religion, Recht und Gesellschaft. Barfüßigkeit ist eine körperliche Ausdrucksform für Emotionen, Gesinnungen und Handlungsziele. Barfüßigkeit ist ein Mittel der Friedensstiftung und Rechtsverwirklichung. Barfüßigkeit als religiöses und politisches Ritual entsprach einer Lebenswelt, in der Symbole und symbolische Handlungen dem Zusammenleben von Menschen Ordnung und Bestand geben sollten. Im frühmodernen Staat ist der im Büro vereinbarte, durch Brief, Eid und Siegel bekräftigte Vertrag wichtiger geworden als das öffentliche Ritual. Was man schwarz auf weiß nach Hause tragen konnte, schien ein höheres Maß an Rechtssicherheit zu verbürgen als die rituelle Kommunikation von friedlichen Absichten und rechtlichen Abmachungen. Öffentliche Buße als Mittel der Konfliktlösung und Friedensstiftung widersprach den Wertüberzeugungen und Organisationsprinzipien des frühmodernen Staates. Epochenübergreifende Kontinuität gewann Barfüßigkeit mit Hilfe jener Riten, bei denen sich – wie im Falle von Totschlagsühnen, von Straf- und Sühnewallfahrten – rechtliche Zwecke und religiöse Ausdrucksformen miteinander verbanden. Missetäter, die zu einer Strafwallfahrt verurteilt wurden, mußten barfuß gehen. Ein Totschläger, der sich dem Ritual einer förmlichen Totschlagsühne unterwerfen mußte, war gehalten, barfuß in einem schwarzen wollenen Kleid einherzugehen. Das Ritual sah überdies vor, daß der Mörder mit seinem entblößten Oberkörper das Grab des Entseelten bedeckte und dort still liegen blieb, bis ihn der Pfarrer wiederum aufstehen ließ. Ein Ort, an dem Barfüßigkeit die Jahrhunderte überdauerte, war überdies die kirchliche Liturgie. Am Gründonnerstag wurde Armen die Füße gewaschen; am Karfreitag verehrten Kleriker, Mönche und Laienchristen barfüßig das Kreuz. Das konnte aber nicht verhindern, daß angesichts veränderter Maßstäbe über das, was schicklich ist und was nicht, traditionelle Verhaltensformen, zu

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denen auch das Barfußgehen zählte, keine ungeteilte Zustimmung mehr fanden. Entsprechende Vorbehalte bringt der »Bericht des Pilgers« zur Sprache, den Ignatius von Loyola († 1556) verfaßte, als er bei der Lektüre der ›Legenda Aurea‹ an dem Gedanken Gefallen fand, »barfuß nach Jerusalem zu gehen und nur noch wilde Kräuter zu essen und alle anderen Kasteiungen auf sich zu nehmen, die, wie er las, die Heiligen auf sich genommen hatten«. Das bewog ihn, sich aus grobem Stoff ein langes Gewand machen zu lassen. Auch seinem Aussehen wollte er asketische Züge geben. Da »er früher entsprechend der Gepflogenheit jener Zeit sehr auf die Pflege seines Haares bedacht war, und er noch immer eine schöne Frisur hatte, beschloß er nun, es einfach wachsen zu lassen, wie es wolle, ohne es zu kämmen oder zu schneiden oder irgendwie während der Nacht oder bei Tag zu bedecken. Aus dem gleichen Grund ließ er auch die Zehen- und Fingernägel wachsen, da er ebenfalls dafür früher besondere Sorgfalt aufgewendet hatte.« Als jedoch der junge Asket zu Manresa »über sich selbst erhoben wurde« und »eine große Klarheit in seinem Verstand empfing«, da »gab er jene früher geübten Strengheiten auf […]; er schnitt sich wieder die Nägel und die Haare«.225 Kleriker und Mönche weigerten sich, in Auftrag gegebene Bilder abzunehmen, wenn sie der Auffassung waren, daß die nackten Füße der dargestellten Heiligen den Betrachter auf unfromme Gedanken bringen und nichts zu dessen Erbauung beitragen. Caravaggios (1571–1610) ungeschönter Realismus provozierte wiederholt den Widerspruch seiner klerikalen Auftraggeber, die seine Bilder wegen ihres Mangels an decoro nicht akzeptierten. Zu diesem Defizit an Schicklichkeit haben auch nackte Füße und entblößte Beine beigetragen. Die Domherren von San Luigi dei Francesci in Rom lehnten ein Bild des ›Heiligen Matthäus mit dem Engel‹ ab, weil dieser mit übereinandergeschlagenen entblößten Beinen dasaß und seine nackten Füße auf derbe Weise dem betrachtenden Volk entgegenstreckte.226 Der ›Marientod‹, den Caravaggio für die unbeschuhten Karmeliten und deren Kirche Santa Maria della Scala malte, wurde von seinen Auftraggebern gleichfalls zurückgewiesen.227 Die dargestellten »Apostel sind in einfache, erdfarbene Umhänge gehüllt, die Füße sind nackt, Zeichen der apostolischen Armut und Demut«.228 In gleicher Weise wird auch Maria »als eine Frau aus dem Volk gezeichnet, in einfacher, alltäglicher Kleidung, die Beine entblößt, 225 Ignatius von Loyola, Bericht des Pilgers, übers. von Burkhart schneIder , Freiburg i. Br. u. a. 1956, S. 45 - 66. 226 Stefano zuFFI, Caravaggio, Mailand 1991, S. 11. 227 Vgl. dazu Pamela a skew, Caravaggio’s Death of the Virgin, Princeton 1990, S. 50 - 68 (»Rejection«); Stéphane l oIre , Caravage. La mort de la Vierge, une Madonne sans dignité, Paris 1990, S. 33 - 35 (»Les raisons du refus«); zuFFI (wie Anm. 226), S. 12; Jutta held, Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper, Berlin 1996, S. 113 - 120. 228 held (wie Anm. 227), S. 114.

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das Kleid am Hals ein wenig geöffnet«.229 Der Realismus des Bildes, seine »Bäuerlichkeit«, sein Mangel an Erhabenheit irritierten die Karmeliter, die das Bild in Auftrag gegeben hatten. Sie wollten das Bild nicht haben – zum einen wegen der Körpersprache der Madonna, zum anderen angeblich wegen der Wahl des Modells, von dem behauptet wurde, es sei eine stadtbekannte Hure gewesen. Es waren deshalb nicht allein die entblößten Füße, die die Karmeliter bewogen, das Bild zurückzuweisen. Es fehlten überdies Merkmale und Motive, die für den »Marientod« im herkömmlichen Sinne typisch waren. Auf der Darstellung Caravaggios leisten die Apostel keine priesterlichen Sterbehilfen und Jesus trägt auch nicht Marias Seele in den Himmel. Marias nackte Füße mußten anstößig wirken, weil sie einen durch Tradition geheiligten Bildtypus verletzten, der aus ästhetischen und theologischen Gründen Barfüßigkeit für Maria ausschloß. Nackte Füße eines Sterbenden, die diesen als sündhaften Menschen ausweisen, der der Buße bedarf, widersprachen dem Gedanken von Marias unbefleckter Empfängnis. Als sündelose, vom Makel der Erbsünde verschonte Frau war sie der Pflicht zur Buße enthoben. An dem Bilderstreit ist ablesbar, unter welchen Bedingungen Mittel ritueller Kommunikation Dauerhaftigkeit gewinnen, sich verändern oder Widerstand hervorrufen. Gesten – wie das Gehen mit nackten Füßen zum Beispiel – haben Bestand, wenn derjenige, der sie vollzieht, und derjenige, der sie wahrnimmt und dem sie gelten, dieselben Bedeutungszuschreibungen vornehmen. Die Behauptung, »das Vorzügliche einer symbolischen Hand lung« bestehe darin, »daß indem sie durch sich selbst spricht, sie vielseitig gedeutet werden kann und jedem nach seinem Gesichtspunkt etwas Neues saget«, 230 ist deshalb nur zum Teil richtig. Zweifelsohne gibt es subjektive Erkenntnis- und Wahrnehmungsinteressen, die dazu führen, daß eine symbolische Handlung von zuschauenden Betrachtern anders gedeutet wird als von unmittelbar Beteiligten. Als Friedrich Barbarossa beim Friedensschluß von Venedig im Jahre 1177 die Füße Papst Alexanders III. küßte, tat er dies, um dem Papst »geschuldete Ehre« (debita re­ verentia) zu erweisen. Papst und kirchentreue Chronisten deuteten den Vorgang jedoch als Unterwerfung des Kaisers unter die Autorität des Papstes.231 Dennoch läßt sich nicht behaupten, daß die Deutung körperlicher Gesten der Beliebigkeit des jeweiligen Beobachters ausgeliefert war. Barfußgehen blieb eingebunden in 229 Ebd., S. 116. 230 Johann Gottfried Herder, Christliche Schriften, Fünfte Sammlung: Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen, Herders Sämtliche Werke, ed. Bernhard suPhan, Bd. 20, Berlin 1880, S. 202. 231 schreIner (wie Anm. 185), S. 146 - 153.

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rituelle Handlungssequenzen, gehörte zu einem verbindlich definierten Habitus oder gab asketischem Bewußtsein eine unmißverständliche körperliche Außenseite. Die Eindeutigkeit derartiger Bindungen und Verweise zog subjektiven Interpretationsspielräumen Grenzen. Der Status der Büßer, Wallfahrer und Totschläger war durch Barfüßigkeit definiert. Die Barfüßigkeit der franziskanischen Barfüßermönche beruhte auf theologischen Reflexionen und hatte in der Lebensordnung des Ordens, wie sie in Regel und Statuten festgeschrieben war, eine feste Normierung erfahren. In der öffent lichen Buße, mochte sie von einem geistlichen oder von einem weltlichen Gericht beschlossen und verhängt worden sein, gehörte Barfußgehen zu einem traditionsgestützten Ritual, das auf Grund seiner religiösen und rechtlichen Wirkungen sühnte und versöhnte. Mönche, Kleriker und Laien, die am Karsamstag das Kreuz verehrten, taten das, um Christus nachzuahmen, der barfuß sein Kreuz auf den Berg Golgatha getragen hatte. Bischöfe, die mit nackten Füßen in die Stadt ihres künftigen Bischofssitzes einzogen, verstanden sich als dienstwillige Seelsorger, nicht als standesbewußte Herren einer gehorsamspflichtigen Untertanenschaft; sie wollten sich als Erneuerer des religiösen Lebens darstellen, nicht als Amtsträger mit repräsentativen und wirtschaft lichen Interessen. Könige, die barfuß gingen, um einen Heiligen und dessen Reliquien zu ehren, erfüllten nicht eine rituelle Pflicht, sondern waren bestrebt, ihre Gesinnung in eine körperliche Gebärde zu übersetzen, die wortlos zum Ausdruck bringen sollte, was ein sich seiner Sünden und seiner Hinfälligkeit bewußter Herrscher fühlt und denkt. Der gemeine Mann, der barfuß ging, dokumentierte seine Zugehörigkeit zum Kreis der Armen. Es war der soziale und religiöse Kontext, der darüber entschied, auf welche Bedeutung das Barfußgehen im Einzelfall verwies. Strukturelle Veränderungen, die in Staat und Gesellschaft langfristig zur Ausbildung neuer Organisationsformen, neuer Gefühls- und Interessenlagen führten, bewirkten, daß Barfüßigkeit aus politisch relevanten Handlungsfeldern ausgegrenzt wurde. Von der Neuzeit kann denn auch nicht mehr gesagt werden, dass sie – wie das Mittelalter – ein »ganz in Ritualität getauchtes Zeitalter« war.232

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a ngenendt (wie Anm. 47), S. 353.

»deIne brüste sInd süsser als weIn« Ikonographie, religiöse Bedeutung und soziale Funktion eines Mariensymbols

Bildern ist ein unerschöpflicher Vorrat an Bedeutungen eigen. Die Wirkung, die von ihnen ausgeht, besteht nicht allein darin, daß es deren Betrachtern gelingt, aus gemalten, geschnitzten und gehauenen Formen jene Bedeutungen und Botschaften herauszufinden, die Auftraggeber und Künstler ursprünglich hatten mitteilen wollen. Neben werkimmanenten Bedeutungsschichten, die Bilder ihren Betrachtern zu vermitteln und verständlich zu machen suchen, gibt es subjektive Sinn- und Bedeutungszuschreibungen, die Betrachter aufgrund ihrer zeitgebundenen Interessen, Erwartungen und Bedürfnisse von sich aus vornehmen. Wer die in Bildern dargestellten Geschichten liest, betätigt sich zugleich als aktiver Leser und Betrachter. Wenn er die dargestellten Vorgänge, Motive und Gesten zu entziffern sucht, unterwirft er sich der belehrenden Kraft von Bildern; zugleich benutzt er diese als Projektionsfläche und liest in sie auch Bedeutungen hinein. Das zu sagen, hört sich wie altkluges Gerede von gestern an. Dennoch erscheint es nützlich, ab und an theoretisch Selbstverständliches an ausgewählten Beispielen zu erproben. Ich tue das an den Brüsten Marias – einem Bildmotiv von vielfältigen Bedeutungen und Funktionen. Dieses in verschiedenartigen Kontexten zu untersuchen, mag dazu beitragen, Darstellungen der stillenden, brustweisenden und milchspendenden Gottesmutter Maria in ihrer geschichtlichen Eigenart und Bedeutung sowie in ihren sich wandelnden geschichtlichen Wirkungen besser zu verstehen.

1. Zeitgebundene Formen der Wahrnehmung Als Joris-Karl Huysmans (1848–1907), der französische Romancier und Symbolist, in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nach Frankfurt kam, versäumte er nicht, die Staedelschen Sammlungen zu besuchen. Zu den unvergleichlichen Wunderwerken, die seiner Ansicht nach »dieses Museum krönen und die Reise dahin rechtfertigen«, rechnete er insbesondere die »Madonna des

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Abb.1: Fürsorglich stillt Maria ihr Kind, das nach einem Zipfel ihres Kopftuches greift, mit dem Saugen gerade innehält und seine Augen nach rechts wendet. »Die liebevolle Hinwendung zum Kind besaß als ikonographischer Typus der Maria lactans (stillende Maria) bereits eine alte Bildtradition, wie zuvor aber hatte man den Vorgang des Stillens lebensgroß und so lebendig auf einem Tafelbild gesehen« (Christiane k ruse). Robert Campin, der ›Meister von Flemalle‹ (um 1375/78–1444), Frankfurt a. M., Städelsches Kunstinstitut. Foto: Ursula Edelmann (Frankfurt a. M.).

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Meisters von Flémalle [= Robert Campin], die ihr Kind säugt«1 (Abb. 1). Wer es betrachte, stehe »vor etwas Aussergewöhnlichem«, das »uns in jenes göttliche Jenseits versetzt, das so wenig Malern zugänglich war«. In diesem Bild der stillenden Maria seien nämlich künstlerische Form und mystische Innigkeit auf unnachahmliche Weise miteinander verwoben. Das lasse es nicht zu, die Madonna des Meisters von Flémalle nach rein ästhetischen Maßstäben zu beurteilen. »Die Kunstkritik hat bei ihr fast nichts mehr zu suchen; die Madonna hebt uns vor allem in das Reich der Liturgie und Mystik empor. Ihr Platz wäre nur in einer Kirche, und ein Betpult zum Niederknien müsste vor ihr stehen; in der Tat hat man, wenn man sie betrachtet, viel eher das Verlangen, die Hände zu falten, als Notizen zu machen!« 2 Huysmans meint, die ihr Kind stillende »Madonna des Staedelschen Instituts« unterscheide sich von den anderen Werken des Meisters von Flémalle erheblich – »weniger vom Gesichtspunkt der Ausführung und Kunst, als von jenem der Frömmigkeit und der Seele.« 3 Gemalt habe das Bild ein »im Marke seiner Seele ergriffener Mann, den die Glut seiner Wünsche über sich selbst hinaus, auf den Gipfel der Mystik mitten in den Himmel emporträgt.«4 Von der religiösen Ausstrahlung des Bildes überwältigt, fragt deshalb Huysmans: »War er [der Meister von Flémalle], ehe er dies Altarbild begann, durch innere Leiden geläutert, hat er in seinem Innersten das geheime Wirken der Sakramente empfunden? Niemand weiss es! Gewiss ist nur, dass seine Kunst, die bis dahin und vielleicht auch in der Folge an die Erde gebannt war, sich in die Höhen emporschwang; man kann beinahe den Flug dieser Seele verfolgen, deren Abbild uns im Spiegel seines Werkes erhalten blieb. Und tatsächlich bedurfte es, um das in seiner Art einzige Bild hervorzubringen, des Einflusses dieser göttlichen Gnade, denn noch nie hatte die göttliche Mutterschaft diese ungezwungene und vertraute Grösse erreicht; nie zuvor hatte ein Maler, während Christus noch ein Kind ist, das Leid seiner, einer gefürchteten Zukunft, einer Zukunft, die sie kennt, harrenden Mutter schmerzlicher und zarter ausgedrückt. Es ist wie das Stabat mater der Kindheit.«5 Fürwahr: »Der Ausdruck von zurückgedämmtem Leid und verhaltener Zärtlichkeit in ihrem Gesicht ist unsagbar; die wie Knopflöcher eingeschnittenen Augen, mit den etwas hochgezogenen Winkeln sind zu Boden gerichtet; der frische Mund ist geschlossen, das reizende, rundliche Kinn 1

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Joris-Karl Huysmans, Geheimnisse der Gotik. Drei Kirchen und drei Primitive, München 1991, S. 164. – Zur Biographie des Meisters von Flémalle vgl. Hans beltIng / Christiane k ruse , Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, S. 163. Huysmans (wie Anm. 1), S. 181. Ebd., S. 187. Ebd., S. 188f. Ebd., S. 189.

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durch ein Grübchen geteilt, doch alle Worte zerrinnen, niemand kann die anbetungswürdige Güte dieser Lippen, die trostlose Verzweiflung dieser grossen Augen ausdrücken.« 6 Marias Körper habe der Meister von Flémalle zu einer Ausdrucksform göttlicher Vollkommenheit gemacht. Seine Frankfurter Madonna »ist in keiner Weise unkörperlich, abgezehrt oder filigranartig, wie so viele andere Madonnen der Primitiven; sie ist fleischig und stark; sie ist auch kein junges Mädchen, sondern eine junge Mutter, und die milchgeschwellte Brust, an der das Kind saugt, versucht nicht, uns zu täuschen, die natürliche Beredsamkeit der Mutterschaft einzuschränken und sie auf die Einsilbigkeit der Jungfrauen und die elegante Bündigkeit neuer, frischer Reize zurückzuführen. Sie ist ein echtes Weib, sehr hübsch, sehr vornehm, trotz der Derbheit ihrer Leibesbeschaffenheit, sehr patrizisch durch die Feinheit ihrer Züge und die schlanke Magerkeit ihrer langen Finger. So hat der Maler dem Verfahren einer billigen Verdünnung kein Opfer gebracht, um den Begriff des Göttlichen wachzurufen, ist er den irdischen Verhältnissen der Konturen nicht ausgewichen und, trotzdem er der strengste Realist blieb, ist es ihm darum nicht minder gelungen, ein Weib zu malen, das, trüge es auch keinen Heiligenschein um sein Haupt und kein aureolengeschmücktes Kind in den Armen, doch keine andere sein könnte als die jungfräuliche Mutter, als die Miterlöserin eines Gottes.«7 Der amerikanische Althistoriker Peter Brown gab in einem jüngst erschienenen Aufsatz über ›Die Bedeutung der Jungfräulichkeit in der frühen Kirche‹ folgendes zu bedenken: »Gott hatte beschlossen, seine Solidarität mit dem Menschengeschlecht in Christus auf die innigstmögliche Weise zu zeigen, nämlich dadurch, daß er in Marias Schoß Fleisch annahm und dieses Fleisch an ihrer Brust nährte.« Für die Bevölkerung der großen christlichen Städte des byzantinischen Nahen Ostens »konnte kein natürliches Band der Gesellschaft so stark oder so unzweideutig gut sein wie die doppelten Bande von Schoß und nährender Brust.« Schoß und Brust wurden als Organe empfunden, die Mitleid hervorriefen. In einer koptischen Sage fleht die Königin um das Leben eines Prinzen, indem sie zu dem über Leben und Tod gebietenden König sagt: »Willst du nicht daran denken, König, daß es der Schoß einer Frau war, die diesen Prinzen wie jeden anderen Menschen trug, und daß es die Brust einer Frau war, die ihn nährte, so wie ich mein geliebtes Kind an meiner Brust genährt habe?«8 Die »warme, hegende Solidarität zwischen Mutter und Kind« nährte »den universa6 7 8

Ebd., S. 191. Ebd., S. 192. Peter brown, Die Bedeutung der Jungfräulichkeit in der frühen Kirche, in: Geschichte der christlichen Spiritualität, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum 12. Jahrhundert, hg. v. Bernard mcgInn u. a., Würzburg 1993, S. 433.

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len Anspruch auf menschliche Liebe in einer uneinigen und unmenschlichen Welt«9 – in »einer Gesellschaft, die ob ihrer abweisenden Kälte berüchtigt war« und in der »eine tiefe Kluft lag zwischen reich und arm, zwischen den Mächtigen und den Unterdrückten.«10 Brown beschreibt gesellschaftliche Wirkungen eines Marienmotivs, das im Denken und Fühlen spätantiker Christen eine lebenswichtige Rolle spielte. Huysmans beklagt den Verlust einer Vergangenheit, der dazu geführt hat, daß sich die Madonna des Meisters von Flémalle und die Bürger der Stadt Frankfurt fremd geworden sind. Huysmans religiöse Meditationen vor einem Marienbild in einem laizistischen Museum, das nicht fromme Gefühle, sondern ästhetische Lust wecken will, muten nachgerade anachronistisch an. Im Museum einer Stadt, der, wie Huysmans argwöhnt, »die Gottesmutter ein Greuel ist«11, fand die Madonna des Meisters von Flémalle keine Verehrer mehr, die bereit waren, sich von ihr in mystische Höhen und Tiefen entrücken zu lassen. Im Leben der Frankfurter Bürger und Christen hatte sie keinen »Sitz«, keine Bedeutung, keine Aufgabe mehr. Sie erinnerte nicht mehr an Ereignisse, denen Menschen ihre Erlösung von Sünde und Schuld verdanken. Sie gab kein Beispiel mehr, wie Menschen richtig leben sollen. Vor ihrem Bild betete niemand mehr um Hilfe in Drangsalen des Lebens. Huysmans empfand den Widerspruch, in den das Bild durch seine museale Präsentation geraten war. Form und Inhalt des Bildes erinnerten an ein Zeitalter des Glaubens. Im Museum verlor die Darstellung Marias ihre ursprüngliche religiöse Zweckbestimmung. Eingegliedert in ein ihm wesensfremdes ›Zeitalter der Kunst‹ (Hans Belting), in dem Religion aufgehört hatte, eine Denken und Verhalten bestimmende Lebensmacht zu sein, konnte das Bild nur noch besichtigt, nicht mehr verehrt werden. Was unlängst Hans-Georg Gadamer unter Berufung auf Schleiermacher bemerkte, hätte auch Huysmans sagen können. Um nämlich in Erinnerung zu bringen, daß religiöse Bilder in Museen eigentlich fehl am Platze sind, schrieb der Heidelberger Philosoph, daß ein im Museum aufgehängtes Altarbild »immer schon Brandflecken trägt, als ob es aus einer Feuersbrunst gerettet wäre, da sein Lebensraum und seine Lebensfunktion wie untergegangen sind«.12 9 10 11 12

Ebd. Ebd. Huysmans (wie Anm. 1), S. 197. Zitiert nach Hans-Georg gadamer , Bildkunst und Wortkunst, in: Was ist ein Bild?, hg. v. Gottfried boehm, München 1994, S. 103. – Gadamer beruft sich bei dieser Feststellung auf Schleiermacher, ohne genauer anzugeben, in welcher Schrift und in welchem gedanklichen Zusammenhang sich Schleiermacher zum Lebensraum und zur Lebensfunktion von Bildern äußert. Schleiermacher tut das in seiner Ästhetik, in der es heißt: Es »muß etwas von den äußeren Umständen ins Kunstwerk übergehen; und daraus entsteht eben, daß es seine volle Bedeutung nur da haben kann, wo dies ganz

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Marienikonen in spätantiken und frühmittelalterlichen Bürgerkirchen des Byzantinischen Reiches veranschaulichten »Solidaritäten des Fleisches« – die emotional bewegenden »Doppelbande von Schoß und Brust zwischen der menschlichen Maria und ihrem göttlichen Kind«13, die Gott erwählt hatte, »um darin mit der leidenden Menschheit innig eins zu werden«14. Als nämlich »Maria Gott – in Christus – ermöglichte, Mensch zu werden, als sie ihn in ihrem Schoß trug und sein physisches Leben durch ihre Brüste nährte, hatte sie Gott tatsächlich menschlich gemacht.«15 Menschwerdung Gottes im Schoß der Jungfrau bedeutete Identifikation Gottes mit der erbarmungswürdigen Niedrigkeit der menschlichen Natur. »Marias Fleisch, welches Christus in ihrem Schoß und an ihrer Mutterbrust aufgenommen hatte, verband Gott mit der Menschheit.« Deshalb weckten frühbyzantinische Ikonen, die zeigten, wie die Muttergottes ihr Kind stillte oder, wenn es majestätisch auf ihrem Schoß saß, sanft sein Knie berührte, »starke Gefühle der Zusammengehörigkeit«. In der Tat: »Wenn Gott und die Menschheit in so enger Verbindung gesehen werden konnten, wie sie durch das fleischliche Band zwischen der Jungfrau und ihrem Kind verkörpert wurde, dann konnte sich möglicherweise der unsichtbare Faden kreatürlicher Verbundenheit zwischen dem Kaiser und seinen Untertanen und zwischen den Reichen und den Armen als ebenso stark erweisen.«16

2. ›Maria lactans‹ Mit zunehmendem zeitlichen Abstand verändert sich die Wirklichkeit der Bilder. Konstant bleiben ihre Themen. Unverändert bleibt auch die Konfiguration ihrer Farben und Formen. Was sich ändert, ist die Wahrnehmung des Betrachters, seine Erwartungen, Interessen und Empfindungen, seine kulturelle und soziale Lebenswelt. Ändert sich sein Standort, ändert sich auch die Lesart und Wirkung von Bildern. Vorstellungen, die sich Zeitgenossen verschiedener Epochen von einem Bild machen, lassen neue Bedeutungen entstehen. Neue

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verstanden werden kann. So ist also eigentlich ein Kunstwerk auch eingewurzelt in seinen Grund und Boden, in seine Umgebung. Es verliert schon seine Bedeutung, wenn es aus dieser Umgebung herausgerissen wird und in den Verkehr übergeht. Es ist wie etwas, das aus dem Feuer gerettet ist und nun Brandflecken trägt« (Vgl.: Friedrich Schleiermachers Ästhetik, hg. v. Rudolf odebrecht, Berlin / Leipzig 1931, S. 85f.). brown (wie Anm. 8), S. 434. Ebd., S. 433. Ebd., S. 434. Peter brown, Macht und Rhetorik in der Spätantike. Der Weg zu einem ›christlichen Imperium‹, München 1995, S. 199f.

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Botschaften werden entdeckt, alte vergessen und verdrängt. Huysmans suchte bei dem im Frankfurter Staedel ausgestellten Meister von Flémalle die Einheit von schöner Form und mystischer Spiritualität. Theologen, Maler und Bildhauer der alten und mittelalterlichen Kirche hatten die stillende Gottesmutter als theologisches Beweismittel für die Menschlichkeit Jesu betrachtet. Maria, die ihren von Gott gezeugten Sohn nicht einer Amme anvertraute, sondern selber stillte, sollte im hohen und späten Mittelalter ihren Geschlechtsgenossinnen zu Bewußtsein bringen, wie sie ihre Neugeborenen christlich und vernünftig pflegen und ernähren sollen. Der offenkundige Bedeutungs- und Funktionswandel zeigt: Was Betrachter auf Bildern sehen, ändert sich mit dem Standort, den sie einnehmen. Und nicht zuletzt: Der Erfindung von Bildern geht – jedenfalls in der Welt des Mittelalters – in der Regel die Erfindung von Geschichten voraus, die Bilder nacherzählen, ohne sich in der historisierenden Vergegenwärtigung geschichtlich und heilsgeschichtlich bedeutsamer Vergangenheit zu erschöpfen. Das gilt auch für die stillende Gottesmutter, die zum Gegenstand einer weitverzweigten Bedeutungsgeschichte wurde. Das Thema der stillenden Madonna verdankt sich nicht der Einbildungskraft eines frommen Malers; es beruht auf sprachlicher Narration. Es sind allerdings nicht die Evangelisten, die davon berichten, daß Maria den neugeborenen Messias gestillt habe. Was die Evangelisten aus ihren Erzählungen über die Geburt und Kindheit Jesu aussparen, versteht sich für die Verfasser apokrypher Evangelien und die theologischen Schriftsteller der alten Kirche von selbst: Maria gab ihrem Kind, dem vom Heiligen Geist erzeugten Erlöser, die Brust. Daß Jesus der Muttermilch bedurfte, ließ ihn als wahren Menschen erscheinen. Sich über die Mutterbrust Marias und die Säuglingsnahrung Jesu Gedanken zu machen, stand im Dienste der Glaubensbegründung und Glaubensverteidigung. Mutterbrust und Muttermilch dienten als Beweise für das wahre Menschsein Jesu.17 In seiner Schrift ›Über das Fleisch Christi‹ versicherte Tertullian (gest. nach 220), »einer der originellsten und bis auf Augustin der individuellste aller lateinischen Kirchenschriftsteller«, »daß nur, wenn sich alles – abgesehen von der Empfängnis – ganz und gar nach Menschenweise vollzogen hätte, die Brüste der Maria mit Milch gefüllt worden wären«. Tertullian »ruft Hebammen, Ärzte und Naturkundige zu Zeugen auf. Jesus ist wie jeder andere gesäugt worden; das steht fest.« Um einen alttestamentarischen Typus für das brustsaugende Jesuskind zu finden, zitiert er eine Psalmstelle, die sich, christologisch gedeutet, als prophetische Selbstaussage Christi verstehen läßt:

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Vgl. dazu und zum Folgenden, wenn nicht anders vermerkt und angegeben, die Nachweise in meinem Buch: Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1994, S. 196.

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»Denn du [ Jahwe] hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen; du warst meine Zuversicht, da ich noch an meiner Mutter Brüsten war« (Ps 22,10).18

Marias Brüste erfüllten die Funktion eines theologischen Beweismittels, demzufolge Jesus einen echten, von einer Frau herrührenden menschlichen Körper besaß. Die frühchristlichen Apologeten versicherten unter Berufung auf Maria: Christus, der von Maria geborene Messias, besaß weder einen leidensunfähigen Scheinleib, noch hatte er bei seiner Herabkunft vom Himmel »Teile von der Substanz des Alls« übernommen und sich daraus einen Leib gebildet.19 Die christlichen Theologen beharrten auf der Körperlichkeit Jesu. Ihre gnostischen Gegner behaupteten: Christus » ›ist nicht nur scheinbar gekommen‹, sondern er ›nahm wahrhaft Fleisch an‹, nicht von der Jungfrau Maria, und doch hatte er wirkliches Fleisch und einen Leib, aber ›nicht vom Samen eines Mannes oder von einer jungfräulichen Frau‹. Doch er hatte wahres Fleisch, auf folgende Weise: Als er vom Himmel herabstieg, kam er auf die Erde und sammelte seinen Leib aus den vier Elementen.« Trockenes habe er vom Trockenen genommen, das Warme vom Warmen, das Feuchte vom Feuchten, das Kalte vom Kalten. So habe er sich einen Leib gebildet, sei wirklich in der Welt erschienen und zu einem Lehrer der Menschheit geworden, der »die Erkenntnis von oben« offenbarte. Nach seiner Kreuzigung und Auferstehung habe er seine Menschengestalt wieder aufgelöst und den vier Elementen ihre Anteile, aus denen er seinen Körper gebildet hatte, zurückgegeben: »Warmes dem Warmen, Kaltes dem Kalten, Trockenes dem Trockenen, Feuchtes dem Feuchten. Und nachdem er so seinen ›fleischlichen Leib wieder aufgelöst‹ hatte, stieg er in den Himmel empor, aus dem er gekommen war.« 20 Was Marias Brüsten außerdem verstärkte Aufmerksamkeit verschaffte, waren altkirchliche Gedanken- und Traditionsströme, die Maria als Urbild der Mutter Kirche erscheinen ließen und schließlich dazu führten, daß Maria auf dem Konzil von Ephesus (431) in den Rang einer Gottesmutter (δεοτόĸος, mater Dei, genitrix Dei, Dei para) erhoben wurde. Der Verfasser des ersten Petrusbriefes hatte seine Leser aufgefordert, auf »vernünftige, lautere Milch« begierig zu sein (1. Petr 2,2).21 Altkirchliche Bi18 19 20 21

Ebd. Stefan heId, Chiliasmus und Antichrist-Mythos. Eine frühchristliche Kontroverse um das Heilige Land, Bonn 1993, S. 409f. Ebd., S. 408. Der Apostel Paulus verglich die neubekehrten Christen von Korinth mit kleinen Kindern, denen er Milch zu trinken, nicht feste Speise zu essen gegeben habe (vgl. 1. Kor 3,2). Vgl. dazu Ernst Robert curtIus, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern / München 41963, S. 144f. – Zur Metaphorik von Milch und fester Speise für unterschiedliche Grade der Glaubenslehre vgl. Hans-Jörg sPItz, Die Metaphorik des

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schöfe verwandelten die allgemein gehaltene biblische Mahnung in eine Aufforderung, aus den Brüsten Marias Milch des Heils zu trinken. »Denn«, so versicherte Bischof Theodor von Ankyra (gest. vor 446) in einer Predigt, »bei ihr ist die Quelle des Lebens, bei ihr sind die Brüste der geistigen und unverfälschten Milch.« 22 Ohne die Symbolkraft einer von Gott begnadeten Frau, die gleich Isis, der ägyptischen Muttergottheit, stillte, nährte und beschützte, waren Heiden für die christliche Religion nicht zu gewinnen. Die neue Religion mußte Anschluß an die alte gewinnen, wenn sie diese widerlegen wollte; sie mußte vergleichbare und gleichermaßen wirksame Hilfs- und Heilsangebote machen, um Menschen bei der Bewältigung ihrer alltäglichen Lebensprobleme zu helfen. Die von Religionsgeschichtlern und Kunsthistorikern kontrovers diskutierte Frage, ob und inwieweit die stillende Maria die stillende Isis beerbt habe und die Verehrung der christlichen Gottesmutter deshalb als »Fortführung des Isiskultes mit anderem Namen zu betrachten« sei 23, bleibe hier ausgespart.24 Aufmerksamkeit und Beachtung verdienen jedoch folgende Befunde: In der spätantiken Christenheit spielte die koptische Kirche bei der Entfaltung der Marienlehre eine bedeutende Rolle. Ihre führenden Theologen bezeichneten Maria als »Mutter Gottes«, Isis hingegen als »Mutter der Götter«. Unter der in der koptischen Kirche entstandenen marianischen Literatur befinden sich apokryphe Berichte über das Leben Marias, in denen diese als Frau gerühmt wird, die mit ihren Brüsten Christus, den Erlöser der Menschheit, genährt hat. Zu der sterbenden Maria soll diesen Berichten zufolge Jesus gesagt haben: »Gesegnet sind die Brüste, o Maria, meine jungfräuliche Mutter, denn du nährtest mich durch sie.« 25 Bei der Erweckung von Marias Leichnam werden in eben diesen Texten Christus folgende, an die Apostel gerichtete Sätze in den Mund gelegt: »Sehet meine geliebte Mutter. Da ist die, deren jungfräulicher Leib mich neun Monate getragen hat, und drei Jahre saugte ich an ihren Brüsten, die süßer waren als

22 23 24 25

geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends (Münstersche Mittelalter-Schriften 12), München 1972, S. 158 178. Vgl. auch ebd., S. 178 - 180: »Milch und Honig«; S. 180 - 181: »Milch und Wein«; S. 181 - 184: »Wein und Milch«. schreIner (wie Anm. 17), S. 176f. So Christa mulack , Maria. Die geheime Göttin im Christentum, Stuttgart 31988, S. 114. Über Ähnlichkeiten, funktionale Äquivalente und Differenzen vgl. schreIner (wie Anm. 17), S. 197 - 199; S. 533f. Text and Studies. Contributions to Biblical and Patristic Literature, Bd. 4, Nr. 2: Coptic Apocryphal Gospels, hg. v. J. Armitage robInson, Cambridge 1869, S. 77. – Vgl. dazu Paul eIch, Die Maria lactans. Eine Studie ihrer Entwicklung bis in das 13. Jahrhundert und ein Versuch ihrer Deutung aus der mittelalterlichen Frömmigkeit,Masch. Diss., Frankfurt a. M. 1953, S. 37.

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Honig.« 26 Koptische Ikonen aus dem 6. Jahrhundert zeigen, wie Maria Christus auf dem Schoß hält, »so als sei er durch das Band ihres Leibes unauflöslich an die Menschheit gebunden.« 27 Lieder und Predigten aus der damaligen Zeit preisen das gemeinsame Fleisch, das Maria und Christus miteinander verbindet. In einem solchen Hymnus heißt es: »Du, Maria, beugtest deinen Hals und ließest dein Haar über ihn [ Jesus] fallen […]. Er streckte seine Hand aus, er nahm deine Brust und er saugte mit seinem Mund die Milch, welche süßer ist als reines Manna.« 28 Es geht in diesen Texten nicht um die Vergegenwärtigung göttlicher Mutterschaft im Bilde einer Stillenden, sondern um Veranschaulichung und Deutung des Gott- und Menschseins Jesu im Lichte der christlichen Glaubensüberlieferung (Abb.2).

3. Milch als theologische und ekklesiologische Metapher in der alten Kirche Im Bild der stillenden Muttergottes vergewisserte sich die alte Kirche der Menschlichkeit Jesu. Die religiöse Metaphorik der aus weiblichen Brüsten fließenden Milch blieb aber nicht allein auf Maria und ihre Mitwirkung an der Ernährung des menschgewordenen Gottessohnes beschränkt. Bereits Jahwe, der Gott Israels, hatte seinem in ägyptischer Knechtschaft schmachtenden Volk versprochen, es zu befreien und in ein Land zu führen, in dem Milch und Honig fließen (Ex 13,5; Dtn 11,9; 31,20). Mit der Vorstellung von Milch und Honig verband das Volk Gottes Vertrauen in die Verläßlichkeit einer göttlichen Zusage, Hoffnung auf eine glückliche, von Mühsal und Unterdrückung befreite Zukunft. Milch als Metapher für eine göttliche Verheißung wirkte im frühen, vorkonstantinischen Christentum ritenbildend. Visionen berichten von zum Tode verurteilten Märtyrern, denen Kelche mit Milch ins Gefängnis gebracht wurden.29 Hält man sich an die Angaben von Tertullian, wurde Katechumenen, wenn sie aus dem Taufbad herausgestiegen waren, eine Mischung von Milch und Honig gereicht.30 Die Kirchenordnung des Hippolyt von Rom (gest. 235) sah für die frühchristliche Abendmahlsliturgie folgendes Ritual vor: Nach dem 26 27 28 29 30

Ebd., S. 65. Peter brown, Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München / Wien 1991, S. 456. Ebd. heId (wie Anm. 19), S. 219. Ebd.

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Abb.2: »Stillende Maria« (Maria lactans). »Wie seine koptische Kunst blieb auch Ägypten im vierten und fünften Jahrhundert in christliche und heidnische Elemente geteilt« (Peter Brown). Aus Ägypten, 5. Jahrhundert, Berlin, Staatliche Museen, Preußischer Kulturbesitz, Museum für Spätantike und Byzantinische Kunst.

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Friedenskuß soll der Bischof Dank sagen über das Brot als Abbild des Leibes Christi und über den Kelch mit Wein als Abbild des Blutes, »das vergossen wurde für alle, die an ihn geglaubt haben; auch über Milch mit Honig gemischt zur Erfüllung der Verheißung, die an die Väter erging, da er vom Lande sprach, wo Milch und Honig fließt, das Christus gab als sein Fleisch, mit dem die Gläubigen wie Kinder ernährt werden, indem er durch die Lieblichkeit des Werkes die Bitternisse des Herzens versüßt.« 31 Für das »Land der Verheißung« gab es in der patristischen Exegese verschiedene Deutungsangebote. Tertullian (gest. nach 220) verstand unter dem gesegneten Land zum einen die Jungfrau Maria; zum anderen sah er in ihm einen Hinweis auf den Leib Christi.32 Hippolyt war der Auffassung, die Segnung des Landes Josefs durch den Herrn (Dtn 33,13) sei auf Maria zu beziehen, »welche war das gesegnete Land«. Andererseits konnte er sagen: Das gesegnete Land sei »nichts anderes« als Christus selbst und zwar deshalb, weil er, »geboren von der Jungfrau und vom Heiligen Geist, allen Segen des Herrn empfing«. Auf Christus treffe zu, was Gott seinem Volk verheißen habe: »Ich werde euch das Land geben, das von Milch und Honig überfließt, das ich euren Vätern zu geben versprochen habe (Ex 13,5; Dtn 11,9; 31,20).« 33 Spätmittelalterliche Prediger suchten dem von Milch und Honig fließenden Land neue mariologische und christologische Bedeutungen abzugewinnen. »Die erden was unser frowe«, heißt es in einem altdeutschen Predigtfragment, »die uns das suzze honich und die suzzen milch praht«. Der Honig bedeute »die gotthait Jesu«, die Milch seine »suzze menschait«.34 Von Milch aus Marias Brüsten ist in diesen allegorischen Deutungen einer alttestamentlichen Allegorie, in denen es um die geistliche Bedeutung von Land, 31 32 33

34

Texte der Kirchenväter. Eine Auswahl nach Themen geordnet, hg. v. Alfons heIlmann / u. M. v. Heinrich k raFt, München 1964, S. 283. heId (wie Anm. 19), S. 131. Andere Autoren deuten das von Milch und Honig fließende Land als Präfiguration der Kirche, »weil sie vom Herrn wahrhaft wie ein Heiliges Land und ein Paradies der Seligkeit gesegnet war«. Der Kirchenvater Hieronymus benutzte den Vers, um mit Hilfe eines Schriftwortes den Nachweis zu führen, daß Juden und Christen eine unterschiedliche Erkenntnisfähigkeit zukomme. Gott habe die Juden aus Ägypten deshalb in das von Milch und Honig fließende Land geführt, weil die Juden zum Essen fester Speise (solidus cibus) nicht fähig gewesen seien und wie Kinder (quasi parvuli) der Milch und des Honigs bedurft hätten. Vgl. sPItz (wie Anm. 21), S. 160. So in einem Salzburger Predigtfragment. Vgl. Anselm salzer , Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters. Eine literarisch-historische Studie, Darmstadt 21967 [Nachdruck der Ausgabe Linz 1893], S. 4. Einen weiteren Beleg aus einer Basler Handschrift des 14. Jahrhunderts in: Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, hg. v. Wilhelm wakkernagel , Darmstadt 1964 [Nachdruck der Ausgabe Basel 1876], S. 56, Nr. XXXII.

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Milch und Honig geht, nicht die Rede. Das braucht auch nicht zu verwundern. Die Metaphern des geistigen Ernährens und geistlichen Stillens waren in den ersten frühchristlichen Jahrhunderten theologisch, christologisch und ekklesiologisch besetzt. Clemens von Alexandrien (gest. vor 215) sprach von den Brüsten Gottvaters, den Brüsten Christi und den Brüsten der Mutter Kirche, nicht von denen Marias.35 Christus bezeichnete er als »Milch von den Brüsten des Vaters«. Die »Milch der Erlösung« ist für ihn gleichbedeutend mit dem Blut Christi; sie kommt nicht von Maria, sondern von dem göttlichen Vater in Gestalt des göttlichen Sohnes. Es ist die Mutter Kirche, aus deren Schoß wir geboren sind und von deren Milch wir ernährt werden. »Die Kirche«, beteuert Clemens von Alexandrien, »ruft als Mutter und Jungfrau ihre Kinder zusammen, um sie zu ernähren mit einer heiligen Milch, mit dem Logos in Kindesgestalt.« 36 Für den englischen Theologen und Kirchenhistoriker Beda Venerabilis (673/74–735) sind die beiden Brüste der Braut des Hohenliedes gleichbedeutend mit den Lehrern der Kirche, die mit ihrer »Milch des heilbringenden Wortes« (lac uerbi salutaris) die unmündigen Völkerschaften der Juden und Heiden so ernähren, daß diese zum Glauben finden. Der karolingische Theologe Haimo von Auxerre (9. Jh.) war der Auffassung, daß »durch die Brüste Christi« ( per ubera Christi) die »Süße des Evangeliums« (dulcedo Evangelii) zum Bewußtsein gebracht werde. Christi Brüste seien süßer als Wein, weil die Süße des Evangeliums süßer sei als die Strenge des Gesetzes (ubera Christi meliora sunt vino, quia dulcedo Evangelii melior est austeritate legis). Die »Brüste der Kirche« (ubera ecclesiae) seien die beiden Testamente, aus denen Prediger »Milch mystischer Einsicht« (lac mysticae intelli­ gentiae) saugen.37 35

36 37

Vgl. dazu Anneweis van de bunt, Milk and Honey in the Theology of Clement of Alexandria, in: Fides Sacramenti sacramentum Fidei. Studies in honour of Pieter Smulders, hg. v. Hans Jörg auF der m auer u. a., Assen 1981, S. 27 - 39; Gail Paterson corrIngton, The Milk of Salvation: Redemption by the Mother in Late Antiquity and Early Christianity, in: Harvard Theological Review 82 (1989), S. 393 - 420. van de bunt (wie Anm. 35), S. 32f.; S. 37f.; corrIngton (wie Anm. 35), S. 412f. Beda Venerabilis, In Cantica Canticorum, in: CC SL 1196, Bedae opera pars II, 2 B, ed. d. hurst, Tvrnholti 1983, S. 251. – Einen sehr schönen Beleg für die »Brüste Christi« enthält die Regel für Inklusen (De institutione inclusarum), die der englische Theologe und Zisterzienserabt Aelred von Rievaulx (gest. 1167) verfaßte. Aelred von Rievaulx forderte die Inklusen auf, das Bild des am Kreuz hängenden Erlösers anzuschauen, um dann fortzufahren: »expansis brachiis ad suos te inuitet amplexus, in quibus delecteris, nudatis uberibus lac tibi suauitatis infundat quo consoleris«. – Zu den »Brüsten Christi« als Zeichen seiner Mütterlichkeit in der mystischen Theologie des hohen Mittelalters vgl. Caroline walker bynum, Jesus as Mother: Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley / Los Angeles 1982. Zur »Brust des Herrn« in der Symboltheologie der Patristik vgl. Hugo r ahner , ›De Dominici pectoris fonte potavit‹, in: Zeitschrift für katholische Theologie 25 (1931), S. 103 - 108.

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Bischof Bruno von Segni (1040/50–1123) identifizierte die beiden Brüste der im Hohenlied beschriebenen Braut gleichfalls mit den beiden Testamenten.38 Die süße Milch ordnete er dem Neuen Testament zu, den Wein dem Alten. In den beiden Kitzlein, mit denen der hebräische Liederdichter die Brüste der Braut verglichen hatte, erblickte er einen Hinweis auf Juden und Heiden.39 Die Brüste der Kirche seien schön; die der Synagoge seien es nicht, weil diese ihre Söhne mit schwarzer Milch, mit schmutzigem Bodensatz und Irrtümern ernähre. Die Kirche gebe ihren Kindern Milch zu trinken; die Synagoge hingegen mache ihre Hurensöhne mit Wein trunken.40 Die Brüste der Kirche würden sowohl Milch als auch Wein enthalten, mit Milch ernähre sie die Einfältigen (simplices), mit Wein versetze sie die Weisen (sapientes) in Ekstase, gebe ihnen Weisheit und erfreue ihr Herz.41

4. Mariologische Deutung des Hohenliedes: Marias Brüste als Sinn- und Bedeutungsträger Erweitert und vertieft wurde die theologische Metaphorik von Marias Brüsten durch die mariologische Auslegung des Hohenliedes. In dieser altorientalischen Liebesdichtung, die die frühchristliche Kirche in den Kanon ihrer Heiligen Schriften aufnahm, erfindet der Liebhaber ständig neue Metaphern, um die Schönheit seiner Geliebten in Worte und Bilder zu fassen. Ins Schwärmen kommt er, wenn er ihre Brüste beschreibt. Sie seien »süßer als Wein« (Hohes Lied 1,1). Sie würden ihn an Gazellen erinnern, von denen, wenn sie in hohem Gras äsen, gerade noch ihre Rücken zu sehen sind. »Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, wie die Zwillinge einer Gazelle, die in den Lilien weiden« (4,5; vgl. auch 7,4). An anderer Stelle schreibt er: »Wie eine Palme ist dein Wuchs; deine Brüste sind wie Trauben« (7,8). Er wünscht sich: »Trauben am Weinstock seien mir deine Brüste« (7,9). Das Hohelied zählt, wie Goethe in seinem »Westöstlichen Divan« anmerkt, zum »Zartesten und Unnachahmlichsten, was uns von Ausdruck leidenschaftlicher, anmutiger Liebe« überliefert ist. »Durch und durch wehet eine milde Luft des lieblichsten Bezirks von Kanaan; ländlich trauliche Verhältnisse, Wein-, Garten- und Gewürzbau, etwas von städtischer Beschränkung, sodann aber ein königlicher Hof mit seinen Herrlichkeiten im Hintergrunde.« Das Hauptthema 38 39 40 41

In Cantica Canticorum, in: m Igne , PL 144, Sp. 1235; 1257; 1259. Ebd., Sp. 1257. Ebd., Sp. 1259. Ebd., Sp. 1280.

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jedoch bleibt »glühende Neigung jugendlicher Herzen, die sich suchen, finden, abstoßen, anziehen, unter mancherlei höchst einfachen Zuständen.«42 Bibelausleger des 12. Jahrhunderts entdeckten in der Braut des alttestamentlichen Hohenliedes eine Präfiguration der Gottesmutter Maria. Eine solche Sichtweise verwandelte den Liebesdialog in ein Zwiegespräch zwischen Christus und seiner Mutter Maria. Schwer ließ sich bei dieser Deutung übersehen, daß die beiden Liebenden des Hohenliedes nicht nur ihre Seelen, sondern auch ihre Körper suchten. Wollten die Interpreten des Hohenliedes ihren Auslegungsprämissen treu bleiben, waren sie gehalten, auch in der erotischen Beredsamkeit der sich liebenden Körper einen geistlichen Sinn zu finden. Die Brüste der Gottesmutter in theologische Symbole zu verwandeln, erzeugte in ihnen weder Peinlichkeitsgefühle noch Berührungsängste. Unbefangen und einfühlsam gestalteten sie die Sprache der Liebenden um in eine Sprache geistlicher Liebeskunst. Solches Reden über Maria schöpfte aus einem reichhaltigen Vorrat an Liebesvorstellungen und Liebeserfahrungen, in denen der Bezug zum Körperlichen stets gegenwärtig war. Ausleger des Hohenliedes unterschieden, wenn sie über die Heilsbedeutung Marias nachdachten, zwischen einer »körperlichen« und einer »geistlichen« Mutter. Mit ihren »körperlichen Brüsten« habe Maria durch »körperliche Milch« ihren Sohn ernährt, um Skeptikern gegenüber den Nachweis zu erbringen, daß Jesus keinen Scheinleib, sondern einen wirklichen menschlichen Körper besaß. Mit ihren »geistlichen Brüsten« nähre Maria die wahren Gottesanbeter, das gläubige Volk der Kirche, die Kinder und Söhne Jesu. Maria sei willens, die nach Erlösung verlangende Menschheit ohne Unterlaß mit ihrer »Milch der Güte« zu versorgen.43 Die mariologische Deutung des Hohenliedes, wie sie durch den Benediktiner Rupert von Deutz (um 1070–1129/30), den rätselhaften Honorius Augustodunensis (um 1080–1144), durch Prämonstratenser wie Philipp von Harvengt (um 1100–1183) und Augustiner-Chorherren wie Wilhelm von Newburgh (um 1136–1198) begründet wurde, erwuchs vornehmlich aus »altkirchlichen Ansätzen und aus Elementen der Marienfrömmigkeit und Marienliturgie«44. Nach Auffassung Bernhards von Clairvaux war es jedoch die Braut, die menschliche Seele, die von ihrem Bräutigam, das heißt von Christus sagte: »Süßer als 42 43 44

Johann Wolfgang Goethe, Westöstlicher Divan. Noten und Abhandlungen, hg. v. Erich trunz, in: Goethes Werke, Bd. 2, München 111978, S. 128f. schreIner (wie Anm. 17), S. 181; S. 529. Vgl. dazu auch Rachel l ee Fulton, The Virgin Mary and the Song of Songs in the High Middle Ages, Ann Arbor 1994, S. 556f., S. 688 - 695. Ulrich koePF, Einleitung [zu den Sermones super Cantica Canticorum Bernhards von Clairvaux], in: Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, hg. v. Gerhard B. wInkler , Innsbruck 1990, S. 36.

