Alfred Adler - wie wir ihn kannten 9783666460586, 9783647460581, 9783525460580

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Alfred Adler - wie wir ihn kannten
 9783666460586, 9783647460581, 9783525460580

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V

Gerald Mackenthun (Hg.)

Alfred Adler – wie wir ihn kannten

Vandenhoeck & Ruprecht

Zusammengestellt, kommentiert, übersetzt und herausgegeben von Gerald Mackenthun. »Alfred Adler: As We Remember Him« (1977), übersetzt von Klaus Hölzer, Guntrun Lenzen-Lechner, Gerald Mackenthun und Hartmut Siebenhüner. Alfred Adler: »Something About Myself« (1930), übersetzt von Klaus Hölzer.

Dieses Buch ist Ergebnis der Therapie- und Studienarbeit des Instituts für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie Berlin (Gründung und Leitung Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Josef Rattner).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-46058-1

Umschlagabbildung: Alfred Adler / DGIP-Archiv Gotha © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Teil 1 Alfred Adler: wie wir ihn kannten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Die Beitragenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Alfred Adler: eine kurze Biografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Familie und die Lieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Freunde und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Dreißig Tage mit Alfred Adler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Eine Fabel über den Minderwertigkeitskomplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Teil 2 Zeitzeugen über Alfred Adler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Teil 3 Über mich selbst (Alfred Adler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Literaturhinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Quellennachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

Vorwort

Über den Widersacher Sigmund Freuds und Begründer der Individualpsychologie, Alfred Adler (1870–1937), ist wenig geschrieben worden. Er hat keine Memoiren und keine Aufzeichnungen über sich selbst hinterlassen und es gibt nur wenige Briefe von ihm, die meist nur alltägliche Dinge betreffen. Adler war zu sehr ein Mann des praktischen Lebens und der öffentlichen Rede. Er war der geborene Erzähler, der sich kaum Zeit und Mühe nahm, ausgefeilt zu formulieren und dessen Schriften vielfach nachlässig redigierte Stenogramme seiner zahllosen Vorträge sind. Als Persönlichkeit wissen wir viel weniger über Adler als über Freud. Über Freud als Person erschien 1973 ein voluminöser Band unter dem Titel »Freud as We Knew Him«, herausgegeben von Hendrik Ruitenbeek.1 Die Briefe Freuds mit zahlreichen Größen seiner Zeit füllen Bände. Bei Adler ist all das spärlich bis nicht vorhanden. Dieser Band vereint erstmals alle verfügbaren Äußerungen von Zeitgenossen Adlers, die ihn persönlich kannten. Wir können dabei auf einen schmalen Band mit dem Titel »Alfred Adler: As We Remember Him«, herausgegeben 1977 von der North American Society of Adlerian Psychology, zurückgreifen. Dieses Büchlein erscheint hier erstmals auf Deutsch. Zusätzlich wurden alle übrigen verfügbaren Zeugnisse über Alfred Adler als Menschen gesammelt und in diesem Buch vereint. Die Anregung zu dem Projekt stammt von Prof. Josef Rattner (Berlin), dem wohl profiliertesten Vertreter der Individualpsychologie im deutschsprachigen Raum. Adlers Sohn Kurt nannte Rattner einmal in einem Brief den wahren Nachfolger Adlers. Rattner bedauerte 2001, dass es keine gesammelten

1

Ruitenbeek, Hendrik M. (Hg., 1973): Freud as We Knew Him. Detroit (Wayne State University Press), 524 S. – Ruitenbeek, ein gebürtiger Holländer (geb. 1923), ist Herausgeber mehrerer in den USA erschienener Anthologien zur Psychoanalyse und zur Soziologie. Sein Hauptinteresse gilt der problematisch gewordenen Identität in einer unruhigen Zeit, die durch die Auflösung der Familienverbände und der Religiosität sowie zunehmender Massenkultur und Verstädterung gekennzeichnet ist. Er ist Psychoanalytiker in New York und lehrte Psychoanalyse an der New York University.

Kommentare zu Alfred Adler gebe.2 Er selbst trug bei dieser Gelegenheit Anekdoten von Bruno Kreisky, Elisabeth Bergner, Gina Kaus und Phyllis Bottome bei, die hier mit aufgenommen wurden. Das Buch besteht aus drei Teilen. Der erste Teil ist die vollständige Übersetzung des von den nordamerikanischen Individualpsychologen Guy J. Manaster, Genevieve Painter, Danica Deutsch und Betty Jane Overholt herausgegebenen Sammelbandes »Alfred Adler: As We Remember Him«. Ihre Zusammenstellung beruht hauptsächlich auf Interviews mit Zeitgenossen, die auf individualpsychologischen Kongressen 1961 und 1977 in den USA befragt wurden. Die Herausgeber nutzten damals die Gelegenheit, auch Tagebuchnotizen von Adlers Sekretärin Evelyn Feldmann und eine von Adlers Sohn Kurt mitgeteilte Fabel Alfred Adlers über den Minderwertigkeitskomplex mit abzudrucken. Die Fabel taucht nicht in der Adler-Bibliografie von Heinz L. und Rowena R. Ansbacher auf 3 und wurde bislang in deutschsprachigen Ländern weder publiziert noch übersetzt. Die Übersetzung des Buches erfolgt mit freundlicher Genehmigung der North American Society of Adlerian Psychology. Der zweite Teil enthält eine Sammlung von Kommentaren, die Prof. Josef Rattner, Dr. Gisela Greulich-Janssen und Dr. Margarete Eisner und ich suchten und fanden. Die zum Zeitpunkt der jeweiligen Veröffentlichung benutzte Schreibweise wurde beibehalten, offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Der dritte Teil ist der Abdruck einer jener seltenen autobiografischen Texte Adlers mit dem Titel »Something About Myself« (1930), der hier erstmals einem deutschsprachigen Publikum nahegebracht wird.4 Sollten Leser Kenntnis von weiteren Zeitdokumenten haben, so bitte ich um Mitteilung. Gerald Mackenthun E-Mail: [email protected]

2 Rattner, Josef (2001): Kommentare zu Alfred Adler und die Individualpsychologie. In: Miteinander leben lernen. Berlin, 26 (5), S. 56 ff. 3 Adler, Alfred (1979): Superiority and Social Interest. Ed. by Heinz L. Ansbacher & Rowena R. Ansbacher. 3rd ed., New York (Norton), S. 397–423. 4 Adler, Alfred (1930): Something About Myself. In: Childhood and Character, 7 (7), S. 6–8.

8

Vorwort

Teil 1

Alfred Adler: wie wir ihn kannten Herausgegeben von Guy J. Manaster Genevieve Painter Danica Deutsch Betty Jane Overholt

Copyright © 1977 by North American Society of Adlerian Psychology Library of Congress No. 77–99189

Inhalt Die Beitragenden Einführung Eine kurze Biografie (von Jane Manaster) Familie und nahe Verwandte Freunde und Gemeinschaft Arbeit Dreißig Tage mit Alfred Adler (von Evelyn Feldmann) Eine Fabel über den Minderwertigkeitskomplex (von Dr. Alfred Adler)

5 6 7 8

12

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Die Beitragenden5 Adler, Alexandra 6 Adler, Kurt A. Adler, Nelly 6 Ansbacher, Heinz Ansbacher, Rowena 7 Babbott, Frank Babbott, Mrs. Frank Barlow, Margaret Johnstone Beecher, Marguerite Beecher, Willard Berger, Ida Bishop, Jim Bottome, Phyllis Brandt-Erichsen, Martha Brodsky, Paul Bruck, Anthony Corsini, Raymond J. Coster-Lucas, Jacqueline De Busscher, Jacques F. Denham, Margery 7 Deutsch, Danica de Vries, Sophia 7 Dreikurs, Rudolf Dreikurs, Sadie Farau, Alfred Feichtinger, Frederic 8 Feldmann, Evelyn Froeschels, Emil Furtmüller, Aline 8 Gondor, Emory I. 8 Gondor, Lillian Hemming, James Jacoby, Henry

Kadis, Asya L. Kemper, Werner King, L. Knopf, Olga 7 Krausz, Erwin 7 Lazarsfeld, Sofie Lennhoff, F. G. Liebmann, Susanne Lombardi, Donald N. Mandell, Sibyl Maslow, Abraham Matteson, Priscilla McDowell, Elizabeth H. 7 Meiers, Joseph Minder, Robert Moore, Merrill Mowrer, O. Hobart Neufeld, Irvin 7 Oller, Olga Brody 7 Papanek, Ernst 7 Papanek, Helene Plank, Robert 8 Redwin, Eleanor Reiss, Sidonia Rom, Paul Rosenberger, Ross D. 8 Roth, Sydney Schaffer, Herbert Senior, Clarence 8 Shoobs, Nahum E. Sicher, Harry 7 Sicher, Lydia Way, Lewis

5 Die Beitragenden werden vor ihrem ersten Beitrag identifiziert durch ein oder zwei ihrer wichtigsten Titel, Werke oder Gesellschaften; die Quellen werden zitiert aus dem LiteraturMaterial. 6 Das Material aller oder einiger dieser Beitragenden wurde aus Tonbandaufnahmen auf der Jahrestagung 1977 der North American Society for Adlerian Psychology entnommen. 7 Das Material aller oder einiger dieser Beitragenden wurde aus Tonbandaufnahmen auf der Jahrestagung 1961 der North American Society for Adlerian Psychology entnommen. 8 Das Material aller oder einiger dieser Beitragenden wurde 1977 durch Miriam Ta­bach­nik aus persönlichen Interviews zusammengetragen. Die Beitragenden

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Einführung

Sie saßen rund um den Tisch im Café, hörten ihm zu, wie er sprach, teilten seine Theorien und seine Erfahrungen. Sie saßen in Vortragssälen, aufsaugend, was er ihnen zu sagen hatte über jene Wissenschaft namens »Psychologie«. Sie beobachteten den fast magischen Effekt, den seine Therapie auf Kinder hatte, die als zurückgeblieben, schwierig, jämmerlich galten. Sie hörten zu, als er in der Mitte seiner Fünfzigerjahre seine früheren deutschen Darlegungen triumphal in einer neue Sprache interpretierte, Englisch, und er damit weitere Gefolgschaft errang. Sie bewunderten ihn, wie er lehrte und half, schrieb und anleitete, hin- und herreiste über den Atlantik, mit der Energie und dem Enthusiasmus eines weit jüngeren Mannes. Und sie erinnerten sich an ihn selbst. Sie erinnerten sich manchmal in ihren Schriften an ihn, manchmal in Gesprächen, die emotional im Laufe der Jahre wiederholt wurden, manchmal fast schlummernd im Hintergrund ihres Geistes: an Alfred Adler. In dieser Sammlung von Erinnerungen haben wir versucht, Adler so einzufangen, wie er von jenen gekannt wurde, die neben ihm in seiner Familie, in seiner Arbeit und in seiner kargen Freizeit, die er sich gönnte, lebten. Als wir versuchten, diese Memoiren in einer neuartigen Weise zu präsentieren, erkannten wir, dass wir uns erneut Alfred Adler zuwenden sollten. Er umriss drei hauptsächliche Lebensaufgaben: Familie und nahe Verwandte, Freunde und Gemeinschaft sowie Arbeit. Die Erzählungen, die über die Jahre gesammelt wurden, zunächst von Danica Deutsch, Genevieve Painter und Betty Jane Overholt, später von meiner Frau Jane und mir, wurden nach diesen Lebensaufgaben gruppiert.9 Das schien am besten zu passen. 9 Zunächst war diese Anordnung auch für Teil 2 vorgesehen. Es stellte sich heraus, dass zwischen den drei Gruppen nicht strikt getrennt werden kann; Patienten Adlers wurden zu Mitarbeitern, aus Mitarbeitern wurden Freunde. Deshalb wurde für Teil 2 die alphabetische Reihenfolge gewählt.

Vielen ist zu danken: den Beitragenden, deren Namen überall im Buch auftauchen. Es gibt Beitragende, die wir zum Zeitpunkt des Drucks nicht identifizieren konnten. Wir würden uns über Informationen über diese Personen sehr freuen, um sie in weiteren Ausgaben korrekt benennen zu können. Wir danken ihnen, dass sie ihre Erinnerungen mit uns teilten. Sydney Roths Unterstützung durch seine Roth-Stiftung ermöglichte uns, dieses Buch für die Publikation fertigzustellen. Wir Herausgeber danken für seine Großzügigkeit und seine weisen Ratschläge. Roths Einsatz für Adler und die Individualpsychologie waren eine Wegmarke in der Vergangenheit und eine Inspiration für die Zukunft der adlerianischen Psychologie. Guy J. Manaster Austin, Texas Dezember 1977

Einführung

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Alfred Adler: eine kurze Biografie Jane Manaster10

Alfred Adler wurde am 7. Februar 1870 in der Nähe von Wien geboren. Sein Vater war ein mittelständischer, jüdischer Getreidehändler und seine Mutter war Hausfrau. Er hatte einen älteren Bruder und eine ältere Schwester und vier jüngere Geschwister. Diese unbedeutende Familie führte Adler, wie er später betonte, auf indirektem Weg dazu, bedeutende Theorien zu formulieren. Dazu bestimmt, einer der führenden Sozialwissenschaftler des Jahrhunderts zu werden, der Gründer einer provozierenden und weithin akzeptierten Schule der Psychologie, illustrierte er seine Konzepte vom Gemeinschaftsgefühl und von der Bedeutung der Geschwisterreihe anhand seiner eigenen Familie. Er erkannte die Notwendigkeit der Gleichberechtigung für Frauen. Vor allem aber erkannte er in dem gebrechlichen, furchtsamen Jungen, der er selbst war, den Schlüssel zu seiner Theorie: Ein Individuum strebt immer nach einem persönlichen Ziel und das ist, seine Unzulänglichkeit zu überwinden. Dieses Streben ist ein gesundes Mittel für ein erfülltes Leben. Um 1870 konnten die Wiener Juden bereits wählen, wo sie leben wollten, entweder in den Gettos, was Adlers Vater ablehnte, oder in den nicht jüdischen Nachbarschaften. Während der wiederkehrenden Wellen von Antisemitismus, die während Adlers frühen Lebensjahren über das Land schwappten, erfreute sich seine Familie relativen Friedens, denn das alte Klischee, »einige meiner besten Freunde sind Juden«, schien respektiert zu werden. Carl Furtmüller meinte ein10 Die primären Quellen für diese Kurzbiografie waren Hertha Orglers »Alfred Adler: The Man and His Work«, London 1973 (Sidgwick & Jackson); ein Essay von Carl Furtmüller in »Superiority and Social Interest«, herausgegeben von Heinz L. Ansbacher und Rowena R. Ansbacher, Evanston, Illinois 1964 (Northwestern University Press); »Guiding the Child« von Alfred Adler und seinen Mitarbeitern, New York 1930 (Greenberg), und Henry F. Ellenbergers »The Discovery of the Unconscious«, New York 1970 (Basic Books). – Jae W. Greenberg war Adlers wichtigster Verleger in den USA. Seine aggressive Marketingstrategie verhalf Adlers »Menschenkenntnis« in den USA zu einer Auflage von rund 100.000 Exemplaren – Hoffman, Edward (1997; amerikan. Original 1994): Alfred Adler. Ein Leben für die Individualpsychologie. Aus d. Amerikan. von Eva Spur. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 246 f.

mal, »diese frühen Erfahrungen ließen Adler die Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden als völlig unwichtig empfinden.«11 Seine prekäre physische Gesundheit in der Kindheit wurde schon öfter beschrieben. Eine frühe Rachitis »behinderte seine Bewegung und machte ihn in seiner Kindheit schwerfällig«. »Eine milde Form von Spasmus seiner Stimmbänder […] rief ein Gefühl der Minderwertigkeit hervor«. Letzteres überwand er offensichtlich und als Schuljunge hatte er »ein starkes Interesse an klassischer und populärer Musik […] eine gute, kräftige, verlässliche Stimme und eine gute Gabe, sie darzustellen«.12 Eine Begegnung mit dem Tod wegen einer Pneumonie im Alter von vier Jahren machte ihn entschlossen, Arzt zu werden. Solche Geschichten klangen mit der Zeit zweifelhaft, aber ihre Bedeutung kann nicht weggewischt werden, denn ohne Zweifel trugen sie grundlegend zu seiner Theorie bei. Es scheint keine Berichte darüber zu geben, wie er mit seinen Dozenten an der Wiener Medizinischen Hochschule verkehrte. Er wurde beeinflusst vom Internisten Hermann Nothnagel13, der seinen Studenten einschärfte, »wenn Sie ein guter Arzt sein wollen, dann müssen Sie ein freundlicher Mensch sein«. Mehr noch, Adler nahm sich Nothnagels Diktum zu Herzen, »der Mediziner muss den Patienten immer als Ganzes sehen, nicht als ein einzelnes Organ oder ein einzelnes Gebrechen […] der emotionale Einfluss des Mediziners auf den Patienten muss beachtet werden«. Nach der Approbation richtete Adler 1895 eine Privatpraxis in Wien in der Nähe des Praters ein,14 einem großen Vergnügungspark für die untere Mittelschicht der Stadt. Unter seinen Patienten waren viele, die in den Gaststätten des Praters arbeiteten, ebenso wie Akrobaten und Künstler, deren Lebensunterhalt auf körperlichen Fähigkeiten beruhte. Ihre Krankheiten enthüllten körperliche Schwächen, was Adler dazu anregte, seine Theorie der Überkompensation zu entwickeln. Auf die gleiche Art, wie er ein Stimmproblem durch herzhaftes Singen überwand, hatten seine Patienten aus dem Vergnügungspark körperliche Unzulänglichkeiten, die sie überwanden und benutzten, um Karriere zu machen. Während seiner Studentenzeit wurde Adler nur am Rande in politische Bewegungen einbezogen, die über das Land hinwegschwappten. Seine Beteiligung kam eher durch Freunde zustande, die ihn zu politischen Versammlungen mit11 Hier wie auch im Folgenden gibt Jane Manaster keine genauen Quellen an. 12 Original: a good gift for delivery; »Zustellung«? 13 Nothnagel (1841–1905) studierte in Berlin und arbeitete anschließend in Königsberg, wo er sich habilitierte. Nach Tätigkeiten in Berlin und Breslau kam er 1882 als Chefarzt nach Wien, wo er bis zu seinem Tode lebte. 14 Czerningasse 7, Wien II. Alfred Adler: eine kurze Biografie

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nahmen, als durch persönliche Begeisterung. Sein Desinteresse an rassischen oder religiösen Unterschieden »immunisierte ihn gegen Nationalismus«. Er nahm an den aufgeregten Zusammenkünften eher als Zuhörer denn als Redner teil. In jenen Tagen wurde er auf den Zusammenkünften mehrmals mit einer russischen Studentin namens Raissa Timofejewna Epstein gesehen. Er heiratete Raissa Epstein 1897, und im folgenden Jahr wurde ihr erstes Kind, Valentine, geboren. Eine zweite Tochter, Alexandra, wurde 1901 geboren, sein Sohn Kurt 1905 und schließlich seine Tochter Nelly 1909. Seine Praxis lief gut, teilweise wegen seiner entwaffnenden Art. »Er praktizierte Wissenschaft gegenüber seinen Patienten, als ob es so simpel wäre wie Rührei.« Wenn es einen umgangssprachlichen Ausdruck für einen Fachbegriff gab, wählte er diesen. Aber es ließ ihn nicht los, wenn er einen kranken Patienten nicht heilen konnte. Wenn er nach den Gründen für anhaltende Schmerzen und Krankheiten seiner Patienten suchte, wurde er von der Medizin weggezogen hin zur Psychiatrie, Psychologie und letzten Endes zur Philosophie, die die Sozialwissenschaften überspannen. Die Begegnung von Adler und Freud befruchtete Psychologie und Psychotherapie. Adler fühlte sich von Freuds Traumtheorie angezogen und hatte den Mut, sie öffentlich zu vertreten, da er »Vorurteile und abgedroschene Meinungen hasste«. 1902 wurde Adler als einer von vier Menschen eingeladen, jenem Kreis beizutreten, der sich wöchentlich in Freuds Wohnung traf, um Werk und Philosophie Freuds und besonders die Probleme der Neurose zu diskutieren. Daraus entwickelte sich die Psychoanalytische Gesellschaft. Adler war der Erste unter ihnen, der ein lebhaftes Interesse an Problemen der Erziehung zeigte. 1910 wurde Adler zum Vorsitzenden der Wiener Gruppe der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung gemacht.15 Im Oktober 1910 wurde das »Zentralblatt für Psychoanalyse«16 gegründet, mit Adler und Stekel als gemeinsamen Redakteuren und Freud als Herausgeber. Die gute Stimmung wurde zusehends getrübt, weil Adler fortfuhr, seine eigene Theorie zu entwickeln. Im folgenden 15 Freud hatte ihm diesen Posten angeboten, um den Aufruhr in der psychoanalytischen Vereinigung anlässlich des zweiten Internationalen Psychoanalytischen Kongresses 1910 in Nürnberg wegen C. G. Jung zu dämpfen. Gay, Peter (1987): Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. Frankfurt/M. (S. Fischer), S. 251, und Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler. Ein Leben für die Individualpsychologie. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 91. 16 Als offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung erschien seit 1910 das »Zentralblatt für Psychoanalyse«, redigiert von Adler und Wilhelm Stekel. Nachdem Stekel aus der psychoanalytischen Bewegung ausschied, aber nicht bereit war, die Kontrolle über das Blatt aufzugeben, gründete Freud 1913 die »Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse«, die 1920 in »Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse« (IZP) umbenannt wurde.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Sommer schrieb Freud dem Verleger, dass entweder er oder Adler gehen müsse.17 Adler trat zurück18 und legte auch das Amt des Vorsitzenden der Wiener Vereinigung nieder.19 Nicht lang nach der Trennung zog Adler aus seiner Praxis in der Praterstrasse20 aus und gab im Prinzip seine Arbeit als Hausarzt auf. Er begann, sich als Psychiater zu spezialisieren. Der Riss zwischen Adler und Freud wurde unumkehrbar, als Freud im Oktober 1911 auf einer Versammlung der Psychoanalytischen Gesellschaft erklärte, dass jede Mitgliedschaft in der von Adler gegründeten Organisation unvereinbar sei mit einer Mitgliedschaft in seiner Gruppe. Adler stieg zusammen mit neun weiteren aus und gründete die Vereinigung für Freie Psychoanalytische Forschung. 1912 gab er seinem Verein den Namen, unter dem er bekannt werden sollte: die Gesellschaft für Individualpsychologie. Während viele Adlers Theorien übernahmen, ohne ihm Anerkennung dafür zu zollen, anerkannte Adler großmütig, wessen Werke ihn beeinflussten. 1911 veröffentlichte der deutsche Philosoph Hans Vaihinger in Berlin »Die Philosophie des Als Ob«. Im folgenden Jahr lobte Adler in seinem Buch »Der neurotische Charakter«21 Vaihinger: »Ein günstiger Zufall machte mich mit Vaihingers genialer ›Philosophie des Als Ob‹ bekannt, ein Werk, in dem ich die mir aus der Neurose vertrauten Gedankengänge als für das wissenschaftliche Denken allgemein gültig hingestellt fand.«22 Während Freud eine Sonderstellung unter seinen Anhängern beanspruchte und gegenüber seinen Patienten förmlich blieb, die sich auf eine Couch legen mussten und ihren Therapeuten als stumme und unsichtbare Anwesenheit hinter sich spürten, schlug Adler sofort einen anderen Kurs ein. Seine Gruppe legte weder Wert auf die Initiationsriten noch auf den Eid der Gefolgschaft, wie sie Freud anwandte. Adlers Anhänger wurden ermutigt, zu den Treffen Gäste mitzubringen, die sich vielleicht durch Interesse, Erfahrung oder Talent auszeichneten, Mitglied zu werden. Patienten saß Adler in einem bequemen Sessel gegenüber, sodass die Behandlung eine fast gesellige Atmosphäre hatte. Adler war überzeugt, dass es damit den Patienten leichter fiel, Tatsachen über sich zu akzeptieren, die unerfreulich oder schwierig sein könnten. 17 Siehe dazu Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 99 f. 18 Stekel blieb weiterhin Redakteur. 19 Zeitgleich (Juli 1911) trat er aus der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung aus. 20 Das ist nicht korrekt. 1911 bezogen die Adlers eine neue Wohnung und Praxis in der großbürgerlichen Dominikanerbastei 10, Wien I. 21 Korrekter Titel: Über den nervösen Charakter. 22 Hier nicht rückübersetzt, sondern zitiert aus dem deutschen Original: Adler, Alfred (2008): Über den nervösen Charakter. 2. Aufl., Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), S. 66. Alfred Adler: eine kurze Biografie

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1915 wurde Adler in die österreichisch-ungarische Armee eingezogen. Er arbeitete als Psychiater, zunächst in einem Wiener Hospital, dann in der polnischen Provinz von Österreich und schließlich wieder in Wien. In diesen Jahren entwickelte er sein System weiter und er entdeckte durch seine aufschlussreiche Beobachtung der Kriegsopfer – mit den vielen Neurotikern unter ihnen – die überragende Bedeutung des Gemeinschaftsgefühls. Er erkannte mit absoluter Klarheit, dass »man sich nicht damit begnügen soll, seelische Krankheit zu heilen, sondern dass man jede Anstrengung unternehmen muss, sie zu verhüten«. Das Ende des Krieges läutete seine Zusammenarbeit mit der neuen politischen Regierung ein. Er beteiligte sich am örtlichen Arbeiterrat, der im Namen der Sozialdemokratischen Partei kleinere Verwaltungsaufgaben übernahm. Er konnte sich dabei seinem speziellen Interesse der Erziehung zuwenden. Eines der Hauptziele der ersten österreichischen Republik war die Schulreform. In diesem neuen Klima erhielt Adler die Erlaubnis, 1922 die erste Erziehungsberatungsstelle in Wien einzurichten. Er bezog in die Sitzungen die Eltern der Kinder und die Lehrer ebenso ein wie ein interessiertes Publikum. Zunächst wollte er Lehrern helfen, die Probleme mit »zurückgebliebenen« Kindern hatten. Doch er erkannte, dass den Kindern selbst geholfen werden müsse. Gegen Ende der 1920er Jahre existierten 32 Ambulanzen, die von Schulen oder Eltern-Lehrer-Gruppen unter der Leitung Alfred Adlers betrieben wurden. Weitere Ambulanzen gab es in Deutschland. Er hielt regelmäßig Vorträge im Volksheim, einer Weiterbildungseinrichtung für Erwachsene. Er war zudem Dozent an der Pädagogischen Hochschule, dem Wiener Ausbildungsinstitut für Lehrer. Die Zahl seiner Anhänger stieg. Früher traf man sich zu wöchentlichen Diskussionen in seiner Wohnung. Jetzt war der soziale Treffpunkt das Café Siller mit Blick auf den Donaukanal, wo Adler nach einem langen Tag mit Beratungen, Vorträgen und Besuchen in den Ambulanzen sich bis in die späten Nachtstunden freundschaftlich unterhielt. 1926 erwarb er ein Haus im Wiener Vorort Salmannsdorf, ein beachtliches Domizil auf großzügigem Grundstück. Hier hatte er viele bedeutende österreichische und ausländische Kollegen und Studenten zu Gast. Als das Jahr zu Ende ging, unternahm er seine erste Reise nach Amerika. Er hielt Vorlesungen an der New School for Social Research und der Community Church in New York. Er bereiste das ganze Land und sprach unter anderem in Harvard, an der Brown University in Rhode Island, in Philadelphia, Cincinnati, Milwaukee und mehreren Hochschulen in Kalifornien. In Chicago mussten 2.500 Anmeldungen für einen Besuch seiner Vorlesung abgelehnt werden. 20

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

In der Mitte seiner Fünfzigerjahre stand er vor der Notwendigkeit, Englisch zu lernen, also nahm er täglich Unterricht, bis er sich imstande fühlte, Vorlesungen zu halten. Wie Carl Furtmüller erläuterte: »Diese Aufgabe zu meiden, weil sein Englisch nicht perfekt war, wäre in seinen Augen einer jener Vorwände gewesen, die Neurotiker vorbringen, um echten Lösungen der Lebensprobleme auszuweichen«. Adler verbrachte jedes Jahr zunehmend längere Zeit in den USA. Unerschrocken durch fortschreitendes Alter lernte er das Autofahren im 60. Lebensjahr. Auf seinen Wunsch hin wurde sein 60. Geburtstag nicht zu einem öffentlichen Ereignis gemacht. Er war zu der Zeit in New York und keiner seiner Familienmitglieder war zugegen. Er begann den Tag wie üblich und bekam nicht mit, dass viele seiner Freunde für ihn eine Party planten. Nach hektischer Suche ergatterten sie trotz der herrschenden Prohibition Rheinwein, und die Festivität konnte steigen. Sein Geburtstag wurde auch in einer Sondernummer der Internationalen »Zeitschrift für Individualpsychologie« gewürdigt. 1929 wurde er zum Gastprofessor an der Columbia University ernannt und er vertiefte seine Beziehung zu Amerika, als er 1932 den Ruf auf den ersten USLehrstuhl für Medizinische Psychologie am Long Island Medical College erhielt. 1934 stürzten die Austrofaschisten die österreichische Republik. Eine ihrer ersten Handlungen war die Abschaffung der Schulreform und aller damit verbundenen Programme. Adlers Beratungsstellen wurden geschlossen. 1935 verließen Adler und seine Frau offiziell Wien, um im Gramercy Park Hotel in New York zu wohnen. Kurz nach dem Umzug benannte er die Zeitschrift in »International Journal of Individual Psychology« um. Adler setzte sein Werk ohne Anzeichen von Ermüdung fort. Im Frühjahr 1937 brach er erneut zu einer europäischen Rundreise auf. Er freute sich auf mehrere Wochen intensiver Arbeit und auf Treffen mit Freunden. Ende Mai ging es nach Schottland. Am 28. Mai, kurz bevor er eine Vorlesung in Aberdeen halten sollte, ging er in der Nähe seines Hotels spazieren. Er brach mit einem Herzinfarkt zusammen und starb im Krankenwagen, der ihn ins Krankenhaus brachte.

Alfred Adler: eine kurze Biografie

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Familie und die Lieben

Alexandra Adler, Dr. med., Tochter von Alfred Adler; Psychiaterin, Ärztliche Leiterin, Alfred Adler Mental Hygiene Clinic, New York23 Man hat mich oft gefragt, warum ich Ärztin wurde. Meine Entscheidung fiel, als ich vier Jahre alt war. Ich erinnere mich deutlich, dass ich, nach den Gründen meiner zukünftigen Berufswahl gefragt, antwortete: »Weil mein Vater Arzt ist.« Das zeigt, wie nah ich mich ihm fühlte und wie ich ihn bewunderte. Ich sah es als ein Privileg an, in seine Fußstapfen zu treten. Zwei meiner frühesten Erinnerungen drehen sich um meinen Vater, was wiederum meine enge und positive Beziehung zu ihm als auch ein frühes Interesse an der Medizin widerspiegelt. Die erste bezieht sich auf eine traumatische Erfahrung, als ich zweieinhalb Jahre alt war. Mein Vater setzte mich auf seinen Schoß und forderte mich auf, den Mund so weit zu öffnen, dass ein Arzt – ein kleiner, stämmiger Mann in weißem Kittel, der vor uns stand – überprüfen konnte, dass alles in meinem Rachen in Ordnung war. Ich gehorchte unverzüglich mit dem angenehmen Gefühl, dass es eine sichere und gute Sache war, wenn mein Vater es vorschlug. Nach einer kurzen Untersuchung schnitt der Arzt plötzlich und zu meinem großen Entsetzen meine Rachenmandeln ab. Als das Blut aus meinem Mund lief, fing ich an zu weinen und war entschlossen, damit aus Protest und Enttäuschung nicht aufzuhören (obwohl mein Vater, der mich beruhigen wollte, mir erklärte, dass die Blutung nicht aufhören würde, solange ich schrie). Nachdem er wieder mit mir sprechen konnte, erklärte mir mein Vater, warum die Operation notwendig war – dass er nämlich bemerkt hatte, wie ich meistens den Mund geöffnet hielt; dass gewisse Beschädigungen im Hals entfernt werden mussten, um mir zu helfen, besser zu atmen, dass er befürchtet hatte, 23 Die Alfred Adler Mental Hygiene Clinic wurde 1954 in Manhattan, New York, gegründet. Angeboten wurden Erziehungsberatung, Einzel- und Gruppentherapie, Familienberatung, Müttergruppen, Spiel- und Maltherapie sowie psychologische Abendkurse für Eltern.

ich würde den Mund nicht öffnen, wenn er mir das im Vorhinein gesagt hätte. Ich grübelte lange über die Worte meines Vaters und sah schließlich ein, dass ich tatsächlich den Mund nicht geöffnet hätte, wenn mein Vater mir gleich zu Beginn von der Operation erzählt hätte. So versöhnte ich mich mit seiner Taktik, auf eine Vorwarnung zu verzichten. Offensichtlich wollte mein Vater eine Vollnarkose vermeiden, die zur damaligen Zeit noch gefährlich war. Das sagte mir man natürlich später, als ich einsichtig genug war.

*

In meinem jungen Leben kam es einige Monate später anlässlich eines Familienurlaubes auf dem Land zu einem weiteren traumatischen Erlebnis. Mein Vater verbrachte die Wochenenden mit uns, blieb aber während der Woche wegen seiner Praxis in Wien. Eines Morgens erwachte ich in großer Vorfreude auf all die aufregenden Sachen, die uns mit dem Besuch meines Vaters erwarteten. Da sagte man mir, er sei schon aufgebrochen, um mit der älteren Schwester auf einen Berg zu steigen. Ich war so enttäuscht darüber, zu Hause bleiben zu müssen, dass ich anfing zu heulen und entschlossen war, nicht eher aufzuhören, bis Vater und Schwester zurückgekehrt waren. Ich war überzeugt, sie hätten mich mitnehmen können und müssen. Ich weinte den ganzen Tag bis zur völligen Erschöpfung, was meine ganze Familie, einschließlich des zurückgekehrten Vaters, in Sorge versetzte. Er tröstete mich mit dem Versprechen, mich und meine Schwester am nächsten Tag zum Bergsteigen mitzunehmen, um herauszufinden, ob es mir, die ich doch so versessen darauf war, auch wirklich gefiel. An einem sehr steilen Berganstieg gab ich mein Bestes, und ich erinnere mich, wie mein Vater mit Stolz, Erstaunen und einem Lächeln sagte, ich sei wie ein kleiner Löwe geklettert. Auf dem Gipfel angekommen, wollten wir Blumen pflücken. Ich geriet fast in Panik, als ich meine Unfähigkeit bemerkte, die Zweige der Alpenazaleen abzubrechen. Mein Vater bemerkte meine Anstrengungen und ermutigte mich, indem er diese Schwierigkeit herunterspielte. Meine Befürchtung war, dass meine Unfähigkeit, die Azaleen zu pflücken, Vater und Schwester nahelegen könnte, ich wäre noch nicht so weit, mit ihnen beim Bergsteigen mitzuhalten. Seit diesem Tag durfte ich meinen Vater immer bei seinen Ausflügen in die Natur begleiten, woran ich viele schöne Erinnerungen habe. Ich wurde eine leidenschaftliche Bergsteigerin, musste aber bald und mit Bedauern feststellen, dass mein Vater keine Zeit mehr hatte, meine Schwester und mich zu begleiten. Sein Beruf nahm ihn allzu sehr in Beschlag, und er gönnte sich keine freien Wochenenden mehr.

* Familie und die Lieben

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In unserem Haus gab es immer Leute, die zum Abendessen eingeladen waren. Die Kinder waren regelmäßig dabei; wir saßen nicht abgetrennt an einem Kindertisch, sondern bei den Großen, solange wir wollten. Wir konnten an den Gesprächen teilnehmen, wenn wir es wünschten, allerdings hatten wir immer das Gefühl, nichts beitragen zu können. Es überstieg unser Verständnis. Wir gingen schlafen, wann immer wir es wünschten und müde waren. Wir verschwanden und gingen ins Bett.

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Mein Vater liebte die Klassiker, und er las uns gerne aus ihren Werken vor. Unser Interesse an ihnen war geringer als seines, aber er las wunderbar. Wir musizierten oft. Er sang und spielte Klavier. Er hatte eine herrliche Stimme, und wir begleiteten ihn im Duett oder mehrstimmig.

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Wir mussten natürlich in den Religionsunterricht gehen. Ich glaube, keiner von uns war davon begeistert. Aber mein Vater sagte: »Religion ist etwas, das schon immer zu euch gehörte – und ich glaube, es könnte ziemlich interessant sein, es zu studieren. Altes und Neues Testament.« Aber keiner von uns war religiös und keiner gehörte zu irgendeiner Kirche. Wien war religiös, und für Kinder war es unmöglich, ohne irgendeine Religion zu sein. Wir konnten sie uns aussuchen, und wir wählten die protestantische. »Wenn ihr 14 oder 15 seid und dann zu einer anderen Religion wechseln wollt, dann nur zu«, sagte er zu uns.

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Ich erinnere mich, dass ich zufällig Gespräche meines Vaters mit Freunden und Schülern mithörte. Eines Abends hörte ich ihn über das »verborgene Gemeinschaftsgefühl« sprechen, wobei er sich auf eine kalte Winternacht bezog, in der er aufwachte und eine zusätzliche Decke auf seinem Körper fand. Meine Mutter bestand darauf, sie sei es nicht gewesen. Darauf sagte er: »Nun ja, siehst du, manchmal ist Gemeinschaftsgefühl in einer Person, ohne dass man es wahrnimmt. Es ist ein verborgenes Gemeinschaftsgefühl.« Als ich ihn das sagen hörte, trat ich in die Runde und erklärte, dass ich ihn husten gehört und eine zusätzliche Decke geholt hatte, weil ich befürchtete, er könne sich erkälten. Und alle lachten.

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Er war immer ermutigend. Als ich ungefähr zehn war und die Schule wechselte, stellte ich sofort fest, dass ich mit Mathematik Schwierigkeiten hatte. Ich ließ den ersten Test aus und ging nach Hause, weil ich fühlte, das kann ich nicht. Mein Vater sagte: »Was ist das denn? – Glaubst du wirklich, diese dummen Sachen 24

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

nicht zu können, die jeder andere kann? Wenn du es versuchst, schaffst du alles.« In sehr kurzer Zeit wurde ich die Beste in Mathematik, und die Lehrerin sagte mir: »Du siehst, Adler, wenn du es versuchst, kannst du es auch.« Mir wurde aber klar, dass ich nur deshalb erfolgreich war, weil ich nicht ernst nahm, was die Lehrerin ursprünglich gesagt hatte, nämlich, dass ich durchfallen würde.

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Mein Vater machte bezüglich meiner Berufswahl niemals Vorschläge. In all den Jahren meines Medizinstudiums verfolgte er meine akademischen Fortschritte mit vollem Vertrauen, wobei er es mir überließ, ihn darüber zu unterrichten, wie ich vorankam und welchen besonderen medizinischen Interessen ich nachgehen wollte. Jedoch fand er immer Zeit, meine Fragen zu beantworten und mein Interesse anzuregen. Natürlich verhalf er mir damit zu vielen Vorteilen und Möglichkeiten, die nicht jeder Medizinstudent hatte. Beispielsweise pflegte er oft seine Patientenfälle mit mir zu diskutieren, schon als ich noch Schulkind war. Er vermittelte mir auf diese Weise frühe Erfahrungen und wahrscheinlich einen vorzüglichen Ersatz für eine Lehranalyse, die ich nie hatte.

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Ich erinnere mich an meinen Vater als an eine Person, die in schwierigen Situationen nie aufgab, egal, ob es sich um Patienten, seine Familie, Gerichtsverfahren oder Widerwärtigkeiten handelte, auf die er beim Aufbau seiner psychologischen Schule stieß. Nur in den letzten Monaten seines Lebens überkamen ihn Gefühle wachsender Verzweiflung. Meine ältere Schwester Vali, die 1934 von Deutschland nach Russland geflohen war, wurde im Februar 1937 unter fadenscheinigen politischen Gründen gefangen genommen. Sie war eines der vielen Opfer der großen Säuberungsaktionen Stalins. Mein Vater versuchte über alle möglichen diplomatischen Kanäle, seiner Tochter zu helfen, doch ohne Erfolg. Seine letzte Postkarte an mich, geschrieben in Schottland, wo er damals Vorträge hielt, während ich mich in Boston darauf vorbereitete, ihn zu treffen, lautete: »Ich kann nicht schlafen und nicht essen. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.« Wenige Tage später, am 28. Mai 1937, erlag er einer plötzlichen Herzattacke auf einer Straße in Aberdeen.

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Familie und die Lieben

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Aline Furtmüller, Ehefrau von Carl L. Furtmüller, Freund der Adlers, Wien, Österreich Eine der Lieblingsgeschichten meines Mannes über Adler: Als Adler eines Abends nach Hause kam, berichtete ihm seine Frau, dass ihre Tochter Ali sich in der Toilette eingeschlossen habe und nicht herauskommen wolle. Da Dr. Adler besondere Vorstellungen von Disziplin hatte, überließ Raissa ihm die Initiative. Er sprach durch die Tür mit Ali, bis sie schließlich sagte: »Ich werde herauskommen – aber sehr, sehr langsam.«

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Ein Ereignis, das Alexandra Adler Donald N. Lombardi, Psychologie-Professor der Seton Hall Universität, New Jersey, berichtete: Als junge Frau kam Alexandra einmal spät in der Nacht nach Hause, was ihrem Vater einige Sorgen bereitete. Er sagte nichts zu ihr, doch als sie zu Bett ging, fand sie folgende Notiz auf ihrem Kissen: »Wo wird das alles enden?«

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Phyllis Bottome, Autorin und mit Alfred Adler befreundet »Was würdest du empfinden, wenn wir meinen Vater wieder zurückhaben könnten?«, wollte Ali von einer Freundin kurz nach Adlers Tod wissen. »Sicherheit«, antwortete diese Freundin. Die Tochter dachte einen Moment nach und sagte: »Nein, ich würde mich bereichert fühlen.«

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Kurt A. Adler, Dr. med., Dr. phil., Sohn Alfred Adlers; Kontrollanalytiker und Psychiater, Alfred Adler Mental Hygiene Clinic, New York; Direktor des Psychotherapie-Zentrums, Jamaica, New York24 Man fragte mich, ob wir uns in unserer Familie vertragen haben. Konnten wir Streitereien vermeiden? Das gelang uns nicht gänzlich, aber es gab keine Selbstgerechtigkeit und keine Wichtigtuerei. Niemand übte Druck aus, um Zustimmung zu erhalten. Es gab nur freundliche Erklärungen, was unsere Eltern für richtig hielten. Jeder fühlte sich als Individuum respektiert, und keiner musste um seine 24 Der zweite Vorname Kurt Adlers ist Alfred. – Jamaica ist ein Stadtteil New Yorks, in Queens liegend, ungefähr zehn Kilometer östlich von Manhattans Südspitze.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Identität kämpfen. Jeder wusste, dass er sie so oder so hatte, und der Akzent lag darauf, das Eigeninteresse mit dem gemeinsamen Interesse in Einklang zu bringen. Das gelang uns mehr oder weniger. Sobald klar war, dass eine unserer Handlungen gegen das Wohl der Familie gerichtet war, hielten wir inne und versuchten, sie zu ändern, aber nicht, sie zu unterbinden. Sobald wir aber merkten, dass sie dem Familieninteresse entgegenstand, erschien sie auch hinsichtlich des Eigeninteresses des Einzelnen als unnötig. Das ist schwierig zu erklären, denn in Wirklichkeit passierte alles ganz einfach.

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Eine Erinnerung, die für meinen Vater sehr charakteristisch sein dürfte, bezieht sich auf mein zweites Jahr in der Grundschule: Ich kam von der Schule nach Hause; der Lehrer hatte etwas sehr Unfreundliches zu mir gesagt, etwas, was ich kaum glauben konnte. Was das war, weiß ich nicht mehr, aber was mein Vater sagte, das weiß ich noch: »Dein Lehrer hat unrecht.«

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Wir drei hatten für einige Zeit eine Gouvernante; meine jüngste Schwester war noch nicht geboren. Ich war damals der Jüngste. Die Dame hatte eine von uns, nicht mich, vielleicht meine mittlere Schwester, getreten oder geschlagen. Wir drei Kinder bewaffneten uns mit Stöcken und ließen sie nicht ins Zimmer kommen, weil wir wussten, sie hatte etwas Verbotenes getan. Nachdem unsere Eltern zurückgekehrt waren, beschwerten wir uns über das Geschehene, worauf sie sofort entlassen wurde.

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Als ich neun Jahre alt war [1914], wurden meine Mutter und wir vier Kinder in Russland festgehalten, wo wir die Eltern meiner Mutter besucht hatten. Mein Vater in Wien war natürlich verzweifelt darüber, den Kontakt zu seiner Familie verloren zu haben. Er ergriff eine Gelegenheit und begleitete einen hohen Würdenträger, einen Prälaten, von Wien nach Rom. Der Prälat hatte eine Phobie, er konnte nicht allein reisen. Mein Vater brachte ihn nach Rom, um uns von dort aus zu kontaktieren. Zu jener Zeit war Italien noch neutral, weshalb er von dort in Moskau nachfragen konnte, wo wir uns aufhielten. Nach unserer Rückkehr erzählte er uns eine Geschichte über diesen Prälaten. Es geht um einen sehr charakteristischen Bericht über gewisse Leute, die darauf angewiesen sind, dass unbedingt etwas getan wird und dass etwas passiert. Es war während des Krieges auf dem Weg nach Rom, als der Zug plötzlich in einer unwegsamen Region der Dolomiten stoppte. Es war mitten in der Nacht, und der Schaffner ging mit einer Laterne durch die Gänge. Der Prälat war höchst beunruhigt Familie und die Lieben

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und fragte: »Was ist los? Was ist los?« Der Schaffner antwortete: »Ich weiß es nicht.« Darauf der Prälat: »Dann bringen Sie mir wenigstens ein Glas Wasser!« Das illustriert das Gefühl meines Vaters für humorvolle Situationen, hier für Dinge, die anders verlaufen, als sie der normale Verstand erwartet. Das war im Allgemeinen die Einstellung meines Vaters zum Humor. Er verstand Humor als etwas, was immer irgendwie ein wenig gegen den Common Sense gerichtet ist.

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Nelly Adler (Frau Cornelia N. Michel), jüngste Tochter Alfred Adlers Mein Vater fragte mich einmal, ob ich mich an ein Gespräch mit ihm erinnere, als ich noch sehr klein war. Unsere Köchin in Wien war ziemlich religiös, und während ihrer täglichen Einkäufe für die Familie machte sie auf dem Rückweg Halt bei der Kirche, um zu beten. Sie nahm mich oft mit, und einmal, als ich wieder zu Hause war, begrüßte mich mein Vater und wollte wissen, wo ich gewesen war. Ich antwortete, in der Kirche. Er fragte mich, ob ich Gott gesehen hätte. »Nein, habe ich nicht.« »Warum nicht?«, wollte er wissen. Ich antwortete: »Weil er sich hinter der Kirchentür versteckt hat.« Natürlich wollte mein Vater wissen, warum er sich dort versteckt hielt, worauf ich antwortete: »Damit der Hund ihn nicht beißt.«

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Es folgen Briefe, die er mir nach Wien schickte: Hotel Gramercy Park New York

24. Oktober 1934

Mein kleiner Liebling, ich hoffe, dein Zahn hat dir Adieu gesagt. Du brauchst keinen Weisheitszahn. Du bist weise, so wie du bist.  Viele Küsse, Papa Der letzte Brief meines Vaters: American Hotel Amsterdam, Holland

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29. April 1937

[…] Vali bereitet mir schlaflose Nächte. Ich staune, wie ich das durchhalte. Viele Küsse. Papa

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Phyllis Bottome25 Nach seiner Heirat wirkte Adler in jeder Hinsicht freier und effektiver; seine Freude und sein Stolz auf seine schöne, junge Frau offenbarten sich jedem, der die beiden zusammen sah. »Hätte ich sie mir in meinem Laboratorium anfertigen können, wäre sie keineswegs anders ausgefallen«, gestand er einem Freund.

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1934 in New York litt Adler an seiner einzigen ernsthaften Krankheit des Erwachsenenalters und wäre beinahe an Blutvergiftung gestorben. Seine Frau wurde aus Wien und seine Tochter Alexandra aus Boston herbeigerufen. Sobald er erfuhr, dass die beiden unterwegs waren, ging es ihm besser. Nachdem sie angekommen waren und Nigel26 sah, wie sie alle auf seiner Bettkante saßen, strahlte Adler ihn an und sagte: »Hier sind die zwei, die mein ganzer Stolz sind, hergekommen, um mich zu pflegen. Sie werden sehen, wie schnell es mir jetzt besser geht.«

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25 Aus: Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler. A Portrait from Life. 3rd ed., New York (Vanguard). 26 Nigel Forbes-Dennis, der Neffe von Bottomes Ehemann Ernan Forbes-Dennis, der sich um Adler kümmerte. Familie und die Lieben

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Freunde und Öffentlichkeit

Kurt Adler, Sohn von Alfred und Raissa Adler Einmal war mein Vater zum Abendessen eingeladen, es gab Gans als Hauptgericht. Die Gastgeberin fragte, welchen Teil der Gans er gerne hätte. Er antwortete, das sei ihm eigentlich egal. Worauf meine Großmutter, die ebenfalls am Tisch saß, äußerte: »Geben Sie ihm den Hals.«

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Emory I. Gondor, New York Medical College; Künstler27 Als ich Student von Adler in Wien war, besuchte mich mein betagter Vater. Ich erzählte ihm von Adler und versprach, ihm ein Treffen mit meinem Lehrer zu ermöglichen. Die Einführung hatte den Charakter einer kurzen informellen Visite. Wie Adler mit meinem Vater sprach und mit ihm umging, bestätigte meine Überzeugung, dass er nicht nur genial war, sondern auch eine warmherzige und wundervolle Persönlichkeit. Mein Vater, der damals wegen der schwierigen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg sehr um seine Kinder besorgt war, entspannte sich und war nach dieser Begegnung sichtlich erleichtert.

* 27 Emerich I. Gondor wurde 1896 in Budapest geboren, wo er an der staatlichen Nationalakademie Kunst studierte. Als junger Kunstlehrer kam er mit vielen Kindern in Berührung, die unter den Folgen des Ersten Weltkrieges litten, was sein Interesse für Psychologie weckte. 1920 zog er nach Wien, wo er an der Universitätsklinik mit emotional geschädigten Kindern malte und spielte. 1925 und 1926 besuchte er mehrere individualpsychologische Kurse. 1935 immigrierte er in die USA. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er Leiter der Kunst- und Spielgruppen der Retarded Children’s Clinic und der Psychiatric Child Guidance Clinic am New York Medical College. Er starb 1977. Siehe Center of Jewish History, Digital Collections, New York. http://access.cjh.org/home.php?type=extid&term=1369065#1 (20. 2. 2015).

Einmal zeichnete er mit einem Kind, und das Kind sagte: »Ich kann nicht zeichnen, ich bringe alles durcheinander.« Darauf Adler: »Hier ist ein Blatt Papier, könntest du nur eine Linie ziehen?« Das Kind zeichnete eine Linie. Dann: »Könntest du eine zweite ziehen? Kannst du eine ganze Reihe machen?« Und das Kind tat es. Schritt für Schritt erfuhr das Kind Ermutigung, etwas zu tun und zu lernen. Er bewies eine ungewöhnliche Geduld mit Kindern. Niemand konnte es ihm gleichtun. Beispielsweise wollte ein Kind mit einer Phobie keinen dunklen Raum betreten. Adler fragte das Kind: »Kannst du zwei Schritte machen?« Das Kind machte einen Schritt. Wieder fragte er: »Kannst du zwei Schritte machen? Kannst du die Tür öffnen und hineinschauen?« Darauf überlegte sich das Kind: »Ich könnte ja gleich ganz hineingehen.«

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Als ich Anfang 1920 in Berlin war, hatte ich mit dem Verlagshaus Ullstein zu tun. Eines Tages, als die Teilnehmer des individualpsychologischen Kongresses sich gerade versammelten, wollte ich Alfred Adler wegen eines Artikels ansprechen. Er war mit einem Treffen einverstanden, und ich ging zu seinem Hotel. Nachdem er mich mit seiner gewohnten Wärme begrüßt hatte, sagte er: »Ich habe keinen fertigen Artikel für Sie, aber ich könnte einen schreiben.« Ich überreichte ihm Papier, und in einer Stunde hatte er einen zehnseitigen Artikel geschrieben. Die Handschrift war schön und klar wie seine gesprochenen Mitteilungen. »Verzärtelte Kinder« erschien am nächsten Tag in der »Vossischen Zeitung«. Als ich ihm später den veröffentlichten Artikel überbrachte, schaute er ihn interessiert an und zerriss darauf das Originalmanuskript in zwei Hälften, um sie in den Papierkorb zu werfen. »Warum zerreißen Sie denn dieses so schön geschriebene Manuskript?«, fragte ich ihn. Seine Antwort war, dass es einzig wichtig sei, dass die Leute die Individualpsychologie kennenlernen. Ich bat ihn darum, das Manuskript als Souvenir behalten zu dürfen. Über all diese Jahre habe ich es wie einen Schatz behütet.