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Wein sind deine Brüste, duftend nach den herrlichen Salben.«45 Um den Hörern und Lesern seiner Predigt verständlich zu machen, »welche Bewandtnis es mit dem Preis der Brüste des Bräutigams hat«, sagt und schreibt er: »Zwei Brüste hat der Bräutigam, und zwei Beweise seiner wesenhaften Sanftmut sind in ihm: daß er geduldig auf den Sünder wartet und den Reumütigen voll Milde wieder aufnimmt. Zweifach, sage ich, zeigt sich die huldreiche Güte, die aus dem Herzen des Herrn Jesus quillt: in der Langmut des geduldigen Zuwartens und in der Bereitwilligkeit zur Vergebung.«46 Sage die Braut: »Deine Brüste sind süßer als Wein«, so bedeute dies: »Die reiche Fülle der Gnade, die aus deinen Brüsten strömt, ist zum geistigen Fortschritt für mich wirksamer als beißende Schelte der Vorgesetzten.«47 Weil die Braut von den »Brüsten [des Bräutigams] einen so reichen Strom der Güte erfahren« hat, wagt sie es, ihn »um den Kuß zu bitten«. Indem der Bräutigam das Begehren seiner Braut stille, küsse er sie und gewähre ihr, was ihre Lippen verlangen. Das zeige sich »im Anschwellen ihrer Brüste. Der heilige Kuß ist nämlich von solch wirksamer Kraft, daß die Braut, sobald sie ihn empfangen hat, durch ihn sogleich schwanger wird und zum Beweis dafür ihre Brüste anschwellen und wie von Milch strotzen. Wer sich immer wieder des Gebetes befleißigt, weiß, was ich meine. Oft treten wir mit lauem und trockenem Herzen an den Altar und bemühen uns zu beten. Wenn wir aber darin verharren, ergießt sich plötzlich Gnade über uns, das Herz schwillt, und ein Strom der Liebe füllt die Brust; und wenn jemand da ist, der sie drückt, wird sie unverzüglich von der Milch der empfangenen Süße überquellen. So kann er also sagen: Was du begehrt hast, meine Braut, ist dir zuteil geworden, und daß deine Brüste süßer als Wein geworden sind, soll dir ein Zeichen sein: Daran wirst du erkennen, den Kuß empfangen zu haben, daß du spürst, schwanger geworden zu sein. Deshalb sind auch deine Brüste angeschwollen und in der Fülle ihrer Milch süßer geworden als der Wein der Weisheit dieser Welt, die zwar trunken macht, aber von Neugier, nicht von Liebe; sie füllt, aber nährt nicht, sie macht aufgeblasen, baut aber nicht auf, sie läßt den Bauch voll werden, gibt aber nicht Kraft.«48 Sooft die Braut von ihrem Bräutigam geküßt werde, spüre sie jedesmal, wie zwei Arten der Milch »in reicher Fülle vom Himmel her in ihre fromme Brust einschießen: Die Mitfreude spendet die Milch der Ermunterung, das Mitleid aber die Milch der Tröstung«.49

45 46 47 48 49

Ebd., S. 137. Ebd., S. 139. Ebd., S. 141. Ebd. Ebd., S. 147.

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4. Mutter der Barmherzigkeit: Brustweisung als Bitt- und Versöhnungsgebärde In der Auslegung des Hohenliedes wurden Liebes- und Körpererfahrungen symbolfähig für religiöse Geheimnisse. Der spätmittelalterlichen Frauenmystik blieb es vorbehalten, die im Namen Evas diffamierte Körperlichkeit weiblicher Existenz zu einer Quelle spiritueller Erfahrung zu machen. In ihrem ›Fließenden Licht der Gottheit‹ läßt Mechthild von Magdeburg (um 1208–1282/97), die des Lateins nicht mächtige Begine und spätere Zisterzienserin im Kloster Helfta, Maria sagen: Als Mutter der von Elend und Sünde geschlagenen Menschheit seien ihre Brüste »vol der reinen milch der waren milten barmhezekeit«. Mit dieser Milch des Erbarmens habe sie bereits vor ihrer Geburt die Propheten gestillt. Als Frau, Jungfrau und Mutter aus Nazareth habe sie mit ihren Brüsten Jesus, ihren Sohn, ernährt, desgleichen »gottes brut«, die ganze damals lebende Christenheit. Ihr Verlangen nach Marias Nähe und Beistand kleidet Mechthild in die Bitte: »Vrovwe, noch must du úns soegen, wan dine brúste sint noch also vol, das dú nut maht verdruken wol« (Frau, noch mußt du uns säugen, denn deine Brüste sind noch so voll, daß du den Reichtum deiner Milch nicht mit Gewalt zurückzuhalten vermagst).50 Texte und Lesarten, deren suggestive Bildkraft auf sinnlich erfahrener Körperlichkeit beruhte, erschlossen Zugänge zur Welt des Göttlichen. Solche Frömmigkeit, die theologische Bildung und Erfahrungen menschlicher Leiblichkeit miteinander verknüpfte, entzweite nicht Körper und Seele. Mechthild hatte auch darum gebeten, daß Maria am Jüngsten Tag, wenn ihr Sohn wiederkommt, um Gericht zu halten, mit ihrer Milch ihre Verehrer und Verehrerinnen säuge. Die Mystikerin brachte zur Sprache, was in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts herrschender Glauben war: Wenn nämlich Maria im Endgericht ihrem Sohn ihre entblößten Brüste zeige, bewirke sie für ihre Schutzbefohlenen Befreiung von Sünde und Schuld.51 Die Kraft ihrer Fürbitte machte sie zur Köngin der Barmherzigkeit. Ihre »Brüste der Barmherzigkeit« (ubera misericordiae) und ihre »Milch der Barmherzigkeit« (lac misericordiae) ließen hilfesuchende Sünder und Verehrer hoffen, durch ihre Fürsprache Schutz und Rettung vor der ewigen Verdammnis zu finden. 50 51

schreIner (wie Anm. 17), S. 182f.; S. 529f. Max seIdel , Ubera Matris. Die vielschichtige Bedeutung eines Symbols in der mittelalterlichen Kunst, in: Städel-Jahrbuch 6 (1977), S. 70 - 78 (Mater ostendit Christo ubera); Susan Marti-Daniela mondInI, »Ich manen dich der Brüsten min, / Das du dem sünder wellest milte sin«. Marienbrüste und Marienmilch im Heilsgeschehen, in: Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, hg. v. Peter jezler , Zürich 1994, S. 79 - 90.

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Beispielgeschichten veranschaulichten, woran sich Christen halten sollten und worauf sie vertrauen konnten: In einem Kloster, so wird überliefert, stirbt eine mit schweren Sünden beladene Nonne. Zwischen Teufeln, die ihre Seele ergriffen hatten, und Maria entsteht ein langer Streit um das künftige Schicksal der Toten. Der Streit findet darin sein Ende, daß Maria ihren Busen entblößt und energisch sagt: »Durch jenen, den ich mit diesen Brüsten gestillt habe, überlaßt mir, ihr Räuber, meine Dienerin«. Die Teufel vermochten dieser entschlossenen Intervention nicht zu widerstehen; sie gaben sich geschlagen und verließen den Kampfplatz.52 Sogenannte »Gottesplagenbilder« bestärkten mittelalterliche Fromme in dem Vertrauen, daß Gott die Menschheit vor Pest, Hunger und Krieg bewahrt, wenn Maria ihre Brust zeigt. Als brustweisende Fürbitterin wurde Maria überdies dargestellt, wenn sie nach dem Tod eines Menschen zusammen mit ihrem Sohn bei Gott interveniert oder im Endgericht gemeinsam mit Johannes dem Täufer vor Christus Fürsprache einlegt. Marias fürbittende Rolle, wie sie sich im Zeigen ihrer Brüste symbolisch ausdrückt, findet in den Schriften des Neuen Testaments keinen Rückhalt. Die Ausbildung einer solchen Vorstellung geht vielmehr auf die Einbildungskraft gläubiger Frommer zurück, die als Gegengewicht zu dem strengen Richtergott nach einer gnadeheischenden Advokatin verlangten. Sie findet ihre weltliche Entsprechung in der Rechtspraxis mittelalterlichen »Gnadebittens«, durch welches Fürbitter Richter zur Milde zu bewegen suchten.53 Frauen, die ihrer Intervention besonderen Nachdruck verschaffen wollten, zeigten ihre Brüste. Caesar berichtet in seinem ›Gallischen Krieg‹ von gallischen Frauen, die ihre Brüste entblößten, um die römischen Angreifer um Schonung zu bitten. Als seine Legionen, berichtet Caesar, die Stadt Gergovia zu erstürmen drohten, warfen die Familienmütter »Kleidung und Silber über die Mauern herab, beugten sich mit entblößter Brust über die Mauer und beschworen die Römer mit ausgebreiteten Armen, sie zu schonen und nicht wie in Avaricum sogar Frauen und Kinder umzubringen.«54 Um einen widerspenstigen Sohn zur Umkehr und zum Gehorsam zu bewegen, pflegten, wie der Kirchenvater Hieronymus berichtet, verzweifelte Mütter ihre Brüste zu entblößen. Was sie durch Wörter nicht zu bewirken vermochten, sollte der Bittgestus der Brustweisung erreichbar machen. Inständig ermahnt er seinen Heliodor, doch ins Eremitenleben zurückzukehren, mag ihm auch seine Mutter mit zerzaustem Haar und zerrissenen Kleidern ihre Brüste zeigen, mit denen sie ihn genährt hat (sparso crine et scissis vestibus 52 53 54

schreIner (wie Anm. 17), S. 181f; S. 529. Vgl. dazu Karl schue , Das Gnadebitten in Recht, Sage und Kunst, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 40 (1918), S. 143 - 286. Caesar, Bellum Gallicum VII, 47, 5.

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ubera, quibus te nutrierat, ostendet).55 Von Papst Benedikt X. wird berichtet, bei seiner Absetzung in der römischen Lateranbasilika im Jahre 1060 sei seine Mutter als brustzeigende Intervenientin aufgetreten. Als ihr Sohn seine priesterlichen Gewänder ablegen und die ihm zur Last gelegten Verbrechen vorlesen mußte, habe sie unter Seufzen und Wehklagen ihre Haare aufgelöst und ihre Brüste entblößt.56 Einschränkend zu bemerken ist dies: Es gibt nicht viele chronikalische Belege, in denen vom Zeigen weiblicher Brüste die Rede ist. Daß es aber diese wenigen gibt, mag als Beweis dafür dienen, daß die Entblößung der Brüste ein stets möglicher und auch tatsächlich praktizierter Bittgestus der mittelalterlichen Gebärdensprache war.

6. Wundertätige Marienmilch Berichte über das wundertätige Wirken von Marias Milch gaben dem Wahrheitsanspruch theologischer Metaphern einen Rückhalt in der Geschichte. Historisch beglaubigte Milchwunder sollten unter Beweis stellen, daß Marias Milch auch tatsächlich bewirkte, was ihr theologische Reflexion und fromme Erwartung an wunderbarer Hilfe zutrauten. Die Historisierung einer mit unendlich vielen Bildern und Bedeutungen befrachteten Symboltheologie kam nicht einer vergröbernden Materialisierung religiöser Vorstellungen gleich. Legendenbildung, durch die theologische Metaphern in Geschichten umgeschrieben wurden, stand im Dienste überzeitlicher Wahrheiten. Boto (um 1105–1170), Mönch in der bei Regensburg gelegenen Benediktinerabtei Prüfening, berichtet von einem Ordensmann, der beschlossen hatte, Maria wie ein getreuer Sohn stets zu Diensten zu sein. Als er sterbenselend darniederlag und seine Mitbrüder, weil sie mit seinem Tod rechneten, bereits mit der Sterbeliturgie begonnen hatten, ließ sich Maria, die »glorreiche Mutter der Barmherzigkeit«, durch Fleh- und Bittrufe zu tätiger Hilfe bewegen. Sie erschien ihm als weiß gekleidete Frau, setzte sich auf sein Bett und meinte: Es sei ungerecht, ihn, der sich ihr und ihrem Sohn gegenüber stets als hinge55

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Zitiert nach Erwin PanoFsky, »Imago Pietatis«, Ein Beitrag zur Typengeschichte des »Schmerzensmannes« und der »Maria Mediatrix«, in: Festschrift für Max J. Friedländer zum 60. Geburtstage, Leipzig 1927, S. 302, Anm. 75. Ebd. auch Belege und Beispiele aus der Antike, – Vgl. auch mondInI, »Ich manen dich der brüsten min […]« (wie Anm. 51), S. 89, Anm. 4. Annales Romani, in: MGH SS 5, S. 471f. Vgl. Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., hg. v. Gerold m eyer von k nonau, Bd. 1, 1056 bis 1069, Berlin 1964 [Neudruck der 1. Aufl. 1890], S. 177f.

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Abb.3: Maria heilt mit ihrer Milch einen kranken Mönch. Miniatur aus einem im 14.Jahrhundert geschriebenen Psalter der Königen Maria (Queen Marys Psalter), London, British Library. Foto: British Library.

bungsvoller Diener gezeigt habe, unsäglich leiden zu lassen. Maria half: In die Wunden des Kranken träufelte sie aus ihren Brüsten allerheiligste Milch. Der Todgeweihte gesundete (Abb.3). Der Benediktiner Boto von Prüfening räumt ein: Er habe skeptisch reagiert, als er von der wunderbaren Geschichte hörte. Als er sich aber bewußt machte, was Jesus alles zur Erlösung des Menschengeschlechtes auf sich genommen habe, seien alle Zweifel verflogen. An Glaubwürdigkeit gewann der Wunderbericht auch dadurch, daß ihn Boto nicht als Tatsachenbericht las, sondern als allegorische Beispielerzählung, die belehren und erbauen wollte. »Unter dem Namen der Milch«, meinte Boto, pflege man bisweilen Barmherzigkeit, manchmal auch die Süße himmlischer Betrachtung auszudrücken.57 57

schreIner (wie Anm. 17), S. 187f.; 531. Im späten Mittelalter wurde auch heiligen Jungfrauen die Fähigkeit zugeschrieben, mit ihrer Milch Kranke heilen zu können.

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Abt Heinrich von Clairvaux (1136–1198), war, so man dem Heisterbacher Mönch Caesarius (um 1180 bis nach 1240) Glauben schenken darf, kein gelehrter, wohl aber ein frommer und sittenstrenger Mann. Als er im Auftrag des Papstes Kreuzzugspredigten halten sollte, fühlte er sich dieser Aufgabe nicht gewachsen und begab sich deshalb in die Kirche der glorreichen Jungfrau Maria. Unter Tränen bat er die Gottesmutter um Hilfe. Maria ließ sich nicht vergeblich bitten. Sie reichte ihm ihre heiligen Brüste dar. Durch die heilige Milch, die der wissensdurstige Abt aus ihren Brüsten sog, erlangte er so viel an gelehrtem theologischen Wissen, daß er in Rom mit der Würde eines Kardinals geehrt wurde.58 In den Sog der Legendenbildung geriet insbesondere Bernhard von Clairvaux (1090–1153). Zum Beweis ihrer Mutterschaft soll ihn Maria mit einigen Tropfen Milch erquickt und ihm dadurch zugleich »seine honigfließende Beredsamkeit« eingeflößt haben. »Es ist gewiß vnd vnfehlbar wahr«, heißt es in einer im Jahre 1677 veröffentlichten Lebensbeschreibung des hl. Bernhard, die Traditionen aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zusammenfaßt, »daß der H. Bernardus / nit nur einmal / sonder zum öffteren / von der allerheiligsten Jungkfrawen Maria mit ihren eignen Brüsten / vnd eigner Milch / ist gesäugt worden / vnd getrenckt.«59 Mönche, die durch Milch aus den Brüsten Marias wunderbare Hilfe erfahren – sind das halbherzige Asketen, die unter dem Deckmantel frommer

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Vgl. Caroline walker bynum, Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion, New York 1992, S. 184: »Holy virgins in the Low Countries lactated miraculously and cured their adherents with the breast milk they exuded.« Vgl. dazu Klaus schreIner , Caesarius von Heisterbach (1180–1240) und die Reform zisterziensischen Gemeinschaftslebens, in: Die niederrheinischen Zisterzienser im späten Mittelalter. Reformbemühungen, Wirtschaft und Kultur (Zisterzienser im Rheinland 3), hg. v. Raymund kottje , Köln / Bonn 1992, S. 90. schreIner (wie Anm. 17), S. 189 - 191; S. 531f. – Vgl. dazu insbesondere Jacques berlIoz , La lactation de Saint Bernard de Clairvaux dans un exemplum et une miniature du ›Ci nous dit‹, in: Cîteaux 39 (1988), S. 270 - 283; Arno PFaFFrath, Bernhard von Clairvaux. Leben und Wirken – dargestellt in den Bilderzyklen von Altenberg bis Zwettl, Köln 1984, S. 188 - 192; Jean wIrth, L‘image médiévale. Naissance et développements (VIe-XVe siècle), Paris 1989, S. 334 - 338; Cécile duPeux, La lactation de Saint Bernard de Clairvaux. Genèse et évolution d’une image, in: L’image et la production du sacré, Paris 1991, S. 165 - 193. – Vgl. auch Johan huIzInga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, hg. v. Kurt köster. Mit 100 Abbildungen, ausgewählt von Konrad hoFFmann, Stuttgart 1987, S. 234: »Katharina von Siena ist eine der Heiligen, die aus der Seitenwunde Christi getrunken haben, so wie es anderen zuteil wurde, die Milch aus Marias Brüsten zu kosten: dem hl. Bernhard, Heinrich Seuse, Alain de la Roche.«

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Gefühle ungestillte erotische Bedürfnisse befriedigen und verdrängte Sexualität zu ihrem Recht kommen lassen? Eindeutig zu beantworten ist eine solche Frage nicht. Man tut gut daran, es bei der semantischen Ambivalenz des Motivs zu belassen. Psychologen werden es anders deuten als Theologen und Philologen, die sich an die Bildhaftigkeit der Sprache und deren religiösen Sinn halten. Bemerkenswert ist jedoch, daß es nicht nur Männer waren, die aus Marias Brüsten tranken. Auch marienfromme Klosterfrauen wurden dieses Privilegs teilhaftig. Auch Adelheid von Frauenberg, eine mystisch begabte Nonne aus dem Dominikanerinnenkloster Töß bei Winterthur, empfand es als besondere Form der Begnadung, Milch aus Marias Brust trinken zu dürfen.60 Ein Deckenfresko in der barocken Zisterzienserkirche von Fürstenfeld zeigt die selige Zisterzienserin Maria Vela, die, auf einem Bett liegend, »im Traum dem Rachen eines Drachen (wohl Symbol für die Hölle) entkommen« ist. »Sie wendet sich der hl. Maria zu und trinkt wie das Jesuskind an der Brust der apokalyptischen Frau. »Mit leuchtendem Sternenkranz und strahlendem gelben Himmel ist Maria umgeben. Rechts freuen sich einige Engel über die mystische Rettung, während sich links im Bild ein Teufel, unter einem Kreuz mit Leidenswerkzeugen, Rosenkranz und Salbgefäßen, über die für ihn verlorengegangene Seele nachdrohend ärgert.« 61 Mystisch begabte Nonnen waren bisweilen auch kühn genug, einen Rollentausch vorzunehmen und selber die Rolle der stillenden Gottesmutter zu spielen. Margaretha Ebner (um 1291–1351), Dominikanerin im Kloster Maria Medingen (bei Dillingen a. d. Donau) berichtet, sie habe »ain bilde der kinthait unsers herren in ainer wiegen«. Werde sie von ihrem Herrn »mit so grosser süesseket und mit lust und begirden und auch von siner güetigen bet gezwungen« und spreche er zu ihr: »saugest du mich nit, so wil ich dir mich underziehen, so du mich aller gernost hast«, nehme sie das Bild aus der Wiege und lege es an ihr »blozzes herze mit grossem lust und süessiket«. Angesichts der »gegenwertkeit gotz« empfinde sie der »aller creftigosten genade«, weswegen sie sich darüber wundere, »wie unser liebiu frowe die emssigen gegenwertket gocz ie erliden meht«. Das Staunen über Maria und ihre Fähigkeit, die Gegenwart des allmächtigen Gottes zu ertragen, verbindet die Mystikerin mit dem Bekenntnis: »aber min begirde und min lust ist in dem säugen, daz ich uz siner lutern menschet [Menschheit] gerainiget werde und mit siner inbrünstiger minne uz im enzündet werde«.62 Zu bedenken ist auch dies: Das von mittelalterlichen Theologen 60 61 62

Walter muschg, Mystische Texte des Mittelalter, Basel 1943, S. 221. In Tal und Einsamkeit. 725 Jahre Kloster Fürstenfeld. Die Zisterzienser im alten Bayern 1, Katalog, bearb. von Angelika ehrmann / Peter PFIster , München 21988, S. 95. Philipp strauch, Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen. Ein Beitrag der Geschichte der deutschen Mystik, Amsterdam 1966 [Nachdruck der Ausgabe Freiburg i. Br. / Tübingen 1882], S. 87. Vgl. dazu auch Rosemarie rode , Studien zu den mittelalterlichen Kind-Jesu-Visionen, Masch. Diss., Frankfurt a. M. 1957, S. 74 - 76; Manfred

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als rechtens empfundene Bemühen, die Symbolfähigkeit der von Gott geschaffenen Natur in den Dienst christlicher Verkündigung zu stellen, konnte und sollte von der Zwangsvorstellung befreien, »daß jedes religiöse Seligkeitsgefühl erotisch interpretiert werden müßte.« 63 Milch bildete in der mittelalterlichen Welt ein unverzichtbares Grundnahrungsmittel. Ihre lebenserhaltende und lebensfördernde Kraft zu einem Sinnbild für das Wirken Marias zu machen, war Ausdruck einer ganzheitlichen Frömmigkeit, die Inneres und Äußeres, Geistiges und Sinnliches, Leib und Seele nicht voneinander trennte. Auf die Bildsprache weltlicher Liebespoesie zu verzichten, wenn es darum ging, religiöse Liebesbeziehungen in eine angemessene sprachliche Form zu bringen, hätten geistliche Poeten und Schriftsteller des Mittelalters als unnötige Selbstverstümmelung betrachtet. Die Körpersprache von Liebenden übersetzten sie unbefangen in Bilder frommer Erbauung. » ›Marienmilch‹ : das ist den Menschen des Mittelalters durchaus etwas Natürlich-Übernatürliches, Mütterlichkeit Bekundendes, Hilfe Versprechendes. Auf jeden Fall ist es ein Verehrungswürdiges.« 64 In ihren Brüsten offenbarte Maria ihr Wesen: ihre mütterliche Hingabe, ihre lebenspendende und rettende Kraft. Sich abfällig über den Busen der Gottesmutter zu äußern, war deshalb eine lebensgefährliche Sache. Der Dominikaner Stefan von Bourbon berichtet in seinem zwischen 1250 und 1261 verfaßten ›Tractatus de diversis materiis praedicabilibus‹ von einem solchen Fall. Einem Krämer sei, solange er Christus und andere Heilige durch blasphemisches Reden schmähte, nichts Schlimmes passiert. Erst als er lästerlich bei den Brüsten der heiligen Jungfrau Maria schwor, sei er mit gräßlich herausgestreckter Zunge gestorben.65 Mit dem Angriff auf die Ehre der Gottesmutter habe die Langmut Gottes ihre Grenze erreicht. Die Sanktion aus dem Jenseits folgte den Regeln des weltlichen Strafrechtes: dem Prinzip der »spiegelnden Strafe«. Mit der Zunge hatte das Lästermaul gesündigt. Die Zunge war es deshalb auch, an der er bestraft wurde.

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weItlauFF, ›dein got redender munt machet mich redenlosz […]‹, Margareta Ebner u. Heinrich von Nördlingen, in: Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter, hg. v. Peter dInzelbacher / Dieter R. bauer , Köln / Wien 1988, S. 303 - 352. huIzInga (wie Anm. 59), S. 234. Leopold k retzenbacher , Schutz- und Bittgebärden der Gottesmutter, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte, Jg. 1981 H. 3, München 1981, S. 85. Das Zitat bildet die Quintessenz eines ausnehmend materialreichen Kapitels über »Lac Mariae und ›Liebfrauenmilch‹, Reliquiengier und Bilderschau« (S. 83 - 96). schreIner (wie Anm. 17), S. 201; S. 534.

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7.

Rituale, Zeichen, Bilder

Die stillende Gottesmutter als Vorbild für Frauen

Die Biographen des hl. Bernhard von Clairvaux, die im 12. Jahrhundert sein Leben beschrieben, wußten nichts von wunderbaren Milchspenden Marias. Sie hielten es jedoch der Erwähnung wert, daß Bernhard besonders innig an den Brüsten seiner Mutter getrunken habe. Erziehungsschriften und Gesundheitstraktate des späten Mittelalters machten Bernhards Mutter zum Inbegriff einer vorbildhaften Frau und Mutter. Sie habe nicht nur auf den Unterricht ihrer Kinder allergrößte Sorgfalt verwendet, sondern sei auch der Überzeugung gewesen, sich »von der Pflicht, ihre Kinder selbst zu stillen, nicht entbinden zu dürfen«; war sie doch der Auffassung, »daß mit der Muttermilch auch die Sitten der Mutter auf die Kinder sich vererben« 66. Ungleich stärker allerdings waren im späten Mittelalter die Verfasser katechetischer und medizinischer Traktate darauf bedacht, die stillende Maria zum Idealbild mütterlicher Fürsorge zu machen. Maler entwarfen das Bild einer Mutter, die ihr Kind liebkoste, es umarmte und ihm, wenn es Hunger und Durst hatte, die Brust gab. Marias vorbildhafte Mutterschaft stand jedoch im Widerspruch zu der Tatsache, daß im späten Mittelalter viele Frauen der adligen und bürgerlichen Oberschicht ihre kleinen Kinder Ammen anvertrauten.67 Ange66

67

So Mapheus Vegius (Maffeo Vegio) (um 1407–1458) in seiner 1444 erschienenen Schrift ›De educatione liberorum‹. Vgl. Erziehungslehre, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Karl Alois koPP (Bibliothek der katholischen Pädagogik 2), Freiburg i. Br. 1889, S. 42. Als Quelle benutzte der lombardische Humanist die »Erste Lebensbeschreibung des hl. Bernhard«. Vgl. S. Bernardi vita prima, in: m Igne , PL 185, Sp. 227: alienis uberibus nutriendos [liberos] committere illustris femina refugiebat, quasi cum lacte materno materni quodam modo boni infundens eis naturam. – Daß es »zum Heil und Nutzen der Kinder gereicht«, wenn sie von ihren Müttern selber gestillt werden, erläutert und erhärtet er durch folgende Erfahrung: Seinen Bruder Lorenzo habe er »wegen seiner großen Begabung und seines überaus sanften und reinen Charakters« über alle Maßen geliebt. »Seine Amme zeichnete sich zwar auch durch Sanftheit und Keuschheit aus, reichte ihm jedoch verdorbene Milch, die ihm so schlecht bekam, daß er sein ganzes Leben hindurch von heftigsten Nierenschmerzen gequält war und diesem Leiden schließlich, wenn auch viel zu früh, erlag« (Klaus a rnold, Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance. Beiträge und Texte zur Geschichte der Kindheit, Paderborn / München 1980, S. 154). Über medizinische Theorien, die im Mittelalter entwickelt wurden, um das Stillen als physiologischen Vorgang zu erklären, bei dem Menstruationsblut in Milch verwandelt wird, Caroline walker bynum (wie Anm. 57), S. 109, S. 114; S. 214 - 221; Jacques berlIoz, Éros et la Vierge. Émbléme de la maternité, symbole du rôle nourricier de l’Église, le sein féminin est très souvent au Moyen Age associé à l’image de la Vierge, in: L’Histoire 180 (1994), S. 42. Mary Martin mcl aughlIn, Überlebende und Stellvertreter: Kinder und Eltern zwischen dem neunten und dem dreizehnten Jahrhundert, in: Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, hg. v. Lloyd de m ause , Frank-

»Deine Brüste sind süßer als Wein«

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Abb.4: . ›Maria lactans‹ mit schreibendem Jesuskind; Elfenbein Statuette. Paris, um 1390, Paris Musée du Louvre. Den Jesusknaben als ein an der Brust trinkendes und zugleich schreibendes Kind darzustellen, ist ungewöhnlich. Die Statuette verbindet zwei Motive, die in der Regel nur getrennt dargestellt werden können. Auf den Pergamentstreifen pflegt das Jesuskind gemeinhin Sätze in lateinischer Sprache zu schreiben, die es als einen von Gott gesandten Offenbarer ausweisen. So z. B. »Ich bin das Leben«, »Ich bin die Wahrheit«. Marias nährende Brust verweist auf Menschlichkeit des Gottessohnes. Die Deutung, daß Maria ihr Kind sowohl physisch als auch geistig nährt, indem sie »es in den Anfängen der Wissenschaft und er Weisheit im Schreiben unterweist«, verrät Einfallsreichtum; argumentativ erhärten läßt sie sich nicht. Es gibt einen Bildtypus »Maria lehrt dem Jesuskind lesen«, nicht aber einen solchen »Maria lehrt dem Jesuskind schreiben«. Aus der Brust einer Frau trinken zu müssen und Offenbarungsweisheiten schreiben zu können, erinnert an Verhaltensweisen, die für die gottmenschliche Natur Jesu charakteristisch sind.

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sichts eines moralisch und medizinisch suspekten Ammenwesens gab Maria ein Beispiel für vorbildhafte Säuglingspflege (Abb.4). Bei einer Predigt über die Seligpreisung von Marias Brüsten (Luk 11,27) richtete Albert der Große (um 1200–1280) an Maria die Frage: »Warum hast du also den Knaben selbst gestillt, o Herrin der Welt?« Gemeinhin sei es doch so, daß es jeder »Königin dieser Welt« genüge, »den vom König empfangenen Sohn auszutragen und zu gebären; unmittelbar nach der Geburt wird er der Mutter genommen und der Amme übergeben, weil es als zu mühsam und unschicklich gilt, daß eine Königin ihren Sohn selbst stillt«. Maria reagierte so: »Du sollst nicht denken, daß ich meinen Sohn jemals jemandem übergeben werde außer mir selbst. Ich habe ihn getragen, ich werde ihn stillen. Er war in meinem Leib, und er wird auf meinem Schoß sitzen. Er war in mir, nun werde ich ihn auch außen sättigen. Er wird an meiner Brust liegen, ich werde ihm in die Augen schauen, ich werde ihn in die Arme nehmen, ich werde ihn mit jungfräulichen Lippen küssen und mich ihm ganz darbringen, damit ich innerlich und äußerlich von ihm erfüllt werde, auf daß in mir wahr wird, daß Gott in mir ist und ich in ihm«. Eine solche Antwort läßt Albert in den Jubel- und Begeisterungsruf ausbrechen: »Welch flammende Mutterliebe!« 68 Aber es gab soziale Schranken, an denen sich Marias Rolle als vorbildhafte Mutter, die ihr Theologen, Prediger und Katecheten zudachten, brach. An den Bildthemen, die häusliche Andachtsbilder in Florenz während des 15. Jahrhunderts zur Darstellung brachten, ist das unschwer abzulesen. Nördlich der Alpen wurde Maria als Bürgersfrau abgebildet, die als Gattin eines Handwerkers Haushalts- und Erziehungspflichten erfüllt. In Florenz hingegen trugen Maler, wenn sie Maria darstellten, der sozialen Vorstellungswelt ihrer Auftraggeber aus dem städtischen Patriziat Rechnung. Florentiner Maler des Quatrocento gaben Maria Züge einer idealen Aristokratin. Damit hängt es zusammen, daß das im Norden häufig gestaltete Bildthema der Madonna, die ihr Kind stillt, auf den häuslichen Andachtsbildern der in Florenz gepflegten Kunst im Vergleich zu anderen Themen ausnehmend selten begegnet.69 In den Oberschichten des Florentiner Bürgertums, die sich Bilder leisten konnten, war es nämlich üblich, für die Ernährung und Pflege ihrer Kleinkinder Ammen einzustellen.70 Das Einkommen

68 69 70

furt a. M. 1977, S. 167 - 169; S. 216 - 219; James Bruce ross, Das Bürgerkind in den italienischen Stadtkulturen zwischen dem vierzehnten und dem frühen sechzehnten Jahrhundert, in: ebd., S. 265 – 280: »Die beiden ersten Jahre: Mutter oder Amme? Die Balia: Ideal und Wirklichkeit«. a rnold (wie Anm. 66), S. 120. Ronald G. k ecks, Madonna und Kind. Das häusliche Andachtsbild im Florenz des 15. Jahrhunderts (Frankfurter Forschungen zur Kunst 15), Berlin 1988, S. 154. Christiane k laPIsch-zuber , Parents de sang, parents de lait: la mise en nourice à Florence 1300-1530, in: Annales de Démographie historique (1983), S. 33 - 64.

»Deine Brüste sind süßer als Wein«

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befand darüber, ob eine kostspielige Amme genommen werden konnte, die während der Stillzeit im eigenen Haushalt lebte, oder zu niedrigerem Preis eine Bäuerin auf dem Land gesucht werden mußte. Sich eine Amme leisten zu können, erhöhte das gesellschaftliche Ansehen.

8. Stimmen der Kritik Hoch- und spätmittelalterliche Theologen waren der Überzeugung: Auf Erlösung können Christen dann hoffen, wenn Christus seinem himmlischen Vater seine Seitenwunde zeige und Maria vor ihrem Sohn ihre Brüste entblöße. Solche »Zeichen der Liebe« könne Gott nicht zurückweisen. Um Marias Wirkungsbereich im Himmel abzustecken, wurde dieser in zwei Quartiere eingeteilt: in ein solches der Gerechtigkeit, in dem Christus herrscht, und in ein solches der Barmherzigkeit, für das Maria verantwortlich war.71 Eigentlich, argumentierte Johannes Nider (um 1380–1428), ein dominikanischer Ordensmann, hätte Christus als Mittler zu Gott vollkommen ausgereicht. Aber, fährt Nider fort, die Menschen fürchten sich vor seiner Majestät. Deshalb wenden sie sich an Maria, in der keine richtende Strenge sei, sondern nur reines Erbarmen und vollkommene Süße. Als gütige und barmherzige Frau spiele sie die Rolle einer weiblichen Mittlerin (mediatrix) zu ihrem Sohn, dem männlichen Vermittler (mediator) zu Gott.72 Zugleich meldeten sich aber Stimmen zu Wort, die Ma71

72

Anhand aussagekräftiger Quellenbelege rekonstruiert diese Vorstellung seIdel (wie Anm. 51), S. 76. Vgl. auch Theo bell , Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz Abteilung Religionsgeschichte 148), Mainz 1993, S. 319f.: »In den Marienpredigten von Gabriel Biel, in denen Bernhards Super Missus est-Predigten vielfach zitiert werden, wird unterschieden zwischen dem Teil des Reiches vom Vater, über den der Sohn herrscht, und dem Teil, der Maria anvertraut ist. Dem Sohn steht Gerechtigkeit und Wahrheit zu, seiner Mutter Barmherzigkeit. Christus ist zum Richter über Lebende und Tote bestellt, seine Mutter zur Mutter der Barmherzigkeit.« schreIner (wie Anm. 17), S. 207. – Der Gedanke geht auf Bernhard von Clairvaux zurück. »Wir brauchen nämlich«, predigte er am Sonntag in der Oktav von Mariä Himmelfahrt, »einen Vermittler zu jenem Vermittler [Christus] und niemand ist dann geeigneter als Maria« (Opus enim mediatore ad Mediatorem istum, nec alter nobis utilior quam Maria). Vgl. S. Bernardi opera vol. V, Sermones II, ed. J. l eclercq / H. rochaIs, Romae 1968, S. 263. Nichts Strenges (austerum) sei in ihr, nichts Furchtgebietendes und Erschreckendes (terribile); ganz süß (tota suavis) sei sie, allen würde sie Milch (lac) und Wolle (lana) reichen (ebd.). Wer bei Gott einen Fürsprecher und Anwalt haben wolle, dem empfiehlt er: Ad Mariam recurre […] Exaudiet utique Matrem Filius, et exaudiet Filium Pater (ebd., S. 279). Von »Bernhards Unterscheidung zwischen Christus als Gerechtig-

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rias Einfluß auf die Entscheidungen Christi beim Weltgericht zu beschneiden suchten. Sie sagten: Auf Gottes strafenden Zorn könne Maria nur so lange besänftigend einwirken, solange die Weltgeschichte noch nicht ihr Ende erreicht habe. Beim Jüngsten Gericht hingegen belohne und bestrafe Christus nach Grundsätzen unerbittlicher Gerechtigkeit. Dann habe Maria keine Chance mehr, den Ausgang des Urteils zu beeinflussen.73 Friedrich der Freidige, Markgraf von Meißen und Landgraf von Thüringen (gest. 1323), verlor seine Sprache und Gesundheit, als er 1321 in Eisenach einem Weltgerichtsspiel beiwohnte, das Marias Ohnmacht am Jüngsten Tag verkündete und zur Darstellung brachte.74 Und man hat, kritisierte Martin Luther in Predigten über das erste und zweite Kapitel des Johannesevangeliums (1537/38), »S. Bernhard auch also gemalet, das er die jungfraw Maria anbetet, welche jrem Son Christo weiset die brueste, so er gesogen hat«. Dem fügte er abweisend und zornig hinzu: »ach was haben wir der Marien kuesse gegeben, aber ich mag Marien brueste noch milch nicht, denn sie hat mich nicht erloeset noch selig gemachet.«75 Bereits sechs Jahre früher hatte Luther Darstellungen des Jüngsten Gerichtes kritisiert, die zeigen, wie Maria ihrem Sohn ihre Brüste zeigt, um für ihre Schützlinge Fürsprache einzulegen. Er kritisierte, daß man im Papsttum »mit gesetzen undt allerlei guten wercken« die Menschen habe zu Christus bringen wollen, »gleich als were ehr ein grimmiger, wuetender undt gestrenger richter, der viel von uns fodderte undt gute werck zur bezalung fur unsere Sunde uns aufflegete«, um dann an die Verbildlichung dieser grundverkehrten Auffassung zu erinnern: »wie dan dis auch ein schendtlich undt lesterlich bildt oder gemelde ist von dem Jungsten tage, do man gemahlet hat, wie der Sohn fur dem vater niderfellet undt zeiget ihm seine wunden, undt S. Ioannes undt Maria bitten Christum fur uns am Jungsten gerichte, undt die mutter weiset dem Sohn ihre bruste, die ehr gesogen hat. Welches aus S. Bernhards buchern genommen ist undt ist nicht wohl geredet, gemahlet oder gemacht gewesen von S. Bernhardt, undt man solte noch solche

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keit und Barmherzigkeit auf der einen Seite und Maria als reine Barmherzigkeit auf der anderen Seite« gingen traditionsbildende Wirkungen aus (bell [wie Anm. 71], S. 319). schreIner (wie Anm. 17), S. 207f. Ebd., S. 209. Auslegung des ersten und zweiten Kapitel Johannis in Predigten 1537 und 1538, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA). Weimar 1912, Bd. 46, S. 663. Vgl. dazu bell (wie Anm. 71), S. 321f.: »Das Wort ›Milch‹ erinnert deutlich an die lactatio. Hier wird von Luther das Bild der lactatio zusammen mit dem der Heilstreppe gesehen. Ihre Gemeinsamkeit besteht für ihn darin, daß sie den Menschen von Christus als dem einzigen Erlöser fernhalten. Mit den Küssen, die die Mönche Maria gaben, scheint Luther eine Art psychologische Erklärung für die kindliche Liebe der Mönche zu Maria geben zu wollen. Dessen hatte auch er selbst sich in früheren Zeiten schuldig gemacht.«

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gemelde wegthuen.«76 »Das gemeld«, sagte er in einer Predigt des Jahres 1546, wie »Gott zuernet und Christus dem Vatter die wunden, Maria aber Christo jhr brueste zeiget«, sei eine theologisch unhaltbare Ausgeburt menschlicher Phantasie.77 Wie die Sünderin Magdalena, entrüstet sich Zwingli, sei Maria oftmals »huerisch« gemalt worden. »Ja«, so beteuerte er, »die ewig, rein, unversert magt und mouter Jesu Christi, die mouß ire Brüst harfürzogen haben«78. Die katholische Kirche hingegen sah keinen Grund, den Bildtypus der brustweisenden und milchspendenden Maria als sittlich anrüchig und theologisch bedenklich zu verwerfen. Ihn beizuhalten, rechtfertigte die Macht der Tradition. Zielscheibe reformatorischer Kritik war auch die an vielen Plätzen als Reliquie verehrte Marienmilch. Im »Babsthumb«, heißt es in einer 1610 gedruckten Sammlung protestantischer Predigtexempel, »hat man etwan zu Rom / unser Frawen Milch / den Leuten für ein grosses Heilthumb / zeigen und weisen wollen / und sind viel Leute / sie zu sehen / dahin gelauffen / Daß doch nicht Marien / sondern irgend einer Ziegen oder Bocksmilch gewesen ist / Wie D. Luther davon redet. Das ist ein schändlicher Mißbrauch / darfür wir uns sollen lernen hüten.« Die Hirten, die nach Bethlehem geeilt seien, hätten dort nur ein in Windeln gewickeltes Kind gefunden. Die Weisen aus dem Morgenland hätten Geschenke gebracht. »Daß sie aber dagegen etwas von Marien Milch solten begehret / und mit sich hinweg genommen haben / das finden wir niergend.« Es sei lauter »Getichte und Fabelwerck«, was die Papisten von Marias Milchreliquien behaupten.79 Gänzlich neu war diese Kritik nicht. Theologische und pragmatische Erwägungen hatten bereits lange zuvor den Glauben an die Echtheit der allenthalben verehrten Marienmilch erschüttert. Bereits zu Anfang des 12. Jahrhunderts plädierte der Benediktinerabt Guibert von Nogent (1053–1121) in seiner Schrift ›Über die Heiligen und ihre Unterpfänder‹ (De sanctis et eorum pignoribus) für eine Kult- und Frömmigkeitspraxis, die dem entsprach, was der Apostel Paulus als »vernunftgemäßen Gottesdienst« (Röm 12,1) bezeichnet hatte. In Laon, bemerkte Guibert kritisch, verehre man Milch Marias, anderswo den Nabel und die Vorhaut des kleinen Jesusknaben. Das Zeugnis der Bibel und der urchristlichen Tradition sperre sich jedoch gegen die Annahme, daß Maria solche Quisqui76 77 78 79

Wochenpredigten über Joh., 6 - 8, in: WA 33, S. 83; Luthers Ansicht, daß dieser Bildtypus den Büchern Bernhards von Clairvaux entstamme, trifft allerdings nicht zu. Vgl. bell (wie Anm. 71), S. 315f. Predigten des Jahres 1546, in: WA 51, S. 128. Huldreich Zwingli, Sämtliche Werke, hg. v. Emil eglI u. a. (Corpus Reformatorum 91), München 1982 [Nachdruck der Ausgabe von Leipzig 1927], Bd. 4, S. 145. Ernst Heinrich r ehermann, Das Predigtexempel bei protestantischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts (Schriften zur niederdeutschen Volkskunde 8), Göttingen 1977, S. 488.

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lien gesammelt habe, um die Anbetung Gottes mit neuen Kultgegenständen zu bereichern. Die Sorge um solche Nichtigkeiten lasse auf eine Überheblichkeit schließen, die der demütigen Gottesmagd schlecht anstehen würde. Wie hätte sie auch alle diese Dinge aufbewahren sollen, die angesichts des Lichtglanzes ihres Sohnes doch nur so etwas wie eine schwache Lampe unter südlicher Sonne gewesen wären.80 Historische Kritik und theologisches Nachdenken hielten Guibert von Nogent davon ab, der Verehrung von Marienmilch einen theologisch begründeten Sinn beizumessen. Es entbehre nicht eines »abergläubischen Merkmals« (nota superstitionis), so versicherte der Wiener Universitätstheologe Nikolaus von Dinkelsbühl (um 1360–1433), die vielgerühmte »Leuchte Schwabens« (Lux Sueviae), wenn Milch Mariens als Reliquie gezeigt und verehrt wird. Es erscheint unglaublich, daß Maria selber oder mit Hilfe einer anderen Person aus ihren Brüsten Milch »gemolken« habe, um sie anderen zu geben. Ein solches Verhalten hätte der »Jungfräulichen Schamhaftigkeit« Marias widersprochen und verdiene deshalb keinen Glauben.81 Um die skrupellosen Machenschaften von Reliquienfälschern zu geißeln, sagte der franziskanische Volks- und Wanderprediger Bernhardin von Siena (1380–1444): »Es gibt Leute, die zeigen als Reliquien Milch der Jungfrau Maria. Ja, hundert Kühe haben nicht so viel Milch, als man von Maria auf der ganzen Welt zeigt, und doch hatte sie nicht mehr und nicht weniger, als ihr Kind Jesus brauchte«.82 Pragmatische Vernunft erschütterte das Vertrauen in die Heil- und Wunderkraft von Marienmilch. Humanistische Kritiker schlugen in dieselbe Kerbe. Erasmus von Rotterdam hatte 1512 »die bei den Engländern hochberühmte Jungfrau ›Maria von Walsingham‹ « besucht. Die auf dem Hochaltar der Wallfahrtskirche von Walsingham in einem kristallenen Gefäß aufbewahrte Marienmilch stimmte den frommen Humanisten skeptisch. Er wandte ein: »Wie sehr gleicht doch die Mutter dem Sohn! Er hat uns so viel von seinem Blut auf Erden zurückgelassen, sie so viel Milch, daß es kaum zu glauben ist, sie könne von einer einzigen Frau herrühren, die nur einmal geboren hat, selbst wenn das Kind keinen Tropfen getrunken hätte.« 83 Erasmus ließ es aber nicht bei bloßer Kritik bewenden. Um die Symbolik der Marienmilch in eine theologisch sinn80 81

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Vgl. dazu Klaus schreIner , »Discrimen veri ac falsi«. Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und Reliquienverehrung des Mittelalters, in: AKG 48 (1966), S. 33. Nikolaus von Dinkelsbühl, Tractatus de adoratione ymaginum, Staatsbibliothek München, clm. 2800, fol. 217vb. – Zum Traktat allgemein vgl. Norbert schnItzler , Ikonoklasmus – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln im 15. und 16. Jahrhundert, München 1996. schreIner (wie Anm. 80), S. 37. Erasmus von Rotterdam, Vertraute Gespräche (Colloquia Familiaria), übertragen u. eingeleitet v. Hubert schIel , Köln 1947, S. 101.

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volle Form zu bringen, verfaßte er folgendes Gebet: »Jungfräuliche Mutter, die du gewürdigt wurdest, mit deinen jungfräulichen Brüsten den Herrn des Himmels und der Erde, deinen Sohn Jesus, zu säugen: wir bitten dich, daß auch wir, gereinigt durch sein Blut, zu jener glückseligen Taubeneinfalt der Kinder gelangen mögen, die nichts weiß von Bosheit, List und Trug, und beständig nach der Milch der evangelischen Wahrheit verlangt, bis sie zur Vollkraft des Mannes voranschreitet nach dem Maß der Vollendung Christi, dessen selige Gegenwart du allezeit genießest samt dem Vater und dem Heiligen Geist. Amen.«84 Altkirchliche Kritiker des Reliquienwesens suchten die herkömmliche Marienverehrung, ein Kernstück römisch-katholischer Frömmigkeit, gegen Fehl- und Zerrformen zu schützen. Was reformatorische Kritiker ins Feld führten, war Bestandteil einer Polemik, die die theologische Legitimität der traditionalen Marienfrömmigkeit grundsätzlich in Frage stellte. Die im Himmel entthronte Gottesmutter konnte auch in ihren auf Erden befindlichen Reliquien nicht mehr wirksam präsent sein. An Maria schieden sich die Geister. Eine Maria, die nach Ansicht neugläubiger Theologen im Himmel nichts mehr zu bewegen vermochte, erschütterte die Heilssicherheit ihrer Verehrer. Christen hingegen, die es mit Martin Luther hielten, brauchten sich durch den schwindenden Einfluß Marias nicht ängstigen zu lassen. Der Reformator ließ zwischen Gott und den Menschen nur einen einzigen Mittler gelten: den von Gott gesandten Mann Jesus Christus. Eine weibliche Fürsprecherin vor dem Throne Gottes hielt Luther aufgrund theologisch-systematischer Erwägungen für abwegig. Anhänger der alten Kirche widersprachen.

9. Traditionsverlust, Auflösung und Zerfall In Theologie und Ikonographie der katholischen Gegenreformation spielte Milch aus Marias Brüsten immer noch eine wichtige Rolle. Frühbarocke Meditationsbilder zeigen eine unter dem Kreuz stehende Maria, die mit ihrer Milch den Seelen im Fegefeuer zu Hilfe kommt. Christus steht ihnen mit seinem Blut bei, das er aus seiner Seitenwunde spritzt. Das Zusammenwirken von Blut und Milch, eines männlichen und weiblichen Erlösungssymbols, ließ hoffen. Gegenreformatorische Prediger forderten von der katholischen Kirche Abgefallene auf, sich von der »stiefmütterlichen Mannesbrust Luthers« (Nouercales mamillae Lutheri) loszureißen und heimzukehren zu den kraft- und lebenspendenden »Brüsten der rechtgläubigen Mutter Kirche« (Ubera Orthodoxae Matris

84

Ebd., S. 102.

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Ecclesiae).85 In einem Deckenfresko der ehemaligen Augustinerchorherrenkirche Rottenbuch malte der Augsburger Meister Matthäus Günther (1705–1788) einen Augustinus, der von einem Blutstrahl aus der Seitenwunde Christi mitten ins Gesicht getroffen wird. Ein Milchstrahl aus der linken Brust Marias ergießt sich – von hinten kommend – auf seinen Kopf. Sehnsucht nach mystisch-erotischer Verschmelzung mit der als Geliebten besungenen Maria begegnet noch in der geistlichen Dichtung des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772–1801) dichtete: »Als ich kaum meiner noch bewußt / sog ich schon Milch aus deiner [Marias] selgen Brust.«86 Die in Texten der frühen Neuzeit identifizierbaren Einzelbelege lassen nicht auf eine Wirkungsgeschichte von mitreißender, unwiderstehlicher Dynamik schließen. Die Symbolkraft von Marias Milch und Marias Brüsten verblaßte zusehends. Das Mittelalter, ein Zeitalter der Zeichen, ging zu Ende. Das überkommene Zeichensystem, das in einer traditionalen, von religiösen Ideen geprägten Gesellschaft sinnstiftende Deutungs- und Orientierungsfunktion zu erfüllen hatte, war mit dem gewandelten gesellschaftlichen Wertbewußtsein nicht mehr in Einklang zu bringen. Um Frauen zum Stillen ihrer Kinder zu animieren, bedurfte es nicht mehr des Beispiels Marias. Mütter, die sich an die Maximen Rousseaus hielten, erfüllten, wenn sie Kleinkindern die Brust gaben, ihre naturgemäße Bestimmung. Poeten und Beamte, die sich zur Reform der Gesellschaft berufen fühlten, machten das Selberstillen zu einem Thema öffentlich propagierter Volkshygiene.87 85

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So der Würzburger Weihbischof und Generalvikar Friedrich Förner in seiner 1621/22 in Ingolstadt erschienenen ›Palma Triumphalis Miraculorum Ecclesiae Catholicae‹. Vgl. Günther r eIter , Heiligenverehrung und Wallfahrtswesen im Schrifttum von Reformation und katholischer Restauration, Würzburg 1970, S. 85. Und Maria trat aus ihren Bildern. Literarische Texte, hg. v. Karl-Josef kuschel , Freiburg / Basel / Wien 1990, S. 45. Simon schama, Der zaudernde Citoyen, Rückschritt und Fortschritt in der Französischen Revolution, übersetzt von Gerda kurz / Siglinde summerer , München 1989, S. 150; S. 155 - 158, – Beaumarchais (1732–1799), Dichter, Gesellschaftskritiker und vom Glück begünstigter Sohn des Establishments, beschloß, »die Einnahmen aus ›Figaros Hochzeit‹ für einen würdigen Zweck zu stiften: die Förderung des Stillens. Ein Mütterwohlfahrtswerk sollte gegründet und damit werktätigen Müttern die Möglichkeit gegeben werden, ihre Kinder, statt sie zu Ammen aufs Land zu geben, an der eigenen Brust zu nähren« (ebd., S. 155). Gleichwohl: Das Stillen war damals nicht nur ein »Anliegen der Volksgesundheit […]. Mehr noch war es, wie die rhetorische Gegenüberstellung von Lebenskraft und Mortalität, von natürlichem Brauch und gesellschaftlichem Usus zeigt, ein moralisches Problem, oder anders gesagt, eine Frage der Einstellung zum Busen. Diese ethische Betrachtungsweise deutete die Abneigung gegen das Stillen als Triumph zügelloser Sinnlichkeit über häusliche Pflichterfüllung.

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In Literatur und Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts nahm das Milchmotiv in wachsendem Maße eine ambivalente Bedeutung ein. Es taucht sowohl in tugend- wie in lasterhaften Zusammenhängen auf. Ein Kupferstich des westfälischen Kupferstechers Heinrich Aldegrever von 1549 zeigt, wie »Lascivia, die Wollust, einen Milchstrahl auf einen Bären, das Symbol männlicher Sexualität, spritzt«88. In der ›Iconologia‹ des Cesare Ripa vom Jahre 1593 »preßt die Benignità, die mit der alliebenden Charitas gleichgesetzt wird, ihre Brüste, von deren Milchstrahlen alle, auch die Tiere, sich nähren. Das gleiche Motiv wird bei Ripa auch der Sostanza, der Substanz und der Kraft, zugewiesen, die Korn und Weintrauben in den Händen hält, die von den Strahlen ihrer Brust getroffen werden […]. Auch andere allegorische Figuren bei Ripa sind durch volle Brüste ausdrücklich gekennzeichnet, die Educazione (die Erziehung), die Grammatica und vor allem auch die Natura, Gestalten, die nähren, erziehen, verschwenden und auch enthusiasmieren sollen.«89 Motive und Gestalten des antiken Mythos traten in Konkurrenz zur christlichen Gottesmutter. Hans Springinklee stellte 1522 »eine knieende nackte Frau mit Weinlaubkranz im Haar« dar, »eine Bacchantin, die einen Milchstrahl aus ihrer Brust auf Weintrauben lenkt, die sie in ihrer Linken hält«90. Aus einem Milchstrahl der Hera (Juno) war dem antiken Mythos zufolge die Milchstraße hervorgegangen. Man hatte der Göttin den kleinen Herakles angelegt, damit er durch die Milch der Göttermutter unsterblich werde. Diese aber hatte ihn von sich gestoßen, ohne ihren Milchstrahl aufhalten zu können. Venus, die aus ihrer Brust Milch verspritzte, symbolisierte lasterhafte Libertinage. Erdgöttinnen, aus deren Brüsten Milch strömt, demonstrierten Fruchtbarkeit.91 Valerius Maximus berichtet in seinen ›Denkwürdigen Taten und Aussprüchen‹ (ca. 31 n. Chr.) von einer jungen Frau namens Pero aus Athen, die ihren alten, im Kerker schmachtenden Vater Kimon stillte »wie ihr eigenes Kind mit der Milch ihrer Brust«92 . Unter dem Titel ›Caritas Romana‹ fand die Geschichte der heroischen Tochter Eingang in Enzyklopädien und Exempelsammlungen

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Nach damaliger Auffassung schlossen nämlich Stillen und sexuelle Aktivität einander aus, da eine Vergiftung der Milch oder Ekel seitens des Mannes zu befürchten stand« (ebd, S. 157f.). Günter bandmann, Melancholie und Musik. Ikonographische Studien, Köln / Opladen 1960, S. 109. Ebd., S. 105f. Ebd., S. 106. Friedrich gross, Gegenbilder, Frauenemanzipation und künstlerische Erneuerung im Widerspruch der Zeit, in: Eva und die Zukunft, Das Bild der Frau seit der Französischen Revolution, hg. v. Werner hoFmann, München 1986, S. 44. Jean starobInskI, Gute Gaben, schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten, Aus dem Französischen von Horst Günther, Frankfurt a. M. 1994, S. 182.

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des 13. Jahrhunderts.93 Im Bewußtsein und im Gedächtnis mittelalterlicher Christen verwandelte sich die pietas der hingebungsvollen Tochter in ein Werk christlicher Barmherzigkeit. Caravaggio (1571–1610) verknüpfte in einem Bilderzyklus in der Kirche von Pio Monte della Misericordia in Neapel über die sieben Werke der Barmherzigkeit die barmherzige Maria mit der barmherzigen Pero. Die junge Frau, die ihrem Vater die Brust gibt, stellt zwei der Werke der Barmherzigkeit dar: »die Hungrigen zu ernähren und die Gefangenen zu besuchen. Am oberen Bildrand, über den verschlungenen Engeln, betrachten die Madonna und das Kind (vielleicht nachträglich vom Maler hinzugefügt) die Szene. Das Antlitz der Jungfrau ist offensichtlich zur Gruppe des gefangenen Vaters und seiner Tochter geneigt. Auf sie richtet sich auch der Blick des großen Engels. Überdies durch die Fackel des Priesters beleuchtet, der sich anschickt, einen Toten zu begraben, ist die junge Frau leuchtender Mittelpunkt der Barmherzigkeit.« 94 Entblößte Brüste in der Alltagswelt von heute wollen Begehrlichkeiten wecken oder Anstoß erregen. Im Jahre 1969 machten sich unter den Störenfrieden, die den Frankfurter Professor Adorno am Betreten des Katheders hinderten, Studentinnen bemerkbar, die vor dem Denker ihre Brüste entblößten. Sie taten das nicht, um für den von revolutionären Unruhegeistern bedrängten Philosophen Fürsprache einzulegen; sie wollten ihn verunsichern, schockieren, entehren. Es war nicht »nackte Gewalt«, die den Philosoph verstummen ließ, sondern die »Gewalt des Nackten«.95 Der Sinn von Gebärden und symbolischen Handlungen beruht auf zeitgebundenen Bedeutungszuschreibungen derer, die sie vollziehen und wahrnehmen. Die Bedeutung von Gesten, Ritualen und Symbolen kann sich im Fortgang der Zeit verändern – bisweilen so grundlegend, daß von ihrer ursprünglichen Semantik nichts mehr zu erkennen ist. Seelische Differenzierungsprozesse unter den Bedingungen neuzeitlich bewegter Geschichte verstrickten Körpergefühle, 93

94 95

Bettina sImmIch, Caritas Romana in Trier – Frauenmut und Männerstolz. Zur Rezeption einer antiken Legende in Trier in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Kurtrierisches Jahrbuch 94 (1994), S. 141 - 169, hier: S. 149 - 151. Zur Darstellung des Motivs in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kunst sowie zu dessen Fortleben in Exempelbüchern und Enzyklopädien des Mittelalters und in der Renaissance- und Barockliteratur vgl. Elfriede R. k nauer , Caritas Romana, in: Jahrbuch der Berliner Museen 6 (1964), S. 9 - 23, hier: S. 16 - 21. Zur Darstellung der jungen Frau Pero, die mit der Brust ihren zum Hungertod verurteilten Vater Cimon nährt, in der Kunst des 16., 17. und 18 Jahrhunderts; vgl. A. PIgler , Barockthemen. Eine Auswahl von Verzeichnissen zu Ikonographie des 17. und 18. Jahrhunderts, Budapest 21974, S. 300 - 307. starobInskI (wie Anm. 92), S. 83f. Peter sloterdIjk , Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1983, Bd. 1, S. 27. Vgl. auch ebd., S. 280 - 282 (›Brüste‹).

»Deine Brüste sind süßer als Wein«

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Liebeserfahrungen und religiöses Frommsein in nicht mehr auflösbare Widersprüche – ein Vorgang, der die Ambivalenz und Beliebigkeit des Symbolischen erheblich steigerte. Skepsis gegenüber allem Bildhaften kennzeichnet die aufgeklärte Vernunft der Moderne, die zählen und sezieren kann, die Fähigkeit zur Imagination aber verloren hat. Für mittelalterliche Autoren waren Symbole, Allegorien und Metaphern Werkzeuge bei der Suche nach der göttlichen Wahrheit. Ihre Bildhaftigkeit inspirierte gleichermaßen Malerei und Frömmigkeit. Um gemalte Bilder aus der Zeit des Mittelalters besser zu verstehen, kommt es nicht zuletzt darauf an, auch jene Vorstellungen zu rekonstruieren, die Menschen von damals mit Bildern – der stillenden und brustweisenden Maria z. B. – verbanden. Zur Wirklichkeit mittelalterlicher Bilder gehört der Betrachter – sein Glaube, seine Einbildungskraft, sein ungestümes Verlangen nach weltlichem und überweltlichem Heil. In der modernen Welt tritt bisweilen das Umgekehrte ein: Gängige Bildtypen, die im Gedächtnis der Vielen vorhanden sind und deshalb nach Belieben abgerufen und mit konkreten Erfahrungen verknüpft werden können, prägen die Wahrnehmung menschlichen Verhaltens. Pierre-Auguste Renoir (1841– 1919) soll einmal gesagt haben: »Jede Mutter, die ihr Kind nährt, ist wie eine Madonna von Raffael.«96

96

La joie de vivre. Die nie gesehenen Meisterwerke der Barnes Collection, München 1995, S. 58.

antIjudaIsmus In m arIenbIldern des sPäten m Ittelalters Bilder wollen gefallen. Das wollten sie auch in der Zeit des Mittelalters. Aber nicht nur dies: Indem sie belehrten, erinnerten und Wunder vollbrachten, wollten sie ins Leben eingreifen. Bildlich dargestellte Themen der alt- und neutestamentlichen Heilsgeschichte oder gemalte Ereignisse aus dem Leben von Heiligen suchten kenntlich und lesbar zu machen, wie Christen sich verhalten, was sie denken und glauben sollen, um am Tag des Weltgerichts zu denen zu gehören, die gerettet und nicht verworfen werden. Die denk- und verhaltensbestimmende Prägekraft von Bildern setzt jedoch Betrachter voraus, die fähig sind, aus dem jeweils Dargestellten jene Bedeutungen und Botschaften herauszulesen, die Auftraggeber und Künstler in eine bildhafte Form hatten bringen wollen. Zu bedenken bleibt aber auch, daß sich bei der Betrachtung von Bildern passive Rezeption und aktive Anverwandlung miteinander verschränken. Mittelalterliche Fromme, die Bilder anschauten, nahmen von sich aus Sinn- und Bedeutungszuschreibungen vor, in denen sie eigenen Erwartungen, Interessen und Bedürfnissen Ausdruck gaben. Die immer wieder beschworene »Wirklichkeit der Bilder« ist einem Dialog vergleichbar, der, wenn bildliche Darstellungen zu einer Quelle der Erinnerung, Belehrung und Erbauung gemacht werden, zwischen Bild und Betrachter geführt wird. Welche Bedeutungen Bilder freigeben und welche Funktionen sie in bestimmten historischen Kontexten erfüllen, hängt deshalb auch immer von zeitgebundenen Wahrnehmungsformen, Sehgewohnheiten und Sinnbedürfnissen ihrer Betrachter ab. Erläutern und darstellen möchte ich die semantische und funktionale Vielfalt von Bildern am Beispiel spätmittelalterlicher Mariendarstellungen, in deren Themen, Formen und Symbolen sich Beziehungen zwischen Christen und Juden widerspiegeln. Welcher Motive bedienten sich Maler und Bildhauer des Mittelalters, um kirchentreuen Laienchristen die Einstellung der Juden gegenüber christlichen Heilsangeboten sicht- und lesbar zu machen? Wie beschrieben Bilder die Reaktion christlicher Frommer, wenn sie sich durch das vermeintliche oder tatsächliche christentumsfeindliche Verhalten der Juden herausgefordert und verletzt fühlten? Wer solche Fragen beantworten will, ist gehalten, in apokryphen und legendären Schriften über das Leben, Wirken und Sterben Marias jene Texte aufzuspüren, die Maler und Bildhauer in ihren Darstellungen der Gottesmutter bildhaft nacherzählten.

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Angesichts dieser Tatsache, die spätmittelalterlichen Marienbildern den Charakter visualisierter Texte gibt, bleibt zu bedenken, ob die literaten und illiteraten Betrachter jener Bilder überhaupt in der Lage waren, das Antijüdische bestimmter marianischer Bildtypen wahrzunehmen und zu verstehen. Um zu Gesicht und zum Bewußtsein zu bringen, welche Botschaften Bilder mitteilen und verbreiten wollten, kommt es nicht zuletzt darauf an, religiöse und soziale Kontexte wiederherzustellen, die ihre Entstehung und kontextgebundene Aneignung verständlich machen. Motive und Reflexe, die auf das gespannte, konfliktträchtige, bisweilen auch gewalttätige Verhältnis zwischen Kirche und Synagoge hinweisen, finden sich insbesondere in Darstellungen des von Juden gestörten Begräbnisses Marias. Von Feindseligkeit geprägte Bildtafeln enthalten überdies Darstellungen von Marienmirakeln, die schildern und zeigen, wie Maria das frevlerische Handeln ihrer jüdischen Widersacher rächte und bestrafte.

1. ›Marias Heimgang‹ (Transitus Mariae) als Quelle antijüdischer Bildformen Tod und Begräbnis Marias waren keine Themen der kanonischen Evangelien.1 Traditionsbildend in Kunst und Literatur wirkte der ›Transitus Mariae‹, ein apokrypher Bericht über Marias Sterben und Begräbnis. Im Bereich der Ostkirche soll er im beginnenden 5. Jahrhundert geschrieben worden sein. Unter dem Namen des Bischofs Melito von Sardes († um 190) fand die apokryph-legendäre Schrift weite Verbreitung. In dieser heißt es: Als die Apostel Maria zu Grabe trugen, wollte ein jüdischer Hoher Priester den Sarg mit Marias Leib von den Schultern der Apostel stoßen. Als er jedoch mit seinen Händen die Bahre berührte, verdorrten diese und blieben an der Bahre haften. Das jüdische Volk, das dem priesterlichen Leichenschänder mit Wohlgefallen zuschaute, schlugen Engel mit Blindheit. Heilung erfuhren die Frevler in dem Augenblick, als sie sich bekehrten und ihren Glauben an die Geburt Jesu aus dem jungfräulichen Schoß Marias öffentlich zum Ausdruck brachten.2 1

2

Vgl. dazu und zum Folgenden Klaus schreIner , Der Tod Marias als Inbegriff christlichen Sterbens. Sterbekunst im Spiegel mittelalterlicher Legendenbildung, in: Tod im Mittelalter, hg. v. Arno borst u. a. (Konstanzer Bibliothek 20), Konstanz 1993, S. 261 - 312, hier: S. 261f. De transitu beatae Mariae virginis, in: Apocalypses apoctyphae, hg. v. Konstantin von tIschendorF, Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1866], S. 118f.; zur Überlieferungsgeschichte von Marias Sterbebericht vgl. Frédéric m anns, Le recit

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Das von Juden inszenierte Störmanover, das der ›Transitus Mariae‹ schildert, erinnert an einen vergleichbaren Vorgang im Alten Testament. Als nämlich David die Bundeslade von Baal in Juda nach Jerusalem holte, zog Usa, der Sohn Abinadabs, den Zorn Gottes auf sich, weil er, der Gegenwart Gottes nicht achtend, nach dem Heiligtum gegriffen hatte. Gott, so heißt es 2. Samuel 6,7, schlug Usa »daselbst um seines Frevels willen, daß er daselbst starb bei der Lade Gottes«. Seit dem Konzil von Ephesus im Jahre 431, als Marias Theotokos-Titel ins kirchliche Glaubensbekenntnis aufgenommen wurde, verglichen christliche Theologen Maria mit der Bundeslade.3 Die Bundeslade habe die Gesetzestafeln des Moses enthalten; Maria habe in ihrem Leib den göttlichen Gesetzgeber des Neuen Bundes getragen. Die Bundeslade, die für das Gottesbild des Alten Bundes steht, und der Körper Marias, in dem der Messias des Neuen Bundes Menschengestalt annahm, erfüllten demnach vergleichbare heilsgeschichtliche Funktionen. Beide dienten als Gefäße von Göttlichem. Die Analogie leuchtet ein. Insofern kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß der Verfasser des ›Transitus Mariae‹ seinen Bericht über das Begräbnis Marias durch ein dem Alten Testament entliehenes Motiv erweiterte. Ein solches Verfahren erklärt sich aus der Absicht, zeitgenössische Judenfeindschaft zu historisieren. In theologischen Schriften und geistlichen Spielen des Mittelalters, die sich mit dem Begräbnis und der Himmelfahrt Marias befassen, gibt es jedoch keine Versuche, die Attacke auf die Bundeslade und den Angriff auf den Sarg Marias miteinander in Verbindung zu bringen. Es finden sich keine Belege, welche die Berührung der Bundeslade durch Usa als Typus begreifen, dem als neutestamentlichem Antitypus das Verhalten des jüdischen Hohen Priesters beim Begräbnis Marias zuzuordnen wäre. In der Kunst des Abendlandes wurde Marias Sterben erst seit dem beginnenden 11. Jahrhundert zu einem Thema, das, bedingt durch Rezeptionsprozesse literarischer Art und inspiriert durch theologische Strömungen, Maler und Bildhauer aufgriffen, um es zu einem Gegenstand religiöser Betrachtung und sinnlicher Erfahrung zu machen. Im späten 12. Jahrhundert begegnen die ersten Miniaturen, die zeigen, wie Juden das Begräbnis Marias, der Mutter des menschgewordenen Gottessohnes, zu stören suchen.4

3 4

de la dormition de Marie (Vatican grec 1982). Contribution à l΄étude des origines de l΄exégèse chretienne, Jerusalem 1989; zu den Überlieferungen zum Ableben Marias, die sich in altkirchlichen Apokryphen und Legenden sowie in Schriften der Kirchenväter niedergeschlagen haben, vgl. Karoline k reIdl-PaPadoPoulos, Artikel ›Koimesis‹, in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst, Bd. 4, Sp. 38 - 145. Johannes schIldenberger , Artikel ›Bundeslade ‹, in: Marienlexikon, Bd. 1, S. 615f. Vgl. F. tschochner , Artikel ›Grablegung Mariae ‹, in: Marienlexikon, Bd. 2, S. 697 699. In Byzanz ist der Marientod bereits seit dem beginnenden 10. Jahrhundert ein Thema der Malerei, vgl. Ludmila wratIslaw-m ItrovIc / N. okunev, La dormition de

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Die Verbildlichung von Marias Tod und Grabtragung in der abendländischen Kunst beruht auf der Weitergabe und Aneignung von Texten. Reichenauer Mönche übersetzten in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts die Marienpredigten des byzantinischen Theologen Cosmas Vestitor aus dem Griechischen ins Lateinische. In einer dieser Predigten werden Tod und Begräbnis Marias eingehend beschrieben. Bemerkenswert bleibt jedoch, daß in der Reichenauer Buchmalerei des beginnenden 11. Jahrhunderts nur Marias Tod im Kreise der Apostel dargestellt wurde.5 Das jüdische Störmanöver hielten die Reichenauer Mönche offenkundig nicht für darstellungswürdig.6 Dieser Befund verweist auf Konstitutionsmerkmale christlicher Ikonographie: Es sind Texte, die, wenn sie gelesen, verkündet und für das eigene Glaubensverständnis als bedeutsam empfunden werden, Bildtraditionen begründen und begleiten. Verbildlichung beruht auf literarischen Überlieferungen, aus denen aufgrund apriorischer Erkenntnisinteressen bildwürdige Themen ausgewählt werden. Nahmen erzählte Geschichten bildhafte Gestalt an, wurden sie erweitert, verkürzt, in polemischer Absicht zugespitzt oder aufgrund irenischer Interessen entschärft und geglättet. In der publikumsorientierten Interpretation von Texten durch Bilder mag denn auch die Eigendynamik mittelalterlicher Bilder begründet liegen, denen für Prozesse religiöser und kultureller Kommunikation grundlegende Bedeutung zukam. Erklärungsbedürftig ist nicht nur der Verzicht auf die bildliche Wiedergabe des jüdischen Störmanövers, sondern auch der enorme zeitliche Abstand, der den spätantiken Sterbebericht von seiner früh- und hochmittelalterlichen Verbildlichung trennt. Rezeptionshemmend wirkten Vorbehalte gegen die Authentizität des Textes. Gefordert hingegen wurde dessen Aneignung durch theologische Interessen. Marias leibliche Aufnahme in den Himmel, an die in wachsendem Maße geglaubt wurde, setzte Kenntnisse über Zeitpunkt und Umstände ihres Todes voraus. Bei der Rezeption und Visualisierung der judenfeindlichen Perikopen aus dem ›Transitus Mariae‹ dürfte auch die Tatsache mitgespielt haben, daß sich im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts das Verhältnis zwischen Kirche und Synagoge verhärtete und verschärfte. Seit dem 12. Jahrhundert waren die theo-

5 6

la Sainte Vierge dans la peinture médiévale orthodoxe, in: Byzantinoslavica 3,1 (1931), S. 134 - 180 und 18 Tafeln. Eine noch frühere Datierung nimmt Karoline k reIdlPaPadoPoulos vor. Vgl. dIes., Artikel ›Koimesis‹, in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst, Bd. 4, Sp. 145: »Wir haben Zeugen dafür, daß schon vor dem 10. Jahrhundert ausführliche narrative Zyklen mit den Ereignissen des Marientodes existiert haben.« Vgl. auch Christa schaFFer , Koimesis. Das Entschlafungsbild in seiner Abhängigkeit von Legende und Theologie, Regensburg 1985. schreIner (wie Anm. 1), S. 263; 266. Ebd. Abb. 1, S. 274.

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logischen Wortführer der Kirche in verstärktem Maße darauf bedacht, den Wahrheitsanspruch der christlichen Heilslehre mit größerer Unversöhnlichkeit zur Geltung zu bringen. Die Wirklichkeit solcher Rahmenbedingungen ist evident. Dennoch kann das damals aufkommende Verlangen, Juden als Feinde Marias darzustellen, nur thesenartig erschlossen, nicht aber streng bewiesen werden. Einwände gegen die Glaubwürdigkeit des ›Transitus Mariae‹, in dem Juden als gewalttätige Feinde Marias von sich reden machen, erhob bereits das ›Decretum Gelasianum‹.7 Das im 6. Jahrhundert abgefaßte Dekret zählte den ›Hinübergang Marias‹ zu jenen Schriften, die von der Kirche als apokryph verworfen wurden. Beda Venerabilis (673/74–735), der angelsächsische Benediktinermönch, Gelehrte und Kirchenhistoriker, warnte vor der Lektüre des Sterbeberichts, weil chronologische Unstimmigkeiten an seiner historischen Zuverlässigkeit zweifeln lassen.8 Der karolingische Theologe Ambrosius Autpertus († 784) gab zu bedenken, daß keine ›catholica historia‹, das heißt kein von der Kirche anerkannter Tatsachenbericht, die Historizität des apokryphen ›Transitus Mariae‹ bestätige. Paschasius Radbertus von Corbie († 865) kommt in einem unter dem Pseudonym des Kirchenvaters Hieronymus verfaßten Brief auf viele seiner Zeitgenossen zu sprechen, die ›pietatis amore‹ dem Transitusbericht Vertrauen schenken und inbrünstig daran festhalten, was dieser über den Tod und die leibliche Himmelfahrt Marias berichtet. Den Anlaß zur Niederschrift von Radberts Epistel gaben Fragen der Klosterfrauen von S. Marien in Soissons, die – unsicher über Sinn und Gestaltung der liturgischen Assumptionsfeier – von einem theologischen Kenner beraten und belehrt sein wollten.9 Von den im ›Transitus Mariae‹ erzählten Vorgängen, lautet das Fazit der von Radbert vorgenommenen Prüfung, könne nur einer als sicher gelten: die Tatsache nämlich, daß Maria am 15. August glückselig gestorben sei. Wie die Kirche den Todestag aller Heiligen festlich begehe, so habe sie auch dem Gedächtnis des Hinscheidens der Gottesmutter Maria ein eigenes Fest gewidmet. Das leere Mariengrab im Tale Josaphat in Jerusalem sei kein Beleg für eine leibliche Himmelfahrt Marias. Niemand wisse, wann und von wem der Leichnam Marias weggeschafft wurde oder ob er schon auferstanden sei. Radbert riet deshalb davon ab, das Apokryphon ›De transitu virginis‹ im Gottesdienst zu verlesen. Die an einem historisch verläßlichen Text interessierten Nonnen sollten nicht der Versuchung erliegen, sich Zweifelhaftes (dubia) als verbürgte Realität (certa) zu eigen zu machen. Radbelt erhob Vorbehalte gegen 7 8 9

Ebd., S. 265. Beda Venerabilis, Liber retractationis in Actus Apostolorum, in: m Igne , PL 92, Sp. 1914f. schreIner (wie Anm. 1), S. 267.

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einen geschichtlich unbegründeten Glauben an die assumptio corporalis Marias. Er tat das in der Absicht, »ein apokryphes Buch über den ›Hinübergang der Jungfrau‹ aus der liturgischen Festtagslektüre zu verdrängen«.10 Der ›Heimgang Marias‹, konstatierte Propst Gerhoch von Reichersberg (1091/92–1169), dürfe nicht bei öffentlichen Gemeinschaftshandlungen des Konvents vorgelesen werden, sondern sei nur als Lesestoff für private Erbauungszwecke erlaubt. Die Schrift, deren Autor man nicht kenne, sei bereits von Hieronymus – in Wirklichkeit von dem karolingischen Theologen Ambrosius Autbertus – verworfen worden, um zu verhindern, daß Wahres (certum) und Ungewisses (incertum) miteinander vermengt würden.11 Das in Hunderten von Handschriften verbreitete ›Decretum Gelasianum‹, das auch ins ›Decretum Gratiani‹, das erste, um 1140 verfaßte kirchliche Rechtsbuch, aufgenommen wurde, erfüllte die Funktion eines Index librorum prohibitorum. Aber auch in seiner Eigenschaft als kirchenrechtlich anerkannter Index verbotener Bücher konnte das gelasianische Dekret nicht verhindern, daß der apokryphe Bericht vom Sterben und Begräbnis Marias den Charakter einer Erzählung annahm, die von vielen gelesen und Wort für Wort geglaubt wurde. Das Verlangen, über Marias Biographie genau Bescheid zu wissen, erwies sich offenkundig als so stark, daß es durch kirchliche Verbotsnormen nicht gedämpft und unterdrückt werden konnte. Chronisten, Hagiographen und Verfasser von Wallfahrtsberichten des frühen, hohen und späten Mittelalters lasen den apokryphen Bericht über den Tod, das Begräbnis und die Himmelfahrt Marias als historisch beweiskräftiges Dokument des christlichen Glaubens. Ohne Vorbehalte haben sie ihn verbreitet. Gregor von Tours (538/39–594) exzerpierte den ›Transitus Mariae‹ für seinen ›Liber in gloria martyrum‹.12 Aus frühmittelalterlichen Berichten von Pilgern war zu erfahren, daß es in Jerusalem eine Säule gab, die an jenen Platz erinnerte, an dem Juden versucht hatten, den Sarg Marias von den Schultern der Apostel zu werfen. Bischof Willibald von Eichstätt († 786), der in der Mitte des 8. Jahrhunderts eine Wallfahrt ins Heilige Land unternommen hatte, berichtet davon. Einer Heidenheimer Nonne diktierte er in die Feder: »Vor dem Tore von Jerusalem steht eine hohe Säule mit einem Kreuz darauf, zum Andenken, daß dort die Juden die Leiche der heiligen Maria rauben wollten«.13 Von dem zunehmenden 10 11 12 13

Walter berschIn, Griechisch-lateinisches Mittelalter. Von Hieronymus zu Nikolaus von Kues, Bern / München 1980, S. 193, Anm. 193. schreIner (wie Anm. 1), S. 268f. Gregor von Tours, Liber in gloria martyrum c. 4, in: MGH Script. rer. Mer. 1, S. 489. Heinrich l oewe , Die Juden in der katholischen Legende, Berlin 1912, S. 26. Vgl. auch F. E. Peters, Jerusalem. The Holy City in the Eyes of Chroniclers, Visitors, Pilgrims and Prophets from the Days of Abraham to the Beginnings of Modern Times, Princeton / New Jersey 1995, S. 210.

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Interesse an apokryphen Evangelien und Apostelakten, das sich seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert regte, profitierte auch der ›Transitus Mariae‹. Vinzenz von Beauvais († 1264) nahm den Bericht von der Grabtragung Marias in sein ›Speculum historiale‹ auf.14 Jakobus de Voragine († 1298) beschreibt in seiner ›Legenda Aurea‹, dem im Spätmittelalter am weitesten verbreiteten Buch, gleich zwei Mal die Attacken der Juden auf den Leichnam Marias – zuerst im Anschluß an den apokryphen ›Transitus Mariae‹, dann in der Fassung, die Johannes Damascenus dem Vorgang gegeben hatte.15 Lateinische und volkssprachliche Marienleben des 13. und 14. Jahrhunderts beschreiben in epischer Breite, wie Maria starb und gen Himmel fuhr. Mit der Freude an der erzählerischen Vergegenwärtigung anekdotenhafter Details verband sich zunehmend Polemik gegen die treu- und gottlosen Juden. Hinzu kamen geistliche Spiele, die den Frevel der Juden sinnfällig inszenierten.16 Es gab Spielanweisungen, die genau beschrieben, wie das leichenschänderische Unterfangen der jüdischen Aggressoren zu gestalten sei. Im mittelalterlichen Bourges sollte das Störmanöver folgendermaßen inszeniert werden: »Bellezeray«, so der erfundene Name des jüdischen Anführers, »und andere müssen sich in den Weg stellen, um zu verhindern, daß die Leiche Unserer Lieben Frau ins Grabdenkmal gebracht werde. Die Juden bestreben sich, Hand an die Leiche der Jungfrau zu legen. Und sogleich müssen ihre Hände erstarren, und sie müssen durch Feuer erblinden, welches Engel schleudern. Bellezeray legt die Hand auf die Bahre, auf der man die Jungfrau trägt, und seine Hände bleiben an der Bahre haften. Und auf die Juden muß viel Feuer in Art des Blitzes geworfen werden, und die erblindeten Juden müssen zur Erde fallen. Die Hände des Bellezeray müssen losgelöst und wieder mit seinen Armen verbunden werden. Dann wird ihm der Palmzweig übergeben, mit dem er zu den übrigen (Juden) geht, von denen diejenigen das Augenlicht wieder erhalten, die glauben. Dann bringt er jenen Palmzweig zurück. […] Jene [ Juden], welche sich nicht bekehren wollen, werden von Teufeln gequält und müssen in die Hölle geschleppt werden«.17 Über die Künste und Tricks, mit deren Hilfe der erzählende Text in theatralische Aktion umgesetzt werden sollte, schweigt sich der Autor aus. Es sind Reflexe zeitgenössicher Erfahrungen, wenn in einem 1391 verfaßten und aufgeführten »Spiel von der Hümmelfahrt Marias« dargestellt wird, daß 14 15 16 17

Vincentius Bellovacensis, Speculum historiale 21, 78, Graz 1965 [Nachdruck der Ausgabe 1624], S. 843. Jacobus de Voragine, Legenda aurea vulgo historica Lombardica dicta, ed. Thomas graesse , Osnabrück 1969 [Nachdruck der dritten Aufl. 1890], S. 517 - 527. Vgl. dazu Edith wenzel , ›Do worden die Judden alle geschant‹. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen (Forschungen zur älteren deutschen Literatur 14), München 1992. l oewe (wie Anm. 13), S. 25f.

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sich nicht alle Juden bekehren, sondern zwei von ihnen das christliche Heilsangebot ablehnen und es vorziehen, blind zu bleiben, bis der wahre Messias kommt. Im apokryphen ›Transitus Mariae‹ werden alle Juden geheilt, weil sich alle zu Maria als der jungfräulichen Mutter des Erlösers bekennen. Den beiden Juden, die lieber blind bleiben wollen als sich bekehren, legt der Verfasser des Spiels die gängigen christentumsfeindlichen Stereotypen in den Mund, von denen er und seine Leser und Hörer glaubten, daß sie für die Einstellung der Juden zu den Christen prägend sind. Der Text des Autors sieht vor, daß die beiden verstockten Repräsentanten der Synagoge Jesus als Scharlatan beschimpfen, seine Jünger und Apostel der schwarzen Kunst bezichtigen. Der eine von ihnen rechtfertigte seine Ablehnung der Bekehrung folgendermaßen: »her [ Jesus] sprach, sin vater were got, wir wissen alle sundern spot, her was eyns czymmermannes son, der erbeyte um sin lon. ich gloube an en alz eyn stro er [ehe] ich mich lisse toufen alzo er [ehe] welde ich ymmer bont [blind] sy, dy wyle ich lebe allhy.«

Der andere meinte: »Trawen [trauen], geselle, alz wil ouch ich, ich weyz daz gar sicherlich, daz Messays noch sal komen, der mag uns beyden wol gefromen, wir wissen daz gar uffenbar daz der ist gottes son vorwar.«

Er ist der Überzeugung, wenn der wahre Messias kommt, »so schol her uns beyde sehende machen mit sinen gotlichen sachen.«18 18

Zitiert nach Hans Carl holdschmIdt, Der Jude auf dem Theater des deutschen Mittelalters, Emsdetten 1935, S. 65. Daß es zwei Juden ablehnen, um den Preis der Bekehrung zum christlichen Glauben geheilt zu werden, nahm in spätmittelalterlichen Spielen von Mariä Himmelfahrt den Charakter eines immer wieder zitierten Topos an. »Das etwa einhundert Jahre jüngere Neustifter Spiel schildert, wie die Juden den Leichenzug Mariens plündern wollen, sie werden daraufhin geblendet und gelähmt, bis auf zwei Juden bekehren sich nun die Plünderer und werden geheilt, die Verstockten bleiben ungeheilt« (Klaus geIssler , Die Juden in mittelalterlichen Texten Deutschlands.

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Abb.1: Begräbnis (unterer Rand), Himmelfahrt und Krönung Marias (seitlicher Rand). Illustration zu Ps 42 der Komplet Judica me Deus. Stundenbuch des William de Brailes – The de Brailes Hours (The Brirish Library, London, MS. Add. 49 999), fol. 61r.

Die Summe der aufgelisteten Autoren und ihrer Schriften zeigt: Literate und illiterate Christen des Mittelalters, die wissen wollten, wie Marias Grabtragung verlief, konnten auf mannigfache Weise ihre Neugierde befriedigen. Es gab eine Unsumme von Texten, die den ›Transitus Mariae‹ überlieferten, und es gab vor allem am Fest Mariä Himmelfahrt fromme Spiele, die leibhaftig vor Augen führten, was beim Begräbnis der Gottesmutter Verwirrung gestiftet und Staunen hervorgerufen hatte: die von Juden angezettelten Turbulenzen, die von Gott verhängten Strafen und zuguterletzt die wunderbaren Konversionen, die aus Verächtern Marias gläubige Verehrer machten. Eine Untersuchung zum Minoritätenproblem anhand historischer Quellen, in: ZBLG 38 [1975], S. 208).

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Man darf deshalb bei marienfrommen Christen des Mittelalters ein durch Texte, durch Spiel und Predigt vermitteltes Vorwissen voraussetzen, das sie befähigte, zu lesen und zu verstehen, was ihnen Bilder und Skulpturen über das Begräbnis Marias mitteilen wollten. Wenn Kleriker, Mönche und Laienchristen in der Zeit des Mittelalters Darstellungen des Marienbegräbnisses anschauten, taten sie das unstreitig als Betrachter, die über Verlauf und Bedeutung des Dargestellten viel gehört, viel gesehen und viel gelesen hatten. Kurzum: In den Köpfen der Betrachter gab es einen Vorrat an Wissen, der es ermöglichte, dargestellte Einzelszenen zu einer zusammenhängenden Geschichte zu verweben. Bemerkenswert bleibt, daß in liturgischen Handschriften und in Stundenbüchern das von Juden gestörte Leichenbegängnis nicht jene emotional bewegende Ausdruckskraft besitzt, die demselben Vorgang eignet, wenn er in einem aus Stein gehauenen Relief zur Darstellung kommt. Es mag zum einen mit der verschiedenen Stofflichkeit des Materials zusammenhängen, hat aber auch zugleich zu tun mit unterschiedlichen Räumen der Wahrnehmung und Aneignung. Das Stundenbuch dient der persönlichen Erbauung, das Tympanon einer Kirche hingegen der öffentlichen Unterweisung. In dem um 1240 von William de Brailes abgefaßten Stundenbuch illustrieren die Miniaturen vom Heim- und Hinübergang Marias nicht ein Marienleben, sondern Psalmen, die zu einem Totenoffizium gehören.19 Die Bildfolge auf der linken Randleiste zeigt, wie Marias Seele von einem Engel zum Himmel getragen und dort von Christus gekrönt wird. Auf der unteren Randleiste ist zu sehen, wie Maria stirbt, von den Aposteln zu Grabe getragen und in einen Sarkophag gelegt wird (Abb.1). Zwei Juden stören den Leichenzug. Die Hände des einen bleiben am Bahrtuch haften. Dem Buchmaler liegt nicht daran, das Störmanöver zu dramatisieren. An pathetischer Aufgeregtheit und martialischer Übertreibung ist er nicht interessiert. Die Initiale zu Psalm 128 (Sepe expugnaverunt) zeigt neun blinde Juden. Einer von ihnen gewinnt sein Augenlicht wieder zurück, weil er sich zum christlichen Glauben bekehrt. Seine Sehkraft kehrt zurück, als ihm Petrus das Leichentuch vom Sarg Marias auf die Augen legt. Einer der Juden, der es ablehnt, sich durch das wundertätige Bahrtuch heilen zu lassen, bleibt blind. Die Sequenz der Bilder erinnert zum einen an die den Juden seit alters vorgeworfene Verstocktheit; zum anderen betont die dargestellte Ereignisfolge eine auf seiten der Juden vorhandene Bereitschaft zur Umkehr. Von pauschaler Diskriminierung ist der Buchmaler weit entfernt. Die dargestellten Juden tragen weder einen Judenhut, noch ist ihr Antlitz durch eine Hakennase entstellt. Die Miniaturen vermitteln durch ihren bemerkenswerten Grad an Abstraktion den Eindruck, daß geistli19

Claire donovan, The de Brailes Hours. Shaping the Book of Hours in ThirteenthCentury Oxford, London 1991, S. 96 - 104.

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Abb.2: Begräbnis Marias. Tympanon (am Nordportal der Nürnberger Sebaldus-Kirche (Ausschnitt). Nordportal Nürnberger Sebaldus-Kirche (um 1320).

che Blindheit eine ständige Versuchung für alle Menschen darstellt – für Juden so gut wie für Christen. Nicht zu übersehen ist allerdings auch dies: Ein späterer Benutzer hat durch französischsprachige Erläuterungen die Deutungsmöglichkeiten der mit religiöser Blindheit befaßten Miniaturen wieder eingeschränkt. Die volkssprachlichen Hinweise nahmen den einzelnen Bildern ihre mehrdeutige Interpretierbarkeit. Die nachträglich angebrachten Bildunterschriften insistierten auf der judenfeindlichen Tendenz des Dargestellten. Wer dieser folgte, für den stellte sich nur für Juden religiöse Blindheit als möglicher und tatsächlicher Habitus dar. Gegenüber der Botschaft Jesu blind und verstockt zu sein, gehört zu den Vorwürfen, die seit urchristlicher Zeit den Juden von der Kirche als der unfehlbaren Interpretin göttlicher Offenbarungswahrheiten gemacht wurden. Form und Inhalt der kleinformatigen Miniaturen lassen nicht den Schluß zu, daß Auftraggeber und Künstler daran interessiert waren, antijudaistische Gefühle und Affekte zu wecken. In einer unaufgeregten Bildsprache wollten die Illustrationen belehren und erbauen. Die dargestellten Juden dienten nicht als Zielscheibe, auf die sich der abschätzige Spott und die aggressive Verachtung von Christen richteten. Sie werden als Personen geschildert, an denen Maria ihre wunderwirkende Macht unter Beweis stellte.

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Um dramatische Inszenierung des Vorfalls geht es in dem Tympanon, das über dem Portal an der Nordseite der Nürnberger Sebaldus-Kirche angebracht wurde. Es stammt aus den zwanziger Jahren des 14. Jahrhunderts. Das Relief vergegenwärtigt biographische Stationen aus dem Leben Marias: Tod, Begräbnis und Krönung im Himmel (Abb.2). Der Gegensatz zwischen den selbstbewußten, aufrechten und glaubensstarken Aposteln auf der einen, den gescheiterten, gekrümmt am Boden liegenden Juden auf der anderen Seite ist von einer Evidenz, die abweichende Lesarten ausschließt. Maria erweist sich als starke, von Gott erwählte und gekrönte Frau, die weder Tod noch Juden zu fürchten hat. Eine solche Lesart konnte unausgesprochen als Argument benutzt werden, um judenfeindlichen Maßnahmen des Nürnberger Rates eine religiöse Legitimation zu verschaffen. 1349, also bald nachdem das Relief mit den Szenen aus dem Leben Marias fertiggestellt und über dem Nordportal der Sebaldus-Kirche angebracht war, wurden die in Nürnberg ansässigen Juden unter Blutvergießen vertrieben. Damals hatte sich die Stadt von Karl IV. urkundlich verbriefen lassen, daß sie das in ihren Mauern gelegene Judenviertel mitsamt der Synagoge abreißen darf, um Platz für einen neuen Markt und den Bau einer Marien- oder Frauenkirche zu gewinnen.20 In den Anfängen der abendländischen Christenheit waren es himmlische Mächte, die Juden für ihre gewalttätige Verstocktheit bestraft und niedergerungen hatten. Im Jahre 1349 hatten Nürnbergs Bürger selber Hand angelegt, um sich der Feinde Christi und Marias zu entledigen. Ein unbekannter Nürnberger Maler bereicherte zu Anfang des 15. Jahrhunderts (um 1410/20) die Ikonographie von Marias Leichenbegängnis mit einem neuen Motiv. Auf dem aller Wahrscheinlichkeit nach für die Nürnberger Frauenkirche bestimmten Tafelbild gab er dem Apostel Petrus als Waffe zur Abwehr der Attacken der Juden einen Schlüssel in die Hand. Eine symbolische Aktion, die aus anderen literarischen und bildlichen Kontexten stammt, übertrug er auf das Begräbnis Marias. Frühmittelalterliche Visionäre glaubten zu sehen, wie Petrus mitunter vor der Himmelspforte erschien, um mit seinem Schlüssel auf Dämonen, die die Seelen frommer Christen als ihr Besitztum beanspruchen, oder auf Christen, die die Hölle verdient haben, einzuschlagen. Mit welcher Entschlossenheit der heilige Petrus für seine Schützlinge zu kämpfen bereit ist, berichtet die Vision des Mönches Barontus (678/79). Um zu 20

Vgl. dazu Kuno ulshöFer , Zur Situation der Juden im mittelalterlichen Nürnberg, in: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Bd. 1, München 1988, S. 153; Klaus schreIner , Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1994, S. 443 - 445; Hedwig röckeleIn, ›Die grabstain, so vil tauesent guldin wert sein‹: Vom Umgang der Christen mit Synagogen und jüdischen Friedhöfen, in: Aschkenas 5 (1995), S. 16 - 18, 29 - 31.

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verhindern, daß die Seele des Mönchs von Dämonen in die Hölle geschleppt wird, herrschte er diese an: »Weichet, böse Geister«. Weil sich das dämonische Heer dem Befehl des Apostels nicht beugen wollte, »nahm der hl. Petrus auf der Stelle drei Schlüssel […] in die Hand und wollte sie mit eben diesen Schlüsseln auf den Kopf schlagen. Doch sie begannen schleunigen Flugs mit ausgebreiteten Flügeln zu fliehen«.21 Petrus, der, um vom Teufel bedrohte Seelen zu retten, seine Himmelsschlüssel als Waffe benutzt, wird in dieser Rolle auch im ›Liber vitae‹ des New Minster von Winchester (nach 1020) abgebildet. Die Miniatur zeigt das Jüngste Gericht (Apoc. 20,12). Petrus, mit dem Schlüssel in seiner Linken, hält für die Erwählten die Himmelstür offen. Im Streit um die Seele eines Christen stößt der Himmelspförtner dem Teufel seinen Schlüssel ins Gesicht. Der Teufel hält ein Buch in Händen, in dem die Sünden dessen aufgeschrieben sind, den Petrus als Erwählten und Geretteten für sich beansprucht. Auf dem unteren Bild schließt Petrus die Himmelspforte und stößt mit seinem Schlüssel die Verworfenen in die Hölle. Der Maler des Tafelbildes griff auf einen hagiographischen Topos zurück, um die Symbolik des Konflikts in eine anschauliche Form zu bringen. Der Apostelfürst, der mit einem Schlüssel auf den jüdischen Frevler einschlägt, vergegenwärtigt den Triumph der Kirche über die Synagoge. Petrus steht für die unbesiegbare Schlüsselgewalt der Kirche, ihre geistliche Heilsmächtigkeit und weltliche Macht. Das Bild erinnerte und bestärkte; hatten Nürnbergs Christen doch 1349 bewiesen, daß sie den Juden, durch die sie sich in ihren Lebensmöglichkeiten und in ihrem Entfaltungsdrang eingeschränkt fühlten, die Stirn zu bieten wußten. Das antijüdische Milieu im spätmittelalterlichen Nürnberg führte und verführte zu Sichtweisen, die sowohl das Bildprogramm im Tympanon der Sebaldus-Kirche als auch das Marienbegräbnis des anonymen Nürnberger Malers zu legitimatorischen Instanzen judenfeindlicher Einstellungen machten. Das ›Fortalitium fidei contra Judeos, Saracenos et alios Christianae fidei inimicos‹ des spanischen Konvertiten und Franziskaners Alfonso de Spina, eine 1458/59 abgefaßte Schrift, die Juden des Ritualmords und Hostienfrevels bezichtigt, vor allem jedoch die Überlegenheit des Christentums in der seitherigen Menschheitsgeschichte aufzeigt, ist in Nürnberg in den Jahren 1485 und 1494 zweimal gedruckt worden.22 Durch ihre Schwankdichtungen, Reimpaarsprüche und 21

22

Peter dInzelbacher , Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung: Mentalitätsgeschichte und Ikonographie, Paderborn 1996, S. 70f; ebd., S. 71 auch eine Miniatur dieser Szene, die zeigt, wie Petrus, mit drei Schlüsseln bewehrt, einen Dämon verjagt. Michael toch, Artikel ›Nürnberg ‹, in: Germania Judaica, Bd. 3, 2 (1350–1519), Tübingen 1995, S. 1012.

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Fastnachtsspiele haben die Nürnberger Hans Rosenbluet (1400–1470) und Hans Folz (um 1440–1513) Verachtung und Haß gegen Nürnbergs Juden geschürt.23 Historische Erinnerungen, Theologie, Dichtung und Spiel prägten Sehgewohnheiten, mit deren Hilfe die Bildern innewohnende judenfeindliche Tendenz in die Augen und ins Bewußtsein ihrer christlichen Betrachter gelangte. Nürnbergs Bürger des ausgehenden 15. Jahrhunderts konnten deshalb in der Bildfolge über dem Marienportal von St. Sebald sowie in dem Tafelbild des Nürnberger Anonymus bestätigt finden, was der Benediktiner Sigismund Meisterlin mit der Autorität eines geschichtskundigen Gottesgelehrten damals in seiner ›Nürnberger Chronik‹ behauptet hatte: Bürgerlichen Kommunen, die Juden in ihrer Mitte dulden, entzieht Maria ihre Gnaden und Hilfen.24 Eine solche Annahme konnte Nürnbergs Bürger in der Überzeugung festigen, daß ihre Vorfahren gut daran getan hatten, die in der Stadt ansässigen Juden getötet und vertrieben zu haben. Solche Überlegungen mögen auch im Jahre 1498 eine Rolle gespielt haben, als die Juden Nürnbergs von neuem »um gemeyns nutz und notturft willen« aus der 23

24

Rosenbluet verspottete die Juden in einer satirischen ›Disputatz eines Freihet mit einem Juden‹, in welcher ein Landstreicher und ein Jude über religiöse Fragen streiten. Vgl. Hans ruPPrIch, Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, Bd. 4, 1, München 1994, S. 215. Folz machte sich in seinen Fastnachtsspielen über die Messias-Erwartungen der Juden lustig und brandmarkte in seinen Reimpaarsprüchen deren Geldgeschäfte. Vgl. Edith wenzel , Zur Judenproblematik bei Hans Folz, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 101 (1982), S. 79 - 104. toch (wie Anm. 22), S. 1012, betont, Folz habe mit seinen haßerfüllten Tiraden gegen die Nürnberger Judenschaft »großen Erfolg beim Nürnberger christlichen Publikum« gehabt. – Das Bild der Juden, das der Franziskaner Johannes Capestrano und der Dominikaner Peter Schwarz zeichneten, als sie 1452 und 1478 in Nürnberg vor Juden predigten, wäre noch genauer zu untersuchen. Zur Einstellung Kapistrans zu den Juden vgl. Johannes hoFer , Johannes Kapistran. Ein Leben im Kampf um die Reform der Kirche, Bd. 2, Heidelberg 1964, S. 222ff. Zu seiner Predigttätigkeit in Nürnberg und Bamberg vgl. Peter schmIdt, Judenpredigt und Judenvertreibung in Bamberg 1452-1478, in: Der Bußprediger Capestrano auf dem Domplatz in Bamberg. Eine Bamberger Tafel um 1470/75. Begleitschrift zur Ausstellung des Historischen Museums Bamberg und des Lehrstuhls I für Kunstgeschichte an der Universität Bamberg, Bamberg 1989, S. 135 - 140. »Schwarz«, so wurde neuerdings gesagt, »war kein Scharfmacher wie nach ihm Hubmaier. In seinen Predigten schwingt ein liebevoller Seelsorge entsprungener Missionseifer mit. Haß zu schüren lag dem besonnenen Kopf fern. Seine Predigten waren sicher für einen großen Teil der Bevölkerung zu anspruchsvoll. Doch enthielten sie Stellen, an denen sich der Antisemitismus erneut entzünden konnte, so besonders wenn sich Schwarz mit der den Juden zur Last gelegten Schilderung des Heilandes als Betrüger und der Jungfrau Maria als junger Dirne befaßte. Wucher und Volksaberglaube spielten jedoch bei ihm keine Rolle« (Peter herde , Gestaltung und Krisis des christlichenjüdischen Verhältnisses in Regensburg am Ende des Mittelalters, in: ZBLG 22 [1959], S. 377). schreIner (wie Anm. 20), S. 443f.