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Einmal wurde ich in Adlers Villa in Wien eingeladen. Während wir sprachen, spielte seine jüngste Tochter mit dem Radio (was damals eine technische Neuheit war). Er fragte sie: »Nelly, was willst du damit?« Sie erwiderte, sie suche den Sender Coventry. Adler erklärte, es sei recht schwierig, einen englischen Sender zu empfangen. Nelly schenkte seinen Worten keine Beachtung und spielte weiter am Radio herum. Plötzlich hörten wir britische Stimmen auf einem englischen Kanal. Adler schaute mich an und sagte: »Sehen Sie, für mich ist das ein unglaubliches Freunde und Öffentlichkeit

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Wunder, aber die nächste Generation wird es für selbstverständlich halten.« Ich habe zwanzig Jahre später oft an diese Worte gedacht, nachdem Adlers Lehre der Sozialpsychologie, Familientherapie und Schüler-Förderung in das Allgemeinwissen eingegangen war und weitgehend praktiziert wurde.

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Danica Deutsch, eine Herausgeberin dieser Sammlung, gestorben 1976, Leiterin der Alfred Adler Mental Hygiene Clinic, New York28 Als ich in Wien studierte, um Lehrerin zu werden, traf ich eine Gruppe Studenten, die Kurse bei Freud an der Wiener Universität belegt hatten. Sie lösten heiße Diskussionen unter allen jungen Intellektuellen aus. Einer dieser Studenten war Leonhard Deutsch, der mir Freuds Buch schickte, nachdem ich wieder in meine Heimatstadt zurückgekehrt war. In der dann folgenden Korrespondenz lehnte ich diese Tollkühnheiten – den primären Sexualismus und den rigiden Symbolismus der Theorien Freuds – ab. Die weitere Korrespondenz führte zu unserer Verlobung und 1912 zu unserer Heirat. Auf diese Weise verlobte ich mich mit Freud und heiratete Adler! Die ersten Leute, die ich in Wien traf, waren diejenigen, die Freud verlassen und sich 1911 um Adler geschart hatten. Diese Gruppe traf ich 1912 in Adlers Wohnung. Mein gesamtes Leben fand Orientierung und Farbe durch Adlers Individualpsychologie. Viele Ereignisse und tiefe Eindrücke, die aus dem Kontakt mit Alfred Adler hervorgingen, formten mein Leben und halfen mir, Widrigkeiten zu verstehen und zu überwinden. Das persönlichste Erlebnis ereignete sich bei uns zu Hause, als Adler eine Einladung angenommen hatte, im Duett mit meinem Mann zu musizieren und Schubert-Lieder zu singen. Ich war sehr aufgeregt und wollte alles sehr gut vorbereiten – das Menü, den Haushalt und das Benehmen meiner Kinder. Diese Bemühungen waren Adler nicht entgangen und in einem unbeobachteten Augenblick fragte er mich: »Ist es nicht schwer, eine starke Frau zu sein?« Das war nicht als Kompliment, sondern als Mahnung gemeint. Und ich muss sagen, diese Begegnung wirkte wie ein Leitmotiv in meiner Therapie und meinem Leben.

* * * 28 Danica Deutsch wurde 1890 in Sarajewo geboren, 1938 emigrierte sie in die USA. 1948 baute sie in New York das Alfred Adler Consultation Center auf, eine individualpsychologische Beratungsstelle für Ratsuchende mit niedrigem Einkommen, welches 1954 in die Alfred Adler Mental Hygiene Clinic umgewandelt wurde. Weitere Informationen zu Danica Deutsch siehe Keintzel, Brigitta u. Ilse Korotin (2002): Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich, Wien (Böhlau-Verlag), S. 128 f.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Paul Rom, Psychotherapeut, London, England; Herausgeber des »Individual Psychology Newsletter«, eines Organs der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie Ich hatte mir die Theorie und Praxis der Individualpsychologie in privaten Sitzungen angeeignet, und als Student reiste ich im September 1930 gerne nach Berlin, wo der fünfte Kongress der Individualpsychologie stattfand. Die Kongresstage waren ein bedeutendes Ereignis in meinem Leben. Ich war beeindruckt von der Schlichtheit und Konkretheit der Eröffnungsrede Adlers, die sich mit schwierigen Kindern und Erziehung im Allgemeinen beschäftigte. Ich bewunderte seine Bescheidenheit und Natürlichkeit, als er in einem kleinen Kreis von Studenten über seinen kürzlich erfolgten Besuch der Vereinigten Staaten berichtete und davon sprach, er hätte die »Fahne der Individualpsychologie« gehisst. Dann ersetzte er rasch das stolze Wort »Fahne« durch »Fähnchen«.

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Viele Anekdoten werden erzählt über Dr. Adler. Einmal saß er mit seinen Freunden der Dresdner Individualpsychologie im Salon eines ihrer Mitglieder, als der junge Sohn des Hauses neugierig und zögerlich den Raum betrat. Als Adler ihn bemerkte, öffnete er weit seine Arme, um den Jungen einzuladen, zu ihm zu kommen, und fragte ihn: »Zu wem gehörst du?« Allerdings verschwand der Junge plötzlich wieder und überließ die Erläuterung seinem Vater: »Als Hans mich heute Morgen fragte: »Wer ist der berühmte Herr, der uns heute Abend besucht?«, erklärte ich ihm: »Er ist derjenige, dem du verdankst, dass du die Prügel nicht bekommst, die ich dir gerne verabreicht hätte.« Ein Freund, der in der Runde saß, warf ein: »Du hättest ihm auch sagen können, dass du wegen seines Einflusses viele Kunden verloren hast.« Der Herr des Hauses war ein auf Scheidungen spezialisierter Rechtsanwalt.

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Einmal, vor einigen Jahren, kam ein junger französischer Doktor zu Adler gleich nach mir, und Adler stellte uns gegenseitig vor. Als dieser Doktor mir seine Karte gab, sah ich, dass er nur zwei Minuten von meiner Wohnung entfernt lebte. Lächelnd sagte ich zu Adler: »Und Sie mussten von New York herkommen, um zwei Männer zusammenzubringen, die fast Nachbarn sind.« »Ja«, sagte er ruhig, »es war immer meine Aufgabe im Leben, Menschen zusammenzubringen.«

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Mit der übertriebenen Begeisterung eines Anfängers hatte ein junger Mann einmal seine Ehefrau verärgert mit seiner Schwärmerei für die IndividualpsychoFreunde und Öffentlichkeit

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logie. Eines Tages saßen sie in der Mitte eines großen Saales und warteten auf einen Vortrag Adlers. Von hinten kamen zwei Herren den Mittelgang entlang und bewegten sich in Richtung auf das Podium. Unser junger Mann, der Adler vom Sehen her kannte, sagte zu seiner Frau: »Da ist er!« Überhaupt nicht angetan, erwiderte sie: »Ich mag den neben ihm viel lieber!« Nun, der Mann neben ihm war – Alfred Adler!

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Joseph Meiers, Dr. med., Psychiater, Alfred Adler Mental Hygiene Clinic; Dozent, Manhattan, New York Meine erste Erinnerung an Adler ist eine besondere. Ich hatte persönlich viel über ihn erfahren, lange bevor ich ihm begegnete. Mein jüngerer Bruder suchte nämlich als Teenager Adler in Wien auf, um Linderung für sein lange währendes Bronchialasthma zu finden. Schließlich traf ich Adler um 1925 in Berlin, nachdem ich bei Max Eitingon, einem frühen Freud-Schüler, eine kurze psychoanalytische Ausbildung absolviert hatte. Ich hatte auch mit Dr. Magnus Hirschfeld, dem bekannten Sexualwissenschaftler und Gründer des Berliner Instituts für Sexualwissenschaft, gearbeitet, wie auch an der Nervenklinik der Universität. Warum erwähne ich diese Personen? Weil ich vor diesem Hintergrund das Phänomen Alfred Adler erlebt habe. Ich nahm an den Kursen teil, die er in Berlin gab. Nur denjenigen unter Ihnen, die Adler nicht persönlich getroffen haben, muss erklärt werden, was mich so stark beeindruckte, als ich ihn traf. Sein untersetzter, mittelgroßer Körper, seine dunklen Augen, oft halb verschleiert, wie von Phyllis Bottome beschrieben: »[…] sein Gesicht ernst, aber oft erleuchtet von einem kurzen, fast sanften Aufblitzen des Humors.« Man könnte ihn mit einer Art besonders breitem Musikinstrument – dem Violoncello – vergleichen, das zum Leben erwachte, wenn er sprach. Was er sagte – seine geistige Einstellung, seine weit ausholende Philosophie, seine unwiderstehliche Zielgerichtetheit – das war es vor allem, womit er mich gewann.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Merrill Moore, Dr. med., Boston, Massachusetts29 Ungefähr 1935 besuchte Alfred Adler Boston, und ich sollte ihn zum Hospital fahren. Es war ein kalter Wintertag mit Schnee auf der Straße, der geschmolzen und wieder gefroren war, sodass alles von einer Eisschicht bedeckt war. Als wir aus dem Auto ausstiegen, rutschte ich aus und wäre beinahe gefallen. Adler ergriff meinen Ellbogen und lächelte. Er sagte: »Bitte nicht hinfallen. Ich werde Ihnen zeigen, wie man geht.« Dann schritt er sehr vorsichtig und natürlich voran. »Schauen Sie, es geht so: Sie nehmen Ihren Fuß und setzen ihn vollkommen flach auf den Boden. Wenn Sie Ihr Gewicht auf den Fuß legen, setzen Sie ihn gleichmäßig ab. So haften Sie am Boden, verstehen Sie?« Dann setzte Adler seinen Fuß vollkommen flach auf den Boden und schritt vorsichtig über eine Eisplatte. Er machte das so schnell und natürlich, dass ich unverzüglich spürte, nicht richtig gelaufen zu sein. Mein Gehen war ziemlich unkontrolliert. Er jedoch bewegte sich vollkommen entspannt und sicher wie eine Ziege auf dem Eis. Er lächelte und lächelte. Als ich ihm in die Augen schaute, stieß ich auf diesen weisen, heiteren, freundlichen Blick, den er jedermann schenkte. Was mich an diesem Fall beeindruckte und weshalb ich mich vermutlich daran erinnere, ist, dass er alles so schnell machte, so natürlich, so automatisch. Er lehrte beinahe reflexartig. Sah er, dass etwas falsch lief, korrigierte er es sofort, wie auch in diesem Fall. Es gab mir auch ein Gefühl der Befriedigung, zu wissen, dass er sich so persönlich und freundlich für mich interessierte, indem er mir inmitten eines geschäftigen Tages zeigte, wie man auf Eis läuft. Das ist eine winzige Begebenheit, aber sie zeigt Adlers Persönlichkeit, seinen hilfsbereite Natur und seinen gebefreudigen Charakter.

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Harry Sicher, Dr. med., Dr. rer. nat., Professor der Anatomie, Universität Wien, Loyola Universität von Chicago30 Nach einem langen Arbeitstag pflegte Adler eines seiner geliebten Kaffeehäuser in Wien zu besuchen, manchmal bis ein oder zwei Uhr morgens. Nie hat ihn jemand vor Mitternacht dort weggehen sehen. Das waren der Ort und die Zeit, wo jeder einzelne seiner vielen Schüler ihn um Rat fragen oder Probleme mit ihm diskutieren konnte. Trotzdem stand er jeden Tag nicht später als sieben Uhr auf. Ein Freund fragte ihn einmal, wie er sein pausenloses Arbeiten aushielt mit 29 Aus: Individual Psychology News, März-April 1941 (gekürzt). 30 Aus: Individual Psychology News, Oktober-November 1940. Freunde und Öffentlichkeit

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so wenig Schlaf, ohne müde zu sein oder müde auszusehen. »Weißt du«, sagte Adler, »ich bin ein schneller Schläfer.«

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Herbert Schaffer, Dr. med., Psychiater, Autor, Präsident der Französischen Gesellschaft für Adlerianische Psychologie, Paris, Frankreich Als Adler nach Paris kam, übernachtete er im Hotel Louvre, nur wenige Schritte vom Museum entfernt. Verschiedene Male konnte ich ihn zu den Sammlungen begleiten. Er schätzte besonders die Szenen mit Alltagsleben und bewunderte ganz besonders die Werke der Le-Nain-Brüder, die »Bauernmahlzeit« und die »Bauernfamilie« von Louis Le Nain. Er bewunderte die einfachen und schlichten Motive dieser Bilder und das in einem Zeitalter, als die meisten Künstler pompöse Darstellungen der Welt und grandiose Wiedergaben vom Leben bevorzugten. Bei dem späteren Besuch eines holländischen Museums zeigte er sein Interesse an flämischen Bildern, die Szenen innerhalb von Häusern, Bilder des Alltagslebens wiedergaben. Zu seinen Favoriten zählten Jan Steen und Adriaen van Ostade, holländische Maler des 17. Jahrhunderts.

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Verständlicherweise machten Adlers Biografen auf seine Wertschätzung jener Philosophen und Schriftsteller aufmerksam, die er als Führer der Menschheit erachtete: Goethe, Shakespeare, Marx, Nietzsche, Dostojewski. Darüber hinaus bewunderte Adler zwei Autoren für den Stil, mit dem sie Objekte und Ereignisse darstellten: Conan Doyle, dessen bekannte Figur Sherlock Holmes teleologisches Denken anwandte, um Kriminalfälle zu lösen, und Edgar Allen Poe mit seiner Kunst des Schlussfolgerns, die Adler bezauberte und die er bewunderte.

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In Amsterdam erlebte ich eine Situation, die unauslöschlich in meinem Gedächtnis bleibt. Wir waren bei Frau F., einer Bankiersgattin, eingeladen. Sie plante eine Stadtbesichtigung mit uns – sie war eine Bekannte Adlers –, um anschließend zu einem Imbiss in ihr Haus zurückzukehren. Als wir aufbrachen, sagte ein kleiner Junge, der offenbar ihr Sohn war, auf Wiedersehen zu uns. Als wir zurückkehrten, fanden wir den Boden des Wohnzimmers, wo es Tee geben sollte, mit Spielzeug übersät. Der Junge hatte alles, was er besaß, herausgeholt. Die Dame, rot im Gesicht und aufgeregt, stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Da ging Adler auf den Jungen zu, sah ihn freundlich an und sagte: »Du hast deine Spielsachen so schön ausgebreitet. Meinst du, du könntest 36

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

sie genauso schön wieder einsammeln?« In weniger als einer Minute waren alle Spielsachen zurück in ihrer Kiste.

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Ross D. Rosenberger, New Castle, Pennsylvania Als Dr. Adler im November 1935 nach Youngstown zurückkehrte, war er so freundlich, uns in unserem Haus in New Castle, Pennsylvania, zu besuchen. Meine Frau Ruth und ich spürten sehr wohl die persönliche Größe Adlers, aber da sie ihn zum ersten Mal traf, war sie ein wenig aufgeregt. Als Dr. Adler und ich das Haus betraten, fanden wir sie im Wohnzimmer. Ich stellte sie gegenseitig vor und entschuldigte mich für ein paar Minuten. Als ich zurückkam, spürte ich keine Anspannung mehr bei Ruth. Sie lachte und sprach mit vollkommener Selbstsicherheit. Später erzählte sie mir, was geschehen war: Nachdem sie sich gesetzt hatten und Adler Ruths Kleinheitsgefühl in seiner Gegenwart bemerkt hatte, strahlten seine Augen beim Anblick eines in gutem Gebrauch befindlichen Klaviers und eines Stapels Noten. »Spielen Sie – und singen Sie vielleicht?«, fragte Adler. Ruth bejahte es. Adler ging zum Klavier und ergriff die Noten von »Oh, trockne diese Tränen« und bat Ruth, sie für ihn zu spielen und zu singen. Sie singt sehr gut, und sie erfüllte seine Bitte. Er stimmte ein, wohl wissend, dass seine Stimme weniger als die ihre geübt war. Auf diese Weise hat er geschickt die Positionen von Anfänger und Könner umgedreht, und Ruth, die sich nun in einer Position der Wertschätzung und Bedeutung fand, war nun vollkommen entspannt.

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Olga Knopf, Psychiaterin und Autorin, New York31 Ich habe viele schöne Erinnerungen an die Zeit, als ich Teil der Adler-Gruppe war, und fühle mich ihm persönlich zu tiefem Dank verpflichtet. Hätte er mir 1929 nicht geholfen, nach Amerika zu kommen, und hätte er mir nicht geholfen, mich hier zurechtzufinden, wäre ich zehn Jahre später in einem Konzentrationslager umgekommen, da ich niemand in Amerika kannte. 31 Olga Knopf, geboren 1888, hatte in Wien Medizin studiert und spezialisierte sich auf Psychiatrie. In den 1920er Jahren war sie aktives Mitglied in Adlers Wiener Kreis. Sie hielt 1929 zum ersten Mal Vorlesungen in den USA. Sie arbeitete an verschiedenen Spitälern als Psychiaterin und Neurologien und unterhielt eine eigene psychiatrische Praxis in New York. Siehe Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler, S. 331 f., ferner Keintzel, Brigitta u. Korotin, Ilse (2002): Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich, Wien (Böhlau-Verlag), S. 383 ff. Freunde und Öffentlichkeit

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Das ist der größte Beitrag, den ich für einen großen Lehrer und großen Menschen leisten kann.

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Sofie Lazarsfeld, Psychotherapeutin und Autorin Adler fragte eine Person, die besonders unfreundlich zu ihm war: »Warum sind Sie so verärgert über mich? So viel habe ich doch gar nicht für Sie getan.«

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»Wissen Sie, Frau Lazarsfeld, Sie sind sehr glücklich, zuerst haben Sie Ihre Kinder erzogen und erst dann wurden Sie eine Psychologin.«

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»Es könnte eine Zeit kommen«, sagte er, »wenn man meinen Namen nicht mehr kennen wird; man könnte sogar vergessen, dass unsere Schule jemals existiert hat. Das macht aber nichts, denn jeder, der in unserem Feld arbeitet, wird handeln, als hätte er bei uns studiert!«

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Helene Papanek, Dr. med., Dozentin und Dekanin, Mental Hygiene Clinic des Alfred Adler Institute, Manhattan, New York32 Nach einem Semester Medizinstudium hatte ich davon genug und beschloss, Literatur und Drama zu studieren, um Schauspielerin zu werden. Ich war damals 19 Jahre alt und stark am Theater interessiert. Als ich mich bei einem sehr bekannten Lehrer zum Vorspielen präsentierte, riet er mir zu meiner großen Enttäuschung, einen anderen Beruf zu wählen. Mein Schauspieltalent sei nicht so groß wie meine Begeisterung fürs Theater. Mit dem Verlust nur eines Semesters kehrte ich zum Medizinstudium zurück. In dieser Zeit lud mich Ali [Alfred Adlers Tochter Alexandra] zu einer Feier ein. Ihr Vater setzte sich zu mir und sagte etwa Folgendes: »Es ist nichts verkehrt daran, dass Ihre Zukunftspläne Sie verunsichern. Sie haben Ihre Enttäuschung rasch überwunden, und Sie scheinen über den Verzicht auf den Schauspieler-Beruf weder beschämt noch entmutigt zu sein. Sorgen Sie sich nicht. Sie haben Mut, und Sie werden Ihren Weg machen.« 32 1952 wurde Helene Papanek Direktorin des Alfred Adler Institutes in New York, einer Institution zur Ausbildung von Individualpsychologen. Therapeuten in Ausbildung behandelten unter Supervision Patienten der angeschlossenen Alfred Adler Mental Hygiene Clinic. 1971 bis 1975 leitete sie die dortige Abteilung für Gruppenpsychotherapie. Siehe Keintzel, Brigitta u. Korotin, Ilse (2002): Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich, Wien (Böhlau-Verlag), S. 545 f.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Ich war überrascht und Dr. Adler dankbar für sein positives Interesse an dem ungewöhnlichen und ziemlich dummen Umweg, den ich im ersten Studienjahr eingeschlagen hatte. Mir war, als hätte er mir in Gegenwart meiner Freunde eine Medaille umgehängt. Seine Worte machten meine Last zu einem Gewinn.

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Sydney Martin Roth, Chicago, Verleger des »International Journal of Individual Psychology« in den 1930er Jahren und Mitbegründer des Community Child Guidance Centers, Chicago Als Teenager ging ich öfters in die Bibliothek, um alles übers Stottern herauszufinden, ein Problem, das mich quälte. Ich glaubte, einen Doktor gefunden zu haben, der wusste, worum es ging. Sein Name war Alfred Adler. Ich kümmerte mich nicht mehr um ihn, bis ich im Winter 1933 im »Time Magazine« las, dass Adler an der New School for Social Research lehrte. Das war während der Zeit der wirtschaftlichen Depression. Meine Frau hatte eine Stelle in New York, und ich sagte, sie müsse hingehen und ihm zuhören. Sie ging hin, und nach seinem Vortrag stand er an der Tür, sodass Leute mit ihm sprechen und ihn befragen konnten. Meine Frau ging zu ihm und sprach über mein Stottern. Er war sehr freundlich zu ihr und schlug vor, dass ich ihn besuche. Wir hatten eine sehr besondere Beziehung. Dreißig Tage lang nahm er mich überall mit hin. Seine Therapie war fabelhaft. Er sagte zu mir: »Sydney, fast jeder stottert inwendig. Geh los und stottere. Stottere so viel, wie du willst. Nur eines musst du beachten. Stelle sicher, dass es nicht zur Entschuldigung dafür wird, das nicht anzupacken, was das Leben von dir verlangt.«

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Das folgende Ereignis fiel auch in die Zeit der Depression in der Mitte der 30er Jahre. Als der Chef unserer Firma gehört hatte, dass Alfred Adler in Chicago war, fragte er mich, wissend um meine Beziehung zu ihm, ob ich ihn dazu überreden könne, in dieser Woche seine Einladung zum Abendessen anzunehmen. Ich kannte seine Gründe: Er wollte unseren Hauptkunden, den Vorsitzenden eines großen Konzerns, an der Einladung teilnehmen lassen. Mir war klar, dass er beabsichtigte, den Kunden zu beeindrucken. Ich informierte Dr. Adler über die Situation und fragte, was er davon hielt. Er stimmte zu, um mir zu helfen. Da bin ich sicher. Als wir im Haus meines Vorgesetzten ankamen, waren dort nicht nur der Kunde, sondern auch die Tochter des Vorgesetzten, ihr Ehemann und deren vierjährige Tochter. Es wurde bald klar, dass die Kleine ein ziemlich verwöhntes Freunde und Öffentlichkeit

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Einzelkind war. Sie beharrte darauf, der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein, auf Adler herumzuklettern, die Unterhaltung zu unterbrechen und sich generell schlecht zu benehmen. Da saß nun Adler, dieser große und berühmte Mann, der alles über Kindererziehung wusste, über Eltern-Kind-Beziehungen und was Eltern in solchen Situationen zu tun hatten, und strahlte wie ein Großpapa. Dr. Adler gab keine Empfehlungen, machte keine Einwände und sagte nichts zum Verhalten des Kindes, nichts zum Kind selbst noch zu den Eltern. Ich war verblüfft. Wie konnte er bloß dasitzen und strahlen, während jede Regel des Lehrbuchs von den Eltern, den Großeltern und dem Kind gebrochen wurde! Später, auf dem Weg nach Hause, fragte ich ihn: »Wie kam es, dass Sie nichts gesagt oder getan haben?« Seine Antwort: »Nun, Sydney, niemand hat mich gefragt.«

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Als ich Adler von einem Streit mit meinem Bruder berichtete, sagte er: »Welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen?« Meine Antwort. »Schlüsse? Keine!« Worauf er erwiderte: »Dann war alles, was Sie wollten, Kampf.«

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Es geschah oft, wenn Adler jemanden eingeladen hatte, der viel Aufwand betrieb, um Zuwendungen oder Höflichkeiten abzulehnen, die Adler als Gastgeber ihm anbot, dass er scherzhaft sagte: »Denken Sie daran, Sie sind nur der Gast.«

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Adler und ich diskutierten einmal über Selbstsucht und ihre möglichen individuellen Motive. Er sagte: »Es spielt keine Rolle, wie egozentrisch eine Person oder was ihr Motiv für persönliche Selbstvergrößerung sein mag; solange sie auf der nützlichen Seite des Lebens steht, kann sie gar nicht anders, als einen Beitrag zu leisten.« Einmal fragte ich ihn, wann es für einen Menschen wohl zu spät wäre, sich zu ändern. »Na, vielleicht ein oder zwei Tage, bevor er stirbt.«

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Adler erzählte uns einmal die Geschichte, wie man ihn zu einem köstlichen Abendessen eingeladen hatte. Als man ihn zum zweiten oder dritten Mal zum Nachfassen drängte, war er so gesättigt, dass er keinen weiteren Bissen mehr herunterbekam. Kurz darauf brachte ihm die Gastgeberin eine verlockende Wiener Mehlspeise mit Schlagsahne und fragte ihn: »Möchten Sie nicht doch etwas Nachspeise haben?« Statt einer Antwort erzählte er ihnen die folgende Geschichte: »In Österreich pflegte man den Tag anzukündigen, an dem der Kaiser sein Schloss in einer Kutsche verließ. Schon viele Stunden vor der genannten Zeit 40

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

strömten die Menschen in Scharen auf den Platz vor dem Schloss, bis schließlich nicht einmal mehr Platz war, dass einer seine Arme erheben konnte. Dann plötzlich hörten sie den Ruf: ›Platz machen für den Kaiser!‹, und wie durch Zauberei öffnete sich eine Gasse.« Danach wandte Adler sich an seine Gastgeberin und sagte: »Genau das geschieht mit mir. – Ja danke, ich nehme das Dessert.«

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Eines Tages erzählte ich Adler von einer Debatte, die ich mit einem Mitgesellschafter hatte, und als ich damit fertig war, fügte ich hinzu: »Und ich hatte recht.« Ich erinnere mich lebhaft, wie Adler erwiderte: »Sydney, manchmal ist das Schlechteste, was du machen kannst, recht zu haben!«

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Ich erinnere mich an eine Geschichte Adlers über seinen Gärtner. Eines Tages im Frühling kam ein Mann zu ihm und erzählte, er hätte eines von Adlers Büchern in der Gefängnisbücherei gelesen. Er saß ein wegen Diebstahl. Nach seiner Entlassung wollte er den Autor besuchen, um mit ihm über sein Leben zu sprechen. Es ergab sich, dass Adler diesen Mann als Gärtner anstellte, und er war offensichtlich ein tüchtiger Gärtner, solange er bei ihm arbeitete. Doch Adler erzählte noch eine Geschichte aus der ersten Zeit, als er ihn zu einer gewissen Gärtnerei schickte, um einige Pflanzen zu kaufen. Adler beobachtete, dass er mit weit mehr Pflanzen zurückkam, als er mit dem Geld, das er für den Einkauf bekommen hatte, bezahlen konnte. Adler diskutierte mit dem Gärtner und schickte ihn zu der Gärtnerei zurück, um die Extrapflanzen zurückzubringen. Adler fügte hinzu: »Das war seine Methode, meine Ehrlichkeit zu testen.«

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Um eine bestimmte Ansicht zu erläutern, die Adler vertrat, erzählte er mir die Geschichte eines Mannes, der sein Haus am Morgen verließ und dessen Frau ihm empfohlen hatte, einen Regenschirm mitzunehmen. Es war ein warmer, sonniger Tag. Der Mann ging zur Tür, schaute zum klaren, wolkenlosen Himmel und entschied, er brauche keinen. »Aber«, sagte Adler, »den ganzen Tag lang schaute er wieder und wieder zum Himmel.«

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Adler erzählte mir von einer seiner ersten Einladungen, in New York einen Vortrag zu halten. Der Mann, der ihn auf der Bühne vorstellte, hielt eine stark herabsetzende Rede über Adlers Werk. Adler saß nur da und lächelte die Zuhörer freundlich an. Nachher fragte man ihn: »Wie konnten Sie nur dasitzen und Freunde und Öffentlichkeit

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zulassen, dass der Mann Sie in Stücke reißt?« »Wissen Sie«, antwortete er, »ich kann Englisch sprechen, aber ich verstehe nicht besonders gut, wenn es gesprochen wird.«

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Rowena Ansbacher, Dr. phil., Mitherausgeberin des »Journal of Individual Psychology«, 1957–1973 Ich möchte über meine erste Begegnung mit Adler eigentlich nicht so gern in der Form einer Anekdote berichten. Mir liegt mehr daran, ein Bild von ihm und seiner Wesensart wiederzugeben. 1927 in New York genoss Adler fast die Verehrung eines populären Schauspielers. Ich wollte ihn besuchen, um über die Möglichkeit zu sprechen, bei ihm in Wien zu studieren, und war sehr glücklich, einen Termin erhalten zu haben. Als ich die Klingel seines bescheidenen Hotel-Apartments drückte, war ich aufgeregt vor der Begegnung mit einem so bedeutenden Mann. Er öffnete selbst die Tür, und beim ersten Blick verschwand meine Anspannung. Das Gespräch verlief ganz ruhig, und er erfüllte meinen Wunsch. Von einer Wolke des Hochgefühls getragen, ging ich nach Hause. Was war an seiner Wesensart, dass er in kürzester Zeit so große Wirkung erzielen konnte? Manchmal wird eine Bedeutung plötzlich klarer, wenn ein Ausländer ein Wort in unüblicher Weise gebraucht. So ein Wort war Adlers köstliches, österreichisch gefärbtes Bittschön. Als er die Tür öffnete, begrüßte er mich mit Bittschön, breitete seine Arme aus und nach unten zur Seite mit einem Ausdruck, den ich später als höchst charakteristisch kennenlernen sollte. Er wiederholte das Wort Bittschön und die Geste. Zunächst bedeutete es: »Kommen Sie herein«, dann: »Setzen Sie sich, ich bin gleich wieder bei Ihnen« und schließlich: »Was beschäftigt Sie?«. Bittschön könnte verglichen werden mit der amerikanischen Redeweise »Be my guest«. Es schien auch zu bedeuten: »Willkommen, wer immer Sie sind; haben Sie keine Angst; ich werde für Sie tun, was immer ich kann.« Es drückte sowohl Adlers Festigkeit wie auch seine ungewöhnliche Bescheidenheit und Freundlichkeit aus. Seine Sanftmut möchte ich besonders hervorheben, weil viele Fotografien diesen Zug nicht ausdrücken. Allerdings zeigen sie die durchdringende Eigenschaft seiner Augen, die zusammen mit dem genannten Wort und der Geste diese Charakterisierung vervollständigen. Sein Blick – nach außen gerichteter Kontakt – war immer fest auf den anderen gerichtet, und manchmal senkte er seinen Kopf, als ob sein Blick noch eindringlicher werden wollte. Wenn ich zurückschaue, erscheinen mir das Wort Bittschön, die geöffneten Arme, der verbindende Blick zusammengenommen als der Ausdruck von jemand, der ganz 42

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

im Dienste eines anderen steht. Das ist vielleicht der Schlüssel zu der Wirkung, die Adlers Wesensart auf mich ausübte – und auf viele andere –, denn, wie er selbst betonte, gibt es tatsächlich keine Erfahrung, die das absichtslose Interesse eines anderen ersetzen kann.

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Heinz Ansbacher, Dr. phil., Professor für Psychologie, Universität von Vermont; Herausgeber des »Journals für Individualpsychologie«, 1957–1973 Sein großes Hobby war: Leute zusammenzubringen. So brachte er also auch Rowena und mich zusammen. Ich weiß nicht, ob er trickste oder ob er es ernst meinte, als er sagte, dass ich Rowenas Schwester kennenlernen sollte. Mir war ganz furchtbar zumute, denn ich mochte die Schwester – ich mochte nicht Paula, ich mochte Rowena. Irgendwie wandte sich dann doch alles zum Guten. Darum war Adler im wirklichen Sinne der »Taufpate« der Werke, die Rowena und ich herausgaben. Frau Carl Furtmüller

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Auf einer seiner Amerikareisen wurde Adler seekrank und blieb in seiner Kabine. Ein nettes Mädchen kam und fragte, ob sie etwas für ihn tun könne, und bot ihm eine Tasse Tee an. Er nahm sie höflicherweise an und bat sie zu gehen, damit er sich ankleiden könne. Nachdem sie gegangen war, goss er den Tee in den Ausguss, zog sich an und ging ihr hinterher. »Das beste Heilmittel gegen Seekrankheit ist ein attraktives, junges Mädchen«, sagte er zu Carl.

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Sybil Mandell, Dr. phil., Sozialarbeiterin33

In seinem letzten Sommer war es mir eine besondere Ehre, die Seminare für Alfred Adler im Williams-Institut in Berkeley, Kalifornien, zu planen. Nach der Vorlesung traf er uns jeden Tag zum Mittagessen und saß mal bei unserer Gruppe, mal bei einer anderen. Eine Dame ärgerte sich über die tägliche und einfache Versorgung mit Sandwiches und einem heißen Getränk. »Dr. Adler«, sagte sie, »ich habe denen schon gesagt, wie empörend es ist, Ihnen jeden Tag nur Sandwiches anzubieten – einem so großen Mann wie Ihnen.« »Madam«, antwortete Alfred Adler ruhig, »wenn es irgendetwas Großes in mir geben sollte, dann nicht, weil ich etwas Besonderes gegessen habe.« 33 Aus: Individual Psychology News, 1941. Freunde und Öffentlichkeit

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Er wurde von dieser Gruppe geliebt und verehrt. Er sang Wiener Lieder mit mir, als er neben mir auf den Frontsitzen meines alten Fords saß und seine Tochter und meine Schwester hinten saßen. Es ist eine unschätzbare Erinnerung.

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Margery Denham, eine Freundin der Adler-Familie34 Ich hatte das große Glück, zusammen mit Dr. Adler und einer Freundin, Helen Maria Davis, auf meiner Reise nach Europa den Ozean zu überqueren. Es gab ein bestimmtes Spiel in einem der Aufenthaltsräume, ähnlich dem Minigolf, jedoch mit Risiken bei jedem Loch, und dass es mit einer Billardkugel, einem weißen Ball und einem Queue gespielt wurde. Die ersten paar Löcher konnten mit mäßigem Geschick gut bewältigt werden, aber das letzte Loch war eine echte Herausforderung. Man musste sehr genau den Drall des weißen Balles berechnen, so als ob man einen weiteren Drall auf die Billardkugel losließ, um sie in den sehr engen Eingang des letzten Loches zu treiben. Keiner kam über diesen Punkt hinaus. Dr. Adler nahm diese Herausforderung an. Für ungefähr eine Stunde, vielleicht auch zwei, währenddessen Helen und ich auf Deck umherwanderten, konnte man Dr. Adler beobachten, wie er die Situation studierte und mit dieser und jener Möglichkeit experimentierte. Dann hielten wir bei ihm an, um nach seinem Fortschritt zu schauen. Eine Zigarette zwischen den Lippen, schaute er uns kaum an und sagte: »Jetzt glaube ich, dass ich es packe.« Wir warteten und hielten den Atem an. Sehr sorgfältig zielend berührte er den weißen Ball mit dem Queue. Der Ball rollte langsam davon, streifte die Billardkugel, die gehorsam startete, drehte sich dabei in den Gang durch die Klappe und fiel ins Loch. Wir atmeten alle auf. Dr. Adler lächelte ein wenig, stellte den Queue weg und ging davon. Soweit ich weiß, rührte er das Spiel nie mehr an.

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Übrigens, wenn auch weiter nichts Besonderes, sagte Adler einmal zwinkernden Auges: »Wissen Sie, warum ich nicht gerne fliege? Man ist dann zu sehr in Gottes Hand!«

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34 Im Mai 1934 reisten Adler und sein amerikanischer Unterstützer Charles Davis zusammen mit Davis’ Tochter Helen und deren Freundin Denham mit dem Schiff nach Europa. AdlerBiograf Edward Hoffman (1997, S. 351) greift diese Anekdote auf, nennt Denham aber mit Vornamen Margaret.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

O. Hobart Mowrer, Dr. phil., Professor der Psychologie, Universität Illinois Das einzige Mal sah ich Dr. Adler bei Gelegenheit eines kurzen Besuches, den er 1936 oder 1937 nach New Haven machte. Ich erinnere, dass er vor einer Gruppe des Lehr- und Forschungskörpers am Yale-Institut für menschliche Beziehungen dozierte; er kam auch zum Kindergemeindezentrum in die Quincy Avenue, in welchem meine Frau als Kinderpsychologin angestellt war. Byron Hacker, Direkter der Institution, traf am folgenden Morgen Dr. Adler zum Frühstück und zog ihn ein wenig auf, als er sagte: »Guten Morgen, Dr. Adler! Ich hoffe, Sie hatten angenehme Träume letzte Nacht!« Worauf Adler mit einiger Schroffheit geantwortet habe: »Ich träume nie!« Herr Hacker pflegte diese Geschichte mit breitem Schmunzeln zu erzählen.35

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Sidney Roth erinnert sich daran, dass Dr. Adler ihm sagte: »Als ich den Zweck von Träumen verstand, hörte ich auf zu träumen.«

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Jacqueline (Bobby) Coster-Lucas wohnt heute in Kanada; sie lernte Adler zuerst in Amsterdam, Niederlande, kennen. Man trifft Leute auf verschiedenen Ebenen – auf intellektueller, persönlicher und sozialer. Mit Adler war es anders. Bei ihm herrschte sofort eine offene Atmosphäre, so wie mit jemandem, den man schon sein ganzes Leben lang kennt. Er war eine Art väterliche Gestalt, die jedem, der ihn kennenlernte, am nächsten war – einer der Menschen, denen man nicht in einer Rolle, sondern mit seiner ganzen Persönlichkeit begegnete, ohne irgendwelche Hindernisse. Es war ein Treffen von Seele zu Seele. Er war einfach und sorglos, was ihn selbst anging – eine Einfachheit, die ihm den Zugang zu den Herzen seiner Mitmenschen leicht machte. Das Gemeinschaftsgefühl, von dem er sprach und von dem er glaubte, dass es allen Menschen angeboren sei, war in ihm überzeugend lebendig. Er liebte den Stammtisch in den Cafés, wo er mitten unter seinen Kameraden sein konnte, umgeben von seinen Kellnern und Freunden. Aber er hasste die offiziellen Meetings zu seinen Ehren, wo er zwischen den Vorstandsmitgliedern an einem anderen Tisch sitzen und den feinen Gast mimen musste. Dann sandte er jemanden zu mir und flüsterte mir zu: »Sag mir etwas Freundliches«, so, als 35 Edward Hoffman (1997) erzählt diese Anekdote auf S. 369. Freunde und Öffentlichkeit

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fühlte er sich einsam. Das war peinlich, denn was konnte man in der Öffentlichkeit schon sagen, das ihn weniger fühlen ließ, dass er der Mann im Mittelpunkt war? Oder er rief meinen Mann und mich und flüsterte: »Habt ihr euer Auto dabei? Lasst uns davonschleichen!«, und wir drei verschwanden unbemerkt, um eine ungarische Kapelle und Gemütlichkeit zu finden, bevor die »Prominenten« unsere Flucht bemerkten.

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Einmal, als er zu uns zum Essen kam, sah er einen kleinen Hund aus Keramik auf dem Fensterbrett stehen, dessen Nacken verkrampft war, weil er eine Fliege fangen wollte, die ihn in den Schwanz stechen wollte. Adler nahm ihn in die Hand. »Das ist freudianisch«, schmunzelte er, »wir hingegen würden ihm eine Wurst vor seine Nase halten.«

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Ich sah Adler das letzte Mal ein paar Tage vor seinem Tod. Ich erwähne es deshalb, weil etwas Eigentümliches geschehen war. Wir saßen am Abend, bevor er nach Paris aufbrach, um Raissa zu treffen, am Stammtisch im Hotel im Kreis von Freunden. Plötzlich bat er mich hinauf auf sein Zimmer, was er zuvor nie getan hat. Dort legte er mir beide Hände auf die Schultern und schaute mich intensiv an. Es war nicht hypnotisch, nichts Privates. Es war eine seelische Erschütterung von immenser Kraft, eine wirkliche Erfahrung der Wahrheit der Adler’schen Botschaft, dass es möglich ist, durch das seelische Organ ins Innere eines Mitmenschen einzudringen. Es war keine »verbale Schocktherapie«, überhaupt keine Therapie, sondern ein Geschenk, ein Abschiedsgeschenk der menschlichen Freundschaft, jedoch so selten und machtvoll, dass es mich sprachlos zurückließ. Er muss gefühlt haben, dass es für immer war. Er fragte mich nach einem Geschenk, das er mir machen könnte. Ich wusste keines; so stellte ich ein paar Fragen, die jemand anders von ihm beantwortet haben wollte. Er steckte sie in seine Hosentasche, um mir von Paris aus zu antworten. Als ich herunterkam, fragten mich mein Ehemann und Freunde, was los sei und was mir geschehen sei. Ich konnte nicht sprechen, weil ich von diesem eigenartigen Erlebnis noch ganz erfüllt war. An einem der nächsten Tage brachte mir die Post Adlers Antwort, aus Aberdeen abgeschickt, zusammen mit der Zeitung, die uns über seinen plötzlichen Tod informierte. Er musste gewusst haben, dass er kommen würde, und gewährte mir ein letztes Lebewohl.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Sophia J. de Vries, M. A., Psychologin, Oakland, Kalifornien Wir schätzten Adlers kurze Besuche in Holland, nachdem er seinen Wohnsitz nach New York City verlegt hatte. Bei einem dieser Besuche, der auf eine Lehrveranstaltung in Amsterdam folgte, aßen wir mit ihm zusammen in Scheveningen vor seiner abendlichen Vorlesung in Den Haag. Wir kamen ziemlich früh im Hotel an und entschieden uns, noch an den Strand zu gehen. Da sahen wir aus der Entfernung, wie er hastig und mit weit geöffneten Armen näher kam: »Hier seid Ihr also wieder, alle meine Freunde!« Er wandte sich an jeden von uns. »Was haben Sie getan, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben? Wie geht es dem Patienten, über den wir letztes Jahr gesprochen haben? Sag mir, wie’s den Kindern jetzt geht.« Unweigerlich liefe es auf sein »Na also, was haben Sie gemacht, damit es besser werde?« hinaus.

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Eine weitere Erinnerung handelt von Adlers Liebe zur Musik. Während einer seiner Besuche in Holland spielte das Concertgebouw von Amsterdam Beethovens neunte Symphonie und seine Klavierkonzerte. Es war üblich, dass sich die Musikliebhaber in den Hallen während der Pausen trafen, um die Aufführung bei einer Tasse Kaffee zu diskutieren. Genau dort, wo der Kaffee serviert wurde, fand ich Adler. Wir sprachen über Mengelberg36 und seinen Stil zu dirigieren, der ausdrucksstark und auch protzig war, über das Orchester, das in ausgezeichneter Form war, und über den Pianisten im vierten Konzert. Es war eine jener herausragenden Vorstellungen. Adler summte Teile der achten Symphonie, die auf dem Programm stand, mit. Ich erwähnte, dass es mein Lieblingsstück sei, und deutete an, dass seines wohl die Neunte sei wegen ihres Inhaltes. »Nein«, sagte Adler, »mein Lieblingsstück ist auch die Achte. Sie hat mehr von dem, was die Menschen beschäftigt, als die Neunte, und erlaubt einen größeren optimistischen Ausblick. Wenn Beethoven hätte hören können, als er die Neunte komponierte, hätte er wohl Teile umgeschrieben. Man kann nicht immer grübeln. Die Neunte hat eine so hoffnungslose und tragische Qualität, weil Beethoven sich so fühlte, als er sie komponierte.«

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36 Willem Mengelberg (1871–1951), niederländischer Dirigent und Musikdirektor. Freunde und Öffentlichkeit

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Alfred Farau, Dr. phil., Direktor der Psychologie und stellvertretender Dekan, Alfred Adler Institute, New York; Professor honoris causa, Universität Wien Ich war erst 19 Jahre alt, als ich ihn zum ersten Mal in seinem Büro sah. Adler war damals noch weit davon entfernt, eine Legende zu sein – im Gegensatz zu seiner heutigen historischen Gestalt –, trotzdem war er sehr anerkannt, auch als treibende Kraft einer immer größer werdenden Gruppe von Psychologen und Erziehern. Dann, in seinen frühen Fünfzigern, war Adler auf dem Höhepunkt seiner Lebenskraft und seines Humors. Er war nicht sehr groß und auf den ersten Blick nicht sehr beeindruckend. Aber wenn man in seiner Nähe saß, war man schnell beeindruckt von seiner gewaltigen Stirn und den immer wachsamen Augen. Er war ein Wiener, in dem sich einige der besten menschlichen Qualitäten des Alten Wiens zu seiner besten Zeit verbanden. Er war charmant. Sein vernünftiger, wissenschaftlicher Verstand hielt ihn nicht davon ab, das Leben bis zum Äußersten zu genießen; auch wenn er gelegentlich in schlechter Stimmung oder sogar etwas depressiv war, besiegten seine Vitalität und sein echtes Verlangen, feindliche Haltungen gegen andere zu überwinden, schon bald seine problematischen Anlagen. Dann erzählte und hörte er Witze und lachte aus tiefstem Herzen über sie. Er war nicht nur Wiener im Temperament, sondern er konnte – und tat es auch – das Idiom der Menschen sprechen, vielleicht sogar besser als der Lastwagenfahrer oder der Postmann. Das ist sicher der Grund dafür, dass die einfachen Leute ihn so mochten, als er am Institut für Erwachsenenbildung lehrte. Als er später in New York City lehrte, war sein Englisch, wie mir mitgeteilt wurde, noch mit dem Wiener Dialekt durchsetzt. Ich hörte ihn einmal Englisch sprechen und kann mich dafür verbürgen.37 Nichtsdestotrotz haben ihn seine amerikanischen Studenten gut verstanden. Sein Verständnis der menschlichen Natur war stärker als seine sprachlichen Hemmnisse.

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Adler liebte lange Spaziergänge, Schwimmen und das Singen von Opernarien für seine Freunde. Und er hatte eine gute Stimme. Wie alle echten Wiener besuchte er oft die Cafés. Viele Ideen der Individualpsychologie wurden in Adlers Café Siller zum ersten Mal untersucht. Als Caféhausbesitzer war sein Inhaber mindestens genauso berühmt wie Adler als Psychologe, und oft spielten die beiden abends miteinander Schach. Adler spielte sehr gerne Schach. Keiner, der ihn so sah und 37 In einem Viereinhalb-Minuten-Video erläutert Adler auf Englisch seine Theorie: https://www. youtube.com/watch?v=PUnSXbb5eQ8.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

nicht wusste, wer er war, hätte geglaubt, dass er der Mann war, dessen Arbeit in der Wissenschaft Geschichte machen würde.

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Adler pflegte immer wieder auf eine kleine Geschichte von den zwei Fröschen hinzuweisen, einer Geschichte von Äsop, dem frühen griechischen Fabeldichter. »Zwei Frösche sprangen auf den Rand eines vollen Milchtopfes. Plötzlich fielen beide in die Milch. Der eine schrie: ›Das ist mein Tod!‹, und bereitete sich quakend aufs Ertrinken vor. Der andere gab nicht auf. Er strampelte, bis er wieder festen Boden unter seinen Füßen spürte. Was war geschehen? Die Milch wurde zu Butter geschlagen.« So unglaublich es klingen mag, während meines Aufenthaltes im Kon­zen­ tra­tionslager Dachau war es mir möglich, viele Menschen aus ihrer Apathie zu rütteln, indem ich ihnen diese kleine Geschichte erzählte.

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Adler sah ich 1935 das letzte Mal, als er gerade aus den Vereinigten Staaten zurückkam. Es war einer jener wundervollen Frühsommertage in Wien, die keiner, der sie je erlebt hat, vergessen kann. Die Fenster standen weit offen und die warme, sanfte Luft drang in die Räume. Adler sprach über die Amerikaner. »Sie lernen leicht«, sagte er, »und sie sind sicher die kommenden Leute. Wir werden mit ihnen arbeiten müssen.« Wir sprachen über Europa. Hitler war schon »der Führer« in Deutschland. Adler sah für Europa keine hoffnungsvolle Zukunft. Er unterbrach mich, als das Thema ihn störte, und zeigte mir ein Kapitel von Montaigne, den er sehr schätzte. Letztlich sprach ich über den wachsenden Erfolg der Individualpsychologie der letzten Jahre. Er lächelte, aber, so scheint es mir im Nachhinein, ein wenig traurig, als ob er hätte sagen wollen: »Man braucht immer sein ganzes Leben, um sein wirkliches Ziel zu erreichen.« Er ging zum Fenster und schaute hinaus auf die Straße. Sich umdrehend, sagte er zu mir: »Ich habe Ihnen einmal erzählt, warum ich Arzt geworden bin. Ich wollte den Tod töten.« Dann nach einer kurzen Pause, fügte er hinzu: »Sie sehen, ohne Erfolg. Aber auf meinem Weg fand ich etwas – die Individualpsychologie. Und ich glaube, dass sie die Sache wert ist.« Wenn wir heute zurückschauen, wissen wir, dass Adler recht hatte: Sie ist es wert.

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Der alte Arzt Dr. Mandl machte mich mit Adler bekannt. Adler empfing mich und ließ mich frei reden. Hinterher fragte mich der alte Doktor: »Wie ging’s? Werden Sie Dr. Adler wiedersehen?« »Nein«, erwiderte ich mit der falschen Selbstsicherheit und Arroganz meiner 18 Jahre. »Warum nicht?« »Wissen Sie, Freunde und Öffentlichkeit

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was er zu mir sagte? Ich hätte einen Mangel an Mut! Ich weiß wirklich nicht, ob dieser Dr. Adler intelligent genug ist, um mich zu verstehen!« Dieser erste Eindruck veränderte sich schnell. In einem Brief an einen Freund schrieb ich: »Dieser Mann ist herausragend. Wenn er dich nur ansieht, weiß er die Dinge. Ich bin überzeugt, dass er ein ebenso großer Erzieher sein wird wie Comenius und Pestalozzi. Ich habe einen wirklich großen Menschen kennengelernt.«

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Nahum E. Shoobs, M. A., Brooklyn, New York, Erzieher und Psychotherapeut, Alfred Adler Institute, New York38 Bei Gelegenheit hatten wir neben Dr. Adler auch einen bekannten Freudianer zum Essen eingeladen. Der Freudianer versuchte, Dr. Adler »umzudrehen«, der dazu sagte: »Ach, das erinnert mich an eine Geschichte: Einer von Freuds Studenten und einer von mir gingen an einem offenen und zugänglichen Garten vorbei. Darin standen zwei Verschläge. In einem lag eine Hündin mit ihrem Welpen. Im anderen war nur ein Hund: der Papa-Rüde. Der Freudianer kommentierte: ›Das Welpenkind hat eine Mutterfixierung.‹ Der Adlerianer sagte: ›Schau, der Verschlag, in dem die Mutter liegt, ist fast zweimal so groß wie der, in dem der Vater liegt. Lass uns die Tiere aus den Hütten nehmen und tauschen und sehen, was passiert.‹ Sie machten es so und legten den Papa in die größere Hütte und setzten ihren Spaziergang fort. Als sie auf ihrem Rückweg am Garten vorbeikamen, in welchem sie die Hunde gesehen hatten, gab es eine Veränderung – das Welpenkind lag beim Papa-Hund im größeren Verschlag. Der Adlerianer sagte: ›Sieh nur, der Welpe liegt beim Papa in der großen Box und fühlt sich wohl.‹ ›Aber nein‹, sagte der Freudianer, ›er ist homosexuell geworden.‹«

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Martha Brandt-Erichsen, Künstlerin, Tochter von Charles Davis, dem Freund und wichtigen Förderer von Alfred Adler in Amerika Dr. Adler hatte immer ein Glitzern in seinen Augen. Ich erinnere den Tag, an dem wir zu Mittag aßen (denken Sie daran, dass ich sehr jung war). Ich fragte ihn, was er vom Buch des Richters Lindsay »Kameradschaftsehe« hielt. In seiner üblichen offenen Art der Vereinfachung sagte er nur: »Kameradschaftsehe ist 38 Mr. Shobbs’ Beitrag ist einem Interview und aus »Individual Psychologist«, 1967, 4 (2), entnommen.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

keine Ehe.« Das Buch spaltete die Geister der damaligen Zeit und ich hatte wohl auf eine heftige Kontroverse gehofft.