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Stadt vertrieben wurden.25 Im Kontext solcher Einstellungen und Interessen stellten Bilder mit judenfeindlichen Themen Sinnpotentiale bereit, auf die sich Individuen und Kommunen berufen konnten, um ihre Handlungsziele zu rechtfertigen und hemmende Handlungsschwellen abzubauen. Ob, wenn es um jüdische Marienfeindschaft und die Vertreibung stadtsässiger Juden ging, Nürnbergs Bürger anders dachten als die von Regensburg und Rothenburg? Nach der Vertreibung der Juden aus Regensburg im Jahre 1477 brachte ein anonymer Liedermacher die judenfeindlichen Stimmungen und Einstellungen der städtischen Bevölkerung folgendermaßen zur Sprache: » So frumm ward nie kein Judenhund, der nit versuocht, wie er da kund schenden unseren die rainen maid. Darumb kein stat nit glück mag han wo die verluchten Juden stan.« 26

In einem Volkslied, das die Vertreibung der Juden aus Rothenburg im Jahre 1520 beschreibt und besingt, heißt es: »Und das die schelck vertriben seint, / Es ist der gottes wille, Maria die ist jn veind« – und zwar deshalb, weil sie ihren Sohn gequält und getötet haben.27 Bilder vom Begräbnis Marias, die im Lichte eines solchen Vorverständnisses betrachtet wurden, erfüllten die Funktion von Legitimationsmustern, die die Wahrnehmung und Durchsetzung eigener Interessen mit dem Heiligenschein religiöser Rechtmäßigkeit ausstatteten. Bewußtsein und Praxis der Macht finden ihre Entsprechung in der »Macht der Bilder«. Trifft die Annahme auch auf Miniaturen, Tafelbilder und Reliefs des Mittelalters zu, die, wenn sie das Begräbnis Marias darstellen, Juden als Feinde der Gottesmutter erscheinen lassen? Der Befund ist ambivalent. Die antijüdischen Motive der Nürnberger Mariendarstellungen nährten Vorurteile und gaben judenfeindlichen Einstellungen einen Rückhalt in der Lebensgeschichte Marias. Grenzen der Bildern zugeschriebenen Macht beleuchten Stimmen der Kritik, aus denen hervorgeht, daß spätmittelalterliche Laienchristen, die die Bibel kannten, nicht mehr bereit waren, sich gutgläubig und arglos dem Wahrheitsanspruch apokrypher Mariengeschichten zu unterwerfen. Sie übten Kritik, wie die Steinmetze von York z. B., die am Fest Mariä Himmelfahrt die Grabtragung 25 26 27

Michael toch, ›umb gemeyns nutz und notturfft willen‹. Obrigkeitliches und jurisdiktionelles Denken bei der Austreibung der Nürnberger Juden 1498/99, in: ZHF 11 (1984), S. 1 - 21. Zitiert nach Wilhelm grau, Antisemitismus im späten Mittelalter. Das Ende der Regensburger Judengemeinde 1450-1519, München und Leipzig 1934, S. 135. schreIner (wie Anm. 20), S. 448.

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Marias (Portacio corporis Mariae) aufzuführen pflegten. Im Jahre 1431 machten sie geltend, daß der Inhalt des von ihnen aufgeführten Spiels in der Heiligen Schrift keine Bestätigung finde. Dieses zeige nämlich, wie Fergus, der Anführer der Juden, den Sarg mit dem Leichnam Marias von den Schultern der Apostel stoßen wolle und dafür von Gott prompt bestraft werde. Die Fergus unterstellte Leichenschändung sei in der Bibel nicht enthalten; sie erzeuge deshalb mehr Gelächter und Lärm als Frömmigkeit. Mitunter verursache die Aufführung sogar Streit und Schlägerei unter dem Volk. Der Wille der Steinmetzen war einhellig: Sie wollten nur ein solches Spiel aufführen, dessen Text mit der Heiligen Schrift übereinstimme (que conveniens est scripture sacre).28 Ein Mainzer Bürger, der zu Anfang des 16. Jahrhunderts den von Martin Schongauer in Kupfer gestochenen Marientod in seine Bibel klebte, bemerkte: Dieser Stich sei in seiner Jugend im »theutschen Land« für das »beste kunststück gehalten worden, deshalben ich es auch in meine bibel han geleimt nit von wegen der hystorien, sie kan war vnd auch nit sein«.29 Die Bibel trennte Spreu vom Weizen. Ereignisse, die – wie der Tod und das Begräbnis Marias – in dieser nicht erwähnt wurden, ließen Zweifel an ihrer historischen Tatsächlichkeit aufkommen. Der Mainzer Bürger hielt es mit der Autonomie des Ästhetischen, die die Wahrheitsfrage relativierte. Die Steinmetze von York waren der Auffassung, das Spiel mangels biblischer Belege und Beweise nicht mehr aufführen zu sollen. In einer aus dem 13. Jahrhundert stammenden Rundscheibe des Freiburger Münsters begegnet ein neues Motiv: ein Engel, der in seinen Händen ein Schwert hält, mit dem er die Hände des am Boden liegenden jüdischen Störenfrieds abgeschlagen hat. Das Motiv ist byzantinischen Ursprungs. In der Buch- und Wandmalerei des byzantinischen Ostens begegnet es häufig. Eine Miniatur aus dem 1232 angefertigten Evangeliar von Tharmanchats zeigt, wie vor dem Engel ein Mann kniet, der dem strafenden Boten des Himmels die Stümpfe seiner beiden Arme entgegenstreckt. Seine Hände kleben am Totenbett Marias. Was gezeigt und gesagt werden soll, ist eindeutig: Ein Engel, wohl Michael, hat mit seinem Schwert die Hände eines Juden abgeschlagen, der in das Sterbezimmer Marias eingedrungen war. Der Vorgang wurde als »Szene von 28

29

Anna J. m Ill , The York Plays of the Dying, Assumption, and coronation of our Lady, in: Publications of the Modern Language Association of America 65 (1950), S. 866 - 869; Records of Early English Drama, hg. v. Alexander F. johnston / Margaret rogerson, York / Toronto 1979, S. 47f. Der Rat der Stadt trug dem Ansinnen der Steinmetzen Rechnung. Sie sollten fürderhin an Fronleichnam das »Herodes-Spiel« ( pagina herodis) aufführen, das bislang die Goldschmiede veranstaltet hatten. Zitiert nach Werner tImm, Die Einklebungen der Lutherbibel mit den Grünewaldzeichnungen, in: Forschungen und Berichte: Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 1957, S. 118. Vgl. auch David l andau / Peter Parshall , The Renaissance Print 1470-1550, New Haven / London 1994, S. 52.

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grotesker Dramatik« beschrieben: »Zwei Gestalten stehen sich gegenüber: ein Mann, der zwei Armstümpfe emporhält und ein Engel, der, obwohl er sein Werk bereits vollbracht hat, noch immer in kampfbereiter Positur dasteht, indem er mit weitausholender Gebärde sein Schwert schwingt. Wessen sich der so hart Bestrafte schuldig gemacht hat, läßt sich an einem makabren Detail ablesen. Am Sterbelager Mariens kleben seine beiden abgehackten Hände, mit denen er die Bahre umwerfen wollte.« 30 Der lateinische ›Transitus Mariae‹ erwähnt diese martialische Strafaktion nicht. Ein griechisch abgefaßter, dem Apostel Johannes zugeschriebener ›Liber de dormitione‹ aus dem 5. oder 6. Jahrhundert hingegen berichtet, es sei ein »Engel des Herrn von unerhörter Kraft« gewesen, der im Auftrag Gottes das blasphemische Verhalten des jüdischen Hohen Priesters mit Namen Jephonias rächte. Mit einem Feuerschwert habe er dem Juden die Arme an den Schultern abgeschlagen. Die abgehauenen Arme seien dann an der Sargwand haften geblieben.31 Johannes von Thessaloniki, zwischen 610 und 649 Erzbischof von Thessaloniki, schilderte in einer Homilie aus Anlaß der Einführung des Entschlafungsfestes in seiner Bischofsstadt (um 620) den ominösen Vorgang so: Nachdem Maria »ihren Geist den Händen ihres Sohnes und Gottes« übergeben hatte, »stimmte Petrus die Sterbegesänge an. Die anderen Apostel hoben das Sterbebett auf die Schulter und trugen den Leib, der Gott empfangen hatte, zum Grabe, während ein Teil der Anwesenden mit Kerzen voranzog und der andere folgte. Zur gleichen Zeit konnte man auch den Gesang der Engel vernehmen; die Stimmen der überweltlichen Heere erfüllten die Luft. Die jüdischen Führer aber hetzten einige aus dem Volk auf und schwätzten ihnen ein, sie sollten versuchen, das Bett mit dem Leib, der das Leben geboren hatte, zur Erde zu zerren und es umzustoßen. Doch wer es wagte, den traf rasch die Strafe; alle wurden mit Blindheit geschlagen. Einer, der sich wie ein Irrer gegen die heilige Bahre geworfen hatte, mußte seine ruchlosen Hände, vom Schwert des Gottesurteils abgeschlagen, dort hängen lassen; er bot einen jämmerlichen Anblick, bis er, nun aus ganzem Herzen gläubig geworden, Heilung erlangte und in alter Gesundheit fortgehen konnte. Gleiches geschah den Erblindeten, denen ebenfalls Heilung geschenkt wurde, nachdem ihnen, da sie zum Glauben gelangt waren, ein Stück des Tuches vom Sterbebett aufgelegt worden war. Die Apostel brachten den Leib, der das Leben geboren hatte, an den Ort Gethsemane und setzten ihn in der Gruft bei. Drei Tage verweilten sie dort und vernahmen unaufhörlich die Gesänge der Engel.« 32 30 31 32

schaFter (wie Anm. 4), S. 82. Liber de dormitione Mariae, in: tIschendorF (wie Anm. 2), S. 110f. Übersetzung nach Lothar h eIser , Maria in der Christus-Verkündung des orthodoxen Kirchenjahres, Triel 1981, S. 300f.

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Seit dem 13. Jahrhundert wurde der jüdische Aggressor als Mann dargestellt, dem es gelungen war, bis ins Sterbezimmer Marias vorzudringen, um den Frieden der Toten und die Trauer der Apostel zu stören. Das ›Malerbuch vom Berg Athos‹, ein Lehr- und Handbuch der religiösen Malerei, das der Traditionssicherung wegen im ausgehenden 18. Jahrhundert von einem Mönch des Athosklosters kompiliert worden war, hielt fest, was sich in Darstellungen von Marias Heimgang zu einer normativen Bildformel verfestigt hatte. Maler, die den Tod Marias darstellen, sollten das folgendermaßen tun: »in Haus und in demselben liegt die Heiligste [Maria] auf einem Bett tot; und hat die Hände vor sich gekreuzt, und zu beiden Seiten sind Leuchter mit angezündeten Kerzen. Und ein Hebräer vor dem Bett hat abgeschnittene Hände, welche an dem Bett hängen, und vor ihm ist ein Engel mit einem entblößten Schwerte.« 33 Es haben sich jedoch keine urkundlichen Belege erhalten, aus denen zu erfahren wäre, wie das Motiv aus dem byzantinischen Kulturkreis nach Freiburg gelangte. Seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts begegnet der schwerttragende Engel, der die Attacken der Juden auf die Bahre der Jungfrau Maria abwehrt, als Motiv in der abendländischen Kunst. Im Tympanon des Kreuzgangs der Kathedrale von Pamplona wurde die ursprünglich im Byzantinischen beheimatete Engelepisode zum ersten Mal in einer Kirche des Abendlandes dargestellt.34 Bemerkenswert bleibt die Tatsache, daß der mit einem Schwert bewehrte Racheengel des Freiburger Münsters nicht, wie das für byzantinische Darstellungen typisch ist, in Marias Sterbezimmer in Erscheinung tritt, sondern bei ihrem Begräbnis schützend und strafend eingreift. Der Freiburger Glasmaler hat den Vorgang nicht dramatisiert. Seine Darstellung ermangelt des rächenden Pathos‘, das für die byzantinische Koimesis Marias typisch war. Die abgeschlagenen Hände des Juden kleben nicht an der Bahre. Die gewaltsame Trennung der Hände von den Armen wird nur durch eine schmale Linie angedeutet. Ob der Freiburger Künstler und seine Auftraggeber das Motiv aus unmittelbarer Anschauung oder aus der Lektüre mariologischer Schriften kannten, ist schwer zu entscheiden. Möglicherweise schöpften sie ihre Kenntnis des Vorgangs aus 33

34

Zitiert nach Karl sImon, Die Grabtragung Mariä, in: Städel-Jahrbuch 5 (1926), S. 76. Zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des ›Malerbuchs vom Berg Athos‹ vgl. Hans beltIng, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, S. 28 - 30. F. tschochner , Artikel ›Grabtragung Mariae ‹, in: Marienlexikon (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 698; vgl. auch k reIdl-PaPadoPoulos, Artikel ›Koimesis‹, in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst (wie Anm. 2), Bd. 4, Sp. 158: »Als die älteste erhaltene bildliche Darstellung der Jephonias-Geschichte gilt deren Wiedergabe auf der Bronzetüre der Kathedrale von Susdal (ca. 1220–1240)« : »ein schwebender Engel steckt nach vollbrachter Tat sein Schwert in die Scheide, nachdem er Jephonias die Hände abgehauen hat, während vier Engel Maria zu Grabe tragen.«

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einer Fassung des ›Transitus Mariae‹, in welchem die Rache- und Strafaktion des Engels beschrieben wurde. Vorbehalte gegen die Historizität des Marienbegräbnisses mögen langfristig dazu geführt haben, daß in Darstellungen des Marientodes, die sich in Stundenbüchern und Einblattdrucken des späten 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts erhalten haben, Marias Begräbnis nur noch als Randglosse Beachtung findet. Der Stich des Israhel von Meckenem macht den Bedeutungsverlust des Motivs evident. Undeutliche Konturen erschwerten seine Lesbarkeit. Nur wer zuvor schon wußte, was Meckenem darstellen wollte, konnte entziffern, worum es ging. Im Laufe des 16. Jahrhunderts verschwand Marias Begräbnis gänzlich aus dem Bildrepertoire der abendländischen Christenheit.

2. Verbildlichte Marienlegenden mit antijudaistischen Tendenzen: Die Sache mit dem Judenknaben Stoff zur Anfertigung von antijüdischen Marienbildern boten außerdem Berichte über Wunder, die Maria gewirkt hatte, um Juden für ihr blasphemisches Verhalten zu bestrafen. Im vierten Lied seiner ›Cantigas de Santa Maria‹35 besingt der marienfromme Alfons der Weise, seit 1252 König von Kastilien, die Geschichte eines Judenknaben, der mit seinen christlichen Schulkameraden in die Kirche geht und sich von Maria die hl. Kommunion reichen läßt. Sein erzürnter Vater, von Beruf Glaser, wirft ihn in den Ofen, in dem er gewöhnlich Glas zu schmelzen pflegt. Maria aber bewahrt ihren jugendlichen Schützling vor den tödlichen Flammen. Eine Menschenmenge, durch die Schreie der verzweifelten Mutter auf den Vorfall aufmerksam geworden, strömt zusammen. Um den aus der Stadt herbeigeeilten Christen das Wunder zu erklären, erzählt der Knabe den Hergang seiner Errettung: Vor dem Flammentod bewahrt habe ihn die Frau mit dem Kind, die in jener Kirche, in der er das eucharistische Brot empfangen habe, auf dem Altar throne. Mit ihrem Mantel habe sie ihn zugedeckt. Der jüdische Knabe glaubte und ließ sich taufen. Viele Juden folgten seinem Beispiel. Beherzte Männer warfen den rabiaten Vater in den Ofen. Sein Haus wurde zerstört und an dessen Stelle eine Kirche zu Ehren Marias errichtet. 35

Alfonso X, el Sabio, Cantigas de Santa Maria, Cantigas 1 a 100, Edición de Walter m ettmann, Madrid 1986, Cantiga 4, S. 63 - 66; vgl. dazu Albert I. bagby, The Jew in the Cantigas of Alfonso X., el Sabio, in: Speculum 46 (1971), S. 670 - 688, hier: S. 677f.; Vikki h atton / Angus m ackay, Anti-Semitism in the Cantigas de Santa Maria, in: Bulletin of Hispanic Studies 60 (1983), S. 189 - 199, hier: S. 191.

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Wie König Alfons diesen Vorfall verstanden wissen will, ist an Abweichungen zu erkennen, durch die er sich von seiner Vorlage, der Mirakelsammlung des französischen Benediktiners Gautier de Coincy (1177/78-1236), unterscheidet. Der französische Ordensmann hatte diese Geschichte in eine Beispielgeschichte von grundsätzlicher Bedeutung verwandelt: Christliche Herrschaftsträger, so der Benediktiner, sollen nicht länger Juden als Berater und Geldgeber um sich dulden. Jeder adlige Herr, der in seinem Herrschaftsbereich das zulasse, mache sich vor Gott schuldig. Das Lied von König Alfons hingegen endet mit einem Lobpreis auf Maria, nicht mit einer Aufforderung zur Ab- und Ausgrenzung finanzstarker Juden aus der christlichen Gesellschaft. Waren doch an dem Hof des spanischen Königs sowohl christliche als auch jüdische und muslimische Gelehrte tätig. Andere Cantigas des königlichen Sängers aus Kastilien beschreiben Maria als Helferin bekehrungswilliger Juden. Die Frau eines begüterten Juden rettet sie, als die jüdische Mutter bei der Geburt ihres vierten Kindes in Todesnot geriet. Einem Juden, der von christlichen Richtern ungerecht verurteilt worden war, verhalf sie zu einem gerechten Urteil. Einen anderen Juden, der in die Hände christlicher Räuber gefallen war, befreite sie. Maria, so die Überzeugung des spanischen Königs, kommt Juden zu Hilfe, wenn sie bereit sind, sich für den wahren Glauben der Christen zu entscheiden. In den Gedichten und Bildern des weisen Alfonso mischen sich feindselige Abgrenzung und duldsame Akzeptanz. Sie spiegeln die ambivalente Stellung von Juden im Königreich Kastilien, einem Land, in dem gleichermaßen kirchlicher Dogmatismus und religiöse Toleranz das Zusammenleben zwischen Juden und Christen bestimmten. Die Geschichte des Judenknaben, der an der Kommunion seiner Mitschüler teilnimmt, von seinem Vater in den Ofen geworfen, von Maria aber begnadet und gerettet wird, ist keine Erfindung des spanischen Königs. Die Legende entstand, wenn man den Spuren ihrer Überlieferungsgeschichte folgt, im byzantinischen Osten. Evagrios Scholastikos (um 536-593/94), Rechtsanwalt in Konstantinopel – ein Autor, der bei der Abfassung seiner sechs Bücher umfassenden Kirchengeschichte »leichtgläubig und nicht frei von Wundersucht« zu Werke ging und deshalb nicht das Wohlgefallen der kritischen Kirchenhistorie von heute fand36 hat sie als erster aufgeschrieben.37 Gregor von Tours (538/39–593/94) übernahm sie in seinen ›Liber in gloria martyrum‹.38 In alle großen Legendensammlungen des hohen und späten Mittelalters, ob diese nun 36 37 38

Berthold a ltaner , Patrologie. Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter, Freiburg i. Br. 31951, S. 205. Évagre d΄Épiphanie, Histoire Ecclésiastique IV, 36, übers. v. A.-J. FestugIère , in: Byzantion 45 (1975), S. 399f. Gregor von Tours, Liber in gloria martyrum c. 9, in: MGH Script. rer. Mer. 1, S. 494.

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in Prosa oder in Versen, in Latein oder in einer der Volkssprachen abgefaßt wurden, fand sie Eingang. Über das Schicksal des Judenknaben »berichten zwischen dem 6. und 18. Jahrhundert über dreißig verschiedene Versionen in griechischer, lateinischer, deutscher, französischer, spanischer, arabischer und äthiopischer Sprache.« 39 Jacob van Maerlant (um 1235–1300) berichtet von der wunderbaren Errettung des jüdischen Knaben unter dem Titel ›Een miracle van onser Vrouwen‹. Folgt man den Angaben des niederländischen Dichters und Klerikers, nahm das Geschehen folgenden Verlauf: »Es geschah in diesen Zeiten, / die wir hier durchleben, / daß im Land des Orients / eines Juden Kind lebte, das wohlbekannt /mit Christenkindern war und ging / mit ihnen zur Kirche und empfing auch / mit seinen Gespielen, ohne sich etwas dabei zu denken, / den Leib Christi zu gleicher Zeit. / Als das sein Vater vernahm, / ward er seinem Kinde sehr gram. / Er heizte einen Ofen, / um sein Leid zu rächen. / Die Mutter hätte es gern verhindert. / Doch ehe sie herbeieilen konnte, / lag das Kind schon mitten in der Glut. / Und als die Mutter die Flamme fand / aus der Ofenmündung schlagen, / zerriß sie ihre Kappe sogleich / und lief mit aufgelöstem Haar / auf der Straße auf und nieder / und tat zur selben Stunde / den Christen ihren Jammer kund. / Die Christen kamen, wo sie konnten, / und löschten das Feuer / und fanden das Kind froh und gesund. / Dies setzte in Erstaunen manchen alsbald. / Gott lobten sie alle miteinander, / nahmen den bösen Vater / und warfen ihn in den Ofen, / wo er ganz zu Staub verbrannte. / Dies sahen sie unerschrocken an. / Das Kind fragten sie dann, / wie es sich denn gefühlt habe, / als es mit Glut bedeckt dalag. / Es sprach: Die Frau, die ich dort sah, / wo ich war und die anderen Kinder / und das weiße Brot empfing, / sie war΄s, die mich beschirmte, das sollt ihr wissen, / mit ihrem Mantel in der Glut. / Man verstand sofort, / daß ihm Maria beigestanden hatte, / als er in der Glut lag. / Das Kind wurde danach Christ / und stand fest im Glauben; / und seine Mutter empfing ebenfalls / den wahren Glauben und das Christentum. / Und aus diesem Anlaß / bekehrten sich viele Leute.« 40

39

40

Wernfried hoFmeIster , Das Jüdel im Kontext mittelhochdeutscher literarischer Kindesdarstellungen, in: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, hg. v. Alfred ebenbauer / Klaus z atloukaI, Wien 1991, S. 92; vgl. auch Hans-Friedrich rosenFeld, Artikel ›Das Jüdel‹, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. v. Kurt ruh, Berlin / New York 1983, Sp. 891 - 893; Wolfgang bunte , Jacob van Maerlant und die Juden, in: Begegnungen zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter. FS Heinz Schreckenberg, Göttingen 1993, S. 71f. und ebd., S. 71, Anm. 140. bunte (wie Anm. 39), S. 71f. Der originale niederländische Text ist abgedruckt bei Wolfgang bunte , Juden und Judentum in der mittelniederländischen Literatur (1100– 1600) ( Judentum und Umwelt 24), Bern 1989, S. 397f.

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Das ›Alte Passional‹, ein gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstandenes Verslegendar, erzählt die Geschichte vom »judelin« folgendermaßen41: Ein vermögender Jude, der »mit wuchere gutes vil gewan«, schickte seinen Sohn in die Schule der Christen, um ihn auf diese Weise zu »eren« zu bringen. Der um die Karriere seines Sohnes besorgte Vater sagte sich: »swenne er gewechset zeinem man

und mit den pfaffen reden kann von den buchen zu latin, daz wirt im groz ein vrume sin an der eren stule.«

Auf seinem Schulweg kam der jüdische Schüler immer an einer Kirche vorbei, vor deren Tür ein »schone bilde« Marias stand. Stets verneigte er sich vor dem Bild, wie es der Schulmeister geheißen hatte. Als er von einem seiner Mitschüler wissen wollte, was es mit der Verneigung des Kopfes vor diesem Bild für ein Bewenden habe, sagte dieser: Wer das Bild, das »gehouwen« ist »nach unserer lieben vrowen gotes muter Marien«, verehrt, den bewahrt sie »vor slegen und vor bosem spote«. Auch im Angesicht Gottes sei sie ihren Verehrern ein »gut helferin«. Wenn das »iudelin«, heißt es in der gereimten Erzählung weiter, vor dem Bild stand, pflegte es niederzuknien und ein Ave-Maria zu beten. Als der jüdische Knabe einmal feststellte, daß die Statue verstaubt und »von den spinnen« verunreinigt war, nahm er »sin aller beste cleit« und reinigte sie »von stoube und von spinneweben«. Als er der Ostermesse beiwohnte, hatte er eine Vision. Er sah »daz aller schonste kindelin«, von dem der Priester Fleischstücke abbrach, um sie den Menschen in den Mund zu legen. Auch ihn erfaßte Verlangen »nach der heiligen spise«. Er kommunizierte und ging »vrolich« nach Hause. Dort bekannte er, den »heiligen lichamen« empfangen zu haben, »den Maria getruc«. Damit nahm das Unheil seinen Anfang. Der Vater des Jungen fürchtete um seine Ehre, er geriet außer sich und fiel in Ohnmacht. Das Urteil über das Verhalten des Kindes überließ er seinen Verwandten. In seiner Not schrie der Vater: »tut mit mir, waz ir wolt: ich bin dem kinde also holt, daz ich ez nicht mac ertoten.«

Der Vater nimmt menschlichere Züge an. Seine Huld will er dem Kind nicht entziehen. Das Urteil überläßt er seinen Glaubens- und Standesgenossen. Als 41

Marienlegenden aus dem Alten Passional, hg. v. Hans-Georg r Ichert, Tübingen 1965, S. 187 - 205 (Der Judenknabe).

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diese den Knaben in den »bacoven« warfen, kam Maria und nahm ihn in ihre »gantze hute«. Marias Rettungsaktion erklärte der Knabe so: » die kunigin, di vrien,

gotes muter Marien! die himelvogetinne ist gewaldic hinne mir kumen wol zu sture, daz ich in disem vure mich vreuwen mac durch min gemach.«

Der aus den Flammen errettete Knabe wollte aber nicht eher den Ofen verlassen, als bis »cristen« vor dem Ofen erscheinen, zu denen er mehr Vertrauen hatte als zu seinem Vater und dessen Verwandten. Das »wunderlich zeichen« der Errettung bewirkte, daß auch in das Herz des Vaters »ein liecht von dem gelouben« einbrach. Er ließ den »bischof und die pfafheit« einladen, die in feierlicher Prozession dann auch kamen. Der Bischof drückte »mit vrolichen armen« den Knaben an die Brust und brachte ihn mit »gesange und mit schalle« zur Kirche, um ihn zu taufen. Die ausnehmend breite und dichte Überlieferung des Textes ist zugleich ein Beleg für die Erwartung, die breite Bevölkerungskreise hegten, wenn sie in ihren psychischen und physischen Nöten Maria um Hilfe baten. Wie der jüdische Knabe von seinen haßerfüllten, intoleranten Glaubens- und Stammesgenossen bestraft, von Maria aber geschützt und gerettet wurde, blieb nicht allein auf Leser und Hörer von schriftlich überlieferten Marienmirakeln beschränkt. Kirchenfenster – wie diejenigen in der Kathedrale von Le Mans aus dem 13. Jahrhundert – brachten sie einem breiteren analphabetischen Publikum zur Kenntnis.

3. Ein jüdischer Ikonoklast Cantiga 34 der Marienlieder von König Alfons beschreibt einen Juden aus Konstantinopel als Ikonoklasten.42 Er stiehlt ein Marienbild und wirft es in eine Latrine (Abb. 3). Die Muttergottes bestraft ihn mit dem Tode und läßt ihn durch einen Dämon fortschleppen. Ein Christ findet das Bild, reinigt es und gibt ihm einen würdigen Platz. Seine Wunderkraft beweist es dadurch, daß es zu einer

42

Alfonso X, el Sabio (wie Anm. 35), Cantiga 34, S. 143f.

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Rituale, Zeichen, Bilder

Abb. 3: Illustration zur Geschichte eines jüdischen Ikonoklasten, der in einer Straße von Konstantinopel ein wunderschönes Marienbild stiehlt. Der jüdische Bilderdieb wirft das Marienbild in eine Latrine. Aus: Alfonso X el Sabio, Cantigas de S. Maria. Biblioteca S. Lorenzo el Real de El Escorial, Cod. T.I.1., Cantiga 34, fol. 15r.

Quelle von Öl wird, das Pilger in Ampullen auffangen und sich damit gegen Krankheit geschützt wissen. Der aus Irland stammende Adamnus von Hy (um 604–724), seit 679 Abt in Jona, hat den von einem Juden aus Konstantinopel begangenen Bildfrevel im Abendland zur Kenntnis und in Umlauf gebracht. In seiner Schrift De locis sanctis, einem Itinerar durch das Heilige Land, das er nach dem Bericht des fränkischen Bischofs Arculf im Kloster Jona zusammengestellt hatte43, berichtet er davon. Die Geschichte verbindet Polemik gegen den Ikonoklasmus von Juden mit dem Lobpreis Marias. »Dieses wundersame Öl«, beteuerte Adamnus und ihm folgend König Alfons, »beweist die Würde Marias, der Mutter des Herrn, von dem der Vater sagt: Ich habe ihn gesalbt mit meinem heiligen Öl« (Ps. 89,21).44 Die Legende vom Juden, der, um Maria, die reine Jungfrau, zu beschmutzen, ihr Bild in eine Latrine wirft, fand weite Verbreitung. Sie zählt zum literarischen Bestand jeder mittelalterlichen Legendensammlung, die von Wundertaten Marias Kunde gibt.45 Matthaeus Paris (nach 1200–1259), der englische Benediktiner, Historiograph und Hagiograph, verlegte den Vorgang von Konstantinopel 43 44 45

Adamnanus von Hy, De locis sanctis 3, 5, in: CSEL 39, S. 294f. Bernhard blumenkranz, Juden und Jüdisches in christlichen Wundererzählungen, in: Theologische Zeitschrift 10 (1954), S. 432. Norbert schnItzler , Ikonoklasmus – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1996, S. 220

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nach England46, um ihn in einer Lebenswelt zu lokalisieren, mit der seine Leser vertraut waren. Räumliche Nähe erhöhte die historische Glaubwürdigkeit des Erzählten. In der spätmittelalterlichen Predigt diente der ikonoklastische Rigorismus des Juden als Exempel dafür, daß es sich lohnt, Bildern von Maria die schuldige Ehre zu erweisen. Konrad Schlatter († 1458), Prior der Basler Dominikaner, hat in einer Predigt seinen Zuhörern den Bildfrevel des Juden folgendendermaßen erzählt und erläutert: »zu einer zit zoch ein Jude in ein hus. Do worent vor cristen inne gesin Und do waz ein bilde unser lieben frowen in dem huse vergessen Do dz der Jude ersach / do nam er wuste vnd unreinikeit und verwustet das bilde unser lieben frowen frefellich. Wan die juden sint unser lieben frowen uber alle mosse vient Und do er daz getet do kam der böse geist und brach ime den hals abe. Und furte in ewige verdampnisse / Also rach got die unere siner muter Und dar noch do zoch ein cristen dar in / Und der sach die unreinekeit an dem bilde. der wusch es ab. Und vand do das schone minnencliche bilde. Und erete daz andehtecliche. Und do er das ein zit gedet / do entsprang ein flusz olews. als ein odere von dem bilde Und das bilde sprach zu dem menschen Du min lieber friunt und diener / als du sihst daz oley von mir fliessen also soltu wissen daz ich dir eweclich will erbarmherczig sind.«47

Eben auf diese Legende schien eine Frau aus Lübeck anzuspielen, die sich zu Anfang der zwanziger Jahre des 15. Jahrhunderts der reformatorischen Bewegung Martin Luthers anschloß und deren katholische Widersacher mit der Drohung provozierte, sie wolle ein Marienbild in einen Abort werfen.48

4. Wirkungen und Reaktionen Welche Wirkungen gingen von Bildern aus, die Juden als Feinde Marias darstellten? Stundenbücher, Tafelbilder und Skulpturen mit judenfeindlichen Themen

46 47

48

Anm. 186; vgl. auch Michael camIlle , The Gothic Idol. Ideology and Image-Making in Medieval Art, Cambridge 1989, S. 186f. Matthaeus Parisiensis, Chronica Majora, ed. Henry Richardus luard, London 1880, Bd. 5, S. 114f. Staatsbibliothek Berlin, Preußischer Kulturbesitz Ms. germ. qu. 208, f. 144r. Die Kennt nis dieses Textes verdanke ich Herrn Hans-Jochen Schiewer, Berlin. Zur Beschreibung der Handschrift vgl. Hans-Jochen schIewer , Artikel ›Konrad Schlatter OP‹, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon, hg. v. Kurt ruh, Berlin / New York 21992, Sp. 707f. schnItzler (wie Anm. 45), S. 193, 220, Anm. 186.

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und Motiven enthielten keine unmittelbaren Handlungsanweisungen; sie stimulieren keine gewalttätigen Aktionen gegen Juden und jüdische Gemeinden. Visualisierte Geschichten und die in diese eingelassenen Mentalitäten machen Deutungs- und Verhaltensangebote; sie determinieren, nötigen und zwingen nicht. Bilder speichern abrufbare Verhaltenspotentiale, die – für sich allein betrachtet – interessegeleitetes und aggressives Handeln nicht zu erklären vermögen. Handlungspräferenzen sind nicht aus Bildern ableitbar, sondern folgen Interessenlagen und Impulsen, die für das gesellschaftliche Milieu und die soziale Umwelt der jeweiligen Akteure charakteristisch sind. Als handlungsrelevante Mobilisierungseffekte, die Vertreibungen und Verfolgungen auslösten, wirkten Anklagen, die Juden unterstellten, daß sie durch ihren Wucher die Christen ausbeuten, Brunnen vergiften, Hostien schänden und Ritualmorde begehen. Bilder, die jüdische Bildfrevel oder das jüdische Störmanöver beim Begräbnis Marias darstellten, wollten zeigen und sagen, daß die Juden schon immer Feinde Marias waren und es bis heute geblieben sind. Der Marienfeindschaft glaubten christliche Theologen die Juden deshalb bezichtigen zu dürfen, weil deren Gottesbegriff es ausschloß, die Menschwerdung Gottes im Leib einer Jungfrau und die jungfräuliche Geburt des menschgewordenen Gottessohnes für wahr zu halten. Es gab zudem auf jüdischer Seite antichristliche Legendenbildung, die Jesus zu einem unehelichen, in der Menstruation gezeugten Bastard machte und Maria, seine Mutter, als Hure brandmarkte.49 In der Mitte des 12. Jahrhunderts klagte der Regensburger Rabbiner Ephraim ben Isaak: Jerusalem sei seinen rechtmäßigen Besitzern entrissen worden »wegen des Leichnams des Sohnes einer Frau, die die Beine für jeden gespreizt hielt, der vorbeikam.« Jesus, ihr Sohn, habe sich der Magie und Zauberei hingegeben.50 Verächtliche Polemik, mit deren Hilfe sich Juden gegenüber ihrer christlichen Umwelt abgrenzten, ist nicht ungewöhnlich. Es gibt sie auch anderwärts.51 Maria als Hure und Jesus als Zauberer zu bezeichnen, gehörte zu den abschätzigen Stereotypen, die die Toldoth Jeschu, ein jüdisches Antievangelium, in Umlauf gebracht hatte. Mit hämischen Repliken auf den Antijudaismus der Christen zu reagieren, war »keine edle, aber eine verständliche Reaktion eines

49 50 51

Vgl. dazu schreIner (wie Anm. 20), S. 417 - 423. Hans-Georg mutIus, Die Anfange der religiösen Poesie im mittelalterlichen bayerischen Judentum, in: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze, hg. v. Manfred treml u. a., München 1988, S. 119. David nIrenberg, Communities of Violence. Persecution of Minorities in the Middle Ages, Princeton /New Jersey 1996, S. 220, Anm. 71, zitiert spanische Archivalien »for a Jew of Biel charged during Holy Week with having (earlier) blasphemed by asserting that the Virgin Mary was an adulteress and Jesus a bastard magician«.

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machtlosen Volkes.«52 Die Toldoth Jeschu war in Regensburg nicht unbekannt. Regensburger Juden besaßen die jüdische Sagensammlung53, »welche die Vorgänge des Lebens Jesu in primitiver Negativität nacherzählt.«54 Der Regensburger Rabbiner Ephraim ben Isaak wird sie gekannt haben. Einwände gegen die christliche Mariologie wurden von jüdischer Seite außerdem erhoben im Namen des alttestamentlichen Gottesbegriffs und der natürlichen Vernunft. Sowohl die Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte Israels als auch die Gesetzmäßigkeit der Natur schlossen es nach jüdischer Auffassung aus, daß Maria jungfräulich empfangen und der allmächtige Gott in ihrem Leib die Gestalt eines Menschen angenommen hat. Gott, so machten jüdische Theologen geltend, habe als der Unveränderliche und ewig Gleiche sich nicht verändern und die Natur eines Menschen annehmen können.55 Mitunter waren es auch Metaphern der christlichen Symboltheologie, die, weil sie von jüdischen Rezipienten für bare Münze genommen wurden, antichristliche Polemik provozierten. »Freue Dich Jungfrau Muter Christi«, heißt es in einem hochmittelalterlichen Marienhymnus, »die Du durch das Ohr empfangen hast, als Dir Gabriel die Botschaft Gotes überbrachte.« Jüdische Theologen, die das wörtlich nahmen, reagierten so: Jeder vernünftige Mensch wisse doch, daß alle Lebewesen, ob Menschen oder Tiere, den Mutterleib an der Stelle verlassen, an dem der Same bei ihrer Zeugung in den Leib eingetreten war. Aufgrund dieser Gesetzmäßigkeit hätte Jesus durch das Ohr geboren werden müssen, was aber wider alle Vernunft und gegen alle Gesetze der Natur sei. In der Sichtweise christlicher Theologen bildete die Empfängnis durch das Ohr eine Metapher für den christlichen Glauben, der vom Hören kommt. Maria habe ihr Ohr dem Willen Gottes geöffnet, Eva hingegen den Einflüsterungen des Teufels. Maria habe den vom Heiligen Geist gezeugten göttlichen Logos deshalb empfangen, weil sie der Botschaft des Engels vertraute und dem Willen Gottes ihr Ohr öffnete.56 52 53 54

55 56

Schalom ben-chorIn, Mutter Mirjam. Maria in jüdischer Sicht, München 71991, S. 35. Peter herde , Artikel ›Regensburg ‹, in: Germania Judaica, Bd. 3, 2 (wie Anm. 22), S. 1188. ben-chorIn (wie Anm. 52), S. 34. Zum Christus- und Marienbild der Toldoth Jeschu, der Überlieferung ihres Textes und dessen Rezeption durch christliche Autoren des Mittelalters und der frühen Neuzeit vgl. Jean-Pierre ossIer , L’evangelie du ghetto, Paris 1984. schreIner (wie Anm. 20), S. 423 - 432; vgl. dazu auch Anna Sapir a bulaFIa, Invectives against Christianity in the Hebrew Chronicles of the First Crusade, in: Crusade and Settlement, hg. v. Peter W. edbury, University College Cardiff Press 1985, S. 66 - 72. Ebd., S. 431f. Zur christlichen Vorstellung einer Empfängnis durch das Ohr vgl. Walter bauer , Das Leben Jesu im Zeitalter der neutestamentlichen Apokryphen, Darmstadt 1967, S. 53; Josef m artIn, Exkurs: Die Empfängnis durch das Ohr, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 1 (1946), S. 390 - 399; Leo steInberg, ›How

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Rituale, Zeichen, Bilder

Abb. 4: »Wie die falschen juden die bildung Marie verspottet und verspuwet haben«. Abb. 4 und 5: Holzschnitte aus dem 1515 in Straßburg gedruckten antijüdischen Traktat über ›Entehrung und Schmach der Bildung Marias von den Juden bewiesen‹ (›Enderung vnd schmach der bildung Marie von den Juden bewissen vund zu ewiger gedechtnüsz durch Maximilianum den römischen keyser zu malen verschaffet in der löblichen stat kolmer von danen sy ouch ewig vertryben syndt‹).

In diesen Kontroversen und Konflikten waren Marienbilder mit antijüdischen Motiven und Tendenzen nur ein Element und ein Faktor neben anderen. Sie vermittelten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die dazu beitrugen, gegen Juden gerichtetes Handeln zu rechtfertigen und annehmbar zu machen; sie enthielten antijüdisches Erinnerungspotential, das im Zusammenhang mit konkreten Interessenskonflikten aktualisiert werden konnte.

5. Von Juden begangener Bildfrevel als politisches Argument Wie Bilder gelesen werden und auf den Gang von Entscheidungsprozessen Einfluß nehmen, bestimmt sich aus dem jeweiligen politisch-sozialen Kontext. Nicht zuletzt dies ist zu lernen aus der Rezeption und der bildlichen Darstellung eines legendären Bildfrevels, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts durch einen Bilderzyklus in der Colmarer Dominikanerkirche (bei den predigern) und mit Shall This Be?‹ Reflections on Fillippo Lippi΄s Annunciation in London, Teil II, in: Artibus et Historiae 16 (1987), S. 26 - 32.

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Abb. 5: »Wie die falschen juden das bild Marie durchstachen und blut vßher ran.«

Hilfe einer in Straßburg gedruckten Propagandaschrift publik gemacht wurde. Gegenstand des Textes und der Bilder war die Entehrung eines Marienbildes in dem belgischen Kloster Camberon.57 Das Ereignis, von dem die antijüdische Bildgeschichte berichtet, lag über einhundertfünfzig Jahre zurück. Den Anlaß zu deren Rezeption gab die Vertreibung der Juden aus Colmar im Jahre 1510. Kaiser Maximilian hatte den Exodus angeordnet. Er war nicht als späte Rache für einen Bildfrevel gedacht, sondern bildete die Strafe für einen Ritualmord, den begangen zu haben den in Colmar ansässigen Juden zum Vorwurf gemacht wurde. Das verletzte Kultbild Marias kam nur beiläufig und mittelbar ins Spiel. 1477 hatte Maximilian die Abtei Camberon besucht und dabei erfahren, daß im Jahre 1322 ein getaufter, aber dann rückfällig geworde57

Vgl. dazu Théophile l ejeune, La Vierge miraculeuse de Camberon, in: Annales du cercle archaeologique de Mons 8 (1866-68), S. 67 - 95; Eric M. zaFran, An alleged case of Image Desecration by the Jews and its Representation in Art: The Virgin of Cambron, in: Journal of Jewish Art 2 (1975), S. 62 - 71; Winfried Frey, »keyn volck vff erden nymer dreyt / Also grossen haß im muot, / alß der iud zum christen duot«. Zu einem antijüdischen Text aus dem frühen 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 7 (1992/93), S. 166 - 179; schnItzler (wie Anm. 45), S. 123 - 125.

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Rituale, Zeichen, Bilder

ner Jude ein Marienbild mit fünf Messerstichen verletzt hatte.58 Um Juden als böswillige Ikonoklasten in Verruf zu bringen, ließ Maximilian nach der Vertreibung der Colmarer Juden in der Dominikanerkirche von Colmar darstellen, was sich ehedem in Camberon abgespielt hatte. Diesen Bildzyklus nahm ein Straßburger Anonymus – aller Wahrscheinlichkeit nach der Franziskaner Thomas Murner – zum Anlaß, zwischen 1510 und 1512 eine Schrift mit dem Titel ›Enderung vn schmach der bildung Marie‹ herauszubringen.59 Zwei Jahre später veröffentlichte Pamphilius von Gengenbach eine Flugschrift, die den Titel trug: ›Daz ist ein erschrockenliche history von fünff schnöden juden / wie sie das bild Marie verspottet vnd durchstochen haben.‹ Neue Quellen kann Pamphilius von Gengenbach nicht ausschöpfen. Er hat nur umgeschrieben und umgedichtet, was die kurz zuvor erschienene ›Entehrung Mariä‹ zur Kenntnis gebracht hatte. Im 16. und 17. Jahrhundert gedruckte Kompilationen von Marienmirakeln sorgten dafür, daß die Geschichte von den fünf schnöden Juden, die ein Marienbild verspottet und verletzt hatten, unter die Leute kam und gelesen wurde. Die Schmähschrift schildert den Hergang der Dinge so: Fünf Juden gingen des Weges und besuchten eine Kirche, auf deren Altar ein Marienbild stand. Einer der Juden höhnte: »Das ist das öd verfluchte, wyb,

vß wölcher bösse wichten lyb Erboren ist der falsche man, von dem wir allen vnfal han, vnd fing das bild zu spuwen a.« 60

Ein anderer entblößte sein Hinterteil. Wieder ein anderer, berichtet der Anonymus, riß seinen Mund auf und machte einen Maulaffen. Die übrigen beiden Juden stießen Flüche aus, spotteten und ergingen sich in »schentlichem enteren« (Abb.4 und 5).

58

59

60

Das geht aus einem Ablaßbrief hervor, den Papst Johannes XXII. im März 1329 Besuchern der Kapelle im Kloster Camberon (in monasterio de camberone), in welcher sich das von einem Juden verletzte Bild Marias befand, erteilt hatte. Vgl. Shlomo sImonsohn, The Apostolic See and the Jews, Documents: 492 - 1404 (Studies and Texts 94), Toronto 1988, S. 357 - 359. Den Text ediert hat Adam k lassert, Entehrung Mariä durch die Juden. Eine antisemitische Dichtung Thomas Murners. Mit den Holzschnitten des Straßburger Hupfuffschen Druckes, in: Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Literatur Elsaß-Lothringens 21 (1905), S. 78 - 155, hier: S. 110 - 155. Ebd., S. 112, V. 87 - 91.

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Sich so zu verhalten, habe unter Juden Tradition, suggerierte die Anklage. Als der Jude Johannes Pfefferkorn, ehe er sich 1504 zum Christentum bekehrte, den Christus tragenden Christopherus verhöhnte, habe auch er gesagt: »Du langer schalck, sprach er geschwind,

du dreyst vff dir ein huren kind; Syn mutter ist ein hur gesyn vnd sytzt ietz in dem hurhauß dyn.« 61

Um die Juden als notorische Verächter christlicher Heiligenbilder zu entlarven, erinnert der Autor an die Schändung eines Christusbildes unter dem oströmischen Kaiser Phokas († 610). Gregor von Tours hat zuerst darüber berichtet. Der spätmittelalterliche Poet hat den Bildfrevel in gereimte Verse gebracht: »Des glych als Phoca keyser was,

ist auch furwor geschehen das. Ein iud mit einem spieß durch randt ein crucifix by einer wandt. Das wunderbarlich blut druß ran vnd spritzt denselben iuden an. Da durch man vff die spüre kam vnd den iuden gefangen nam.« 62

Schließlich habe einer der fünf Juden den Entschluß gefaßt, das Bild der »huor« mit seinem Spieß zu durchstechen. Die verdiente Strafe blieb nicht aus. Der Jude, der das Bild durchstochen hatte, wurde angeklagt, gefoltert und hingerichtet – zum warnenden Beispiel dafür, daß sich Maria, die reine Magd, an denen, die ihr Neid, Ungunst und Unehre entgegenbringen, zu rächen weiß. In der Vorstellungswelt des Chronisten und Poeten, der den Bildfrevel von Camberon zu Anfang des 16. Jahrhunderts in gereimten Versen publik machte, verwandelte sich der ursprünglich von einem einzelnen Juden begangene Bildfrevel in »ein kollektives Spottritual«.63 Eine Gruppe von Juden brachte durch Spottgesten – durch Ausspucken, durch Hinternblekken, einen Maulaffen, den Crucifige-Gestus – ihre Verachtung zum Ausdruck. Der Jude, der mit einer Lanze in Marias Augen gestochen hatte, wurde, nachdem er von dem Schmied in einem Zweikampf besiegt worden war, zwischen zwei Hunden mit dem Kopf

61 62 63

Ebd., V. 112 - 115. Ebd., V. 116 - 123. schnItzler (wie Anm. 45), S. 124.

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Rituale, Zeichen, Bilder

Abb. 6: Maria lehrt das Jesuskind, ihren Sohn, das Lesen; Bernardino di Betto Biagio, genannt Pinturicchio (um 1454–1513).

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nach unten aufgehängt. Das entsprach den damals üblichen Hinrichtungsbräuchen.64 Juden, die des Diebstahls überführt worden waren oder ein Kapitalverbrechen begangen hatten, mußten sich auf diese Art und Weise hinrichten lassen. Das Feuer erinnert an die Bestrafung von Ketzern. Hunde sollten den aufgehängten Juden nicht nur zu Tode quälen, sie hatten auch Symbolwert. »Hund« war seit der christlichen Spätantike ein Schimpfwort, mit dem christliche Autoren Juden verächtlich machten.65 Im Alten Testament galt der Hund, weil er, wie es in den Sprüchen 26,11 heißt, »sein Gespeites wiederfrißt«, als unreines und deshalb verachtetes Tier. In der mittelalterlichen Bibelexegese wurden Hunde, die zu ihrem Gebrochenen zurückkehren, als falsche Lehrer, als Häretiker und rückfällige Konvertiten gedeutet.66 Das Herrenwort »Gebt das Heilige nicht den Hunden« (Matth. 7,6) galt als Warnung, bekehrungswilligen Juden nicht vorschnell die Taufe zu spenden.67 Noch Shakespeare benutzte »dog jew« in seinem ›Kaufmann von Venedig‹ als Schimpf- und Spottnamen.

6. Maria lehrt das Jesuskind das Lesen Stellt die Wirkung von Bildern auf die emotionale Befindlichkeit von Individuen und Gruppen, auf deren Denk- und Verhaltensweisen einen »ernstzunehmen-

64

65

66 67

Guido k Isch, The Jewish Execution in Medieval Germany, in: Historia Judaica 5 (1943), S. 104 - 132. Eine erweiterte Fassung dieses Aufsatzes erschien in: L’Europa e il Diritto Romano. Studi in memoria di Paolo Koschaker, Bd. 2, Mailand 1954, S. 65 - 93. Heinz schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.–11. Jh.), Frankfurt a. M. 21990, S. 701 (Register Stichwort »Hunde Gebell«); ders., Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte (11.–13. Jh.), Frankfurt a. M. 1988, S. 415: Der Tiervergleich liegt »im Trend des 12. Jahrhunderts«. Diesem entspricht es, »die Juden nicht nur mit einem bestimmten Tier (z. B. dem Hund) zu vergleichen, sondern den Tieren schlechthin zuzuordnen«. Zahlreiche Belege für den Vergleich der Juden mit Hunden im hohen und späten Mittelalter vgl. David A. wells, Attitutes to the Jews in Early Middle High German Religious Literature and Sermon, in: London German Studies 4 (1992), S. 40 - 43. Zum Hund als Metapher für Heiden vgl. Harald dIckerhoF, Canum nomine gentiles designantur. Zum Heidenbild in mittelalterlichen Bibel-Lexika, in: Secundum regulam vivere. FS P. Norbert Backmund, O. Praem., hg. v. Gert m elvIlle , Windberg 1978, S. 41 - 71. wells (wie Anm. 65), S. 41. schreckenberg, Adversus-Judaeos-Texte (1.–11. Jh.), S. 527; wells (wie Anm. 65), S. 41.

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den historischen Faktor« dar68, ist dessen Wirkungsgrad nur dann einigermaßen angemessen zu ermitteln, wenn man Bilder von ähnlicher und vergleichbarer Thematik zugleich in den Blick nimmt. Kommt es darauf an, Bilder als Elemente eines »Systems der visuellen Kommunikation« zu begreifen69, erscheint es methodisch erforderlich und gerechtfertigt, sich überdies auf Marienbilder einzulassen, die jüdische Lebensformen zur Sprache bringen, ohne diese abzuwerten und zu diskreditieren. Um das Gemeinte zu verdeutlichen, sei an einen Bildtypus erinnert, in den kulturelle Errungenschaften des spätmittelalterlichen Judentums Eingang gefunden haben: den Jesusknaben, dem Maria das Lesen beibringt (Abb. 6). Der kindliche Jesus wird als jüdisches Kind dargestellt, das mit Hilfe eines Thorastabes in einer Schrift des Alten Testamentes – wohl im Buch der Psalmen oder in den Fünf Büchern Moses – liest. Der Thorastab sollte verhindern, daß der heilige Text mit den Fingern beschmutzt und durch die Berührung mit unreinem Menschenfleisch entweiht wird. Als lesenlehrende jüdische Frau dargestellt wurde Maria von dem italienischen, vornehmlich in Latium tätigen Maler Pinturicchio (Bernardino di Betto Biagio, 1454–1513), einem Künstler, der auch an der Ausmalung der Sixtinischen Kapelle beteiligt war.70 Beim gegenwärtigen Stand des Wissens bringt dieser Bildtyp den zeitlich frühesten Beleg für die Verwendung eines Thorastabes. Die ältesten Lesestäbe, die sich erhalten haben, stammen m. W. aus dem späten 16. Jahrhundert. Noch wichtiger erscheint mir aber das diesem Bildtypus zugrundeliegende Bemühen um Historisierung, das Maria als jüdische Frau und Mutter ins Blickfeld des Betrachters rückt. Es gehörte zum Bildungs- und Familienethos des spätmittelalterlichen Judentums, daß die Mutter ihren Kindern das Lesen beibringt.71 Hält man sich an die Familientraktate und Erziehungsschriften christlicher Autoren, obliegt die Bildung der Kinder ausschließlich dem Vater.72 Die unterschiedliche 68 69 70

71

72

Paul zanker , Augustus und die Macht der Bilder, München 21990, S. 13. Ebd. Ein weiteres von Pinturicchio gemaltes Bild, das in gleicher Weise zeigt, wie Maria dem mit Hilfe eines Thorazeigers lesen lernenden Jesusknaben ein Buch mit den Schriften des Alten Bundes entgegenhält, zählt heute zu den Beständen der Thyssen-Sammlung in Madrid. In Auftrag gegeben wurde es von dem im Bild knienden Bischof Francisco Borgia, einem Neffen Papst Alexanders VI. Vgl. schreIner (wie Anm. 20), S. 412. Moritz güdemann, Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der Juden in Deutschland während des XIV. und XV. Jahrhunderts, nebst bisher ungedruckten Beilagen, Wien 1888, S. 237; vgl. dazu einschränkend Ivan G. m arcus, Rituals of Childhood. Jewish Acculturation in Medieval Europe, New Haven / London 1996, S. 13f. Für den Unterricht in der Torah außerhalb der Familie war ein »male teacher« zuständig (ebd., S. 5). Leon Battista Alberti, Über das Hauswesen (Della Famiglia), übers. von Walter k raus, Zürich / Stuttgart 1962, S. 50. Auf die Frage, wer die Pflicht hat, Kinder zur Gesit-

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Rollenverteilung bei Juden und Christen hat langfristig dazu geführt, daß in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Darstellungen der Heiligen Familie die lesenlehrende Maria abgelöst und ersetzt wurde durch den lesenlehrenden Joseph. Das Bild mit der lehrenden Maria und dem lernenden Jesusknaben veranschaulicht eine Situation aus Marias jüdischer Lebens- und Herkunftswelt. Es klagt nicht an, macht nicht verächtlich und setzt nicht ins Unrecht. Es vergegenwärtigt eine von Gott erwählte jüdische Frau, die sich so verhält, wie es jüdische Frauen an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert immer noch taten. Die Darstellung strahlt gelassene Duldsamkeit aus. Es steht für Möglichkeiten, die, wären sie von christlicher Seite genutzt und ausgeschöpft worden, Maria zu einem Symbol der Versöhnung und Verständigung hätten machen können. Gemeinhin grenzte Maria ab und aus. An verheißungsvollen Ansätzen zu einer Mariologie, aus der sich eine Theologie und Politik der Toleranz hätten entwickeln können, hat es jedoch nicht gefehlt. Das folgende Beispiel zeigt das. Zu Anfang der siebziger Jahre des 12. Jahrhunderts hatte es das Domkapitel von Tournai abgelehnt, einen bekehrten Juden, der sich zum Priester hatte weihen lassen, mit einer Pfründe auszustatten.73 Die Kanoniker von Tournai hielten es für unangemessen und unwürdig, tam ignobilem et de gente Judaica ortum in canonicum recipere, zu deutsch: einen Mann unedler und jüdischer Abkunft als Kanoniker aufzunehmen. Der Papst argumentierte so: Im Evangelium – der Papst dachte an Johannes 4,22 – steht, daß das Heil aus den Juden komme (salus ex Iudeis est). Sich über die Bekehrung des Juden, der in den Schafstall des Herrn zurückgekehrt sei, von Herzen zu freuen, bestehe Ursache. Der Vorwurf mangelnden Adels (ignobilitas) löse sich von selbst auf, wenn man bedenkt, daß die Judaica gens von den alleredelsten Patriarchen (ab nobilissimis patriarchis) – von Abraham, Isaak und Jakob – abstamme. Von diesem Volk der Juden sei im Alten Testament gesagt, es sei ein erwähltes Volk (gens electa), ein »königliches Geschlecht von Priestern« (regale sacerdotium), »ein heiliges Geschlecht« (gens sancta), ein »Volk der Verheißung« ( populus adquisitionis), aus dem die Vollstrecker des göttlichen Heilsplanes hervorgegangen seien: die Propheten und dann vor allem die heilige Jungfrau Maria, aus welcher Jesus Christus, unser Erlöser, geboren wurde. Erwägungen methodischer Art lassen es geboten erscheinen, auch Gegenbilder und Gegenstimmen, die zu allgemeinen Strömungen und Tendenzen quer liegen, zu Gesicht und zu Gehör zu bringen. Vielfalt und Komplexität, Aus-

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tung zu erziehen, antwortet Alberti: »Der Vater. Wer hat die Aufgabe, sie Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben zu lassen? Der Vater. Wer muß die übergroße Last auf sich nehmen, sie eine oder andere Gelehrsamkeit, eine Kunst, eine Wissenschaft lernen zu lassen? Du weißt, doch auch der Vater.« sImonsohn (wie Anm. 58), S. 75f.

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Rituale, Zeichen, Bilder

tausch und Duldsamkeit bleiben auf der Strecke, wenn das Verhältnis zwischen Juden und Christen in Gesellschaften des Mittelalters auf einfache, grobkörnige und stromlinienformige Handlungsmuster reduziert wird. Am Bild von der lesenlehrenden Maria ist nicht zuletzt dies zu lernen: Historismus, dem es auf historische Sachtreue ankam, veranlaßte Maler und ihre geistlichen Auftraggeber, an einen Brauch der jüdischen Kultur und des jüdischen Gottesdienstes zu erinnern, der eindrücklich zeigt, daß es die jüdische Lebenswelt war, die Erziehung und Bildung des christlichen Erlösers maßgeblich geprägt hatte.

7.

Abschließende Erwägungen

Was bedeuten solche Befunde für die Problematik, wie in historischen Ausstellungen und Museen Geschichte mit Hilfe von Bildern zu vermitteln und zu deuten sei? Und noch eine weitere Frage stellt sich: Welche Schlußfolgerungen ergeben sich aus der Thematik des Antijudaismus in spätmittelalterlichen Marienbildern, wenn man ferner die argumentative Kraft von Erinnerung und Geschichte berücksichtigt? Was die Antwort auf die erste Frage anbetrifft: Die Rolle Marias in jüdischchristlichen Debatten des Mittelalters war bislang noch kein Thema einer Ausstellung, die sich mit dem Verhältnis zwischen Juden und Christen in der Zeit des Mittelalters befaßte. Maria als Ursache und Gegenstand jüdisch-christlicher Kontroversen und Konflikte kam weder in den in Köln gezeigten Monumenta Ju­ daica (1963/64) noch in der Nürnberger Ausstellung Geschichte und Kultur der Juden in Bayern (1988/89) vor. Um die vielschichtige Thematik ästhetisch ansprechend und historisch informativ zu gestalten, bedürfte es Ausstellungstechniken, die Text-Bild-Beziehungen visualisieren, Gebrauchssituationen und Verwendungszusammenhänge der ausgestellten Exponate kenntlich machen. Historisch orientierte Auswahlkriterien sollten überdies verbürgen, daß diachron und synchron angelegte Bildsequenzen präsentiert werden, die im Wandel von Formen und Motiven den Wandel von Funktionen in den Blick bringen. Was die zweite Frage anbetrifft: Besaß das, was die hier vorgestellten und erläuterten Bilder mitzuteilen hatten, die Kraft eines Arguments? Ich nenne vier Gesichtspunkte, die andeuten und skizzieren, wie eine Beantwortung dieser Frage aussehen könnte und sollte: 1. Bilder, denen mittelalterliche Fromme zutrauten, daß sie Kranke heilen, gegen Pest Schutz bieten, Unwetter verhindern und in Zeiten der Dürre Regen bringen, lieferten unwiderlegbare Beweise für die Wahrheit dessen, was sie abbildeten und worauf sie hinwiesen.

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2. Bilder über das Sterben und das Begräbnis Marias gaben dogmatischen Grundsatzfragen – wie Marias Jungfräulichkeit und ihrer Himmelfahrt – eine erzählerische, sinnlich wahrnehmbare Einkleidung; sie erfüllten Dienste im Interesse einer narrativen, visuell vermittelten Theologie. Das gilt auch für jene bildlich dargestellten Wundergeschichten, die die Legitimität christlicher Bilder- und Heiligenverehrung erhärten sollten. Wollten diese doch zeigen, wie jüdische Ikonoklasten von der Gottesmutter bestraft wurden. 3. Bilder bestätigten, was Prediger verkündeten und Theologen zu Pergament und Papier brachten: »Juden sind Maria feindselig gesinnt.«74 Maria, die »Mutter des Erlösers«, ihre »Schwester nach dem Fleisch« (sua soror secundum carnem), die ihnen aufgrund verwandtschaftlicher Bande (carnali affectu) in ganz besonderer Weise hätte zugeneigt und zugetan sein müssen, hilft ihnen nicht wegen ihrer Untreue, ihrer Verstocktheit und ihres Stolzes.75 Weil die »treulosen Juden« ( perfidi Judaei), beteuerte der Prämonstratenserabt Philipp von Harvengt (um 1100–1183), Maria, »gleichsam ihre Schwester (quasi sororem suam), verwarfen und es ablehnten, sie zu verehren, werden sie in dieser Welt und am Tage des Gerichts ihrer Hilfe und Fürsprache entbehren müssen.76 Geschichten und Bilder, die daran erinnerten, daß Marias helfende und schützende Macht stets stärker war als der blasphemische Haß jüdischer Störenfriede, sollten ad corroborandam fidem catholicam beitragen. Alles Wunderbare, das sich beim Begräbnis Marias zugetragen hatte, bestätigte die Würde ihrer jungfräulichen Mutterschaft. Der »wunderbare« Stoff, aus dem Argumente zur Stärkung des katholischen Glaubens geschmiedet wurden, bestand aus Vorgängen und Handlungen, die Juden als eine Gruppe gescheiterter, bestrafter und besiegter Existenzen zur Erscheinung brachten. Abgrenzung, die mitunter in Hohn und Häme umschlagen konnte, stärkte die eigene Identität. 4. Marienbilder, die an blasphemische und frevelhafte Aktionen von Juden erinnern, partizipieren an der Überzeugungskraft ihrer literarischen Vorlagen. Der Anspruch, res gestae und keine res fictae mitzuteilen, ist Texten und Bildern von damals gleichermaßen gemeinsam. Die Frage bleibt, ob das historische Argument auch dann eine Rolle spielte, wenn die Betrachter judenfeindlicher Bilder über ihr Verhalten gegenüber Juden zu entscheiden hatten. Mit Beschreibungen von Marienmirakeln oder dem apokryphen Bericht über das Leichenbegängnis Marias werden, wenn man dem Wortlaut mittelal74

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So der Regensburger Domscholaster Konrad von Megenberg (1309–1374), ein Mann von inniger Marienfrömmigkeit, in seinem ›Buch der Natur‹ (1348/50): sie [die Juden] sint unser frawen veint. Zitiert nach J. E. scherer , Die Rechtsverhältnisse in den deutschösterreichischen Ländern, Leipzig 1901, S. 372. Philipp von Harvengt, Moralitates in Cantica, in: m Igne , PL 203, Sp. 572 - 574. Ebd., Sp. 573.

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terlicher Texte folgt, keine konkreten Handlungsanweisungen verbunden. Von den gezeigten und zur Diskussion gestellten Bildern gingen keine unmittelbaren Appelle für judenfeindliche Aktionen aus. Dennoch nährten sie antijüdische Feindbilder, die als religiöses Deutungs- und Begründungspotential unausgesprochen in die mit Juden ausgetragenen Konflikte einfließen konnten. Die Normen des kanonischen und weltlichen Rechts verpflichteten zu gewaltfreier Duldsamkeit. Sie suchten zu verhindern, daß Marienverehrer aus Marienmirakeln und Marienbildern falsche Schlüsse zogen. Marienverehrung legitimierte keine Gewalttaten gegenüber Juden. Faktische Diskrepanzen zwischen aggressiver Neigung und religiös gebotener Rechtspflicht spiegeln sich in Äußerungen, die der bereits erwähnte Benediktiner Gautier von Coincy als Sammler von Marienmirakeln machte: »Bei Gott! Wenn ich einen Tag lang König wäre, in Reims, in Rom oder in Roye, könnte ich keinen [ Juden] am Leben lassen. Was man durch sie erdulden muß, ist eine große Schande. Aber die Heilige Kirche läßt sie gewähren im Gedenken an den heiligen Tod, woran wir uns immer erinnern müssen: Das Kreuz und die Juden vergegenwärtigen uns den Tod Gottes. Die Laien haben keine andere Schrift, die ihnen die Leidensgeschichte Christi zeigt und beschreibt.«77 Der alles andere als judenfreundliche Benediktiner fühlt sich durch das Toleranzargument der Kirche gehalten, seine Emotionen zu bändigen. König Alfons bediente sich in seinem Gesetzbuch, den Siete Partidas, desselben Arguments. Weil Juden für die Wahrheit der christlichen Heilsbotschaft Zeugnis ablegen, hielt er es für rechtens, daß Juden unter Christen leben und wohnen dürfen und deshalb Anspruch darauf haben, durch das königliche Recht gegen Willkür und Gewalt geschützt zu werden.78 Christen, so die offizielle Lehre der Kirche, schulden den Juden Duldsamkeit (tolerantia) und friedliches Zusammenwohnen (cohabitatio), weil die Juden durch ihre bloße Existenz Zeugnis ablegen für die Einheit der christlichen Heilsgeschichte und die Historizität des Kreuzestodes Jesu.79 Ein Kernsatz aus der Schutzbulle, die seit Innozenz III. Päpste für Juden

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Zitiert nach Peter-Michael sPangenberg, Judenfeindlichkeit in den altfranzösischen Marienmirakeln. Stereotypen oder Symptome der Veränderung der kollektiven Selbsterfahrung, in: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, hg. v. Rainer erb, Berlin 1993, S. 169; vgl. dazu auch G. dahan, Les Juifs dans les Miracles de Gautier de Coincy, in: Archives juives 16 (1980), S. 41 - 49. La Siete Partidas del Rey don Alfonso el Sabio, Part. VII, tit. 24, cotejadas con varios codices antiguos por la Real Academia de la Historia, Madrid 1807, Bd. 3, S. 669f.; vgl. dazu auch Dwayne E. carPenter , Alfonso X and the Jews: An edition of and Commentary on Siete Partidas 7, 24, ›De los judios‹, London 1986, S. 28; 59 - 61. Dazu ausführlicher mein Aufsatz ›Tolerantia‹. Begriffs- und wirkungsgeschichtliche Studien zur Toleranzauffassung des Kirchenvaters Augustinus, in: Toleranz im Mittel-

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auszustellen pflegten, lautete: »per eos [Iudeos] fides nostra veraciter comprobatur« (Durch diese [die Juden] wird unser Glaube wahrhaftig bestätigt).80 Alles in allem: Judenfeindliche Marienbilder, die von Klerikern, Mönchen und Laienchristen wahrgenommen und verehrt wurden, lösten keine Gewaltaktionen gegenüber Juden aus. Sie rechtfertigten auch keine Anwendung von Gewalt aus religiösen Motiven. Das schloß allerdings nicht aus, daß Marienbilder mit judenfeindlichen Motiven Sinn- und Handlungspotentiale bereitstellten, die, wenn sie im Lichte alltagsweltlicher Erfahrungen und Interessen wahrgenommen und aufgegriffen wurden, zur Rechtfertigung von Gewalt gegenüber Juden mißbraucht werden konnten. Unbestritten bleibt aber auch, daß judenfeindliche Marienbilder das Zusammengehörigkeitsgefühl von Christen und christlichen Gruppen stärkten, sofern letztere jüdische Feindbilder als Folie benutzten, um ihrer Eigenart, ihrer Andersheit und Identität ein schärferes Profil zu geben.

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alter, hg. v. Alexander Patschovsky / Harald zImmermann, Sigmaringen 1998, S. 335 - 389. sImonsohn (wie Anm. 58), S. 74.

Abb. 1: Gott schreibt die Zehn Gebote auf steinerne Tafeln. Admonter Riesenbibel (um 1140). Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Handschriftensammlung, Cod. Vindob. S. N. 2701, fol. 69r.

Das Buch im NackeN Bücher und Buchstaben als zeichenhafte Kommunikationsmedien in rituellen Handlungen der mittelalterlichen Kirche

»Der biblische Gott ist, seit den eigenhändigen Tafeln vom Sinai, ein schreibender Gott«1 (Abb. 1). Aus den Texten, die er selber schrieb oder durch andere hatte schreiben lassen, machten seine jüdischen und christlichen Verehrer Bücher von kanonischer Geltung. In Synagogen und Kirchen wurden sie vorgelesen und erklärt. In rituellen Handlungen erfüllten sie die Funktion sichtbarer Zeichen 1

Hans blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981, S. 31. – Mittelalterliche Buchmaler hatten keine Bedenken, Gott als Schreiber der Gesetzestafeln ins Bild zu setzen (so z. B. der Miniator der um 1140 angefertigten Admonter Riesenbibel, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Handschriftensammlung, Cod. Vindob. S. N. 2701, fol. 68v). In spätmittelalterlichen Stadtrechtsquellen ist die Rede von der »E [Bund; Testament], dy got moysi gab auf dem perge czu synay dy got selber schreyb mit seynen vinge[r]n inder staynen tafel«. Vgl. Jörg m Ielke , Der Dekalog in den Rechtstexten des abendländischen Mittelalters (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF. 29), Aalen 1992, S. 205, Anm. 902. Theologen waren darauf bedacht, Gottes Schreibtätigkeit als metaphorische Rede aufzufassen. Augustinus schrieb in De catechizandis rudibus (II, 20): Nachdem Gott das Volk Israel vierzig Jahre lang durch die Wüste geführt hatte, empfing es »auch ein Gesetz, geschrieben vom ›Finger Gottes‹, ein Ausdruck, womit nach der ganz deutlichen Erklärung des Evangeliums der Heilige Geist bezeichnet wird. Gott ist ja von keiner körperlichen Gestalt begrenzt, und man darf sich an ihm nicht Finger und Glieder denken, wie wir sie an uns sehen. Allein da durch den Heiligen Geist die Gaben Gottes den Heiligen so ausgeteilt werden, daß sie zwar verschiedene Fähigkeiten haben, aber dennoch der Einheit der Liebe nicht verlustig gehen, und da sich ferner (am Leibe) gerade in den Fingern am meisten eine gewisse Trennung zeigt, jedoch ohne daß dabei eine Lostrennung von der Einheit stattfände, so wird aus diesem (oder einem andern) Grunde der Heilige Geist Finger Gottes genannt; wenn wir das hören, dürfen wir aber nicht an die Gestalt eines menschlichen Körpers denken. Jenes Volk empfing also das vom Finger Gottes geschriebene Gesetz auf Tafeln, und zwar auf steinernen, um ihre Herzenshärtigkeit anzudeuten: Sie sollten ja dieses Gesetz nicht erfüllen.« Vgl. Eine Auswahl patristischer Werke in deutscher Übersetzung (Bibliothek der Kirchenväter 7), hg. v. Otto bardenhewer u. a., München 1925, S. 285 - 286. Vgl. auch: Augustinus, De spiritu et littera XXXI, 36 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 60), Wien / Leipzig 19l3, S. 189: Quid sunt ergo leges Dei ab ipso deo scriptae in cordibus nisi ipsa praesentia spiritus sancti, qui est digitus dei, quo praesente diffunditur caritas in cordibus nostris, quae plenitudo legis est et finis praecepti?

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(signa visibilia), die auf Unsichtbares (invisibilia), auf die Geschichte des Heils (historia salutis) und auf heilsbedeutsame geistliche Güter (spiritualia) hinwiesen. Um Beziehungen zwischen Zeichen (signum) und Bezeichnetem (significatum) geht es im folgenden. Beschrieben und veranschaulicht werden der Verweischarakter und Aufschlußwert von Büchern und Buchstaben, die in kirchlichen Ritualen Verwendung fanden. Auch in ihrer liturgischen Symbolsprache suchte die mittelalterliche Kirche kenntlich und verständlich zu machen, daß Gott geschriebene Buchstaben, Wörter und Texte zu Trägern und Vermittlern von Heilswahrheiten gemacht hatte. Um zu zeigen, welche Zeichenhaftigkeit Büchern und Buchstaben in rituellen Handlungen beigelegt wurde, werden vier Beispiele untersucht: das Auflegen des Evangeliars auf Kopf und Nacken des Elekten bei der Bischofsweihe, die Übergabe des Evangeliums bei der Priester-, Bischofs- und Papstweihe sowie bei der Taufe und beim katharischen Consolamentum, die Inthronisation des Evangeliars bei der Abhaltung von Konzilien und die Verwendung des ABC bei der Kirchweihe.

1. Die impositio evangelii bei der Bischofsweihe: Von der Geistausgießung zum »Joch Christi« Rupert von Deutz (1075/1080–1129/1130) beschreibt in seiner Vita Heriberti dessen Weihe zum Erzbischof von Köln im Jahre 999 folgendermaßen:2 Bei der Weihe hielten zwei Bischöfe ein Evangelienbuch über sein Haupt und seinen Nacken (Abb. 2). Als dann in dem Codex geblättert wurde, begegnete als erster Vers folgender Satz (Lk 4,18): »Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt, um den Armen das Evangelium zu verkünden.« Über Kopf und Nacken des zu Weihenden ein Evangeliar zu halten, entspricht einem seit alters bei der Bischofsweihe geübten Brauch.3 Das Evangelienbuch aufzuschla2

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Rupert von Deutz, Vita Heriberti, hg. v. Peter dInter , Bonn 1976, S. 45 - 46: Denique dum in consecrando illum episcopi duo codicem evangeliorum super caput cervicemque eius tenerent, re­ voluto mox eodem codice versiculus iste primus occurit: Spiritus Domini super me, propter quod unxit me, ad evangelizandum pauperibus misit me. […] Igitur dum in huius beati pontificis unctione aperto super caput eius evangelico volumine primam scriptura sancta vocem hanc edidit, revera iure omnes qui aderant venerabiliter pro vero divinitatis oraculo sententiam arripuerunt, credendo quia Deus hunc misit, non dubitando quia hunc spiritus Domini unxit. Zur Geschichte der Bischofsweihe im Mittelalter vgl. Michel a ndrIeu, Le sacre épiscopal d’après Hincmars de Reims, in: Revue d’histoire ecclésiastique 48 (1953), S. 22 73; P. de P unIet, Consécration épiscopale, in: Dictionnaire d’archéologie chrétienne et de liturgie Bd. 3, 2, hg. v. Fernand cabrol , Paris 1948, Sp. 2579 - 2604; Odilo engels, Der Pontifikatsantritt und seine Zeichen, in: Segni e riti nella chiesa altomedievale

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Abb. 2: Bischofsweihe Heriberts von Köln im Jahre 999. Ein Bischof legt ein geschlossenes Evangeliar auf seinen Nacken. Grubenschmelzscheibe auf dem Dach des Heribertschreins. Köln-Deutz, um 1160/1170. (Foto: Köln, Rheinisches Bildarchiv).

gen, um einen Bibelvers zu finden, der den Sinn der Weihehandlung aufschließt und den Bischof bei seiner Amtsführung als Handlungsmaxime künftig begleiten soll, mutet wie ein Losverfahren an. Die Verbindung der impositio evangelii mit der Suche nach einer Bibelstelle, die über Gottes Absichten und Weisungen Aufschluß geben soll, ist ungewöhnlich. In welchen Formen spielten sich beide Handlungen ab? Was bedeutet die eine, was die andere? Der früheste Beleg für die impositio evangelii stammt aus den ›Apostolischen Konstitutionen‹, die um 380 in Syrien oder Kleinasien entstanden sind. Diese Kirchenordnung schreibt vor, daß zwei Diakone ein Evangelienbuch über das Haupt des zu weihenden Bischofs halten.4 Nach den Statuta ecclesiae antiqua, die Gennadius von Marseille († um 495/505) zwischen 476 und 485 zusammenstellte, sollen zwei Bischöfe das Evangelium über den Kopf des Ordinanden halten (Abb. 3); einer spricht das Weihegebet, alle übrigen anwesenden Bischöfe berühren mit ihren Händen das Haupt des Weihekandidaten.5 Diese liturgische Vorschrift gibt einen bemerkenswerten Wandel zu erkennen: Es sind nicht mehr

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occidentale (Settimane di Studio dei Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo XXXIII), Bd. 2, Spoleto 1987, S. 707 - 766. Rituel Cathare. Introduction, texte critique, traduction et notes, hg. v. Christine thouzellIer (Sources Chrétiennes 236), Paris 1977, S. 106. Les statuta ecclesiae antiqua, hg. v. Charles munIer (Études critiques), Paris 1960, S. 95, Nr. 90: Episcopus cum ordinatur, duo episcopi ponant et teneant evangeliorum codicem super

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Abb. 3: Gregor von Nazianz (329/330 – um 390) wird zum Bischof geweiht. Zwei Bischöfe halten über sein Haupt ein Evangeliar (um 880). Paris, Bibliothèque Nationale, ms. grec 510, fol. 452r.

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zwei Diakone, die das Evangelienbuch über das Haupt des Weihekandidaten halten sollen, sondern zwei Bischöfe. Eine solche Veränderung des Rituals läßt auf Bemühungen schließen, die Stellung des Bischofs aufzuwerten und die liturgischen Aufgaben des Diakons zu beschneiden;6 die Ablösung der Diakone durch Bischöfe sollte überdies den liturgischen Rang und spirituellen Gehalt des Rituals verstärken. Hinzu kommt: Über die Stelle, an der am Körper des zu weihenden Bischofs das Evangeliar aufgelegt werden soll, ist die Textüberlieferung der Statuta eccle­ siae antiqua nicht einhellig. Sie bringt Varianten, aus denen hervorgeht, daß bei der Weihe eines Bischofs das Evangeliar sowohl über dessen Kopf gehalten als auch auf dessen Nacken gelegt werden konnte. In den meisten Handschriften findet sich die Wendung super cervicem; immerhin sechs Handschriften sprechen von super caput. »Daß das Evangelienbuch nach den Statuta auf Schulter und Nacken gelegt wird, hat pragmatische Ursachen und ist zunächst wohl nicht in der Freude an Allegorien begründet. Den mitweihenden Bischöfen war es einfach zu beschwerlich, das Evangeliar mit seinem edelsteinverzierten Einband so lange über dem Weihekandidaten zu halten.«7 Unter dem Einfluß der Statuta ecclesiae antiqua wurde das Auflegen des Evangelienbuches auf den Nacken des Ordinanden bei der in der römischen Kirche praktizierten Bischofsweihe zur Norm.8 In zahlreichen Ordines des Frühen Mittelalters findet das Ritual Erwähnung. Dies ist sowohl im fränkischen Gelasi­ anum des 8. Jahrhunderts9 als auch im Pontificale Romano­Germanicum der Fall, das

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cervicem [caput] eius, et uno super eum fundente benedictionem, reliqui omnes episcopi qui adsunt, manibus suis caput eius tangant. So Klemens r Ichter , Die Ordination des Bischofs von Rom. Eine Untersuchung zur Weiheliturgie, Münster 1976, S. 20. r Ichter (wie Anm. 6), S. 21. Zu den Handschriften der Statuta ecclesiae antiqua, die den Kopf (caput) als die Stelle bezeichnen, auf die das Evangeliar gelegt werden soll, vgl. munIer (wie Anm. 5), S. 95, Anm. 90.7. Das schloß allerdings nicht aus, daß, wie Antonio santantonI, L’ordinazione episcopale. Storia e teologia dei riti dell’ordinazione nelle antiche liturgie dell’occidente (Analecta Liturgica 2), Rom 1976, S. 269 - 272, nachweisen kann, bis ins beginnende 14. Jahrhundert in Ordines und Pontifikalien der Kopf als die Stelle genannt wird, über die das Evangeliar gehalten (tenere) oder auf die es gelegt ( ponere) werden soll. So in folgenden liturgischen Handschriften: Pontificale di Besançon (Ex ms. Pontificali ecclesiae Bisuntinae, ab annis c. 600 exarato); Ordo romanus XXXVI (Ende des 9. Jhs.); Pontificale di Milano (9./10. Jh.); Pontificale d’Avranches (1. Hälfte oder Mitte des 12. Jhs.); Pontificale di Guglielmo Durand (seit 1296 Bischof von Mende, † Juli l330). thouzellIer (wie Anm. 4), S. 113, Anm. 77: Episcopus cum ordinatur, duo episcopi ponant et teneant evangeliorum codicem super caput eius; et uno super eum fundente benediccionem, reliqui omnes episcopi qui adsunt manibus suis caput eius tangeant [sic!].

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bald nach 950 durch Mönche der Abtei St. Alban in Mainz angefertigt wurde:10 es kommt auch im Ordo Romanus XXXV vor, der wiedergibt, wie die Bischöfe Mittelitaliens zu Anfang des 10. Jahrhunderts vom Papst geweiht wurden.11 Die impositio evangelii, ein ursprünglich im kirchlichen Osten geübter Brauch, erwies sich als rituelle Handlungsform von langer Dauer. Noch heute gehört sie zur Liturgie der Bischofsweihe. Auch dem römischen Bischof, dem Papst, ist bei seiner Weihe ein Evangeliar auf Kopf und Nacken gelegt worden. Ein Vergleich zwischen den rituellen Vorschriften für die Papstweihe und denjenigen für die Bischofsweihe gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen. Der Ordo Romanus XL A, die älteste, bis ins 6. Jahrhundert zurückreichende Ordnung De ordinatione ro­ mani pontificis, schreibt vor, daß das Evangelienbuch in geöffneter Form über das Haupt des zu weihenden Papstes gehalten werden solle.12 Wie bei der Bischofsweihe kam man allerdings auch bei der Papstweihe langfristig davon ab, das Evangeliar über den Kopf des Elekten zu halten. Das (zwischen 1198 und 1245 entstandene) Pontificale romanae curiae nennt den Bischof von Ostia, dem die Pflicht und die Ehre zukomme, das geöffnete Evangeliar auf den Nacken des zu weihenden Papstes zu legen.13 Das Caeremoniale des Kardinals Giacomo Gaetani Stefaneschi (1270–1340) übernimmt diese Anweisung und schreibt sie fort. Dem Bischof von Ostia obliegt es demnach immer noch, dem Erwählten und zu Weihenden das Evangeliar auf die Schultern zu legen.14 Wie bei der Bischofsweihe ist auch bei der Papstweihe eine Rangerhöhung derer erkennbar, die das Evangelienbuch über den Elekten halten. Der Ordo De ordinatione romani pontificis (Ordo XL A) nennt Diakone, die das Evangelienbuch über das Haupt des Elekten halten sollen.15 Der Ordo qualiter romanus pontifex apud basilicam beati Petri apostoli debeat ordinari, das sogenannte Pontificale romanae curiae, sieht vor, daß das Evangeliar, das der Bischof von Ostia dem zu weihen10

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Cyrille vogel / Reinhart elze , Le pontifical romano-germanicum du dixième siècle (Studi e Testi 226), Bd. 1, Vatikan 1963, § LXIII, 31, S. 216: duo episcopi ponunt et tenent evangeliorum codicem super cervicem eius et inter scapulas clausum et, uno super eum fundente benedic­ tionem, reliqui omnes episcopi qui assunt manibus suis caput eius tangunt. Michel a ndrIeu, Les Ordines Romani du haut Moyen Âge, Bd. 4, Les textes (suite) (Ordines XXXV-XLIX), Louvain 1956, S. 44: Finita vero laetania, inclinatus ipse electus ante pontificem, ponit archidiaconus quattuor evangelia super cervicem eius et inter scapulas clausa. a ndrIeu (wie Anm. 11), Bd. 4, S. 297: Postmodum adducuntur evangelia et aperiuntur et tenen­ tur super caput electi a diaconibus. Vgl. ebd., S. 307: Ordo qualiter ordinetur romanus pontifex. r Ichter (wie Anm. 6), S. 63. – Der Liber diurnus Romanorum Pontificum (Ende des 8. bis Anfang des 10. Jhs.), der Ordo romanus XXXVI. (Ende des 9. Jhs.) und der Ordo Gregorii X. [1271–1276] bringen super caput. Vgl. santantonI (wie Anm. 8), S. 269, 270, 272. r Ichter (wie Anm. 6), S. 85. a ndrIeu (wie Anm. 11), Bd. 4, S. 297. Vgl. auch Ordo XL B, ebd., S. 307.

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den Papst auf den Nacken legt, von zwei Kardinaldiakonen gehalten wird.16 Im Caeremoniale des Kardinals Giacomo Gaetani Stefaneschi ist nicht mehr von Kardinaldiakonen die Rede; es sieht vielmehr zwei Kardinäle vor, die das Buch bis zum Ende des Weiheritus halten.17 Ein Unterschied zwischen Papst- und Bischofsweihe besteht darin, daß dem Papst ein geöffnetes Evangeliar über den Kopf gehalten oder auf den Nacken gelegt wird, während das Buch bei der Bischofsweihe geschlossen bleibt. Der Ordo Romanus XXXV aus dem beginnenden 10. Jahrhundert sagt ausdrücklich, daß bei der Weihe des Papstes diesem ein geöffnetes Evangeliar (aperta evangelia) auf Nacken und Schultern gelegt wird.18 Das Pontificale Romano­Germanicum dekretiert für die Bischofsweihe ein geschlossenes Evangelienbuch (evangeliorum codex clausus), das zwei Bischöfe auf den Nacken und zwischen die Schultern des Weihekandidaten legen und bis zum Ende der Weihe festhalten.19 Durchgesetzt hat sich diese Unterscheidung nicht. Das liturgische Brauchtum entbehrt genereller Gleichförmigkeit; es zeichnet sich durch eigenwillige Rezeptionen und Traditionen aus. Das geht aus einem Brief Hinkmars von Reims hervor, in dem dieser Bischof Adventius von Metz den Ritus schildert, der für seine eigene Weihe zu Reims im Jahre 845 maßgebend war. Hinkmar wollte seinem Metzer Amtskollegen Richtlinien für die Weihe eines Metropoliten geben. Nach dem Agnus Dei, schreibt Hinkmar, solle der Konsekrator die vier Evangelien erhalten; er solle sie in der Mitte öffnen (aperiat per medium) und dem in gebeugter Haltung vor dem Altar stehenden Elekten auf Nacken und Schultern legen. Zwei Bischöfe sollen das Evangelienbuch halten. Nach der Salbung und vor der Übergabe des Rings sollen sie es wieder von seinen Schultern nehmen.20 Das heute in der Kapitelbibliothek von Ivrea befindliche Warmund-Sakramentar (um 1000) enthält eine Miniatur, die einen gebeugten Bischof zeigt, auf

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Pontificale secundum consuetudinem et usum romanae curiae XIII b, 15 (13. Jh.): Post hec episcopus Ostiensis ponit apertum librum evangeliorum super cervicem consecrandi, sicut fit in consecratione aliorum episcoporum, tenentibus ipsum duobus diaconibus cardinalibus usque ad conse­ crationem finitam. Zitiert nach Antonio santantonI, L’ordinazione episcopale. Storia e teologia dei riti dell’ ordinazione nelle antiche liturgie dell’occidente (Studia Anselmiana 69, 2), Rom 1976, S. 272. Vgl. ebd., Ordo Gregorii X. [1271–1276] c. 28: Demum venit ordinator sive consecrator et ponit apertum codicem evangelii super caput electi versus collum, et codex sic apertus tenetur a duobus diaconis cardinalibus. Et omnes prelati stant in circuitu induti, quilibet cum suo libro. r Ichter (wie Anm. 6), S. 85. a ndrIeu (wie Anm. 11), Bd. 4, S. 44. vogel / elze (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 216. Hincmarus Rhemensis archiepiscopus, Epistolae, epist. XXVIII (m Igne , PL 126, Sp. 187 - 188.

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dessen Schultern ein geöffnetes Evangeliar liegt.21 Auch in der Ostkirche war es ein eingespielter Brauch, über den zu weihenden Bischof ein geöffnetes Evangeliar zu halten.22 Diese Ehre ist im Laufe des l3. Jahrhunderts offenkundig den Bischöfen des kirchlichen Westens ebenfalls zuteil geworden. Guillelmus Durandus, seit 1285 Bischof in der südfranzösischen Diözese Mende, ist für diesen Wandel ein verläßlicher Zeuge. In seinem zwischen 1292 und 1295 verfaßten Pontificale schreibt er: »Der Konsekrator öffnet das Evangelienbuch und legt es auf den Kopf und die Schultern des zu Weihenden, und zwei Bischöfe halten es. […] Dann«, fährt Durandus fort, »legt der Konsekrator seine Hände auf das Haupt des Weihekandidaten und spricht: ›Empfange den Heiligen Geist.‹ Das tun und sprechen alle Bischöfe nach, sowohl die beiden, die das Evangeliar halten, als auch alle übrigen der Reihe nach.« 23 Worin besteht aber die besondere Bedeutung der bei der Bischofsweihe vorgenommenen impositio evangelii? Der ursprüngliche Sinngehalt des Ritus ist anhand der überlieferten Quellen nicht zu ermitteln. Sie enthalten keine Angaben darüber, welchen religiösen Wahrheiten die Auflegung des Evangeliars eine sinnenfällige Form geben wollte. Um aufzuhellen, was die Quellen im Dunkeln lassen, wurde der Vorschlag gemacht, das bei der Bischofsweihe dem Elekten auf Kopf und Nacken gelegte Evangelienbuch sei als rituelle Umsetzung einer alttestamentlichen Metapher zu begreifen, derzufolge Gott sein »Testament« über dem Haupt Jakobs bekräftigt habe; beteuert doch Ecclesiasticus (= Jesus Sirach) 44,23: testamentum suum confirmavit super caput.24 Trifft diese Annahme zu, müßte das Ritual als Handlung begriffen werden, die zum Bewußtsein und zur Anschauung bringt, daß Gott an den Segensverheißungen, die er Abraham, Isaak und Jakob gemacht und durch einen Bund bekräftigt hat, unverbrüchlich festhält. Literarische Gestalt angenommen hat Jahwes Bund mit Israel allerdings nur beim Abschluß des Sinaibundes, als Moses Jahwes »Worte des Bundes« auf zwei Tafeln aus Stein schrieb und auf diese Weise den Dekalog zu einer Bundesurkunde machte (Ex 34). »Das Evangelienbuch«, so ist von anderer Seite gesagt 21 22 23

24

Roger E. r eynolds, The Liturgy of Clerical Ordination in Early Medieval Art, in: Gesta 22 (1983), S. 30, Abb. 4. r eynolds (wie Anm. 21), S. 30. santantonI (wie Anm. 16), S. 272: Consecrator aperit codicem evangeliorum, ponens illum super caput et scapulas consecrandi, et duo episcopi sustinent illum […] Tunc ordinator imponit utramque manum super caput illius dicens: Accipe spiritum sanctum. Idemque faciunt et dicunt omnes episcopi, tam tenentes librum, quam alii successive. So Eduard eIchmann, Königs- und Bischofsweihe (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Jg. 1928, 6. Abh.), München 1928, S. 17. – Der VulgataText (Sir 44,22-23) lautet vollständig: Propter Abraham patrem ipsius benedictionem omnium gentium dedit illi et testamentum suum confirmavit super caput Iacob.

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worden, »sollte Christus versinnbildlichen, welcher sich im Evangelium offenbart, und den Heiligen Geist, der es schreiben ließ. Man sprach also durch eine solche Zeremonie die Hoffnung aus, die Kraft des Herrn und seines Heiligen Geistes werde auf dem zu Weihenden ruhen, wie man bei der Feier das heilige Buch auf ihn legte.« 25 Die ursprünglich mit dem Ritual verknüpften Intentionen sind aus den Quellen nur mittelbar zu erschließen. In Texten unmittelbar greifbar sind Bedeutungszuschreibungen späterer Exegeten, die sich über das ursprünglich Gemeinte Gedanken machten. Ihre Deutungsangebote weisen, wie nicht anders zu erwarten, erhebliche Unterschiede auf. Eine frühe Deutung findet sich bei Severian, Bischof von Gabala in Syrien († nach 408). In einer Homilie über das Pfingstereignis (Apg 2,1–l3) vergleicht er die feurigen Zungen, die sich beim Pfingstfest auf den Häuptern der Apostel niederließen, mit der Auflegung des Evangelienbuches auf das Haupt des zu weihenden Bischofs. Weil die Herabkunft des Heiligen Geistes, so der syrische Bischof, unsichtbar sei, lege man das Evangelienbuch auf das Haupt des für das Bischofsamt erwählten Kandidaten. Sowohl die feurigen Zungen als auch das Evangeliar seien Zeichen, die auf die unsichtbare Ausgießung des Heiligen Geistes hinwiesen.26 In einer Predigt De legislatore, die neuerdings dem hl. Chrysostomus (354– 407) zugeschrieben wird, sieht deren Verfasser in der Tiara Aarons einen alttestamentlichen Typus für das Evangeliar, das einem Bischof bei seiner Weihe auf den Kopf gelegt wird.27 Aaron, der Bruder des Moses und erste Hohepriester Israels, habe sich, ungeachtet seiner gesetzgeberischen Vollmachten, durch die Tiara daran erinnern lassen, daß er einem höheren Gesetz unterworfen sei. Ein Bischof, der, wenn ihm das Evangelium aufs Haupt gelegt wird, die »wahrhafte Tiara des Evangeliums« empfange, müsse sich gleichfalls daran erinnert fühlen, daß Gottes Wort das Gesetz seines Lebens und Handelns bilde; desgleichen müsse ihm bewußt bleiben, daß Herrschaft über andere nur dann rechtens und von allgemeinem Nutzen sei, wenn er sich selber der Autorität Gottes unterwerfe. Wie der Schleier, mit dem eine Frau im Gottesdienst ihr Haupt verhüllen müsse (1 Kor 11,10), auf die Autorität ihres Mannes hinweise, so sei das Evangelium auf dem Haupt des Bischofs als Hinweis auf die Autorität Gottes zu begreifen. Dionysius Areopagita deutet in seiner wohl in der Mitte des 5. Jahrhunderts verfaßten Schrift De ecclesiastica hierarchia das Auflegen des Evangelienbuches als Übertragung der Verkündigungsgewalt.28 25 26 27 28

Stephan beIssel , Geschichte der Evangelienbücher in der ersten Hälfte des Mittelalters (Stimmen aus Maria-Laach, XXXIII. Ergänzungsband), Freiburg 1906, S. 5 - 6. thouzellIer (wie Anm. 4), S. 107 - 108. thouzellIer (wie Anm. 4), S. 108; santantonI 1976 (wie. Anm. 16), S. 146, Anm. 17. r Ichter (wie Anm. 6), S. 22.

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Amalar von Metz (um 775/780–850), der 823 ein im ganzen Mittelalter hochgeschätztes und vielbenutztes Handbuch der Liturgie, den Liber officialis, herausgab, deutete das Auflegen des Evangeliums auf das Haupt des Ordinanden (evangelii positio super caput eius [sc. consecrandi]) so: Das Evangelium möge diejenigen, die es halten, zu der Bitte veranlassen, daß der himmlische Herr eben dieses Evangelium im Herzen des zu Weihenden festige. Desgleichen mögen sich die klerikalen »Buchhalter« durch das Ritual bewogen fühlen, den zu Weihenden daran zu erinnern, daß er unter dem Joch des Evangeliums (iugo evangelii) größeres Ansehen besitze und höhere Achtung genieße als vor der Weihe. Amalar vermag dem Ritual eine religiöse Bedeutung abzugewinnen; begeistern kann es ihn jedoch nicht. Kritisch merkt er an: Der Brauch, einem Bischof bei seiner Weihe ein Evangelienbuch aufs Haupt zu legen, sei weder durch eine alte Autorität (vetus auctoritas) noch durch eine apostolische Tradition (apostolica traditio) oder eine kanonische Autorität (canonica auctoritas) gebilligt und gedeckt.29 Das Ritual möge sinnvoll sein, es entbehre jedoch einer traditionsgestützten theologischen Legitimität. Guillelmus Durandus schreibt in seinem ›Rationale‹: Bei der »pischofleich weihung« sollen zwei Bischöfe »legen und halten daz pueche der ewangelien auf sein haupte und auf seinen halz oder auf sein schultern und schol ainer auf in giezzen den segen. Awer die andern pischof alle, die da pey seint, die schullen rueren sein haupt mit ieren henden.« Durandus nennt vier Gründe, weshalb »das puech wirt gehalten uber sein haupt«. Das Ritual drücke die Bitte und den Wunsch aus, daß der Herr dem Evangelium im Herzen des zu Weihenden einen angemessenen Platz gebe. Des weiteren solle sich dieser an Hand des Rituals bewußt machen, »welicher aribait und purde er underleget werde«. Alles, was nunmehr glänze und groß erscheine, verursache nämlich »laid«, wenn der Geweihte an der ihm zuteil gewordenen Ehre Gefallen finde und auf die ihm übertragene geistliche Würde stolz sei. Das Ritual komme überdies einer Aufforderung gleich, nicht zu träge zu sein, um »zw tragen di puerd der ewangelischen predig umb und umb«. Schließlich sei das Ritual als Mahnung zu begreifen, »daz er mer dann vor sein gewonhait waz, underlige dem joch und gehorsam sey dem ewangeli«.30

29 30

Amalarius, Liber officialis II, 14, 9 (m Igne , PL 105, Sp. 1092). Durandus’ Rationale in spätmittelhochdeutscher Übersetzung. Die Bücher I-III nach der Hs. CVP 2765, hg. v. G. H. buIjssen, Assen (Niederlande) 1974, S. 182f. Die Edition beruht auf der Handschrift CVP 2765 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. – Vgl. auch Sicardus Cremonensis episcopus, Mitrale sive de officiis ecclesiasticis summa, in: m Igne , PL 213, Sp. 69: Postmodum, codicem Evangeliorum duo tenent episcopi super scapulas (sc. ordinandi), quasi orantes et ordinadum commonentes, ut amplius solito jugo subjaceat et obediat Evangelio.

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Das Joch Christi oder das Joch des Evangeliums konnte das auf das Haupt des zu weihenden Bischofs gelegte Evangeliar erst seit dem Zeitpunkt abbilden, da es nicht mehr über den Kopf des Weihekandidaten gehalten, sondern auf Kopf und Nacken gelegt wurde. Insofern muß die Metaphorik des Jochs als Deutungsmöglichkeit ausscheiden, wenn es darauf ankommt, den ursprünglichen Sinn der symbolischen Handlung aufzuhellen. Wer es unternimmt, das Ritual aus seinem rituellen Kontext zu erklären, dem tun sich andere Wege der Deutung auf. Als rituelles Handlungselement bleibt das über den Kopf gehaltene und später auf Kopf und Nacken gelegte Evangeliar eingebunden in eine Sequenz ritueller Handlungen, in denen es nicht um die Bürde des Evangeliums oder um das süße Joch Jesu geht, sondern um die Mitteilung des Heiligen Geistes. Während das Evangeliar über dem Haupt des Ordinanden gehalten oder auf dieses gelegt wird, spricht der Konsekrator das eigentliche, in die Form einer Präfation gekleidete Weihegebet, legt dem Weihekandidaten seine Hände aufs Haupt und salbt seine Stirne. Im Weihegebet bittet der Konsekrator um die Erfüllung des Ordinanden mit der Kraft des Gottesgeistes (tui [sc. Dei] spiritus virtus).31 Die Handauflegung gibt nach altchristlicher Auffassung dem zu Weihenden Anteil am Heiligen Geist ( partici­ patio spiritus sancti).32 Seit dem 12. Jahrhundert wird die Handauflegung überdies mit der Gebetsformel Accipe spiritum33 verknüpft. Die Salbung mit dem chrisma sanctificationis vermittelt Anteil an der Kraft des Heiligen Geistes. Was von der Salbung des Königs gesagt wurde, gilt in gleicher Weise für die Salbung des Bischofs: »Die Salbung ist das äußere Zeichen für den inneren seelischen Vorgang, die Einwohnung des Heiligen Geistes mit seiner Weisheit und Kraft.« 34 Der dem Öl innewohnenden Lebenskraft wird durch die potentia Christi die Kraft des Heiligen Geistes beigemischt.35 Der rituellen Sequenz, innerhalb derer das Halten oder Auflegen des Evangelienbuches ein Element bildet, liegt ein gemeinsamer Gedanke zu Grunde: die Mitteilung geistlicher Gnadengaben und kirchlicher Vollmachten. Medien der Geistmitteilung waren demnach nicht nur das vom Konsekrator gesprochene Weihegebet, seine Hände und das von ihm benutzte geweihte Öl, sondern auch das Wort der Heiligen Schrift. Was aber meinte Rupert von Deutz, der Verfasser der Vita Heriberti, als er das Ritual der Buchauflegung mit dem Ritual der orakelhaft anmutenden 31 32 33 34 35

r Ichter (wie Anm. 6), S. 23, Anm. 138. So die in den ersten Jahrzehnten des 3. Jahrhunderts verfaßte Didaskalie. Vgl. thouzellIer (wie Anm. 4), S. 105, Anm. 55. Bruno k leInheyer , Ordinationen und Beauftragungen, in: Sakramentale Feiern II (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft Teil 8, II), hg. v. Bruno Kleinheyer u. a., Regensburg 1984, S. 44. Eduard eIchmann, Die Kaiserkrönung im Abendland, Bd. 1, Würzburg 1942, S. 87. eIchmann (wie Anm. 34), S. 87.