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Priscilla Metteson, Tochter von Charles Davis, dem Freund und wichtigen Förderer Alfred Adlers in Amerika Ich erinnere mich an diese Begebenheit, hauptsächlich weil ich mir dachte: »Es muss wunderbar sein, so wie Adler zu sein. Du musst nie darüber nachdenken, ob du intelligent bist oder nicht.« Der Vorfall öffnete mir die Augen über die Tatsache, dass jeder, egal wer er auch sei, seine Intelligenz infrage stellt und von Zeit zu Zeit eine Bestätigung braucht. Eines Tages kam Adler zum Abendessen zu uns. Er klingelte, wir öffneten. Er trat ohne weiteren Gruß ein, stand da und sagte mit dem strahlendsten Lächeln in seiner langsamen Art: »Ich habe einen neuen (lang gezogen und angenehm akzentuiert) Anhänger. Ratet mal, wen.« Natürlich konnte es keiner erraten. Und er sagte, sehr langsam und die ganze Zeit über strahlend: »Albert Einstein.« Er hatte einen Brief von Einstein erhalten, der einen oder mehrere Vorträge von ihm gehört hatte, in dem er (Einstein) bestätigte, dass Adlers Individualpsychologie am wissenschaftlichsten sei und heutzutage der Wahrheit am nächsten komme.

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Ich erinnere einen drolligen Vorfall, der sich eines Abends im Hause meiner Schwester und meines Schwagers abspielte. Es war das erste Mal, dass Adler dort mit uns aß. Er hatte eine seltsame Art, sich von einem geselligen Abend zu verabschieden. Ohne weitere Einleitung stand er auf und sagte: »Also, gute Nacht!«, griff nach seinem Hut und ging rasch aus der Tür. So machte er es auch an jenem Abend. Aber er öffnete die Tür zur Toilette, ging rasch hinein und warf die Tür hinter sich zu. Trotzdem hatten wir alle unseren Spaß.

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Ein anderes Ereignis, an das ich mich erinnere, fand statt, als der Cousin meines Vaters, Herbert, ebenfalls eingeladen war. Ich weiß nicht genau, wie es geschah, da ich nie erlebt habe, dass Adler eine persönliche Bemerkung über jemanden in der Öffentlichkeit gemacht hat. Wenn er danach gefragt wurde, pflegte er zu sagen: »Ich weiß es nicht.« Jedenfalls machte er eine Bemerkung zu Cousin Herbert: »Sie mögen, dass die Leute zu Ihnen aufsehen.« Cousin Herbert verneinte es und wir konnten uns auch keinen Reim darauf machen. Einige Monate später war Cousin Herbert bei uns zum Abendessen und Freunde und Öffentlichkeit

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mein Vater frage ihn: »Herbert, wie kamst du darauf, den juristischen Beruf zu ergreifen?« Cousin Herbert antwortete: »Tja, als ich aus der Schule kam, schaute ich mir alle Berufe an und entschied, dass Rechtsanwälte diejenigen sind, zu denen am meisten aufgeschaut wird.« In der Minute, in der er es sagte, hielt er inne und brach in Gelächter aus. (Ich weiß noch, dass Adler einmal gesagt hat: »Du kannst feststellen, ob jemand, dem du etwas gesagt hast, das wirklich verstanden hat. Er wird immer lachen.«)

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Anthony M. Bruck, Psychologe, hat in mehreren Ländern Europas, in Südamerika und Nordamerika gelehrt. Irgendwann um 1927 erschien eine Kolumne in einer New Yorker Tageszeitung, in der man Adlers Lehre gut verständlich nachlesen konnte, ohne dass sein Namen genannt wurde. Ganz aufgeregt erzählte ich Adler davon, aber er nahm es sehr ruhig auf und sagte auf Deutsch: »Er hat mich halt vorausgeahnt.« Er war genau so ruhig darüber, wie ich ihn aufgeregt verteidigt habe.

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Adler sah zur Entspannung gern Filme. Nach der Arbeit pflegte er ins Kino zu gehen, egal in welcher Stadt er war, um sich körperlich und geistig auszuruhen. Egal welcher Film, egal wie unbekannt er sein mochte, er tat’s. Ich erinnere einen Nachmittag um 1929 in New York, als Nelly, seine Tochter, und ich ein Kino am Broadway besuchten. Adler sagte, dass er später nachkommen werde. Es gab aber zwei verschiedene Eingänge mit zwei verschiedenen Kinos und einem gemeinsamen Foyer, und Adler ging in den falschen Film. Wir waren nach dem Kino im Foyer verabredet und warteten dort ganz schön lange auf Adler, bis wir sahen, wie er aus dem anderen Vorstellungsraum herauskam. Er war sehr enttäuscht, dass er einen »Frankenstein«-Film ansehen musste, der ihn nicht entspannt hatte. Andererseits beschwerten Nelly und ich uns über die Dummheit des Films, den wir gesehen hatten. Er sagte: »Aber Kinder, ihr sagt, sie haben sich gekriegt!«, und sah das Happy End als Hauptsache an.

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Bei Gelegenheit erzählte uns Adler von einer Erfahrung, die er in Boston gemacht hatte. Er war zu einem Vortrag vor den »Daughters of the American Revolution« in einem eleganten Hotel eingeladen worden und saß mit ihnen im Foyer im Kreis. Nach einer Weile sagten sie ihm: »Dr. Adler, unsere Vorfahren kamen mit der Mayflower herüber.« Adler antwortete darauf nicht, weil er es nicht für 52

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

wichtig hielt, mit welchem Schiff die Leute gekommen waren, und weil er die Bedeutung des Wortes Vorfahre nicht verstand – er hielt es für ein anderes Wort für Verwandte. Nach einer Weile, als die Damen auf der Wichtigkeit insistierten, antwortete er: »Ja, ja, ich bin mit der Majestic gekommen.« Für ihn war Mayflower nur ein anderer Schiffsname.39

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Margaret Johnstone Barlow, Master of Fine Arts, Künstlerin, Designerin/ Kunsthandwerkerin, Carlsbad, Kalifornien. Als Folge des nachfolgend be­schrie­ benen Zufallstreffens besuchte sie Adlers Sechs-Wochen-Seminar »University of the World« in Wien. Es muss ungefähr zwischen Herbst 1929 und Frühling 1930 gewesen sein, als Dr. Adler am Mills College in Oakland, Kalifornien, lehrte. Es wurde ein Dinner zu Ehren Dr. Adlers in Ethel Moore Hall geplant, dem Studentenheim der höheren Semester in Mills. Am Nachmittag des Vortages vor dem Dinner erhielt die Telefonzentrale einen Anruf von Dr. Adler, der fragte, ob ihn jemand abholen könne. Er war unerwartet einen Tag früher angekommen. Nach einer eiligen Besprechung riet ihm das Fräulein vom Amt, am Bahnhof zu warten und dass jemand käme, ihn abzuholen. Auf dem Campus gab es ein großes Durcheinander. Das Dinner musste neu geplant und Gäste mussten informiert werden – und wer hatte ein Auto und Zeit, ihn abzuholen? Ich nehme an, dass die Fakultät sehr alarmiert war, aber nicht schnell reagieren konnte. Nur wenige Studenten hatten ihr Auto auf dem Campus und ich selbst saß in meinem Büro und arbeitete für eine Prüfung. Ich muss gestehen, dass meine erste Frage war: »Dr. wer?« Ich wurde schnell informiert und war beeindruckt und wurde auch darüber instruiert, ihn so lange wie möglich vom Campus fernzuhalten, damit sie so viel wie möglich an Umorganisation schaffen konnten. Ich weiß nicht, warum, aber ich erwartete, dass jemand, der so bedeutend war, sehr verärgert über die Unannehmlichkeiten und den Mangel an Aufmerksamkeit sein müsste. Ich war nicht auf den lächelnden, charmanten und völlig gefassten kleinen Mann vorbereitet, der am Bahnhof wartete. Zudem fuhr ich einen schäbigen Buick-Sportwagen mit offenem Dach. Das Dach war offen, weil es zerfetzt war. Außerdem war der Tag ziemlich diesig, aber Dr. Adler wischte meine Entschuldigungen beiseite.

39 Diese Anekdote wird auch von Hoffman aufgegriffen; Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 221. Freunde und Öffentlichkeit

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Nun machte ich mich an den zweiten Teil meiner Anweisungen, nämlich ihn so lange wie möglich aufzuhalten. Ich fuhr ihn zur Universität von Kalifornien, machte eine Runde um den Campus und fuhr dann wieder in die Hügel am Horizont und rechnete mit seinem schlechten Orientierungssinn. In bemerkenswert kurzer Zeit wandte er sich mir zu und fragte: »Warum fahren wir im Kreis?« Ich verwarf alle sorgfältig geplanten Ausreden und plapperte los: »Sie haben Sie morgen erwartet und alle VIPs, die Sie treffen wollten, ändern schnell ihre Pläne. Ich wurde beauftragt, Sie so lange wie möglich fernzuhalten, darum genießen Sie bitte die Aussicht.« Dann fügte ich noch hinzu: »Ich hatte vier Jahre lang Stubenkameraden von der psychologischen Fachrichtung, die ihren Spaß daran hatten, mir zu erklären, dass die Kunst- und Sporterzieher die Trottel des College und in der psychologischen Fachrichtung die hellen Köpfe sind. Sie werden vor Neid vergehen, wenn sie herausfinden, dass eine bloße Kunsterzieherin das Privileg hatte, eine ganze Stunde mit Ihnen zu verbringen! So habe ich letztlich meine Rache!« Wir haben schallend gelacht, und während wir fuhren, erzählte er mir von seinen Plänen der »Weltuniversität«, ein Seminar, dass er im Sommer in Wien halten würde. Er plante ein weiteres Seminar, zu dem er mich einlud. Mit großem Glück gelang es mir, die Sommerveranstaltung zu besuchen, und ich werde nie die Sitzungen in seinem Büro vergessen. Wir saßen dicht zusammengedrängt auf der Couch, lehnten uns gegen die Wand und lauschten hingerissen seinen Worten. Ich kann noch immer hören, wie er erklärte, dass die Missgeschicke als Herausforderung anzusehen und dass die ersten Lebensjahre von größter Bedeutung seien und so weiter. Beim Dinner an diesem Abend wurde ich eingeladen, mit am Kopf des Tisches zu sitzen – eine überraschende Ehre. Als wir den Speisesaal betraten, lächelte er mir mit einem boshaften und gleichzeitig amüsierten Lächeln zu.

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Evelyn Feldmann, arbeitete als Adlers letzte Sekretärin auf Praktikumsbasis.40 Nachdem Adler verstorben war, kamen seine Frau und seine Tochter von Paris an, wo sie sich gerade aufgehalten hatten. Ich fragte, ob ich Adlers Brille haben dürfte, und Raissa fragte, warum. Ich sagte ihr: »Weil ich auf das Leben wie Adler schauen möchte.«

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40 Zu Evelyn Roth Feldmann siehe Kapitel »Dreißig Tage mit Alfred Adler« in diesem Buch.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Phyllis Bottome41 »Wie kommt Ihre Arbeit voran?«, fragte ein Freund. »Großartig!«, antwortete Adler. »Wie Sie sehen, habe ich ganz fabelhafte Freunde.«

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»Sollen wir Sie verabschieden?«, fragte ihn ein Freund, als er Wien das letzte Mal verließ. »Wie Sie wollen«, antwortete Adler. »Aber wir wollen wirklich wissen, ob Sie gerne verabschiedet werden!«, antwortete sein Freund. »In dem Fall«, sagte er mit seinem üblichen tiefgründigen Augenzwinkern, »will ich es Ihnen sagen. Ich freue mich immer, Sie zu sehen – aber wenn Sie mich für lange Zeit verabschieden kommen, muss ich greinen!«

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Lewis Way, London, England, Freund von Adler; Autor von »Adlers Platz in der Psychologie: eine Darstellung der Individualpsychologie« Das Wien der Dreißigerjahre war noch die Stadt der geruhsamen Zeit. Die Bewohner pflegten ihr Frühstück in dem einen oder anderen ihrer bequemen Plüschcafés einzunehmen. Man nahm sich die »Wiener Zeitung« oder die »Neue Freie Presse« vom Haken des Zeitungsständers und las sie über einer Tasse Kaffee mit Schlag oder bei türkischen halbmondförmigen Brötchen durch. Das war auch die Zeit, in der man seine Freunde traf. In einem solchen Café saß ich mit Cpt. Ernan Forbes-Dennis42 und seiner Frau Phyllis Bottome im Sommer 1935, als eine kurze, untersetzte Person mit grauen Stroh-Homburg sich ihren Weg durch die Schwingtür bahnte und auf unseren Marmortisch zukam. Ich erinnere mich nicht an den Verlauf des Gespräches, hatte aber an einem Punkt die Kühnheit, mit einer Bemerkung über Freud dazwischenzufahren. Adler richtete seine großen Augen, die von seinem Zwicker noch vergrößert wurden, voll auf mich und sagte: »Sie müssen ein verwöhntes Kind sein. Alle Freudianer sind verwöhnte Kinder.« Diese Bemerkung ist heute allen Adlerianern bekannt, aber vor vierzig Jahren war sie einem dummen und eingebildeten Jungen neu und, da sie von Adler selbst mit der vollen Kraft seiner Persönlichkeit kam, war sie unerwartet und zerschmetternd. Ich fühlte, dass sie eine wichtige Wahrheit enthielt, ohne zu 41 Aus: Bottome, Phyllis (1945): From the Life. London (Faber & Faber) [Sechs Studien über Alfred Adler, Max Beerbohm, Ivor Novello, Sara Delano Roosevelt, Ezra Pound und Margaret MacDonald Bottome]. 42 Nicht zu verwechseln mit Nigel Forbes-Dennis, dem Neffen von Ernan. Freunde und Öffentlichkeit

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wissen, was diese Wahrheit bedeutete, aber sie gewann mich sofort für diesen beeindruckenden Mann. Wir sahen Adler oft in diesem Sommer – fast jeden Tag – und entweder besuchten wir seine Vorträge, die er seinen Schülern in einem oberen Zimmer des Cafés Siller neben dem Donaukanal hielt, oder im Regina-Hotel, in dem er und Raissa logierten, oder noch vertrauter am Abend unter den Rebstöcken von Grinzing, wo er gerne mit seinen Freunden bei einem Glas Heuriger entspannte. Er sprach nie viel an solchen Abenden. Er hatte den ganzen Tag gesprochen und gelehrt und wollte sich ausruhen. Wien, bei all seinem Charme, hatte 1935 einen Hauch von müder Traurigkeit. Jeder mit etwas Gespür für Politik wusste, dass die Nazis bald kommen würden. Viele Juden waren bereits im Begriff, ihre Emigration vorzubereiten. Adler selbst verkaufte sein Haus in Salmannsdorf, das er so liebte, in dem er aber aufgrund seines betriebsamen Lebens selten Gelegenheit hatte, zu wohnen. Vor seinem letzten Besuch in diesem Haus bestand er darauf, Ernan, Phyllis und mich in ein Taxi zu verfrachten, um es mit uns noch einmal zu sehen. Ich erinnere mich, dass er mir den ganzen Garten zeigte mit dem schönen Blick auf die Stadt, die viele Meilen tiefer lag, und mich fast ängstlich fragte, wie es mir gefiel. Ich wunderte mich, dass die Meinung eines so jungen Mannes ihm etwas bedeuten konnte. Aber nach der ersten, Respekt einflößenden Frühstücksbegegnung wurde er eine liebevolle, fast großväterliche Gestalt und behandelte mich gleichberechtigt. Mehr von Adler bekam ich mit bei seinen beiden Besuchen später in England, als ich Ernan Forbes-Dennis half, das Programm seiner Vortragsreihen zu organisieren. Auch hier hatte ich zur Frühstückszeit die Gelegenheit, mit ihm vertrauter zu sprechen, wenn ich ihn in seinem Hotel besuchte, während er gedankenvoll sein Ei köpfte und seinen Toast mampfte. Ich habe mich oft gefragt, ob Adler, der intellektuell so demütig war, gegen Ende seines Lebens viel über das Thema der menschlichen Eitelkeit nachgedacht hat. Das bildete tatsächlich den Inhalt dessen, was wohl das letzte seiner berühmten Statements gewesen sein musste, wie mir nach seinem Tod Professor Rex Knight berichtete. Es war Professor Knights Aufgabe, Adler in Aberdeen im Namen der Universität willkommen zu heißen. Sie saßen zusammen auf einem Sofa im Foyer von Adlers Hotel, als ein gut aussehender, junger Mann prahlerisch auf sie zukam und sagte: »Ich habe gehört, dass die beiden Herren Psychologen sind. Ich wette, es gibt nichts, das Sie über mich sagen könnten.« Prof. Knight schaute Adler auffordernd an, zu antworten, und Adler hob seine großen Augen und sagte in seiner bedachten Art: »Doch, ich glaube, es gibt etwas, dass ich Ihnen über Sie selbst sagen kann. Sie sind sehr eitel.« 56

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

»Eitel!«, plapperte der junge Mann. »Warum denken Sie, ich sei eitel?« »Ist es nicht eitel«, sagte Adler einfach, »wenn man zwei unbekannte Herren, die auf dem Sofa sitzen, fragt, was sie über Sie denken?« »Ich bin immer darauf bedacht, meine Psychologie einfach zu halten«, sagte Adler zu Knight, nachdem der junge Mann sich verwirrt zurückgezogen hatte. »Ich sollte vielleicht sagen, dass jede Neurose eitel ist, aber das könnte zu einfach sein, um verstanden zu werden.«

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Freunde und Öffentlichkeit

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Arbeit

Kurt Adler Ein fünfzigjähriger Patient, der schon einige Jahre lang einen anderen Psychiater konsultiert hatte, suchte meinen Vater für eine Psychotherapie auf. Der Patient begann das Gespräch mit der Feststellung, dass er einen Ödipuskomplex habe. Mein Vater sagte ihm: »Aber ich bitte Sie, was wollen Sie von dieser alten Dame?«

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Heutzutage mögen es alte, vielleicht sogar abgedroschene Aphorismen sein, aber mein Vater pflegte bei Gelegenheit zu sagen: »Es ist leichter, für seinen Glauben zu sterben, als nach ihm zu leben.« Oder, wenn jemand unnötige Risiken für wirklich unbedeutende Belange auf sich nahm (selbst aber damit angab, dass er eine Heldentat vollbracht habe), pflegte mein Vater zu sagen: »Uns ist von all den Helden übel; wir haben zu viele davon.«

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[Die Freude und die Enttäuschungen im pädagogischen Bereich werden in dieser Geschichte dargestellt, die Dr. Adler sehr gefiel.] Als in Österreich zum ersten Mal Schultests aufkamen, ordnete dies der Rektor seinem Lehrer an. Am nächsten Tag kam der Lehrer in die Klasse und sagte seinen Schülern, dass er sie jetzt teste. »Ich gebe euch zwei Fragen. Wer immer die erste Frage beantworten kann, braucht die zweite nicht zu beantworten. Die erste Frage ist: Wie viele Haare hat der Schwanz eines Pferdes?« Es war kein Laut in der Klasse zu hören. Keiner wusste die Antwort, bis ein Junge seinen Finger hob und sagte: »5.365.« »Woher weißt du das?«, fragte der Lehrer. »Das ist bereits die zweite Frage«, antwortete der Junge. Der Lehrer lachte, und nach dem Unterricht erzählte er die Geschichte dem Rektor, der auch herzlich lachte. Am Abend erhielt der Lehrer vom Rektor einen Anruf und sagte: »Mein Lieber,

ich habe gerade einen Freund zu Besuch und erzähle ihm die Geschichte mit der Antwort, die der Junge dir heute beim Test gegeben hat. Aber ich kann mich nicht erinnern – wie viele Haare, sagte der Junge, hat der Pferdeschwanz?«

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Die folgende Geschichte zeigt das andersartige Verständnis der Adlerianer von Schuldgefühlen, von denen ein Teenager meinem Vater berichtete, weil er masturbierte. Vermutlich hat mein Vater ihm Folgendes gesagt: »Du willst wohl sagen, dass du masturbierst und gleichzeitig Schuldgefühle hast? Das ist zu viel; entweder masturbieren oder sich schuldig fühlen. Aber beides ist zu viel.43

Alexandra Adler

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Er war sehr aufgebracht, als bei einer Beratung ein Arzt den Fall eines schizophrenen Mädchens beschrieb und wie er den Eltern sagte, dass das ein hoffnungsloser Fall sei. Er sagte den Ärzten: »Hören Sie mal, wie können wir solche Sachen sagen? Wie können wir tatsächlich wissen, was geschehen wird?«44

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Ich hätte liebend gerne erlebt, was mein Vater zu der Wirkung der Pharmaka auf Psychosen gesagt hätte. Ich bin sicher, dass er sie gut gefunden hätte. Er war immer offen für jeden Fortschritt.

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Erwin Krausz, Dr. med., Dr. phil., Psychotherapeut in privater Praxis, Chicago, Illinois Anfang des Jahres 1912, ich war 24 Jahre alt, traf ich Adler zum ersten Mal. Ich fühlte mich stark hingezogen zu und fasziniert von ihm, im Gegensatz zu Freud, den ich vorher kennengelernt hatte. Ich arbeitete mit Adler in seiner ersten eigenen Gruppe. Als mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs Adler Wien wegen seines Militärdienstes verlassen musste, hatte ich den großen Vorzug, dass er mir einige seiner Patienten anvertraute. Sein Vertrauen in mich ehrte mich und gab mir gewaltige Ermutigung, so wie anderen auch. Ich war damals in der Lage, anzuwenden, was 43 Diese Anekdote findet sich auch in Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler, S. 329. 44 Diese Anekdote wird auch bei Hoffman (1997, S. 329) erwähnt. Arbeit

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Adler mich gelehrt hatte, und sein Geist vereinnahmte mich total. Er hatte ein wunderbares Fingerspitzengefühl für seine Patienten und einen ungewöhnlichen Humor sowie Vorstellungskraft. Zu jener Zeit erkannte ich auch die Bedeutung seiner eigenen besonderen Trauminterpretation für die Therapie. Auch möchte ich mit einer besonderen Hommage Frau Raissa Adler ehren, die von Anfang an an den Gruppensitzungen ihres Ehemannes teilgenommen hat.

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Paul Brodsky, Dr. phil., Psychotherapeut in privater Praxis, Ausbilder, Universität von Kalifornien Es war Anfang der 1920er, als ich mich zu einer Karriere als Klavierbegleiter entschloss. Nachdem ich diese Möglichkeit mit einigen der führenden professionellen Klavierbegleiter besprochen hatte, legte ich die Prüfung an der Akademie für Musik und Kunst ab, fiel aber bei Musiktheorie durch. Niedergeschlagen sah ich alle meine Felle die Donau hinabschwimmen. Zu der Zeit entschied ich mich, mit Adler zu sprechen, den ich im Café Siller und bei Vorträgen kennengelernt hatte. Nachdem wir Platz genommen hatten, schaute er mich eine Weile mit aufgestützter Wange an, mit genau der gleichen Pose, in der ihn sein Freund, der Maler Kokoschka, gemalt hat. Er fragte mich, was meine Sorge sei, und ich erzählte ihm davon. »Sie sind also durchgefallen«, fing er an, »warum versuchen Sie es nicht ein zweites Mal?« »Es ist zu spät«, antwortete ich, »und ich habe nicht die Mittel. Mein Vater ist schon ganz sauer auf mich, weil ich nicht irgendeine Bauarbeit mache.« (Es war die Zeit des finanziellen Desasters und der Katastrophe der Inflation.) »Gut, warum wollen Sie Klavierbegleiter werden? Warum nicht Klavierlehrer? Jemand muss ja auch die Begleiter unterrichten«, stellte Adler fest. Und dann fügte er eine seiner intuitiven Überlegungen hinzu: »Wissen Sie«, sagte er, »wie sich alle die Berufskünstler fühlen, wenn sie vor ungebildetem Publikum spielen müssen? Sie brauchen Leute wie Sie, die die Musik lieben und verstehen und ihre Kunstfertigkeit würdigen.« Er wartete, dass sich diese Gedanken ein wenig in mir setzten, und fügte hinzu: »Machen Sie nur weiter mit dem Klavierspiel zu ihrer eigenen Freude und Zufriedenheit und vergessen Sie nicht, dass Sie damit anderen einen großen Dienst erweisen.« Ich ging nach Hause und erzählte meinem Vater von dem Gespräch mit Adler, den er von seinen Universitätstagen her kannte. Mein Vater grummelte: »Der hat es leicht, dir solche Vorschläge zu machen, er hat eine gut gehende Praxis.« Aber ich gab weiter Klavierstunden und verpflichtete mit dem verdienten 60

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Geld einen berühmten Klavierlehrer. Ich wurde zwar kein Klavierbegleiter, aber seitdem spielte ich ununterbrochen Klavier, und dreißig Jahre später begann ich, zu komponieren.

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Lydia Sicher, Dr. phil., Dr. med., Präsidentin der Gesellschaft für Individualpsychologie, Los Angeles Meine erste Begegnung mit Adler: Ich traf ihn, weil ich Ärztin war und er der Arzt eines Verwandten. Es war an einem Samstagmorgen. Nachdem wir über seinen Patienten gesprochen hatten, verließ ich ihn und zog los, ein Buch von ihm zu kaufen: »Der nervöse Charakter«. Dann ging ich nach Hause. Der darauf folgende Montag war ein Feiertag und ich war ganz allein in Wien. Es war tierisch heiß und ich sehr froh, allein zu sein. Ich las sein Buch von Anfang bis Ende sicher drei Mal. Am Dienstag stand ich von meinem Stuhl auf und die Welt hatte sich verändert. Ich möchte sagen, was ich Adler verdanke – er enthüllte mir, dass die Welt unglaublich einfach war. Ich sage oft, die Welt ist so schrecklich einfach trotz all ihrer Komplexität. Das Leben ist sehr, sehr einfach, und wenn wir aufhören würden, unsere eigenen neurotischen Komplikationen in sie hineinzutragen, könnten wir das Paradies auf Erden haben!

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Robert Plank, Dr. med., Psychiatrischer Sozialarbeiter, Cleveland, Ohio Zeitweise – in den frühen 1920ern – gab Alfred Adler einen Kurs im Leopoldstädter Volksheim in Wien, einer Abendschule. Die Leute, für die das Leopoldstädter Volksheim gedacht war, Arbeiter, die in ihrer Jugend das Lernen verweigert hatten, wurden fast ganz von den jungen intellektuellen Juden verdrängt, die mit dem offiziellen Lehrplan unzufrieden waren. Ich war einer von ihnen. Im Nachhinein scheint mir auf der Hand zu liegen, dass Adler dieses Forum wählte, weil er sich vernachlässigt fühlte, besonders von der Universität, und von denen, die man das Establishment nennt. Im Volksheim fand er eine aufnahmebereite Zuhörerschaft und ein empfängliches Publikum für seine Ideenwelt. Einige seiner Anhänger und Mitarbeiter besuchten seine Kurse und nahmen an den Diskussionen teil. Ich wusste zunächst nichts davon. Tatsächlich war mir der Name Adler unbekannt, als ich mich zu seinem Kurs anmeldete. Was mich anzog, war der Ausdruck »Individualpsychologie« im Kurstitel. Es klang nach etwas, das mir eine Antwort auf die Fragen geben könnte, die mich verwirrten und mich übermäßig strapazierten. Ich war 15. Arbeit

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Der Kurs war voll – vielleicht 100 Leute – und Adler meisterte ihn nachgiebig. Eines Tages bot sich das Thema »Psychologie der Revolutionäre« an. Adler bat jemanden, darüber zu berichten. Sein Aufruf wurde mit großem Schweigen beantwortet, aber ich wollte es nicht verloren geben und bot mich freiwillig an. Wenn Adler bestürzt war, gab er das nicht zu erkennen. Er dankte flüchtig für mein Angebot, ohne mit der Wimper zu zucken. Mich beeindruckte an dem Mann am meisten seine Gelassenheit. Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass ihn irgendetwas je aus der Ruhe gebracht hat. Er blickte jeden und jedes mit dem gleichen durchdringenden und freundlichen Blick an; er hörte zu, als ob er jedes Wort, das geäußert wurde, abwägte, und seine Antwort zeigte, dass er alles, was gesagt wurde, verstanden hatte und dann auch all das, was dahinterstand. Vielleicht aufgrund der Bedeutung des Themas fragte er nach einem zweiten Vortragenden, und ein anderer junger Mann, Manès Sperber, später ein bedeutender Autor, kam nach vorn. Ein Termin wurde mit uns wenige Wochen später vereinbart. Mehr sagte Adler nicht, soweit ich mich erinnere. Er fragte nicht, wie ich das Thema anpacke, erkundigte sich auch später nicht nach meinen Fortschritten. Dieses Vertrauen ehrte mich. Ich entwickelte einen Arbeitseifer, der meine gymnasialen Schularbeiten deutlich übertraf, bei denen ich mich (meist erfolgreich) darauf verließ, mich mühelos durchzubeißen. Als der verabredete Abend da war, sprach ich etwas weniger als zehn Minuten. Adler hörte wie verzaubert zu. Nachdem ich das Podium verlassen hatte, sprach er. Er pickte einige weniger bedeutende Punkte, die ich angesprochen hatte, heraus, paraphrasierte sie und bemerkte: »Wenn es so gesagt wird, begibt sich der Sprecher direkt auf den Boden der Individualpsychologie.« Niemand war überraschter als ich. In meinem Hochgefühl, wirklich geforscht und das der Welt präsentiert zu haben, die noch nichts wusste von meiner neu gefundenen Wahrheit, hatte ich ganz vergessen, dass erwartet wurde, in einem bestimmten Rahmen zu sprechen. Der Gedanke, dass es wichtig sein könnte, ob meine Theorien mit denen Adlers übereinstimmen, ist mir einfach nicht in den Kopf gekommen. Dass nun herauskam, dass sie es waren, war ein erstaunlicher Zufall, und plötzlich erwachte wieder in mir die ziemlich schmeichelnde Wahrnehmung dessen, wo ich mich befand. Irgendwie glaubte ich nun, dass ich ein Zeichen gesetzt hatte und dass ich berechtigt war, zum inneren Zirkel zu gehören. Ich nahm an seinen wöchentlichen Versammlungen teil. Ich war 16 geworden und protzte mit einem Oberlippenbart. Ich muss eine ziemlich komische Figur gemacht haben zwischen all den beleibten Herren. Ich habe mich nie gefragt, warum man mich nicht nach Hause ins Bett schickte. Wenn ich heute daran denke, muss es an Adlers außergewöhnlicher Nachsicht gelegen haben, seiner Überzeugung, dass, auch wenn 62

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Psychologen weise sein können, eine größere Weisheit in der Natur zu finden ist und dass dann viele Dinge gut laufen, wenn man sie in Ruhe lässt. Manchmal frage ich mich, was aus mir geworden wäre, wenn mir ein weniger bedeutender Mann gegenübergestanden und ich bekommen hätte, was ich verdiente.

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Sidonia Reiss, Psychotherapeutin, Alfred Adler Mental Hygiene Clinic, New York In den frühen 1920ern besuchte ich ein Seminar von Alfred Adler in Berlin. Ich war so begeistert, dass ich mich sofort der örtlichen Adlergesellschaft anschloss und von ihren Kursen profitierte. Mein Lehranalytiker war Dr. F. Künkel, einer der ersten Studenten Adlers in Deutschland. Nachdem ich nach 1933 nach Holland emigriert war, besuchte ich eine Seminarreihe, die Dr. Adler in Amsterdam abhielt. Damals hatte ich eine Patientin in psychotherapeutischer Behandlung, die schon mehrere erfolglose MorphinEntzugsbehandlungen durchlaufen hatte. Ich berichtete meiner Patientin, dass Adler in Amsterdam sei, und fragte sie, ob sie ihn nicht persönlich konsultieren wolle. Sie stimmte sehr gern zu. So bat ich Adler, erst mit mir zu sprechen, und berichtete ihm ihren Fall in einigen Einzelheiten, verbunden mit ihrem Wunsch, ihn selbst zu sehen. Seine Reaktion war: »Nein«, und er fügte hinzu: »Letztlich ist sie in sehr guten Händen.« Adlers große Freundlichkeit und Höflichkeit wurden mir während des Laufes dieser Vortragsreihe deutlich. Leute, oft Frauen, kamen, nachdem er bereits begonnen hatte zu sprechen. Er pflegte zu pausieren und mit einem Lächeln auf einen Stuhl hinzuweisen oder anzubieten und nahm den Vortrag wieder auf, nachdem der Zuspätkommende Platz genommen hatte.

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Rudolf Dreikurs, Professor an der Chicago Medical School; Direktor des Alfred Adler Institute, Chicago Ich möchte auf einige Dinge aufmerksam machen, mit denen mir Adler besonders imponiert hat. Erstens konnte er zwei Dinge, die, nach meiner Meinung, kein Adlerianer je so machen könnte wie er. Er konnte Fälle in ihrem ganzen Verlauf ohne Notizen darstellen. Zweitens konnte er ein Wort finden, das den ganzen Lebensstil darstellte, und den Patienten damit anreden: »Sie sind ein Prinz, eine Prinzessin; Sie sind entthront; Sie sind ein Bettler.« Er konnte wundervolle Geschichten erzählen, die unglücklicherweise nie gesammelt wurden. Eine seiner Feststellungen beeindruckte mich am meisten und diese wiederholte er meistens Arbeit

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vor seinen Studenten. Es war ein deutscher Ausdruck und bedeutete: »Lass deine Eitelkeit aus dem Spiel; tue dein Bestes und lass die Späne fallen, wie sie mögen.«

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Eine Erfahrung mit Alfred Adler ragt aus meiner Erinnerung heraus. Sie zeigt Adlers Einzigartigkeit, mit der er menschliche Probleme behandelte – eine Technik, die sich sehr von der unterschied, die man uns lehrte und die wir anwandten, bevor wir sie kannten. Ich bat Adler um Konsultation wegen eines älteren Patienten in einer Klinik nahe bei Wien. Der Patient litt unter depressiver Psychose, und ich wollte von Adler die Bestätigung dafür, bevor eine schwerwiegende Entscheidung getroffen wurde. Adler kam und begann seine psychiatrische Befragung. Alle Bewohner, Schwestern und Psychiater standen um ihn herum, als Adler sich dem alten Manne näherte und nach seinem Namen fragte, wie er sich fühle, ob er den Ort mochte, was er tun möchte. Der Patient antwortete sehr, sehr langsam, wie es für die Melancholie typisch ist. Dann geschah etwas Erstaunliches. Nachdem Adler die erste Frage gestellt hatte, wartete er nicht auf des Patienten langsam erfolgende Antwort, er stellte die zweite Frage. Wieder wartete Adler nicht auf die Antwort, sondern ging zur nächsten Frage über. Ich gebe zu, ich hatte meine Bedenken bezüglich meines Lehrers. Weiß dieser Mann nicht, dass depressive Menschen nicht schnell sprechen können? Was soll das für eine Befragung werden, wenn er sie nicht zu Ende bringt? Doch Adler fuhr mit seiner Befragung gelassen fort, ohne lange auf Antwort zu warten, und siehe da, der Patient wollte plötzlich etwas sagen und begann, schnell zu sprechen. Von da an hatte Adler eine normale Unterhaltung mit dem Patienten. Adler akzeptierte das Verdikt nicht, dass depressive Leute langsam sind.45

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Sadie Dreikurs, Frau von Rudolf Dreikurs, Kunsttherapeutin, Alfred Adler Institute, Chicago, Illinois Mein Mann erzählte einmal die Geschichte von einem Gespräch mit den Eltern eines neunjährigen Jungen. Der Vater: »Unser Junge ist ein wunderbarer Junge – er ist gehorsam, ordentlich und ein großartiger Schüler. Er hat viele Freunde und wird von der ganzen Familie und seinen Freunden geschätzt.« Adler: »Wo liegt das Problem?« Vater: »Er stiehlt.« Dann rief Adler den Jungen herein und es kam zu folgender Befragung. Adler: »Du stiehlst?« Junge: »Ja.« Adler: »Was 45 Diese Anekdote taucht noch einmal im Teil 2 dieses Buches unter »Rudolf Dreikurs« auf. Sie wird auch erwähnt in Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler, S. 329.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

stiehlst du?« Junge: »Geld.« Adler: »Was machst du mit dem Geld?« Junge: »Ich kaufe Schulhefte, Kreide, Bleistifte und solche Sachen.« Adler: »Aber ich dachte, dass deine Eltern diese Dinge für dich kaufen.« Junge: »Ja, das stimmt, aber ich möchte Dinge mit meinem eigenen Geld kaufen.«

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Olga Brody Oller, Dr. med., Psychiaterin, Alfred Adler Mental Hygiene Clinic, New York Nachdem ich 1922 die medizinische Fakultät in Wien abgeschlossen hatte, erfuhr ich, dass Adler Diskussionsrunden in seiner Wiener Praxis anbot. Eines Abends ging ich ohne Anmeldung hin. Ich war begeistert, dass dieser sehr bekannte Psychiater ein ungezwungenes, bescheidenes und warmherziges Wesen hatte, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Psychiatern, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Ich lauschte der laufenden Diskussion und fühlte mich äußerst belebt. Am Ende der Sitzung, es war etwa ein Uhr in der Nacht, stellte ich mich Dr. Adler vor. Seine Reaktion war freundlich, und er fragte, ob ich mich mit der Individualpsychologie anfreunden könne. Ich antwortete positiv. Dr. Adler fragte: »Werden Sie wiederkommen?« Und dann schaute er mich für ein paar Sekunden forschend an und fragte: »Wollen Sie mich morgen zu einer Erziehungsberatungsstelle begleiten?« Natürlich tat ich es gerne. In der Erziehungsberatungsstelle hatte ich Gelegenheit, Dr. Adlers Methode der Annäherung an die Probleme der Kinder und ihrer Eltern zu beobachten. Ich bewunderte seine schnelle Beurteilung und seine unglaublich optimistischen Lösungen ihrer Probleme. Er löste sie wunderbar. Nachdem wir die Beratungsstelle verlassen hatten, sprach Dr. Adler noch einige Minuten mit mir, ermutigte mich in jeder Weise und fragte: »Fühlen Sie sich der Leitung der Erziehungsberatungsstelle im 20. Distrikt gewachsen?« Ich war natürlich ein wenig überrascht, habe dann aber gerne zugesagt.

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In der »Alten Post« war ein großer Raum, angefüllt mit seinen Anhängern und anderen Teilnehmern. Wir hörten, wie Adler Fälle interpretierte, die ihm vorgelegt wurden. Adler forderte jeden von uns auf, unsere Ansichten zu dem Fall zu äußern. Ohne Voreingenommenheit reagierte er sofort mit treffender Unterstützung, wenn jemand seiner Meinung nicht sicher war. Anschließend folgten wir ihm in das Café Siller, wo wir die Diskussion über die Fälle fortsetzten. Erst jetzt kann ich wertschätzen, wie Adler die Zukunft beurteilte, in der wir uns jetzt befinden. Mehrfach ermahnte er uns: »Kinder, studiert die Individualpsychologie, denn in Arbeit

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fünfzig Jahren werden die meisten Ärzte, Lehrer, Erzieher oder jeder, der beruflich mit Menschen zu tun hat, nicht in der Lage sein, ohne Kenntnis der Psychologie des Common Sense, des gesunden Menschenverstandes, auszukommen.«

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Eleanor Redwin, Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin, Chicago, Illinois Eine Begegnung mit Alfred Adler werde ich nie vergessen. Ich war noch sehr jung, vielleicht ungefähr 21, und hörte Adler zum ersten Mal bei einem Fortbildungsseminar für eine Gruppe von sozialdemokratischen Sozialarbeitern. Adler kam mit einigen seiner Studenten, um uns zu unterrichten. Und ich war natürlich recht interessiert, denn damals war ich eine ziemliche Rebellin. Ich hatte noch nicht begriffen, wie wichtig die Adler’sche Psychologie für mich später werden sollte, und an dem Tag wollte ich mit einigen Freunden zum Schwimmen gehen. Auf dem Weg zum Schwimmbad begegnete mir Adler. Er fragte: »Wohin gehen Sie?« Ich sagte: »Zum Schwimmen. Ich schwimme so gerne.« Er sagte: »Das kann ich mir denken. Sie sind eine gute Schwimmerin, nicht wahr?« Und irgendwie hatte ich das Gefühl, er meinte mehr als Schwimmen. Und seitdem habe ich zu schwimmen gelernt und bin niemals untergegangen.

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Während meiner Ausbildung zur Sozialarbeiterin in Wien habe ich einen Artikel geschrieben, in dem ich meine Gedanken zur Sozialarbeit mit der Individualpsychologie verband. Ich schickte Adler ein Exemplar, und er antwortete sofort: »Ein sehr guter Anfang, meine Liebe, mache nur mutig weiter so!« Zwei Jahre später wurde ich eine Erziehungsberaterin der Individualpsychologie. Adlers Ermutigung hatte mir damals geholfen, als ich die Weiche für meinen Lebensweg stellte.

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Susanne Liebmann, Dr. phil., Wiltshire, England Bei dem internationalen Kongress in Berlin hörte ich Adlers Vorträge über den »Sinn des Lebens«. Später nahm ich auch an zwei Kursen in England teil; einer fand im Savoy Hotel statt und der andere im Haus von Frau Hertha Orgler, der Autorin des Buches »Alfred Adler, der Mann und sein Werk«.46 Der Höhepunkt der Berliner Vorträge war Adlers Besuch in einer Erziehungsberatungsstelle. 46 Die zweite Auflage dieses 1956 veröffentlichten Buches erschien 1974 unter dem Titel »Alfred Adler. Triumph über den Minderwertigkeitskomplex« im Kindler-Verlag, München. Hertha Orgler (1890–1979) emigrierte 1939 nach London und war verheiratet mit dem Kinderarzt Prof. Arnold Orgler.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Besonders erinnere ich mich an die Behandlung eines kleinen Jungen, der etwa acht Jahre alt war. Sobald der Therapeut dem Kind die Hand gegeben hatte, schienen die beiden wie von einem Zauberkreis umgeben; die Zuhörer existierten für sie nicht. Der Junge hatte gute Ergebnisse in Intelligenztests, war in der Schule aber immer der Schlechteste. Adler sagte ihm: »Findest du nicht auch, dass es eine gute Sache ist, dass du so dumm und faul bist? Wenn du hart arbeiten würdest, würdest du wahrscheinlich nur der Zweitbeste werden, aber nicht der Erste. Weil das so ist, kannst du ganz sicher sein: Der letzte Platz wird immer deiner sein.«

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Meine Freundin Professor Dr. Anitra Karsten hatte Verbindung zu einem Filmstudio und hatte die Idee, es sei wichtig, einen Film über die Individualpsychologie zu machen. Wir wendeten uns an Adler. Er nahm uns mit in ein Café im Westend, wo wir im Freien über diesen Plan sprechen konnten. Er war begeistert und schlug vor, das Manuskript selbst zu schreiben. Er schrieb mir dazu einige Briefe, die mir leider aus meinem Gepäck gestohlen wurden. Durch den Beginn der Naziherrschaft konnte dieses Projekt nicht mehr verwirklicht werden.

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Emil Fröschels, Dr. med., Ehrenvorsitzender der Internationalen Vereinigung für Logopädie und Phoniatrie47 Ich hatte das Vergnügen, ihn persönlich zu kennen, und war immer davon beeindruckt, dass er nicht nur die Bedeutung sozialen Verhaltens für die seelische Gesundheit hervorhob, sondern dass er selber das beste Beispiel für soziales Verhalten verkörperte. Ich werde nie vergessen, wie er auf eine kontroverse Kritik reagierte, die jemand während einer Diskussion vorbrachte, nachdem er vor der Wiener Gesellschaft für Sprach- und Stimmheilkunde einen Vortrag über die Individualpsychologie und Sprachprobleme gehalten hatte. Als Leiter der Veranstaltung bat ich Adler, auf den Einwand zu antworten, und er erwiderte: »Ist da niemand im Publikum, der für mich antworten kann?«

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47 Emil Fröschels (geb. 1894 in Wien, gest. 1972 in New York), österreichischer Facharzt für Sprach- und Stimmheilkunde. Arbeit

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Jaqueline Coster-Lucas Adler mochte es nicht, dass man für Beratungsdienste bezahlen musste. Als meine Kollegin Dr. Miller und ich neue Gruppen zusammenstellten und darüber diskutierten, wie viel die Teilnehmer bezahlen sollten, meinte Adler: »Die Leute kommen zu Ihnen und öffnen ihr Seelenleben, und Sie bestrafen sie dafür mit einer Gebühr von sechs Dollar.« Dies war seine Einstellung dem Geld gegenüber, und niemand, der Hilfe bei ihm suchte, wurde von ihm des Geldes wegen abgewiesen.

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In religiös geprägten Ländern wie Holland hörten die Leute oft lieber die Vorträge seines Schülers Fritz Künkel, weil dieser die Individualpsychologie mit dem christlichen Glauben verband. Mit der Einführung des Begriffs der »Gnade Gottes« wich er von Adlers Standpunkt ab, dass der Mensch selber die volle Verantwortung für sein Leben und die Welt hat. Ich berichtete Adler von der Reaktion des Publikums und fragte, ob es nicht besser wäre, er würde etwas von seinen eigenen religiösen Ansichten in seine Vorträge einbringen. Darüber war er erbost und antwortete ziemlich vehement: »Aber was wollen die Leute denn? Zeige ich nicht mit jedem Wort, das ich sage oder schreibe, dass ich ein Mann Gottes bin – was sage ich –, dass ich ein Diener des Herrn bin?«

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Als ich mit ihm über den Lebensstil sprach und über die Zeit, in der Lebensirrtümer aufgrund falscher Wahrnehmung entstehen, meinte ich, dass es dann möglich wäre, dass sich die Menschheit zum Guten verändern könne, wenn wir die irrtümlichen Wahrnehmungen verhindern, statt sie nur nachträglich zu korrigieren. Adler stimmte mir zu und meinte: »Aber ich fürchte, es wird nahezu unmöglich sein, einen Menschen in dieser Welt zu finden, der nicht von egoistischem Machtstreben infiziert ist.«

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Alfred Farau48 Wenn seine Schüler einen Fall diskutierten, hatte man manchmal den Eindruck, dass er überhaupt nicht zuhörte, als ob er mit anderen Dingen beschäftigt wäre. Aber plötzlich drehte er sich um, nahm seine Zigarre aus dem Mund und machte eine kurze Bemerkung. Und diese kurze Bemerkung traf genau den Kern des Problems, erklärte die Struktur einer menschlichen Seele. Immer wieder waren wir fasziniert von seiner psychologischen Hellsichtigkeit. Jedoch konnte er auch sehr vorsichtig und bescheiden sein! Er pflegte zu sagen: »Ja, so kann es sein. Das ist meine Meinung. Aber es kann auch alles ganz anders sein.« Ich selbst habe einmal Folgendes mit ihm erlebt: Als ich ihn besuchte, öffnete er die Tür, und ich sah, wie eine Frau aus seinem Zimmer kam und hinausging. Ich bekam nur einen kurzen Eindruck von ihr. Ich ging rasch in sein Behandlungszimmer, setzte mich und begann ohne Vorbemerkung damit, ihm in meinem jugendlichen Eifer alle meine intuitiven Eindrücke über die Patientin mitzuteilen. Adler saß ruhig in seinem Sessel, rauchte und sagte kein Wort, nachdem ich geendet hatte. »Aber Dr. Adler«, fragte ich tief verletzt durch sein Schweigen, »war es falsch, was ich gesagt habe?« – »Überhaupt nicht«, antwortete er. »Sie haben sehr gute Arbeit gemacht. Aber Sie sollten niemals einen Patienten in dieser Weise beurteilen. Man kann einen Menschen nicht in einer Minute verstehen – man kann sich schrecklich täuschen – man muss vorsichtig sein.«

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Adler betrachtete die Psychotherapie sowohl als eine Kunst als auch als Wissenschaft. Diese Kunst hat er meisterlich beherrscht. Einmal brachte er mich zu der Erkenntnis, dass ich in einem speziellen Gebiet der Psychologie dazulernen müsse. Über diese Kritik war ich nicht besonders erfreut und sagte ärgerlich: »Wenn ich heute damit anfange, brauche ich dafür drei Jahre.« – »Sie haben recht«, sagte Adler. »Warum warten Sie nicht bis morgen? Dann werden Sie drei Jahre und einen Tag brauchen.« Es folgte ein Moment des verstehenden Schweigens. Dann lächelten wir beide – und ich ging an die Arbeit.

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Adlers Optimismus gründete auf seinem Vertrauen in das Leben als Ganzes. Nichts wäre ihm absurder erschienen als die Vorstellung der »Absurdität des 48 Geburtsname Fred Hernfeld; Namensänderung nach Ankunft in New York; geb. in Wien, gest. 1972 in New York; Psychotherapeut, Schriftsteller; Lehrtätigkeit in New York (vgl. C. Kenner: Der zerrissene Himmel – Emigration und Exil der Wiener Individualpsychologie, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 99–103). Arbeit

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Lebens«, die heutzutage so in Mode ist. Er war unerschütterlich davon überzeugt, dass das Leben eine Bedeutung hat – ganz unabhängig davon, wie die Menschen es gegenwärtig erleben.

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Wir haben oft gehört, was Adler über das Leben zu sagen hatte. Wie aber dachte er über den Tod? Ich hatte viele Gespräche mit ihm, die mir nicht nur lebhaft im Gedächtnis sind, sondern ich machte mir auch Notizen. Der folgende Dialog ist daraus entnommen. Es war im Jahre 1927, als ich 23 Jahre alt war. »Sie sehen zurzeit ziemlich gedankenvoll aus. Warum sprechen Sie sich nicht aus?« »Ich habe über den Tod nachgedacht, Dr. Adler.« »Das tun Sie ziemlich oft, nicht wahr?« »Das stimmt. Diesmal ist es schlimmer. Etwas hat mich getroffen.« Adler lächelte. »Haben Sie eine Entdeckung gemacht?« »Ja, ich glaube, der Tod ist ein Fehler.« »Das müssen Sie erklären.« »Dr. Adler, glauben Sie, dass der Mensch unter allen Umständen sterben muss?« »Wenn ich davon ausgegangen wäre, wäre ich nie Arzt geworden. Ich wollte den Tod bekämpfen, ihn sogar umbringen, Kontrolle über ihn haben.« »Ich weiß. Was ich sagen wollte, ist, dass ich plötzlich erkannt habe, dass die Menschen den Tod als unausweichlich akzeptieren. Wer sagt, dass das der Fall ist? Dr. Adler, ich bin überzeugt, dass wir das Leben des Einzelnen verlängern könnten, sodass wir 100, 120, 150 Jahre alt werden – wo ist die Grenze?« »Ich stimme Ihnen zu. Meine Beobachtungen als Arzt und als Erforscher des Seelenlebens haben mich davon überzeugt, dass eine Verlängerung des Lebens möglich ist und eines Tages das Natürlichste von der Welt sein wird. Wir wissen noch so wenig über die biologischen und physiologischen Gesetze beim Menschen und über die chemischen Vorgänge im Körper. Trotzdem, sogar das Wenige, das wir wissen, spricht nicht gegen die Erhaltung von Zellen, Teilen von Organen oder von ganzen Organen.« »Könnten Sie sich vorstellen, Dr. Adler, dass sogar ein Leben nach dem Tode möglich ist ohne die Chemie und Physiologie einer lebendigen Person?« »Was ich bei sogenannten okkultistischen Veranstaltungen, Medien etc. gesehen habe, hat mich nicht sehr überzeugt. Ich will jedoch nicht leugnen, dass in einer Zeit, die im wörtlichen Sinne im Dunkeln liegt, viele Dinge noch entdeckt werden können. Sie fragen mich, ob ich an ein Leben ohne Körper und Physiologie glaube? Nicht ohne dass neue, noch völlig unbekannte Gesetze der Physiologie entdeckt werden. Aber auch das ist nicht unmöglich. Aber ich glaube nicht, dass das zu meinen Lebzeiten passieren wird.« 70

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

»Dr. Adler, ist der Gedanke des persönlichen Sterbens nicht ein schrecklicher Gedanke?« »Für mich nicht. Ich habe mich damit schon vor langer Zeit ausgesöhnt.« »Ich habe von Zeit zu Zeit das Gefühl, dass das Leben ein Abgrund ist. Was kann man da machen?« Adler wollte zum Ende kommen und sagte: »Bewahren Sie eine gute Einstellung zum Leben. Bleiben Sie im Abgrund! Das ist alles, was ich dazu sagen kann. Und leben Sie! Wenn ich das Faktum des Todes ändern könnte, würde ich es tun. Da ich daran nichts ändern kann, verdüstere ich mir nicht die Tage damit, über Möglichkeiten nachzudenken, die ich nicht erkennen kann; und vermiese mir nicht die Gegenwart damit, etwas zu vermissen, was ich jetzt genießen kann. Kommen Sie jetzt, die anderen warten auf uns, und es gibt so viel zu tun.«

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Adler hatte einen enormen Sinn für Humor. Einmal erwähnte ich, wie kompliziert es für den Beobachter meistens ist, das Verhalten der Menschen zu verstehen. Adler sagte darauf: »Das erinnert mich an einen kleinen Jungen, der eines Tages zu spät zur Schule kam. Die Lehrerin fragte ihn, weshalb er zu spät komme. Der Junge antwortete: ›Es war so glatt draußen, dass ich immer einen Schritt vorwärts und dann zwei Schritte rückwärts gemacht habe.‹ Die Lehrerin fragte dann: ›Und wie bist du dann überhaupt hierher gekommen?‹ – ›Ich hab mich umgedreht und bin nach Hause gegangen.‹« Es gehörte zu Adlers Psychotherapie, kleine Geschichten und Witze zu erzählen. Bei anderer Gelegenheit sagte er mir: »Wenn die Leute nur wüssten, wie ernsthaft ich bin, wenn ich Witze mache!«

Martha Brandt-Erichsen

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Mein Vater interessierte sich erstmals für Adler, als meine ältere Schwester einen schweren Zusammenbruch erlebte. Er hatte über ihn gelesen und wollte herausfinden, ob er einiges von dem könne, was er behauptete zu können, und machte eine Sitzung mit ihm aus. Adler bat ihn zu warten und dann innerhalb von zehn Minuten zu erzählen, welche Rolle er in seiner Familie innehabe. Sie sprachen zehn Minuten lang miteinander, und dann sagte Adler: »Mr. Davis49, Sie sind der Jüngste in Ihrer Ursprungsfamilie und der einzige Junge.« Das stimmte genau, 49 Charles Henry Davis (gest. 1951), schwerreicher amerikanischer Großunternehmer, Kohlebaron und Straßenbauer, Adlers Hauptmäzen in Amerika; vgl. Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 277 ff. Davis’ Einfluss trug mutmaßlich Arbeit

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und mein Vater war daraufhin überzeugt, dass Adler in der Lage sein würde, meiner Schwester zu helfen. Mein Vater war ein ziemlich tyrannischer Mensch, weshalb viele Leute Angst vor ihm hatten, einschließlich seiner Kinder. Nachdem er Adler kennengelernt hatte, verlor er allmählich diesen Charakterzug und wurde ein viel liebenswerterer Mensch. Nach einem Autounfall musste mein Vater einmal ins Krankenhaus wegen eines komplizierten Armbruchs und schwerer Kopfschmerzen. Er machte sich große Sorgen wegen seiner Kopfschmerzen, da er glaubte, sein Hirn könnte verletzt worden sein. Er war sehr stolz auf sein brillantes Denkvermögen und konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er eine Hirnverletzung haben könnte. Adler besuchte ihn in der Klinik, legte seine Hände auf den Kopf meines Vaters und tastete vorsichtig seinen Schädel ab. Dann sagte er: »Mr. Davis, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, es ist nur die Haut.« Die Kopfschmerzen verschwanden. Ich habe mich oft gefragt, was mein Vater wohl später darüber dachte, als es ihm wieder besser ging und er darüber logisch nachdenken konnte.