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Bibelbefragung verknüpfte? Der erste Vers, der beim Aufschlagen der Evangelienhandschrift in die Augen fiel (Lk 4,18), lautete, wie bereits erwähnt: »Der Geist des Herrn ruht auf mir; deshalb hat er mich gesalbt. Um den Armen das Evangelium zu verkünden, hat er mich gesandt.« 36 Durandus macht in seinem zwischen 1292 und 1295 verfaßten Pontificale eine Bemerkung, aus der hervorgeht, wie ein pragmatisch denkender Theologe des 13. Jahrhunderts die bei der Bischofsweihe praktizierte Suche nach einem Sinnspruch einschätzt. Er schreibt nämlich: Wenn der Konsekrator das geschlossene Buch von der Schulter des Ordinanden genommen hat, legt er es in dessen Hände, öffnet es und blickt auf den Bibelvers, in dem er für den Geweihten eine prognostische Botschaft ( pro[g] nosticum) zu erkennen glaubt. Durandus, den rationalen Tendenzen aufgeklärter Scholastik folgend, fügte kritisch hinzu, man solle einer solchen Gewohnheit kein Gewicht beimessen, geschweige denn sie ernsthaft pflegen.37 Dem Autor der Vita Heriberti wird man einen Mangel an Ernsthaftigkeit nicht unterstellen dürfen. Sein prognostisches Interesse ist evident. Betont er doch ausdrücklich, die über Kopf und Nacken des Kölner Erzbischofs gehaltene Heilige Schrift habe den Vers als »erste Äußerung« ( prima vox) kundgetan – ein Tatbestand, der alle Anwesenden in ehrfürchtiges Staunen versetzte. Die Suche nach einem Bibelvers, der das geistliche Leben und pastorale Handeln des künftigen Bischofs bestimmen sollte, war in den Augen von Heriberts Biograph alles andere als eine kurzweilige oder abergläubische Spielerei. Rupert von Deutz bezeichnete den durch das Aufschlagen des Evangeliars ermittelten Bibelvers als divinitatis oraculum. Zu denken gibt aber auch folgendes: Der Bibelvers (Lk 4,18), den der Konsekrator Heriberts beim Aufschlagen des Evangelienbuches findet, ist im orientalischen Ritus Bestandteil einer mit Bedacht vorgenommenen rituellen Handlung. Das entsprechende Ritual des kirchlichen Ostens schreibt nämlich vor, daß das Evangelienbuch, das geöffnet über den Ordinanden gehalten werden muß, an der Stelle aufzuschlagen ist, an welcher der Vers vom Geist Gottes, der auf dem Gesalbten des Herrn ruht und ihn zu den Armen gesandt hat (Lk 4,18), steht.38 Was in Köln im ausgehenden 10. Jahrhundert als ein gütiges Geschick Gottes betrachtet wird, ist im kirchlichen Osten geregelte Pflicht. Rupert von Deutz unterläßt es aber nicht, ausdrücklich auf den biblischen Kontext der gefundenen Bibelstelle hinzuweisen. Er erinnert daran, daß eben diesen Bibelvers, ein Zitat aus der prophetischen Schrift des Jesaja (Jes 51,1-2), auch Jesus gefunden habe, als er im Tempel öffentlich gelehrt habe. Wort für 36 37 38

Rupert von Deutz (wie Anm. 2), S. 45. santantonI (wie Anm. 15), S. 147, Anm. 21: Et mox in quibusdam ecclesiis consecrator aperit librum evangeliorum inter manus consecrati et videt pro[g]nosticum, de quo non est curandum. santantonI (wie Anm. 15), S. 146.

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Wort dem Bericht des Evangelisten Lukas folgend (Lk 4,14; 16-21), berichtet Rupert: Jesus begab sich am Sabbat in die Synagoge. Er stand auf, um zu lesen. Es wurde ihm die Jesaja-Rolle ausgehändigt, die ein Synagogendiener aus dem Thora-Schrein geholt hatte. Jesus rollte sie auf und stieß auf die Prophetenstelle. Nach der Lesung rollte Jesus die Buchrolle wieder zusammen, gab sie an den Synagogendiener zurück und setzte sich. Die Augen aller, die am Gottesdienst in der Synagoge teilnahmen, waren gespannt auf Jesus gerichtet. Der Evangelist Lukas berichtet, Jesus habe die Stelle »gefunden« (εὔρεν τὸν τόπον; invenit locum); geschah es aus Zufall, oder weil er danach gesucht hat? Bibelausleger von heute sind der Auffassung: Jesus findet die Stelle – aus der Sicht des Lukas – »unter der Führung des Geistes«.39 Rupert von Deutz war der Überzeugung, es sei Gott selber gewesen, der bei der Bischofsweihe Heriberts den in der Lukas-Perikope enthaltenen prophetischen Bibelvers »geschickt« habe (Deus hunc [oraculum] misit). Im Öffnen der Jesaja-Rolle durch Jesus erblickte Heriberts Biograph einen biblischen Typus für das bei der Bischofsweihe geübte Ritual, durch das Aufschlagen eines Evangeliars ein Prognostikon für den zu weihenden Bischof zu finden. Der Glaube, daß Gott beim Auffinden des primus versiculus (Jes 61,1-2) seine Hand im Spiel gehabt hätte, bestärkte Rupert und die bei der Bischofsweihe Anwesenden in ihrem Glauben, daß es auch der »Geist des Herrn« (spiritus do­ mini) wäre, der Heribert salbte. Rupert wollte zum Ausdruck bringen: Die beim Aufschlagen des Evangeliars gefundene Jesaja-Stelle ist mehr als eine Heribert zugedachte Devise, die seine künftige Amts- und Lebensführung bestimmen soll. Die bei der Bischofsweihe gefundene Jesaja-Stelle erschließt durch einen geschriebenen Text, was sich in der Liturgie, durch Zeichen vermittelt, geheimnisvoll ereignet. Die lectio prophetica, die von Jesus und dann auch bei Heriberts 39

So Peter müller , »Verstehst du auch, was du liest?«. Lesen und Verstehen im Neuen Testament, Darmstadt 1994, S. 182, Anm. 121, unter Berufung auf Ulrich busse , Das Nazareth-Manifest Jesu. Eine Einführung in das lukanische Jesusbild nach Lk 4,1630, Stuttgart 1978, S. 32 - 33. Busse schreibt ebenda: Lukas schildert anschaulich eine konkrete Szene, »in der Jesus beim Entrollen der Jesajaschrift wunderbarerweise gerade auf das Mischzitat [ Jes 61,1-2; 58,6] stößt. Jesus handelt aus lukanischer Sicht unter einer himmlischen Bestimmung – eben in der Kraft des Heiligen Geistes (V.14). Auf diese Weise läßt sich seine selbständige, auf die Sitte wenig Rücksicht nehmende Initiative (vgl. dagegen Apg 13,15) erklären: Jesus findet beim sabbatlichen Synagogendienst geistgeleitet in der Jesajarolle das Mischzitat, das er unaufgefordert verliest«. – Daß Jesus fand, wonach er bewußt suchte, scheint Heinz schürmann, Das Lukasevangelium. Erster Teil, Freiburg / Basel / Wien 1969, S. 229, sagen zu wollen: Die »Buchrolle aufrollend, darf er sich die Schriftstelle Is 61,1-2a suchen«. Der sprachliche Befund (εὑρίσκειν; invenire = zufällig finden, antreffen, auf jemanden oder etwas stoßen) spricht für ein auf wunderbare Weise zustandegekommenes »Finden« (Eduard l ohse , Lukas als Theologe der Heilsgeschichte, in: Evangelische Theologie 14 [1954/55], S. 256 275, hier: S. 267, Anm. 39).

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Bischofsweihe gefunden wurde, erinnert die mit heiligem Öl gesalbten Vorsteher der Kirche ( presules ecclesiae) daran, daß auch sie wissen müssen und gleich Jesus von sich sagen können: »Der Geist Gottes [ruht] auf mir, deswegen, weil er mich gesalbt hat. Den Armen die Frohbotschaft zu bringen, hat er mich gesandt« (Lk 4,18; Jes 61,1). Jesus, Gottes Heilsbringer schlechthin, erfüllte die prophetische Verheißung des Jesaja. Ein Bischof, der durch seine Salbung ein ›alter Christus‹ geworden ist, begibt sich in die unmittelbare Nachfolge Jesu und setzt fort, was dieser begonnen hat. Der in Köln geübte Brauch der Bibelbefragung hatte in der Geschichte der abendländischen Christenheit Tradition. Chronisten und Biographen berichten von vielen Situationen, in denen sich bei Rat-, Hilfe- und Entscheidungsuchenden das Bedürfnis regte, mit Hilfe der Bibel sich einer von Gott autorisierten Wegweisung zu vergewissern. Bei Bischofswahlen des Frühen Mittelalters sind immer wieder Psalter, Apostelbriefe und Evangelien aufgeschlagen und befragt worden, um Prozesse der Meinungsbildung in eine bestimmte Richtung zu lenken oder bereits getroffenen Entscheidungen im nachhinein ein höheres Maß an religiöser Legitimität zu verschaffen. Desgleichen spielte in Bekehrungsgeschichten heiliger Mönche, Bischöfe und Theologen das Aufschlagen von Evangelienhandschriften oder das Blättern im Psalter eine ausschlaggebende Rolle. Augustinus erinnert in seinen ›Confessiones‹ (VIII,12) an das Beispiel des Eremiten Antonius (251/252–356), der »durch eine Evangelienlesung, zu der er wie durch Zufall kam, sich mahnen ließ, als ob an ihn gerichtet wäre, was verlesen wurde: ›Geh hin, verkaufe alles, was Du hast, und gib’s den Armen, so wirst Du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir‹ (Mt 19,21)«. Aufgrund dieser prophetischen Weisung (oraculum) habe sich Antonius spontan bekehrt. Augustinus selber machte dieselbe Erfahrung. Die Rahmenbedingungen seiner Umkehr gingen als Gartenszene von Mailand (Conf. VIII,12) in die Literatur ein. Augustinus vernahm »aus dem Nachbarhause eine Stimme, als ob ein Knabe oder Mädchen […] singenden Tones spräche und oftmals wiederholte: Nimm, lies! Nimm lies!« Augustinus deutete diese Rufe als eine Aufforderung Gottes, »die Schrift zu öffnen und das erste Stück zu lesen, worauf mein Auge fiele«. Als er die Handschrift mit den Paulusbriefen öffnete, stieß er auf des Apostels Mahnung: »Nicht in Gelagen und in Zechereien, nicht in Schlafkammern und Unzucht, nicht in Haß und Hader laßt uns wandeln, sondern ziehet an den Herrn Jesus Christus und pflegt das Fleisch nicht zur Erregung eurer Lüste.« (Röm 13,13–14.) Der hl. Franziskus (1182–1226) befragte die Evangelien, um die religiöse Entschlossenheit seiner beiden ersten Gefährten auf die Probe zu stellen. In der Nikolaus-Kirche von Assisi flehten sie gemeinsam zu Gott, »er möge ihnen beim ersten Aufschlagen des Evangelienbuches seinen Willen kundtun«. Nicht weniger als drei Mal hat er die Bibel aufgeschlagen, um

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den Willen Gottes zu erfahren.40 Die Bibelstellen, die er bei dieser dreimaligen Prozedur fand, betrachtete er zum einen als Bestätigung für die Entschlossenheit seiner Gefährten, kompromißlos nach der »Form des Evangeliums« leben zu wollen; zum anderen war er davon überzeugt, die so ermittelten Jesusworte zu Fundamenten für die Lebensordnung seiner Gemeinschaft machen zu sollen. Mit magischer Manipulation hatte eine so gehandhabte Bibelbefragung nichts zu tun. Sie speiste sich aus dem Glauben an einen Gott, der nicht stumm bleibt, wenn man ihn fragt, sondern die Heilige Schrift, einen von ihm selber inspirierten und diktierten Text, zu einer Quelle helfender Antworten macht.

2. Die traditio evangelii in unterschiedlichen rituellen Kontexten: bei der Priester-, Bischofs- und Papstweihe, bei der Taufe und beim katharischen Consolamentum Die Übergabe von Amtsinsignien (traditio instrumentorum) bei der Weihe kirchlicher Amtsträger begegnet bereits im Frühen Mittelalter. Zu den instrumenta, deren Übergabe bei der Erteilung niederer Weihen das um 845 für Bischof Raganaldus von Marmoutier angefertigte Sakramentar (Autun, Bibliothèque Municipale 19, fol. 1v) schildert und abbildet, gehört auch das Buch. Der Ostiarier hält als Amts- und Würdezeichen zwei Schlüssel in Händen, der Subdiakon einen Kelch und eine Kanne, der Akolyth eine Kerze; Lektor und Exorzist, die für ihre Dienste Texte brauchen, tragen Bücher.41 Nach den Anweisungen des Pontificale Romano­Germanicum (955) soll dem Diakon bei seiner Weihe mit den Worten »Empfange die Vollmacht, das Evangelium in der Kirche vorzulesen,«42 ein Evangeliar ausgehändigt werden. Nach der ordinatio lectoris, wie sie das Ponti­ ficale Romanum (12. Jahrhundert) gestaltet wissen will, soll dem Lektor bei seiner Weihe ein codex übergeben werden. Der ihn weihende Bischof solle dies mit der Aufforderung tun, ein »Berichterstatter von Gottes Wort« (verbi Dei relator) zu sein, der verläßlich und zum Nutzen anderer die Pflichten seines Amtes erfüllt.43 Nähere Angaben über die Art dieses Codex, der einem Diakon bei seiner Weihe ausgehändigt werden soll, macht das Pontificale romanae curiae (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts). Demnach handelt es sich um ein Lektionar (lectioniari­ unt, liber scilicet prophetarum sive prophetiarum) mit alttestamentlichen Texten, die als

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Franz von Assisi. Legenden und Laude, hg. v. Otto k arrer , Zürich 1945, S. 54 - 55. r eynolds (wie Anm. 21), S. 28, Fig. 1. k leInheyer (wie Anm. 33), S. 42: Accipe potestatem legendi Evangelium in ecclesia Dei. Michel a ndrIeu, Le Pontifical Romain au Moyen Âge, Bd. 1, Vatikan 1938, S. 126.

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Epistel bei der Feier der hl. Messe vorgelesen werden.44 Das Pontificale G. Durandi (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts) sieht vor, daß der Übergabe des Lektionars eine Ansprache des Bischofs vorausgeht. In dieser wird der Lektor ermahnt, »klar und deutlich die heiligen Lesungen zum Verständnis und zur Erbauung der Gläubigen ohne jede Lüge der Falschheit vorzutragen« (lectiones sacras distincte et aperte ad intelligentiam et edificationem fidelium absque omni mendatio falsitatis proferre). Was er mit dem Munde vorlese, möge er mit dem Herzen glauben und in seinem Tun vollbringen, auf daß er seine Zuhörer nicht nur durch sein Wort, sondern auch durch sein Beispiel belehre.45 Dem Exorzisten soll bei seiner Weihe ein Büchlein (libellus) ausgehändigt werden, in dem die Gebetstexte enthalten sind, die bei Exorzismen gebraucht werden.46 Seit dem 10. Jahrhundert gehört die traditio evangeliorum auch zur Bischofsweihe. Die Übergabe des geschlossenen Evangelienbuches erfolgt nach der Übergabe von Ring und Stab. Der Segenswunsch, den der Konsekrator spricht, wenn er dem geweihten Bischof das Evangeliar überreicht, erschließt den Sinn des Rituals. Er lautet gemeinhin: »Empfange das Evangelium und gehe von dannen, predige dem dir anvertrauten Volk.«47 Der Text, der an die Aussendungsrede Jesu anknüpft (Mt 28,19–20), will dem Geweihten seinen Verkündigungsauftrag einschärfen. Die Übergabe des Evangeliars bedeutet »Teilhabe am Prophetenamt Jesu Christi«48. Der geweihte Bischof soll dem ihm anvertrauten Volk ( populo tibi commisso) das Evangelium verkünden. Im Rahmen der Papstweihe läßt sich die Übergabe des Evangelienbuches erst seit dem 13. Jahrhundert nachweisen. Das Pontificale secundum consuetudinem et usum romanae curiae schreibt vor, daß dem päpstlichen Ordinanden nach der Übergabe von Ring und Stab auch ein Evangeliar überreicht wird. Dieses ist vermutlich identisch mit jenem, das während der Weihepräfation, der Handauflegung und Salbung auf dem Nacken des Papstes liegt. Bei der Übergabe wird dem Papst – im Unterschied zum Bischof – aufgetragen, das Evangelium dem ganzen Volk (universo populo) zu verkündigen. »Die Übergabe des Evangelienbuches und die Erinnerung an den Verkündigungsauftrag des Herrn kann sicher eine ähnlich starke Zeichenhaftigkeit für sich beanspruchen wie die Ringübergabe. Dem neuen Bischof von Rom wird mit diesem Ritus die unerläßliche Pflicht zur Glaubensverkündigung vor Augen geführt.«49 44 45 46 47 48 49

a ndrIeu (wie Anm. 43), Bd. 2, S. 331. a ndrIeu (wie Anm. 43), Bd. 3, S. 342 - 343. a ndrIeu (wie Anm. 43), Bd. 2, S. 332; Bd. 3, S. 344. santantonI (wie Anm. 16), S. 272 - 273, und zu den Entstehungsbedingungen dieses Rituals S. 147 - 149. k leInheyer (wie Anm. 33), S. 53. r Ichter (wie Anm. 6), S. 65, Anm. 135; S. 66.

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Mit der traditio evangeliorum bei der Taufe verbinden sich andere Vorstellungen. In Hinblick auf die Geschichte des Taufrituals ist anzumerken, daß die Evangelien nicht von Anfang an zu jenen Texten gehörten, die Taufbewerbern vor dem Empfang des Taufsakraments erklärt und als geistiges Besitztum übereignet wurden.50 Seit dem 4. Jahrhundert wurden den Katechumenen nur das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis übergeben. Der traditio dieser Glaubensformeln entsprach eine redditio, in welcher Taufbewerber eben diese Glaubensformeln wieder zurückgaben. »Rückgabe« meinte in diesem Zusammenhang den Nachweis darüber, daß Taufbewerber das ihnen aufgetragene Lernpensum erfüllt und sowohl das Credo als auch das Paternoster durch Auswendiglernen zu ihrem geistigen Besitztum gemacht hatten. Wie man sich die Tradierung des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers vorzustellen hat, geht aus einer Predigt des Mailänder Bischofs Ambrosius (339–397) hervor. Gemäß seinen Angaben erklärt der die Taufe spendende Bischof »den Ursprung des Symbolums, trägt dann den Text vor, erläutert wichtige Passagen, rezitiert wiederum den Text, grenzt den Wortlaut gegen häretische Versionen ab und trägt nach weiteren Hinweisen den Text ein drittes Mal vor. Diesen Text sollen die Kompetenten (die in ihrer Vorbereitung für den Empfang des Taufsakraments fortgeschrittenen Taufbewerber) nun auswendig lernen, im Blick auf ihre volle Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft, die ihnen in der Taufe zuteil wird.«51 Um das Memorieren zu erleichtern, empfiehlt Augustinus den competentes, »das Symbol öfters zu wiederholen, des Morgens beim Aufstehen, des Abends, wenn sie sich zu Bette legen«.52 Von Augustinus ist außerdem zu erfahren, daß die Übergabe des Credo drei Wochen vor Ostern erfolgte. Am darauf folgenden Sonntag, an dem die Taufbewerber das ihnen anvertraute Glaubensbekenntnis wiederum zurückgaben, wurde ihnen das Vaterunser übergeben. Bei letzterem hat man offenkundig auf eine explizite Rückgabe verzichtet. Die Mündlichkeit 50

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Nach der Kirchenordnung Hippolyts (um 220) wurden »die Katechumenen während ihres dreijährigen Unterrichts, den sie vielleicht im Hause eines Lehrenden empfingen, zur Lesung des Evangeliums anscheinend nicht zugelassen«. ›Das Testament unseres Herrn Jesus Christus‹, eine in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts angefertigte Umarbeitung und Erweiterung von Hippolyts Kirchenordnung, bestimmte: Die Katechumenen sollen den gottesdienstlichen Raum verlassen, »während das Evangelium oder [sonst etwas aus dem] NT verlesen wird«; vgl. Otto m Ichel , Evangelium, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 6, Sp. 1153. Bruno k leInheyer , Sakramentliche Feiern I. Die Feiern der Eingliederung in die Kirche (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft Teil 7, 1), Regensburg 1989, S. 70. Ludwig eIsenhoFer , Handbuch der katholischen Liturgik, Bd. 2, Freiburg i. Br. 1933, S. 249.

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der Rückgabe entsprach dem Bildungsniveau der erwachsenen Täuflinge, die in ihrer überwiegenden Mehrheit weder lesen noch schreiben konnten. Oralität trug überdies den Erfordernissen einer Arkandisziplin Rechnung, die verhindern wollte, daß christliche Glaubensgeheimnisse von Gegnern des Christentums verachtet, verspottet und mißbraucht wurden. Deshalb war es den Gläubigen auch verboten, den Text des Glaubensbekenntnisses schriftlich festzuhalten.53 Ein besonderes Ritual der Buchübergabe pflegte die Kirche von Neapel. Dort hat sich im 6. Jahrhundert eine rituelle Übergabe der Psalmen (traditio psal­ morum) herausgebildet. Den fortgeschrittenen Katechumenen (competentes) wurde Psalm 23 (22) oder statt dessen der kürzere, leichter auswendig zu lernende Psalm 117 (116) ausgehändigt – und dies nicht nur mündlich, sondern auch zeichenhaft durch die Übergabe geschriebener Psalmen. Bei dieser feierlichen Übergabe der Psalmen, die vor der Übergabe des Taufbekenntnisses erfolgte, wurde den Taufbewerbern eine Psalterhandschrift in die Hände gelegt. Zwei Psalmen wurden dabei den Täuflingen vorgelesen: Psalm 23 (22) und Psalm 117 (116). Dann wurden die Taufkandidaten vom taufspendenden Bischof aufgefordert: »Behaltet diese Psalmverse im Gedächtnis, gebt sie in mündlichem Bekenntnis wieder! Behaltet den euch übergebenen Psalm, und wenn ihr ihn in der Sprache behalten habt, gebt ihn wieder durch euer Leben, eure Stimme, euer Verhalten.«54 Auf die Übergabe der Psalmen (traditio psalmorum) folgte deren Rückgabe (redditio psalmorum) durch den Täufling. Dieser gab die ihm anvertrauten Psalmen dadurch zurück, daß er sie auswendig hersagte. Auf diese Weise konnte er unter Beweis stellen, daß er Davids Lieder seinem Gedächtnis eingeschrieben hatte. Zu Recht ist gesagt worden: In der Katechumenenunterweisung der Alten Kirche »war ohne Auswendiglernen nicht auszukommen. Die beiden wichtigsten Formeln, das Glaubenssymbol und das Gebet des Herrn, sollten den zukünftigen Christusbekenner auf seinem ferneren Lebensweg begleiten; also mußte der Katechumene sie seinem Gedächtnis einprägen, zumal die Formeln unter dem mindestens seit dem 3. Jahrhundert herrschenden Gesetz der Arkandisziplin nicht schriftlich mitgegeben werden konnten.«55

Zum Taufritus der römischen Liturgie, wie er im ›Sacramentarium Gelasianum‹ (nach 600) und im römischen ›Sieben-Skrutinium-Ritual‹ (Ordo Romanus XI) 53 54 55

eIsenhoFer (wie Anm. 52), S. 249. Johannes quasten, Der Psalm vom Guten Hirten in altchristlicher Kultmystik und Taufliturgie, in: Liturgisches Leben 1 (1934), S. 140. Vgl. auch Jean danIélou, Le psaume XXII et l’initiation chrétienne, in: La maison-Dieu 23 (1950), S. 54 - 69. Theodor k lauser , Auswendiglernen, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 1, Sp. 1030 - 1039.

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(zwischen 650 und 700) beschrieben wird, gehört auch eine traditio evangeliorum. Die Einführung eines solchen Brauches stand im offenkundigen Widerspruch zu Bestrebungen, »das Evangelium ebenso wie das Herrengebet und das Taufsymbol einer Art von Arkandisziplin zu unterwerfen«.56 Das römische Taufritual wollte durch seine Texte und rituellen Handlungen nicht allein die Symbolkraft des Wassers ausschöpfen, sondern auch die Heilsbedeutung des Gotteswortes veranschaulichen. Deshalb hat es der Übergabe des Evangeliums an die Taufbewerber eine besonders feierliche Form gegeben. Bei der dritten Versammlung der Täuflinge kommen nach dem Graduale vier Diakone aus der Sakristei und gehen auf den Altar zu. Ihnen voraus ziehen Akolythen, die Leuchter und Weihrauchfässer tragen. Jeder der Diakone trägt ein Evangeliar und legt dieses auf eine der vier Ecken des Altars. Vier Mal findet eine Prozession zum Ambo statt. Jeder der Diakone liest dort den Anfang seines Evangeliums. Zu Beginn der jeweiligen Zeremonie gibt der Presbyter eine schriftlich festgelegte und deshalb ständig gleichbleibende Einführung und Erklärung. Er erläutert, was ein Evangelium ist – eine gute Botschaft von der Ankunft unseres Herrn Jesu Christi im Fleisch nämlich, so wie es die Propheten des Alten Bundes vorausverkündet haben; er begründet ihre Vierzahl und sucht, von der Vision des Tetramorph durch den Propheten Ezechiel ausgehend, verständlich zu machen, weshalb Matthäus durch das Bild des Menschen symbolisiert wird, Markus durch das Bildnis des Löwen, Lukas durch das des Stiers und Johannes durch das des Adlers. Die Viergestaltigkeit des Evangeliums so zu erklären, entsprach altkirchlicher Tradition.57 56 57

m Ichel (wie Anm. 50), Sp. 1153. Vgl. Bischof Irenäus von Lyon (2. Jahrhundert) in seiner Schrift ›Adversus haereses‹, in der er die falsche Gnosis als Irrlehre zu entlarven suchte: »Da es in der Welt, in der wir uns befinden, vier Gegenden und vier Hauptwindrichtungen gibt und die Kirche über die ganze Erde ausgesät ist, das Evangelium aber die Säule und die Grundfeste der Kirche und ihr Lebenshauch ist, so muß sie naturgemäß auch vier Säulen haben, die von allen Seiten Unsterblichkeit aushauchen und die Menschen wiederbeleben. Daraus ergibt sich, daß das als Urheber des Weltalls über den Cherubim thronende und alles umfassende Wort, als es den Menschen sich offenbarte, uns ein viergestaltiges Evangelium gab, das aber von einem Geist zusammengehalten wird. Wie auch David im Verlangen nach seiner Ankunft ausruft: ›Der du thronest über den Cherubim, erscheine.‹ (Ps 79,1) Die Cherubim haben vier Gesichter, und diese ihre Gesichter sind die Abbilder der Heilsrichtung des Sohnes Gottes. ›Das erste Tier‹, heißt es, ›ist ähnlich einem Löwen‹ (Offb 4,7), um seine Kraft, Herrschaft und königliche Art auszudrücken. ›Das zweite ist ähnlich einem jungen Stier‹, um seine Opfer- und Priesterstellung anzuzeigen. ›Das dritte hat das Angesicht eines Menschen‹, um seine Ankunft in Menschengestalt aufs deutlichste zu bezeichnen. ›Das vierte ist ähnlich einem fliegenden Adler‹, um die Gnadengabe des auf die Kirche ausströmenden Geistes kundzutun.« (Zit. nach Wilhelm nyssen, Evangelium und Evangelienbuch in der

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Der Text zur Übergabe des Credo bezeichnet das Glaubensbekenntnis als Zusammenfassung der Evangelien. Er lädt die Taufbewerber dazu ein, »den Glauben mit ganzem Herzen aufzunehmen« und das Symbolum »nicht auf vergänglichen Stoff, sondern auf die Seiten des Herzens einzuschreiben«. Die Übergabe des Vaterunser kommt einer Ermahnung zum Glauben gleich, das Herz »vor den Tücken des Feindes« zu bewahren und allein für Gott zu öffnen. Die Übergabe und Erklärung des Evangeliums zielt darauf ab, »die Ohren der Täuflinge zu öffnen« und ihren Geist erstarken zu lassen. »Wir wollen euch zur Kenntnis bringen«, heißt es da, »was das Evangelium ist […], damit ihr, die ihr zur Öffnung der Ohren gekommen seid, in eurem Geist nicht schwach werdet«.58 Die Gestalt dieses Taufritus setzte lernfähige und lernwillige Erwachsene voraus. Alle vorbereitenden Riten – die Übergabe des Symbolums, des Vaterunsers und der Evangelien – »wollen in erster Linie den Glaubensakt samt seiner lehrhaften und lebensmäßigen Implikationen entfalten helfen und so zur Taufe vorbereiten. Denn unmittelbar bei der Taufe wird in feierlicher Form das ausdrückliche Bekenntnis zum dreieinigen Gott erfragt; nur im Glauben an ihn kann die Taufe empfangen werden.«59 Veränderten Verhältnissen angepaßt wurde dieses Ritual, als die spätantike und frühmittelalterliche Kirche dazu überging, unmündigen Kindern, die einer eigenen Glaubensentscheidung noch nicht fähig waren, das Taufsakrament zu spenden. Der in Rom im 6. und 7. Jahrhundert geübte Taufritus sah vor, daß bei der Übergabe des Glaubensbekenntnisses ein Akolyth den Text des Credo in Latein – im Bedarfsfalle auch in Griechisch – sang. Dies zeigt: »Die am Morgen des Karsamstag fällige Wiedergabe des Glaubensbekenntnisses (redditio symboli), die ursprünglich das Auswendiglernen hatte überprüfen sollen, ist bereits an einen Presbyter übergegangen; man rechnete also schon gar nicht mehr damit, daß die Täuflinge diesen Text auswendig kannten. Der Grund liegt darin, daß die Taufbewerber inzwischen nur noch Kinder waren.« 60 Das Credo, in dem der erwachsene

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Liturgie des christlichen Ostens, in: Wort und Buch in der Liturgie. Interdisziplinäre Beiträge zur Wirkmächtigkeit des Wortes und Zeichenhaftigkeit des Buches, hg. v. Hanns Peter neuheuser , St. Ottilien 1995, S. 388.) Liber sacramentorum Romanae Aecclesiae ordinis anni circuli. Sacramentarium Gelasianum, hg. v. Leo Gunibert mohlberg u. a. (Rerum Ecclesiasticarum Documenta, Series maior 4), Rom 1960, S. 46 - 53. Vgl. auch Handbuch der Liturgiewissenschaft, Bd. 2, hg. v. Aimé-Georges m artImort u. a., Leipzig 1961, S. 66. Arnold a ngenendt, Kaiserherrschaft und Königstaufe. Kaiser, Könige und Päpste als geistliche Patrone in der abendländischen Missionsgeschichte, Berlin / New York 1984, S. 23. Arnold a ngenendt, Der Taufritus im frühen Mittelalter, in: Segni e riti nella chiesa altomedievale occidentale (Settimane di Studio dei Centro Italiano di Studi sull’Alto

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Taufbewerber seine freie Entscheidung für den christlichen Glauben bekundet hatte, spricht nunmehr stellvertretend für den Täufling ein Kleriker oder – wie es langfristig rituelle Praxis wurde – der Taufpate ( fideiussor; pater ex lavacro; pater spiritualis; mater spiritualis). Der Brauch der Evangelienübergabe bei der Taufe hat das Hohe Mittelalter nicht überlebt.61 Vielfach wurde die traditio evangeliorum durch Lesungen von Evangelientexten ersetzt, die aber vom ursprünglichen Gedanken der Evangelienübergabe und der damit verbundenen Zeremonie nichts mehr zu erkennen gaben. Das Verschwinden des Rituals bedingte sich aus dem Übergang von der Erwachsenen- zur Kinder- und Säuglingstaufe. Gefördert und beschleunigt wurde dieser Traditionsverlust überdies durch eine »Verdrängung des Katechetischen durch das Liturgische«.62 Der Vollzug selbstwirksamer sakramentaler Akte wurde höher eingeschätzt als die Vermittlung und Aneignung von Glaubenswissen, das zum Verstehen des Geglaubten und kultisch Gefeierten anleitete. »Der exorzistische Kampf gegen den Satan bildet das zentrale Thema, demgegenüber die lehrmäßig-katechetischen Elemente zurücktreten müssen.« 63 Auch mag die Tatsache eine Rolle gespielt haben, daß die Bibel, wie sie im Hohen Mittelalter von Kirchenmännern und Theologen betrachtet wurde, keinen sinus popularis, keinen, wie Augustinus gesagt hatte, für das Volk bestimmten Schoß mehr besaß und zum ausschließlichen Besitztum des ordinierten Kirchenk-

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Medioevo XXXIII), Bd. 1, Spoleto 1987, S. 290. – Zu den Akolythen, die das Glaubensbekenntnis in lateinischer oder griechischer Sprache vorsingen, vgl. Ludwig eIsenhoFer , Handbuch der katholischen Liturgik, Bd. 2, Freiburg i. Br. 1933, S. 254; Alois stenzel , Die Taufe. Eine genetische Erklärung der Taufliturgie, Innsbruck 1968, S. 228; Arnold a ngenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 464. Zu den Paten, die bei der Säuglingstaufe stellvertretend für den Täufling antworten (respondere pro), vgl. Bernhard jussen, Patenschaft und Adoption im frühen Mittelalter. Künstliche Verwandtschaft als soziale Praxis (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 98), Göttingen 1991, S. 138 - 164. Die frühesten Zeugnisse für Patenschaften, die dadurch zustandekommen, daß nichtelterliche Personen an Stelle des Kindes antworten und den Glauben bekennen, stammen aus dem beginnenden 6. Jahrhundert (ebd., S. 153 - 158). m artImort (wie Anm. 58), Bd. II, S. 66; Klaus gamber , Ecclesia Reginensis. Studien zur Geschichte und Liturgie der Regensburger Kirche im Mittelalter, Regensburg 1979, S. 116; Hermann Josef sPItal , Der Taufritus in den deutschen Ritualien von den ersten Drucken bis zur Einführung des Rituale Romanum, Münster 1968, S. 86 - 95. sPItal (wie Anm. 61), S. 86 - 95. Hermann Josef sPItal , Der Taufexorzismus und seine Kritik in der Theologie des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Die Mächte des Guten und Bösen. Vorstellungen im XII. und XIII. Jahrhundert über ihr Wirken in der Heilsgeschichte, hg. v. Albert zImmermann (Miscellanea Medievalia 11), Berlin / New York 1977, S. 396.

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lerus geworden war. Laien sollten die Bibel nicht selbständig lesen, sondern sich biblische Texte von geweihten Klerikern vorlesen und erklären lassen.64 Dem Ritual der Evangelienübergabe lag in seiner ursprünglichen Form die Absicht zu Grunde, künftige Christen mit den Quellen der christlichen Heilsbotschaft vertraut zu machen. Der geistig-religiösen Übergabe entsprach jedoch keine körperlich-materielle, die es Taufbewerbern aus dem Laienstand ermöglicht hätte, das Evangelienbuch anzufassen und in die Hand zu nehmen. Ein Gegenstand, der als geheiligtes Altargerät beim Gottesdienst Verwendung fand, durfte durch Laienhände nicht verunreinigt werden. Die für die Gestaltung des Rituals Verantwortlichen legten allem Anschein nach Wert darauf, auch durch die Handhabung heiliger Bücher die Distanz zwischen Laien und Klerikern sichtbar zum Ausdruck zu bringen. Bei den Katharern markierte die Übergabe des Vaterunsers und des Evangeliums den Unterschied zwischen »Gläubigen« (credentes) und »Vollkommenen« ( perfecti). Nur dem Vollkommenen, dem bei der Aufnahmezeremonie, dem sogenannten consolamentum, das Vaterunser übergeben wurde, kam das Recht zu, sich des Herrengebetes als Gebetsformel zu bedienen. Der breiten Masse der Anhänger, die noch Satans Herrschaft ausgeliefert waren, blieb dieses Recht vorenthalten; sie durften Gott nicht als ihren Vater anrufen.65 Nur der Empfang des consolamentum berechtigte zur vollen Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft katharischer Christen. Den ersten Akt der Aufnahmezeremonie bildete die traditio orationis dominicae. Dem künftigen Vollendeten wurde, wie Ordnungen des katharischen Kultes aus dem 13. Jahrhundert zu entnehmen ist, das Vaterunser vom Bischof der jeweiligen Gemeinde oder von einem bereits Vollendeten, der an Stelle des Bischofs die Aufnahme vornahm, ausgelegt und feierlich vorgesprochen. Der Neuling mußte es nachsprechen. Dann wurde ihm unter Anrufung des Heiligen Geistes ein Evangelienbuch auf den Kopf gelegt. Wie bei der Priester- und Bischofsweihe war mit der Übergabe des Vaterunsers die apostolische Handauflegung verbunden – jener Gestus also, durch den sich der vom Himmel herabgerufene Heilige Geist den zu Weihenden mitteilte. Der Bischofsweihe nachgebildet waren nicht nur das Auflegen des Evangelienbuches und die Handauflegung, sondern auch die ausgestreckten Arme, die von den Vollendeten über das neue Gemeindemitglied gehalten wurden.

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Vgl. dazu Klaus schreIner , Volkssprachliche Bibelmagie und volkssprachliche Bibellektüre, in: Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, hg. v. Peter dInzelbacher / Dieter R. bauer , Paderborn u. a. 1990, S. 356. Malcolm D. l ambert, Ketzerei im Mittelalter. Häresien von Bogumil bis Hus, München 1981, S. 166.

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Wie die receptio orationis sancte und auch die acceptio libri bei der Erteilung des consolamentum vor sich ging, ist aus den erhaltenen Quellen ausnehmend genau zu erfahren.66 Die vierte Vaterunser-Bitte richtet sich bei den Katharern nicht auf das tägliche Brot ( panis quotidianus), um das die anderen Christen bitten, sondern auf das geistliche übernatürliche Brot der göttlichen Lehre, den panis su­ persubstantialis, der mit der lex Christi und den spiritualia precepta legis et prophetarum identisch ist. Die Gebote des Gesetzes und der Propheten soll der Vollendete als Fleisch und Leib Christi betrachten und sie, dem Beispiel des Apostels Johannes folgend, wie ein von Gott geoffenbartes Buch Gottes entgegennehmen und essen (Offb 10,9–10).67 Hat der Neuling, der in den Kreis der Vollendeten aufgenommen werden soll, das ihm vorgesprochene Vaterunser Wort für Wort wiederholt soll er aus den Händen des Bischofs ein Buch empfangen, in dem die praecepta Christi aufgezeichnet sind.68 Dann wird der Aspirant von dem amtierenden Liturgen (ordinatus) gefragt, ob er die geistliche Taufe empfangen wolle. Hat er diese Frage bejaht, hält der Ordinatus eine Predigt, in der er die »geistliche Taufe Jesu Christi« gegen die von Johannes dem Täufer gespendete Bußtaufe abgrenzt. Außerdem legt er die Gebote katharischer Lebensführung dar, die zu halten der Täufling versprechen muß. Das Initiationsritual schreibt des weiteren vor, daß der künftige Vollendete das Buch, wohl eine Handschrift mit allen vier Evangelien oder dem Evangelium des Johannes, an den Ordinatus, der die Aufnahme vornimmt, zurückgibt. Dann legt ihm dieser das Buch auf den Kopf, und alle Anwesenden halten ihre Hände über sein Haupt. Der Ordinatus spricht dabei die trinitarische Formel »im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«, eine Segensformel, das Vaterunser und den Anfang des Johannes-Evangeliums.69 Das als Taufe definierte Ritual, das den Täufling

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thouzellIer (wie Anm. 4 ), S. 196 - 222 (De receptione orationis sancte); S. 224 (De acceptione libri). thouzellIer (wie Anm. 4 ), S. 202, 208, 210. thouzellIer (wie Anm. 4 ), S. 224, 246. Anton E. schönbach vertrat in seinen Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt (Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien, Bd. 147), Wien 1904, S. 1 - 151, unter Berufung auf Ignaz von Döllinger die Auffassung, daß der amtierende Liturge (ordinatus), der das consolamentum vornahm, den Johannes-Prolog nicht vollständig zitierte, sondern nur die Verse 1 - 14 anführte, denn Vers 15 »bietet die Berufung auf das Zeugnis Johannes des Täufers für Christus. […] Johannes der Täufer aber galt den Katharern als eine Verkörperung des bösen Prinzips, als ein von Satan abgesandter Engel, der die Aufgabe hatte, dem Heiland entgegen zu wirken« (94). Der Evangelist Johannes hingegen wurde »als ein von Gott auf die Erde gesandter Engel« verehrt (93).

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Abb. 4: Inthronisiertes Evangelienbuch, das Christus als das Haupt und den Mittelpunkt des Konzils repräsentiert (um 800). Paris, Bibliothèque Nationale, ms. grec 510, fol. 355r.

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von allen Sünden reinigt und ihm den Heiligen Geist eingießt, endet damit, daß der zu einem wahren Christen gewordene Vollendete das Buch küßt.70 In der antihäretischen Literatur christlicher Autoren ist die von den Katharern geübte Aufnahmezeremonie immer wieder beschrieben und als häretische Gewohnheit gebrandmarkt worden.71 Das braucht nicht zu verwundern. Wurde doch denen, die sich den Katharern anschlossen, durch das Auflegen des Evangelienbuches eine Form der Initiation zuteil, die in ihrem äußeren Vollzug mit einem Ritual identisch war, das in der christlichen Kirche nur bei der Weihe eines Bischofs oder Papstes Anwendung fand. Im verschiedenartigen Umgang mit heiligen Büchern spiegeln sich unterschiedliche theologische Auffassungen über den richtigen Weg zum Heil, desgleichen unterschiedliche Vorstellungen über den Aufbau und die Ordnung christlichen Gemeinschaftslebens. Päpste und Bischöfe sollten sich durch das Auflegen und die Übergabe des Evangelienbuches daran erinnert fühlen, daß sie von Amts wegen zur Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi verpflichtet sind. Einem Lektor oder Diakon, der bei seiner Weihe ein Buch, d. h. ein Lektionar mit Texten für die Epistellesung bei der Meßfeier, erhält, wird mit der Übergabe des Buches die Vollmacht des Vorlesens übertragen. Selbständig predigen darf er nicht. Die vier Evangelien, die bei der Taufe auf die vier Ecken des Altars gelegt werden, präsentieren sich dem Täufling und künftigen Christen als die zentralen Quellen der christlichen Heilsbotschaft. Ein solches Ritual weist dem Laien, der getauft werden soll, die Rolle eines gehorsamen Zuhörers zu, nicht die eines selbständigen Lesers. Der katharisch denkende und glaubende christianus hingegen darf sich durch das Evangeliar, das ihm auf den Kopf gelegt wird, in der Überzeugung bestärkt fühlen, ein Kenner der wahren göttlichen Lehre zu sein. Als Akt der Vergemeinschaftung gliedert das Ritual in die wahre Kirche Jesu Christi ein, in der es allen Vollendeten gegeben ist, die Geheimnisse des Himmelreiches zu verstehen (Mt 13,11).

3. Die Thronsetzung des Evangeliums bei kirchlichen Konzilien Das geöffnete Evangelienbuch, das auf einen Thron gestellt wurde, wenn sich der hohe Kirchenklerus zur Abhaltung eines Konzils versammelte, evozierte

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schönbach (wie Anm. 69), S. 256 - 258. schönbach (wie Anm. 69), S. 272, 275, 277, 278.

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andere Bedeutungen.72 Das heilige Buch, betonten spätantike und frühmittelalterliche Theologen, verweise auf den in der Heiligen Schrift gegenwärtigen Christus, der im Kreis der bischöflichen Synodalen den Vorsitz führen soll (Abb. 4). Unmittelbar nach der allgemeinen Kirchenversammlung von Ephesos (431) erklärte Kyrill von Alexandrien den Kaisern Theodosius und Valentinian: »Am folgenden Tag versammelten wir uns in der heiligen großen Marienkirche; das heilige Evangelium lag auf dem mittleren Thron und zeigte uns an, daß Christus selbst anwesend war«. Kyrill wollte den beiden Herrschern verständlich machen: Das Evangelium auf dem unbesetzten, personenlosen Thron ist als Symbol Christi zu verstehen, der als Vorsitzender des Konzils – vermittelt durch das Wort der Heiligen Schrift – unter den Konzilsteilnehmern gegenwärtig ist.73 Dem Hinweis auf den unbesetzten Thron ist zu entnehmen, daß der Kaiser an der Kirchenversammlung nicht teilnahm. Wäre er da gewesen, hätte er zweifelsohne auf dem Thron den Platz des Vorsitzenden eingenommen. Die Inthronisation des Evangeliars, die auf den folgenden Konzilien wiederholt wurde und auf diese Weise den Charakter eines Rituals annahm, mag deshalb auch durch die Abwesenheit des Kaisers veranlaßt gewesen sein. So jedenfalls sah es Evangelos Chrysos, der Vorsitzende des Konzils, der, weil der Kaiser fehlte, es nicht bei einer Vakanz des Thrones belassen wollte. Ist angesichts dieser Situation der durch das Evangelium repräsentierte Christus nur als »legitimierender Kaiser-Ersatz« inthronisiert worden? Dies bestimmt nicht: »Implizit wurde Christus in Ephesos freilich als der ›wahrere‹ Präsident reklamiert, der den kaiserlichen Prokurator nicht bloß ersetzte, sondern qualitativ natürlich weit übertraf.«74 Hält man sich an das Zeugnis der Bilder, gab es auf den allgemeinen Synoden des kirchlichen Ostens einen sichtbaren und einen unsichtbaren, einen weltlichen und einen himmlischen Vorsitzenden. »Das beherrschende Thema der Konzils-Ikonographie ist die mystische Präsidialfunktion Christi und der sichtbar vom Kaiser eingenommene Vorsitz.«75

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73 74 75

Vgl. dazu beIssel (wie Anm. 25), S. 2 - 4; Hermann-Josef sIeben, Konzilsdarstellungen – Konzilsvorstellungen. 1000 Jahre Konzilsikonographie aus Handschriften und Druckwerken, Würzburg 1990; Johannes helmrath, Die Inthronisation des Evangelienbuches auf Konzilien, in: Wort und Bild in der Liturgie. Interdisziplinäre Beiträge zur Wirkmächtigkeit des Wortes und Zeichenhaftigkeit des Buches, hg. v. Hanns Peter neuheuser , St. Ottilien 1995, S. 233 - 279; Nikolaus gussone , Der Codex auf dem Thron. Zur Ehrung des Evangelienbuches in Liturgie und Zeremoniell, in: ebd., S. 191 - 231. h elmrath (wie Anm. 72), S. 239 - 240. helmrath (wie Anm. 72), S. 240. Romeo de m aIo, Das Evangelienbuch auf den oekumenischen Konzilien (Bibliotheca apostolica Vaticana 1963), Vatikan 1963, S. 22.

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Einige Zeit später sah sich Kyrill von Alexandrien von neuem veranlaßt, Kaiser Theodosius darzulegen, was das Evangelium auf dem Thron zu bedeuten habe. Er schrieb ihm: »Die heilige Synode versammelte sich in der heiligen Marienkirche; aber zum Consodalen (Mitsitzer / σύνεδρος), gleichsam gar zum Haupte, machte sie Christus; denn auf einem geweihten Thron lag das heilige Evangelium und rief den heiligen Zelebranten geradezu hörbar zu: ›Sprecht ein gerechtes Urteil! (Sach 7,9.) Urteilt zwischen den heiligen Evangelisten und dem Geschrei des Nestorius!‹«76

Kyrills Deutung bringt einen forensischen Aspekt ins Spiel. In diesem artikuliert sich eine andere Seite des von Konzilsvätern entwickelten und gepflegten Selbstverständnisses. Verstanden sich Konzilien doch auch immer als Versammlungen, deren Aufgabe es war, über Irrlehrer Gericht zu halten. Im Hinblick auf die richterlichen Aufgaben allgemeiner Kirchenversammlungen bildete der mit dem Evangelienbuch besetzte Thron den Richterstuhl Christi ab. Durch die »Inthronisation des Evangelienbuches wollte man bekennen, daß Christus mit der Macht und Würde göttlicher Richtergewalt bekleidet ist«77. Die Richtertätigkeit Christi sollte für das konziliare Ketzergericht Maßstab und Vorbild sein. Die sprachlose Botschaft des Evangeliars kam einem Appell an die Synodalen gleich, »als Gerichtsgemeinde ein gerechtes Urteil zu fällen; es urteilt also nicht selbst. Christus und die Synode stehen gleichsam in einem Verhältnis zueinander wie Gerichtsvorsitzender und Urteiler. Das Evangeliar übernimmt so gesehen geradezu die Funktion einer Gerichtsinsignie.«78 Die in Ephesos zum ersten Mal bezeugte Thronsetzung verdichtete sich durch Wiederholung zu einem Ritual. Die Akten, die über die Inthronisation des Evangeliums auf dem Konzil von Chalcedon (451) berichten, tun dies in einer formelhaften Wendung. »Nachdem man in der Mitte [d. h. an der Stirnseite der Versammlung] die heiligen und ehrwürdigen Evangelien aufgestellt hatte« (antepositis in medio sacrosanctis et venerabilibus evangeliis), lautet – von geringfügigen Abweichungen abgesehen – die stehende Formel, deren sich seitdem konziliare Sitzungsprotokolle bedienen, um den Akt der Thronsetzung des Evangelienbuches zu benennen und protokollarisch festzuhalten.79 Der hl. Tarasios, Patriarch von Konstantinopel (784–806), der dem zweiten Konzil von Nikaia im Jahre 787 vorstand, berichtete an Papst Hadrian: 76 77 78 79

helmrath (wie Anm. 72), S. 239. de m aIo (wie Anm. 75), S. 21. helmrath (wie Anm. 72), S. 246. helmrath (wie Anm. 72), S. 259. – Diese zum Stereotyp erstarrte Wendung setzte sich in der für Laterankonzile des römischen Papstes typischen Formel fort: prepositis in medio sacrosanctis evangeliis (260).

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»Nachdem wir uns alle gesetzt hatten, bestellten wir Christus zum Vorsitzenden. In der Tat, auf den heiligen Thron wurde das heilige Evangelium gestellt, das uns allen heiligen Männern, die wir versammelt waren, zurief: Sprechet ein gerechtes Urteil (Sach 7,9); sprecht Recht zwischen der Kirche Gottes und der aufgekommenen Neuheit.«80

Eine Inthronisation des Evangelienbuches fand nur auf allgemeinen Kirchenversammlungen statt, nicht auf Partikularsynoden einzelner Kirchenprovinzen. Auf diesen ließ man es bisweilen mit dem Vorlesen von Bestimmungen über Ordnung und Verlauf kirchlicher Konzilien (capitula de conciliis agendis) genug sein. Hierzu bedurfte es keines Evangeliars; es genügte eine Rechtssammlung (codex canonum).81 Welche Rolle das Evangelium bei der Synode einer Kirchenprovinz spielte, geht aus dem Pontificale Romano­Germanicum hervor. Dessen Ordo zufolge trägt ein Diakon das Evangelium zu einem in der Mitte des Chores aufgestellten Lesepult und liest das Tagesevangelium vor. Kommt keine Perikope aus dem Evangelium zur Verlesung, soll ein geeigneter Text aus einem anderen Buch (librum aptam lectionem continentem) oder es sollen kirchliche Rechtsbestimmungen (canones) vorgelesen werden.82 Als ein Ort göttlicher Epiphanie wurde das Evangelium nicht mehr wahrgenommen, wenn es durch nichtbiblische Texte ersetzt werden konnte. In solcher Beliebigkeit spiegelt sich ein schwerlich zu übersehender Verlust an Symbolkraft. Die Lateransynode von 1059, auf der für die Wahl des Papstes ein neues Verfahren beschlossen wurde, war, hält man sich an den gegenwärtigen Stand des Wissens, bis auf weiteres die letzte Synode, auf der die Inthronisation eines Evangelienbuches stattfand. Auf der römischen Synode führte nicht mehr Christus den Vorsitz. In einschlägigen Konzilsberichten heißt es unmißverständlich: Es sei ein Evangeliar aufgestellt worden; unter dem Vorsitz des verehrungswürdigsten und allerheiligsten Papstes Nikolaus habe die Synode beraten, und kraft päpstlicher Autorität habe der Papst Entscheidungen getroffen.83 Die sich entfaltende Macht des Papstes verdrängte das Evangelienbuch vom Thron des Konzils. Weder in der Kirchenversammlung von Konstanz (1414– 1418) noch in der von Basel kam ein Konzilstheologe oder Kirchenmann auf den Gedanken, das altehrwürdige Ritual von neuem zu beleben (Abb. 5). Erst in Ferrara - Florenz (1438/1439) wurde, wie ausschließlich griechische Quellen 80 81

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de m aIo (wie Anm. 75), S. 10. Die Konzilsordines des Früh- und Hochmittelalters (MGH Ordines de celebrando concilio), Herbert schneIder , Hannover 1996, S. 178, 211. – Der Ordo 2C, ein Sakramentar des Erzbischofs Hugo von Salin (1031–1066), sieht vor, daß nach der Evangeliumslesung die capitula de agendis conciliis vorgelesen werden (196). vogel / elze (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 270; schneIder 1996 (wie. Anm. 81), S. 308. helmrath (wie Anm. 72), S. 264, Anm. 85.