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Adler hatte als Arzt die besondere Fähigkeit, rasch zum Kern der Probleme durchzudringen. Ich erinnere mich, dass ich im Alter von 18 Jahren ein schmerzhaftes Knieproblem hatte, eine Schleimbeutel-Entzündung. Man hatte mir gesagt, dass ich mich auf eine Operation einstellen müsste. Mein Vater schlug vor, ich solle von Dr. Adler eine zweite Meinung einholen. Das tat ich. Er schaute meine Beine an, fühlte meine Knie und sagte dann: »Sie haben sehr schöne Beine und Ihre Knie sind in Ordnung. Aber Sie stehen nicht ganz richtig. Wenn Sie Schmerzen haben und dann Ihre Zehen nach innen beugen, werden die Schmerzen verschwinden.« Das funktionierte, und sogar heute noch, im Alter von 71 Jahren, wenn ich manchmal Knieschmerzen habe, gehen diese vorüber, wenn ich eine Zeit lang leicht x-beinig gehe.

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In den 1920er Jahren besuchte ich bei Dr. Adler in Wien einen Kurs in Kinderpsychologie und hatte danach zwei Gespräche mit ihm. Einige Male traf ich ihn im Hause meines Vaters und auch bei mir zu Hause. Ich war damals sehr jung, vielleicht 18 Jahre alt. Trotzdem muss ich sagen, dass Adler einen tiefen Eindruck auf mich gemacht hat. mit dazu bei, dass Adlers Kritik an der Gesellschaft in Amerika merklich stiller wurde. Die Trotzkistin Raissa, Adlers aus Russland stammende Frau, hatte offensichtlich kein Interesse an einem Beisammensein mit dem Multimillionär und neuen Freund ihres Mannes.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Was ich besonders bemerkenswert fand, war seine Fähigkeit, alles Unwichtige beiseitezuschieben und entweder eine Diskussion oder eine persönliche Frage auf den Kern des Problems zu konzentrieren. Ich bemerkte, dass er im Umgang mit Kindern äußerst direkt war und dass das Kind genau verstand, was er meinte. Bei der Veranstaltung in Wien wurde mit den Kindern auf einer Bühne vor den Zuhörern gesprochen. Ich war skeptisch gegenüber dieser Art des Vorgehens und befragte ihn später wegen dieser öffentlichen Veranstaltungen. Er meinte, dass es den Kindern das Gefühl gebe, wichtig zu sein, ein Gefühl, das den meisten von ihnen fehle. Vieles von dem, was ich von Adler gelernt habe, hat mir in meinem ganzen Leben sehr genützt, sowohl als Lehrerin als auch bei der Kindererziehung und in allen meinen persönlichen Beziehungen.

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Henry Jacoby, Sozialarbeiter, Journalist und Schriftsteller50 Die folgende Anekdote (es ist keine persönliche Erinnerung) ist bisher noch nicht veröffentlicht worden: Ein junges Mädchen namens Alice, das sehr neugierig war, was es mit Psychotherapie auf sich habe, kam zu Adler und fragte ihn, ob sie seine Patientin werden könnte. Sie klagte über Verstopfung, die sie auf einen Konflikt mit ihrem Freund zurückführte. Adler erkannte sofort, dass es sich stattdessen um Neugier handelte, und antwortete: »Junge Frau, warum wollen Sie eine so starke Medizin anwenden? Versuchen wir es doch lieber zunächst mit einem Apfel, bevor Sie zu Bett gehen.«

Anthony Bruck51

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Ich war mit dabei, als ein Schüler Adlers, ein junger Mediziner, berichtete, dass der Ärzteverband eines benachbarten Bundesstaates bereit sei, ausschließlich Adlers Lehre auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie zu vermitteln und anzuwenden, falls er bereit sei, als Seminarteilnehmer nur Ärzte zuzu-

50 Henry Jacoby, geb. 1905 in Berlin, gest. 1986 in Genf; Pazifist, Individualpsychologe, Mitglied der KPD, 1933 inhaftiert, 1936 Emigration nach Frankreich und in die USA; arbeitete für die UNO und Amnesty International. – Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Henry_Jacoby, Zugriff am 20. 09. 2014. 51 Anthony Bruck, geb. 1901 in Apatin (Ungarn), gest. 1979 in New York; Schüler und Mitarbeiter Alfred Adlers in Wien und in den USA, Universitätsprofessor. Quelle: http://pws.cablespeed. com/~htstein/bruck.htm, Zugriff Dezember 2013. Arbeit

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lassen. Adler erwiderte, das könne er nicht, denn: »Meine Psychologie gehört allen Menschen.«

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Sophia de Vries berichtete mir von einer anderen, ähnlichen Äußerung Adlers. Als ihn holländische Schüler Anfang der 1930er Jahre fragten, wer seine Lehre weitertragen solle, wenn er es nicht mehr tun könne, antwortete er mit seiner gewohnten Schlichtheit: »Wer es kann.« Wiederum beschränkte er die Anwendung seiner Psychologie nicht auf Mediziner oder irgendeinen geschlossenen Kreis.

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Es lag an Adlers »essenzieller Klarheit« (ein Ausdruck von Dr. Crookshank, der zu den Londoner Individualpsychologen gehörte), dass seine Zuhörer seine Ideen so gut verstanden, denn seine Englischkenntnisse – besonders als er zum ersten Mal in die USA kam – hatte er weitgehend autodidaktisch erworben. Während eines Vortrags 1926 oder 1927 an der New School for Social Research in New York war ich verblüfft, als Adler seine Beschreibung eines wohlerzogenen, fleißigen, psychologisch aufgeweckten Kindes mit den Worten zusammenfasste: »Es war ein wahres monster child.« Ich beobachtete das Publikum und sah, dass es erschrocken war, aber dennoch verstanden hatte, dass die Vorbildlichkeit des Kindes gemeint war. Trotzdem entschloss ich mich, Adler darauf hinzuweisen, dass sein Ausdruck das Gegenteil von dem bedeutete, was er gemeint hatte.52 Adler wollte mir nicht glauben. Er hatte den Ausdruck gewählt, weil er an das französische montrer (zeigen) dachte und an das deutsche Wort »Monstranz«, jenes liturgische Gefäß für die geweihte Hostie, die den Gläubigen zur Verehrung hochgehalten wird.

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Ende der 1920er Jahre organisierte ich für Adler einen Vortrag im Deutschen Club in New York. Dies war für mich die erste Gelegenheit, Adler auf Deutsch sprechen zu hören. Er war so viel tiefgründiger als in seinen Vorträgen auf Englisch, dass er wie ein anderer erschien. Als ich in den Saal kam, gab es nur noch Stehplätze. Neben mir stand Dr. Brill, der Übersetzer Freuds, sowie ein anderer Arzt, dem Brill sagte, er werde nach dem Vortrag in der Diskussion das Wort ergreifen. Gegen Ende des Vortrags sagte Brill zu seinem Nachbarn: »Lasst uns gehen; es hat keinen Sinn, mit diesem Mann zu debattieren.« Im Stillen stimmte ich ihm völlig zu.

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52 Diese Anekdote wird auch von Hoffman aufgegriffen; Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 221 f.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Adler war großartig in der Art, wie er nach seinen Vorträgen in den Diskussionen Stellung nahm. Ich erinnere mich, dass in New York City jemand aus dem Publikum in ziemlich aggressivem Ton fragte: »Und Religion, Dr. Adler?« Adler erwiderte: »Wir versuchen, so zu leben, dass – falls es einen Gott gibt – er mit uns zufrieden sein muss.«

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Bei anderer Gelegenheit fragte jemand: »Was ist der Sinn des Lebens?« Adler antwortete: »Es gibt keinen allgemeinen Sinn des Lebens. Der Sinn des Lebens ist der Sinn, den Sie Ihrem Leben geben.«

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Als jemand fragte: »Und was ist mit dem Unbewussten?«, antwortete Adler: »Was uns als unbewusst erscheint, ist doch gar nicht so unbewusst.«

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Ein Adlerianer der vierten Generation, der bei einem Schüler Adlers gelernt hatte, hat mich, einen Adlerianer der zweiten Generation, letztes Jahr zu sich eingeladen. Nach einem längeren abendlichen Gespräch über Adler und seine Lehre wachte ich nachts auf und begann darüber nachzudenken, ob man sagen könnte, dass Adler charismatisch war. Ich suchte nach einem besseren Ausdruck und kam auf »imprinting« (beeindruckend, einprägsam). Zweifellos prägte Adler Ideen und Konzepte in unsere Köpfe ein, die dort lebenslang wirksam blieben. Ein solches Konzept war die »Konstanz des Lebensstils«. Ich erinnere mich an einen Vortrag, den Adler in seiner Wiener Wohnung vor etwa zehn Leuten auf Englisch hielt. Einer der Gäste war ein kanadischer Professor, der den Fall eines College-Studenten vortrug, der ein so hervorragender Highschool-Schüler gewesen war, dass jeder annahm, er würde auch ein Musterstudent sein. Tatsächlich war er jedoch als Student ein völliger Versager. Die Frage war, ob dies dafür sprach, dass es doch eine Änderung des Lebensstils gibt. Adler antwortete sogleich, er glaube nicht, dass eine Änderung des Lebensstils möglich sei ohne eine günstige psychologische Intervention. Er meinte, der Student sei als Schüler vielleicht in einer besonders günstigen Lebenssituation gewesen und daher erfolgreicher als auf dem College, wo seine Situation nicht so gut gewesen sei. Der Professor lächelte ein wenig, trug den Fall weiter vor, und allmählich stellte sich heraus, dass es sich genau so verhielt, wie es nach Adler sein musste. Der Student war als Schüler der große Crack gewesen wegen seiner sportlichen Leistungen. Aber auf dem College wurde er nicht in das beste Team aufgenommen und war deshalb stark entmutigt, sowohl im Sport als auch bei seinen geistigen Leistungen. Dieses Erlebnis habe ich 45 Jahre lang fest in meinem Gedächtnis Arbeit

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bewahrt: zu sehen, wie Adler in der Lage war, vorherzusagen, was geschehen sein musste, da er von der Beständigkeit des Lebensstils überzeugt war.

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Auszug aus einem Brief an Alexandra Adler von einer Freundin der Familie Adler53 Weil ich den ganzen langen Winter unter Schlaflosigkeit litt, erinnerte ich mich fast regelmäßig an die beiläufige Bemerkung deines Vaters: »Es macht nichts, wenn man nicht schläft; haben Sie keine Angst davor. Es ist nicht so gefährlich, wie Sie meinen. Schlafen Sie nicht, wenn Sie nicht können.« Ich erinnere mich noch, wie schockiert ich war, als er mir das zum ersten Mal sagte. Ich war sehr verzweifelt, dass ich nicht schlafen konnte. »Ich bin so müde«, sagte ich. »Es wird werden«, erwiderte er in seiner unnachahmlichen spontanen Art und mit einem leichten Augenzwinkern – schelmisch, kindlich und mitfühlend. »Es wird werden; schlafen ist überhaupt nicht so wichtig. Geraten Sie deswegen nicht in Panik. – Schlafen Sie nicht, wenn Sie nicht können«, sagte er, und jahrelang (liebe Ali) dachte ich, dass er zu »gemütlich« über eine so grässliche Krankheit wie Schlaflosigkeit sprach. »Sie können also nicht schlafen«, sagte er fast nachdenklich, »wie schlimm! Aber wissen Sie, dass ein Mensch ziemlich lange ohne Schlaf auskommen kann? Ich bin einmal in Ungarn zu einem Patienten geholt worden, einem Kriegsverletzten – es war eine schlimme Verwundung – im Schlafzentrum. Er saß nächtelang verzweifelt und natürlich auch erschöpft in einem Sessel. Er und ich haben zusammen eine Heilmethode für seine Schlaflosigkeit entwickelt, eine Art Beschäftigungstherapie für die 24 Stunden, in denen er nicht schlafen konnte; wir fanden sogar eine Art, wie er sich ausruhen konnte. Natürlich konnte das nicht ewig dauern; es dauerte so lange, wie er sich ausruhte, was leider nicht allzu lange war! Aber er und seine Mitmenschen waren weniger unzufrieden.«

Sydney Roth

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Adler hat einmal von einer Frau erzählt, die sich offensichtlich sehr über ihren Mann ärgerte und die nicht schlafen konnte. Er sagte ihr: »Wenn Sie heute Nacht nicht schlafen können, denken Sie über etwas sehr Schönes nach, das Sie für Ihren Mann tun könnten. Rufen Sie mich morgen früh an und erzählen Sie mir davon.« 53 Aus: Individual Psychology Newsletter, März/April 1972, 21 (2).

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Am nächsten Morgen rief sie an und sagte: »Dr. Adler, es tut mir leid, ich kann Ihnen nichts berichten. Ich habe die ganze Nacht so fest geschlafen.«

Robert Minder

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Es war im Jahr 1923 oder 1924 in Paris. Ein Freund und Kommilitone hatte mich auf einen Vortrag Alfred Adlers aufmerksam gemacht, von dem ich so gut wie nichts wusste. In einem kleinen Seminarraum saßen etwa fünfzig bis sechzig Leute, und ein kleiner, untersetzter Mann erschien: Adler. Zunächst sprach er sehr lebhaft, dann immer beeindruckender, und seine Augen funkelten. Er blickte eindringlich ins Publikum, wenn er die Eigenständigkeit seiner Lehre im Gegensatz zu der Freuds vertrat, die man in Frankreich bereits gut kannte. Diese Darstellung der Individualpsychologie faszinierte mich so sehr, dass ich mich nach dem Vortrag dem Redner vorstellte. Mein Name (Minder) fiel ihm auf: »Mindestens Sie sollten Minderwertigkeitsgefühle haben.« Die zwanglose Unterhaltung dauerte länger als erwartet. Leider habe ich mir damals keine Notizen von dem Gespräch gemacht und habe auch sehr selten Tagebuch geführt. Aber seitdem habe ich aus Wien die »Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie« bezogen – bis sie eingestellt wurde. Durch diese Zeitschrift wurde ich mit der Lehre Adlers vertraut. Ihr verdanke ich meine psychosoziale Ausrichtung meiner Arbeiten über Literaturgeschichte und außerdem meine Bekanntschaft mit einigen hervorragenden Köpfen wie Alexander Neuer, der mich 1934 analysierte, Paul Rom und mit Manès Sperber.

Paul Rom

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Adler lud mich einmal ein, ihn in seinem Hotel zu besuchen. Als wir uns setzten, bot er mir eine Zigarette an. Diese lehnte ich ab und sagte, ich rauche nie im Mai. »Warum?«, fragte er. Spontan sagte ich, es sei vielleicht ein Überbleibsel

54 Gekürzte Beiträge von Robert Minder, übersetzt von Paul Rom. – Robert Minder, geb. 1902 in Wasselonne (im Elsass, dt. Wasselnheim); gest. 1980 in der Nähe von Cannes; französischer Germanist. 55 Paul Rom, ehemals Paul Plottke, geb. 1902 in Breslau, gest. 1982 in Tiberias, Israel. Studienrat, Erzieher, Psychotherapeut und Schriftsteller, Individualpsychologe seit 1930, emigrierte 1933 nach England, Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie seit 1978. Arbeit

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meiner Zeit in der Jugendbewegung nach 1918. Dann sprachen wir generell über das Rauchen und den Alkoholkonsum als unwürdig für junge Sozialisten. Als seine Frau zu uns stieß, bestellte er drei Tassen schwarzen Kaffee, aber nicht ohne mich vorher zu fragen: »Oder trinken Sie auch keinen schwarzen Kaffee?« Ich wusste damals nicht, was ich von diesen Worten halten sollte. Jetzt frage ich mich, ob meine ursprüngliche unreife Bemerkung dem älteren passionierten Zigarrenraucher gegenüber ihn zu dieser leicht ironischen Replik veranlasst hatte. Adler war wie Freud ein starker Zigarrenraucher. Im Verlaufe des Gesprächs schlug Adler vor, dass ich die Blätter für Individualpsychologie, die ich seit 1936 publizierte, umwandle in eine französische Zeitschrift. Und tatsächlich erschien diese Zweimonatszeitschrift 1938/39 unter dem Titel »Courage – Feuilles de Psychologie Adlérienne«. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs machte ihr ein Ende. Ich ehrte die französische Fremdenlegion durch meinen Beitritt und blieb ihr treu bis zum Ende des Krieges gegen Nazi-Deutschland. Ein Brief, den ich in Sidi bel Abbès, Algerien, von Adlers Witwe Raissa erhielt, war für mich eine bedeutende Ermutigung.

Werner Kemper56

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In seinem Beitrag zu »Psychotherapie in Selbstdarstellungen«57 erzählt Werner Kemper, dass er einmal in seiner Berliner Zeitung gelesen habe, Alfred Adler werde einen öffentlichen Vortrag halten. Damals wusste er noch wenig von Adler, den er als einen früheren Schüler Freuds ansah. Auf dem Weg zum Vortragssaal nahm Kemper die S-Bahn. Dort saß er neben einer Mutter, die vergeblich versuchte, ihren fünfjährigen Sohn daran zu hindern, sie zu stoßen und mit ihr zu reden, denn sie wollte unbedingt in ihrer Zeitschrift lesen. Ihnen gegenüber saß ein älteres Ehepaar. Die Frau zeigte deutlich, dass sie das Verhalten des »unartigen Kindes« missbilligte. Der Mann – er war untersetzt, rundlich, gut aussehend, etwa fünfzig und vielleicht ein Lehrer oder Beamter – beobachtete, wie der Konflikt zwischen der Mutter und dem Kind eskalierte. Als die Mutter dem Kind heftige Schläge androhte, wenn es nicht ruhig werde, kommentierte die Frau gegenüber dies mit: »Na endlich!« Der Mann jedoch fing an, mit dem Jungen über das kleine Pferd zu sprechen, das dieser in der Hand hielt. Beide waren rasch in ein lebhaftes Gespräch vertieft, und dem Erzähler wurde klar, dass die Frau neben dem freundlichen Mann nicht seine Gattin war. 56 Mitgeteilt von Paul Rom. – Werner Kemper (1899–1975), deutscher Psychoanalytiker. 57 Hg. von Ludwig J. Pongratz, Bern u. a. 1973.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Später im Vortragssaal erkannte er, dass der »gute Onkel« im Zug der Redner des Abends war!

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F. G. Lennhoff, Gründer der »Zugscharen«, einer Jugendhilfe-Organisation während der Weimarer Republik58 Ich hatte das Glück, an dem individualpsychologischen Kongress 1930 in Berlin teilzunehmen, wo Adler sprechen sollte. Auf den ersten Blick sah er recht unscheinbar aus, wie ein ganz normaler Mensch, dem man im Bus begegnen könnte. Das änderte sich jedoch, sobald er zu reden begann. Er hatte die Fähigkeit, sein Publikum in seine Art zu denken einzuführen, wobei er den Leuten das Gefühl vermittelte, er spreche zu jedem Einzelnen. Er weckte ihr Interesse an dem, was er über die Wirkungsweise des Seelenlebens sagte, und brachte in jedem Zuhörer Erfahrungen und Gefühle zum Bewusstsein, die bis dahin verborgen geblieben waren. Die Schlussfolgerungen, die er aus seinen Beispielen und Fallgeschichten zog, schienen stets genau denen zu entsprechen, die man selber irgendwie im Kopf hatte. Er konnte einfach und klar über komplizierte emotionale Verwicklungen sprechen, wobei er anschauliche Bilder verwendete, die dem Zuhörer ermöglichten, das Wesentliche der Situationen zu erfassen und die Lösungsmöglichkeiten zu verstehen, die er vorschlug. Indem er die Zuhörer so natürlich und leicht führte, verhalf er ihnen dazu, Elemente ihres eigenen Lebens zu verstehen, die unter der Last der Erlebnisse des Erwachsenenlebens begraben waren. […] Ich war besonders eingenommen von Adlers Herangehensweise an die Probleme […] Seine Einstellung schien mir sehr ähnlich zu sein wie die Methoden der »Zugscharen«, die den Jugendlichen eher Unterstützung und Teilhabe vermittelten statt nur Analyse. Ein Treffen zu vereinbaren schien ihnen ein gemeinsames Anliegen zu sein. Da Adler in Berlin zu viele Verabredungen und Veranstaltungen zu absolvieren hatte, konnte er mir keinen Gesprächstermin gewähren. Daher schrieb ich ihm in einem Brief etwas über die Arbeit der »Zugscharen«, erwähnte, wie sehr mich seine Vorträge beeindruckt hatten, und fragte ihn, ob ich ihn in Wien besuchen könne. Einige Tage später erhielt ich einen Brief von Adler, worin er mich für 58 Mitgeteilt von Paul Rom, entnommen aus: F. G. Lennhoff (1975): The First Thirty Years. Shrewsbury, U. K. (Shotton Hall). – Friedrich Georg Lennhoff, geb. 1903, deutscher Sozialarbeiter, stammte aus der deutsch-jüdischen Wandervogelgruppe »Kameraden«, gründete 1919 die Selbsthilfegruppe »Zugscharen« zur Förderung benachteiligter Jugendlicher; er emigrierte 1937 nach England (vgl. Leonie Wagner, Hg.: Soziale Arbeit und soziale Bewegungen. Wiesbaden 2009, S. 118). Arbeit

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einen bestimmten Nachmittag in seine Wohnung einlud. Nach einer längeren Reise in Wien angekommen, fand ich die Wohnung, die in einem schlichten Mehrfamilienhaus in einem Viertel der unteren Mittelklasse lag, und klopfte an die Tür. Adlers junge Tochter öffnete sie ein wenig, sodass ich in den schmalen Flur sehen konnte, in dem mehrere Mäntel hingen. Wider Erwarten bat sie mich nicht herein, sondern sagte mir, ihr Vater sei nicht da, aber ich könne ihn in dem Kaffeehaus am Ende der Straße finden. Ich war etwas erstaunt über diese zwanglose Art eines so angesehenen und bedeutenden Mannes wie Adler. Ich hatte erwartet, er würde mich in seinem Behandlungszimmer empfangen statt in einem Café. Aber nachdem ich einen Eindruck von dem schlichten Haus Adlers gewonnen hatte, machte ich mich auf den Weg zu dem Café, wo ich gleich Adler erkannte, der in der hinteren Ecke saß, in einer lockeren Unterhaltung mit einigen Bekannten. In meiner norddeutschen, etwas formellen Art reichte ich dem Kellner meine Visitenkarte, der mir gleich in seinem breiten Wienerisch sagte: »Das da drüben ist Adler. Warum gehen Sie nicht gleich zu der Runde?« Auch Adler hielt nichts von Förmlichkeiten. »Das ist ein Kollege von mir aus Berlin«, sagte er zu den anderem am Tisch. »Setz dich, Fred, trink mit uns einen Kaffee und erzähl meinen Freunden etwas über die Arbeit, die du machst.« Während ich von den Aktivitäten der »Zugscharen« erzählte, stellte Adler Fragen zu einzelnen Kindern und schlug Erklärungen oder Lösungsmöglichkeiten für spezielle Probleme vor. Er war besonders angetan von der Art, wie unsere Gruppe die Projekte und ihre eigene Art des Vorgehens entwickelt hatte, und war beeindruckt von dem Konzept der Partnerschaft, dem Verzicht auf moralische Ermahnungen und der Suche nach konstruktiven Antworten für das Fehlverhalten und die Lebensschwierigkeiten der Kinder und Jugendlichen. Er bestätigte mit Entschiedenheit unsere Ansicht, dass es das Wichtigste ist, wenn man jemandem helfen will, seine Probleme zu bewältigen, sein Selbstwertgefühl aufzubauen, indem man alle Arten von »Hilfsmitteln« einsetzt wie Musik, Schauspiel, Kunsthandwerk etc., wodurch die Person Fähigkeiten in sich entdecken kann, mithilfe derer sie Erfolgserlebnisse haben und ihre Gefühle ausdrücken kann. Sobald sein Selbstvertrauen auf diese Weise gestärkt worden ist, könne man die Forderungen an den jungen Menschen erhöhen, sowohl bezüglich seiner besonderen Fähigkeiten als auch hinsichtlich seiner Persönlichkeitsentwicklung insgesamt. Gleichzeitig könne er von der Erfahrung profitieren, dass er Teil einer Gemeinschaft ist, in der er mitspricht, wo man auf ihn hört und wo er etwas bewirken kann. Adler meinte, da er häufig in Berlin sei, könne er die »Zugscharen« unterstützen, indem er zu ihnen komme, um den Kindern und Mitarbeitern bei der Suche nach Problemlösungen zu helfen. Außerdem lud er mich ein, in Wien an 80

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

seinen gemeinsamen Zusammenkünften mit seinen Mitarbeitern und Klienten teilzunehmen. Diese besuchte ich mehrmals und empfand sie als äußerst lehrreich. […] Nach meinem ersten Treffen mit Adler besuchte er unsere Projekte häufig zusammen mit einigen seiner Kollegen und machte Gruppen- und Einzelgespräche mit schwierigen Kindern. […] Es war auch bemerkenswert zu beobachten, wie Adler seine Vorschläge und Ideen mit den anderen Mitarbeitern erörterte, statt in der herablassenden Art von oben herab zu dozieren, wie es damals bei Medizinern üblich war, die eine Behandlung verordneten und erwarteten, dass ihre Untergebenen diese dann durchführten. Er war in der Lage, mit allen um ihn herum auf gleichwertige, partnerschaftliche Weise zu verkehren. Seine Hinweise, die er sowohl Erwachsenen als auch Kindern gab, waren aber niemals seicht oder oberflächlich; sie waren stets beeindruckend durch ihre tiefgründige Schlichtheit, die es dem Klienten ermöglichte, ihre vielfältige Bedeutung zu erfassen und die gewonnene Einsicht in sein Leben zu integrieren. Es machte Adler nichts aus, wenn jemand eine abweichende Einschätzung oder Deutung äußerte, und wenn er meinte, dass diese ein neues Licht auf den Fall werfe, modifizierte er oft seine ursprüngliche Ansicht. Solch tolerante Bescheidenheit ist wirklich selten, besonders unter Menschen von hohem Rang in ihrem Berufsstand.

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Frank Babbott, Dr. med., Präsident der Long Island Medical School, New York Im Herbst 1932 erschien im »Time«-Magazin ein Artikel mit der Überschrift: »Keep Your Eye on Long Island«. Darin wurde in einigen Absätzen der berufliche Werdegang Dr. Adlers beschrieben, und es wurde angekündigt, dass er zum Gastprofessor für Medizinische Psychologie am Long Island College of Medicine berufen würde. Diese Stellung hielt er fünf Jahre inne, bis zu seinem Tode. Adlers Lehrverpflichtung bestand darin, wöchentlich eine Vorlesung im Rahmen des dreijährigen Ausbildungsganges zu halten. Ich erinnere mich gut an das erste Mal, als ich ihn vorstellen musste. Ich sagte recht wenig über ihn, und ich sehe noch heute, wie er sich von seinem Stuhl erhob und eine kleine formelle Verbeugung machte, wobei die Augen hinter seiner Brille funkelten. Dann drehte er sich zu den applaudierenden Studenten und übrigen Zuhörern und beantwortete die Begrüßung ebenfalls mit einer Verbeugung. Nach ein paar allgemeinen Bemerkungen forderte er jeden Zuhörer auf, in wenigen Sätzen seine früheste Kindheitserinnerung aufzuschreiben, ohne diese zu unterschreiben. Die Papiere wurden dann eingesammelt und ihm vorgelegt. Dann überraschte Arbeit

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er seine Zuhörer mit seiner Vermutung – entsprechend seiner Lehre von der Kompensation –, dass die Mehrzahl dieser Erinnerungen etwas zu tun hätten mit Krankheit oder Tod. In der folgenden Woche las er ein Dutzend Erinnerungen vor, diskutierte darüber und stellte fest, dass etwa 65 Prozent von ihnen tatsächlich von Krankheit oder Tod eines Verwandten handelten.

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Einmal bemerkte ich ihm gegenüber, dass er nur wenige oder überhaupt keine Notizen für seine Vorlesungen verwende. Mit der ihm eigenen Großherzigkeit und Weisheit erklärte er, wie er sich für seine Reden vorbereitete: (1.) Er plane sehr gründlich seine Einleitung, die manchmal leicht und humorvoll sei. Er meinte, wenn man das Publikum dazu bringen könne, mit ihm zu lachen, sei es bereit, aufmerksam zu bleiben. (2.) Dann mache er sich im Geiste eine Aufstellung derjenigen Punkte, die er in dem Hauptteil der Rede hervorheben wolle; und (3.) der wichtigste Teil der Vorbereitung sei die Gestaltung des Abschlusses der Rede. Er meinte, wenn man das im Kopf habe, sei man voller Selbstvertrauen. Adler hielt Vorlesungen vor der Medical Society von Brooklyn und auch vor Nichtmedizinern, aber hauptsächlich sprach er vor Medizinstudenten. Wie viele von ihnen eine Weiterbildung in Psychologie oder Psychiatrie gemacht haben, ist mir nicht bekannt. Aber ich bin sicher, dass seine Überzeugungskraft und Freundlichkeit, seine Weisheit und sein mitfühlendes Verstehen eine wichtige Rolle in ihrem späteren persönlichen und beruflichen Leben gespielt haben, ebenso wie in unserem eigenen Leben.

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Mrs. Babbott, Dr. Frank Babbotts Ehefrau

Wir konnten einmal Dr. Adler mit einem unserer Kinder besuchen, und ich erinnere mich, wie freundlich er den kleinen Jungen begrüßte, sodass er sich als wichtig und tüchtig erlebte. Im Arbeitszimmer wollte ich dem Kind helfen, den Mantel auszuziehen. Sogleich ermahnte mich Adler und erinnerte mich daran, dass der kleine Frank nun ein großer Junge sei und sehr vieles selber tun könne. Diese Bestätigung für das Kind ließ seine Schüchternheit verschwinden und war mir eine Lehre, die ich vielleicht mehr nötig hatte als der Junge.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Elizabeth H. McDowell, Sozialarbeiterin und Familienhelferin Mitte der 1930er Jahre, als Alfred Adler am Long Island College of Medicine lehrte, war ich 22 Jahre alt, hatte das College-Studium abgeschlossen und begann meine Berufstätigkeit als Sozialarbeiterin zu einer Zeit, als die Sozialarbeit mit der Psychologie verknüpft wurde. Meine Supervisorin, die ich mit ihren 26 Jahren als »ältere Frau« empfand, war ebenso naiv wie ich, aber sie war stark erfüllt von dem Denken in Fachbegriffen, besonders auf dem Gebiet von Inzest und Homosexualität. Unter meinen Klienten befand sich ein abgehobener, hochintelligenter, sympathischer 21-jähriger junger Mann, der »in Sünde« mit einem älteren Mann in Greenwich Village59 zusammenlebte. Meine Supervisorin meinte, wir sollten die Gelegenheit nutzen, da Adler in der Stadt weilte. Sie forderte mich auf, Johns Fallgeschichte aufzuschreiben, Adler das Problem vorzutragen und ihn um Rat zu fragen, wie wir vorgehen sollten. Das tat ich und bekam einen Termin. Nachdem ich mich in der U-Bahn zwischen Manhattan und Brooklyn verfahren hatte, fand ich schließlich den bedeutenden Mann in seinem Universitätsbüro und wartete erschöpft und ängstlich, da ich vermutete, er werde mich nach meiner Einschätzung fragen. Plötzlich ging die Tür zu seinem Zimmer auf und eine tiefe Stimme mit Akzent – die irgendwie zu seiner rundlichen Erscheinung passte – bat mich herein und bot mir einen Stuhl an. Dichter Tabakrauch erfüllte den kleinen Raum. Er warf einen flüchtigen Blick auf meinen Fallbericht, der oben auf einem ziemlich unaufgeräumten Schreibtisch lag, und schaute mich über seine Brillengläser hinweg an. »Sie sagen, dieser John ist ein Homosexueller?« – »Oh, ja«, antwortete ich. – »Und ist er glücklich, würden Sie sagen?« – Oh, ja«, antwortete ich. – »Nun«, sagte er, lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und schob seine Daumen in die Weste. »Warum lassen Sie ihn nicht einfach in Ruhe?« Er sagte noch ein paar Worte darüber, wie wenig man über Menschen mit abweichenden Sexualneigungen weiß, aber er blieb bei seiner Aussage: »Lassen Sie ihn.« Dies war zweifellos der weiseste Rat, den er mir geben konnte.

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Ida Berger, Psychotherapeutin, New York

Dr. Adler war ein häufiger und willkommener Gast in unserem Hause. Seine beständige Gelassenheit und Heiterkeit schien ihm leichtzufallen. Das Haus, in 59 Künstler- und Intellektuellenviertel im Süden Manhattans. Arbeit

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dem wir wohnten, war ursprünglich Teil des Anwesens von Peter Stuyvesant60 gewesen und lag nur zehn Minuten Fußweg entfernt von dem Hotel, in dem Adler wohnte. Der Pferdetrog und der Pfosten schräg gegenüber erinnerten uns stets an die Bestimmung in unserer Grundstücksurkunde, dass auf dem Gelände niemals eine Schmiedewerkstatt errichtet werden dürfe. Unsere Wohnung lag in einem oberen Stockwerk; sie hatte hohe Räume, geschnitzte Holzvertäfelungen und große, sonnige Fenster zum Stuyvesant-Park. Dr. Adler und unsere ganze Familie saßen oft und gerne zum Essen zusammen, und mit Freunden verbrachten wir viele Abende mit angeregten Gesprächen, die wir alle sehr genossen. Er fühlte sich bei uns sehr wohl, auch mit unseren zwei kleinen Kindern. Sein Verhältnis zu ihnen war freundlich und ungezwungen. Manchmal machte er Spiele mit ihnen, wobei er es ihnen nicht leicht machte, zu gewinnen. Er meinte, Kinder sollten dazu ermutigt werden, den Wunsch zu entwickeln, jegliche Schwierigkeiten zu überwinden, die sich bei einer Sache ergeben. Einmal sagte er uns, während er mit den Kindern spielte, dass er sich sehr stark mit dem Thema Erziehung beschäftige, und erwähnte seinen ersten Aufsatz hierzu: »Der Arzt als Erzieher« (1904). Mein Mann, der Erziehung auch für sehr wichtig hielt, schlug zur großen Freude Adlers vor, dass in seinem Büro Vorträge über Individualpsychologie stattfinden könnten. Das Büro war geräumig und hatte zwei Empfangszimmer, luftig, hell und angenehm eingerichtet. Es gab genügend Sitzplätze für dreißig oder vierzig Personen. Diese Veranstaltungen fanden 1934 und 1935 wöchentlich statt und wurden von Erziehern und Sozialarbeitern besucht. Obwohl in dieser Zeit der Wirtschaftskrise jeder sehr sparen musste, waren alle begeisterten Teilnehmer gerne bereit, einen symbolischen Beitrag von einem Dollar für jede Sitzung zu zahlen, die aus einem einstündigen Vortrag und einem anschließenden halbstündigen Gespräch bestand.

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Adler meinte, dass es in der frühen Kindererziehung darum gehe, das Gemeinschaftsgefühl zu trainieren, damit es etwas so Natürliches werde wie das Atmen. Er sagte: »Die Lehrer sind der verlängerte Arm der Familie und können das Kind zu einer Zeit erreichen, in der es sich nicht mehr ganz unter der elterlichen Kontrolle befindet.«

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Adler schlug vor: »Versuchen Sie, mit den Augen des Kindes zu sehen, mit den Ohren des Kindes zu hören und mit seinem Herzen zu fühlen.« Er lehrte, ein Kind 60 Peter Stuyvesant (1592–1672) war Generaldirektor der Kolonie Neu-Niederlande, bevor diese 1664 in britischen Besitz kam. Die Stadt Nieuw Amsterdam wurde umbenannt in New York.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

das Schwierigkeiten mache, habe Schwierigkeiten. Er wurde gefragt: »Welche Art von Strafe ist die beste für das Kind?« Darauf antwortete er: »Ich glaube, keine Strafe ist gut für ein Kind.«

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Adler wirkte kompetent und geduldig, immer bereit, auf Fragen und Kommentare einzugehen. Obwohl er manchmal anderer Meinung war, betonte er selten seine gegenteilige Auffassung und meinte nur: »Das ist vielleicht ein Fehler.«

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Lillian Gondor, leitende Psychologin des Post-Graduate Center for Mental Health, New York (Ehefrau von Emory I. Gondor) Dr. Adler war ein sehr interessanter, kreativer und geistreicher Mann. Hierzu ein Beispiel: In einer Erziehungsberatungsstelle, die ich besuchte, kam eine Mutter mit einem Mädchen, dessen Problem nach Angaben der Mutter darin bestand, dass es sein Essen nicht herunterschluckte. Es behielt das Essen im Mund und schob es von einer Backe in die andere, statt es runterzuschlucken. Jeder am Tisch sagte: »Warum schluckst du es nicht runter?« oder »Nimm keinen neuen Bissen, bevor du heruntergeschluckt hast« und so weiter. Ich erinnere mich, dass es sehr interessant war. Nachdem Adler mit der Mutter gesprochen hatte, führte er das Kinder herein und sagte zu ihm: »Deine Mutter hat mir erzählt, dass du das Essen im Mund behältst und es nicht runterschlucken willst. Jeder am Tisch regt sich darüber auf. Weißt du, du könntest etwas viel Besseres machen, viel mehr Aufmerksamkeit bekommen, wenn du das, was du im Mund hast, auf den Tisch spucken würdest. Dann wären alle sehr aufgebracht und würden über nichts anderes reden als über dich.« Dies war – teilweise – eine sogenannte »paradoxe Intervention«. Aber jetzt kommt der interessante Teil. Wenn jemand anderes dasselbe gesagt hätte, was ich gerade zitiert habe, wäre es wahrscheinlich sadistisch, unangenehm oder kritisch gewesen; aber bei Adler hatte es eine interessante Wirkung: Das Mädchen lachte und konnte sein Verhalten ändern. Niemand hatte das Gefühl, dass er so gesprochen hatte, um irgendjemandes Gefühle zu verletzen. Es war die Art seiner Persönlichkeit, die bewirkte, dass seine Äußerung wohlwollend verstanden wurde.

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Arbeit

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Ernst Papanek61, Pädagogik-Professor, City University of New York, Queens College; stellvertretender Direktor der Alfred Adler Mental Hygiene Clinic, New York Im Jahre 1937, als ich in Paris die Zeitschrift »Informations Pédagogiques Internationales« mit Materialien der Bibliothek des Völkerbunds herausgab, musste ich viel reisen. Ich kam nach London, wo die englische Ausgabe der Zeitschrift verlegt wurde. Rein zufällig sah ich ein Plakat der University of London, auf dem Dr. Alfred Adler aus New York als Redner angekündigt wurde; er sollte am selben Nachmittag im größten Hörsaal der Universität sprechen. Als ich dort ankam, war der Saal überfüllt, und wie viele andere musste ich mich mit einem Stehplatz begnügen. Das machte niemandem etwas aus, da der Redner so interessant war. Nach dem Vortrag ging ich zum Podium, um Adler zu begrüßen, der von Dutzenden von Leuten umringt war, die ihm Fragen stellen wollten. Als er mich erblickte, sagte er: »Haben Sie Wien jetzt für immer verlassen?« Ich antwortete, noch nicht endgültig; meine Familie sei noch in Wien und ich hoffe, bald zurückzukehren und sie dort zu treffen. Er sagte: »Sind Sie verrückt? Holen sie Ihre Familie sofort heraus und gehen Sie in die USA! Erstens: Die Nazis werden bald in Wien sein. Zweitens: Es wird Krieg geben. Und drittens: Die USA sind der beste Ort zum Leben und auch, um zu arbeiten.« Als ich wieder in Paris war, erfuhr ich, dass Adler plötzlich verstorben war – in derselben Woche, als ich ihn in London getroffen hatte.

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Clarence Senior, Dr. phil., Professor für Soziologie, City University of New York, Brooklyn College62 Mein Kontakt mit Dr. Adler ergab sich aus meiner Unzufriedenheit mit den Psychologen in den Vereinigten Staaten, die ihre Aufgabe darin sahen, ihre Analysanden an eine »realistische« Lebenssituation »anzupassen«. Ich war überhaupt nicht einverstanden mit einer Gesellschaft, in der das Ethos zusammen61 Ernst Papanek, geb. 1900 in Wien, gest. 1973 in Wien, lernte früh Alexandra Adler und die Individualpsychologie kennen, studierte Pädagogik und Psychologie, beteiligte sich an der Schulreformbewegung von Otto Glöckel, flüchtete 1934 in die Tschechoslowakei, 1938 über die Schweiz nach Paris und gelangte 1940 in die USA. (Weitere Hinweise über Ernst und Helene Papanek in: Clara Kenner: Der zerrissene Himmel. Emigration und Exil der Wiener Individualpsychologie. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 166–175.) 62 Aus der Zeitschrift »Individual Psychologist«, Mai 1967, 4 (2). – Clarence Senior (1903–1974) war schon als Jugendlicher engagierter Sozialist, ab 1927 Mitglied der Sozialistischen Partei Amerikas (SPA) und in den 1930er Jahren deren Generalsekretär (Quelle: http://en.wikipedia. org/wiki/Clarence_Senior, Zugriff am 25. 11. 2014).

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

gefasst lautete: »Jeder für sich, und die Letzten beißen die Hunde.«63 Ich hörte von einem Psychologen in Wien, der an dem Versuch beteiligt war, das Schulsystem so umzugestalten, dass die Persönlichkeit des Kindes respektiert wird und dass alle Beteiligten davon ausgehen, dass der Mensch angewiesen ist auf gegenseitige Hilfe und Kooperation. Ich nahm zweimal im Sommer an Seminaren der Individualpsychologen in Wien teil und habe dadurch ein tiefes Gefühl der Verbundenheit mit Dr. Adler entwickelt. Später hatte ich das Glück, mehrmals sein Gast zu sein, als er auf seinen Vortragsreisen nach Cleveland, Ohio, kam. Er war eine der Berühmtheiten, die von dem Verein für Erwachsenenbildung nach Cleveland eingeladen wurden. Aber er war mit Abstand derjenige, der die Zuhörer am meisten dazu anregte, sich persönlich zu interessieren für das, was in den Schulen passierte, im öffentlichen Leben, in intellektuellen Kreisen und sogar auf dem Gebiet der volkstümlichen Unterhaltung. Wir besuchten eines Nachmittags einen Film mit Clara Bow64, und das Geschehen auf der Leinwand machte er zum Thema für seinen Vortrag am selben Abend.

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Raymond J. Corsini65, Dr. phil., Psychologe in privater Praxis, Honolulu, Hawaii; Herausgeber der Zeitschrift »Journal of Individual Psychology«, 1974–1975 Um 1935 erzählte mir ein Freund, dass ein gewisser Dr. Adler am Abend im City College von New York einen Vortrag halten werde und dass er ein Psychoanalytiker sei und ein früherer Kollege von Sigmund Freud. Ich bin nicht sicher, ob ich schon etwas von Freud gehört hatte; mit Sicherheit hatte ich noch nie etwas von Adler gehört, aber ich wusste ein wenig über Psychotherapie, und deshalb ging ich hin. Ich erinnere mich nur schwach an den Inhalt des Vortrags. Da ich weit hinten in dem voll besetzten Auditorium saß, gewann ich keinen besonders tief greifenden Eindruck von Adler. Wahrscheinlich hätte ich den Abend völlig vergessen, wenn es nicht einen kleinen Vorfall gegeben hätte. Kurz nachdem Adler geendigt hatte und das Publikum Fragen stellen konnte, meldete sich eine offen63 Everyone for himself and the Devil take the hindmost. 64 Clara Bow (1905–1965), bekannte amerikanische Filmschauspielerin. 65 Raymond J. Corsini (1914–2008) war ein Schüler und enger Mitarbeiter von Rudolf Dreikurs und Autor zahlreicher Bücher über Psychotherapie und Erziehung sowie mehrerer Nachschlagewerke wie: The Dictionary of Psychology. London and New York 2002 (BrunnerRoutledge). Auf Deutsch ist erschienen: Dreikurs, R.; Gould, S.; Corsini, R.: Familienrat. Der Weg zu einem glücklichen Zusammenleben zwischen Eltern und Kindern. Stuttgart 1977 (Klett). Arbeit

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sichtlich sehr aufgebrachte junge Frau zu Wort, die Bescheid zu wissen schien, worüber sie sprach. Sie stellte ihm eine sehr kritische Frage bezüglich seiner Beobachtung, dass die Schlafstellungen der Menschen etwas über deren Persönlichkeit aussagen. Dabei stellte sie ihn als ziemlich dummen Menschen hin. Diese Äußerung hat mich sehr erstaunt wegen der Dreistigkeit der Frau, diesen Mann so zu attackieren, und machte mich auch sehr neugierig, da ich selber die Schlafgewohnheiten meiner beiden Cousins beobachtet hatte: Der Ältere schlief gewöhnlich auf dem Rücken mit ausgebreiteten Armen, während der Jüngere zusammengekauert schlief mit seinem Kopf unter dem Kissen. Diese Schlafgewohnheiten brachte ich sogleich in Zusammenhang mit ihren ganz unterschiedlichen Charakteren. Der Erstere war frei und offenherzig, der Jüngere bedächtiger und zurückhaltend. Folglich erwartete ich von Adler eine vernichtende Antwort, denn ich wusste: Seine Erkenntnis war richtig und basierte auf seiner Erfahrung. »Was für eine Gelegenheit, einen Feind zu besiegen!«, dachte ich. An Adlers Antwort kann ich mich recht gut erinnern. Er schien interessiert an der Frage, wartete einen Moment und sprach dann sehr schlicht zu ihr, ganz natürlich und besonnen, völlig unbeeindruckt von ihrem offensichtlichen Widerspruchsgeist. Er sagte, als er während des Ersten Weltkrieges als Militärarzt tätig war, hätte er Gelegenheit gehabt, zu beobachten, dass die Schlafstellungen, die die Soldaten einnahmen, ihrer Lebensart während des Tages zu entsprechen schienen, und dass diese Beobachtung gut mit seinen Theorien des menschlichen Verhaltens übereinstimmten. Er schien so ruhig, so präzise und so freundlich, dass ich erkannte: Wir erlebten einen großen Menschen, eine bescheidene und freundliche Persönlichkeit, die Feindschaft mit Freundlichkeit erwidert hatte. Von diesem Tag blieb nicht viel in meiner Erinnerung außer dieser sanften Antwort auf die Frage einer aufgebrachten Frau.

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L. King, Arzt, Strasbourg, Frankreich

Ich erinnere mich an eine interessante Bemerkung Adlers, die ich von Dr. James Moore auf dem Pariser Kongress von 1963 hörte. Im Mai 1937 sprach Adler vor einem Pariser Publikum, den »Freunden Laënnecs«, das hauptsächlich aus katholischen Ärzten und kirchlichen Würdenträgern bestand. Einer von ihnen zog am Ende der Vorlesung Adlers Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass nichts von dem, was er sagte, dem Publikum neu sei, weil die von ihm ausgebreiteten Prinzipien Teil der christlichen und religiösen Doktrin seien, so das Gemein88

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

schaftsgefühl66, die Nächstenliebe67 und so weiter. Statt ärgerlich zu werden oder beleidigt zu sein, antwortete Adler mit Leichtigkeit und Bescheidenheit, dies sei das beste Kompliment, das ihm jemand machen könne. Adler wollte mit dieser Bemerkung darauf hinweisen, dass wissenschaftliche Forschung, wie er sie praktizierte, ohne Zweifel die Tradition der Humanität bestätigt.