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berichten, die Inthronisation des Evangelienbuches von neuem entdeckt und verwirklicht. »In der Mitte der Kirche«, heißt es in den Acta Graeca, »und zwischen dem Klerus der beiden Parteien vor dem heiligen Altar hatten sie einen besonders schönen Thron [θρόνος] aufgestellt, der geschmückt und mit einem goldenen Tuch bedeckt war. Darauf saß der große und gerechte Richter [kριτής], unser Herr Jesus Christus, das heißt: das Heilige Evangelium.«84 Auf dem Konzil von Trient erwiesen nach dem Veni creator spiritus der als Vorsitzender des Konzils amtierende päpstliche Kardinallegat sowie alle übrigen anwesenden Kardinäle dem Evangelium Reverenz, indem sie es küßten. Die Rolle eines Vorsitzenden und Richters wurde dem Evangelienbuch und dem in diesem gegenwärtigen Christus nicht mehr zugedacht. Die Konzilsmedaille des Zweiten Vatikanischen Konzils zeigt den auf einem erhöhten Thron sitzenden Papst; unter bzw. vor ihm ist ein inthronisiertes Evangeliar zu sehen. Die Bildfiguration kommt nicht der Neubelebung eines altkirchlichen Brauches gleich, sondern zeigt den Papst in der Rolle des unfehlbaren Lehrers, der, beraten vom Konzil, über die Auslegung und dogmatische Definition dessen zu entscheiden beansprucht, was die Evangelien an göttlichen Offenbarungen überliefern.

4. Das ABC als rituelles Element der Kirchweihe Im Gebrauch des Alphabets bei der Kirchweihe vermischten sich christliche Deutungen mit altorientalischer und antiker Buchstabenmagie, die dem Alphabet abwehrende und schützende Wirkungen gegen dämonische Mächte zuschrieben. In der spätantiken Welt, in der die Kirche ihre Missions- und Bekehrungstätigkeit entfaltete, war man »seit alter Zeit gewohnt, die Alphabetreihe als Zauberformel aufzuschreiben, besonders zu apotropäischen Zwecken«.85 Im ›Ordo Romanus XLI‹ (7./8. Jahrhundert) findet sich der früheste Beleg dafür, daß der Bischof, sobald er bei der Weihehandlung die Kirche betreten hat, ein Alphabet (abcdarium; abecedarium) auf den Fußboden schreiben soll.86 Bei der Niederschrift des lateinischen Alphabets soll er zwei sich kreuzenden Linien folgen, welche die Gestalt eines Andreaskreuzes ergeben.87 Später wird eines der 84 85 86 87

helmrath (wie Anm. 72), S. 273. Franz dornseIFF, Das Alphabet in Mystik und Magie, Berlin 21925, S. 75. a ndrIeu (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 340 - 341. Vgl. Suitbert benz, Zur Geschichte der römischen Kirchweihe nach den Texten des 6. bis 7. Jahrhunderts, in: Enkainia. Gesammelte Arbeiten zum 800jährigen Weihegedächtnis der Abteikirche Maria-Laach am 24. August 1956, hg. v. H. edmonds, Düsseldorf 1956, S. 97: Der Alphabetritus im Ordo Romanus XLI erscheint »in der Form zweier über Kreuz geschriebener lateinischer Alphabete«.

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lateinischen Alphabete durch ein griechisches ersetzt. Die entsprechende Bestimmung, die in zahlreichen Pontifikalien des Mittelalters wiederkehrt, lautet so: Der Bischof möge Gott bitten, in der Kirche, die nunmehr geweiht werden soll, gegenwärtig zu sein. Dann solle er beginnen, »von der linken Ecke der Kirche aus von Osten her über den Fußboden mit seinem Krummstab das gesamte griechische Alphabet zu schreiben, bis in die rechte westliche Ecke. Und in gleicher Weise soll er wiederum beginnend vom rechten, östlichen Winkel das lateinische Alphabet schreiben bis hin zur linken, westlichen Ecke.«88 Im Sacramentarium Gregorianum, das die liturgischen Gebräuche Roms unter Papst Hadrian (772–795) wiedergibt, begegnet die Vorschrift, daß der Bischof mit seinem Stab die beiden Alphabete in ein auf den Boden gestreutes Aschenkreuz einzeichnen soll.89 Über den ursprünglichen Sinn dieses Rituals ist viel gerätselt worden.90 Aus methodischen Gründen wird man zwischen anfänglichen Intentionen und spä88 89

90

Erzbischöfliches Diözesanmuseum Köln: Glaube und Wissen im Mittelalter. Die Kölner Dombibliothek, hg. v. Joachim M. Plotzek u. a., München 1998, S. 413. dornseIFF (wie Anm. 85), S. 74. – Zwischen Asche und Alphabet sind allerdings keine symbolträchtigen Gemeinsamkeiten auszumachen. Die Symbolhaltigkeit der Asche, die auf Buße und Vergänglichkeit hinweist, ist mit dem Alphabet nicht zu vermitteln. Möglicherweise hat man auf die Asche zurückgegriffen, um das Alphabet lesbarer zu machen. Giovanni battIsta de rossI, Degli alfabeti, che il vescovo scrive sulla croce decussata nel consecrare le chiese, in: Bollettino di Archeologia Cristiana 3 (1881) 6, S. 140 - 146; Henri gaIdoz, Les gâteaux alphabétiques, in: Bibliothèque de l’École Pratique des Hautes Études Paris 73 (1887), S. 1 - 8; Herbert thurston, The Alphabet and the Consecration of Churches, in: The Month 115 (1910), S. 621 - 631; Louis duchesne , Origines du culte chrétien. Étude sur la liturgie latine avant Charlemagne, Paris 1925, S. 438 - 439 (»Quelle est l’origine du rite de l’alphabet?«); benz (wie Anm. 87), S. 97 - 98; Günther bandmann, Früh- und hochmittelalterliche Altaranordnung als Darstellung, in: Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr, Textband 1, hg. v. Kurt böhner u.a., Düsseldorf 1962, S. 389 - 390; Cyrille vogel , Sol aequinoctialis. Problèmes et technique de l’orientation dans le culte chrétien, in: Revue des sciences religieuses 36 (1962), S. 175 - 211; Günther bIndIng, Geometricis et arithmeticis instrumentis. Zur mittelalterlichen Bauvermessung, in: Jahrbuch der rheinischen Denkmalpflege 30/31 (1985), S. 9 - 14. – Die derzeit herrschende, sich breiter Zustimmung erfreuende Meinung, die den Alphabetritus bei der Kirchweihe mit Techniken der Landvermessung, wie sie von römischen Feldmessern (agrimensores) gehandhabt wurden, in Zusammenhang bringt, faßt Hanns Peter neuheuser , Die Kirchweihbeschreibungen von Saint-Denis und ihre Aussagefähigkeit für das Schönheitsempfinden des Abtes Suger, in: Mittelalterliches Kunsterleben nach Quellen des 11. bis 13. Jahrhunderts, hg. v. Günther bIndIng / Andreas sPeer , Stuttgart / Bad Cannstatt 1993, S. 151, folgendermaßen zusammen: »Die Einzeichnung der Alphabete in ein Aschenkreuz hängt ursprünglich mit der ›liturgischen Vermessung‹ des Kirchengrundstücks zusammen und setzt die Längsachse eines ›Straßenkreuzes‹ im Sin-

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Abb. 5: Der Papst auf dem Thron beim Konzil von Basel (1431–1437 bzw. 1448). Der Papst beansprucht für die Auslegung der hl. Schrift und die Verkündigung der christlichen Heilslehre unfehlbare Entscheidungskompetenz. Titelbild zu Sebastian Brant(d), Decreta et acta Basiliensis, Basel 1511.

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teren Deutungen unterscheiden müssen. Hält man sich an den methodischen Grundsatz, daß es für alle Gattungen von Alphabetreihen – sowohl für die heidnischen als auch für die christlichen – eine gemeinsame Grundbedeutung geben müsse, entbehrt es nicht hermeneutischer Folgerichtigkeit, die in christlichem Kontext auftauchenden Alphabetreihen als Mittel der Dämonenabwehr zu begreifen.91 Auf die dämonenabwehrende Wirkung des Alphabets deutet der in Mailand übliche Brauch hin, demzufolge »nicht nur innerhalb der Kirche das Alphabet kreuzweise auf den Boden geschrieben, sondern auch außerhalb derselben vom weihenden Bischof an jeder der vier Wände angebracht« wurde.92 Mitgespielt haben mag dabei auch der Gedanke, »das neue τέμενος (geweihter Bezirk, Tempel) nach den vier Weltrichtungen kosmisch abzugrenzen« 93, um die sakrale Besonderheit eines Gott geweihten Raumes kenntlich zu machen. Das schließt aber nicht aus, daß von christlicher Seite immer wieder versucht wurde, dem Alphabet, das der Bischof bei der Kirchweihe in das Aschenkreuz zeichnet, eine spezifisch christliche Bedeutung zu geben. Liturgiehistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts meinten, in der kreuzweisen Schreibung des Alphabets ein X (Chi), den griechischen Anfangsbuchstaben des Wortes Christos, erkennen zu sollen, oder betrachteten das Alphabet als inhaltliche Füllung des Alpha und des Omega, des Anfangs- und Endbuchstabens des griechischen Alphabets, aus denen der Verfasser der Apokalypse Selbstbezeichnungen Gottes und Christi gemacht hatte (Offb 1,8; 21,6; 22,13). Zu den modernen Deutungsangeboten gehört auch der Vorschlag, das kreuzweise auf den Kirchenboden geschriebene Alphabet – analog zur consignatio bei der Taufe – als Symbol dafür zu verstehen, daß die christliche Gemeinde den Kirchenraum in Besitz nimmt. Neuerdings wurde der Versuch unternommen, die »Alphabetisierung« des Kirchenraumes mit der Vermessung des Himmlischen Jerusalem in Verbindung zu bringen.

91 92 93

ne römischer Agrimensoren voraus.« Vgl. auch Joseph sauer , Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters, Münster 21964, S. 393: »In der Crux decussata (Andreaskreuz), die der Bischof auf den Kirchenboden bei der Konsekration zeichnet, ahmt er ersichtlich die Grenzabsteckung der antiken Tempelarea nach, welche die Auguren mittels zweier sich schneidender Diagonallinien vornahmen. […] Die Buchstaben des Alphabets, die diesem Kreuz entlang geschrieben werden, wären darnach eine Erinnerung an die von den Agrimensoren in gleicher Weise in Buchstaben ausgedrückten Maß- und Zahlzeichen.« So Albrecht dIetrIch, ABC Denkmäler, in: Rheinisches Museum für Philologie 56 (1901), S. 87, 95. dornseIFF (wie Anm. 85), S. 74. – Zur Bedeutung des τέμενος in der Antike vgl. Kurt l atte , Temenos (1), in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 2. Reihe, 10. Halbband, Stuttgart 1934, Sp. 435-437. Kurt l atte , Buchstaben, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 1, Sp. 776.

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»Nachdem der Seher die zwölf Tore, die Fundamente usw. genannt hat, schildert er, wie ein Engel die zwölf Tore mit einem goldenen Meßstab mißt, wobei die Länge gleich der Breite ist. Genau das scheint mir der Bischof zu tun, wenn er die beiden Alphabete über Kreuz auf den Boden schreibt, wobei in der Tat beide Linien gleich lang sind.« 94

Der karolingische Theologe Remigius von Auxerre (nach 841 – nach 908) hat als erster ausdrücklich die Frage gestellt, was das Alphabet, das der Bischof bei der Weihe einer Kirche auf den Boden zeichnet, eigentlich zu bedeuten habe (qui­ dignificet quod pontifex alfabetum in pavimento scribit?).95 Auf den Boden ein Alphabet zu schreiben, räumt Remigius ein, erscheine wie ein Kinderspiel ( puerilis ludus), es sei denn, man nimmt an und kann zeigen, daß der Brauch von Männern eingerichtet wurde, die Geistliches im Sinn hatten und apostolischen Traditionen folgten. Es komme deshalb darauf an, herauszubekommen, welche Bedeutung sich hinter dem äußeren Ritual verberge. Im Lichte von Hebr 5,12, einer Bibelstelle, in der von Anfangsgründen göttlicher Unterweisungen die Rede ist, stehe das Alphabet für den Anfangsunterricht in der heiligen Lehre (initia et rudimenta doctrinae sacrae). Im Sinne des Apostels Paulus, der die Christen von Korinth, ehe er ihnen feste Speise zu essen gab, mit Milch ernährte (1 Kor 3,2), sei das Alphabet als Einfalt des Glaubens ( fidei simplicitas) zu verstehen. Beginne doch der Elementarunterricht von Kindern damit, daß man ihnen zuerst das Lesen und Schreiben einfacher Buchstaben beibringe, dann zum Lehren der Silben übergehe, vom Lehren der Silben zum Lehren der Wörter und vom Lehren der Wörter schließlich zur Erkenntnis ganzer Sätze. In vergleichbarer Weise gebe es auch in der »Familie der Kirche« unterschiedliche Grade des Verstehens und der Einsicht. Die einfach Lebenden (simpliciter viventes) seien zufrieden mit den ersten Anfangsgründen der christlichen Lehre; sie würden nicht zum Kern der christlichen Lehre (robur doctrinae) fortschreiten. Um zu verstehen, was die Verwendung der beiden Alphabete bei der Kirchweihe bedeute, müsse man auch darauf achten, in welcher Weise die Buchstaben des griechischen und lateinischen Alphabets auf den Boden geschrieben wer94

95

benz (wie Anm. 87), S. 97. – Überzeugen kann eine solche Deutung nicht. Der Engel, der die Länge und Breite der himmlischen Stadt vermißt, besitzt in dem schreibenden Bischof kein Gegenbild. Abmessen und schreiben sind verschiedenartige Tätigkeiten, die es nicht zulassen, aus dem biblischen Bericht eine Deutungshilfe für das Schreiben des ABC bei der Kirchweihe zu machen. Remigius Antissiodorensis, De dedicatione ecclesiae, Opera Miscellanea, p. 11 (m Igne , PL 131, Sp. 850-852). – Vgl. dazu Rudolf suntruP, Die Bedeutung der liturgischen Gebärden und Bewegungen in lateinischen und deutschen Auslegungen des 9. bis 13. Jahrhunderts (Münstersche Mittelalter-Schriften 37), München 1978, S. 221 223; Heinz m eyer / Rudolf suntruP, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, München 1987, Sp. 204, 398 - 399.

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den. Das geschehe nicht plan- und kopflos. Die Art und Weise der Niederschrift gebe vielmehr eine klare Ordnung zu erkennen. Der den Weiheakt vornehmende Bischof schreibe nämlich von der linken Ecke im Osten zur rechten Ecke im Westen und von der rechten Ecke im Osten zur linken Ecke im Westen zwei Alphabetreihen. Dabei sei zuerst im Auge zu behalten, daß die vier Ecken der Kirche die vier Himmelsrichtungen bedeuten und als solche zum Ausdruck bringen, daß die christliche Lehre, symbolisiert durch die auf den Boden geschriebenen Buchstaben, auf der ganzen Welt Verbreitung fände und gehört werde. Insofern sei das Alphabet als einfache und reine Predigt des Evangeliums ( praedicatio Evangelii simplex et pura) zu verstehen. Maßgeblich für das Verständnis des auf den Kirchenboden gezeichneten Alphabets sei die Tatsache, daß die beiden Linien mit der griechischen und lateinischen Alphabetreihe ein Kreuz bilden. Dieses mache sicht- und lesbar, daß der Tod Christi dem christlichen Glauben für alle Zeiten eingeschrieben bleibe und gleichsam dessen Kernstück bilde – eingedenk der Mahnung des Apostels Paulus, der, als er sich bei den Korinthern aufhielt, von niemandem etwas wissen wollte außer von Christus und sich diesem nur als Gekreuzigtem zuwendete (1 Kor 2,2). Auch einen Hinweis auf den Gang der Heilsgeschichte glaubte man in dem Alphabetritus erkennen zu können. Wenn nämlich der Bischof von der linken Ecke im Ostchor bis zur rechten Ecke des westlichen Schiffs das Alphabet schreibe, bedeute die linke Ecke das jüdische Volk ( Judaicus populus), aus dem auch unser Herr, Jesus Christus, abstamme. Die Beschriftung des Bodens von der linken Ecke im Osten bis zur rechten Ecke im Westen erinnere daran, daß die Heiden in der Heilsordnung Gottes gegenüber den Juden, dem ursprünglich von Gott erwählten Volk, einen bevorzugten Platz einnähmen. Jesus, der christliche Erlöser, stamme zwar von dem jüdischen Volk ab; die Heilsbedeutung seines Todes sei aber nur von den Heiden angenommen und geglaubt worden. Die Linie, die von der rechten Ecke im Chor zur linken Ecke im Westen führe, scheine jedoch anzudeuten, daß dann, wenn die Fülle der Heiden bekehrt und ins Reich Gottes eingetreten sei, auch ganz Israel gerettet werde. Beide Linien würden auf die endzeitliche Sammlung (collectio) der beiden Völker, ihre Zusammengehörigkeit unter der einen Gestalt des Kreuzes hinweisen. Das werde auch durch den Segen Jakobs ausgedrückt, der mit verschränkten Armen, einer kreuzähnlichen Gebärde, die Söhne Josefs, seine Enkel, segnete: Mit dem rechten Arm erteilte er Efraim, dem jüngeren, den Segen, mit dem linken Manasse, dem älteren. Jakob habe dies getan, um anzudeuten, daß das jüdische Volk, das sich ehedem auf der rechten Seite befand, auf die linke gerückt sei, und daß das ursprünglich links plazierte heidnische Volk auf die rechte Seite gelangte. Dieser Wechsel, der den Heiden im Heilsplan Gottes eine Vorrangstellung verschaffte, sei durch den Dienst der Prediger ( per ministerium praedicatorum) zustandegekommen. In gleicher Weise werde auch die Bekehrung der Juden am

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Abb. 6: Griechisches und lateinisches Alphabet aus dem Kirchweihordo. Pontificale Romano-Germanicum, für die Kölner Bischofskirche geschrieben, um die Mitte des 12. Jahrhunderts. Köln, Dom, Hs. 139, fol. 66v und 67r (Foto: Köln, Erbischöfliche Dombibliothek).

Ende der Zeit mit Hilfe der Predigt erfolgen. Remigius unterstreicht die Wichtigkeit der Predigt bei der Missionierung der Heiden und Juden. Er sieht in den bei den einander kreuzenden Alphabetreihen ein Bild des Kreuzes, das auf das Zentrum der christlichen Heilslehre verweist. Das Kreuz bringt seiner Ansicht nach auch die Zusammengehörigkeit von Christen und Juden (utriusque populi collectio) zur Sprache, eingedenk der paulinischen Verheißung, daß Israel sich am Ende der Zeit bekehren werde und gerettet werden wird. Die Deutungen des Remigius von Auxerre wirkten traditionsbildend. Das Pontificale Romano­Germanicum hat sie nahezu wörtlich übernommen (Abb. 6).96 Von liturgiegeschichtlich interessierten Theologen wurden sie aufgegriffen und durch neue Deutungen erweitert. Anklänge und Bezugnahmen finden sich bei Hugo von St. Viktor († 1141), bei Sicardus von Cremona († 1215) und bei Guillelmus Durandus (um 1235–1296). Hugo von St. Viktor setzte – gleich Remigius und dem Pontificale Romano­Germanicum – das Alphabet mit der einfachen Lehre des Glaubens (simplex doctrina fidei) gleich. Im Fußboden erblickte er das menschliche Herz. Auf den Fußboden werde das Alphabet deshalb ge96

vogel / elze (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 97 - 99.

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schrieben, weil das »fleischlich gesinnte und rohe Volk« durch eine einfache, rudimentäre Lehre in die Heilsbotschaft des Christentums eingeführt wird. Die von der linken Ecke im Osten der Kirche zur rechten Ecke im Westen der Kirche führende Alphabetreihe und die von der rechten Ecke im Osten zur linken Ecke im Westen der Kirche führende Alphabetreihe würden die Form eines Kreuzes besitzen, die dem Geist des Menschen durch den Glauben an die Predigt des Evangeliums ( per fidem Evangelicae praedicationis) eingeprägt werde. Die Juden hätten zuerst an den wahren Gott geglaubt, dann die Heiden. Am Ende der Zeiten, wenn die Fülle der Heiden ins Reich Gottes eingegangen ist, werde auch ganz Israel gerettet werden (Röm 11,25-36). Die Zusammengehörigkeit beider Völker sei im Segen Jakobs über seine Enkel Efraim und Manasse angezeigt. Mit gekreuzten Armen, die Gestalt des Kreuzes nachbildend, habe Jakob die beiden Söhne Josefs gesegnet. Efraim, dem Jüngeren, habe er die rechte Hand, Manasse, dem älteren, die linke Hand auf den Kopf gelegt.97 Die beiden Alphabete, schreibt Bischof Sicardus von Cremona, symbolisieren das Wissen der bei den Testamente (utriusque Testamenti scientia) oder das Verstehen der Heiligen Schrift (sacrae Scripturae intelligentia); auch als Hinweise auf Buchstaben und Geist (littera et spiritus) der Heiligen Schrift könnten die beiden Alphabete gelesen werden. Das Alphabet bestehe zwar aus wenigen Buchstaben; diese würden aber die ganze Fülle des Wissens (omnis plenitudo scientiae) enthalten. Dieses Wissen müsse auf den Boden unserer Brust (in pavimento pectoris nostri), in die Herzen der auf Erden Lebenden (in cordibus terrenorum) geschrieben werden, damit wir den Herrn erkennen und nach himmlischen Gütern streben. Die linke Ecke im Ostchor, von der aus entlang einer Linie, die in die rechte Ecke der Westanlage führt, das griechische Alphabet geschrieben werde, bedeute das jüdische Volk, aus dem Christus dem Fleische nach stamme. Dennoch werde Israel wegen seines Unglaubens zu den Linken (sinistri) gerechnet, d. h. zu jenen, die in der Wertschätzung Gottes auf einen nachgeordneten Platz gerückt seien. Die rechte Ecke in der östlichen Kirche bedeute die Heidenschaft, die glaubt und deshalb den rechten, den besseren Platz einnimmt. Von der linken Ecke im Osten zur rechten Ecke im Westen werde das Alphabet deshalb geschrieben, um die Übertragung (translatio) des Gottesreiches von den Juden auf die Heiden (Mt 21,43) sichtbar zu machen. Die rechte Ecke im Ostchor, von der aus das lateinische Alphabet bis in die linke Ecke der westlichen Kirche geschrieben werde, bedeute die Urkirche, in der das »Licht des Glaubens« seinen Ursprung habe. Die linke Ecke im Westen verweise auf den erwählten Rest von Israel (reliquiae Israel ), der sich noch immer auf der linken Seite befindet und dort bis zum Untergang der Welt auch blei97

Hugo von St. Viktor, De Sacramentis II, 5 (De dedicatione ecclesiae) (m Igne , PL 176, Sp. 441).

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ben wird. Von rechts nach links werde das Alphabet deshalb geschrieben, weil dann, wenn die Fülle der Heidenvölker im Reich Gottes Eingang gefunden hat, sich auch ganz Israel zum christlichen Glauben bekehren wird. Das griechische Alphabet, das zuerst geschrieben werde, wirke durch Weisheit (sapientia), das lateinische durch Macht ( potentia). Weisheit und Macht besäßen die beiden Alphabete durch das Wirken von Predigern ( per praedicatores). In Kreuzesform schreibe man die beiden Alphabetreihen, weil die beiden Testamente den Glauben an die Passion lehren, vor allem aber, weil sie zum Ausdruck bringen, daß im Geheimnis des Kreuzes (in mysterio crucis) Christen und Juden gerettet werden. Um dies zu ermöglichen, sollen wir den »Boden unserer Brust« freimachenvon allen Nichtigkeiten und dem Schmutz tödlicher Sünden, um, erfüllt von geistlichem Wissen, im Glauben an das Kreuz erlöst und gerettet zu werden.98 Nach Durandus bezeichnet das Alphabet, das auf ein aus Sand und Asche gestreutes Kreuz geschrieben wird, drei Sachverhalte: die »sammung oder ainigung yetwederz volches in dem gelauben, wizzenleich des judischen und des haydenischen volkches.« Diese »ainigung« sei durch das Kreuz Christi bewirkt worden. Vorgebildet sei diese Einigung durch Jakob, der seine Söhne »mit geschrankchten henden« gesegnet habe. Die Linie, die von der rechten Ecke im Osten der Kirche in die linke Ecke im Westen der Kirche verlaufe, verweise auf das Volk Israel, das sich zuvor auf der rechten Seite befand, nunmehr aber auf die linke Seite gerückt ist, d. h. im Heilsplan Gottes von der besseren rechten Seite auf die schlechtere linke Seite versetzt wurde. »Wann do Christus gieng von orient, do lies er die juden in dem tenken, wann si waren ungerecht, und kom czw den hayden, den er wesen in der rechten seitten geit, wiewol sie wären in dem occident gewesen.«99 Des weiteren sei die »schrift des alphabetes« als Schrift der beiden Testamente zu lesen, deren prophetische Heilszusagen Christus durch seinen Tod am Kreuz erfüllt hat. Als im Verlauf der Kreuzigung der Vorhang des Tempels zerriß, seien zugleich auch die Geheimnisse der Heiligen Schrift »aufgetan« worden. In den wenigen Buchstaben von Jesu letzten Worten am Kreuz, »ez ist vollepracht«, sei »alle chunst behalten«, derer Menschen zu ihrer Rettung und für ihre ewige Seligkeit bedürfen. Schließlich bezeichnet das Alphabet »di stukche des gelauben«, weil der »estereich der chirchen als gruntvest unsers gelauben« zu betrachten sei. Mit »puechstaben« seien »di artikel des gelauben« geschrieben, mit denen »di newen yetweders volkches werdent in der christenhait geleret«.100 Diejenigen, die sich im christlichen Glauben unterrichten lassen, sollen sich gleich Abraham (Gen 18,27) wie »pulver und asche Sicardus Cremonensis episcopus, Mitrale 1, 6 (De consecratione ecclesiae) (m Igne , PL, 213, Sp. 30 - 31). 99 buIjssen (wie Anm. 30), S. 85 - 86. 100 buIjssen (wie Anm. 30), S. 86 - 87.

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scheczen«. »Darumb«, bemerkt der Bischof von Cremona abschließend, sei »die schrift des alphabetes in dem estreich […] ainvaltige lere des gelauben in menschleichem herczen«.101 Der Dominikaner und spätere Erzbischof von Genua Jacobus a Voragine (Varazze) (1226–1298) bündelte und bilanzierte in seiner Erklärung der Kirchweihe Deutungstraditionen, die sich seit dem Frühen Mittelalter herausgebildet hatten. In seiner ›Legenda aurea‹, einer Sammlung von Heiligenleben, die auf Grund ihrer starken Verbreitung wie kein anderes Buch des späteren Mittelalters Frömmigkeit und Kunst bestimmte und bereits früh aus dem Lateinischen in Volkssprachen übersetzt wurde, beschreibt der erzbischöfliche Legendenkompilator aus Genua das Alphabetritual der Kirchweihe folgendermaßen: Das ABC, das »auf den Estrich geschrieben« wird, »bedeutet die Zusammengehörigkeit des heidnischen und des jüdischen Volkes; oder die Blätter des Alten und des Neuen Testamentes; oder die Artikel unseres Glaubens. Denn das ABC, das aus lateinischen und griechischen Buchstaben in Kreuzesform ist gemacht, bedeutet des heidnischen und jüdischen Volkes Einigung im Glauben, die durch das Kreuz Christi geschah. Und ziehet man das Kreuz quer aus der Ostecken in die Westecken, damit bezeichnet werde, daß der, welcher zuvor rechts war, nun ist links worden, und der zu Häuptern war, nun an den Schwanz ist gesetzt und umgekehrt. Zum andern bedeutet es die Blätter beider Testamente, die durch das Kreuz Christi sind erfüllet worden. Darum sprach er sterbend ›Es ist vollbracht‹. Das Kreuz wird in der Quere gezogen, weil ein Testament im andern enthalten ist und ein Rad war in dem andern. Zum dritten bezeichnet es das Bekenntnis unseres Glaubens; denn das Pflaster der Kirche ist das Fundament unseres Glaubens; die Buchstaben, die da sind hinein geschrieben, das sind die Artikel unsres Glaubens, damit die Ungelehrten und Neubekehrten beider Völker in der Kirche müssen erzogen werden, und müssen sich Staub und Asche dünken, nach dem als Abraham hat gesagt Genesis 18 ›Ich werde zu meinem Herrn sprechen, der ich Staub und Asche bin.‹«102

Was sich im geistlichen Tempel, der von den Gläubigen gebildet wird, abspielt, beschreibt der Verfasser der ›Legenda aurea‹ so: »Zum vierten wird in diesen Tempel des Herzens geschrieben ein geistlich ABC, das ist eine geistliche Schrift. Die Schrift aber ist dreifach; zu dem ersten: Gebote des, was wir sollen tun; zum andern: Zeugnisse göttlicher Wohltaten; zum dritten: Anklagen über unsere eigene Sünde. Von diesen dreien heißt es Römer 2 ›Denn da die Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur tun des Gesetzes Werke, so sind 101 buIjssen (wie Anm. 30), S. 87. 102 Die Legenda aurea des Jacobus a Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, Heidelberg o. J. (Nachdruck der Ausgabe Jena 1925), S. 995.

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sie ihnen selbst ein Gesetz, wenn sie auch jenes Gesetz nicht haben, denn sie zeigen, daß des Gesetzes Werk ihnen ist ins Herz geschrieben.‹«103

Der elsässische Anonymus, der die ›Legenda aurea‹ im 14. Jahrhundert ins Deutsche übersetzte, hat die Vielfalt der Bedeutungen stark reduziert. Ihn interessierte nur noch die Kreuzesform der beiden Alphabetreihen: »Jn disem tempel sullent wir ein crúce machen mit buochstaben, daz ist mit eime erkennende aller vnserre gebresten sullent wir ein crúce uf vns nehmen oder eine buosse«.104 Alle lehrhaften, biblischen und heilsgeschichtlichen Bezüge hat der Übersetzer ausgespart. Eine Zusammengehörigkeit zwischen Juden und Christen kann er in der Kreuzgestalt der beiden Alphabetreihen nicht mehr ausgedrückt finden.

5. Abschließende Bemerkungen Die Botschaft heiliger Bücher wurde nicht allein durch Vorlesen hör- und vernehmbar gemacht, um sterblichen Zuhörern mitzuteilen, was ihnen zum Heil gereicht. Evangeliare dienten außerdem als Kommunikationsmedien, die, in rituelle Kontexte eingebunden, durch ihre Zeichenhaftigkeit erbauen sowie heilsbedeutsames Wissen ins Gedächtnis zurückrufen sollten. Auf Grund ihrer Zeichenhaftigkeit werden kultisch benutzte Bücher nicht durch die Ohren, sondern durch den Gesichtssinn wahrgenommen. Durch ihre materielle Präsenz an einem genau definierten rituellen Ort vermögen sie spirituelle Wirkungen hervorzubringen. Nur bei der traditio evangelii im Akt der Taufe werden Gesichtsund Gehörsinn zugleich angesprochen. Das mit den Augen wahrgenommene heilige Buch gibt, wenn es vorgelesen wird, seine heilsrelevanten Inhalte frei und verbindet sich mit dem gesprochenen und gehörten Wort. In ihrer Eigenschaft und Funktion als Zeichen konnten Bücher die Trägerschaft für vielfältige, höchst unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen übernehmen. Sie dienten als wirksame Symbole der Geistvermittlung bei der Papst- und Bischofsweihe; sie verwiesen auf den Jochcharakter des kirchlichen Amtes; sie erfüllten die Funktion von Amtszeichen, die zur Verkündigung des Gotteswortes legitimierten und verpflichteten. Das auf Konzilen inthronisierte Evangeliar kam einer Epiphanie des erhöhten Christus gleich. Die Übergabe des Evangeliums an Taufbewerber symbolisierte zum einen den universalen

103 Jacobus a Voragine (wie Anm. 102), S. 999. 104 Die ›Elsässische Legenda Aurea‹, Bd. 1: Das Normalkorpus, hg. v. Ulla wIllIams / Werner wIllIams-k raPP, Tübingen 1980, S. 770.

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Geltungsanspruch des Christentums, zum anderen ein an das christliche Individuum gerichtetes persönliches Heilsversprechen. Heilige Bücher, die im christlichen Gottesdienst als Medien ritueller Handlungen Verwendung fanden, erinnerten nicht zuletzt an die Verknüpfung von Wortverkündigung und sakramentalem Kult. Als Gefäß von Gottes bzw. von Jesu Wort genoß das Evangeliar kultische Verehrung. Es wurde mit verhüllten Händen getragen, um seine Heiligkeit nicht durch unreine, sündhafte Körperlichkeit zu verletzen. Prozessionen, Kerzen und Weihrauch, durch die es verehrt wurde, ließen eine Aura ehrfurchtgebietender Erhabenheit entstehen. Die Symbolik der in rituellen Handlungen verwendeten Bücher hatte Anteil an der Mehr- und Vieldeutigkeit von Metaphern. Diese blieb jedoch eingeschränkt durch den jeweiligen kultischen Kontext. Die durch einen schriftlich ausgearbeiteten Ordo geregelte Abfolge kultischer Handlungen bildete gleichsam das übergeordnete, umfassende Zeichensystem, das als Interpretationsrahmen diente, um kenntlich und verständlich zu machen, was Bücher als Elemente ritueller Handlungen jeweils bedeuteten. Das Buch im Nacken des zu weihenden Bischofs kommt der Ritualisierung einer Bibelperikope gleich, deren Eindeutigkeit die Vielfalt der jedem Ritual inhärenten Deutungsmöglichkeiten beschränkte. In der verschriftlichten Worthaftigkeit des Evangeliums, das auf Konzilen inthronisiert wird, ist Christus als Offenbarer der Wahrheit und als Richter über falsche Begriffe von Gottes Wesen und Handeln präsent. Durch kommentierende Begleittexte zeitgenössischer Theologen hat das Ritual eine unzweideutige Interpretation erfahren. Eindeutigkeit besitzt das Buch auch als Amtszeichen, das Päpsten und Bischöfen ihren Verkündigungsauftrag einschärfen soll. Im Akt der Taufe, bei der auf die vier Ecken des Altars die vier Evangelien gelegt wurden, überlagern sich verschiedenartige Bedeutungen. Die für den Altar und die Evangeliensymbolik charakteristische Vierzahl läßt an den Universalismus der christlichen Heilsbotschaft denken; zum andern richten sich die vier vom Evangelium ausgehenden Heilsströme auf den einzelnen Täufling, der aufgefordert wird, seine Ohren zu öffnen, zu glauben und die ihm angebotenen Heilschancen zu ergreifen. Die vier Evangeliare auf den vier Ecken des Altars bringen überdies zu Bewußtsein, daß in der Heiligen Schrift, dem Buch der Bücher, die heilsbedeutsamen Inhalte des christlichen Glaubens eine schriftliche Form gefunden haben, die von Gott als Ort seiner Selbstmitteilung benutzt wurde, um sich Menschen als Retter und Richter zu offenbaren. Als sich das Wissen um die semantische Grundbedeutung der beiden auf den Kirchenboden geschriebenen Alphabete verlor, kam es darauf an, eine symbolische Handlung mit neuen Bedeutungen anzureichern. Es braucht nicht zu verwundern, daß die Anstrengungen, die in dieser Absicht unternommen wurden, zu überaus heterogenen Ergebnissen führten.

schrIFtenverzeIchnIs k laus schreIner (Ohne Rezensionen) Sozial- und standesgeschichtliche Untersuchungen zu den Benediktinerkonventen im östlichen Schwarzwald (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Forschungen 31), Stuttgart 1964, 331 S. (mit zwei Stammtafeln). Das benediktinische Mönchtum des Ostschwarzwaldes im Wandel von Kirche und Gesellschaft, in: Tübinger Forschungen (1965) 21/22, S. 1 - 6. Zum Wahrheitsverständnis im Heiligen- und Reliquienwesen des Mittelalters, in: Saeculum 17 (1966), S. 131 - 169. Discrimen veri ac falsi. Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und Reliquienverehrung des Mittelalters, in: Archiv für Kulturgeschichte 48 (1966), S. 1 - 53. Abt Johannes Trithemius (1462–1516) als Geschichtsschreiber des Klosters Hirsau. Überlieferungsgeschichtliche und quellenkritische Bemerkungen zu den ›Annales Hirsaugienses‹, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 31 (1966/1967), S. 72 - 138. Venus und Virginitas. Zur Symbolik des Smaragds und zu seinen virtutes, in: Mittellatei nisches Jahrbuch 4 (1967), S. 26 - 60. De Nobilitate. Begriff, Ethos und Selbstverständnis des Adels im Spiegel spätmittelalterlicher Adelstraktate, Tübinger Habilitationsschrift 1968, 387 S. Nachträge zu Venus und Virginitas, in: Mittellateinisches Jahrbuch 5 (1968), S. 18 - 23. »…wie Maria geleicht einem puch«. Beiträge zur Buchmetaphorik des hohen und späten Mittelalters, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 11 (1971), Sp. 1437 - 1464. Aufbau, Bildungsgedanke und Sozialstruktur des württembergischen Realschulwesens im 18. und 19. Jahrhundert, in: 175 Jahre Friedrich-Eugen-Gymnasium Stuttgart, Stuttgart 1971, S. 9 - 100. »…der Preis, um den man nützlich sein darf«. Zur Strafversetzung Robert von Mohls am 6. Dezember 1845, in: Attempto 39/40 (1971), S. 123 - 143. Stuttgart zwischen 1634 und 1638, in: Stuttgarter Zeitung 27 (1971), Nr. 177, S. 23. Walheim im Mittelalter und in der Frühneuzeit. Politische Schicksale, soziale Strukturen und kirchliche Verhältnisse eines südwestdeutschen Dorfes in der Zeit von 1071 bis 1595, in: 900 Jahre Walheim. Dokumentation aus Geschichte, Kultur und Wirtschaft, Walheim 1972, S. 33 - 73. Die Uracher Druckerei Hans Ungnads – Ein Opfer der Gegenreformation?, in: GutenbergJahrbuch 47 (1972), S. 217 - 236.

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Frischlins ›Oration vom Landleben‹ und die Folgen, in: Attempto 43/44 (1972), S. 122 - 135. Tübingens Büchersammlungen im Dreißigjährigen Krieg, in: Tübinger Blätter 59 (1972), S. 113 - 122. Südwestdeutsche Klöster und ihre Beziehungen nach Böhmen, in: Beiträge zur Landeskunde. Beilage zum Staatsanzeiger für Baden-Württemberg (1972) 4, S. 8 - 12. Württembergs Buch- und Bibliothekswesen unter Herzog Christoph (1550–1568), in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 31 (1972), S. 121 - 193. Die Uracher Leinenweberei, in: Stuttgarter Zeitung 28 (1972) 299, S. 30. Altwürttembergische Klöster im Spannungsfeld landesherrlicher Territorialpolitik, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 109 (1973), S. 196 - 245. Hildegard – Schwabens heilige Königin, in: Schwäbische Heimat 23 (1972), S. 111 - 123. Auch in: Allgäuer Geschichtsfreund 74 (1974), S. 62 - 76. »Das Creutz helffen nachtragen«. In der Stiftskirche begraben: der Landeshauptmann und Buchdrucker Hans Ungnad, in: Tübinger Blätter 61 (1974), S. 1 - 10. Robert von Mohl. Staatswissenschaftler und Politiker im Dienste Württembergs, in: Beiträge zur Landeskunde. Beilage zum Staatsanzeiger für Baden-Württemberg (1974) 3, S. 4 - 9. Schwäbisches Mönchtum in der Ständegesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Schwäbische Heimat 25 (1974), S. 40 - 52. Württembergische Bibliotheksverluste im Dreißigjährigen Krieg, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14 (1974), Sp. 655 - 1028 (auch als eigenständiger Separatabdruck erschienen). Zur biblischen Legitimation des Adels. Auslegungsgeschichtliche Studien zu 1. Kor 1, 26-29, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 85 (1974), S. 317 - 357. Von der Handweberei zur Fabrik. Zur Wirtschafts- und Sozialentwicklung der Stadt Urach in der frühen Neuzeit, in: Beiträge zur Landeskunde. Beilage zum Staatsanzeiger für Baden-Württemberg (1974) 1, S. 4 - 9. Die Benediktinerklöster in Baden-Württemberg, bearb. v. Franz quarthal / in Zusammenarbeit m. Hansmartin decker-h auFF / Klaus schreIner und dem Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Tübingen (Germania Benedictina 5), Augsburg 1975. Benediktinisches Mönchtum in der Geschichte Südwestdeutschlands, in: ebd., S. 23 - 114. ›Alpirsbach‹, in: ebd., S. 117 - 124. ›Altshausen‹, in: ebd., S. 124 - 125. ›Bickelsberg‹, in: ebd., S. 144 - 146. ›Gültstein‹, in: ebd., S. 260 - 261. ›Hirsau‹, in: ebd., S. 281 - 303. ›Klosterreichenbach‹, in: ebd., S. 336 - 344. ›Kniebis‹, in: ebd., S. 345 - 347. ›Bad Rippoldsau‹, in: ebd., S. 548 - 550.

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›Sindelfingen‹, in: ebd., S. 588 - 589. ›Stein‹, in: ebd., S. 605. ›Weilheim‹, in: ebd., S. 620 - 622. Bücher, Bibliotheken und ›Gemeiner Nutzen‹ im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit. Geistes- und sozialgeschichtliche Beiträge zur Frage nach der utilitas librorum, in: Bibliothek und Wissenschaft 9 (1975), S. 202 - 249. Ein ›revolutionaires‹ Gutachten der Tübinger Juristenfakultät zur hannoverschen Verfassungsfrage. Kontroversen über Grundfragen des Rechtsstaates im württembergischen und deutschen Vormärz, in: Attempto 55/56 (1975), S. 117 - 136. Hildegardis regina. Wirklichkeit und Legende einer karolingischen Herrscherin, in: Archiv für Kulturgeschichte 57 (1975), S. 1 - 70. Württemberg und der hannoversche Verfassungskonflikt. Kontroversen über Grundfragen des Rechtsstaates im Vormärz, in: Beiträge zur Landeskunde. Bei lage zum Staatsanzeiger für Baden-Württemberg (1975) 2, S. 5 - 11. Vom Handwerk zur Fabrik. Zur Wirtschaftsentwicklung Urachs, Metzingens und des Ermstales im 18. und 19. Jahrhundert, in: Der Kreis Reutlingen, Stuttgart / Aalen 1975, S. 132 - 142. Vom Gewerbe zur Industrie. Kontinuität und Wandel in der Wirtschafts- und Sozialstruktur Urachs zwischen 1750 und 1850, in: Protokoll Arbeitskreis für Landes- und Ortsgeschichte im Verband württembergischer Geschichts- und Altertumsvereine 45 (1975), S. 2 - 8. Handwerk, Handel und Industrie in Urach, in: Schwäbische Heimat 27 (1976), S. 173 - 192. Stuttgart und seine Bibliotheken im Dreißigjährigen Krieg, in: Schwäbische Heimat 27 (1976), S. 17 - 35. Südwestdeutschland, Preußen und das Reich im 19. Jahrhundert. Zwischen nationalem Einheitsstreben und partikularer Selbstbehauptung, in: Beiträge zur Landeskunde. Beilage zum Staatsanzeiger für Baden-Württemberg (1976) 2, S. 1 - 7. 500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477 bis 1977, hg. im Auftrag des Universitätspräsidenten und des Senats der Eberhard-Karls-Universität Tübingen von Hansmartin decker-h auFF / Gerhard FIchtner / Klaus schreIner / bearb. v. Wilfried setzler , Tübingen 1977. Der Fall Büchner. Studien zur Geschichte der akademischen Lehrfreiheit an der Universität Tübingen im 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 307 - 346. Freies Lehren und Lernen an der Universität Tübingen, in: Schwäbische Heimat 28 (1977), S. 228 - 240. Die Bedeutung Südwestdeutschlands für die geistige und politische Kultur der Deutschen, in: Staatsanzeiger für Baden-Württemberg 4. Mai 1977, Jg. 26., Nr. 34, S. 3 - 4 (Festrede beim fünfundzwanzigjährigen Jubiläum des Südweststaates). Die Staufer als Herzöge von Schwaben, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur. Katalog der Ausstellung des Württembergischen Landesmuseums Stuttgart, Bd. 3, hg. v. Reiner h ausherr / Christian väterleIn, Stuttgart 1977, S. 7 - 19. Die Staufer in Sage, Legende und Prophetie, in: ebd., S. 249 - 262.

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Spätmittelalterliche und neuzeitliche Staufer-Überlieferungen in Schwaben und Württemberg, in: ebd., S. 311 - 325 (gemeinsam mit Hans-Georg hoFacker). Die Staufer im geschichtlichen Bewußtsein der Nachwelt, in: Politik und Unterricht, Sonderheft Mai 1978, Reihe B: Sozialgeschichte der Stauferzeit (II), hg. v. der LpB Baden-Württemberg, S. 67 - 78 (erläuternder Text); 38 - 44 (Bildmaterialien); 48 - 60 (Quellenmaterialien). Die Staufer im Gedächtnis der Nachwelt, in: Geist und Frömmigkeit der Stauferzeit, hg. v. Wolfgang böhme (Herrenalber Texte 2), Karlsruhe 1978, S. 40 - 52. Auch in: Zeitwende 49 (1978), S. 65 - 77. Friedrich Barbarossa – Herr der Welt, Zeuge der Wahrheit, die Verkörperung nationaler Macht und Herrlichkeit. Zur Gegenwart des Staufers im Gedächtnis der Mit- und Nachwelt, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur, Bd. 5, Supplement: Vorträge und Forschungen, hg. v. Reiner h ausherr / Christian Väterlein, Stuttgart 1979, S. 521 - 579. Anfänge, Strukturen und Wirkungen staufisch-schwäbischer Herzogsherrschaft, in: Beiträge zur Landeskunde. Beilage zum Staatsanzeiger für Baden-Württemberg (1979) 2, S. 1 - 8. Ludwigsburg in der württembergischen Geschichte des 18. Jahrhunderts. Politische, wirtschaftliche und soziale Bedingungen einer Stadt- und Residenzgründung, in: Hie gut Württemberg. Beilage der Ludwigsburger Kreiszeitung 30 (1979) Nr. 11/12, S. 35 - 40 (Druckfassung der Festrede beim Stadtjubiläum). ›Kommunebewegung‹ und ›Zunftrevolution‹ . Zur Gegenwart der mittelalterlichen Stadt im historisch-politischen Denken des 19. Jahrhunderts, in: Stadtverfassung – Verfassungsstaat – Pressepolitik. Festschrift für Eberhard naujoks zum 65. Geburtstag, hg. v. Franz quarthal / Wilfried setzler , Sigmaringen 1980, S. 139 - 168. Hundert Jahre katholische Kirchengemeinde Jagstfeld 1879–1979. Geschichte und Strukturwandel einer Pfarrei, in: 100 Jahre Katholische Pfarrei Bad Friedrichshall-Jagstfeld, Heilbronn 1980, S. 10 - 31 (für den Druck erweiterte Fassung des Festvortrages ). Licht und Schatten des Absolutismus. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Württemberg im 18. Jahrhundert, in: Beiträge zur Landeskunde. Beilage zum Staatsanzeiger für BadenWürttemberg (1980) 6, S. 1 - 9. Rechtgläubigkeit als ›Band der Gesellschaft‹ und ›Grundlage des Staates‹. Zur eidlichen Verpflichtung von Staats- und Kirchendienern auf die Formula Concordiae und das ›Konkordienbuch‹, in: Bekenntnis und Einheit der Kirche. Studien zum Konkordienbuch, hg. v. Martin brecht / Reinhard schwartz, Stuttgart 1980, S. 351 - 379. Artikel ›Ahnenprobe‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München / Zürich 1980, Sp. 233. Disziplinierte Wissenschaftsfreiheit. Gedankliche Begründung und geschichtliche Praxis freien Forschens, Lehrens und Lernens an der Universität Tübingen (1477–1945) (Contubernium 22), Tübingen 1981, 151 S. Adel oder Oberschicht? Bemerkungen zur sozialen Schichtung der fränkischen Gesellschaft im 6. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 68 (1981), S. 225 - 231.

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Mönchtum im Zeitalter des Barock. Der Beitrag der Klöster zur Kultur und Zivilisation Südwestdeutschlands im 17. und 18. Jahrhundert, in: Barock in Baden-Württemberg. Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Französischen Revolution, hg. v. Badischen Landesmuseum Karlsruhe, Bd. 2, Karlsruhe 1981, S. 343 - 363. Cisterciensisches Mönchtum und gesellschaftliche Umwelt. Zur sozialen und regionalen Herkunft südwestdeutscher Cistercienserkonvente, in: Cistercienser Chronik 88 (1981), S. 12 - 14. Mönchtum zwischen asketischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Spiritualität, Sozialverhalten und Sozialverfassung schwäbischer Reformmönche im Spiegel ihrer Geschichtsschreibung, in: Mönchtum zwischen asketischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Spiritualität, Sozialverhalten und Sozialverfassung schwäbischer Reformmönche im Spiegel ihrer Geschichtsschreibung, in: Speculum Sueviae. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und der geschichtlichen Landeskunde Südwestdeutschlands. Festschrift für Hansmartin Decker-Hauff zum 65. Geburtstag, hg. v. Hans-Martin m aurer / Franz quarthal , Bd. 2, Stuttgart 1982, S. 250 - 307. Zisterziensisches Mönchtum und soziale Umwelt. Wirtschaftlicher und sozialer Strukturwandel in hoch- und spätmittelalterlichen Zisterzienserkonventen, in: Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ergänzungsband, hg. v. Kaspar elm / u. M. v. Peter joerIssen (Schriften des Rheinischen Museumsamtes 18), Köln 1982, S. 79 - 135. ›Grundherrschaft‹. Entstehung und Bedeutungswandel eines geschichtswissenschaftlichen Ordnungs- und Erklärungsbegriffs, in: Die Grundherrschaft im späten Mittelalter, hg. v. Hans Patze (Vorträge und Forschungen 27), Bd. 1, Sigmaringen 1983, S. 11 - 74. Mönchtum, Aufklärung, bürgerliche Bewegung. Südwestdeutsche Klöster im 18. und 19. Jahrhundert, in: Beiträge zur Landeskunde. Beilage zum Staatsanzeiger für BadenWürttemberg (1983) 2, S. 1 - 11. Grenzen literarischer Kommunikation. Bemerkungen zur religiösen und sozialen Dialektik der Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformation, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981, hg. v. Ludger grenzmann / Karl stackmann (Germanistische Symposien. Berichtsbände V), Stuttgart 1984, S. 1 - 20. Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft. Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im späten Mittelalter und in der Reformation, in: Zeitschrift für Historische Forschung 11 (1984), S. 257 - 354. ›Sakrale Herrschaft‹ und ›Heiliger Krieg‹. Kaisertum, Kirche und Kreuzzug im Spiegel der spätmittelalterlichen Heinrichstafel (Unterricht in Westfälischen Museen 18), Münster 1985, 91 S. (mit zahlreichen Abbildungen). Das Haus Württemberg und die Hohen Schulen des Landes, in: 900 Jahre Haus Württemberg. Leben und Leistung für Land und Volk, hg. v. Robert uhland, Stuttgart 31985, S. 593 - 622.