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Marguerite Beecher, Autorin, Erzieherin, Psychotherapeutin, Beecher Counseling Service, New York Mein Mann und ich wurden eingeladen, an Adlers Seminaren in dessen Hotel teilzunehmen, die hauptsächlich von Ärzten, Psychiatern, Therapeuten, Sozialarbeitern und Lehrern besucht wurden. Es wurde erwartet, dass jedes Mitglied im Laufe des Seminars ein Referat hielt, das mit der Individualpsychologie zu tun hatte. Nach dem Vortrag würde die Gruppe darüber diskutieren und Kritik üben, und abschließend würde Dr. Adler seine Interpretation zum Besten geben und die Diskussion zusammenfassen. An zwei Abenden stellten mein Mann und ich ein Schulprojekt mit dem Titel »Aufbau von sozialer Achtsamkeit in Schulen« vor. Dieses Projekt umfasste 25 Diskussionen mit Schülern in einer Grundschule und war, im Großen und Ganzen, ein Gruppentherapieprojekt. Der Zweck war, die Unterschiede zwischen reifem und unreifem Verhalten, verantwortlichem und unverantwortlichem Verhalten, unabhängigem und abhängigem Verhalten, nützlichem und unnützem Verhalten und so weiter aufzuzeigen. Die Inhalte wurden gewählt, um einem Kind einen Orientierungspunkt zur Beurteilung menschlichen Verhaltens im Allgemeinen zu geben, und im Besonderen, um ihm einen Weg beizubringen, wie es für sich den Grad seiner falschen Haltung in Wahrnehmung und Verhalten abschätzen kann. Dieser Vortrag erregte Dr. Adlers Enthusiasmus und Interesse, weil ihm die Erziehung der Kinder am Herzen lag. Nachdem wir unseren Vortrag gehalten hatten, bat er uns, noch zu bleiben, bis die Gruppe gegangen sei, um uns in sein privates Arbeitszimmer mitzunehmen. Er wünschte, das Projekt im »International Journal of Individual Psychology« abzudrucken. Er ergänzte, dass der Mann auf der linken Seite auf der Couch an der Wand im Seminar Filene68 gewesen sei, der große Kaufmann aus Boston. Adler erzählte uns, Filene folge 66 Original: sense of community. 67 Original: a sense for fellow human beings. 68 Edward Filene (1860–1937), Sohn von William Filene, einem deutschen, jüdischen Migranten aus Posen, der 1848 nach Boston auswanderte und dort mehrere Kaufhäuser betrieb. Seine Söhne Edward und Lincoln bauten den Betrieb zu einer der größten Kaufhausketten des Arbeit

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ihm auf Schritt und Tritt und frage beständig, was er noch für die Individualpsychologie tun könne. Adler sagte, er antworte Filene niemals, weil er wisse, wenn Filene bereit sei, etwas zu unternehmen, dass er selbst, Adler, entdecken würde, was getan werden solle.69 Jedoch sollten wir eine Kopie der Projektbeschreibung zu Filene nach Boston schicken, ohne ihm zu sagen, dass er, Adler, uns darum gebeten hatte. Wir sandten Filene wie gewünscht eine Kopie. Wir wissen nicht, was genau passierte, aber uns wurde erzählt, dass Filene wenig später Adler anrief und sagte, er habe entschieden, eine Einrichtung zur Lehrerausbildung aufzubauen im Sinne von Adlers Gemeinschaftsgefühl. Doch noch bevor ein solcher Plan abgeschlossen war, fuhr Adler nach Aberdeen in Schottland und Filene fuhr nach Paris. Adler und Filene starben in jenen Städten, die sie besuchten. Bevor Adler nach Aberdeen aufbrach, war er so interessiert an unserem Projekt, das an den Dalton-Schulen in New York betrieben wurde, dass er zur Schule kommen und sich eine Veranstaltung ansehen wollte. An dem Tag, als er anwesend war, hatte ein achtjähriges Mädchen darum gebeten, die Sitzung an diesem Morgen zu leiten und über ein Problem zu sprechen, das die Gruppe störte. Adler war entzückt und verzaubert von der Reife dieses Mädchens und der Art, wie sie die Sitzung leitete. Eines Abends erschien eine Masseurin im Seminar. Ihre Anwesenheit störte einen der Psychiater gewaltig. Der sprach Dr. Adler hinterher an und bestand darauf, dass eine formale Organisation für die Seminare mit sehr spezifischen Arten der Mitgliedschaft aufgebaut werden müsse (welche nicht professionelle Typen wie »diese Masseurin« ausschließen würde). Adler sagte: »Ja, ja.« Zum nächsten Seminar erschien die Masseurin wieder, und wieder wandte sich der Psychiater hinterher an Adler und sagte: »Sie haben versprochen, Dr. Adler, dass wir eine formale Organisation haben werden. Was hat die Masseurin in dieser Gruppe heute Abend zu suchen?« Adler antwortete: »Sie will lernen, wir lehren sie.« Adler fühlte immer, dass Individualpsychologie für jedermann da sei, der lernen möchte, nicht nur für einige exklusive wenige. Mein Mann und ich wurden eingeladen, Adlers Erziehungsberatung an der Community Church zu besuchen. Wenn er mit einem Kind sprach, drehte Adler das Kind üblicherweise zur Seite und betrachtete das Ohr des Kindes, und häufig sagte er zum Kind: »Du könntest ein prima Musiker werden, wenn du Musik

Landes aus und wurden zwei der bekanntesten Geschäftsleute in Amerika. Siehe auch Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler, S. 341 f. 69 Ein rätselhafter Ausdruck.

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studierst.« Wir versäumten, Adler zu fragen, wonach er in eines Kindes Ohr sucht – und wir fanden niemand, der uns die Frage beantworten konnte.

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Es wurde eine Veranstaltung Dr. Adlers im International House am Riverside Drive in New York über Alkoholismus mit Datum und Uhrzeit in der Zeitung annonciert. Wir hörten, dass Dr. Adler schon früher über das Thema Vorträge gehalten hatte. Wir nahmen eine Freundin mit, deren Ehemann alkoholsüchtig war. Wir drei trafen früh ein, um einen guten Platz zu bekommen, aber in der Veranstaltungsliste tauchte die Vorlesung Dr. Adlers nicht auf. Wir fragten bei der Anmeldung, wo der Vortrag stattfinden sollte, aber keiner wusste es. Dann beschlossen wir, einen Studenten zu fragen, der im International House wohnte, und der sagte: »Warum schauen Sie nicht in den großen Saal dort drüben?« Der Zuschauerraum war schwach beleuchtet und da saß nur eine einzelne Frau. Wir beschlossen, uns in die vordere Reihe zu setzen und zu warten, was passiert – wenn überhaupt. Genau zur genannten Stunde erschien Dr. Adler im Vortragssaal, ging auf die Bühne, wo ein Rednerpult stand, und hielt einen vollen Vortrag über Alkoholismus, als ob er vor 400 oder 4.000 Menschen sprechen würde und nicht vor vier!

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Dieses Erlebnis erinnert mich an eine Geschichte, die ein Freund meinem Mann und mir erzählte über Dr. Adlers ersten Auftritt in diesem Land, als er einen Vortrag in einem großen Saal hielt. Zu der Zeit war er noch nicht so vertraut mit der englischen Sprache, und zudem war der Zuschauerraum vollgestopft mit lärmendem Publikum – mit Warteschlangen draußen, die über Lautsprecher mithörten. Es war schwierig, ihn zu hören und sein gebrochenes Englisch zu verstehen. Hinterher fragte unser Freund Dr. Adler, wie viele in dieser riesigen Menge wohl seine Botschaft verstanden hätten. Dr. Adler erwiderte: »Wenn nur einer versteht und die Botschaft an andere weitergibt, bin ich zufrieden.«

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Willard Beecher, Erzieher, Autor, Psychotherapeut, Beecher Counseling Service, New York Bevor ich Adler zum ersten Mal traf, hatte ich eine unangenehme Erfahrung mit einem freudianischen Psychiater gemacht. 1927 arbeitete ich als Laborassistent am Rockefeller Institute for Medical Research für ein mageres Salär von 70 Dollar im Monat. Beunruhigt über meine Zukunft, ging ich zu einem Psychiater, um mich nach seiner Honorarhöhe zu erkundigen, um zu sehen, ob ich mir einen Arbeit

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Besuch leisten könne. Ich hatte gedacht, ich würde die Information von einer Sekretärin erhalten, aber der Psychiater hatte keine. Er bestand darauf, mit mir eine Stunde zu reden, nach der er 25 Dollar von mir verlangte. Und er sagte mir, dass ich fünf Mal die Woche kommen müsse, zum selben Preis pro Sitzung. Ich erholte mich nur mühsam vom Schock und dem Verlust von 25 Dollar für nichts. Ich erklärte ihm, dass mein Lohn nur 70 Dollar im Monat betrage, und ich fügte an, dass mein Arbeitgeber mir nicht erlauben würde, jeden Tag eine Stunde fernzubleiben. Er ignorierte die Erklärung und sagte, ich solle mir das Geld für die tägliche Behandlung leihen – als ob das die Lösung meines Problems sei! Dies entmutigte mich erst einmal bis in die Mitte der 1930er Jahre, als ich hörte, dass Dr. Adler in New York lebte. Ich erinnerte mich an meine frühere Erfahrung und kontaktierte Adlers Sekretariat. Die Hotelrezeption rief ihn auf seinem Zimmer an. Adler selbst ging ans Telefon und erklärte, seine Sekretärin sei außer Haus, und er bestand darauf, ich solle hochkommen, um ihn zu sehen. Eingeschüchtert von dem bedeutenden Mann ging ich zögernd hoch und erwartete ein enormes Honorar. Adler öffnete die Tür, entschuldigte sich, dass er allein sei, und erzählte sogleich, dass er gleich den Children’s Court von Richter Jacob Panken70 besuchen wolle. Gleichwohl führte er mich zum besten Sessel im Raum und bestand darauf, dass ich dort sitze, während er einen Stuhl mir direkt gegenüber heranzog. Als er aufbrechen musste, beendete er das Gespräch mit der Bemerkung, ich solle vielleicht Bücher über Kinder schreiben. Obwohl ich kürzlich geheiratet hatte und meine Frau mit Kindern arbeitete, beschäftigte mich zu jener Zeit nichts weniger als das. Mit Bangen fragte ich nach seinem Honorar, wobei ich annahm, es wäre angesichts seines Ruhms der Natur nach ein vernichtender Schlag. Milde fragte er mich, ob ich mir 10 Dollar für die Unterredung leisten könne. Beim Rausgehen dachte ich, es gibt tatsächlich so etwas wie Gemeinschaftsgefühl. Auf jeden Fall lehrte mich die Begegnung mit Adler, im Vergleich mit meinem früheren Erlebnis, dass einige es haben und andere sicherlich nicht. 70 Jacob Panken (1879–1968) war ein amerikanischer sozialistischer Politiker, Pazifist und jüdischer Antizionist, der als New Yorker Stadtrichter und häufiger Wahlkandidat der Sozialistischen Partei Amerikas bekannt wurde. 1921 beispielsweise kandidierte er zum Bürgermeister der Stadt New York. Der Children’s Court war ab 1924 ein reguläres New Yorker Gericht für jugendliche Straftäter im Alter zwischen sechs und 16 Jahren. Seine Einrichtung war eine Reaktion auf die rapide steigende Kriminalität vor allem unter schwarzen Jugendlichen in Manhattan. Es arbeitete eng mit Erziehungsberatungsstellen und anderen sozialen Einrichtungen zusammen. Panken wurde an diesem Gericht 1934 zum Richter ernannt. Einiges Aufsehen erregte sein Versuch, Jugendliche mit guter Literatur auf den rechten Weg zurückzuführen. Es wurde zu diesem Zweck unter der Schirmherrschaft von Bürgermeister LaGuardia eine Bibliothek aufgebaut. Das Projekt wurde nur halbherzig verfolgt.

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* * * Marguerite und Willard Beecher Diese Erinnerungen sind Stellungnahmen Adlers, die er abgab, als wir mit ihm zusammenarbeiteten. Sie wurden vielleicht schon von anderen berichtet, die Adler Ähnliches sagen hörten oder die in seinen Schriften auftauchen. »Wenn Sie nur bewusst schlucken könnten, würden Sie ersticken.«71 «Wenn ein Kind im 20. Stock aus dem Fenster klettern will, schnappen Sie es erst und erziehen es später.« »Wenn Sie jemanden in der Mitte eines Sees ertrinken sehen, dann werfen Sie ihm nicht ein Buch mit dem Titel ›Wie man schwimmt‹ zu. Sie retten ihn erst und bringen es ihm später bei.« »Sprechen Sie nicht über die Beschwerden, die ein Patient vorbringt. Das ist eine Nebenvorstellung. Fragen Sie, was er machen würde, wenn er keine Beschwerden mehr hätte. Seine Antwort betrifft jene Aktivität, die er im Hauptzelt72 machen würde, wenn er den Mut hätte, ihr ins Auge zu sehen.« »In der Arbeit mit Kindern sollte man sie immer mit einer Herausforderung, vorwärtszugehen, entlassen.« »Die Arbeit, die gemacht werden muss – darauf kommt es an, nicht, wie sich einer dabei fühlt. Gefühle sind keine Gründe.«

Herbert Schaffer, Dr. med.

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Für Adler werden Ereignisse immer subjektiv interpretiert von der jeweils involvierten Person. Der Stöhner hat immer gute Gründe, zu stöhnen: Einer, der Durst hat, wird klagen: »Ich bin so durstig! Ich bin so durstig!« Jemand gibt ihm ein Glas Wasser, das er austrinkt, um dann im Klagen fortzufahren: »Ich war so durstig! Ich war so durstig!«

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Adler sagte paranoiden Patienten, die glaubten, jedermann beobachte nur sie: »Sie Glücklicher! Wenn ich auf die Straße trete, achtet nicht einmal ein Hund auf mich!«

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71 Original: If you had to have a rule for swallowing, you would choke to death. 72 Original: main tent, bezieht sich möglicherweise auf das Bild vom Leben als einer Zirkusvorstellung. Vielleicht handelt es sich aber auch um eine fehlerhafte Transkription. Arbeit

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Abraham Maslow, Dr. phil., Professor und Vorsitzender der Psychologischen Abteilung der privaten Brandeis University in Waltham, Massachusetts, in der Nähe von Boston73 Es drängt mich, diese Notiz aufzuzeichnen, nachdem ich gerade in einem Buch gelesen habe, dass Adler, der Schüler74, mit Freud, dem Meister, gebrochen hätte. Adler wies diese Interpretation vehement zurück. Ich aß mit ihm im Restaurant des Gramercy Park Hotels zu Abend, wo er ein oder zwei Jahre vor seinem Tod lebte. Ich erinnere mich, dass ich ihm einige Fragen stellte, die seinen Schülerstatus unter Freud betrafen. Er wurde sehr ärgerlich, erregt und sprach laut genug, sodass die Aufmerksamkeit anderer Menschen angezogen wurde. Er sagte, das sei eine Lüge und ein Schwindel, für die er vollständig Freud verantwortlich mache, den er mit Namen wie Schwindler, Schlauberger und Intrigant belegte, soweit ich mich erinnere. Er sagte dann, er sei niemals ein Student Freuds gewesen oder ein Jünger oder Anhänger. Er habe von Anfang an klargemacht, dass er mit Freud nicht übereinstimme und dass er seine eigene Meinung habe. Freud habe vorgeschlagen, sagte er, dass sie versuchen sollten, zusammenzukommen, und vielleicht könnten sie zu einer Übereinstimmung finden. Als die Meinungsverschiedenheiten anhielten und Adler die Gruppe verließ, streute Freud, so Adler, die Version der Trennung, die seitdem von allen akzeptiert werde, nämlich dass Adler ein Schüler Freuds gewesen sei und mit ihm gebrochen habe. Das war es, was Adler bitter werden ließ, zumindest an diesem Abend, und ihn dazu brachte, an Freud als einen Durchtriebenen zu denken. Ich hörte ihn niemals sonst persönliche Meinungen über Freud aussprechen. Dieser Ausbruch muss demnach als ungewöhnlich betrachtet werden. Was diese Begebenheit bedeuten mag und wie wir sie interpretieren sollten, hängt von weiteren Hinweisen ab, die erst gesammelt werden müssen.

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73 Aus: Journal of Individual Psychology, 1962, 18 (2). – Abraham Harold Maslow (1908–1970) war ein US-amerikanischer Psychologe. Er gilt als einer der Begründer der Humanistischen Psychologie. Maslow wurde durch seine Bedürfnispyramide bekannt. Er traf Adler 1935 oder 1936 aus einem nicht bekannten Grund in New York. Quelle: Maslow, A. H. (1962): Was Adler a Disciple of Freud? In: The Journal of Individual Psychology, 18, S. 125. 74 Maslow verwendet das Wort disciple, was auch Jünger oder Anhänger heißen kann.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Asya L. Kadis, Dozentin am Alfred Adler Institute, New York; Direktorin der Abteilung für Gruppentherapie und Koordinatorin der Abteilung für Familientherapie der Alfred Adler Mental Hygiene Clinic, New York Meine erste Begegnung mit Alfred Adler hatte ich als Beobachterin einer von ihm geleiteten Therapiesitzung mit einer Familie: ein Vater, eine Mutter und ein 19- oder 20-jähriger Sohn, der wegen eines kleinen Diebstahls zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Die Eltern konsultierten verzweifelt Alfred Adler wegen der negativen Einstellung des Sohnes. Wir fanden die Befragung ziemlich aufregend und ebenso informativ. Der Junge war den Fragen gegenüber teilnahmslos. Die Mutter berichtete: »Er arbeitet nicht, er geht nicht zur Schule, er macht gar nichts – außer die ganze Zeit schlafen. Wenn er den Mund aufmacht, dann redet er von nichts als vom Spaßhaben und Ins-Kino-Gehen.« Nachdem er einige Fragen formuliert hatte, sagte Adler dem Jungen: »Ich verstehe es so, dass Sie ins Gefängnis gehen müssen. Das ist hart. Sagen Sie mir: Was machen Sie, wenn Sie wieder rauskommen?« Nach einer langen Pause erwiderte der Jugendliche: »Ich habe nicht darüber nachgedacht.« Adler sagte: »Vielleicht sollten Sie es. Sie werden nur kurze Zeit im Gefängnis sein.« Wir konnten sehen, wie sich der Junge in seinem Stuhl aufrichtete. In wenigen Worten hatte ihm Adler seine Zukunft skizziert.

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Eine andere Erinnerung betrifft meine letzte Begegnung mit Adler 1936 in Wien. Er bat mich, ihn im Hotel Regina zu treffen und ihm über die adlerianische Bewegung in den Baltischen Staaten zu berichten. Ich war betrübt, ihm die enttäuschende Nachricht überbringen zu müssen, dass die Dinge sehr schlecht standen. Ich beschrieb die verschiedenen Probleme und schloss mit dem Satz, dass wir wahrscheinlich zumachen müssten. Nach einigen Augenblicken sagte Adler in seiner gewohnt ruhigen Art: »Was machen Sie, wenn Sie irgendwo eine dringliche Arbeit tun müssen und das Wetter ist schrecklich? Bleiben Sie zu Hause wegen Regen, Hagel oder Schneesturm?« Obwohl mich diese Frage verwirrte, entschloss ich mich zu einer Antwort geradeheraus: »Natürlich nicht. Wenn es sein muss, ziehe ich einen dicken Mantel und Überschuhe an, nehmen einen Regenhut oder einen Schirm und gehe raus.« »Ist das nicht dieselbe Situation? Wenn es wichtig genug ist, warum ziehen Sie nicht ihre schützendste Kleidung an und machen weiter?« Ich lachte, weil ich verstand, was er sagte. Ich hatte den Eindruck, dass die Botschaft sehr persönlich war und nicht nur bezogen auf die Entwicklung der adlerianischen Bewegung in den Baltischen Staaten. Er wies mich freundlich auf meine eigene große Empfindlichkeit gegenüber Schmerzen und Frustrationen hin. Ich fühle mich in mehrerer Hinsicht Arbeit

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tief in Adlers Schuld. Als dieser Aspekt enthüllt war, half mir sein indirekter Zuspruch nicht nur beruflich, sondern ebenso in meinem persönlichen Leben und auch im Hinblick auf die Anpassung an eine neue Phase meines Lebens in den Vereinigten Staaten. Merrill Moore

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Einmal, als Dr. Adler in Boston war, bat ich ihn, im Krankenhaus einen Fall zu präsentieren. Er tat es, und als die Besprechung zu Ende war, sprachen wir über den Fall, bei dem es um Voyeurismus ging. Wir sprachen über einige Details, als mich Adler unterbrach und sagte: »Ich denke darüber folgendermaßen: Angenommen, Sie kommen in das Zimmer und sehen einen Mann, der gegen die Wand springt. Sie werden doch denken, der ist verrückt; doch wenn Sie wissen, dass er versucht, auf dem Kaminsims zu sitzen, würden Sie nicht annehmen, dass sein Verhalten so eigentümlich ist. Sie müssen das Verhalten der Person verstehen in Bezug auf das, was er versucht zu tun. Sie müssen sein Ziel kennen, bevor Sie sein Benehmen verstehen.«

Harry Sicher

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Eine von Adlers größten Fähigkeiten als Lehrer war die, seine Vorlesungen mit lebendigen Bildern zu illustrieren. Einmal sprach er über die Schwierigkeit der Psychotherapie und dass es für den Patienten nicht leicht ist, einen Ausweg zu finden. »Ein neurotischer Patient«, sagte er, »ist wie ein Mensch, gefangen in einem Raum ohne Fenster, ohne Tür, aus dem nur ein enges Loch in Bodennähe herausführt, gerade groß genug, um sich durchzuquetschen. Er hämmert gegen die Wand, wünschend und betend, dass sich plötzlich eine Tür öffnen möge. Oder er bittet seinen Arzt, mit einem magischen Wort eine Tür zu öffnen. Es gibt für ihn nur einen Weg raus: Er muss sich auf den Bauch legen und sich durch das schmale Loch winden. Aber wenn er das macht, ist er plötzlich frei.«

Nahum E. Shoobs

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Alfred Adler war ein ethischer Nachkomme alter Propheten. Seine Weisheit war unmittelbar weitsichtig und sofort nützlich. Er war ebenso damit beschäftigt, den Menschen zu helfen, ihre Gemeinschaft zu einem guten Ort zum Leben zu 96

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

machen, wie er ein Pragmatiker in dem Sinne war, dass er Verhalten danach untersuchte, ob es anderen hilft oder sie behindert. Beispielsweise legte ich einmal auf Dr. Adlers Vorschlag hin ihm mein Erstinterview mit einer Patientin vor. Sie litt unter Depressionen und einer Schilddrüsenfehlfunktion. Ich kann immer noch Dr. Adler vor mir sehen, wie er seinen Zwicker abnahm, um meinen Bericht zu lesen. Nachdem er geendet hatte, setzte er seinen Zwicker wieder auf und sagte ruhig: »Shoobs, Sie sind qualifiziert, sie zu behandeln, aber da sie eine Medikation benötigt, sollte sich – so denke ich – ein Psychiater um sie kümmern.« »Aber sie hat nicht viel Geld«, warf ich ein. Adler blieb ruhig. »Ich kann keinen Psychiater bitten, sie für nichts zu behandeln«, fuhr ich fort. Daraufhin sagte Adler in seiner eigenen freundlichen Art: »Nun, dann schicken Sie sie zu mir.«

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Als wir Adler nach unserer Rückkehr aus China besuchten, sagten wir ihm: »Da gibt es einen Burschen in China, der Ihre Sachen stiehlt.« Adler: »Wer?« Wir: »Konfuzius!« Dr. Adler lachte und sagte: »Man nennt mich den Konfuzius des Westens.«75

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Einmal war ich Direktor einer Erwachsenen-Bildungseinrichtung. Man wollte Dr. Adler hören und erleben. Bei Gelegenheit organisierte ich eine psychologische Gruppe für Dr. Adler. Jedes Mal nannte er eine lächerlich geringe Honorarsumme. Ich musste ihn daran erinnern: »Sie sind Dr. Adler!« Also stimmte er zu, die Summe zu verdoppeln, aber selbst dann war sie niedrig, viel zu niedrig.

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Zur ersten Sitzung der Gruppe kamen auch drei junge Männer. Ich bat sie um ihr Eintrittsgeld. Dr. Adler trat schnell hinzu und sagte: »Ich habe die drei eingeladen.« Und dann flüsterte er mir zu: »Das sind arme Schlucker. Lassen Sie sie umsonst rein.«

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75 Manès Sperber bewunderte in seiner Schrift »Alfred Adler: Der Mensch und seine Lehre« (1926) Adler als den »Konfuzius des Westens« und das »soziale Genie unserer Zeit«; auch der britische Adler-Unterstützer Philip Mairet (1886–1975) nannte Adler den »Confucius of the West« im Vorwort zu »The Science of Living« – Adler, Alfred (1929): The Science of Living. Mit einem Vorwort von Phillipe (Philip) Mairet. New York (Greenberg), S. 30. Arbeit

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Frederic Feichtinger, Dr. med., Assistenzprofessor für Klinische Psychiatrie am College of Medicine der Universität von New York Ich hatte das Glück, mit Adler zusammenzuarbeiten, als er Professor für Psychiatrie am Long Island College of Medicine war. Kurz bevor er nach England zu einer Vortragstour aufbrach, litt er an einem grippalen Infekt, der nach mehr als einer bloßen Erkältung aussah. Er blieb den Fallbesprechungen und dem Krankenhaus ein paar Tage fern, was für ihn ungewöhnlich war. Als er die Arbeit wieder aufnahm, sah er recht angegriffen aus. Ich fragte ihn, wie er sich fühle. Er erzählte mir, dass er – neben der Erkältung – etwas Blut gehustet habe. Ich wurde ziemlich besorgt und schlug vor, für eine Rundumuntersuchung gleich einen Arzt aufzusuchen, bevor er nach Europa aufbreche. Wir alle wissen, welch bescheidener und freundlicher Mensch er war. Mit einem Lächeln sagte er: »Ich sag’ Ihnen mal was: Machen Sie sich um mich niemals Sorgen, alles ist in Ordnung.« Dann fügte er hinzu: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich habe vor, eine eigene Praxis aufzumachen (er praktizierte im Gramercy Park Hotel, wo er auch wohnte), und ich möchte, dass Sie und Dr. Allen mit mir kommen. Schauen Sie sich nach einem Büro um, und wenn ich zurückkomme, legen wir mit unserer Privatpraxis los.« Wir fanden ein wunderbares Büro gleich in der Nähe des Hotels, Gramercy Park Nr. 2. Man kann sich unseren Schock und unsere Trauer vorstellen, als wir wenig später von seinem plötzlichen und vorzeitigen Tod in Schottland hörten.

Jim Bishop, Autor76

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Jeden Samstagmorgen gab es Falldemonstrationen. Um zehn Uhr füllte sich das dunkle, kühle Auditorium mit Ärzten. Sie schwatzten und blätterten durch ihre Notizbücher. Eine Assistentin kam nach vorne und kündigte an: »Meine Herren, Doktor Adler.« Die Konversation verstummte. Ein kleiner, dicker Mann betrat das Podium. Er hatte keinen Hals. Er sah aus wie ein kleines Ei auf einem großen Ei. Die Brille war randlos. Sein Name war Dr. Adler, Arzt, Psychologe. Hier in Wien, von wo das ernsthafte Studium des Gemüts77 ausging, behandelte Adler einfache Fälle zur Erbauung von deutschen Ärzten. Der erste Fall war der einzig interessante des Tages. Es handelte sich um einen blonden Jungen. Sein Ausdruck war nachtragend, seine kleinen Fäuste ballten 76 Aus: Journal American, 1960. 77 Original: mind.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

und entspannten sich an den Nähten seiner Kniebundhose. Die Assistentin gab Adler die Fallgeschichte. »Ah«, sagte der Doktor beim Lesen, »er bewirft die Lehrerin mit Radiergummis. Der Schulvorsteher schickte ihn mehrmals nach Hause, dennoch warf er immer wieder.« Er schaute auf den Jungen hinunter. »Machst du das, wenn dir die Lehrerin den Rücken zuwendet?« Der Junge schaute auf den Bühnenboden. »Würdest du bitte antworten«, sagte der Doktor freundlich. Er gab keine Antwort. »Fürchtest du dich, mich anzuschauen?«, fragte Adler. Der Junge schaute plötzlich auf. Das Wort »Furcht« war eine Herausforderung für ihn. »Wie alt bist du?«, fragte der Doktor. Der Junge beschrieb mit dem Schuh einen Kreis. »Zehn«, sagte er. »Zehn?«, fragte der Doktor und wich zurück. »Du bist klein für zehn, oder?« Die kleinen blauen Augen des Jungen hefteten sich giftig an den Doktor. »Schau mich mal an«, sagte der Doktor. »Ich bin klein mit vierzig. Wir Kleinen müssen beweisen, dass wir groß sind. Wir werfen Radiergummis nach Lehrern. Ist das nicht so, Willi?« Die Augen blieben am Boden. Es gab ein leichtes Achselzucken. »Komm, Willi, schau mich an. Was mache ich jetzt?« Der Junge schaute hoch. Der Doktor stellte sich langsam auf seine Zehenspitzen und ließ sich wieder runter. Er wiederholte es. »Weißt du, was ich mache?« Der Junge schaute hoch. »Willi«, sagte der Doktor, »ich mache mich größer, als ich bin.« Der Junge lächelte fast. Er versteckte es hinter einem Gähnen wie in der Kirche. »Nimmst du am Sport teil, Willi?« Der Junge begann, Interesse zu zeigen. »Natürlich machst du das. Ich wette, ich kann dir sagen, was dein Lieblingssport ist.« Der Junge entspannte sich. »Du spielst Rugby.« Willis Augen wurden groß. »Du spielst Rugby, weil das ein rauer Sport ist. Du musst immer beweisen, dass du groß bist. Ich kann sogar ahnen, welche Position du spielt, Willi. Du bist der Torhüter, oder?« Willi nickte langsam. »Und warum bist du der Torhüter? Ich sag’s dir. Wie anders kannst du beweisen, dass du groß bist, als durch das Verhindern eines Tores?« Dem Jungen fielen die Augen aus dem Kopf. Dr. Adler stellte sich langsam auf die Zehenspitzen und ließ sich wieder runter. »Ich muss größer sein, als ich bin«, sagte er. »Ich muss es jedermann beweisen und mir selbst. Ich muss besser spielen als die großen Jungs, ich muss besser kämpfen als die großen Jungs. Und ich muss der Autorität trotzen – indem ich Radiergummis auf meinen Lehrer werfe.« Dr. Adler holte Willis Mutter aufs Podium. Er unterhielt sich mit ihr flüsternd. Als sie ging, nahm sie Willi mit sich. Fast ein Jahr später schrieb die Assistentin einen Nachsatz zu dem Fall: Arbeit

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»Patient Willi kehrte in seine Klasse zurück. Betragen ist exzellent. Ein Rückfall. Lehrerin sagt, es geschah nach drei Wochen. Sie stand an der Tafel. Radiergummi traf Tafel neben ihrem Kopf. Sie erinnerte sich an ärztliche Anweisung, sagte nichts, ging rüber zum Gang, wo Willi saß, stellte sich vor ihn, stellte sich zweimal auf die Zehenspitzen, nahm Unterricht wieder auf. Keine Probleme seitdem …« Sydney Roth

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In den frühen 1930er Jahren lud mich Dr. Adler ein, seinen Kurs für Medizinstudenten am Long Island Medical College zu besuchen. Ich erinnere mich sehr lebhaft, wie er bei einem meiner Besuche zu seiner Klasse sagte: »Wenn Sie einen Erfolg bei Ihren Patienten haben wollen, wenn Sie Ergebnisse haben wollen, können Sie ihnen nicht wirklich helfen.« Und er fuhr fort: »Und wenn Sie nur einen Gedanken daran verwenden, ob er sie bezahlen kann, können Sie ihm wirklich nicht helfen.«

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Irvin Neufeld, Dr. med., Berater an der Alfred Adler Mental Hygiene Clinic, New York; Dozent am Alfred Adler Institute, New York78 Nach einem ungewöhnlich lebhaften Vortrag lud Dr. Adler einige Ärzte in ein kleines Wiener Café ein, um weiter zu diskutieren und zu planen. Sein Vortrag über das »Problemkind« war funkelnd witzig. Seine Ausarbeitungen über kreative Kraft, Mut, Verantwortung, Menschlichkeitsgefühl ebenso wie Gemeinschaftsgefühl und andere Themen blieben mir in lebendiger Erinnerung als unmissverständliche Vorläufer eines »pädiatrischen Existenzialismus«. Auf die Vorlesung folgte eine lange Frage- und Antwortrunde. Viele Kritikpunkte und Fragen wurden aufgeworfen, speziell zum Thema »kreative Kraft«. Adlers Antworten schienen einige Fragesteller nicht zu befriedigen. Ein Kinderarzt – einer von den neuen »Adler-Sympathisanten« – erklärte, das ganze Konzept von der »kreativen Kraft« sei reichlich mysteriös. Adler erwiderte: »Doktor, das ganze Konzept vom menschlichen Leben ist sehr mysteriös. Und kreative Kraft ist ein wichtiger Teil des menschlichen Lebens, wenn Sie so wollen.« Weitere Fragen zur kreativen Kraft wurden gestellt und Adler beantwortete diese und weitere Fragen brillant. In der kleinen Runde im Caféhaus sagte ich Dr. Adler, ich bezweifle, dass die kreative Kraft dem verheerenden Eindruck entgegenwirken kann, den ein 78 Aus: Individual Psychologist, Mai 1967, 4 (2).

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

armer Junge empfindet, der seinen Schulkameraden dabei zusieht, wie denen ihr Pausenbrot schmeckt – Schinken oder Salami, Orangen und andere Köstlichkeiten –, während er nur ein Stück Brot oder einen Apfel hat oder nicht einmal das. Seine Antwort war, dass die glücklicheren Schulkameraden mit genügend Gemeinschaftsgefühl79 schon dafür sorgen würden, dass der arme Junge nicht hungert. Da ich den Eindruck hatte, dass Adler meiner Frage auswich, fragte ich ihn, ob er nicht glaube, dass diese Situation bei dem armen Schuljungen eine Demütigung hinterlassen würde, die noch schlimmer sei als der Hunger selbst. Er antwortete umgehend in einem sehr ernsten Ton: »Junger Freund, Sie werden zugeben, dass viele solcher gedemütigten Schulkinder mehr im Leben erreichen als ihre glücklichen Kameraden. Kreative Kraft vermag alles gegen alles. Wenn Sie es wissen wollen, denken Sie darüber nach.« Manchmal denke ich, ich habe die Antwort gefunden.

Heinz Ansbacher

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Ich traf Adler erstmals in zwei Aufbaukursen an der Columbia University. Ich war damals in New York, hatte viel zu tun und mochte es überhaupt nicht. Als ich losging, um jene Aufbau-Vorlesungen von ihm zu hören, war das mein erster Kontakt mit der Psychologie. Dann verging einige Zeit, und ich kehrte zu ihm zurück zu einer Beratung. Eines meiner Probleme – nicht das einzige – war die Frage, welchen Beruf ich wählen sollte, denn ich war überhaupt nicht glücklich mit dem, was ich tat. Als er begriff, was mein Problem war – die Berufswahl –, sagte er: »Warum werden Sie nicht Berufsberater?« Im Rückblick sehe ich, wie konstruktiv das war bei Adler, weil das im Wesentlichen die Grundidee der Therapie insgesamt ist – jemandes Interesse von der nutzlosen Seite zur nützlicheren Seite zu lenken. Statt über deinen derzeitigen Beruf zu jammern, wende dein Wissen und Interesse ernsthaft den Berufen anderer Menschen zu. Eine seiner Haupteigenschaften war das echte Interesse an Menschen – er war praktisch leidenschaftlich. Ich ging zu weiteren Vorträgen von ihm und manchmal fuhr ich ihn nach Hause zu seinem Hotel in New York. Er stoppte immer und kaufte die Frühausgabe der Morgenzeitung, die abends ab 22:00 Uhr verkauft wurde. Er las die Boulevardzeitungen mit großem Interesse, weil er wissen wollte, was los ist. Wenn er freie Zeit hatte, ging er gern ins Kino und war sehr interessiert an der Darstellung. Das faszinierte ihn, denn er verstand Menschen nicht nur, indem er sie nach ihren frühen Erinnerungen und Träumen 79 Original: social interest. Arbeit

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fragte; alles sprach zu ihm: ihre Bewegungen, ihre stille Sprache. Er hatte wirklich ein großes Talent – das Verstehen der Bewegungen und Sichtweisen der Menschen. Er hörte nicht nur zu.

Margery Denham

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Adler machte eine Bemerkung, die trotz ihrer Kürze viel verdeutlichen kann. Es war seine Antwort auf die Frage: Was ist der Unterschied zwischen Gehirn und Geist?«80 Nach nur fünf Sekunden brachte er die Sache auf den Punkt: »Gehirn ist ein Instrument; Geist ist Teil des Lebens.«

Sophia de Vries

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Im Mai 1937 fand ein Wochenendseminar an der International School for Philosophy in Amersfoort (Holland) statt. Der Vorsitzende Dr. Ronge war der erste Arzt, der Adlers Theorien in den Niederlanden bekannt machte. Er begleitete Adler zum Podium, wobei er ihn darüber informierte, dass das angekündigte Thema »Die Differenzen zwischen den Theorien von Freud und Adler« laute. Er bekam einen langen Seitenblick von Adler, dessen Sinn für Humor wohlbekannt war. Und tatsächlich wurde die Morgensitzung mit Bemerkungen aufgepeppt, die in den Reihen der Adlerianer Gelächter hervorriefen, aber die für die Freudianer schmerzlich geklungen haben müssen. Es gab wenige Fragen, aber wir bemerkten ärgerliche Gesichter. Beim Mittagessen schlugen einige von uns vor, Adler darüber etwas zu sagen, aber Dr. Ronge lehnte das ab, wusste er doch, dass das ein sehr sensibles Thema war. Kurz vor der Nachmittagssitzung passte ich jedoch Adler ab und deutete an, dass die anwesenden Freudianer seinen Wiener Humor vielleicht nicht ganz so gut aufgenommen hätten. Adler runzelte die Stirn. »Wenn Sie glauben, Sie können es besser, warum sprechen Sie dann nicht? Ich habe um der Wahrheit willen gesprochen.« »Und ich habe Sie angesprochen um eines guten Zwecks willen«, war meine Antwort. Inzwischen hatte ich das Gefühl, dass ich gepfuscht hatte. Er ging aufs Podium hoch und seine melodiöse Stimme setzte ein. »Meine Damen und Herren, sollte ich mir heute Morgen einige Bemerkungen erlaubt haben, die für einige von Ihnen bitter gewesen sind, so bitte ich um Vergebung.« Es folgte eine inspirierte, hochgeistige Fortsetzung des Themas, die auf tosenden 80 Original: brain and mind.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Applaus und eine Kanonade von Fragen traf, bis die Glocke zum Abendessen läutete. Adler winkte mich herbei, schüttelte meine Hand und sagte lächelnd: »Sehen Sie, das war Ihr Erfolg.« Nur ein großer Mann konnte das tun, was er an jenem Nachmittag tat.

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1937, als Adler zum letzten Mal in meiner holländischen Heimatstadt Vorlesungen hielt, hatte ich die Ehre, ihn einzuführen. Das Auditorium setzte sich aus Hochschulprofessoren, Erziehern und Eltern zusammen. Letztere hatten gefragt, ob sie Adlers Gedanken darüber hören könnten, was in der Kindererziehung am allerwichtigsten sei. Das gewählte Thema lautete »Gemeinschaftsgefühl«, der gemeinsame Nenner bei allen emotionalen und geistigen Krankheiten – ein Wort, das mit »Social Interest« nur unzureichend übersetzt ist. Adler hielt einen brillanten Vortrag, endend mit: »Und nun, nachdem ich Ihnen, meine Hörer, das Gemeinschaftsgefühl erläutert habe, habe ich auf Ihre Schultern die Last der Verantwortung gelegt, denn jene, die wissen, müssen die Aufgabe erledigen, der Menschheit beim nächsten Schritt in eine bessere Zukunft zu helfen.« Das waren die letzten Worte, die ich von dem großen Lehrer Alfred Adler hörte. Als uns wenig später die tragische Nachricht von seinem plötzlichen Tod in Aberdeen erreichte, fühlten wir, dass er uns ein Erbe hinterlassen hatte. Alle, die Adler kannten und verstanden, können nicht anders, als seine letzte Botschaft für den Rest ihres Lebens weiterzutragen.

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James Hemming, pädagogischer Psychologe, Autor, Dozent aus London, England81 Diese Geschichte trug sich zu, als Alfred Adler auf einem Kongress in den Vereinigten Staaten über Kindesentwicklung sprach. Adler hatte seine Rede beendet und es war Zeit für Fragen. Plötzlich stand ein riesiger Mann auf, einer der schwarzen Zuhörer, verließ seinen Sitz und ging, mit seiner großen Hand auf den Redner weisend, den Gang hinunter auf die Bühne zu. Er schien entschlossen, etwas Bestimmtes für seine Organisation, die er vertrat, mitzunehmen. »Sagen Sie mir, Dr. Adler«, rief er, »was sind die drei wichtigsten Sachen, die man sich merken muss, wenn man kleinen Kindern hilft?« »Die erste«, antwortet Adler sofort, »ist die Ermutigung des Kindes.« »Ja, Dr. Adler. Und der zweite Punkt?« 81 Aus: Individual Psychology Newsletter, September/Oktober 1976, 5 (5). Arbeit

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»Der zweite Punkt«, antwortete Adler, »ist, dem Kind zu helfen, auf die Nützlichkeitsseite des Lebens zu kommen.« Der Zuhörer war zufrieden mit den Antworten, stürmte vorwärts, während er weiter mit dem Finger in die Luft stach. Er, eine große, aufragende Figur, war jetzt bei der Tribüne. Seine Stimme dröhnte erneut: »Und der dritte höchst wichtige Punkt, Dr. Adler, der dritte höchst wichtige Punkt, den wir wissen müssen, wenn wir dem Kleinkind helfen?« Adler zögerte und suchte in seinen Gedanken nach einem Grundsatz, an dem er sich festhaken könnte. Der Frager stand da, ganz Erwartung. Die Zuhörer lauschten. Dann sagte er: »Der dritte höchst wichtige Punkt … der dritte höchst wichtige Punkt ist … niemals die beiden anderen zu vergessen!«

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Jacques F. De Busscher, (1902–1966), Arzt, Professor für Neurologie, Psychiatrie und Orthopädagogik82, Gent State University (Belgien). Grußadresse am 12. Juni 1938 an die Belgische Liga für mentale Hygiene in Erinnerung an Alfred Adler, übermittelt von Dr. Joseph Meiers Adlers außerordentliche Gabe der Darstellung erlaubte es ihm, die Gesamtheit seiner Theorien in wenigen Vorlesungen zu erläutern – in einer Sprache, die alle verstehen. Er führte seinen Zuschauern ein kohärentes System vor Augen, das in der Lage ist, die Mehrheit der beobachteten Fakten der zeitgenössischen normalen und pathologischen Psychologie zu integrieren. Dieser große Gelehrte, Adler, verachtete immer den Schein von Tiefe auf Kosten der Klarheit. Vierzig Jahre seines Lebens verbrachte er damit, sich in den Dienst aller zu stellen – vielleicht mit Ausnahme derjenigen, die die »Wissenschaftlichkeit« von Konzepten an der Zahl lateinischer oder griechischer Ausdrücke festmachen oder an ihrer Nähe zu modischen Themen, mit einem großen Aufwand an Diagrammen und einem großen Massaker an Versuchstieren. Darum liebten ihn jene, die ihm nahe waren, Patienten und Studenten, so sehr.

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82 (Ortho: gerade, aufrecht, richtig, recht) kann in verschiedener Weise gelesen werden: zum einen als richtige Pädagogik, zweitens auch als die individuell rechte, im Sinne von individuell angemessene Pädagogik, drittens als gerechte Pädagogik, die die Lage des Individuums in seiner Lebensumwelt berücksichtigt.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Phyllis Bottome83 Voller Lebenslust – seine funkelnden Augen wie die Augen eines Pariser Gassenjungen84 – seine hohe Stirn, die Stirn eines Weisen – er saß auf der Kante seines Stuhls –, seine baumelnden Füße, als ob nur ein Scherz ihn dort halten konnte. »Meine Wissenschaft«, schrieb er einem Patienten, »hat immer Heiterkeit beinhaltet!«

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Adler bemerkte drei Tage vor seinem Tod: »Ich glaube, dass ich in meinem Leben einige nützliche Entdeckungen gemacht habe und dass sie deshalb eine bleibende Leistung für die Menschheit sein werden. Das macht mich glücklich.«

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83 Aus: Bottome, Phyllis (1945): From the Life. London (Faber & Faber). 84 Am. Original: a Paris gamin. Gamin ist französisch und bezeichnet einen Bengel, ein verwahrlostes oder ungezogenes Kind. Arbeit

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Dreißig Tage mit Alfred Adler Evelyn Feldmann85

Evelyn Feldmann war Alfred Adlers Sekretärin von 1935 bis 1937. Zu der Zeit hieß sie Evelyn Roth. Sie war eine enge Freundin der Familie und begleitete Adler und seine Frau Raissa auf den Vortragsreisen. Die folgenden Notizen, mit Ausnahme einiger von Feldmann hinzugefügter Anmerkungen, stammen aus ihrem Tagebuch und dem Terminkalender, den sie für Adler während seiner Vortragsreise in England 1936 führte, ein Jahr vor seinem Tod. Frau Feldmann hob auch Zeitungsausschnitte aus dieser Zeit auf, die ihrer Darstellung Gewicht geben und den Hintergrund ihres eigenen Zugangs erhellen. Sie unterstreichen das beeindruckende Interesse an Adler und den Beifall, den er erhielt. Auszüge aus den Zeitungsausschnitten werden in Klammern eingefügt. Einige weitere wichtige Daten trug Heinz L. Ansbacher bei, sie werden in derselben Art eingefügt. Freitag, 24. Mai An Bord des Dampfschiffes »Manhattan«. Dr. Adler diktiert einen Artikel für den »Delineator«86 mit dem Titel »Der Minderwertigkeitskomplex bei Frauen«. (Das Schicksal dieses Artikels ist unbekannt. Aber Adler gab der Zeitschrift kürzlich ein Interview mit dem Titel »Sprechstunde für kranke Ehen«.87) Samstag, 25. April Dr. Adler seekrank. Kurz zuvor hatte er erklärt, dass Menschen, die seekrank werden, solche sind, die kontrollieren wollen. Wenn sie das nicht können, weil

85 Nachdruck aus: Journal of Individual Psychology, 1972, 28 (1), S. 81–89. 86 »The Delineator« war ein 1875 gegründetes Frauen- und Modemagazin. Es ging 1937 im »Pictorial Review« auf. 87 Adler, Alfred (1929): »Clinic for Sick Marriages«. Interview mit Helena H. Smith. In: Delineator, 115, Oktober, S. 12, 56, 59.

sie auf einem Schiff oder in einem Zug sind, werden sie seekrank.88 […] Plötzlich verschwand er. Später am Nachmittag, als Adler Frau Adler und mich traf und begann, einige Briefe zu diktieren, sprach ich ihn an. »Übrigens, Dr. Adler, wie war das mit dem, was Sie über Leute sagten, die ihre Kontrolle behalten wollen, und Seekrankheit?« »Das wird schon so stimmen,89 Mrs. Roth; nun einen Brief.« Freitag, 1. Mai London. Wir übernachten im Basil Street Hotel, Knightsbridge. SW3. Dr. Adler hält Vorlesungen in Exeter. Samstag, 2. Mai Adler hält Vorlesungen in Folner90. Sonntag, 3. Mai Dr. Adler kehrt vorzeitig zurück; er brach seine Rundreise ab. Er hätte es nicht getan, wäre ich nicht da, um als eine Art Puffer zu wirken. Er widerstand der Verehrung. Nachdem er Vorlesungen gab, Patienten sah usw., wollte er allein sein. Er pflegte zu sagen: »Lass sie ihre eigene Zeit vergeuden, nicht meine.« Entdeckt, was für eine große Hilfe ich für ihn bin. Montag, 4. Mai Mittagessen im Hotel Grand Central, Wharncliffe Rooms, Marylebone Road, auf Einladung des Instituts für Medizinische Psychologie, wo Adler hoch geehrt wurde. Ungefähr 5.000 Leute anwesend. Ich war stolz, am Rednertisch zu sitzen. 15:00 Uhr Zug nach Cardiff, Wales. Der Zug hatte Verspätung und wir waren besorgt, ob wir zur Vorlesung zu spät kommen. Phyllis Bottome und ihr Mann A. E. Forbes-Dennis holten uns mit Fotografen vom Zug ab. (Frau Bottome ist eine bekannte Schriftstellerin und gute Freundin Adlers, die seine Biografin wurde.91) 20:00 Uhr Vorlesung am University College of South Wales and Monmouthshire, Cathays Park, Cardiff. Die Vorlesung war gerammelt voll und ein großer Erfolg. Wir übernachteten im Hotel Angel. 88 Der folgende Satz lautet: I was on a hobby horse in the gymnasium while he was generously giving forth who can’t stand be out of control – and suddenly he disappeared. 89 Original: That will do. 90 Unbekannt. 91 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler. A Portrait from Life. 3rd ed., New York (Vanguard). Deutsch: Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert. Hg. von Klaus Hölzer. Berlin 2013 (Verlag für Tiefenpsychologie und Anthropologie – VTA). Dreißig Tage mit Alfred Adler

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Dienstag, 5. Mai Besuch Cardiff Mental Hospital. (Frau Bottome berichtet in ihre Autobiografie, dass es ein Dr. Muriel Borthcote im Cardiff Mental Hospital war, »der mir die Chance gab, den Stoff zu beschaffen, den ich für »Private Worlds« benutzte«,92 ein Roman über Nervenkliniken und Geisteskrankheiten.) Später große Zeremonie zu Ehren Dr. Adlers beim Bürgermeister von Cardiff. Adler wurde gebeten, sich ins Goldene Buch der Stadt einzutragen. Was glaubst du, hat Adler gemacht? Er ging nach vorne, nahm den gefiederten Stift und sagte: »Es würde mich sehr erfreuen, wenn Sie meiner Sekretärin, Mrs. Roth, erlauben würden, für mich zu signieren.« Ich trat vor, nahm die Feder und mit dem größten Stolz, den ich jemals empfand, schrieb ich: »Professor Alfred Adler by Evelyn Mary Roth«. Man braucht nicht zu erwähnen, warum Adler das tat. Ich habe ein Faible für königliche Abstammung, das Adler kannte. Das war nicht das erste Mal, dass er mir »königliche« Anerkennung gab. Er besaß eine tiefe Freundlichkeit und einen herrlichen Sinn für Humor. Er machte mit jenen, die ihm nahestanden, immer etwas wohl Überlegtes und Überraschendes. Zug zurück mit den Forbes-Dennis. Zurück im Hotel gab Adler einem Reporter des »Evening Standard« ein Interview. (Das Interview mit Dudley Barker erschien am nächsten Tag, 6. Mai, im »Evening Standard«. Wir finden das Folgende besonders interessant: »Dr. Adler wollte die Haltung eines Menschen zum Ausdruck bringen, der sich geschlagen fühlt, der fühlt, dass er nicht erreichen kann, was er muss. Er nennt diese Haltung einen ›Minderwertigkeitskomplex‹. ›Aber das ist nur ein Begriff‹, betonte er. ›Alle Welt benutzt es jetzt, aber ich selbst benutze es selten. Es hat durch seine Popularität eine etwas merkwürdige Bedeutung erhalten, Bedeutungen, die ich niemals beabsichtigt hatte.‹« Das erinnert uns daran, was heute mit Adlers Ausdruck »Lebensstil« passiert.) Mittwoch, 6. Mai Wir, das sind Dr. Adler, Frau Adler, die Forbes-Dennis und ich, fahren früh los nach Oxford. Eingeladen zum Mittagessen bei Frau Lord und Tochter, im Ausland lebende Amerikaner, und Abschlussprüfungen in Oxford. Ich war schwer beeindruckt von der 400 bis 600 Jahre alten Erziehungstradition. 92 Bottome, Phyllis (1962): The Goal. New York (Vanguard), S. 253 [Autobiografie]. – »Private Worlds« wurde 1935 mit den damaligen Weltstars Claudette Colbert und Charles Boyer verfilmt. Der Film handelt von der Belegschaft und den Patienten einer Nervenklinik und dem Chef des Krankenhauses, der Probleme mit weiblichen Psychiatern hat.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Teeempfang in Christ Church93, Oxford University, zu Ehren Dr. Adlers. Nach dem Tee hielt Dr. Adler um 17:00 Uhr einen Vortrag vor den Studenten über »Individualpsychologie«. Ein Streit wurde von den anwesenden Freudianern vom Zaun gebrochen, die Adler unverfroren einen abgespeckten Freud nannten. Adler nahm den Aufstand freundlich, schlug eine Debatte vor – und nach den »Hört, hört«-Rufen zu urteilen gewann er. Am Abend ein privates Galadiner im Kardinal-Wolsey-Zimmer, Christ Church, wieder zu Ehren Dr. Adlers. Sehr wenige Amerikaner wurden bisher in den Kardinal-Wolsey-Raum zum Galadiner eingeladen. Nach dem Essen fuhren wir alle nach London zurück. Donnerstag, 7. Mai Abends. Vortrag vor der Medical Society of Individual Psychology in der Great Hall der British Medical Association. Es war eine offizielle Angelegenheit. Auch ich saß auf der Rednertribüne. Der Vorlesung war eine Pressekonferenz in unserem Hotel um 17:00 Uhr vorausgegangen. Freitag, 8. Mai Mittags kamen Fotografen. Nachmittags gingen wir zur höchst attraktiven Wohnung von Ivor Novello, dem Schauspieler, Dramatiker und Komponisten, der zufälligerweise in Cardiff geboren wurde. Es war ein Pressetermin. Etwa 25 bis 30 Reporter kamen und kostspielige Erfrischungen wurden gereicht. 20:00 Uhr Vorlesung am Institut für Medizinische Psychologie, mit Dr. J. R. Rees als Vorsitzendem. Samstag, 9. Mai Sehr schöner Tag. Auf unserem Weg nach Maidstone, Kent, erfreute uns Frau Jephson mit einem Mittagessen in ihrem 400 Jahre alten Cottage mit wunderschönen Orchideen und Garten. Dann weiter nach Maidstone zur CaldecottGemeindeschule. 16:00 Uhr Vorlesung dort über »The Science of Living«94. Nach der Vorlesung fuhren uns Herr und Frau Professor Arthur Ellis zu sich nach Hause zum Abend93 Christ Church ist sowohl eines der fast vierzig Colleges in Oxford, England, die im Verbund die Universität Oxford konstituieren, als auch der Name der Kathedrale der anglikanischen Diözese Oxford. Die Kathedrale befindet sich auf dem Gelände des Colleges und dient auch als Kapelle für die akademischen College-Mitglieder. 94 Adler, Alfred (1929): The Science of Living. Mit einem Vorwort von Phillipe (Philip) Mairet. New York (Greenberg), 264 Seiten. Weitere Auflagen: London 1930 (Allen & Unwin); London 1936 (First Edition Reprinted George Allen & Unwin); Cleveland and New York 1943 (The Dreißig Tage mit Alfred Adler

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essen – Sherwood House, ein wunderbares altes englisches Haus mit herrlichem Park. Sonntag, 10. Mai Verabredungen um 10:00 und 10:30 Uhr, um 15:00, 16:00 und 17:00 Uhr. Das war ein typischer Sonntag. Zum Abendessen in unserem Hotel: Frau Jephson, eine Frau Cope, Herr Herz und ich. Montag, 11. Mai Verabredungen den ganzen Tag über, ein Gespräch mit Lehrern, offensichtlich arrangiert von Frau Bell Rennie, Princess Garden 20. 20:00 Uhr Conway Hall. Vortrag über die »Wissenschaft der Individualpsychologie«, die erste von drei öffentlichen Vorlesungen, gesponsert von der Medical Society of Individual Psychology, London, und dem Individual Psychology Club. Vorsitzender Dr. Walter Langdon-Brown. Frau Brown sehr charmant und aktiv im Organisieren. (Einer der bemerkenswerten Punkte in Adlers Vortag war: »Es ist Teil der Struktur des Lebens, zu erobern, Dinge zu meistern. Wir können nicht leben, ohne nach Erfolg zu streben, nach Leistung und Erfüllung. Solange sich dieses Streben fortsetzt, ist das Leben gegeben. Sobald die Person keine Möglichkeit des Erfolgs mehr sieht, erscheint die Möglichkeit des Todes.« Dies ist zitiert aus dem Bericht der »Daily Mail« am folgenden Tag, 12. Mai. Der Bericht konzentrierte sich auf Adlers Antworten auf Fragen aus dem Auditorium. Darunter war eine nach Adlers Meinung über Freuds Theorie. Adler erwiderte: »Das ist eine sehr unbequeme Frage. Freud begeht in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag. Alle Welt betet ihn an, und ich werde kein einziges Wort der Kritik äußern.«) Dienstag, 12. Mai Patientensprechstunde. Mittags Fotografen. Treffen mit Lehrern 17:00 bis 18:00 Uhr. 20:00 Uhr Conway Hall. »Die Wissenschaft der Sozialpsychologie«, Vorsitzender Dr. H. C. Squires. Diese Vorlesung war wieder mal sehr gut, mit einem Dr. Adler, der besser als jemals sein Material ausbreitete. Nach der Vorlesung World Publishing Co.); London 1952 (George Allen & Unwin); Garden City, N. Y., 1969 (Anchor Books); dt. Übersetzung: Lebenskenntnis. Aus d. Amerikan. von Willi Köhler. Mit einer Einführung von Wolfgang Metzger. Frankfurt/M. (Fischer-TB), 159 Seiten.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

gingen wir alle ins Appenscot-Restaurant am Piccadilly Circus zum Abendessen (deutsche Gerichte). Mittwoch, 13. Mai 17:00–18:00 Uhr Treffen mit Lehrergruppe. 20:00 Uhr Conway Hall. »Die Wissenschaft der Verhütung von Neurosen und Kriminalität«. Vorsitzender Dr. W. Norwood East. Das war die letzte dieser Serie von drei Vorlesungen, und der Applaus war überwältigend. Jetzt habe ich einen ziemlich guten Eindruck vom Individual Psychology Club und der Medical Society of Individual Psychology. Das Rangeln und ihre Differenzen stören Dr. Adler. Donnerstag, 14. Mai Termine am Vormittag wie üblich. 14:00 Uhr Abfahrt nach Birmingham, Midland Hotel. Um 19:00 Uhr dortiger Empfang mit nachfolgendem Vortrag an der University of Birmingham über »Der Charakter der Erziehung«, Vorsitzender Sir Charles Grant Robertson. Freitag, 15. Mai Verlassen Birmingham Richtung Liverpool, Adelphi Hotel. Abends Vortrag an der Universität von Liverpool über »Kinder verstehen«. Vorsitzender Sir Hector Hetherington, Vizekanzler der Universität. (Der »Manchester Guardian« berichtete am folgenden Tag, 16. Mai: »Picton Hall, in die mehr als 1.200 Menschen passen, war überfüllt, und viele mussten mit Sitzplätzen auf den Gängen vorliebnehmen. Selbst so erhielten viele keinen Zutritt.«) Samstag, 16. Mai Die Zeitungen sind voll mit Adler. Tatsächlich verbreitet sich die Nachricht von Adlers Vorlesungsreise über ganz England. Ich sandte Zeitungsausschnitte an Frau O. für ihr Sammelalbum. Die Sommerkurse für nächstes Jahr [1937] werden geplant. Drei Ansprachen für Lehrer, Sozialarbeiter und andere Interessierte an der Liverpool University, gesponsert vom Liverpool Council of Social Service und dem Liverpool and District Home and School Council, wie folgt: 11:00 Uhr »Die Beziehung von Eltern und Kind«. 15:00 Uhr »Soziale Unangepasstheit«. 17:00 Uhr »Delinquenz«. Bei den zwei letzten Vorlesungen führte der Erzbischof von Liverpool, Dr. Downey, den Vorsitz. (Der »Manchester Guardian« berichtete am 18. Mai: »Der Erzbischof von Dreißig Tage mit Alfred Adler

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Liverpool, Dr. Downey, […] denkt, dass Dr. Adler mehr als jeder andere in der Neuzeit die Psychologie auf eine gesunde wissenschaftliche Basis gestellt habe.« Jahre später vervollständigte Frau Bottome sozusagen diese Aussage. Sie zitierte Dr. Downey, der gesagt haben soll, als er den Vorsitz annahm: »In der Geschichte der Psychologie gibt es drei große Befreier der menschlichen Personalität: Ich nenne sie die drei großen A: Aristoteles, Aquin und Adler.«95) Montag, 18. Mai Zurück in London. Patienten bis mittags. Abfahrt vom Basil Street Hotel nach Cambridge mit Fahrer, wir sind sechs. Halten für Mittagessen an einem alten Schloss mit schönem Park. Dr. Adler ist extrem sentimental und sogar leidenschaftlich, was Blumen, Bäume und grünes Gras angeht. Er vertraute mir an, dass es ihn schmerze, auf diesen wunderbaren Teppich grünen Grases zu treten, weil es so lebendig und herrlich war. Die Art, wie Adler inmitten des Reichtums der Natur stand, ließ mich fühlen, dass er sich des Architekten und Gärtners der Welt bewusst war. (Pfarrer Ernst Jahn, ein deutscher Protestant, der sich an der Auseinandersetzung der Individualpsychologie mit der christlichen Seelenführung beteiligte,96 kam Jahre später zum gleichen Schluss: »Heute bin ich davon überzeugt, dass Adler keineswegs Atheist gewesen ist.«97) Cambridge. Zwischenaufenthalt auf einen Tee im University Arms Hotel. Frau Adler und ich gehen hinterher auf eine Besichtigungstour. 19:30 Uhr Abendessen für Dr. Adler allein mit Professor Ernest Barker im Peter Hourse in High Table. 20:30 Uhr Vorlesung über »Einige jüngere Entwicklungen in der Individualpsychologie«, gesponsert von der Cambridge University Education Society und der New Education Fellowship, Cambridger Zweig, im Mill Lane Lecture Room. Dr. Adler wurde eingeführt von Professor Barker. Die Vorlesung war ein großer Erfolg. Unterbrachen die Rückreise nach London für ein Abendessen. (Der »Cambridge Independent«, eine Wochenzeitung, schrieb am 22. Mai: »Die Teilnahme war enorm; jeder Quadratzentimeter war besetzt und viele wurden an der Tür abgewiesen. Frauen stellen einen Großteil der Versammlung.«

95 Zit. in Bottome, Phyllis (1962): The Goal. New York (Vanguard), S. 263. 96 Adler, Alfred (1964): Superiority and Social Interest: A Collection of Later Writings. Ed. by Heinz L. & Rowena R. Ansbacher, with a biographical essay by Carl Furtmueller and Adler bibliography. Evanston, Illinois (Northwestern Univ. Press), S. 272–274. 97 Zit. in Ellenberger, Henry (1985): Die Entdeckung des Unbewussten. Zürich (Diogenes), S. 843.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Dienstag, 19. Mai Blieb im Bett wegen einer Erkältung in der Brust. Dr. und Frau Adler leisteten mir beständig Gesellschaft und behandelten mich medizinisch. Zwischen den Patienten kam Dr. Adler rein und sah nach mir. Ich erwähne dies, um das warme und persönliche Interesse, das er mir erwies, aufzuzeigen. Er lebte wirklich sein »Gemeinschaftsgefühl«98. Aber ich stand auf, um mit den Adlers zu einer Theatermatinee zu gehen. 15:15  Uhr Phoenix Theater. Drei Einakter von Noel Coward, mit dem Dramatiker in den Hauptrollen. Das zweite Stück, »The Astonished Heart«, war über einen Psychiater, der seine eigene Liebesverwicklung löst, indem er sich selbst aus dem Fenster wirft. Schauspielerisch großartig! Wir alle gingen hinter die Bühne und es war aufregend. (Dieses Theatererlebnis wird von Phyllis Bottome in ihre Adler-Biografie erwähnt.99 Aber ihre Aussage, Adlers Schriften hätten einen Einfluss auf Coward gehabt, muss nach weiteren Hinweisen infrage gestellt werden. Bislang haben wir nur den folgenden Kommentar des Autors zum Stück: »Sein Thema, der Zerfall eines Psychiaters durch eine persönliche sexuelle Obsession, war zu speziell, um einem größeren Publikum zuzusagen. Es gab uns [Noel Coward und Gertrude Lawrence] jedoch eine gute Gelegenheit für dramatische Schauspielkunst«.100) Die anderen auf der Party blieben zum Tee, aber Dr. Adler und ich gingen zum Hotel zurück und diskutierten Angelegenheiten des »Journals«. (Das bezieht sich auf das »International Journal of Individual Psychology«, erschienen von 1935 bis 1937 in Chicago, mit Alfred Adler als Chefredakteur und Sydney M. Roth als Herausgeber und Geschäftsführer.) Donnerstag, 21. Mai 13:15 Uhr Mittagessen, arrangiert vom Board of Studies in Psychology der Universität von London. 17:00 Uhr Empfang beim Vorsteher (Probst) des University College London101. 17:30 Uhr Vorlesung über »Einige neuere Entwicklung in der Individualpsycho-

 98 Social feeling.  99 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler. A Portrait from Life, S. 95 f. Deutsch: Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert. Hg. von Klaus Hölzer, S. 99 f. 100 Mander, R. & Mitchenson, J. (1957): Theatrical Companion to Coward. London (Rockcliff), S. 204. 101 Das University College London (UCL) ist ein College der Universität London. Es gehört zusammen mit der Universität Oxford, der Universität Cambridge, der London School of Economics und dem Imperial College London zu den fünf besten Elite-Universitäten Großbritanniens. Dreißig Tage mit Alfred Adler

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logie«, University College, University of London, Great Hall, Vorsitz Professor Cyril Burt102. Samstag, 23. Mai Mittags. Wir treffen Romola Nijinsky, Ehefrau von Vaslav, dem russischen Tänzer von geradezu legendärem Ruf, der schizophren wurde und im Sanatorium Bellevue, Kreuzlingen, Schweiz, unter der Obhut von Ludwig Binswanger war. Frau Nijinsky hatte eine Woche vorher schriftlich um eine Unterredung gebeten. In ihrem Brief, auf Deutsch, erinnerte sie Dr. Adler: »Wir trafen uns vor zwei Jahren, als Sie meinen Mann im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen besuchten.« (Dieser Brief unterstreicht die folgende Darstellung von Phyllis Bottome: »Eines Tages besuchte Adler Nijinsky auf dessen Bitte hin. Die Geisteskrankheit des berühmten Tänzers bestand seit vielen Jahren. Adler machte einen so nachhaltigen Eindruck auf ihn, dass die Verantwortlichen ihn baten, seinen Fall zu übernehmen. Nach vielen Jahren war Adler der Erste, dem es gelang, zu Nijinsky Kontakt herzustellen. Er brachte ihn sogar zum Lachen. Aber Adler konnte die Behandlung nicht fortsetzen, da er voraussah, es würde wenigstens zwei Jahre regelmäßiger Arbeit bedürfen, wobei er Nijinsky unter seiner Obhut haben müsste. Bedauernd fügte Adler hinzu: ›Hätte ich genug Zeit gehabt, dann hätte ich ihm vermutlich helfen können.‹«103 Vor Adler hatte Frau Nijinsky Bleuler, Wagner-Jauregg, Kraepelin, Ferenczi, Freud und Jung konsultiert.104 16:00–18:00 Uhr Empfang in einem Landhaus, wo Adler informelle Gespräche führte. Die Gastgeberin hatte einige Ideen über die Abwesenheit von rechten Winkeln – alles abgerundet. Haus und Möbel entsprachen in etwa dieser Linie. Ich saß auf einem dieser abgerundeten Stühle und fiel um, die Füße gerade nach oben in die Luft! Dr. Adler bemerkte, als er mich aufhob: »Für einen Augenblick dachte ich, wir seien bei den Folies Bergère!« Wir alle hatten gut lachen. Adler wurde von der Überzeugung geleitet, dass »das einzig richtige Ziel der Wissenschaft der menschlichen Natur […] nur das Verständnis der mensch105

102 Cyril Lodowic Burt (1883–1971) war britischer Psychologe. Er spezialisierte sich u. a. auf Intelligenzforschung. 103 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler. A Portrait from Life, S. 96 f. Deutsch: Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert. Hg. von Klaus Hölzer, S. 101. Siehe auch Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler, S. 372. 104 Nijinsky, Romola (1934): Nijinsky. New York (Simon & Schuster). 105 Diese drei Absätze samt Anmerkungen folgen unvermittelt auf das Tagebuch von Frau Feldmann und sind Teil des Buches »Alfred Adler: As We Remember Him«.

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

lichen Natur durch jedes einzelne menschliche Wesen sein« könne.106 Diese Überzeugung hat erst vor Kurzem damit begonnen, zu ihrem Recht zu kommen, teils durch die Community-Mental-Health-Bewegung des letzten Jahrzehnts. In Übereinstimmung mit diesem Grundsatz versuchte Adler, so viele Menschen wie möglich zu erreichen, was ein Dilemma hervorrief zwischen der Ausbildung von Experten und der direkten Ansprache größerer Menschenmengen. Dies war schon ein Problem in Wien, wie sein früher Mitarbeiter und guter Freund Carl Furtmüller sagte.107 Für seine Fachkollegen war offensichtlich, dass er zu weit in die zweite Richtung gegangen war, nach den Berichten in den Veröffentlichungen der Medizinischen Gesellschaft für Individualpsychologie, London, zu urteilen. Wir lesen: »Während eines Monats in England nahm Adler an mehr als dreißig Sitzungen teil […] kleine Gruppen […] Sein Besuch war ein großer Erfolg. […] Die Modalitäten seiner Besuche führte dazu, dass er ein sehr weites Feld abdeckte, was keiner einzigen Gruppe die Gelegenheit zu intensivem Arbeiten und Studium gab«.108 Adler war offenbar fest entschlossen, dies im folgenden Jahr fortzusetzen.109 Für Juni und Juli 1937 wurde eine Reihe von 12 bis 14 Vorträgen in Edinburgh, Liverpool und Exeter in Verbindung mit seiner Tochter Dr. Alexandra Adler geplant. Aber Adler starb in Aberdeen am 28. Mai 1937, und seine Tochter hatte die Last allein zu tragen.

106 Adler, Alfred (1927): Understanding Human Nature. Übers. von W. Beran Wolfe, New York (Greenberg), S. 15. Eine etwas abweichende Version des Satzes lautet: »The science of the mind can only have for its proper goal the understanding of human nature by every human being, and through its use, brings peace to every human soul.« Das deutsche Original von »Understanding Human Nature« ist Adler, Alfred (1927): Menschenkenntnis. Leipzig (Hirzel); der zitierte Satz ist dort nicht auffindbar. – Walter Beran Wolfe war als Sohn eines Wiener Arztes in St. Louis aufgewachsen. Ende der 1920er Jahre war der junge Psychiater nach einer kurzen Ausbildung bei Adler aus Wien in die USA zurückgekehrt. Er widmete sich der Aufgabe, Adlers Volksheim-Vorlesungen zusammenzustellen, zu redigieren und zu übersetzen. 107 Adler, Alfred (1964): Superiority and Social Interest. Ed. by Heinz L. & Rowena R. Ansbacher, S. 385 ff. 108 [Squires, H. C.] Notes and News. In: Individual Psychology Medical Pamphlet, Oktober 1936, 16, S. 6. 109 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler. A Portrait from Life, S. 251. Deutsch: Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert. Hg. von Klaus Hölzer, S. 279. Dreißig Tage mit Alfred Adler

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Eine Fabel über den Minderwertigkeitskomplex110 Von Dr. Alfred Adler111

Als einmal ein großes Haus gebaut wurde, standen sechs Männer herum und beobachteten neugierig das Geschehen. Nachdem das Haus fertig und der Bauherr eingezogen war, kamen sie alle zu ihm zu Besuch. Jeder von ihnen wollte erklären, warum er den Bau beobachtet hatte und welche Gedanken ihm dabei in den Sinn gekommen waren. Sie hatten viele Tage auf dem Bürgersteig gestanden und wussten natürlich genau Bescheid über das Thema. Der erste Besucher sprach zu ihm: »Sir, durch den Bau dieses Hauses haben Sie gezeigt, dass Sie ein besonderes Talent geerbt haben. Ich habe Ihre Familiengeschichte untersucht und habe herausgefunden, dass Ihr Großvater väterlicherseits ein berühmter Architekt war. Ein anderer Vorfahre war ein Pionier, ein früher Siedler, der sich selbst ein Blockhaus gebaut hat. Daher ist es völlig einleuchtend, dass Sie wegen Ihrer ererbten Fähigkeiten in der Lage waren, dieses wunderschöne Haus zu entwerfen und Ihre Pläne umzusetzen.« »Sie haben nicht tief genug geforscht«, wandte der zweite Besucher ein. »Unser Gastgeber gehört zu einem besonderen Menschentyp. Er ist ein Extrovertierter. Manche Menschen würden sagen, er habe einfach Mut und habe gelernt, eine aktive Rolle im gesellschaftlichen Leben zu spielen. Dabei übersehen sie jedoch den entscheidenden Punkt. Er gehört zu jenen Menschen, deren Seele von innen nach außen wirkt. Dies ist die Erklärung für sein Talent.« Als der dritte Besucher anfing, sich zu dem Thema zu äußern, schaute er mit einem vorwurfsvollen und enttäuschten Gesichtsausdruck zu seinem Vorredner hin und sagte: »Junger Mann, ich habe Ihnen so viele Gelegenheiten gegeben, die Wahrheit zu lernen! Aber Sie waren immer widerspenstig, Sie haben sich immer stur gestellt, wenn es darum ging, die Fakten genau zu verstehen. Der Grund für das Errichten dieses Hauses ist die sexuelle Libido. Was bedeutet das 110 Diese noch unveröffentlichte Erzählung wurde von Dr. Kurt Adler zur Verfügung gestellt, dem wir herzlich danken. 111 Übersetzt von Hartmut Siebenhüner, Berlin.

Bauen eines Hauses? Es ist dasselbe wie ein Nest zu bauen. Wenn ein Mann ein Haus konstruiert, macht er ein Gefäß, eine Höhle, einen Raum, einen Eingang: Er symbolisiert seinen Wunsch nach einem weiblichen Gefährten. Hinter allem befindet sich natürlich der Wunsch jedes Menschen, in den Mutterleib zurückzukehren, dort das sexuelle Paradies zu finden. Es ist unsere menschlich Tragik, dass das unmöglich ist. Wir können das nur in unserer Fantasie. Der Bau eines Hauses ist solch ein Versuch: eine Sublimierung von sexueller Energie.« »Sie reden alle wortreich um die Sache herum«, warf der vierte Besucher ein. »Ich gehe bei meiner Einschätzung nur von rein objektiver Beobachtung und Experiment aus. Geben Sie mir jenen zappelnden Wurm, den wir Baby nennen, und ich garantiere, dass ich ihn zu einem großartigen Baumeister machen kann. Wir brauchen nur selektive Stimuli anzuwenden, und seine Reflexe werden dann in geeigneter Weise konditioniert. Ich bin mir darüber im Klaren, dass wir dabei ausgehen müssen von einer menschlichen Fähigkeit, einem menschlichen Lehrer, einem menschlichen Ziel, einem menschlichen Interesse, einem sozialen Leben. Aber ich habe eine tiefe Abneigung dagegen, von einer menschlichen Seele zu sprechen. Wenn ich ein Kaninchen oder eine Ratte stimulieren würde, würden sie auch auf den Reiz reagieren, und ein Kaninchen regiert mit seinem Kaninchen-Verhalten. Aber diese Unterschiede sind unwichtig, und – nebenbei gesagt – habe ich sie schon berücksichtigt.« »Ich bin der Einzige«, fiel der fünfte Besucher ein, »der beobachtet hat, dass dieses Haus eine Struktur ist, eine Form, eine Gestalt. Wenn man es in seine Teile zerlegt, wird es kein Haus mehr sein. Wenn man die Ziegelsteine herausnimmt, kann man nicht mehr erkennen, was sich zwischen ihnen befindet und auch nicht, in welcher Weise alle Teile zu einer Gestalt zusammengehalten werden. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass die Steine, das Gebäude, die Bedürfnisse des Bauherrn und sein Leben in der Gesellschaft sich in vollkommener Übereinstimmung befinden, aber meine eigene Entdeckung besagt: Das Haus ist eine Gestalt.« Ein Besucher sagte gar nichts. Er hatte die ganze Zeit im Hintergrund gestanden und den Reden der anderen zugehört, hatte die Bilder an der Wand betrachtet und etwas in sein Notizbuch geschrieben. Schließlich trat er vor und sagte mit großer Überzeugungskraft: »Mit großem Vergnügen versichere ich Ihnen, dass Sie alle teilweise recht haben. Aber warum sollten wir davon ausgehen, dass ein Prinzip alles erklären kann? Man braucht eine ausgewogene Haltung, um in allen Gesichtspunkten ein Stück Wahrheit zu sehen. Dies ist mein Beitrag zu unserer Diskussion. Ich wähle aus allen möglichen Erklärungsversuchen das aus, was mir gefällt, und dadurch empfinde ich mich den anderen Experten als gleichwertig. Ich möchte deshalb dem Gastgeber meine SchlussEine Fabel über den Minderwertigkeitskomplex

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folgerung mitteilen, dass dieses sein Haus das Ergebnis ist von ererbtem Talent, Extraversion, sublimiertem Sexualtrieb, bedingten Reflexen, Gestalt und all den anderen Motivationen, die in der Vergangenheit entdeckt wurden und noch zu entdecken sind. Dies ist meine eigene Erklärung.« An dieser Stelle gelang es dem Bauherrn selbst, ein paar Worte beizutragen. Er war nicht gewohnt, Reden zu halten, aber jetzt war er in expansiver Stimmung, glücklich, dass sein Werk vollendet war, und er genoss guten Gewissens seine freie Zeit. Deshalb sprach er – länger, als es sonst seine Art war – in äußerst heiterer und freundlicher Weise. »Nun, meine Herren«, begann er, »Sie wollen also verstehen und erklären, was ein Haus ist und weshalb ich selbst eins gebaut habe. Offensichtlich waren Sie alle sehr bemüht, die Wahrheit herauszufinden. Sie wollten die Mittel und Fähigkeiten untersuchen, die ich eingesetzt habe, und den Grund, weshalb ich das Haus gebaut habe. Ihre Suche nach einer schlüssigen Erklärung ähnelt dem Versuch, ein Rätsel zu lösen. Sie standen vor der Schwierigkeit, dabei sich selbst und die anderen zu übertreffen. Dies ist ein Gefühl, das ich allzu gut selber kenne. Ich glaube, dass ich jetzt zu Beginn meiner Ausführungen dasselbe Minderwertigkeitsgefühl habe, das Sie anfangs auch hatten. Und dieses wird mich dazu drängen – wie es auch bei Ihnen der Fall war –, darauf zu bestehen, dass ich die richtige Lösung gefunden habe. Meiner Meinung nach darf bezweifelt werden, dass ich bei der Suche nach den richtigen Materialien begünstigt war durch eine ererbte Fähigkeit. Ich habe nur die jedermann zugängliche Möglichkeit genutzt, das beste Material auszuwählen, das auf dem Markt war. Wenn ich dabei einen Fehler gemacht hätte, hätte ich dies während des Baufortschritts korrigieren können. Was meinen Großvater betrifft, kann ich sagen, dass ich ihn sehr gut kannte und ihn sehr bewunderte. Er hat mir oft erzählt, wie viel er seinem Meister zu verdanken hatte, der mit ihm in keiner Weise verwandt war. Warum also sollte ich meinen Genen mehr zu verdanken haben als seinen Ratschlägen, seinem Vorbild und dem, was ich von meinen Meistern gelernt habe? Als Kind war ich der Liebling meines Großvaters. Mein älterer Bruder hing mehr an meiner Großmutter: Sie verwöhnte ihn sehr, und er meinte, nicht ohne sie auszukommen. Ich habe dieses Haus gebaut, weil ich eine angemessene Unterkunft für meine wachsende Familie brauchte. Meine alte Wohnung war zu beengt – wir brauchten mehr Platz. Das ist nicht schwierig zu erreichen, wenn man genügend Mut und Selbstvertrauen hat. Ich konnte immer gut arbeiten, denn schon, als ich noch sehr klein war, hatten meine Eltern mir beigebracht, Dinge selber zu tun. Niemand hat mich verwöhnt. Niemand hat eingegriffen und versucht, meine Aufgaben zu über118

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

nehmen. Schon bald empfand ich mich als ein aktives Mitglied der Familie. Daher entwickelte ich ein richtiges Verständnis für die Vorzüge und die Schwierigkeiten des Lebens. Ich habe meine Fähigkeiten nie als mein persönliches Verdienst angesehen und meine Schwierigkeiten nie als persönliche Mängel oder Begrenzungen. Ich fühlte mich in der Welt zu Hause. Durch Üben habe ich die nötigen Fertigkeiten erworben, um zur richtigen Zeit das Richtige zu tun, und ich habe nie die Zustimmung anderer erwartet. Warum sollte ich also zurückhaltend, zögerlich oder introvertiert sein? Ich würde unter dem Gefühl leiden, unzulänglich zu sein, wenn ich nicht das Richtige zur rechten Zeit tun würde. Ich bin nicht dünnhäutig, auch nicht zurückgezogen wegen häufiger Niederlagen. Ich glaube, der Grund, weshalb jemand selbstbezogen und unsicher ist, ist seine Angst vor Niederlagen. Wenn introvertierte Menschen an ihren Erfolg glaubten, würden sie sich sofort ändern und in der Lage sein, sich ein Haus zu bauen – so wie ich. Für mich waren Niederlagen und Schwierigkeiten immer nur Anreize, es erneut zu versuchen und meine Fähigkeiten zu verbessern. Ich erinnere mich: Als mein älterer Bruder und ich mit Bauklötzen spielten, war er immer neidisch, wenn ich es besser konnte als er. Für mich war es ein Vorteil, der Jüngere zu sein. Wahrscheinlich hat er oft bemerkt, dass ich ihn einholte und lernte, was er schon gelernt hatte. Ich kam voran und freute mich über meine kleinen Erfolge. Er wollte zeigen – was unmöglich war –, dass er wichtiger war als ich. Er wurde ungeduldig, verlor das Interesse und wurde mutlos. Er wurde passiv und hatte entsprechend weniger Erfolge, weil er meine Fähigkeiten überschätzte und überzeugt war, dass ich alles besser könne als er. Ich wurde Architekt und er ein Trinker. Zweifellos glaubte ich als jüngerer Bruder, dass er mir überlegen war, und versuchte, ihn zu übertreffen. Ich machte rasche Fortschritte, und er war entmutigt und kam nicht mit. Ich wurde erfolgreich, weil ich von einem Minderwertigkeitsgefühl angetrieben worden war. Meinem dritten Gast muss ich wirklich widersprechen! Sein Sinn für Humor muss ihm abhandengekommen sein. Ich unterschätze nicht die Bedeutung der Sexualität, aber ihre Rolle im alltäglichen Leben ist nicht größer als die von Hunger, Durst, Schlaf oder dem Bedürfnis nach Sauberkeit. Mir scheint es ein grober Fehler zu sein, das Sexualverlangen mit einem vollkommen abwegigen Ausdrucksverhalten zu verknüpfen wie dem Bau eines Hauses. Es überzeugt mich nicht, wenn jemand versucht, eine solche Verknüpfung durch oberflächliche Vergleiche oder Analogien herzustellen. Es hat vielleicht Unterhaltungswert, solche Ähnlichkeiten zu entdecken und zum Besten zu geben, und ich habe oft gehört, wie Paare in Klubs, Restaurants oder Cafés über solche weit hergeholten Vergleiche gelacht haben. Aber wenn jemand so etwas als eine Methode akzeptiert, um tief gehende Erkenntnisse über den Menschen zu gewinnen, dann wird es Eine Fabel über den Minderwertigkeitskomplex

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nach meiner Ansicht von Leuten angewendet, die Probleme gerne als Scherzfragen betrachten und es vermeiden, genauer darüber nachzudenken. Möglicherweise möchte jemand manchmal all die Mühen, Schmerzen und Schwierigkeiten seines Lebens loswerden und kann dieses Gefühl nicht anders ausdrücken als durch den Wunsch, »in den Mutterleib zurückzukehren«. Er meint damit eigentlich, er wünschte, er wäre überhaupt nicht geboren worden. Als ich dieses Haus gebaut habe, hatte ich dieses Gefühl in keiner Weise. Mein Wunsch war, weiterzuleben, und bestimmt nicht, zu sterben. Wenn ich hätte sterben wollen, woraus hätte solch ein Wunsch entstehen können, außer aus einem Minderwertigkeitsgefühl? Außerdem, wenn ich den Tod gewünscht hätte, wäre dann nicht der Grund mein Bestreben gewesen, mich über meine missliche Lage zu erheben? Es ist doch leicht zu erkennen, dass wir sogar mit unseren fehlerhaften Einstellungen in gewisser Weise versuchen, ein Gefühl von Unsicherheit und Minderwertigkeit zu überwinden. Ich würde die Idee, dass alle Menschen in den Mutterleib zurückkehren möchten, eine Kompensation nennen, aber auf keinen Fall eine nützliche. Es kann natürlich vorkommen, dass ein Kind infolge einer falschen Erziehung immer bei seiner Mutter bleiben möchte. Vielleicht war sein Vater aufbrausend, diktatorisch, hat sein Kind gestraft und wusste nicht, wie er die Zuneigung oder das Interesse des Kindes gewinnen könnte. Das Kind wollte eventuell seinen Vater loswerden, ihn von allem fernhalten und ihn auf Distanz halten. Es verhielt sich so, weil es sich vom Vater missachtet und abgelehnt fühlte wegen seines Minderwertigkeitsgefühls. Meinem vierten Besucher kann ich bis zu einem gewissen Punkt zustimmen. Jeder Mensch kann alles erreichen, vorausgesetzt, er verfügt über die nötige Ausrüstung, das entsprechende Werkzeug und findet die richtige Methode. Und es ist gut, dass Sie – wenn auch mit Einschränkung – von den angeborenen Fähigkeiten des Menschen ausgehen. Allerdings würden Sie nicht versuchen, aus einem Kaninchen oder einer Ratte einen hervorragenden Baumeister zu machen. Tiere haben – genau wie wir Menschen – Reflexe, konditionierte Reflexe, aber dies sind Reflexe ihrer eigenen Spezies. Sie glauben doch sicherlich nicht, dass ein Kind, das in der richtigen Weise stimuliert wird, ohne seine menschliche schöpferische Kraft auskommen kann. Denn so sehr wir auch das Kind anregen, stimulieren, sind wir doch abhängig von seinen menschlichen Fähigkeiten und seiner Geschicklichkeit, mit anderen Worten seiner Psyche oder Seele. Sie, mein fünfter Beobachter, sind wohl auf dem richtigen Wege, verlaufen sich dann aber. Sie sollten – und Sie werden – weitergehen. Sie haben recht, wenn Sie das Haus eine »Gestalt« nennen: Wir nehmen es als ein Ganzes wahr, nicht als die Summe seiner Teile. Als ich anfing zu bauen, sah ich es vor mir als eine »Gestalt«. Und zwar deshalb, weil wir Menschen unsere Fähigkeiten dazu 120

Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

benutzen, etwas zu schaffen, nicht zu analysieren, zu zerlegen. Wir schauen immer vorwärts zum fünften Akt eines Dramas, auf den alle anderen Akte hinzielen. Wenn irgendetwas fehlt oder unvollständig bleibt, fühlen wir uns unwohl und sind nicht zufrieden, bis wir diese Unzufriedenheit genauer bestimmen können, bis wir erkennen, was noch zu tun ist, um die Sache fertigzustellen, abzurunden. In der ganzen Zeit, als das Haus gebaut wurde, war es mein Ziel, es fertigzustellen – nach meinen Entwürfen. Jeder Schritt dahin war bestimmt von diesem Ziel. Daher ist jeder einzelne Schritt geprägt von dem angestrebten Ziel, dem fertigen Objekt; aber dieses kann nur zufriedenstellend im Voraus geahnt werden durch Erkennen jener größeren Einheiten, die man »Gestalt« nennen kann. (Die »Gestalt« selbst ist jedoch nur Teil eines anderen Ganzen, worunter wir unser menschliches Zusammenleben verstehen.) Und nun, meine Herren, möchte ich Ihnen sagen, wie sehr ich es schätze, dass Sie – jeder auf seine Weise – mein Bestreben und meine Aktivitäten durch Ihre Aufmerksamkeit gewürdigt haben. Indem Sie versucht haben, unsere Erkenntnisse zu vermehren, haben Sie gezeigt, dass Sie den Wunsch haben, das Wissen überhaupt zu vergrößern, es pragmatisch und nützlich zu machen. Auch wenn Sie sich getäuscht haben, haben Sie zumindest einen Gesichtspunkt beigetragen, über den man nachdenken und diskutieren kann und dem man zustimmen oder den man verwerfen kann. Auch wenn Sie sich geirrt haben, haben Sie sich auf der Nützlichkeitsseite des Lebens bewegt. Ihre Bemühungen waren darauf gerichtet, Licht ins Dunkel zu bringen und das menschliche Leben zu bereichern. Wo wir uns minderwertig gefühlt haben wegen Unwissenheit, haben Sie eine echte Kompensationsleistung vollbracht, indem Sie versucht haben, zu verstehen. Sie sind alle verschiedene Wege gegangen, und jeder gab uns die Gelegenheit, seine Ergebnisse zu bestätigen oder mit dem eigenen Denken zu verknüpfen. Dies ist der Weg des Fortschritts in den Wissenschaften und überhaupt in der Kultur. Nur in den Ansichten, die von dem letzten Besucher geäußert wurden, kann ich keinen wirklich originellen Beitrag erkennen. Jeder, der glaubt, er könne die wesentlichen Inhalte entgegengesetzter oder sogar sich widersprechender Theorien in einem Topf zusammenrühren und dann daraus eine eigene tragfähige und nützliche Theorie oder Praxis entwickeln, täuscht sich selbst oder versucht, andere zu täuschen. Vermutlich befürchtet so jemand, sich festzulegen, um auf diese Weise Kritik von anderen zu vermeiden und von niemandem die Anerkennung zu verlieren. Solche Menschen hoffen, dass sie, wenn sie immer wie ein Korken auf dem Wasser rauf- und runterschweben, stets nach oben kommen werden. Solche Theorien fügen unserem Wissensstand nichts Neues hinzu. Sie, die fünf anderen, haben nicht die grundlegenden Ideen anderer wahllos dazu benutzt, sie als Ihre eigenen Entdeckungen auszugeben, was zu FehlEine Fabel über den Minderwertigkeitskomplex

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interpretationen und Verwirrung führen kann. Denn alles, was auf diese Weise gestohlen wird, wird dabei ungünstig verändert oder verfälscht. Machen Sie weiter so, meine Herren. Versuchen Sie, durch Ihre Arbeit unsere Wissenslücken zu schließen, indem Sie untersuchen, wie wir alle ein Minderwertigkeitsgefühl kompensiert haben durch unsere Bemühungen. Was mich selbst betrifft, würde ich sagen: Wenn Sie, um irgendetwas zu bauen, die Bausteine haben, den Sachverstand, die Geräte und die erforderlichen Arbeitskräfte, dann sind diese Elemente ganz wertlos, wenn Sie nicht ein Ziel vor Augen haben. Aber nehmen wir an, Sie haben solch ein Ziel, Sie wollen ein Haus mit zehn Zimmern bauen, mit fließendem Wasser und jeder Art moderner Einrichtung, dann können Sie die Steine, die Ausrüstung und die Handwerker in der günstigsten Art und Weise zusammenbringen und das Werk in Gang setzen. Sie werden die Arbeiten überwachen, denn Sie wissen, was nach Ihren Wünschen getan werden soll. Und eines Tages wird jedes letzte Detail des Hauses fertig sein.«

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Teil 1: Alfred Adler: wie wir ihn kannten

Teil 2

Zeitzeugen über Alfred Adler

University of Aberdeen Im April 1937 kam Adler nach Europa, um in Paris, Belgien, Holland und Schottland eine Reihe von Vorlesungen zu halten. Am 28. 5. 1937 hielt er Vorlesungen in Aberdeen, Schottland. Er war ein geladener Vortragender und sprach im Anatomiesaal des Marischal College. Sein Thema war die Kinderpsychologie. Er wollte das Verständnis der Eltern für ihre Kinder erweitern, sodass sie die emotionale Entwicklung ihrer Kinder besser fördern könnten, nicht zuletzt, um Neurosen zu vermeiden. In einer internen Schrift der University of Aberdeen112 heißt es:

Der Raum war überfüllt. Adler verbreitete bei seinen Hörern den Eindruck von großer Freundlichkeit, Einfachheit und Sicherheit. Er sprach einfach und direkt, ohne Notizen, und es war, als ob er zu einer kleinen Gruppe sprechen würde, weniger zu einem großen Publikum. Die Reaktionen auf seine Vorlesung im Marischal College waren unterschiedlich. Die Zuhörer repräsentierten eine große Spannweite: nicht nur Medizinstudenten und medizinisches Personal, sondern auch Kunst- und Theologiestudenten und sogar Angehörige der lokalen Aristokratie. Viele waren beeindruckt von der Kraft und Einfachheit von Adlers Ansprache, obwohl sie seine Ausführungen manchmal etwas schwierig zu verstehen fanden wegen seines starken Wiener Akzents. Einige der älteren Mitglieder des Colleges waren verwundert über den Mangel an Fakten in seiner Vorlesung, doch beinahe alle der Jüngeren fanden ihn anregend.

112 Archivabteilung der Bibliothek der University of Aberdeen, zit. in Rosche, Christine & Zumer, Peter (2009): Notizen zum Tod eines Vortragsreisenden. In: Zeitschrift für Individualpsychologie, 1, S. 44 f., Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).

Alexandra Adler Alexandra Adler wurde am 24. September 1901 als zweite Tochter Alfred Adlers und seiner Frau Raissa in Wien geboren. Alexandra kam drei Jahre nach ihrer Schwester Valentine zur Welt. Nach ihr wurden noch zwei weitere Kinder, ihr Bruder Kurt und ihre Schwester Cornelia (Nelly), geboren. Alexandra schloss 1936 das Medizinstudium an der Wiener Universität ab und spezialisierte sich auf den Gebieten Alkoholismus, jugendliches Verhalten, posttraumatische Stressverarbeitung und Schizophrenie. Zusammen mit Tracy Jackson Putnam veröffentlichte sie 1937 ein Buch über neuronale Plaque-Ablagerungen bei Multipler Sklerose. Einige ihrer Studien basierten auf der Arbeit mit Überlebenden des Feuers im Coconut-Grove-Nachtklub, bei dem 1942 in Boston fast 500 Menschen starben. Später konnte sie ihre Erkenntnisse auf die Behandlung von Soldaten des Zweiten Weltkriegs anwenden. Sie war langjährig Medizinprofessorin in der psychiatrischen Abteilung des Klinikums der New Yorker Universität, wo sie seit 1945 arbeitete. Im Laufe der Jahre bekleidete sie den Posten der Direktorin der Alfred Adler Mental Hygiene Clinic in New York und war Präsidentin der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie. 1959 heiratete sie Halfdan Gregersen, einen Professor für romanische Sprachen am Williams College (Williamstown, Massachusetts). Gregersen starb 1980, Alexandra Adler am 4. Januar 2001. Sie hatten keine Kinder.113 – In dem von Ludwig Pongratz herausgegebenen Sammelband »Psychotherapie in Selbstdarstellungen« (Bern u. a. 1973, Hans Huber) schreibt sie über ihren Werdegang, woraus im Folgenden zitiert wird (S. 11–14, 23 u. 30).

Als ich vier Jahre alt war, beschloß ich, Ärztin zu werden, und sagte dies jedem, der mich fragte, was ich werden wollte. Ich erinnere mich, daß ich auf die Frage, warum ich Ärztin werden wollte, antwortete: »weil mein Vater Arzt ist.« Ich weiß noch, wie selbstverständlich dieses Argument für mich war und daß ich mir nicht erklären konnte, warum es das für die Erwachsenen oft anscheinend nicht war. […] Es besteht kein Zweifel, daß mein Vater, Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, einen ständigen und äußerst wichtigen geistigen Einfluß auf mich ausübte. Wie es für das Zweitälteste Kind in einer Familie typisch ist, konkurrierte ich in meiner frühen Kindheit stark mit meiner drei Jahre älteren Schwester. Als sie anfing zu lesen und sich weigerte, mir vorzulesen, lernte ich es 113 Siehe auch Keintzel, Brigitta u. Korotin, Ilse (2002): Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich, Wien (Böhlau-Verlag), S. 7 ff.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

selbst und begann mit vier Jahren, Bücher zu lesen. Auf den Wanderungen, die mein Vater damals mit meiner Schwester und mir unternahm, sprach ich mit Vorliebe über die verschiedenen Figuren in den Büchern, die ich gelesen hatte, und freute mich, daß ich meinen Vater vor allem für die fröhlichen Charaktere interessieren konnte, die auch meinem Herzen am nächsten standen. […] Mein Vater hatte im Jahre 1911 zusammen mit ein paar Freunden den Kreis um Freud verlassen. Unser Haus wurde zum Mittelpunkt vieler Diskussionen über psychiatrische und psychologische Themen. Mehrere Male in der Woche pflegten die mit meinem Vater befreundeten Berufskollegen bei uns zu Abend zu essen. Die Diskussionen drehten sich gewöhnlich um Themen, die über mein Begriffsvermögen hinausgingen. Trotzdem war ich, ebenso wie mein Bruder Kurt, der auch Psychiater wurde, und meine Schwester Nelly, die eine begabte Schauspielerin war, bis sie ihren Beruf aufgab und heiratete, stolz, daß wir dabei sein durften. Mit 14 Jahren etwa begann ich, Bücher über allgemeine Medizin, Psychiatrie und Psychologie zu lesen. Wenn mein Vater nicht da war, pflegte ich in seine Bibliothek zu schleichen und zu lesen. Ich tat es heimlich, weil er vorgeschlagen hatte, ich solle noch ein paar Jahre warten; ich verstand auch nur wenig. […] Aus derselben Zeit stammt ein kleiner Aufsatz, den ich im Alter von 13 Jahren in mein Tagebuch schrieb. Ich war dazu durch eine Diskussion angeregt worden, die mein Vater mit einer Gruppe von Kollegen führte und wo ich zuhörte. Es handelte sich um einen Fall von Schlafstörung. Mein Vater unterstrich die teleologische, zielgerichtete Art der neurotischen Symptome und wie diese Symptome dem Patienten als Mittel zur Vermeidung dienten. Mich interessierte diese Auffassung und ich schrieb einen kurzen Aufsatz über die Mittel und Wege, sich Aufgaben mit Hilfe von neurotischen Mechanismen zu entziehen, meine erste psychiatrische Abhandlung. Zur gleichen Zeit, während ich noch ins Gymnasium ging, wurden mir die überwältigenden Schwierigkeiten bewußt, denen sich die Pioniere der modernen Psychologie gegenübersahen. Mein Vater hatte sich bei der Medizinischen Fakultät der Universität Wien um eine Dozentur beworben. Nachdem WagnerJauregg, ein Gegner der modernen psychologischen Schulen, die Bücher meines Vaters gelesen hatte, erklärte er, dieses Forschungsgebiet gehöre nicht zur Medizin, sondern zur Literatur, und die Bewerbung meines Vaters wurde abgelehnt. Diese Langsamkeit, mit der sich die medizinische Psychologie in Österreich durchsetzte, erbitterte natürlich meinen Vater, und seine ganze Familie bekam seine Enttäuschung zu spüren. […] Zweifellos verdanke ich meine Vortragstechnik weitgehend meinem Vater, der als ungewöhnlich guter öffentlicher Redner galt. Er hatte die hervorragende Alexandra Adler

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Fähigkeit, den Kontakt zu seinem Publikum herzustellen; er hat jedoch niemals im einzelnen erklärt, wie er das zuwege brachte. […] Ich bin oft gefragt worden, wie es ist, die Tochter eines berühmten Mannes zu sein. Meine Antwort darauf lautet, daß ich diesbezüglich verschiedene Entwicklungsstufen durchmachte. Als Kind und Heranwachsende genoß ich jede Ehre und sonnte mich von ganzem Herzen in jeder Anerkennung, die meinem Vater zuteil wurde; ich hatte das Gefühl, daran beteiligt zu sein. Als Medizinstudentin und noch einige Jahre danach bemühte ich mich, selbst einen Platz in dieser Welt zu finden – unabhängig von meiner Herkunft. Folglich machte ich meine Pläne unabhängig, und mein Interesse an akademischen Tätigkeiten entwickelte sich so, daß mir wenig Zeit blieb, mich um die Arbeit meines Vaters zu kümmern. Er hat nie versucht, meine Entscheidungen zu beeinflussen. Obwohl z. B. die sieben Monate, die er seit 1926, vor der Ankunft seiner Familie im Jahre 1935, jedes Jahr allein in den Vereinigten Staaten verbrachte, trotz seiner vielen Freunde ziemlich einsam für ihn waren, bestand er nie darauf, daß ich zu ihm kommen sollte. Ich fühlte sein Vertrauen in meine Entscheidungen, und deshalb ist es nur natürlich, daß wir ein enges Verhältnis zueinander halten. Es hat mir immer große Freude gemacht, Leute zu treffen, die ihn gekannt haben, und heute bedaure ich oft, daß ich nicht mehr Zeit in seiner Gesellschaft verbracht habe und mit ihm nicht öfter Probleme diskutiert habe, deren Beantwortung ich von ihm gern gehört hätte. Heute finde ich, daß es mein größtes Privileg war, ihn zum Vater gehabt zu haben. Alexandra Adler gab 1990 dem Adler-Biografen Edward Hoffman ein Interview, aus dem Hoffman in seinem Buch »Alfred Adler. Ein Leben für die Individualpsychologie« zitiert (deutsch 1997, S. 108 f.). Adlers Kinder schienen ihn alle als fürsorglichen Vater erlebt zu haben. Alexandra erinnert sich auch, dass ihr Vater körperliche Strafen strikt ablehnte.

Als wir heranwuchsen, war er sehr beschäftigt. Aber er hatte immer Zeit für uns, wenn uns etwas schmerzte oder wenn wir weinten. Meine kleine Schwester Nelly [Cornelia] lief manchmal zu seinem Arbeitszimmer und hämmerte an seine Tür, wenn zu Hause irgend etwas seiner Aufmerksamkeit bedurfte. Dann kam er für gewöhnlich heraus und ging mit ihr. […] Er würde uns nie, nie schlagen. Meine Mutter schlug mich nur ein einziges Mal, und ich verzieh es ihr nie. Es war draußen auf dem Land, während er bei der Arbeit war. Ich wagte nicht, ihm davon zu erzählen, aber vielleicht wußte er es bereits; er schien an jenem Tag über irgend etwas sehr beunruhigt zu sein. Das folgende Zitat stammt aus dem »American Journal of Psychiatry« (1970, S. 71) und wird in Hoffman (deutsch 1997, S. 108) zitiert. 128

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Wir Kinder gesellten uns bei den Mahlzeiten immer zu den Erwachsenen und durften bleiben, so lange wir wollten, und unsere Eltern ermutigten uns, selbst zu beurteilen, wann es für uns Zeit war, sich zu empfehlen und schlafen zu gehen. Die einzige Bedingung war, daß wir imstande sein sollten, am nächsten Morgen rechtzeitig in der Schule zu sein. Ich erinnere mich, wie wir mit gespanntem Interesse zuhörten und dann einer nach dem anderen verschwand, wenn uns der Schlaf überfiel.

Kurt Adler Kurt Adler, das dritte von vier Kindern des Ehepaars Alfred und Raissa Adler, wurde 1905 in Wien geboren. Er studierte an der Universität Wien und schloss 1935 mit einem Diplom in Physik ab. Nach der Auswanderung studierte er erfolgreich Medizin und arbeitete am Long Island College of Medicine in New York. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Psychiater in der US-Armee. Nach dem Krieg ließ er sich als Arzt in New York nieder. In diesem Beruf arbeitete er bis eine Woche vor seinem Tod am 28. Mai 1997. Er hinterließ seine zweite Frau Tanya (die erste Ehe wurde kurz vor seiner Emigration geschieden) und die Tochter Margot.114 Margot blieb das einzige Enkelkind von Alfred Adler. – 45 Jahre lang war Kurt Adler medizinischer Direktor am Lenox Hill Hospital und Dozent am Alfred Adler Institute in New York. 39 Jahre lang war er Vorsitzender des Advanced Institute for Analytic Psychotherapy im Ortsteil Jamaica, Queens. Er folgte inhaltlich seinem Vater, indem er betonte, dass geistige Gesundheit durch Integration in eine Gemeinschaft erreicht werden kann, sofern das Eigeninteresse der Person im allgemeinen humanistischen Interesse aufgeht. – Der erste Text entstammt einem Interview mit Kurt Adler anlässlich seines 90. Geburtstags im Mai 1995. Es wurde auf Deutsch von Christine Kaiser vom Alfred Adler Institut Zürich geführt und zunächst auf Deutsch veröffentlicht, doch konnte nicht ermittelt werden, wann und wo. Die Quelle für den folgenden Text ist der »Individual Psychology Newsletter«, Vol. 40, No. 2, April 1995 (Gotha u. London). Er ist eine Rückübersetzung aus dem Englischen.