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Die Katastrophe von Nördlingen. Politische, wirtschaftliche und kulturelle Folgen einer Schlacht für Land und Leute des Herzogtums Württemberg, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für Nördlingen und das Ries (1985), S. 39 - 90. Die Stadt des Mittelalters als Faktor bürgerlicher Identitätsbildung. Zur Gegenwärtigkeit des mittelalterlichen Stadtbürgertums im historisch-politischen Bewußtsein des 18., 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, in: Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150 – 1650, hg. v. Cord m ecksePer , Bd. 4, Stuttgart / Bad Cannstatt 1985, S. 517 - 541. Führertum, Rasse, Reich. Wissenschaft von der Geschichte nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Wissenschaft im Dritten Reich, hg. v. Peter lundgreen, Frankfurt a. M. 1985, S. 163 - 252. Iuramentum religionis. Entstehung, Geschichte und Funktion des Konfessionseides der Staatsund Kirchendiener im Territorialstaat der frühen Neuzeit, in: Der Staat 24 (1985), S. 211 - 246. Die mittelalterliche Stadt in Webers Analyse und die Deutung des okzidentalen Rationalismus. Typus, Legitimität, Kulturbedeutung, in: Max Weber, der Historiker, hg. v. Jürgen kocka (Kritische Studien 73), Göttingen 1986, S. 119 - 150. ›Hof‹ (curia) und ›höfische Lebensführung‹ (vita curialis) als Herausforderung an die christliche Theologie und Frömmigkeit, in: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1200, hg. v. Gert k aIser / Jan-Dirk müller (Studia humaniora 6), Düsseldorf 1986, S. 67 - 138. Mönchtum im Geist der Benediktregel. Erneuerungswille und Reformstreben im Kloster Blaubeuren während des hohen und späten Mittelalters, in: Blaubeuren. Die Entwicklung einer Siedlung in Südwestdeutschland, hg. v. Hansmartin decker-h auFF / Immo eberl , Sigmaringen 1986, S. 93 - 167. Benediktinische Klosterreform als zeitgebundene Auslegung der Regel. Geistige, religiöse und soziale Erneuerung in spätmittelalterlichen Klöstern Südwestdeutschlands im Zeichen der Kastler, Melker und Bursfelder Reform, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 86 (1986) S. 105 - 195. ›Versippung‹ als soziale Kategorie mittelalterlicher Kirchen- und Klostergeschichte, in: Medieval Lives and the Historian. Studies in Medieval Prosopography, hg. v. Neithard bulst / Jean-Philippe genet, Kalamazoo Mi. 1986, S. 163 - 180. Vom geschichtlichen Ereignis zum historischen Exempel. Eine denkwürdige Begegnung zwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und Papst Alexander III. in Venedig 1177 und ihre Folgen in Geschichtsschreibung, Literatur und Kunst, in: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion, hg. v. Peter waPnewskI (Germanistische Symposien. Berichtsbände VI), Stuttgart 1986, S. 145 - 176 (mit 14 Abb.). Von der Schwierigkeit, mittelalterliche Mentalitäten kenntlich und verständlich zu machen. Bemerkungen zu Dubys ›Zeit der Kathedralen‹ und ›Drei Ordnungen‹ für deutschsprachige Leser, in: Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), S. 217 - 231. Correctio principis. Gedankliche Begründung und geschichtliche Praxis spätmittelalterlicher Herrscherkritik, in: Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Prob-

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leme, hg. v. František graus (Vorträge und Forschungen 35), Sigmaringen 1987, S. 203 - 256. Diversitas temporum. Zeiterfahrung und Epochengliederung im späten Mittelalter, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. v. Reinhart herzog / Reinhart koselleck (Poetik und Hermeneutik 12), München 1987, S. 381 - 428. Hirsau, Urban II. und Johannes Trithemius. Ein gefälschtes Papstprivileg als Quelle für das Geschichts-, Reform- und Rechtsbewußtsein des Klosters Hirsau im 12. Jahrhundert, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 43 (1987) S. 469 - 529. Sozialer Wandel im Geschichtsdenken und in der Geschichtsschreibung des späten Mittelalters, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. v. Hans Patze (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987, S. 237 - 286. Volkssprache als Element gesellschaftlicher Integration und Ursache sozialer Konflikte. Formen und Funktionen volkssprachlicher Wissensverbreitung um 1500, in: Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit: Staaten, Regionen, Personenverbände, Christenheit, hg. v. Ferdinand seIbt / Winfried eberhardt, Stuttgart 1987, S. 468 - 495. Artikel ›Kloster‹, in: Staatslexikon, hg. v. der Görres-Gesellschaft, Bd. 3, Freiburg / Basel / Wien 71987, Sp. 550 - 555. Alemannisch-schwäbische Stammesgeschichte als Faktor regionaler Traditionsbildung, in: Die historische Landschaft zwischen Lech und Vogesen. Forschungen und Fragen zur gesamtalemannischen Geschichte, hg. v. Pankraz FrIed / Wolf-Dieter sIck , Augsburg 1988, S. 15 - 37. Erneuerung durch Erinnerung. Reformstreben, Geschichtsbewußtsein und Geschichtsschreibung im benediktinischen Mönchtum Südwestdeutschlands an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, in: Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. v. Kurt a ndermann (Ober rheinische Studien 7), Sigmaringen 1988, S. 35 - 87. Artikel ›Fußkuß‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München / Zürich 1988, Sp. 1063 1066. Consanguinitas. Verwandtschaft als Strukturprinzip religiöser Gemeinschafts- und Verfassungsbildung in Kirche und Mönchtum des Mittelalters, in: Beiträge zu Geschichte und Struktur der mittelalterlichen Germania Sacra, hg. v. Irene crusIus (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 93 / Studien zur Germania Sacra 17), Göttingen 1989, S. 176 - 305. Gregor VIII., nackt auf einem Esel. Entehrende Entblößung und schandbares Reiten im Spiegel einer Miniatur der ›Sächsischen Weltchronik‹ , in: Ecclesia et regnum. Beiträge zur Geschichte von Kirche, Recht und Staat im Mittelalter. Festschrift für FranzJosef Schmale zu seinem 65. Geburtstag, hg. v. Dieter berg / Hans-Werner goetz, Bochum 1989, S. 155 - 202. Politischer Systemwandel und historische Begriffsbildung. Beispiele aus der Mediävistik, in: Die Kaulbach-Villa als Haus des Historischen Kollegs. Reden und wissenschaftliche Beiträge zur Eröffnung, hg. v. Horst Fuhrmann, München 1989, S. 153 - 173. Mönchsein in der Adelsgesellschaft des hohen und späten Mittelalters. Klösterliche Gemeinschaftsbildung zwischen spiritueller Selbstbehauptung und sozialer Anpassung,

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in: Historische Zeitschrift 248 (1989), S. 557 - 620 (auch als Separatdruck in den Schriften des Historischen Kollegs [Nr. 20], München 1989 erschienen). Wissenschaft von der Geschichte des Mittelalters nach 1945. Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Mittelalterforschung im geteilten Deutschland, in: Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1965), hg. v. Ernst schulIn, München 1989, S. 87 - 146. Artikel ›Grundherrschaft‹, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 42 (Oktober 1989; 1/630), S. 1 - 4. Artikel ›Toleranz‹, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto brunner / Werner conze /Reinhart koselleck , Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 445 - 494; 524 - 605. ›Duldsamkeit‹ (tolerantia) oder ›Schrecken‹ (terror). Reaktionsformen auf Abweichungen von der religiösen Norm, untersucht und dargestellt am Beispiel des augustinischen Toleranz- und Gewaltkonzeptes und dessen Rezeption im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Religiöse Devianz. Untersuchungen zu sozialen, rechtlichen und theologischen Reaktionen auf religiöse Abweichung im westlichen und östlichen Mittelalter, hg. v. Dieter sImon (ius commune, Sonderheft 48), Frankfurt a. M. 1990, S. 159 - 210. ››Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes‹‹ (Osculetur me osculo oris sui, Cant 1,1). Metaphorik, kommunikative und herrschaftliche Funktionen einer symbolischen Handlung, in: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. v. Hedda r agotzky / Horst wenzel , Tübingen 1990, S. 89 - 132. Konnte Maria lesen? Von der Magd des Herrn zur Symbolgestalt mittelalterlicher Frauenbildung, in: Merkur 44 (1990) 491, S. 82 - 88. Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit. Bildungs- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zur Auslegung und Darstellung von ›Mariä Verkündigung‹, in: Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), S. 314 - 368. Volkstümliche Bibelmagie und volkssprachliche Bibellektüre. Theologische und soziale Probleme mittelalterlicher Laienfrömmigkeit, in: Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, hg. v. Peter dInzelbacher / Dieter R. bauer , Paderborn 1990, S. 329 - 373. Handschriften, Drucke und Einbände aus Bebenhausen. Beiträge zum Druck- und Bibliothekswesen einer südwestdeutschen Zisterzienserabtei im späten Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 49 (1990), S. 143 - 168 (zusammen mit Eberhard gohl). Vom adligen Hauskloster zum ›Spital des Adels‹. Gesellschaftliche Verflechtungen oberschwäbischer Benediktinerkonvente im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 9 (1990), S. 27 - 54. Wissenschaft von der Geschichte des Mittelalters nach 1945. Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Mittelalterforschung im geteilten Deutschland, in: Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten, hg. v. Wolfgang PrInz / Peter weIngart, Frankfurt a. M. 1990, S.75 - 104. Friedrich Barbarossa – Herrscher, Held und Hoffnungsträger. Zur Bedeutung des Staufers für die Ausbildung eines deutschen Nationalbewußtseins im 19. Jahrhundert, in: einhorn-Jahrbuch Schwäbisch-Gmünd 17 (1990), S. 97 - 116.

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Hirsau. St. Peter und Paul 1091–1991, Teil II: Geschichte, Lebens- und Verfassungsformen eines Reformklosters, bearb. v. Klaus schreIner (Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 10/2), Stuttgart 1991. Geschichtsschreibung im Interesse der Reform. Die ›Hirsauer Jahrbücher‹ des Johannes Trithemius (1462–1516), in: ebd., S. 297 - 324. Hirsau und die Hirsauer Reform. Spiritualität, Lebensform und Sozialprofil einer benediktinischen Erneuerungsbewegung im 11. und 12. Jahrhundert, in: ebd., S. 59 - 84. Iura et libertates. Wahrnehmungsformen und Ausprägungen ›bürgerlicher Freyheiten‹ in Städten des Hohen und Späten Mittelalters, in: Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft – Politik – Kultur, hg. v. Hans-Jürgen P uhle (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 1), Göttingen 1991, S. 59 - 106. Politischer Messianismus, Führergedanke und Führererwartung in der Weimarer Republik, in: Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen. Hans-Ulrich Wehler zum 60. Geburtstag, hg. v. Manfred hettlIng u. a., München 1991, S. 237 - 247. Tot- und Mordbeten, Totenmessen für Lebende. Todeswünsche im Gewand mittelalterlicher Frömmigkeit, in: Das Andere wahrnehmen. Beiträge zur europäischen Geschichte. August Nitschke zum 65. Geburtstag gewidmet, hg. v. Martin k IntzInger u. a., Köln / Weimar / Wien 1991, S. 335 - 355. Quelle der Erneuerung in Mönchtum und Kirche. Das Kloster Hirsau im 11. und 12. Jahrhundert, in: Beiträge zur Landeskunde (1991) 5, S. 9 - 17. Kann Wissenschaft in einem Kloster des 20. Jahrhunderts Wissenschaft an der Universität ergänzen?, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens 102 (1991), S. 9 - 17. Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge, hg. v. Klaus schreIner in Zusammenarbeit mit Elisabeth müller-luckner (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 20), München 1992. Laienfrömmigkeit – Frömmigkeit von Eliten oder Frömmigkeit des Volkes? Zur sozialen Verfaßtheit laikaler Frömmigkeitspraxis im späten Mittelalter, in: ebd., S. 1 - 78. Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. v. Klaus schreIner / Norbert schnItzler , München 1992. Historisierung des Körpers. Vorbemerkungen zur Thematik, in: ebd., S. 5 - 22 (zusammen mit Norbert schnItzler). Si homo non peccasset … Der Sündenfall Adams und Evas in seiner Bedeutung für die soziale, seelische und körperliche Verfaßtheit des Menschen, in: ebd., S. 41 - 84. Caesarius von Heisterbach (1180–1240) und die Reform zisterziensischen Gemeinschaftslebens, in: Die niederrheinischen Zisterzienser im späten Mittelalter. Reformbemühungen, Wirtschaft und Kultur, hg. v. Raymund kottje (Zisterzienser im Rheinland 3), Köln 1992, S. 75 - 99. Dauer, Niedergang und Erneuerung klösterlicher Observanz im hoch- und spätmittelalterlichen Mönchtum. Krisen, Reform- und Institutionalisierungsprobleme in der Sicht und Deutung betroffener Zeitgenossen, in: Institutionen und Geschichte. Theoretische

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Rituale, Zeichen, Bilder

Aspekte und mittelalterliche Befunde, hg. v. Gert m elvIlle (Norm und Struktur 1), Weimar / Wien 1992, S. 295 - 341. Hildegard, Adelheid, Kunigunde. Leben und Verehrung heiliger Herrscherinnen im Spiegel ihrer deutschsprachigen Lebensbeschreibungen aus der Zeit des späten Mittelalters, in: Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, hg. v. Susanna burghartz u. a., Sigmaringen 1992, S. 37 - 50. Peregrinatio laudabilis und peregrinatio vituperabilis. Zur religiösen Ambivalenz des Wallens und Laufens in der Frömmigkeitstheologie des späten Mittelalters, in: Wallfahrt und Alltag in Mittelalter und früher Neuzeit. Internationales Round-Table-Gespräch, Krems an der Donau, 8. Oktober 1990, hg. v. Herwig wolFram (Osterr. Akademie d. Wiss. Phil.-Hist. Klasse Sitzungsberichte 592. Bd. / Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 14), Wien 1992, S. 133 - 163. Psalmen in Liturgie, Frömmigkeit und Alltag des Mittelalters, in: Der Landgrafenpsalter. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift HB II 24 der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, Kommentarband, hg. v. Felix heInzer (Codices selecti, Commentarium 93), Graz / Bielefeld 1992, S. 141 - 183. Verschriftlichung als Faktor monastischer Reform. Funktionen von Schriftlichkeit im Ordens- wesen des hohen und späten Mittelalters, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hg. v. Hagen k eller u. a. (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), München 1992, S. 37 - 75. Kirchen- und Klosterpolitik des Adels im Mittelalter als Mittel der Herrschaftssicherung, in: 17. Congreso Internacional de Ciencias Historicas: Madrid, [1990, 26 de agosto al 2 de sept.], Bd. 2, Madrid 1992, S. 676 - 683. Gebildete Analphabeten? Spätmittelalterliche Laienbrüder als Leser und Schreiber wissensvermittelnder und frömmigkeitsbildender Literatur, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache, hg. v. Horst brunner / Norbert Richard wolF, Wiesbaden 1993, S. 296 - 327. Der Tod Marias als Inbegriff christlichen Sterbens. Sterbekunst im Spiegel mittelalterlicher Legendenbildung, in: Tod im Mittelalter, hg. v. Arno borst u. a. (Konstanzer Bibliothek 20), Konstanz 1993, S. 261 - 312. Fetisch oder Heilszeichen? Kreuzsymbolik und Passionsfrömmigkeit im Angesicht des Todes, in: Zeitschrift für Historische Forschung 20 (1993), S. 417 - 461. Nobilitas Mariae. Die edelgeborene Gottesmutter und ihre adeligen Verehrer: Soziale Prägungen und politische Funktionen mittelalterlicher Adelsfrömmigkeit, in: Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte 10.–18. Jahrhundert, hg. v. Claudia oPItz (Clio Lucernensis 2), Zürich 1993, S. 213 - 242. Geschichtsschreibung und historische Traditionsbildung in Oberschwaben. Eine Landschaft auf der Suche nach ihrer Identität, in: Politische Kultur in Oberschwaben, hg. v. Peter blIckle, Tübingen 1993, S. 43 - 70. Maria – Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München u. a. 1994, 591 S. Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. v. Jürgen m Iethke / Klaus schreIner , Sigmaringen 1994.

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Innenansichten einer sich wandelnden Gesellschaft. Vorbemerkungen zu Fragestellungen und Ergebnissen von zwei Tagungen über die Wahrnehmung sozialen Wandels im Mittelalter, in: ebd., S. 9 - 26 (zusammen mit Jürgen m Iethke). Zisterziensische Spiritualität. Theologische Grundlagen, funktionale Voraussetzungen und bildhafte Ausprägungen im Mittelalter, hg. v. Klaus schreIner / Clemens Kasper ocIst (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige, Ergänzungsband 34), St. Ottilien 1994. Puritas regulae, caritas und necessitas. Leitbegriffe der Regelauslegung in der monastischen Theologie Bernhards von Clairvaux, in: ebd., S. 75 - 100. Bürgerschaft. Rezeption und Innovation der Begrifflichkeit vom Hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert hg. v. Reinhart koselleck / Klaus schreIner (Sprache und Geschichte 22), Stuttgart 1994. Einleitung: Von der alteuropäischen zur neuzeitlichen Bürgerschaft. Ihr politisch-sozialer Wandel im Medium von Begriffs-, Wirkungs- und Rezeptionsgeschichten, in: ebd., S. 11 - 39 (zusammen mit Reinhart koselleck). Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Klaus schreIner / Ulrich m eIer (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 7), Göttingen 1994. Regimen civitatis. Zum Spannungsfeld von Freiheit und Ordnung in alteuropäischer Stadtgesellschaft, in: ebd., S. 13 - 34 (zusammen mit Ulrich m eIer). Defectus natalium – Geburt aus einem unrechtmäßigen Schoß als Problem klösterlicher Gemeinschaftsbildung, in: Illegitimität im Spätmittelalter, hg. v. Ludwig schmugge (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 29), München 1994, S. 85 - 114. Legitimität, Autonomie, Rationalisierung. Drei Kategorien Max Webers zur Analyse mittelalterlicher Stadtgesellschaften – wissenschaftsgeschichtlicher Ballast oder unabgegoltene Herausforderung?, in: Die okzidentale Stadt nach Max Weber. Zum Problem der Zugehörigkeit in Antike und Mittelalter, hg. v. Christian m eIer (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 17), München 1994, S. 161 - 211. »Von dem lieben herrn sant Jheronimo: wie er geschlagen ward von dem engel.« Frömmigkeit und Bildung im Spiegel der Auslegungsgeschichte eines Exempels, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen zum 65. Geburtstag, hg. v. Johannes helmrath / Heribert müller , Bd. 1, München 1994, S. 415 - 443. Gab es im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Antiklerikalismus? Von der Schwierigkeit, aus einem modernen Kampfbegriff eine Kategorie Historischer Erkenntnis zu machen, in: Zeitschrift für Historische Forschung 21 (1994), S. 513 - 521. Klösterliche Gedächtniskultur im Wandel. Teil I: Von Hermann von der Reichenau bis Johannes Trithemius, in: Beiträge zur Landeskunde (1994) 1, S. 1 - 9. Klösterliche Gedächtniskultur im Wandel. Teil 2: Von der Stifterchronik zu den Anfängen wissenschaftlicher Arbeit, ebd., (1994) 2, S. 13 - 18. Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Klaus schreIner / Gerd schwerhoFF (Norm und Struktur 5), Köln / Weimar / Wien 1995. Verletzte Ehre. Überlegungen zu einem Forschungskonzept, in: ebd., S. 1 - 28. (zusammen mit Gerd schwerhoFF).

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Rituale, Zeichen, Bilder

Frömmigkeit in politisch-sozialen Wirkungszusammenhängen des Mittelalters. Theorie- und Sachprobleme, Tendenzen und Perspektiven der Forschung, in: Mittelalterforschung nach der Wende 1989, hg. v. Michael borgolte (Historische Zeitschrift. Beiheft 20), München 1995, S. 177 - 226. Artikel ‹Stoß, Peter›, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 9, Berlin / New York 1995, Sp. 366 - 369. »Deine Brüste sind süßer als Wein«. Ikonographie, religiöse Bedeutung und soziale Funktion eines Mariensymbols, in: Pictura quasi Fictura. Die Rolle des Bildes in der Erforschung von Alltag und Sachkultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, bearb. v Gerhard jarItz (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Diskussionen und Materialien 1), Wien 1996, S. 87 - 127. »Gerechtigkeit und Friede haben sich geküßt« (Ps 84,11). Friedensstiftung durch symbolisches Handeln, in: Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter, hg. v. Johannes Fried, (Vorträge und Forschungen 43), Sigmaringen 1996, S. 37 - 86. Teilhabe, Konsens und Autonomie. Leitbegriffe kommunaler Ordnung in der politischen Theorie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Theorien kommunaler Ordnung in Europa, hg. v. Peter blIckle (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 36), München 1996, S. 35 - 61. Signoria fondiaria: un concetto moderno per una realtà medieval, in: Strutture e trasformazioni della signoria rurale nei secoli X–XIII. Atti della XXXVII settimana di studio, 12–16 settembre 1994, hg. v. Gerhard dIlcher (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderno 44), Bologna (1996), S. 83 - 119. Geschichte der Universität in Europa, in: Forschung und Lehre 10 (1996), 3, S. 530 - 532. Viva vox und ratio scripta. Mündliche und schriftliche Kommunikationsformen im Mönchtum des Mittelalters, hg. v. Clemens k asPer / Klaus schreIner (Vita regularis 5), Münster in Westfalen 1997. Lautes Lesen, fiktive Mündlichkeit, verschriftlichte Norm. Einleitende Bemerkungen über Fragen, Themen und Ergebnisse einer Tagung, in: ebd., S. 1 - 36. Dispens vom Gelübde der Keuschheit in der Kanonistik des späten Mittelalters. Zur normverändernden und rechtsbildenden Kraft politischer und gesellschaftlicher Interessen, in: Proceedings of the Ninth International Congress of Medieval Canon Law, hg. v. Peter l andau / Jörs müller (Monumenta iuris canonici, Series C: Subsidia 10), Cittá del Vaticano 1997, S. 1079 - 1100. Maria patrona. La Sainte Vierge comme figure symbolique des villes, territoires et nations à la fin du moyen âge et au début des temps modernes, in: Identité régionale et conscience nationale en France et en Allemagne du moyen âge à l‘époque moderne. Actes du colloque organisé par l‘Université Paris XII … les 6, 7 et 8 octobre 1993, hg. v. Jean-Marie moeglIn / Rainer babel (Beihefte der Franciam 39), Sigmaringen 1997, S. 133 - 153. Religiöse, historische und rechtliche Legitimation spätmittelalterlicher Adelsherrschaft, in: Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa, hg. v. Otto Gerhard

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oexle / Werner ParavIcInI (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 133), Göttingen 1997, S. 376 - 430. »Nimm lies«. Augustinus als Vorbild (exemplar) und Regel (regula) klösterlicher Buch- und Lesekultur im späten Mittelalter (Schriftenreihe der Akademie der Augustiner-Chorherren von Windesheim 3), Paring 1998, 75 S. Das Medium Bild in historischen Ausstellungen: zur Sektion 6 des 41. Deutschen Historikertags in München 1996, hg. v. Klaus schreIner u. a. (Materialien zur bayerischen Geschichte und Kultur 5), Augsburg 1998. Antijudaismus in Bildern des späten Mittelalters, in: ebd., S. 9 - 34. »Beutegut aus Rüst- und Waffenkammern des Geistes«. Tübinger Bibliotheksverluste im Dreißigjährigen Krieg, in: Eine Stadt des Buches. Tübingen 1498-1998, bearb. v. Gerd brInkhus / Wilfried l agler / Claudine PachenIcke , Tübingen 1998, S. 77 - 130. »Wann kommt der Retter Deutschlands?« Formen und Funktionen von politischem Messianismus in der Weimarer Republik, in: Saeculum 49 (1998), S. 107 - 160. Legitimation, Repräsentation, Schriftlichkeit. Gedankliche Begründungen und symbolische Formen mittelalterlicher Abtsherrschaft, in: Political Thought and the Realities of Power in the Middle Ages. Politisches Denken und die Wirklichkeit der Macht im Mittelalter, hg. v. Joseph cannIng / Otto G. oexle (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 147), Göttingen 1998, S. 67 - 111. Messianism in the Political Culture of the Weimar Republic, in: Toward the Millenium. Messianic Expectations from the Bible to Waco, hg. v. Peter schäFer / Mark R. Cohen (Studies in the history of religious 77), London / Boston / Köln 1998, S. 311 - 361. Tolerantia. Begriffs- und wirkungsgeschichtliche Studien zur Toleranzauffassung des Kirchenvaters Augustinus, in: Toleranz im Mittelalter, hg. v. Alexander Patschovsky / Harald zImmermann (Vorträge und Forschungen 45), Sigmaringen 1998, S. 335 - 389. Das verlorene Paradies. Der Sündenfall in Deutungen der Neuzeit, in: Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, hg. v. Richard van dülmen, Wien / Köln / Weimar 1998, S. 43 - 71. Ängste und Apokalyptische Visionen im Mittelalter. Was aus zwei neuen Büchern darüber zu erfahren ist, in: Antoniter-Forum 6 (1998), S. 73 - 84. Alamannen und Schwaben - erinnerte Stammesgeschichte: zur historisch-politischen Bewußtseinsbildung im Mittelalter und in der Neuzeit, in: Beiträge zur Landeskunde von Baden-Württemberg 3 (1998), S. 1 - 9. Schutzherr, Schlachtenhelfer, Friedensstifter. Die Verehrung Martins von Tours in politischen Kontexten des Mittelalters, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 18 (1999), S. 89 - 110. Spätmittelalterliches Zisterziensertum im deutschen Südwesten. Spiritualität, gesellschaftliche Rekrutierungsfelder, soziale Verhaltensmuster, in: Anfänge der Zisterzienser in Südwestdeutschland. Politik. Kunst und Liturgie im Umfeld des Klosters Maulbronn, hg. v. Peter rückert / Dieter Planck (Oberrheinische Studien 16), Stuttgart 1999, S. 43 - 77.

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Rituale, Zeichen, Bilder

Verletzte Ehre. Ritualisierte Formen politischer und rechtlicher Entehrung im späten Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit, in: Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Bestandsaufnahme eines europäischen Forschungsproblems, hg. v. Dietmar wIlloweIt (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteurpoas/Symposien und Synthesen 1), Weimar / Wien 1999, S. 263 - 335. Heilige, Blutreliquien und schützende Glocken. Konflikt zwischen Aufklärung und religiöser Praxis in der alten Diözese Konstanz, in: Beiträge zur Landeskunde von Baden-Württemberg 4 (1999), S. 1 - 11. Frommsein in Stadtgesellschaften des späten Mittelalters, in: Goldgrund und Himmelslicht. Die Kunst des Mittelalters in Hamburg; Katalog zur Ausstellung der Hamburger Kunsthalle in Zusammenarbeit mit dem Museum für Hamburgische Geschichte, dem Museum für Kunst und Gewerbe, der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky und dem Staatsarchiv Hamburg vom 19. November 1999 bis 5. März 2000, hg. v. Uwe M. schneede , Hamburg 1999, S. 35 - 45. Bilder, Texte, Rituale. Wirklichkeitsbezug und Wirklichkeitskonstruktion politischrechtlicher Kommunikationsmedien in Stadt- und Adelsgesellschaften des späten Mittelalters, hg. v. Klaus schreIner / Gabriela sIgnorI (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 24), Berlin 2000. Texte, Bilder, Rituale. Fragen und Erträge einer Sektion auf dem Deutschen Historikertag (8. bis 11. September 1998), in: ebd., S. 1 - 15 (zusammen mit Gabriela sIgnorI). Märtyrer, Schlachtenhelfer, Friedensstifter. Krieg und Frieden im Spiegel mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Heiligenverehrung, hg. v. Klaus schreIner (Otto-von-FreisingVorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt 18), Opladen 2000. Gottesfriede und Heiliger Krieg. Religion in politisch-militärischen Kontexten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Die religiöse Dimension im Geschichtsunterricht an Europas Schulen. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, Tagungsband, hg. v. Waltraud schreIber (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik 2), Neuried 2000, S. 157 - 191. Observantia regularis. Normbildung, Normenkontrolle und Normwandel im Mönchtum des hohen und späten Mittelalters, in: Prozesse der Normbildung und Normveränderung im mittelalterlichen Europa, hg. v. Doris ruhe / Karl-Heinz sPIess, Stuttgart 2000, S. 275 - 313. Buchstabensymbolik, Bibelorakel, Schriftmagie. Religiöse Bedeutung und lebensweltliche Funktion heiliger Schriften im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Horst wenzel / Winfried seIPel / Gotthart Wunberg (Schriften des kunsthistorischen Museums 5), Wien 2000, S. 59 - 103. Frommsein in kirchlichen und lebensweltlichen Kontexten. Fragen, Themen und Tendenzen der frömmigkeitsgeschichtlichen Forschung in der neueren Mediävistik, in: Die Aktualität des Mittelalters, hg. v. Werner goetz (Herausforderungen 10), Bochum 2000, S. 57 - 106. Reichsbegriffe und Romgedanken. Leitbilder politischer Kultur in der Weimarer Republik, in: Deutsche Italomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik (Kolloquium 29.9–2.10.1998 in Bad Homburg in der Werner-Reimers-Stiftung), hg. v. Wolfgang l ange / Norbert schnItzler , München 2000, S. 137 - 177.

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Grundherrschaft – ein neuzeitlicher Begriff für eine mittelalterliche Sache, in: Strukturen und Wandlungen der ländlichen Herrschaftsformen vom 10. zum 13. Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich, hg. v. Gerhard dIlcher / Cinzio vIolante (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 14), Berlin 2000, S. 69 - 93. Kaiser, Ketzer und Kommunen, in: Das 13. Jahrhundert. Kaiser, Ketzer und Kommunen, hg. v. Michael jeIsmann (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 14), München 2000, S. 9 - 22. Bürger- und Gottesstadt im späten Mittelalter, in: Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, hg. v. Peter lundgreen (Bürgertum 17), Göttingen 2000, S. 43 - 84 (zusammen mit Ulrich m eIer). »Got is selve recht«. Angewandte Theologie in Rechtsordnungen und Rechtsverfahren des späten Mittelalters, in: Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, II. Teil, hg. v. Hartmut bookmann u. a. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch - historische Klasse, Dritte Folge 239), Göttingen 2001, S. 335 - 368. Öffentlicher Spott, gesellschaftliche Ausgrenzung, vorenthaltene Bürgerrechte. Frankfurts Juden im Gesichtskreis Goethes, Börnes und Heines, in: »…das Flüstern eines leisen Wehens…«. Beiträge zu Kultur und Lebenswelt europäischer Juden. Festschrift für Utz Jeggle, hg. v. Freddy r aPhael , Konstanz 2001, S. 241 - 279. Das Buch im Nacken. Bücher und Buchstaben als zeichenhafte Kommunikationsmedien in rituellen Handlungen der mittelalterlichen Kirche, in: Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche, hg. v. Horst wenzel / Winfried seIPel / Gotthard Wunberg (Schriften des kunsthistorischen Museums 6), Wien 2001, S. 73 - 95. Wahl, Amtsantritt und Amtsenthebung von Bischöfen. Rituelle Handlungsmuster, rechtlich normierte Verfahren, traditionsgestützte Gewohnheiten, in: Vormoderne politische Verfahren, hg. v. Barbara stollberg-r IlInger (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 25), Berlin 2001, S. 73 - 117. Nudis pedibus. Barfüßigkeit als religiöses und politisches Ritual, in: Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, hg. v. Gerd a lthoFF (Vorträge und Forschungen 51), Stuttgart 2001, S. 53 - 124. Adams und Evas Griff nach dem Apfel – Sündenfall oder Glücksfall ?, in: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne, hg. v. Peter von moos (Norm und Struktur 15), Köln / Weimar / Wien 2001, S. 151 -1 75. Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus schreIner , München 2002. Soziale, visuelle und körperliche Dimensionen mittelalterlicher Frömmigkeit. Fragen, Themen, Erträge einer Tagung, in: ebd., S. 9 - 38. La dévotion comme pratique sociale, littéraire et visuelle. Acquis et centres d’intérêts de la médiévistique allemande, in: Les tendances actuelles de l’histoire du Moyen Âge en France et en Allemagne, hg. v. Jean-Claude schmItt / Otto Gerhard oexle, Paris 2002, S. 187 - 218.

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Rituale, Zeichen, Bilder

Mittelalterliche Religiosität in religionsgeschichtlichen Zusammenhängen, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 21 (2002), S. 357 - 364. Ein Herz und eine Seele. Eine urchristliche Lebensform und ihre Institutionalisierung im augustinisch geprägten Mönchtum des hohen und späten Mittelalters, in: ›Regula Sancti Augustini. Normative Grundlage differenter Verbände im Mittelalter, hg. v. Gert Melville / Anne müller (Publikationen der Akademie der Augustiner-Chorherren von Windesheim 3), Paring 2002, S. 1 - 47. Maria Victrix. Siegbringende Hilfen marianischer Zeichen in der Schlacht auf dem Weißen Berg (1620), In: Kloster-Stadt-Region. Festschrift für Heinrich Rüthing, hg. v. Johannes a ltenberend, Bielefeld 2002, S. 87 - 144. Heilige Buchstaben, Texte und Bücher, die schützen, heilen und helfen. Formen und Funktionen mittelalterlicher Schriftmagie, in: Materialität und Medialität von Schrift, hg. v. Erika gerber / Konrad ehlIch / Jan-Dirk müller (Schrift und Bild in Bewegung 1), Bielefeld 2002, S. 73 - 89. Litterae mysticae. Symbolik und Pragmatik heiliger Buchstaben, Texte und Bücher in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters, in: Pragmatische Schriftlichkeit, hg. v. Christel m eIer u. a. (Akten des Internationalen Kolloquiums 26.-29. Mai 1999), München 2002, S. 277 - 337. »Brot der Tränen«. Emotionale Ausdrucksformen monastischer Spiritualität, in: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur, hg. v. Klaus r Idder / Otto l anger , Berlin 2002, S. 193 - 248. ›Göttliche Schreib-Kunst‹. Eigenhändige Aufzeichnungen Gottes, Jesu und Mariä. Schriftlichkeit in heilsgeschichtlichen Kontexten, in: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002), S. 95 - 132, mit 9 Abb. Bilder des Reiches. Bildsprachen und Sprachbilder, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 397 - 412. Maria. Leben, Legenden, Symbole, München 2003, 128 S. Schwäbische Barockklöster. Glanz und Elend klösterlicher Gemeinschaften, Lindenberg 2003, 72 S. »Gott zur Ehre, dem Vaterland zum Nutzen«. Geistliche, kulturelle und soziale Lebenswelten der alten Klöster im Zeitalter der Aufklärung und Säkularisation, in: Alte Klöster – Neue Herren. Die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803, hg. v. Volker h ImmeleIn, Ausstellungskatalog, Ostfildern 2003, S. 35 - 49. Hochmittelalterliche Reformbewegungen. Differenzierungsprozesse im benediktinisch geprägten Ordenswesen des 11. und 12. Jahrhunderts, in: Württembergisches Klosterbuch. Klöster, Stifte und Ordensgemeinschaften von den Anfängen bis in die Gegenwart, hg. v. Wolfgang zImmermann / Nicole PrIeschIng, Ostfildern 2003, S. 35-48. Reformstreben im spätmittelalterlichen Mönchtum. Benediktiner, Zisterzienser und Prämonstratenser auf der Suche nach strenger Observanz ihrer Regeln und Statuten, in: ebd., S. 91 - 108. Oberschwäbische Klosterlandschaft. Religiöse, kulturelle Lebenswelten barocker Mönche, in: Oberschwaben. Mitteilungen der Gesellschaft Oberschwaben 5 (2003) 1, S. 1 - 20. Der Psalter. Theologische Symbolik, frommer Gebrauch und lebensweltliche Pragmatik einer heiligen Schrift und lebenspraktische Funktion einer heiligen Schrift in Kirche

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und Gesellschaft des Mittelalters, in: Vestigia Bibliae 24/25 (2002/2003), S. 1 - 45. (ebenfalls veröffentlicht in: Metamorphosen der Bibel. Beiträge zur Tagung ‚Wirkungsgeschichte der Bibel im deutschsprachigen Mittelalter‘ vom 4. bis 6. September 2000 in der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Trier, hg. v. Ralf Plate / Andrea r aPP / Heimo r eInItzer , Bern u. a. (2004), S. 9 - 46.) Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, in: Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus, hg. v. Klaus h Ildebrand (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 59), München 2003, S. 1 - 44. Bildung als Norm adliger Lebensführung. Zur Wirkungsgeschichte eines Zivilisationsprozesses, untersucht am Beispiel von De eruditione filiorum nobilium des Vinzenz von Beauvais, in: Zivilisationsprozesse. Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne, hg. v. Rüdiger schnell , Köln / Weimar / Wien 2004, S. 199 - 237. Sygzeichen. Symbolische Kommunikationsmedien in kriegerischen Konflikten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, hg. v. Ute Frevert / Wolfgang braungart, Göttingen 2004, S. 20 - 94. »Die wahrheit wirt uns menschen verkündt durch Gottes wort mündlich und schriftlich«. Debatten über das geschriebene und ungeschriebene Wort Gottes in volkssprachlichen deutschen Theologien der frühen Neuzeit, in: Normieren, Tradieren, Inszenieren. Das Christentum als Buchreligion, hg. v. Andreas holzem, Darmstadt 2004, S. 177 - 223. Signa Victricia. Heilige Zeichen in kriegerischen Konflikten des Mittelalters, in: Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms – Universität Münster, hg. v. Gerd a lthoFF (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertsysteme 3), Münster 2004, S. 259 - 300. Maria – Schild und Schutz der Christenheit. Marienverehrung in politischen Kontexten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Am Anfang war das Auge. Kunsthistorische Tagung anläßlich des 100jährigen Bestehens des Diözesanmuseums Hofburg Brixen, hg. v. Leo a ndergassen (Veröffent lichungen der Hofburg Brixen 2), Brixen 2004, S. 14 - 54. Hirsau I: Lebens- und Verfassungsformen eines Schwarzwaldklosters, (Calw - Geschichte einer Stadt), Calw 2005, 108 S. Norbertus triumphans. Formen und Funktionen der Norbertverehrung in oberschwäbischen Prämonstratenserklöstern, in: Friedrich Schiedel Wissenschaftspreis zur Geschichte Oberschwabens, Reden zur dritten Preisverleihung 2003, Ravensburg 2005, S. 26 - 76. Seelsorge in Frauenklöstern – sakramentale Dienste, geistliche Erbauung, ethische Disziplinierung, in: Krone und Schleier: Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern [anlässlich der Ausstellung »Krone und Schleier. Kunst aus Mittelalterlichen Frauenklöstern« vom 19. März bis 3. Juli 2005], bearb. v. Jutta FrIngs, hg. v. der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn und Ruhrlandmuseum Essen, München 2005, S. 52 - 65. »Helm ab zum Ave Maria«. Kriegstheologie und Kriegsfrömmigkeit im Ersten Weltkrieg, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 25 (2006), S. 65 - 98.

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Rituale, Zeichen, Bilder

Qualis debeat abbas esse. Symbolische Ausdrucksformen, gedankliche Begründungen und sozialethische Handlungsnormen mittelalterlicher Abtsherrschaft, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 117 (2006), S. 7 - 29. »Brot der Mühsal« – Körperliche Arbeit im Mönchtum des hohen und späten Mittelalters. Theologisch motivierte Einstellungen, regelgebundene Normen, geschichtliche Praxis, in: Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklichkeiten, hg. v. Verena Postel , Berlin 2006, S. 133 - 170. Abecedarium. Die Symbolik des Alphabets in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kirchweihe, in: »Das Haus Gottes, das seid ihr selbst«. Mittelalterliches und barockes Kirchenverständnis im Spiegel der Kirchweihe, hg. v. Ralf M. W. stammberger / Claudia stIcher / zs. m. Annekatrin warnke (Erudiri sapientia VI), Berlin 2006, S. 143 - 187. ›Spital des Adels‹. Die Fürstabtei Kempten in der Frühen Neuzeit. Adliges Standesdenken und benediktinisches Reformstreben im Widerstreit, in: Adel im Wandel. Oberschwaben von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, hg. v. Elmar L. kuhn / i. Verb. m. Peter blIckle, Ostfildern 2006, S. 497 - 513. »Abwuerdigung der Feyertage«. Neuordnung der Zeit im Widerstreit zwischen religiöser Heilssorge und wirtschaftlichem Fortschritt, in: Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit, hg. v. Arndt brendecke / Ralf-Peter Fuchs / Edith koller (Pluralisierung und Autorität 10), Berlin 2007, S. 257 - 304. Schutzherrin und Schirmfrau Maria. Marienverehrung als Quelle politischer Identitätsbildung in Städten und Ländern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Patriotische Heilige. Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne, hg. v. Dieter R. bauer / Klaus herbers / Gabriela sIgnorI (Beiträge zur Hagiographie 5), Stuttgart 2007, S. 253 - 307. »Unter deinen Schutz und Schirm«. Maria als himmlische Schutzfrau in religiösen und politisch-sozialen Kontexten des Mittelalters und der Neuzeit, in: Zur Debatte. Themen der katholischen Akademie in Bayern (2007) 3, S. 11 - 13. Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich, hg. v. Klaus schreIner / u. M. v. Elisabeth müller-luckner (Beiträge zur Hagiographie 5), München 2008. Einführung, in: ebd., S. VII - XXIII. Kriege im Namen Gottes, Jesu und Maria. Heilige Abwehrkämpfe gegen die Türken im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: ebd., S. 151 - 192. Eines deutschen Ritters Dialog über den Hof / Ulrich von Hutten , hg. v. Rainer Albert müller / Klaus schreIner (Beiträge zur Hagiographie 5), Kiel 2008. ›Wissenschaft unter politischer Führung‹. Von der Wissenschaftsfreiheit in der Weimarer Republik zur Wissenschaftsideologie im Dritten Reich, in: Wissenschaftsfreiheit in Vergangenheit und Gegenwart, hg. v. Rainer Albert müller / Rainer Christoph schwInges (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 9), Basel 2008, S. 93 - 183. Das »gelbe zeychen«. Norm und Praxis einer den Juden aufgezwungenen Kennzeichnungspflicht, in: Recht und Verhalten in vormodernen Gesellschaften. Festschrift für

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Neithard Bulst, hg. v. Andrea bendlage / Andreas PrIever / Peter schuster , Bielefeld 2008, S. 67 - 101. Unbefleckt empfangen. Zur Theologie und Politisierung einer marianischen Glaubenslehre, in: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern (2008) 7, S. 5 - 9. Pastoral Care in Female Monasteries: Sacramental Services, Spiritual Edification, Ethical Discipline, in: Crown and veil: female monasticism from the fifth to the fifteenth centuries ; [essays originally commissioned for the Exhibition Krone und Schleier: Kunst aus Mittelalterlichen Frauenklöstern], hg. v. Jeffrey F. h amburger , New York u. a. 2008, S. 225 - 244. Von der Geliebten zur himmlischen Schutz- und Siegesfrau. Zur semantischen Umbesetzung einer biblischen Frau in der Hohenliedauslegung des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Frühmittelalterliche Studien 42 (2008), S. 399 - 423. Juliana von Lüttich (1193–1258). Eine Frau in den Liliengärten des Herrn, in: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern (2008) 4, S. 41 - 43. Siegbringende Marienbilder. Formen und Funktionen bildhafter Kommunikation in militärischen Konflikten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, DFG-Symposion 2006, hg. v. Peter strohschneIder , Berlin / New York 2009, S. 844 - 1026. Die lesende und schreibende Maria als Symbolgestalt religiöser Frauenbildung, in: Die lesende Frau, hg. v. Gabriela sIgnorI (Wolfenbütteler Forschungen 121), Wolfenbüttel 2009, S. 113 - 154. Communio – Semantik, Spiritualität und Wirkungsgeschichte einer in der Augustinusregel verankerten Lebensform, in: Frömmigkeit und Theologie an Chorherrenstiften. Vierte wissenschaftliche Fachtagung zum Stiftskirchenprojekt des Instituts für geschichtliche Landeskunde und historische Hilfswissenschaften der Universität Tübingen (14.-16. März 2003), hg. v. Ulrich köPF / Sönke l orenz in Verbindung mit Dieter R. bauer und der Akademie der Diözese Rottenburg (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 66), Ostfildern 2009, S. 63 - 89. Das Ordenskleid als Gnadengabe. Charismatische Deutung einer klösterlichen Institution, in: Institution und Charisma. Festschrift für Gert Melville, hg. v. Franz Josef Felten / Annette k ehnel / Stefan weInFurter , Köln u. a. 2009, S. 401 - 424. Osculum pacis. Bedeutung und Geltungsgründe einer symbolischen Handlung, in: Spielregeln der Mächtigen. Mittelalterliche Politik zwischen Gewohnheit und Konvention, hg. v. Claudia garnIer , Darmstadt 2010, S. 165 - 204. Fortschritt der Technik als Weg in ein neues Paradies. Zur theologischen Legitimationsbedürftigkeit technischer Neuerungen, in: Aufbruch im Mittelalter. Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne. Studien zu Ehren von Rainer C. Schwinges, hg. v. Christian hesse / Klaus oschema, Ostfildern 2010, S. 125 - 158

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Rituale, Zeichen, Bilder

Im Druck befindliche Aufsätze: Alttestamentliche Kriegshelden in der politischen Theologie des späten Mittelalters und in der frühen Neuzeit, in: Tagungsband ›Denkmuster christlicher Legitimation von Gewalt. Ihre Herkunft und ihr Wandel von der Spätantike zur Moderne‹. »Strengkeit des gerichts und der straffe mit sunderlichen gnaden gelyndert«. Theologische Grundlegung, gedankliche Durchdringung und geschichtliche Praxis hoch- und spät mittelalterlicher Gnadenjustiz, in: Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Diskurs des späteren Mittelalters (Zeitschrift für historische Forschung, Beihefte). Vom Soldaten des Kaisers zum Soldaten Christi, vom Soldaten Christi zum Schutz- und Kriegsheiligen. Rollenwechsel des heiligen Martin von Tours, in: Tagungsband ›Heilige Ritter – Heroische Heilige‹. ›Himmlische Großheldin‹ und ›maechtige Heers-Fuehrerin‹ Maria, in: Tagungsband ›Maria in der Krise. Gesellschaftspolitische Instrumentalisierung einer religiösen Symbolfigur zur Zeit der Konfessionalisierung und im postkommunistischen Transformationsprozess in Ostmitteleuropa‹.

drucknachweIse Signa Victricia. Heilige Zeichen in kriegerischen Konflikten des Mittelalters Zeichen, Rituale, Werte: Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, hg. v. Gerd a lthoFF / u. M. v. Christiane Witthöft, Münster 2004, S. 259-300.

»Gerechtigkeit und Frieden haben sich geküsst« (Ps 84,11). Friedensstiftung durch symbolisches Handeln Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter, hg. v. Johannes FrIed (Vorträge und Forschungen 43), Sigmaringen 1996, S. 37-86.

›Nudis Pedibus‹. Barfüßigkeit als religiöses und politisches Ritual Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, hg. v. Gerd a lthoFF (Vorträge und Forschungen 51), Stuttgart 2001, S. 53-124.

»Deine Brüste sind süßer als Wein«. Ikonographie, religiöse Bedeutung und soziale Funktion eines Mariensymbols Pictura quasi fictura. Die Rolle des Bildes in der Erforschung von Alltag und Sachkultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, bearb. v. Gerhard jarItz (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Diskussionen und Materialien 1), Wien 1996, S. 87-127.

Antijudaismus in Marienbildern des späten Mittelalters Das Medium Bild in historischen Ausstellungen. Zur Sektion 6 des 41. Deutschen Historikertags in München 1996, hg. v. Klaus schreIner u. a. (Materialien zur bayerischen Geschichte und Kultur 5), Augsburg 1998, S. 9-34.

Das Buch im Nacken. Bücher und Buchstaben als zeichenhafte Kommunikationsmedien in rituellen Handlungen der mittelalterlichen Kirche Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche, hg. v. Horst wenzel / Wilfried seIPel / Gotthart wunberg (Schriften des Kunsthistorischen Museums 6), Wien 2001, S. 73-95.

NORM UND STRUKTUR

Band 36:

STUDIEN ZUM SOZIALEN WANDEL IN MITTELALTER UND FRÜHER NEUZEIT

WANDELBARE TRADITIONEN – TRADIERTER WANDEL

Herausgegeben von Gert Melville in Verbindung mit Gerd Althoff, Heinz Duchhardt, Peter Landau, Klaus Schreiner und Winfried Schulze Eine Auswahl.

Band 32:

Wolfgang Forster

KONKURS ALS VERFAHREN FRANCISCO SALGADO DE SOMOZA IN DER GESCHICHTE DES INSOLVENZRECHTS

2009. XIV, 430 S. Gb. ISBN 978-3-412-20187-6

Band 33:

Ulrich Niggemann

IMMIGRATIONSPOLITIK ZWISCHEN KONFLIKT UND KONSENS DIE HUGENOTTENANSIEDLUNG IN DEUTSCHLAND UND ENGLAND (1681–1697)

ZÜNFTISCHE ERINNERUNGSKULTUREN IN DER FRÜHEN NEUZEIT

2009. 486 S. 20 s/w-Abb. auf 16 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20302-3

Band 37,1: Orazio Condorelli, Franck Roumy, Mathias Schmoeckel (Hg.) DER EINFLUSS DER KANONISTIK AUF DIE EUROPÄISCHE RECHTSKULTUR BAND 1: ZIVIL- UND ZIVILPROZESSRECHT

2009. XVIII, 445 S. Gb. ISBN 978-3-412-20433-4

Band 38:

Harriet Rudolph

DAS REICH ALS EREIGNIS FORMEN UND FUNKTIONEN DER HERRSCHAFTSINSZENIERUNG BEI KAISEREINZÜGEN (1558–1618)

2008. XII, 627 S. Gb. ISBN 978-3-412-20198-2

2011. Ca. 680 S. Ca. 12 farb. und 35 s/wAbb. auf 40 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20534-8

Band 34:

Band 39:

Benjamin Steiner

DIE ORDNUNG DER GESCHICHTE HISTORISCHE TABELLENWERKE IN DER FRÜHEN NEUZEIT

2008. X, 385 S. 14 s/w-Abb. auf 12 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20227-9

Band 35:

Michael Hohlstein

Sita Steckel

KULTUREN DES LEHRENS IM FRÜH- UND HOCHMITTEL ALTER AUTORITÄT, WISSENKONZEPTE UND NETZWERKE VON GELEHRTEN

2010. 1295 S. Gb. ISBN 978-3-412-20567-6

SOZIALE AUSGRENZUNG IM MEDIUM DER PREDIGT

Band 40:

DER FRANZISKANISCHE ANTIJUDAISMUS IM SPÄTMITTELALTERLICHEN ITALIEN

FORMEN UND FUNKTIONEN SYMBOLISCHER KOMMUNIKATION IM MITTELALTER

2010. Ca. 336 S. Gb. ISBN 978-3-412-20297-2

SG835

Patrick Schmidt

Klaus Schreiner

RITUALE, ZEICHEN, BILDER

Hrsg. v. Ulrich Meier, Gerd Schwerhoff, Gabriela Signori 2011. 343 S. 27 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20737-3

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