114 Nachruf auf Kurt Adler in der »New York Times« am 31. Mai 1997: http://www.nytimes. com/1997/05/31/nyregion/dr-kurt-alfred-adler-92-directed-therapeutic-institute.html, Zugriff am 10. September 2014. Im Nachruf auf Margot Adler (1946–2014) in der »New York Times« vom 29. Juli 2014 wird der Name von Kurts zweiter Ehefrau hingegen mit Freyda Nacque angegeben: http://www.nytimes.com/2014/07/30/business/margot-adler-68-journalist-andpriestess-dies.html?ref=obituaries&_r=0, Zugriff am 20. Februar 2015. Kurt Adler

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Wie haben Sie, Kurt Adler, Ihren Vater erlebt? Als Vater war er immer ein Freund. Er war an allen interessiert, immer freundlich. Meistens. Manchmal ärgerte er sich über Menschen. Wann ärgerte er sich? Wenn jemand ihm etwas empfahl, was unangebracht schien, etwa, was ihn finanziell von anderen abhob. Die Praxis meines Vaters war, als er als Arzt für innere Medizin in Wien arbeitete, in unserer Wohnung. Ich erinnere mich, als jemand ihm vorschlug, er solle sich in separaten Praxisräumen niederlassen, dass er aus seinem Büro kam und sagte: »Ich habe den Kerl rausgeschmissen.« Und Ihre Mutter, wie war die? Voller Verständnis. Sie hatte jedoch wenig Humor, im Unterschied zu meinem Vater. Sie hatte auch keine Gabe für Musik. Beispielsweise konnte sie keine Melodie singen. Als Kinder haben wir sie damit aufgezogen. Musik scheint in Ihrem Elternhaus eine große Rolle gespielt haben. Ja, vor allem für meinen Vater, aber auch für mich und meinen jüngeren Bruder115. Mein Vater spielte Klavier und sang. Ich sang ebenfalls. Nach dem Stimmbruch war ich Mitglied des Wiener Philharmonischen Chores. Wir liebten es, die Lieder Robert Schumanns, Franz Schuberts und Carl Loewes zu singen. Meine Schwester Alexandra spielte vierhändig Klavier mit meinem Vater. Wie viele Intellektuelle ihrer Zeit war Ihre Mutter, die Russin Raissa Timofejewna, eine idealistische Sozialistin. Sie muss eine sehr mutige Frau gewesen sein. Vor der Russischen Revolution soll sie mehrere übersetzte Werke von Karl Marx aus der Schweiz nach Moskau geschmuggelt haben. Sie hatte vermutlich keine Ahnung, wie gefährlich das war. Unter dem Zaren durften Frauen nicht einmal studieren. Deswegen studierte Ihre Mutter im Alter von 22 Jahren Biologie und Zoologie in Zürich. Das war sowohl recht ungewöhnlich als auch ziemlich teuer. Sie muss aus einer wohlhabenden Familie stammen. Die großväterliche Familie mütterlicherseits besaß viel Land außerhalb Moskaus, ganze Dörfer. Ich erinnere auch Weizenfelder, die waren so groß, dass sie bis hinter den Horizont reichten, duftende Obstgärten und endlose Wälder mit Wölfen. 115 Ein offensichtlicher Fehler. Kurt ist der einzige Sohn neben drei Schwestern. Die Geschwisterreihe: Valentine 1901; Alexandra 1903; Kurt 1905; Cornelia (Nelly) 1909.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Und wie stand es mit einem geräumigen Haus mit Bediensteten? Es gab zwei Häuser, ein Haupthaus und ein Gästehaus. Als wir mit meiner Mutter dort im Sommer 1914 zu Besuch waren, wohnten wir im kleineren Haus im Park. Das Essen nahmen wir im Haupthaus ein. Sie blieben länger als geplant. Während Ihres Aufenthalts brach der Erste Weltkrieg aus … Ja, sechs Monate lang konnten wir nicht nach Wien zurückkehren. […] Wie schafften Sie es, während des Krieges von Moskau nach Wien zurückzukehren? Meine Mutter musste sich an den Zaren wenden, um die Erlaubnis zu erhalten, mit ihren Kindern in das Land des Feindes zurückzukehren. Sie musste schwören, dass sie zur Heirat gezwungen worden sei. Schließlich, im Dezember, durften wir abreisen. Wir kehrten über Finnland, Schweden und Deutschland nach Österreich zurück. An der Seite Ihrer Mutter wurde Ihr Vater ein humanistischer Sozialist, so schrieb der Zeitgenosse Manès Sperber. Die erste Frucht dieser Verbindung war das »Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe« (1898)116. Noch bevor meine Mutter meinen Vater traf, arbeitete mein Vater mit sozialistischen Studenten zusammen und hatte zahlreiche Artikel für die »Arbeiterzeitung«, das Organ der Sozialdemokraten, geschrieben. In Ihrer Biografie117 beschreiben Sie eine Atmosphäre der Gleichheit, an der ganz und gar in Ihrem Familienhaus festgehalten wurde. Jedes Kind wurde als Individuum mit eigener Persönlichkeit respektiert. Es gab keine Bestrafung. Eine Kinderfrau wurde entlassen, weil sie ihre Hand gegen eines Ihrer Geschwister erhob. War das zu der Zeit nicht eine ungewöhnliche Art, Kinder großzuziehen? Ja, unbedingt. Ein Beispiel: Ich besuchte eine öffentliche Schule, Pädagogium, die von der Aristokratie getragen wurde. Eines Tages besuchte eine Erzherzogin die Schule. Da mein Name mit einem A begann, war ich der zweite Schüler, nach einem Mädchen, der die große Dame begrüßen sollte. Ich sah, wie das Mädchen einen Knicks machte. Da ich nicht gelernt hatte, mich zu verbeugen, machte ich nach, was das Mädchen tat, und knickste. 116 Das Erstlingswerk Alfred Adlers von 1898 wurde 1987 in einer faksimilierten Ausgabe wiederaufgelegt. 117 Es ist nicht bekannt, welche Biografie gemeint ist. Kurt Adler veröffentlichte lediglich biografische Notizen (»A Personal Autobiography«) 1981 im »Journal of Individual Psychology«, 37, 2, S. 196–204. Kurt Adler

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Wie alt waren Sie da? Vielleicht sechs. […] Was las Ihr Vater? Man sagt, dass er in den Werken von Marx und Engels sehr belesen war. Oh ja. […] Was waren die philosophischen und ideologischen Quellen, aus denen Ihr Vater schöpfte? Man sagt, er habe die Stoiker studiert. Natürlich, aber er beachtete ebenso die Werke moderner Philosophen, insbesondere das von Hans Vaihinger. […] Warum konvertierte Ihr Vater zum Christentum? Jemand mit sozialistischen Idealen müsste eher ein Atheist sein. Ja, wir waren alle Atheisten. Obwohl mich Edward Hoffman in seiner neuen Biografie über meinen Vater einen Agnostiker nennt, womit ich nicht einverstanden bin. Er will mich vielleicht nicht Atheist sein lassen. Warum konvertierte Ihr Vater dann? Vielleicht wegen der Kinder. In jenen Tagen war es nicht erlaubt, »nichts« zu sein. Wir mussten den Religionsunterricht besuchen. Österreich war zu 95 Prozent katholisch. Dennoch konvertierten wir zum Protestantismus. Ich nahm zusammen mit drei anderen Jungen am protestantischen Religionsunterricht teil. Erst nach der Revolution in Österreich wurde es erlaubt, die Kirche zu verlassen, was mein Vater und ich taten. Manès Sperber schrieb, dass sich Ihr Vater in seinen späteren Jahren mehr dem Glauben und der Metaphysik hingab. Mein Vater änderte sich nicht. […] Bis heute wird Ihr Vater oftmals als Schüler Sigmund Freuds angesehen. Individualpsychologen korrigieren das und führen an, dass Ihr Vater nicht Freuds Schüler war, sondern nur an den Diskussionen mittwochabends teilnahm, die Freud leitete. Trotzdem muss Freud zwischen 1902 und dem Bruch 1908118 eine bedeutende Rolle im Leben Ihres Vaters gespielt haben. Kannten Sie Freud persönlich? 118 Erst seit wenigen Jahren ist bekannt, dass Adler den Freud-Kreis bereits 1908 verlassen wollte, Freud ihn aber halten konnte, auch indem er Adler hohe Posten in der psychoanalytischen Bewegung übertrug. Der tatsächliche Bruch fand Anfang 1911 statt.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Nein, ich habe ihn nie gesehen. Er soll ein unleidlicher Mensch gewesen sein, dieser Freud, sehr unsozial! Im Gegensatz zu meinem Vater besuchte er nie Kaffeehäuser. Wurde der Bruch zwischen Adler und Freud in Ihrem Elternhaus besprochen? Nein. Erst später, als ich fast schon erwachsen war. Der Unterschied zwischen der klassischen Psychologie von Freud und der Individualpsychologie besteht darin, dass die klassische Psychoanalyse eine Person festlegt auf der Basis von Instinkten und Trieben. Individualpsychologie, auf der anderen Seite, fasst den Menschen als ein Individuum auf, das auf der Grundlage seines Herkommens, der Genetik, der physischen Konstitution, der Umwelt und der Erfahrung ein zielgerichtetes Leben lebt. Wichtig ist nicht, woher der Mensch kommt, sondern wohin er sich ausrichtet. Das wird oft vergessen, selbst von Individualpsychologen. Es wird jedoch höchst wichtig, um einen Menschen zu verstehen und zu behandeln. In jenen frühen Jahren war mein Vater sehr beeindruckt von Freuds Vorstellungen über das Unbewusste. Obwohl er sich weigerte, dieses Wort als ein Substantiv zu benutzen, erforschte er die unbewussten Motive der Menschen. Er war ebenso stark beeindruckt von Freuds Traumanalysen, obwohl er sie nicht als zutreffend ansah. Es war das erste Mal, dass jemand Träumen einen Sinn gab. Freud stellte das als höchst aufregend dar. Ja, er war ein exzellenter Schreiber. Man hätte ihm den Nobelpreis für Literatur geben sollen. Auf der anderen Seite war Ihr Vater der bessere Redner und er hatte eine ungewöhnliche Gabe der Kommunikation, wie sein Zeitgenosse Manès Sperber berichtet. Er war weniger ein Schreiber. Warum lernte er nicht, besser zu schreiben? Er arbeitete immer sehr viel. Er diktierte auch nicht, was besser für ihn gewesen wäre. Er hatte niemanden, dem er hätte diktieren können. Für lange Zeit hatte er nicht einmal eine Schreibmaschine. Viele Individualpsychologen bedauern, dass Ihr Vater seine Gedanken nicht in eine strukturiertere Form brachte und keine festen Konzepte verwendete. Ja, das ist zu schade. Andere haben es für ihn gemacht. Heinz und Rowena Ansbacher zum Beispiel. Warum haben Sie es nicht gemacht? Ich war Physiker und Mathematiker. Nachdem ich in die USA kam, studierte ich Medizin und erwarb einen Abschluss in Psychologie, ich trat der Army bei. Ich hatte keine Zeit dafür. Kurt Adler

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Während des Ersten Weltkriegs war Ihr Vater Neurologe in der österreichischen Armee. Noch 1916 zeigte er wenig Sympathie für Deserteure und sogenannte Kriegsneurotiker. Wie ist das möglich für einen überzeugten Antimonarchisten, Republikaner und Sozialisten? Von Anfang an war mein Vater ein Antimilitarist. Er hatte nichts gegen jene, die nicht kämpfen wollten. Er dachte, wenn sich jemand drückt, dann müssen andere dessen Aufgabe übernehmen. Er war gegen Drückeberger. Nach dem Krieg prangerte Ihr Vater den Missbrauch der Auffassung vom Gemeinschaftsgefühl an. Er tat das in einer Studie über Massenpsychologie mit dem Titel »Die andere Seite« (1919). Anschließend missbrauchten die Nazis die Idee. […] Sie sehen die Welt heute aus der Perspektive eines Mannes, der die vergangenen sechzig Jahre in New York gelebt hat. Können Sie sich an das Jahr erinnern, als Sie einwanderten? Ich machte meinen Physikabschluss 1935. Wir wanderten im Herbst aus. Meine Mutter wurde kurz zuvor festgenommen. Warum das? Sie hatte bei der »Roten Hilfe« mitgearbeitet, einer kommunistischen Hilfsorganisation. Mein Vater schaffte es, sie aus dem Gefängnis zu holen. Er musste allerdings versprechen, sie aus Österreich rauszuschaffen. Das war der Grund für unsere Auswanderung in die Vereinigten Staaten. […] Eine Familie mit sozialistischen Idealen immigriert in die USA, ein kapitalistisches Land. Wie konnte Ihre Familie das begründen? Österreich war zu der Zeit genauso kapitalistisch. […] Kurt Adler schrieb ein kurzes Vorwort zur Adler-Biografie von Edward Hoffman, die 1997 erschien. Daraus der folgende Auszug:119

Wenn ich über das Leben meines Vaters nachdenke, bewegt mich die Erinnerung an seine Fähigkeit, auf so viele Menschen einen starken Einfluß auszuüben – nicht allein als sozialwissenschaftlicher Theoretiker und Begründer der Individualpsychologie, sondern auch als Vater, Heilender, Erzieher, Dozent 119 Adler, Kurt: Vorwort zu Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 9.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

und Freund. Mein Vater verkörperte das vollkommene Gegenteil eines Elfenbeinturm-Gelehrten, denn er versuchte nie, seine Arbeit von den allgemeinen sozialen und politischen Ereignissen seiner Zeit zu trennen. Er verstand sich selbst als Mann des Volkes und nicht als elitärer Intellektueller. Auch wenn er zahlreiche philosophische, psychologische und soziologische Gedankengebäude formulierte und erläuterte, versuchte er immer, sich einer einfachen Sprache zu bedienen, damit seine Gedanken von allen Menschen verstanden werden konnten. Verglichen mit den Studienjahren wurde sein Glaube an den demokratischen Sozialismus am Ende des Ersten Weltkriegs, in dem er als Militärarzt diente, noch stärker. In dieser Zeit entwickelte er auch seine grundlegenden Gedanken zum sozialen Interesse (»Gemeinschaftsgefühl«); er verstand darunter die Notwendigkeit, mit der ganzen Menschheit eins zu sein und sich mit ihr verbunden zu fühlen. Die Rettung der Menschheit lag für ihn ausschließlich im Gemeinschaftsgefühl, das er auch für das einzig gültige Kriterium hielt, um die geistige Gesundheit eines einzelnen zu prüfen. Moderne Psychologen bestätigen, daß Alfred Adler mit seinen Gedanken zum Sozialinteresse den Menschen ihre Würde zurückgab – eine Würde, die ihnen die Triebtheoretiker genommen hatten. Indem mein Vater die Auffassung vertrat, die selbstgeschaffenen Ziele jedes Menschen seien determinierende Einflußfaktoren, die den Charakter formen, legte er die Psychologie in die Hände jedes einzelnen von uns zurück. Kurt Adler schrieb keine eigentliche Autobiografie, skizzierte aber 1981 sein Leben auf neun knappen Seiten.120 Daraus die folgenden Zitate:

Mein Vater liebte die Musik, spielte Klavier und sang. Einer seiner Brüder war Komponist und Klavierlehrer. Meine Schwestern und ich sangen all die Lieder von Schubert, Schumann, Mozart, Brahms und Loewe, ebenso wie Mozart- und Wagner-Opern. Meine Mutter hatte kein musikalisches Gehör, und wenn wir darauf bestanden, eine Melodie zu singen, waren wir immer erstaunt, wie jemand so falsch singen kann, ohne es zu merken. Mein Vater benutzte zu Hause und in seinen Schriften musikalische Redewendungen oder Metaphern, etwa wenn er vom Körper und seinen Organen sprach und sie ein Orchester nannte, wo alle Instrumente in Harmonie miteinander spielen müssen, oder wenn er von den leitenden Idealen einer Person als Leitmotiv sprach, ein Ausdruck vornehmlich benutzt in Bezug auf Wagners Opern. […] 120 Adler, Kurt (1981): A Personal Autobiography. In: The Journal of Individual Psychology, 37 (2), S. 196–204. Kurt Adler

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Ich erinnere mich, dass meine Schwestern und ich uns einmal mit dicken Stöcken bewaffneten, um einem neu angestellten Kindermädchen drohend die Tür zu unserem Kinderzimmer zu verbarrikadieren, nachdem sie einem von uns gedroht oder sogar geschlagen hatte, als meine Eltern weg waren. Nach der Rückkehr meiner Eltern wurde sie sofort gefeuert. Ich erzähle diese frühe Erinnerung, um den Umstand hervorzuheben, dass beide Eltern niemals – und ich betone, niemals – die Hand erhoben haben gegen irgendeines von uns Kindern. […] Dass heißt nicht, dass wir so brav waren. Es war ein tief gehendes Prinzip meines Vaters, dass jede Bestrafung abträglich ist, jedenfalls nicht hilfreich für das Kind. Er glaubte ebenso, dass Bestrafungen immer die Kinder von den Eltern entfremden. […] Die Schulen im imperialen Wien waren sehr autoritär, und meine Eltern wählten die progressivste öffentliche Schule für uns. […] Das erinnert mich daran, dass einmal, als ich eine Geschichte darüber zu Hause erzählte, was der Lehrer zu mir gesagt hatte, mein Vater erwiderte: »Dein Lehrer ist ein Idiot.« Mein Vater glaubte niemals, dass man an Autoritäten glauben sollte. […] Das bringt mich zu dieser alten Vogelscheuche121, den Ödipuskomplex. Niemals in meinem Leben, bewusst oder, soweit es meine Analyse aufdeckte, unbewusst, begehrte ich meine Mutter und/oder wünschte ich meinen Vater zu töten. Auch mein Vater, der jahrelang der psychoanalytischen Bewegung angehörte, nahm den Ödipuskomplex nie wörtlich. Er fühlte, dass das verwöhnte Kind, das seine Mutter monopolisieren und alle anderen ausschließen möchte, ohne Weiteres den Vater, der der Hauptwettbewerber um die Mutter ist, aus dem Weg wünscht. […] Mein Vater meinte, dass es Leuten, die solche Metaphern wörtlich nehmen, an Humor mangele. […]

William Beecher William Beecher, Lehrer an der Dalton School in New York, schrieb über seine erste Begegnung mit Adler und die Schwierigkeiten, die Adler mit der Öffentlichkeitsarbeit in den USA hatte.122 Über William Beecher ist sonst nichts weiter bekannt. Die Dalton School wurde 1919 in Zeiten reformorientierter Pädagogik gegründet. Der »Dalton Plan« 121 Original: bug-a-boo, eine legendenhafte, Angst machende Kreatur, auch bogeyman genannt, eine imaginäre Gestalt, die von Erwachsenen benutzt wird, um Kinder zu erschrecken und erwünschtes Verhalten zu erzwingen. 122 Bottome, Phyllis (1939): Alfred Adler: Apostle of Freedom. London, 2nd ed. 1946 (Faber & Faber), S. 256 f. – Möglicherweise ist William Beecher identisch mit dem in Teil 1 erwähnten Willard Beecher.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

von Helen Parkhurst sah vor, die Förderung kindlicher Talente mit einem Sinn für die Verantwortung für andere zu verbinden.123

Adler hatte kaum Publicity, und ich entdeckte nur durch Zufall, dass er in New York arbeitete. Als ich das wusste, ging ich unverzüglich daran, herauszufinden, wo und wann er seine Vorlesungen hielt. Ich fuhr mehrmals zu seinem Hotel, aber niemand ging ans Haustelefon. Dann wollte ich sein Sekretariat nach seinen Vorlesungen fragen, weil ich mich nicht berechtigt sah, seine kostbare Zeit zu stehlen. Beim vierten Mal ging er selbst ans Telefon und bat mich auf sein Zimmer. Ich ging hoch und beteuerte, dass ich nicht seine Privatsphäre stören und Zeit rauben möchte in einer Angelegenheit, die sein Sekretariat erledigen könne. Adler aber wischte meine Einwände beiseite, nötigte mich, seinen besten Sessel zu benutzen, bot mir eine Zigarre an, setzte sich selbst in einen Sessel in meiner Nähe und gab mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Das war ein ziemlicher Schock für mich, obwohl ich schon viele geschäftige und »wichtige« Leute getroffen habe. Die ließen nie eine Gelegenheit aus, mich zu Beginn des Gesprächs ihre Wichtigkeit spüren zu lassen. Ich glaube, es war das einzige Mal in meinem Leben (damals wie heute), dass ich jemanden traf, der dies nicht tat. Ich fühlte mich völlig »zu Hause«. Von seiner Seite aus gab es nicht die geringste Spur einer Überlegenheitshaltung. Das Gespräch wirkte sehr anregend, obwohl wir über nichts anderes als seine Vorlesungen sprachen, die ich besuchen wollte […] Ich habe Adler nie in einem anderen Licht gesehen, außer wenn jemand versuchte, aus einer Situation einen ungerechtfertigten Vorteil zu ziehen. Bei solchen Gelegenheiten wurde er ein wenig steif und beendete die Unterredung mit einigen derart verheerenden Worten, dass an ein Wiedersehen nicht zu denken war. Ich habe niemals erlebt, dass er versuchte, einen Menschen oder eine Situation zu dominieren, aber ich habe es erlebt, wie er die Versuche anderer ausbremste, es in seiner Gegenwart zu probieren. Dr. Adler lehrte vorurteilsfreie Gerechtigkeit in Abgrenzung zu allen Sonderrechten. Er selbst kam als Musterexemplar so nahe an seine eigene Lehre heran, wie nur ein Mensch in einer Welt der Ungerechtigkeit und Ungleichheit es hoffen kann. Adlers Vorlesungen wurden nicht angekündigt und er fand keine Wege, sich einem größeren Publikum bekannt zu machen […] Ich schlug ihm vor, im Rundfunk aufzutreten, aber er wollte es nicht aus Gründen der »medizinischen Ethik«. Das war eine der größten Tragödien aller Zeiten! Er war beherrscht von 123 Siehe Wikipedia-Eintrag »Dalton School«, http://en.wikipedia.org/wiki/Dalton_School, Zugriff am 13. Mai 2010. William Beecher

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einer Tradition, die nur einer bestimmten Gruppe diente. Er war nicht in der Lage, darüber hinwegzukommen und der größeren Gruppe zu dienen, indem er sich der Tyrannei der kleineren widersetzte. Unnötig zu sagen, dass er einen durchschlagenden Erfolg hatte, wenn er sich an die Außenwelt wandte.

Elisabeth Bergner Die Schauspielerin Elisabeth Bergner (1897–1986) traf Adler 1923 zu einer »Kurztherapie«, offenbar besuchte sie ihn nur einmal. Vorausgegangen war Folgendes, wie sie in ihrer Autobiografie berichtet: Ein unglücklich verheirateter, syphiliskranker Maler namens Wilhelm Lehmbruck bedrängte sie, ihn aus seinem Unglück zu erretten, doch Bergner hatte eine neues Engagement in Wien bekommen und verließ Berlin. Kaum in Wien angekommen, erfuhr sie vom Suizid Lehmbrucks. Bergner fährt fort:124

Wer die Probe für mich absagte, weiß ich nicht mehr. Thomas und Xaverl waren bei mir. Die hatten die Morgenzeitung auch gesehen. Ich weiß nur noch, dass Xaverl mich am selben Abend zu seinem Freund Alfred Adler schleppte, dem Psychoanalytiker. Ich erinnere mich ganz genau an Adlers Gesicht. Es war sehr ähnlich dem meines Vaters. Auch an seine Finger erinnere ich mich, sie waren ganz braun, bis an die Nägel hinauf, von Zigaretten. Er rauchte ununterbrochen. Ich erinnere mich an keine seiner Fragen und an keine meiner Antworten. Nur an seinen letzten Satz erinnere ich mich, der war wie eine Ohrfeige: »Und jetzt glauben Sie, Sie sind schuld? Das könnte Ihnen so passen.« Thomas und Xaverl saßen im Warteraum. Xaverl ging hinein zu Adler, Thomas brachte mich ins Hotel. Ich wollte nicht gefragt werden, ich wollte Xaverl nie wieder sehen. Thomas versuchte mir zu erklären, daß Adler mir nur analytischtherapeutisch verbieten wollte, mich mit der Lehmbruck-Tragödie in irgendeiner Weise zu identifizieren. Zu Xaverl soll Adler damals gesagt haben: »Sie ist ein romantisches Kind, eitel ist sie sicher auch, wenn ihr alle hinter ihr her seid wie die Narren.« Es hat mich viele Jahre gekostet, diese Weisheit zu verstehen und zu verdauen. Es war eine Schocktherapie gewesen, und sie hat mir wahrscheinlich wirklich geholfen. 124 Bergner, Elisabeth (1978): Bewundert viel und viel gescholten … Elisabeth Bergners unordentliche Erinnerungen. München (Bertelsmann), S. 43 f.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Franz Blei Franz Blei (1871–1942) war Philosoph und freier Schriftsteller. Er studierte Politikwissenschaft, Wirtschaft und Literaturwissenschaft an den Universitäten Zürich und Genf und gab verschiedene Literaturzeitschriften heraus. Blei war ein Schulkamerad von Adler. Er geht in seiner Autobiografie nur ein einziges Mal auf ihn ein, weil sich die Beziehung abgekühlt hatte.125

Der Jugendgefährte Alfred Adler war schon längst der konivente Methodiker seiner sozialintegrierten Psychologie, als er vom Verfasser dieser Schrift [also Blei] sagte, er [Blei] habe »den sozialen Anschluss versäumt«. Nur sagte er das seiner Anschauung entsprechend mit Bedauern, denn ihm sind fehlender sozialer Anschluss und Psychopath gleichbedeutend. Während der so Diagnostizierte darauf mit einem »glücklicherweise« antwortete, ohne sich im übrigen darauf einzulassen, was es nun mit dem Psychopathen auf sich habe. Keinen sozialen Anschluss zu haben, also kein Glied in dieser Kette von bindenden Wechselbeziehungen, Entschuldigungen und Kompromissen zu sein, das bedeutet ein außerordentlich hohes und vielleicht das einzige menschliche Gut: die geistige Freiheit. […] Mit dieser Freiheit ist ein geistiger Zustand glückhaftesten Alleinseins gemeint, besser: berauschenden Alleinseins. […] Möglich, dass es bei solcher Artung nicht ganz ohne so etwas wie neurotische Nebenfolgen abgeht; aber was bedeutet das schon! Die absolute Gesundheit ist ja nur eine medizinische Hilfskonstruktion und außerhalb der Heilkunde wertlos.

Phyllis Bottome Ein Jahr nach Adlers Tod, im Jahre 1939 veröffentlichte die englische Schriftstellerin Phyllis Bottome, die langjährig seine Schülerin und Vertraute war, seine Biografie unter dem Titel »Alfred Adler: Apostle of Freedom« (London, Faber & Faber), die für einige Zeit die einzige kompetente Lebensbeschreibung des Meisters war. Bottome hat sehr liebevoll und eingehend ein Bild Adlers und seiner Lehre gezeichnet. »Alfred Adler. A Portrait from Life« (New York 1957, The Vanguard Press) ist eine leicht erweiterte

125 Blei, Franz (1930): Erzählung eines Lebens. Leipzig (Paul List Verlag), S. 222. Phyllis Bottome

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Fassung ihrer ursprünglichen 1939er-Biografie. Aus dem Vorwort der 1939er-Ausgabe entnehmen wir folgende Charakteristik:126

Adler war ein Philosoph und zugleich ein brillanter praktizierender Psychotherapeut und Psychiater. Er war ein bedeutender Psychologe, dem viele seiner Kollegen wegen des Gewichts seiner philosophischen Erkenntnisse misstrauten. Er war zugleich ein Moralist, aber ohne dogmatischen Glauben an irgendeine Religion. Er war ein Wissenschaftler, der daran glaubte, dass der Mensch ein geistiges Wesen und darum für jede Taten verantwortlich ist. […] Adler war zugleich der einfachste und der schwierigste Mensch, den man sich denken konnte, der freimütigste und der subtilste, versöhnlich und schonungslos gleichermaßen. Als Kollege war er ein Muster an Großzügigkeit, Exaktheit und persönlicher Integrität. Aber wehe, wenn ein Kollege wagte, seine Generosität auszunützen, sich Schlampigkeit erlaubte oder gar den inneren Anstand verletzte. Adler arbeitete nie wieder mit einem Menschen, der sein Vertrauen verloren hatte, es sei denn, diese Person war ein Patient. Er hatte ein hitziges Temperament und die Geduld eines Engels. […] Adler war ein höchst sensibler Mensch, und dennoch ertrug er Schicksalsschläge mit unerschütterlichem Gleichmut. Er war sehr tolerant zu Menschen, aber keineswegs tolerant gegenüber der Intoleranz. […] Als Wissenschaftler blieb Adler konsequent im Bereich der Fakten, war aber auch ein höchst intuitiver Mensch und nutzte jeden Vorteil dieses großartigen menschlichen Vermögens. […] Seine eklektischen Kollegen verstanden nie, warum er sich weigerte, seine Individualpsychologie mit anderen Befunden zu mischen. Das war aber nicht, wie viele meinten, wegen eines engstirnigen oder egozentrischen Blicks auf seinen Beitrag zum weiten Feld der modernen Psychologie. Vielmehr glaubte er, dass die Individualpsychologie nicht nur eine Theorie, sondern auch eine Geisteshaltung ist, die gebraucht wird, um jede Theorie gründlich zu verstehen. […] Es wäre unwahr zu sagen, Adler sei an den Wirkungen von Vererbung, Umgebung, Drüsen, Nerven, Trieben usw. auf das Individuum nicht höchst interessiert gewesen, aber seine Psychologie war keine Besitz-, sondern eine Gebrauchspsychologie. Seiner Meinung nach kam es daher nicht darauf an, was einer als Anlage mitbringt, sondern was er daraus macht. Adler beurteilte jeden 126 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert. Aus d. Engl. von Christine Bach u. a., hg. von Klaus Hölzer, Berlin 2013 (VTA), S. 6–11. – Bottomes Vorwort von 1938 weicht in einigen sprachlichen Details vom wiederabgedruckten 1938er-Vorwort in der Ausgabe von 1957 ab.

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Menschen teleologisch und nach seiner Bereitschaft, die drei Lebensaufgaben zu erfüllen: Arbeit, Sexualität, Sozialkontakt. Wer sich mit den drei Lebensaufgaben nicht abfinden wollte oder gar sich weigerte, sie zu akzeptieren, zeigte nach Adler die Anzeichen einer potenziell neurotischen oder delinquenten Person. […] Der reiche Strom von Adlers Leben floss durch drei Kanäle: Psychologie, Erziehung und Ethik. In der ersten Periode seines Lebens schuf er die Fundamente zu seiner psychologischen Theorie. Die zweite große Periode war ihre Blüte und Fruchtbarkeit im Wiener Schulwesen; und die dritte war seine endgültige Akzeptanz des »Liebe Deinen Nächsten« als ein Gesetz, nachdem der Krieg von 1914 den Schmerz des menschlichen Leidens in sein Herz gebrannt hatte, ein Gesetz, das zu befolgen er als Ziel der Menschheit sah. […] Adler war eine geniale Persönlichkeit, dabei aber erstaunlich schlicht127. In einem Raum mit vielen Menschen wäre kaum der Blick eines Betrachters zuerst auf ihn gefallen. Er machte nie Gesten oder Kommentare, die Aufmerksamkeit erregten. Man nahm von ihm, was man brauchen konnte, und wenn man wollte, ging man weg. Er bedrängte niemanden und hielt auch keinen zurück. Seine eigenen Wünsche zu erraten, war schwierig. Dennoch war er ein Mensch mit besonderen Vorlieben und Abneigungen. Er liebte die Musik, das Schauspiel, Kino, Kaffeehäuser, Wanderungen in der Natur und Schwimmen. Weder schätzte er small talk in Gesellschaft, noch große Vergnügungen, Autofahrten, lange Eisenbahnfahrten oder Hühnerfleisch. Und dennoch habe ich ihn bei all diesen Beschäftigungen mit offensichtlichem Behagen erlebt, weil er stets seine Freude daran hatte, den Geschmack seiner Begleiter zu teilen. […] Wenn es schon schwer war, herauszufinden, was Adler über andere Menschen dachte, war es noch schwieriger zu erkennen, wie er sich selbst beurteilte. Er sprach offen von seinen Meinungen, seltener von seinen Gefühlen, und niemals gerne von sich selbst. Was er sich vielleicht am meisten wünschte, war, in seinem Werk verstanden und damit bekannt zu werden. »Meine Schwierigkeiten gehören mir allein!«, pflegte er mit einem liebenswürdigen Lächeln zu sagen. Sie waren der einzige Besitz, den Adler mit niemandem teilen wollte. Woran er glaubte, das war er. Und viele von denen, die ihn liebten, glauben daran, dass das, was er war, für immer für ihn sprechen wird.

127 Original: a curiously unaggressive genius. – Die Übersetzung Hölzers erlaubt sich einige Freiheiten. Phyllis Bottome

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Über ihre erste Begegnung mit Adler in ihrer Wohnung und in Anwesenheit der Bottome-Familie berichtet Bottome:128

Statt eines anregenden und ehrfurchtgebietenden Psychologen, den ich zu treffen erwartete, erblickte ich einen kleinen, untersetzten, lebhaften Mann, bescheiden, locker, voller Lebensfreude, mit den Augen zwinkernd wie ein Pariser Gassenjunge.129 Seine mächtigen Augenbrauen waren allerdings die eines Weisen. Adler saß auf einem hohen Stuhl mit gerader Lehne und seine Beine baumelten über den Boden, als ob er gerade Schabernack triebe. Unsere Jungs waren von ihm entzückt. Nach seiner Abreise bemerkte ich, dass jeder in unserem großen Haushalt sich von ihm angezogen fühlte. Er hatte Worte der Ermutigung und der Anteilnahme an jeden gerichtet. Nur einmal während seines Besuchs erinnerte ich mich daran, warum ich so sehr darauf bedacht war, ihn zu sehen. Eines Abends nahmen wir Adler mit in ein kleines Café in Kitzbühel. Es war früher Sommer, wir saßen draußen an einem runden Tisch unter einem blühenden Nussbaum und schauten auf die Straße. Adler sprach vom Krieg, über die Verwerfungen im Lande, und wie unnatürlich und unerwünscht das alles für das österreichische Volk sei. Einer der Gäste, eine Landsmännin, beklagte sich bitterlich darüber, dass Adler vor englischem Publikum über die Unbeliebtheit des Krieges130 gesprochen habe. Er wehrte die patriotische Empörung mit einer freundlichen Handbewegung ab. »Wir sind alle Brüder«, sagte er ernsthaft. »Alle, die Gemeinschaftsgefühl haben, fühlen in jedem Land das gleiche. Organisierte Folter und Ermordung unserer Brüder – wie kann so etwas nicht unerwünscht sein?« Er sprach über den ausgemachten Unsinn, der wach gehalten werden musste, um das Massenschlachten fortzusetzen, und über den tödlichen Effekt von Falschheit und Gewalt auf das menschliche Gemüt. Wie er so sprach, meinten wir die nackte Struktur des Krieges zu sehen, und wir verstanden, wie sehr das Leid, das ein Land über das andere bringt, den Lebensstandard für Generationen zerstört. Es waren nicht nur Adlers Worte, die seine Freunde erreichten und ihnen unvergesslich blieben. Adler selbst war das lebende Beispiel seiner Theorien. Sein Wort wurde Fleisch. Wer auch immer seine Psychologie kritisierte, kam nicht umhin, ihn zu mögen, wenn sie ihn erst einmal persönlich kennen gelernt hatten.

128 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert. Aus d. Engl. von Christine Bach u. a., hg. von Klaus Hölzer, Berlin 2013 (VTA), S. 269 f. 129 Original: a Paris gamin. Gamin ist französisch und bezeichnet einen Bengel, ein verwahrlostes oder ungezogenes Kind. 130 Original: unpopularity of the war.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Er war von umwerfender Aufrichtigkeit131. Nur jene, die erwarteten, umworben zu werden, oder die hauptsächlich auf ihren eigenen Charme bauten, wurden enttäuscht oder waren verwirrt in Adlers Gesellschaft. Er war so bar allen überflüssigen Laubwerks wie ein Baum im Winter. Auch bei einer anderen Gelegenheit, in ihrer Autobiografie »The Goal« (1962), beschrieb Bottome ihre leichte Enttäuschung über die erste Begegnung mit Adler:

Ich hatte ein sokratisches Genie erwartet, das uns alle in die Tiefen der Psychologie stürzen würde. Stattdessen erlebte ich ihn als freundlichen und rücksichtsvollen Gast, der über nichts im Besonderen und mit jedem im Allgemeinen sprach. Bei näherem Hinsehen war Adler ein kräftiger, blässlicher Mann mit unauffälligen Gesichtszügen und bedeutend weiter in seinen mittleren Jahren fortgeschritten als wir. Er hatte eine wohlwollende und heitere Ausstrahlung, doch seine Augen waren rätselhaft, manchmal wie verschleiert, als ob er völlig versunken wäre – manchmal, wenn man es aufgrund seiner sanften und gleichgültigen Miene am wenigsten erwartete – durchdringend. […] Er sprach mit Abscheu von der verruchten Vergeudung, von der Sinnlosigkeit aller Kriege und mit beißendem Hohn über die österreichischen Staatsmänner, die den Krieg 1914 entfesselt hatten. Bottome zitiert an anderer Stelle ihrer Adler-Biografie Sophie, die Köchin und Hauptstütze der Familie Adler für zwanzig Jahre in Wien:

Als ich anfangs zur Familie Adler kam, sah ich den Herrn Doktor nie ohne ein Buch und einen Stift in der Hand. Wenn er von seinen Patientenbesuchen zurückkehrte, setzte er sich bis in die Morgenstunden hin, um zu schreiben und zu lesen. Später war es anders, denn über den ganzen Tag hinweg kamen bis spät in die Nacht hinein Leute ins Haus; doch als junger Mann sprach er nicht viel.132 Bottome ist mit die ergiebigste Quelle, was Beobachtungen über Adler angeht, deshalb hier weitere Passagen aus der deutschen Fassung von »Apostle of Freedom«:

Trotz seiner künstlerischen Neigungen gab es an Adler nichts Weichliches. Er war als Junge ungemein kräftig und abenteuerlustig, ein Straßenjunge mit Kampfgeist, den er als Erwachsener beibehielt. 131 Original: bed-rock sincerity. Meinte Bottome vielleicht rock bed: Gesteinsschicht? 132 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert. Aus d. Engl. von Christine Bach u. a., hg. von Klaus Hölzer, Berlin 2013 (VTA), S. 45. Phyllis Bottome

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Einer seiner Brüder berichtete, die Familie hätte immer am Schlagen der Taubenflügel erkannt, wann Alfred von der Schule nach Hause kam. Alfred hielt Tauben und hatte einen speziellen Pfeifton für sie. Auch wenn das Pfeifen vom Ende der Straße her kam, flog ihm die ganze Schar entgegen, als wollte sie ihn willkommen heißen. Hunger kam als Motiv für ihr erstaunliches Verhalten nicht infrage, da ihre Fütterungszeit erst viel später war. Alfred verlor diesen Einfluss auf Vögel und andere Tiere auch später nicht. Es schien, als spürten sie dieses ihm eigene Mehr an beschützender Freundlichkeit. Die Autorin beobachtete einmal, wie ein sehr aufgeregter Schäferhund, der sich heiser bellte, sobald ein Fremder auftauchte, Adler bei seinem ersten Besuch mit einem leicht warnenden Schnüffeln willkommen hieß, um dann sofort seinen Kopf an das fremde, aber freundliche Knie zu legen. Dazu passt der Bericht des Arztes einer Nervenheilanstalt, in der Adler als Berater tätig war: Gefährliche und widerborstige Patienten wären in Adlers Gegenwart freudig und friedlich gestimmt gewesen. Der Grund war vermutlich, dass Adler weder den Wunsch hatte zu dominieren, noch befürchtete, von Tieren oder Patienten dominiert zu werden. Er respektierte sich selbst und brachte allen Lebewesen denselben Respekt entgegen, den er selbst in Anspruch nahm.133 [Adler] war eher breit gebaut, klein von Gestalt und sehr kräftig, mit buschigen Augenbrauen und überaus hellen und lebendigen Augen. Manchmal war sein Blick nachdenklich verschleiert, und selten verrieten die Augen, was er gerade dachte. Kokoschkas Adler-Portrait, das ihn in seinem mittleren Jahren zeigt, gibt diesen befremdlichen, brütenden Blick genau wieder. Das Gesicht scheint nur aus Augen zu bestehen, in deren Tiefe sich das Leben zurückgezogen hat, als wolle er mehr Leben hervorbringen. Es ist ein großartiges und höchst interessantes Portrait, das Kokoschka in seiner Jugend malte. Das ganze Geheimnis von Adlers Persönlichkeit liegt in diesen in sich gekehrten Augen – sie schauen unter den dicken Augenbrauen hervor, als ob er die menschliche Seele versteht, aber nicht wagt, seine Erkenntnisse auszudrücken. Es ist schwer, sich einen so genialen Mann als höchst einsam vorzustellen – und doch ist es Adlers Einsamkeit, die Kokoschka erfasst und im Portrait festgehalten hat. Adler kannte andere, aber kannte er sich selbst auch? Oder fürchtete er sich vor dem Selbst, das er kannte, und verbarg es auch vor seinen besten und liebsten Freunden? Vielleicht ist es dieser Anflug von Furcht in ihm selbst, der ihn für andere als besonders vertrauenswürdig erschienen ließ.134 133 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert, S. 31 f. 134 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert, S. 23.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Was Adler zu einem so guten Gesellschafter machte, war, dass er niemals versuchte, das Niveau einer Unterhaltung anzuheben. Worum immer es ging, er war stets gut gelaunt und ganz dabei, ohne dem Gespräch mehr Ernst aufzuzwingen und ohne sein eigenes Wissen zu demonstrieren. Es kam höchstens vor, dass er das Thema wechselte, wenn er glaubte, jemand würde benachteiligt. Einmal folgte eine Gruppe von Freunden der leidenschaftlichen Rede einer Theosophin, die an Seelenwanderung glaubte. Adler machte kein Zeichen, dass er ihre Theorie ablehnte, obwohl er nicht im Geringsten an sie glaubte. Im Gegenteil, er stieg in die Diskussion ein und drängte jeden in der Gruppe zu sagen, was er gern im nächsten Leben sein möchte. Seine besondere Freundin sagte, sie wolle ein Energieatom sein, um immer Bewegung produzieren zu können. »Aber das ist einsam, Atom zu sein!«, entgegnete Adler. »Wenn ich zur Welt zurückkäme, wäre ich gern eine Rose. Sie ist schön anzusehen und wächst auf einem Busch zusammen mit vielen anderen.«135 Bottome hatte die Idee, ein Kapitel der Adler-Biografie »Humor in der Psychotherapie« zu nennen. Zu Adlers Lebzeiten kam es nicht dazu, aber sie blieb am Ball und sammelte Material. Unter anderem traf sie kurz vor der Besetzung Österreichs durch Deutschland136 einen früheren »Kumpel« Adlers, einen Ingenieur namens Frankel, »in einem verräucherten Wiener Café«. Bottome zitiert ihn:

Ich kann Ihnen […] einige Witze erzählen, die Adler mochte und über die er lachte; und Sie werden sehen, es waren immer Scherze, die eine schwierige Situation mit Witz meisterten. Auch darf ich sagen, dass ich von Adler niemals einen gemeinen Witz gehört habe, auch keinen, der seine Begleiter herabsetzte. Geriet ein Gespräch zu hitzig oder zu persönlich, pflegte Adler mit einem Scherz zu intervenieren. Er empfand Scherze als die beste Form der Konversation, da sie im Gegensatz zu den meisten längeren Gesprächen unterhaltsam seien und nicht verletzen.137 Bottome bringt einige Beispiele für Adlers Lieblingswitze. Doch aus dem Zusammenhang gerissen sind Witze kaum noch lustig. Deshalb hier nur eine Kostprobe:

Ein Junge kam eines Tages zu spät zur Schule, worauf ihn die Lehrerin nach dem Grund fragte. Er antwortete: »Es war so glatt, dass ich für jeden Schritt 135 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert, S. 53. 136 Die Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutsche Reich erfolgte am 12. März 1938. 137 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert. Hg. von Klaus Hölzer, Berlin 2013 (VTA), S. 146. Phyllis Bottome

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vorwärts zwei Schritte rückwärts gehen musste.« »Und wie bist du dann hergekommen?«, wollte die Lehrerin wissen. »Ich habe mich umgedreht und bin nach Hause gelaufen«, erwiderte der Junge.138 Die Ehe der Adlers soll nach einer stürmischen Verliebtheit nicht harmonisch gewesen sein. Bottome fasst ihre Beobachtung zusammen:139

Adler hatte sich keine einfache Gefährtin ausgesucht, sondern eine außergewöhnlich starke und unabhängige Frau, aus einem anderen Land, mit anderen Traditionen und völlig anderer Lebensanschauung. […] Sie war eine kleine, kräftige, blauäugige und hübsche Frau mit zarter Gesichtsfarbe und angenehmen Gesichtszügen. […] In der Jugend muss sie provokativ und furchtlos gewesen sein. Sie hatte den Trott ihres russischen Lebens bereits verlassen, um die Gefahren der Einsamkeit und Fremdheit im Ausland auf sich zu nehmen. Sie war von dem Ziel geistiger Freiheit durchdrungen, um in dem großen Kampf, den sie auf ihr Land zukommen sah, mitzuwirken. Sie muss äußerst attraktiv auf einen Mann wie Adler gewirkt haben, der auch entschlossen war, in das Reich der Wissenschaften einzudringen, um die dort gefundenen Schätze der Menschheit zugänglich zu machen. Vielleicht suchten beide nach unterschiedlichen Schätzen oder nach denselben, aber an unterschiedlichen Orten. Gewiss spürten beide, dass die Krankheit der Welt verschiedene Medikamente brauchte. In der Anfangszeit muss ihr Ziel ein gemeinsames gewesen sein. Beide waren furchtlos, überaus großherzig, und beide wollten die Welt retten. Wäre es dann nicht natürlich gewesen, die Arbeit der Rettung gemeinsam anzugehen? Dass Adler die Hoffnung auf Besserung durch politischen Wandel vollständig aufgab und sich mehr und mehr auf seine wissenschaftliche und philosophische Arbeit konzentrierte, während Raissa weiterhin ihrer alten politischen Leidenschaft treu blieb, führte natürlich zu einer Teilung ihrer Interessen. Vielleicht ist für zwei sich innig liebende Eheleute nichts schwerer zu ertragen, als in einem grundlegenden Ziel zu differieren. […] Alfred und Raissa Adler waren zwei äußerst kraftvolle und unabhängige Charaktere und im tiefsten Sinne des Wortes eine gewaltige Herausforderung füreinander, auch für die Zusammenarbeit, die sie versuchten und erst zum Lebensende hin erfolgreich praktizieren konnten. Schon möglich, dass beide 138 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert, S. 148. 139 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert, S. 42–47.

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leichter und vielleicht auch glücklicher mit schwächeren und nachgiebigeren Partnern gelebt hätten; aber es ist zweifelhaft, ob ihnen ein solcher Mensch attraktiv genug erschienen wäre. Was sie trotz ihrer Unterschiede von einander bekamen, vertiefte und bereicherte ihren Beitrag zum Leben. Beide hatten Fehler, die für den anderen höchst ärgerlich gewesen sein müssen; möglicherweise waren es die großen Unterschiede der Nationalität und des Wertebewusstseins, die zu dieser langwierigen und tiefen Entfremdung zwischen ihnen beigetragen hatten. Man darf nie vergessen, dass sie Russin und er Wiener war. […] Raissa war kein praktischer Mensch und hatte keine Freude an der Haushaltsführung. Sie war nicht eitel und lehnte damals jegliches Interesse an eleganter Kleidung ab. Dieser Standpunkt einer Frau war für Wiener unverständlich. […] Raissa war durchaus nicht kaltherzig, was immer ihre emotionaleren Wiener Schwestern von ihr gedacht haben mögen. Ihr wirkliches Problem war, dass sie bis ins innerste Wesen ehrlich war. Aufrichtigkeit ist eine Tugend, die im Orchester der Familie eher sanfte Töne anschlagen muss. Raissa bevorzugte stattdessen wohl Konzertlautstärke. […] Man darf bezweifeln, ob Raissa als junge Frau wusste, wie man etwas versteckt: Gefühle, Vorlieben und Abneigungen. Sie hat sich später im Leben eine größere Zurückhaltung angewöhnt, aber als Studentin und jung verheiratete Frau hielt sie sich wahrscheinlich zu sehr an das, was für sie Charakter und Pflicht eines Menschen ausmachte. Es lag ihr mehr daran, die Welt zu verändern, als für die Freude im Leben eines überarbeiteten Ehemannes zu sorgen, der so gut wie keine Zeit mit ihr verbrachte, nachdem er wahnsinnig in sie verliebt war. […] Adler war glücklich, aber welcher ehrgeizige Mann begnügt sich damit, glücklich zu sein? Er liebte seine Frau und bewunderte sie zweifellos für alle ihre Qualitäten, die er in unmittelbarer Nähe allerdings für unbequem hielt. Er lebte in einer Welt und wurde in einem Kreis erzogen, wo der Glaube an die Macht und die Rechte der Frauen über den häuslichen Bereich nicht hinausging, wo man eine Frau mehr für ihre Fähigkeiten als Köchin und als ordentliche Hausfrau schätzte, als wenn sie mit Engelszungen gesprochen hätte. Über seine letzten Tage vor seinem unerwarteten Tod am 28. Mai 1937 schrieb Bottome:140

Über 40 Vorträge hatte Adler im Mai 1937 in Holland gehalten. Trotzdem sah er besser aus und war mehr denn je voller tiefgreifender Vitalität. Er saß schwebend 140 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert, S. 280. Phyllis Bottome

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auf einem hohen Stuhl, seine Beine baumelten, mit diesem schelmischen Ausdruck in seinem Gesicht, der einen immer an einen kleinen Jungen erinnerte, der die Schule schwänzen möchte und darauf hofft, dass er unbeobachtet entwischen kann. Aber uns, die wir seine Scherze teilten und von seiner Weisheit profitierten, wäre niemals eingefallen, dass er sich schon bald aus dem Leben verabschieden und davonmachen würde. Wenige Zeilen später heißt es aber auch besorgt:141

Adler und [James] Moore reisten zusammen und kamen früh am Morgen des 22. Mai in England an. Es schien der Autorin [also Bottome], als sähe Adler in befremdlicher Weise anders aus. Er war schwerer, das Gesicht hatte seine festen Umrisse verloren und war in ungesunder Weise zusammengefallen. Dennoch zeigte er seine bekannte Energie und Ruhe. Als die Autorin gegen das äußerst schwierige Programm in Holland, das er hinter sich hatte, Einwände erhob und auf die bevorstehende Riesenarbeit in England verwies, sagte er mit seinem beruhigenden Lächeln: »Es war doch alles leicht!«

Anthony Bruck Anthony Bruck (1901–1979) wurde in Apatin im früheren südlichen Ungarn geboren. Er war sprachbegabt und reiste später durch die ganze Welt. 1922 machte er einen Abschluss in Betriebswirtschaft an der Hochschule für Welthandel in Wien. 1925 – Bruck arbeitete bereits in den USA – las er in der Zeitschrift »Die Mutter«142 einen Aufsatz von Adler und hatte den Eindruck, dass er auf die »wahrheitsgetreueste Psychologie« gestoßen war, die damals existierte. Adler und Bruck trafen sich erstmals im Oktober 1926 in den USA, wo Bruck für Adler Vorlesungen organisierte, unter anderem in der Community Church Clinic in New York. 1929 bis 1931 organisierte Bruck die individualpsychologischen Diskussionszirkel in New York. Ab 1931 besuchte Bruck Adler in Wien und nahm an den dortigen Veranstaltungen teil. Von da an arbeitete er als Psychologieprofessor und psychologischer Berater in Costa Rica, Mexiko, Kansas (USA) und 141 Bottome, Phyllis (1957): Alfred Adler, aus der Nähe porträtiert, S. 281. 142 »Die Mutter« erschien erstmals im Jahr 1909 als Monatsblatt für katholische Frauen, in den 1920er Jahren als »Zeitschrift des Verbandes der katholischen Frauen- und Müttervereine Deutschlands – Sendbote des Gebetapostolats«. Im Januar 1931 wird der Titel der Zeitschrift von »Die Mutter« zu »Frau und Mutter« geändert. – In der Adler-Bibliografie von Heinz L. und Rowena R. Ansbacher (New York 1979) ist kein Aufsatz Adlers in »Die Mutter« verzeichnet. Möglicherweise ist hier noch etwas für Adlers Bibliografie zu entdecken.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Kairo. Seine Aufsätze wurden in viele Sprachen übersetzt.143 Der folgende Text ist eine Übersetzung von Anthony Bruck: »Alfred Adler, As I Remember Him«, herausgegeben vom Alfred Adler Institute of San Francisco.144 Der Text entstand um 1975.

»Meine Psychologie gehört allen« Ich war gerade in New York, als mich einer von Adlers Schülern, ein junger Arzt, darüber informierte, dass die Medizinische Gesellschaft des Nachbarstaates gerne Adlers Konzepte als besondere psychiatrische Arbeitshilfe übernehmen würde, aber nur, wenn Adler ausschließlich vor Ärzten lehren würde. Adler antwortete, damit könne er nicht einverstanden sein, denn »meine Psychologie gehört allen«. Sophia de Vries erzählte mir von einer ähnlichen Äußerung Adlers. Als ihn holländische Studenten in den frühen 30er Jahren fragten, wer seine Vorlesungen fortsetzen sollte, wenn er es nicht mehr könne, antwortete er in seiner üblichen Einfachheit: »Alle, die es können«.145 Erneut begrenzte er die Anwendung seiner Psychologie nicht auf Ärzte oder irgendeinen anderen geschlossenen Kreis. Adler und das Plagiat Irgendwann um 1927 erschien in einer großen New Yorker Tageszeitung eine Kolumne, die ein gutes Verständnis der Adler’schen Lehre zeigte, aber seinen Namen nicht nannte. Erregt erzählte ich Adler davon, aber er nahm es gelassen, indem er auf Deutsch sagte: »Er hat mich halt vorgeahnt.« Er war so ruhig wie immer, während ich in meinem Wunsch, ihn zu verteidigen, ziemlich erregt war. Adler und die englische Sprache Der Übersetzer fragte Adler, ob er »Gemeinschaftsgefühl« mit social interest übersetzen könne. Adler bejahte, aber viele seiner Schüler, ich eingeschlossen, fanden die Übersetzung nicht treffend genug, eher wie eine blasse Wiedergabe des deutschen Ausdrucks, welcher korrekt übersetzt werden müsste – ein viel stärkerer Begriff, der die psychologische Nähe ausdrückt. Es war ein Erfolg von Adlers »wesenhafter Klarheit« (ein Ausdruck von Dr. Crookshank aus London 1931), dass seine Zuhörer seine Botschaft so gut 143 Informationen aus: A. A. Institutes of San Francisco and Northwestern Washington: »Biographical Sketch of Anthony Bruck«, http://pws.cablespeed.com/~htstein/bruck.htm, Zugriff am 14. Juni 2010. 144 http://www.Adlerian.us/bru-adl.htm, Zugriff am 15. Mai 2014. 145 Adler hat offenbar auf holländisch geantwortet, aber »Wer es Brann« (zit. n. Bruck) ist offenbar kein holländischer Ausdruck. Gemeint ist sicherlich: »Wer es kann«. Anthony Bruck

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verstanden, obwohl sein Englisch, besonders kurz nachdem er 1926 erstmals in die USA kam, kaum mehr als ein selbst gemachtes Englisch war. Während einer Vorlesung Adlers 1926 oder 1927 in der New York School for Social Research war ich erstaunt, als Adler ein gut erzogenes, gelehriges, psychisch attraktives Kind als »ausgesprochenes Monster-Kind«146 bezeichnete. Ich hatte das Auditorium beobachtet und sah, dass es aufgeschreckt war. Aber es hatte zugleich die exemplarische Natur des Kindes richtig verstanden. Ich entschloss mich trotzdem, Adler zu sagen, dass seine Beschreibung verwirrend sei. Er hatte sein Wort anhand des französischen montrer (zeigen) und des deutschen kirchlichen Wortes »Monstranz« gewählt, Monstranz als das Gefäß, in welchem die gesegnete Hostie den Gläubigen zur Anbetung dargeboten wird. Adler verspürte, dass das Kind, das er beschrieben hatte, die Bewunderung der Leute verdiene. Adler auf Deutsch im Deutschen Club in New York Ende der Zwanzigerjahre arrangierte ich einen deutschen Vortrag Adlers im Deutschen Club in New York. Für mich war das die erste Gelegenheit, Adler in seiner eigenen Sprache zu hören. Er war viel besser bewandert im Deutschen als im Englischen, sodass er ein anderer zu sein schien. Zufälligerweise waren nur noch Stehplätze frei, als ich den Saal betrat. In der Nähe standen der FreudÜbersetzer Dr. Brill und ein weiterer Arzt, zu dem Brill sagte, er wolle in der Diskussion nach dem Vortrag das Wort ergreifen. Gegen Ende der Vorlesung sagte Brill dem anderen Arzt: »Lassen Sie uns gehen, es hat keinen Sinn, mit dem Mann zu debattieren.« Innerlich stimmte ich voll zu.147 Adler und die Kinofilme Adler ging oft ins Kino, um sich zu erholen, egal in welcher Stadt er gerade war. Jeder Film, so unbekannt er auch sein mochte, war gut genug. Ich erinnere mich an einen Nachmittag 1929 in New York, als seine Tochter Nelly und ich einen Film am Broadway anschauen wollten. Adler sagte, er würde später zu uns stoßen. Es gab zwei Eingänge für zwei verschiedene Filmsäle mit einem gemeinsamen Foyer. Aus Versehen betrat Adler das falsche Kino. Wir hatten verabredet, dass wir uns nach dem Film im Foyer treffen wollten. Wir warteten auf Adler eine ganze Weile, bis wir ihn aus dem anderen Kino kommen sahen. Er war ziemlich enttäuscht, denn durch sein Versehen musste er einen »Frankenstein«-Film über 146 Original: a veritable monster child. 147 Es ist nicht anzunehmen, dass Bruck es für nicht wert hielt, mit Adler zu diskutieren. Bruck will hier wohl eher ausdrücken, mit Brill lohne es nicht, zu diskutieren.

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sich ergehen lassen, durch den er nicht die übliche Entspannung fand. Andererseits klagten Nelly und ich ausführlich über die Dummheit des Films, den wir gesehen hatten. Er sagte: »Aber Kinder, ihr sagt doch, sie hätten sich zum Schluss gekriegt«, als ob das Happy End die Hauptsache gewesen sei. Adlers Sinn für Humor Adler fragte gelegentlich: »Was ist das: Es ist niedrig, hat vier Beine, es bellt und ist unsichtbar?« Die Leute antworteten: »Es wäre ein Hund, wenn es nicht unsichtbar wäre.« Adler sagte dann: »Haben Sie nicht schon mal alte Damen zu ihrem Dackel sagen hören: ›Ja, wo isser denn, der kleine Hund, ja, wo isser denn?‹« Einmal erzählte uns Adler von einer Begebenheit in Boston. Er war zu einem Vortrag bei den Daughters of the American Revolution eingeladen. Sie steckten ihn in ein elegantes Hotel und umringten ihn im Foyer. Nach einiger Zeit erzählten sie ihm: »Dr. Adler, unsere Vorfahren kamen mit der Mayflower über den Ozean.« Adler antwortete nicht, denn er fand es nicht besonders wichtig zu wissen, mit welchem Schiff die Leute angereist waren. Und er verstand das Wort ancestors (Vorfahren) nicht, nahm es einfach für ein anderes Wort für Verwandte. Als die Damen nicht vom Thema abließen, sagte er: »Ja, ja, ich bin mit der Majestic148 rübergekommen.« Für ihn war zu der Zeit die Mayflower nur ein weiterer Schiffsname. Adlers Lieblingsschallplatte war eine Wiener Aufnahme von LeopoldiWiesenthal149 mit dem Titel »Die Vereinten Nationen«. Es ging zum Teil so: »Sie servieren Kaviar, Austern und Käse und Mayonnaise. Die diese Dinge essen, wollen vergessen, was nicht zu ändern ist.« Später wird lamentiert, dass das Intermezzo unterbrochen werden muss, und der persische Delegierte singt traurig: »Ich würde die Frauen küssen, würd’ ich nicht zu den Treffen gehen müssen.« Adler als Dozent Adler war meisterhaft in den Diskussionen, die auf seine Vorlesungen folgten. Ich erinnere mich, wie einmal in New York jemand aus dem Publikum fragte: »Und die Religion, Dr. Adler?« – mit einem sehr aggressiven »und«. Adler antwortete: »Wir versuchen, so zu leben, dass, wenn es Gott gäbe, er zufrieden mit uns wäre.« Bei anderer Gelegenheit fragte jemand: »Was ist der Sinn des Lebens?« Adler antwortete: »Es gibt keinen allgemeinen Sinn des Lebens, der Sinn des Lebens ist das, was Sie Ihrem eigenen Leben geben.« Wenn jemand fragte: »Was ist mit 148 Das königliche Postschiff »RMS Majestic« wurde 1914 als Dampfschiff »Bismarck« vom Stapel gelassen. Mit 56.551 Bruttoregistertonnen war es das größte Schiff der Welt bis zum Bau des Dampfschiffes »Normandie« 1935. 149 Eine Kabaretttruppe mit Hermann Leopoldi und Fritz Wiesenthal. Anthony Bruck

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dem Unbewussten?«, antwortete Adler: »Was uns als unbewusst erscheint, ist doch gar nicht so unbewusst.«150 Beeindruckender Adler Vergangenes Jahr wurde ich, ein Adlerianer der zweiten Generation, von einem Adlerianer der vierten Generation eingeladen, bei einem, der bei einem Schüler eines Schülers von Adler studiert hatte. Nach einer langen Diskussion am Abend über Adleriana wachte ich in der Nacht auf und begann darüber nachzudenken, ob man sagen könnte, Adler habe Charisma. Ich suchte nach einer besseren Beschreibung und stieß auf »beeindruckend«. Ohne Zweifel drückte Adler seine Konzepte in unser Gemüt, sodass sie dort ein Leben lang blieben. Ein solches Konzept war die »Dauerhaftigkeit des Lebensstils«. Ich erinnere mich an eine Privatvorlesung Adlers für etwa zehn Leute in seiner Wiener Wohnung auf Englisch. Einer seiner Zuhörer war ein kanadischer Professor, der den Fall eines College-Studenten vortrug. Der war ein exzellenter Schüler der Highschool, sodass jeder erwartete, er werde es auch auf dem College sein. Auf dem College wurde der Student aber zur Niete. Die Frage war, ob das ein Zeichen für eine Veränderung im Lebensstil sei. Adler antwortete sofort, er glaube nicht, dass es einen Wechsel im Lebensstil ohne eine positive psychologische Intervention gebe. Er sagte, wahrscheinlich war der Student auf der Highschool in einer besonders günstigen Situation und deswegen besser als auf dem College, wo seine Situation vielleicht nicht so günstig gewesen ist. Der kanadische Professor lächelte ein wenig und fuhr mit dem Vorlesen fort, und langsam stellte es sich genau so heraus, wie Adler glaubte, dass es gewesen war. Der Schüler war auf der Highschool eine führende Figur aufgrund seiner Leistungen im Sport, aber auf dem College verfehlte er den Zugang zum besten Team. Als Folge davon war er nicht nur im Sport entmutigt, sondern auch in seinen Studienfächern. Ich trage den Eindruck dieses Ereignisses seit über 45 Jahren mit mir herum: indem ich Adler sehe, wie er vorhersagte, was kommen müsse, auf der Basis seines Glaubens an die Dauerhaftigkeit des Lebensstils.

Nigel Forbes-Dennis Der Schriftsteller und Journalist Nigel Forbes-Dennis war einer der bezahlten Übersetzer Adlers in den 1930er Jahren in den USA. Er wurde 1912 in England geboren, als junger Mann hielt er sich einige Jahre in Deutschland auf und ließ sich 1934 in den USA 150 Original: What seems to be unconscious is not as unconscious as all that.

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nieder. Er schrieb nicht viele, aber eindrückliche Novellen und publizierte in mehreren linken und liberalen Zeitschriften. In den 1970er Jahren gab er das Literaturmagazin »Encounter«151 heraus, zusammen mit Melvin J. Lasky. Lasky erzählt die Anekdote152, Dennis habe ihm einmal anvertraut, seine Novelle »Cards of Identity« (1955) sei vollständig »im Geiste Adlers geschrieben«. Das von Adler 1926 geprägte Wort »Lebensstil«, so Lasky weiter, sei in den USA als »the style of life« und dann als »life-style« dankbar übernommen worden, schaffte es sogar in einige Überschriften von Zeitungsartikeln und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland reimportiert, wo der »lifestyle« in den verschiedensten Bezügen fröhliche Wiedergeburt feierte. Dennis starb 1989.153 In einem längeren Artikel »Alfred Adler and the Style of Life« (veröffentlicht 1970 im »Encounter«, 35 (2), S. 5–11) erzählt Dennis auch von seinen Begegnungen mit Adler, die 1935 begannen.154

Seine [Adlers] Lieblingsmaxime war Alles kann auch anders sein155, sodass es falsch wäre, zu behaupten, seine Lehre wäre die einzige, unvergängliche Psychologie. Ich möchte nur betonen, dass sie für mich immer galt. Mein unerschütterliches Vertrauen in ihn begann, als ich im Alter von 23 sein bezahlter Übersetzer wurde. Jemand sagte zu ihm auf einer Party: »Mir scheint, Nigel sieht heute nicht besonders gut aus.« Adler antwortete: »Er braucht wohl einen Scheck«, und schrieb gleich einen aus. Ich erinnere mich mit tiefer Bewegung an die sofortige Verbesserung meiner Gesundheit. […] [Adler] bewunderte [psychische] Taktiken, weil sie mit so viel Intelligenz ausgestattet sind, und wenn eine versagt, kann sogleich eine andere vom Hauptquartier ausgesandt werden. Wenn beispielsweise ein Lächeln fehlschlägt, können Tränen den Tag retten – und Adler respektierte Tränen. Er nannte sie »Wasserkraft«. […] 151 Es erschien 1953–1990. 152 In seinem Buch »The Language of Journalism – Newspaper Culture«, S. 71. 153 Wikipedia: Eintrag »Nigel Dennis«, http://en.wikipedia.org/wiki/Nigel_Dennis, Zugriff am 10. 11. 2009. Weitere Informationen über Dennis unter http://www.abebooks.com/servlet/ SearchResults?isbn=0025309005. – Daniela Carpi verknüpfte 2005 in einem Aufsatz einige Gedanken von Dennis und Adler: Nigel Dennis and Alfred Adler: A Study in Identity. In: Symbolism, 5 (2005) – (»Special Focus: Intertextuality«). Brooklyn, NY (AMS Press), S. 293– 314. 154 Nigels Anekdote wird auch zitiert in Jacoby, Henry (1974): Alfred Adlers Individualpsychologie und dialektische Charakterkunde. Frankfurt/M. (Fischer-TB), S. 14. – Der Berliner Sozialarbeiter Henry Jacoby (1905–1986) war bis 1933 Geschäftsführer der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe und arbeitete an der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« (IZI) mit. In der Nazizeit war er als »Hochverräter« eingesperrt. Er emigrierte und spielte später eine wichtige Rolle bei den Vereinten Nationen. 155 Im Original deutsch. Nigel Forbes-Dennis

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Adler war der geborene Redner, der sich weigerte, Zeit und Aufmerksamkeit auf das Schreiben zu verwenden. Seine »Werke« waren größtenteils Ansammlungen von Reden – haufenweise, von irgendjemandem flüchtig zu Papier gebracht und Leuten wie mir zugeworfen, um sie zu übersetzen und in Buchform zu packen. Einige Ergebnisse, einschließlich meiner eigenen, sind tatsächlich ziemlich eigenartig. Ich kann daher mit Fug und Recht sagen, dass die Ansbachers eine anständige Arbeit leisteten, als sie versuchten, die zahlreichen Schriften und Bücher zu sortieren und zusammenzuführen. Adler salonfähig zu machen ist, als ob man nach dem Fasching ans Aufräumen geht. Und obwohl ich glaube, dass der Job gemacht werden muss – Sprechen ist gänzlich anders als Schreiben –, stimme ich dem adlerianischen Psychiater F. G. Crookshank zu, der meinte, dass Adler redigieren heißt, Adler zu verlieren. »Wenige Schriftsteller und Redner haben mehr gelitten unter den Händen von Übersetzern und Herausgebern«, sagte er. Da ich einer von ihnen bin, weiß ich, dass er recht hat. Ich möchte nur noch anmerken, dass wenige Übersetzer und Herausgeber mehr gelitten haben als die Adlers. […] Adler verkörperte all die liebenswerten, leichtlebigen Gewohnheiten, die man als Wiener Schlamperei156 bezeichnet. Freud machte den Eindruck eines Mannes, der immer ordentlich aussieht; von Adler kann man sagen, dass er es manchmal hinbekam, ordentlich zu wirken. […] Er ärgerte sich ziemlich über die Erwartung, einen guten Eindruck auf Leute machen zu müssen, besonders wenn es um wichtige Leute ging. Er benahm sich immer ziemlich daneben, wenn es darum ging, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Jene, die ihn schätzten, versuchten immer, ihn mit einflussreichen Leuten zusammenzubringen, meist ohne großen Erfolg. John Dewey von der Columbia [Universität] bewunderte sein Werk und hätte mehr für ihn tun können. Aber ich erinnere mich immer noch mit Schmerzen an den Abend, als man sie zusammenbrachte. Adler schmollte verärgert auf der einen Seite des Tisches und Dewey – seine Haare hingen dünn über seine Stirn – auf der anderen Seite, während er betrübt auf seine schwarzumrandeten Fingernägel niederblickte. Ich kann mich an keinerlei Konversation erinnern. […] Einmal musste er zu einer sehr langweiligen Party in der Nähe von New Jersey gehen. Er sagte zu mir: »Ich denke, Sie sollten auch kommen.« »Wie könnte ich? Ich wurde nicht eingeladen.« »Macht nichts. Sie können jemand anderes sein.« Und er fügte hinzu: »Ich verlasse mich auf Sie, dass Sie mich nicht hängen lassen.« Ich bin stolz darauf, dass ich es nicht tat. Aber als ich mit meinem erfundenen Selbst (einem ziemlich wichtigen Menschen) reichlich ungezwungen umging, 156 Im Original deutsch.

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bemühte er sich, mich aus dem Konzept zu bringen, indem er mich vor allen Leuten mit endlosen Fragen bedrängte, auf die ich plausible Antworten geben musste, einschließlich eines sehr persönlichen Berichts über mein Eheleben. Ich zähle diesen Abend der reinen Selbsterfindung zu einem der echten Siege meiner Laufbahn. Und ich bin glücklich, hinzuzufügen, dass Adler zugab, ich hätte dem »positivistischen Idealismus« einen guten Dienst erwiesen.

Rudolf Dreikurs Rudolf Dreikurs (1897–1972) war einer der engsten und aktivsten Mitarbeiter Adlers in Wien. Im Jahre 1933 veröffentlichte Dreikurs das Buch »Einführung in die Individualpsychologie«. Darin stellt er die wichtigsten Gedanken der Lehre Adlers prägnant und leicht verständlich dar. Er trug – nach Adlers Tod 1937 – in den USA wesentlich dazu bei, die Individualpsychologie bekannt zu machen und ihr bedeutenden Einfluss als psychologisches Beratungsinstrument zu verschaffen. Er beeinflusste die amerikanische Individualpsychologie nachhaltig, vermutlich, weil er dem amerikanischen Pragmatismus entgegenkam. In der Nachkriegszeit verlagerte Dreikurs seine Tätigkeit von der Psychotherapie – abgesehen von seiner Privatpraxis – zunehmend auf das Gebiet der Erziehungsberatung und die Ausbildung von Fachleuten für die Ausbildung von Lehrern, Erziehern und Eltern. Die folgenden Zitate stammen aus den von Dreikurs selbst verfassten Angaben in Pongratz, Ludwig (Hg., 1973): Psychotherapie in Selbstdarstellungen. Bern u. a. (Hans Huber), S. 107 ff.

Während meiner Studentenjahre hatte ich mich für Politik interessiert. Man muß sich vor Augen halten, daß Wien eine sozialistische Stadt war. Ich hatte sozialistische Medizinstudenten organisiert und war der Vertreter der Universität im Wiener Arbeiterrat, unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, nach der Revolution. Dort habe ich Alfred Adler kennengelernt. Ich hatte mich entschlossen, Psychiatrie zu studieren, um mir über die Motivation der Menschen klar zu werden. So war ich sehr froh, daß ich Adler getroffen hatte. Einmal hat er mich auf seinem Wege zu einem Kranken mitgenommen. Das war für mich ein tiefes Erlebnis. Adler hat in allem Ernst gesagt, daß jeder Patient gesund werden kann, daß man jeden Verbrecher rehabilitieren kann, wenn man sein Vertrauen gewonnen hat. Das stand natürlich im Gegensatz zu dem, was ich und die meisten Menschen glaubten. Viele Jahre später, wie ich schon zu Adlers Schülern gehörte, hatte ich ein Erlebnis mit Adler, das so richtig erkennen läßt, was für ein Mensch er war. Rudolf Dreikurs

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Ich hatte einen Patienten in einem Sanatorium außerhalb Wiens, einen, der an einer senilen Depression gelitten hatte. Zu der Zeit hat man keine Medikamente und keine Schocktherapie gehabt, und der Patient war in einem furchtbaren Zustand des Zugrundegegangenseins. So habe ich vorgeschlagen, statt ihn in einem Sanatorium zu halten, ihn in eine schöne Gegend zu bringen mit einem Pfleger, der für ihn Sorge trägt. Aber die Familie war nicht ganz einverstanden. So schlug ich vor, daß man Adler als einen Konsultanten berufen sollte. So fuhren wir beide zusammen hin. Dort hat Adler mit dem Kranken zu sprechen begonnen. Der Kranke saß ihm gegenüber, und die anderen Psychiater, die Krankenschwestern und alle anderen saßen in einem großen Kreis herum. Nun, wie Adler mit dem Patienten zu sprechen begann, hat dieser in der typischen Art eines schwer melancholischen Menschen geantwortet – sehr, sehr langsam. Als Adler an ihn eine Frage richtete, hat der Patient in diesem ganz langsamen Tempo geantwortet, Adler hat aber auf seine Antwort nicht gewartet, sondern eine andere Frage an ihn gestellt. Als er das zwei-, dreimal gemacht hatte, habe ich mich ganz unbehaglich gefühlt. Er war doch mein Lehrer, ich war stolz auf ihn – weiß er denn nicht, wie man ein Interview mit einem Schwermelancholiker abhalten muß? Wenn du ihn etwas fragst, warte doch wenigstens, bis er antworten kann. Aber Adler hat es nicht getan. Und zu meiner allergrößten Verblüffung, auf einmal, wenn der Patient was sagen wollte, hat er begonnen, schnell zu sprechen. Das war Adlers Genius. Er hat ganz einfach die Vorstellung, die wir über Kranke und ihre Zustände haben, nicht anerkannt. Er hat nicht anerkannt, daß der Melancholiker so langsam sprechen muß. Er hat verstanden, warum er so langsam spricht, daß er nichts beitragen will, aber er könnte, wenn er wollte. Er kann auch schnell sprechen, wenn er was zu sagen hat. Dieser Optimismus, dieses Vertrauen in den Menschen, selbst wenn er schwer krank ist, charakterisiert, glaube ich, Adler und alle seine Schüler.157 […] Die Frage ist berechtigt, warum ich mich an Adler gewendet habe, ihn als meinen Lehrer gewählt hatte. Die Frage ist um noch viel mehr berechtigt, wenn man bedenkt, daß meine ersten Begegnungen mit Adler sehr negativ waren. […] Als Student ging ich zu einer Sitzung von Adler. Bei dieser Gelegenheit hatte sich Adler sehr kritisch über Freud ausgedrückt, daß Freud gar nichts verstehe, daß er ignorant sei. Als junger Student war ich sehr ausgesprochen über alles, das ich falsch fand. So war ich wütend: Wie kann Adler denn Freud so behandeln, der doch eine internationale Größe ist, der doch wissen muß, was er 157 Pongratz, Ludwig (Hg., 1973): Psychotherapie in Selbstdarstellungen. Bern u. a. (Hans Huber), S. 109–110. Diese Anekdote wird auch erwähnt in Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler, S. 329.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

tut, den man doch nicht einfach als einen Dummkopf oder Ignoramus ansehen kann! Und natürlich bin ich von einem Schüler Adlers zurechtgewiesen worden, der mir sagte, was für eine Frechheit das ist, Adler wegen seiner Einstellung zu Freud zu kritisieren. So war natürlich mein Interesse, mit Adler zusammenzuarbeiten, zu der Zeit sehr gering. […] Es war einige Jahre später, wo ich Sekundararzt und Assistent an der Psychiatrischen Klinik war, daß ich Alexander Neuer traf, der, was die meisten nicht wissen, einen der bedeutendsten Einflüsse auf Adler ausgeübt hatte. Er war der Philosoph, der Adler in der Fassung seiner philosophischen Grundlagen am meisten geholfen hatte. Leider hat er aber wenig geschrieben. Im ganzen sind, glaube ich, nur zwei oder drei Artikel von ihm erhalten, so daß alle Beiträge, die er zur Individualpsychologie gemacht hat, auf Diskussionen und in den Sitzungen beschränkt waren. Neuer, mit dem ich viele Diskussionen hatte – wir arbeiteten zusammen in der Klinik –, hat mir gezeigt, daß meine Gedanken denen der Individualpsychologie ganz ähnlich sind. Er veranlaßte mich, einer Sitzung der Adlerianer beizuwohnen. Was ich zu hören bekam, hat mir sehr eingeleuchtet, so daß ich der Gesellschaft beitrat. Adler war für lange Zeit mißtrauisch mir gegenüber wegen dieser Episode, die ich früher berichtet habe. Meine endgültige Entscheidung, mich der Adlergruppe anzuschließen, kam, als ich in der Privatpraxis einen Fall hatte, den ich nicht verstehen konnte. Dann versuchte ich aus Literatur, speziell aus den Schriften Freuds, Stekels und Adlers zu sehen, ob die eine Antwort dazu haben. Und zu meiner größten Verblüffung fand ich, daß Adler die Probleme dieses Patienten nicht nur verstand, sondern auch zeigte, wie man ihn behandeln kann.158

Albert Ehrenstein »Xaverl«, der Freund von Elisabeth Bergner (siehe dort), war Dr. Albert Ehrenstein (1886–1950), ein Wegbereiter des literarischen Expressionismus und ein Klassiker der Moderne. Seine kompromisslose Dichtung ist Ausdruck eines gequälten und enttäuschten Lebensweges, aber zugleich grandioser Appell an die friedfertigen, humanen und progressiven Tendenzen unserer Kultur. Ehrenstein lernte Alfred Adler 1910 kennen, der seinen Bruder Carl behandelte; er selbst war 1911 in Behandlung bei Adler. Adler übertrug ihm, der ständig Geldsorgen hatte, 1916 oder 1917 den Posten eines Sekretärs beim Verein für Individualpsychologie. 1919 gründete Ehrenstein zusammen mit Alfred Adler, Fritz Lampl, Jakob Moreno Levy, Hugo Sonnenschein und Franz Werfel den »Genossen158 Pongratz, Ludwig (Hg., 1973): Psychotherapie in Selbstdarstellungen, S. 112 f. Albert Ehrenstein

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schaftsverlag«, in dem die Zeitschrift »Daimon« erschien. – Ehrenstein schrieb in den 1930er Jahren einige autobiografische Fragmente, in denen Adler nur ein einziges Mal vorkommt. Ehrenstein war ein begabter Gymnasiast, der die Schule hasste, weil er von seinen Lehrern missachtet wurde. Um ihren Belästigungen zu entgehen, wollte er sich ein neurotisches Gebrechen zulegen.159

Vertrauensvoll wandte ich mich an den jovialen Dr. Alfred Adler, den ich vor Jahren im Hause eines Onkels kennen gelernt hatte, wo er  – damals noch Internist – Hausarzt war. Ich klagte ihm mein Leid, bat ihn um Schutz vor meinen gefährlichen Einfällen. Sein ärztliches Zeugnis konnte meiner Meinung nach Wunder wirken. Alfred Adler war ganz anderer Ansicht: »Ich bin noch ein ganz unbekannter Arzt. Ein Wisch von mir kann Ihnen gar nicht helfen. Was mach’n ma do? Wissen’s was? Geh’n’s zum Wagner-Jauregg!« Der K. K. Hofrat Professor Dr. Wagner von Jauregg war Vorstand der I. psychiatrischen Universitäts-Klinik des Wiener Allgemeinen Krankenhauses. »Was soll ich ihm denn sagen?«, fragte ich kleinlaut vor soviel Wissenschaft und Titeln. »Sie werden schon mit ihm fertig werden!« war die stereotype Antwort Alfred Adlers, der meinen Respekt vor dieser Leuchte nicht teilte. Wie ich der mir unbekannten Größe gegenüber ans Ziel kommen konnte, wollte er mir weder sagen noch andeuten.160

Else Freistadt Herzka Die Romanistin, Germanistin, Psychologin, Lehrerin und Journalistin Else Freistadt (1899–1953) lernte Adler im Sommer 1925 kennen und arbeitete einige Monate mit ihm zusammen. Zusammen mit ihrem Mann Hans Herzka emigrierte sie 1939 in die Schweiz, wo sie 1946 einen Schlaganfall erlitt, der zu ihrem frühen Tod führte. Ihre 1995 erschienene Biografie erfuhr in individualpsychologischen Kreisen einiges Aufsehen, da Freistadt eine kurze, unglückliche Liebesbeziehung mit dem etwa doppelt so alten Adler eingegangen war. Die Biografin Beatrice Uehli Stauffer zitiert ausführlich aus Freistadts

159 Kurzbiografie Ehrenstein: http://www.boerverlag.de/EHRENBIO.HTM, Zugriff am 16. 07. 2013. Siehe auch Ehrenstein, Albert (1989): Werke, Bd. 1: Briefe, München (Boer), S. 510. 160 Ehrenstein, Albert (1991): Werke, Bd. 2: Erzählungen. Hg. von Hanni Mittelmann, München (Boer), S. 337. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Wallstein-Verlag, Göttingen.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Tagebüchern, die von Else keineswegs zur Veröffentlichung gedacht waren.161 Originalzitate Else Freistadts sind im Folgenden kursiv gesetzt.

Else entwirft in ihrem Tagebuch ein widersprüchliches Bild von Adler. Zu Beginn ihrer Beziehung – bis es ihm gelungen ist, Else zu erobern – ist Alfred Adler noch der zärtliche, sie umwerbende Verführer. Später ist er stets von Arbeit überlastet, möchte geschont werden, fühlt sich alt und jammert viel. Heute sagte er, wenn er eine Belastung mehr hat, bricht er zusammen (12. Aug. 1925). Er ist immer gereizt, nervös, unangenehm (28. Okt. 1925). Else zeichnet von ihm das Bild eines Mannes, der Angst vor Konflikten hat und ihnen möglichst aus dem Wege geht. Von ihr scheint er völlige Hingabe zu erwarten. Sie hat sich alleinig auf seine Bedürfnisse auszurichten. Die Geschichte ihrer Beziehung ergibt sich aus Elses Tagebucheintragungen. So schreibt sie nach der offenbar ersten Begegnung mit ihm: […] Adler ist […] frisch, real, prächtig […] Na und schleppte mich mit ins Cafe und war lieb und gut … Forderte mich auf, über Oscars Buch und seine Zeitschrift zu referieren. […] Adlerchen ist ein kleines untersetztes stämmiges Männchen. Aber ich könnte ihn liebhaben. Ja vielleicht richtig? Viel Güte, wenig Sentimentalität. Um ein erstes Rendezvous arrangieren zu können, fordert Alfred Adler Else auf, bei ihm ein Buch zu holen. Sogleich wird ein Termin ausgemacht, sie besucht ihn fortan in seiner Praxis, die sich anscheinend direkt neben den privaten Wohnräumen der Familie Adler befindet. Doch schon das erste Zusammensein ist für Else eine Enttäuschung. Ich hab ihm versprochen, niemandem was zu sagen. Er: »süßes Geheimnis«. Geschmacklos […] Gott sei Dank, es ist er, zu dem ich so viel Vertrauen und Achtung habe […] Das mag ich sehr an ihm, daß er so unpathetisch ist. […] Ja also A. macht nicht viel Geschichten. Liebe, das gehört so dazu, eingebaut ins Leben […] Aufs Menschliche geht er los, strahlend sagt er ja: da bin ich dabei, wenn ich Dir was helfen kann. […] was er redt, tut er. Absolute Feindschaft aller Sentimentalität. Ich: »Hab solche Sehnsucht nach Dir gehabt.« Er: »Oh je, fängt schon an. Trällert Köchinnenlied. Beim Z’ammräumen hab ich an Dich dacht.« Ich erst traurig, dann mußt ich doch mitlachen. Er sagt, diese ganze Liebe kultivieren, ist schlechte Sentimentalität, Fluchtmittel, Feigheit, verlogen […] Die Anzahl von Tagebucheintragungen, in denen sie vom intimen Zusammensein mit Adler berichtet, ließe sich verlängern, der Inhalt bleibt sich in etwa gleich. 161 Uehli Stauffer, Beatrice (1995): Mein Leben leben. Else Freistadt-Herzka 1899 bis 1953. Zwischen Leidenschaft, Psychologie und Exil. Wien (Passagen Verlag), Zusammenfassung der S. 85–106. Else Freistadt Herzka

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Sie empfindet das Zusammensein mit ihm als quälend und peinlich, unsinnlich und nüchtern. Eigentlich weiß ich noch immer nicht recht, wie er aussieht. Graues Haar, sehr gute Augen, weiches, rundes Gesicht, sympathische Lippen, wie sie aussehen weiß ich nicht. […] Adlerchen, Donnerwetter, ich seh Dich ja morgen! Ich will recht fröhlich sein, Dir Freude machen, Du lieber alter Bär. Seine Haare sind, glaub ich schon, ziemlich grau, ich weiß noch gar nicht wie er ausschaut. Scheinbar so […] alter Weaner, klein, stämmig, Bäuchlein? Kann ich gut leiden […] Entweder ich stelle mich auf ihn ein oder es geht einfach nicht […] A. ist bei jedem Einwand bockig. Er will nichts von meinen Sorgen und Kümmernissen wissen, nichts von meinem tiefsten Ich. Er will mich fröhlich in seinem Sinn arbeitend. Keine Schwierigkeiten machen und so weiter. […] Ich erzählte ihm vom Vortrag. Er war sehr erfreut und sagte: Nun sagte ich Dir’s nicht [.] Du wirst meine Bannerträgerin, sehr zärtlicher Ton. Else Freistadt beginnt zunehmend darunter zu leiden, dass sie nie in Gesellschaft anderer etwas von ihrer Vertrautheit zeigen darf. Sind Else und Adler jedoch allein, verhält er sich oftmals zwiespältig. Er klagt über seine Ehe, sagt, dass es ein Irrtum gewesen sei zu heiraten, da seine Frau ihn nie verstanden habe, dass Raissa aber dennoch ein wertvoller Mensch sei, darum sei alles so schwer gewesen, und so weiter. (November 1925) […] Und er hat mich genommen wie ein Spielzeug für ein paar Stunden, das man beiseite legt, wenn man sich langweilt. Jetzt kehrt er zu Frau und Kind zurück und läßt mich allein […] Daß er so schnell erkaltet ist? […] Warum ist es ihm so schnell gleichgültig geworden? (30. Dez. 1925) Mehr und mehr beginnt Else sich Gedanken darüber zu machen, wie ihre Beziehung weitergehen soll. Ob Du mich wieder einmal zu Dir rufen wirst? Ich kanns nicht von mir selbst anregen. Es tut weh und ich fühle mich gedemütigt, wenn Dir nicht so viel dran liegt wie mir. Gute Nacht, Lieber, lieber alter nüchterner müder Lieber! (Dez. 1925) […] Bald hasse ich A., bald liebe ich ihn, bald begehr ich ihn und alles zusammen doch wahr und nicht wahr […] Adler ist ein grauenhafter Intrigant, Egoist, Politiker, der bloß beim Begehren einer Frau sich vergißt. Sein Vortrag flach. (26. Mai 1926) Das Ende der Beziehung zwischen Else und Adler zeichnet sich ab. Im Oktober 1926 geht er auf eine Vortragsreise in die USA. Diese äußere, große räumliche Distanz hilft Else, die Trennung auch innerlich nachzuvollziehen.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Sigmund Freud Von 1902 bis 1911 arbeiteten Adler und Sigmund Freud (1856–1939) in Wien eng zusammen. Adler verfolgte zunehmend eigene Ideen, denen Freud lange geduldig zuhörte, doch 1911 war es genug. Freud, der noch 1909 Adler einen »anständigen Menschen« genannt hatte, bedachte Adler nach dem Bruch mit vernichtenden psychologischen Ausdrücken. Freud war nicht der Einzige, der die psychologische Diagnose als eine Form der Aggression anwandte. Über Freud muss hier nichts weiter gesagt werden; er hat die Kultur des 20. Jahrhunderts mehr geprägt als irgendein anderer. Die folgende Passage stammt aus einem Brief Freuds vom August 1911 an Ernest Jones.

Was das innere Zerwürfnis mit Adler anbetrifft, so mußte es kommen, und ich habe die Krise reifen lassen. Es ist die Revolte eines abnormalen, vor Ehrgeiz wahnsinnigen Individuums, und sein Einfluß auf andere hängt von seinem starken Terrorismus und Sadismus ab.162 Freud äußerte sich eher in persönlichen Briefen als in veröffentlichten Werken über seinen Widersacher Adler. Die Briefwechsel sind in dieser Hinsicht ergiebig. Die folgende Passage stammt aus dem Briefwechsel mit Lou Andreas-Salomé (1861–1937). Sie war eine weitgereiste Schriftstellerin, Erzählerin, Essayistin und Psychoanalytikerin aus russisch-deutscher Familie, die durch ihre Freundschaften zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud große Bekanntheit erlangte. Sie kannte auch Adler, den sie 1912 in Wien traf.163

 [Lou Andreas-Salomé] [Wien] 3. XI. 1912 Hochgeehrter Herr Professor, […] Nun forderte mich Herr Dr. Adler auf, seine Donnerstag-Diskussionsabende zu besuchen. Ich tat es noch nicht, weil ich zu stark das Bedürfnis empfand, die Eindrücke, die ich tags zuvor durch Sie empfangen hatte,164 ruhig in mir zu verarbeiten. […]

162 Zit. nach Gay, Peter (1987): Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. Frankfurt/M. (S. Fischer), S. 254. 163 Freud, Sigmund; Andreas-Salomé, Lou (1966): Briefwechsel. Frankfurt/M. (S. Fischer). 164 In der Mittwochsgesellschaft, an der bis Anfang 1911 auch Adler teilnahm. Sigmund Freud

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 4. XI. 12  Wien, IX., Berggasse 19 Verehrte, gnädige Frau War schon Ihr Interesse für unsere Psychoanalyse ein hocherfreuliches Anzeichen für uns, so ist das feine Verständnis, das Sie durch Ihre Bemerkung verraten haben, direkt eine Befriedigung für unseren Kreis geworden. […] Da Sie mir von dem Vorhaben Mitteilung machen, die Adler’schen Vereinsabende165 zu besuchen, nehme ich mir die Freiheit, Ihnen ungefragt einige Worte zur Orientierung in der unerquicklichen Sachlage zu sagen. […] Wir haben uns genötigt gesehen, jeden Verkehr zwischen der Adler’schen Abspaltung und unserer Gruppe zu unterbinden, und auch unsere ärztlichen Gäste sind gebeten, zwischen dem Besuch hier oder dort zu wählen. Das ist nicht schön, aber das persönliche Verhalten der Ausgetretenen ließ uns keine Wahl. Es fällt mir nicht ein, für Sie, gnädige Frau, solche Beschränkungen geltend zu machen. Ich bitte Sie nur, der Situation dadurch Rechnung zu tragen, daß Sie […] dort von Ihrer Existenzform hier keine Erwähnung machen und umgekehrt. […]166 Andreas-Salomé und Sigmund Freud lernten sich wenig später persönlich kennen.

 7. 7. 14  Wien, IX., Berggasse 19 Verehrte Frau […] Die Einsicht in den Briefwechsel mit Adler, die Sie mir gestatteten, fasse ich als Zeichen großen Vertrauens auf. Der Brief zeigt seine spezifische Giftigkeit, ist sehr charakteristisch für ihn, ich glaube nicht, daß er mein von ihm gegebenes Bild Lügen straft. Reden wir deutsch (es wird dann leichter sein fortzusetzen): Er ist ein ekelhafter Mensch. […]167 In dem wenige Jahre später entstandenen und für die Öffentlichkeit bestimmten Aufsatz »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung«168 klingt es etwas moderater, aber nicht weniger eindeutig:

165 »Die Auseinandersetzung von Lou A.-S. mit Adler und seiner Lehre ist an ihren Tagebuchaufzeichnungen (Freud-Tgb.) zu verfolgen.« – Freud, S.; Andreas-Salomé, L. (1966): Briefwechsel. Frankfurt/M. (S. Fischer), S. 236. Das »Freud-Tgb.«: Andreas-Salomé, Lou (1989): In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres (1912/1913). Berlin (Ullstein-Taschenbuch). 166 Freud, S.; Andreas-Salomé, L. (1966): Briefwechsel, S. 7 f. 167 Freud, S.; Andreas-Salomé, L. (1966): Briefwechsel, S. 21. 168 Freud, Sigmund (1914): Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. In: Gesammelte Werke, 10. Bd. (1913–1917), Frankfurt/M. 1946. (S. Fischer), S. 43–113, hier S. 94–106.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Ich hatte viele Jahre hindurch Gelegenheit, Dr. Adler zu studieren, und habe ihm das Zeugnis eines bedeutenden, insbesondere spekulativ veranlagten Kopfes nie versagt. Als Probe der »Verfolgungen«, die er von mir erfahren zu haben behauptet, kann ich ja gelten lassen, daß ich ihm nach der Vereinsgründung die Leitung der Wiener Gruppe übertrug. Erst durch dringende Aufforderung von seiten aller Vereinsmitglieder ließ ich mich bewegen, den Vorsitz in den wissenschaftlichen Verhandlungen wieder anzunehmen. Als ich seine geringe Begabung gerade für die Würdigung des unbewußten Materials erkannt hatte, verlegte ich meine Erwartung dahin, er werde die Verbindungen von der Psychoanalyse zur Psychologie und zu den biologischen Grundlagen der Triebvorgänge aufzudecken wissen, wozu seine wertvollen Studien über die Organminderwertigkeit auch in gewissem Sinne berechtigten. Er schuf denn auch wirklich etwas Ähnliches, aber sein Werk fiel so aus, a l s o b es – in seinem eigenen Jargon zu reden – für den Nachweis bestimmt wäre, daß die Psychoanalyse in allem unrecht habe, und die Bedeutung der sexuellen Triebkräfte nur infolge ihrer Leichtgläubigkeit gegen die Darstellung der Neurotiker vertreten hätte. Über das persönliche Motiv seiner Arbeit darf man auch vor der Öffentlichkeit sprechen, da er es selbst in Gegenwart eines kleinen Kreises von Mitgliedern der Wiener Gruppe geoffenbart hat: »Glauben Sie denn, daß es ein so großes Vergnügen für mich ist, mein ganzes Leben lang in Ihrem Schatten zu stehen?« Ich finde nun nichts Verwerfliches darin, wenn ein jüngerer Mann sich frei zu dem Ehrgeiz bekennt, den man als eine der Triebfedern seiner Arbeit ohnedies vermuten würde. Aber selbst unter der Herrschaft eines solchen Motives müßte man es zu vermeiden wissen, daß man nicht werde, was die Engländer mit ihrem feinen sozialen Takt unfair heißen, wofür den Deutschen nur ein weit gröberes Wort zur Verfügung steht. Wie wenig dies A d l e r gelungen ist, zeigt die Fülle von kleinlichen Bosheiten, die seine Arbeiten entstellen, und die Züge von unbändiger Prioritätssucht, die sich in ihnen verraten. In der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung bekamen wir einmal direkt zu hören, daß er die Priorität für die Gesichtspunkte der »Einheit der Neurosen« und der »dynamischen Auffassung« derselben für sich beanspruche. Es war eine große Überraschung für mich, da ich immer geglaubt hatte, diese beiden Prinzipien seien von mir vertreten worden, ehe ich noch A d l e r kennen gelernt hatte. Dies Streben A d l e r s nach einem Platz an der Sonne hat indes auch eine Folge gehabt, welche die Psychoanalyse als wohltätig empfinden muß. Als ich nach dem Hervortreten der unvereinbaren wissenschaftlichen Gegensätze A d l e r zum Ausscheiden aus der Redaktion des Zentralblattes veranlaßte, verließ er auch die Vereinigung und gründete einen neuen Verein, der sich zuerst den geschmackvollen Namen »Verein für f r e i e Psychoanalyse« beilegte. Allein die Sigmund Freud

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Menschen draußen, die der Analyse fernstehen, sind offenbar so wenig geschickt, die Differenzen in den Anschauungen zweier Psychoanalytiker zu würdigen, wie wir Europäer, die Nuancen zu erkennen, welche zwei Chinesengesichter voneinander unterscheiden. Die »freie« Psychoanalyse blieb im Schatten der »offiziellen«, »orthodoxen« und wurde nur als Anhang an dieselbe abgehandelt. Da tat A d l e r den dankenswerten Schritt, die Verbindung mit der Psychoanalyse völlig zu lösen und seine Lehre als »Individualpsychologie« von ihr abzusondern. […] Bei dem durch die Psychoanalyse unabweisbar gewordenen Versuch, das Grundprinzip der Lehre an das Seelenleben des Kindes anzuknüpfen, haben sich für Adler die schwersten Abweichungen von der Realität der Beobachtung und die tiefgehendsten Begriffsverwirrungen ergeben. Der biologische, soziale und psychologische Sinn von »männlich« und »weiblich« sind dabei zu hoffnungsloser Mischbildung vermengt. Es ist unmöglich und durch die Beobachtung zurückzuweisen, daß das – männliche oder weibliche – Kind seinen Lebensplan auf eine ursprüngliche Geringschätzung des weiblichen Geschlechts begründen und sich zur Leitlinie den Wunsch machen könne: ich will ein rechter Mann werden. Das Kind ahnt die Bedeutung des Geschlechtsunterschiedes anfänglich nicht, geht vielmehr von der Voraussetzung aus, daß beiden Geschlechtern das nämliche (männliche) Genitale zukomme, beginnt seine Sexualforschung nicht mit dem Problem der Geschlechtsdifferenz und steht der sozialen Minderschätzung des Weibes völlig ferne. Es gibt Frauen, in deren Neurose der Wunsch, ein Mann zu sein, keine Rolle gespielt hat. […] Ich werde nicht weiter bei der biologischen Seite der Adlerschen Theorie verweilen und nicht untersuchen, ob die greifbare Organminderwertigkeit oder das subjektive Gefühl derselben – man weiß nicht, welches von beiden – wirklich imstande ist, als Grundlage das Adlersche System zu tragen. Nur der Bemerkung sei Raum gegönnt, daß die Neurose dann ein Nebenerfolg der allgemeinen Verkümmerung würde, während die Beobachtung lehrt, daß eine erdrückend große Mehrheit von Häßlichen, Mißgestalteten, Verkrüppelten, Verelendeten es unterläßt, auf ihre Mängel mit der Entwicklung von Neurose zu reagieren. Auch die interessante Auskunft, die Minderwertigkeit ins Kindheitsgefühl zu verlegen, lasse ich beiseite. Sie zeigt uns, in welcher Verkleidung das in der Analyse so sehr betonte Moment des Infantilismus in der Individualpsychologie wiederkehrt. Dagegen obliegt es mir, hervorzuheben, wie alle psychologischen Erwerbungen der Psychoanalyse bei Adler in den Wind geschlagen worden sind. Das Unbewußte tritt noch im »nervösen Charakter« als eine psychologische Besonderheit auf, aber ohne alle Beziehung zum System. Später hat er folgerichtig erklärt, es sei ihm gleichgültig, ob eine Vorstellung bewußt oder unbewußt 164

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

sei. Für die Verdrängung fand sich bei Adler von vornherein kein Verständnis. In dem Referat über einen Vortrag im Wiener Verein (Februar 1911) heißt es: »An der Hand eines Falles wird darauf hingewiesen, daß der Patient weder seine Libido verdrängt hatte, vor der er sich ja fortwährend zu sichern suchte«.169 In einer Wiener Diskussion äußerte er bald darauf: »Wenn Sie fragen, woher kommt die Verdrängung, so bekommen Sie die Antwort: Von der Kultur. Wenn Sie aber dann fragen: Woher kommt die Kultur?, so antwortet man Ihnen: Von der Verdrängung. Sie sehen also, es handelt sich nur um ein Spiel mit Worten.«170 Ein kleiner Bruchteil des Scharfsinnes, mit dem Adler die Verteidigungskünste seines »nervösen Charakters« entlarvt hat, hätte hingereicht, ihm den Ausweg aus diesem rabulistischen Argument zu zeigen. Es ist nichts anderes dahinter als daß die Kultur auf den Verdrängungsleistungen früherer Generationen ruht, und daß jede neue Generation aufgefordert wird, diese Kultur durch Vollziehung derselben Verdrängungen zu erhalten. Ich habe von einem Kinde gehört, welches sich für gefoppt hielt und zu schreien begann, weil es auf die Frage: Woher kommen die Eier? zur Antwort erhalten hatte: Von den Hühnern, auf die weitere Frage: Woher kommen die Hühner? aber die Auskunft bekam: Aus den Eiern. Und doch hatte man da nicht mit Worten gespielt, sondern dem Kinde etwas Wahres gesagt. Ebenso kläglich und inhaltsleer ist alles, was Adler über den Traum, dieses Schiboleth der Psychoanalyse, geäußert hat. Der Traum war ihm zuerst eine Wendung von der weiblichen auf die männliche Linie, was nichts anderes besagt, als die Übersetzung der Lehre von der Wunscherfüllung im Traume in die Sprache des »männlichen Protestes«. Später findet er das Wesen des Traumes darin, daß der Mensch sich durch ihn unbewußt ermögliche, was bewußt versagt sei. Auch die Priorität für die Verwechslung des Traumes mit den latenten Traumgedanken, auf der die Erkenntnis seiner »prospektiven Tendenz« ruht, ist Adler zuzusprechen. Maeder ist ihm hierin später nachgekommen. Dabei übersieht man bereitwillig, daß jede Deutung eines Traumes, der in seiner manifesten Erscheinung überhaupt nichts Verständliches sagt, auf der Anwendung der nämlichen Traumdeutung beruht, deren Voraussetzungen und Folgerungen man bestreitet. Vom Widerstand weiß Adler anzugeben, daß er der Durchsetzung des Kranken gegen den Arzt dient. Dies ist gewiß richtig; es heißt soviel als: er dient dem Widerstande. Woher er aber kommt, und wie es zugeht, daß seine Phänomene der Absicht des Kranken zu Gebote stehen, das wird, als für das Ich uninteressant, nicht weiter erörtert. Die Detailmechanismen der 169 Korrespondenzblatt Nr. 5, Zürich, April 1911. 170 Zit. aus Brief von Freud an C. G. Jung vom 13. März 1911. Sigmund Freud

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Symptome und Phänomene, die Begründung der Mannigfaltigkeit von Krankheiten und Krankheitsäußerungen finden überhaupt keine Berücksichtigung, da doch alles in gleicher Weise dem männlichen Protest, der Selbstbehauptung, der Erhöhung der Persönlichkeit dienstbar ist. Das System ist fertig, es hat eine außerordentliche Umdeutungsarbeit gekostet, dafür auch nicht eine einzige neue Beobachtung geliefert. Ich glaube, gezeigt zu haben, daß es mit Psychoanalyse nichts zu schaffen hat. Das Lebensbild, welches aus dem Adlerschen System hervorgeht, ist ganz auf den Aggressionstrieb gegründet; es läßt keinen Raum für die Liebe. Man könnte sich ja verwundern, daß eine so trostlose Weltanschauung überhaupt Beachtung gefunden hat; aber man darf nicht daran vergessen, daß die vom Joch ihrer Sexualbedürfnisse bedrückte Menschheit bereit ist, alles anzunehmen, wenn man ihr nur die »Überwindung der Sexualität« als Köder hinhält. Im Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Carl Gustav Jung171 finden sich einige Aussagen zu Adler. Fast sechzig Jahre lang war der Briefwechsel, der auf die Zeit zwischen 1906 und 1913 beschränkt blieb, unzugänglich. Erst 1970 beschlossen nach langen Familienverhandlungen der 62-jährige Sohn C. G. Jungs, Franz, und der 77-jährige Freud-Sohn Ernst in dessen Londoner Wohnung per Handschlag, die Väter-Briefe freizugeben. Daraus einige Auszüge.

 25. Nov. 10  Wien, IX., Berggasse 19 […] Die Stimmung wird mir durch die Ärgernisse mit Adler und Stekel weggenommen, mit denen schwer auszukommen ist. Stekel kennen Sie, er hat eine manische Zeit und bringt alle feineren Regungen in mir zur Verzweiflung; ich bin es fast müde, ihn gegen die ganze Welt zu verteidigen. Zuletzt hat sich auch im Verein eine starke Opposition gegen ihn geregt. Adler, ein sehr anständiger und geistig hochstehender Mensch, ist dafür paranoisch, drängt seine kaum verständlichen Theorien im »Zentralblatt« so vor, daß sie alle Leser in Verwirrung bringen müssen. Streitet beständig um seine Priorität, belegt alles mit neuen Namen, beklagt sich, daß er in meinem Schatten verschwindet, und drängt mich in die unliebsame Rolle des alternden Despoten, der die Jugend nicht aufkommen läßt. Ich wäre froh, wenn ich sie beide los wäre, da sie mich auch persönlich schlecht behandeln. […] 171 Freud, S.; Jung, C. G. (1984): Briefwechsel. Hg. von William McGuire u. Wolfgang Sauerländer. Gekürzte Ausgabe. Frankfurt/M. (Fischer-TB). Mit freundlicher Genehmigung der Stiftung der Werke von C. G. Jung, Zürich.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

 22. 1. 1911  Wien, IX., Berggasse 19 […] Adler geht konsequent weiter und wird bald ausgelaufen sein. Unlängst äußerte er die Ansicht, auch der Koitus entspringe nicht ausschließlich sexuellen Motiven, sondern diene der Absicht des Individuums, sich männlich vorzukommen. Es ist eine nette kleine Paranoia. Daß bei der ganzen Theorie das eigentliche schwere Leiden der Neurotiker, ihre Unglücks- und Konfliktempfindungen, um seine Erklärung kommt, ist ihm noch nicht eingefallen. Er hat (seit München) einmal im Verein ein Stück seines Systems verteidigt, wurde von vielen Seiten angegriffen, von mir nicht. Seitdem ich ihn ganz verstehe, bin ich Herr meines Affekts geworden und werde ihn sanft und aufschiebend behandeln, allerdings ohne Aussicht auf Erfolg. […]  1. März 1911  Wien, IX., Berggasse 19 […] Seit vorgestern bin ich der Obmann der Wiener Gruppe. Es ging nicht länger mit Adler, er sah es ein und erklärte es selbst als inkompatibel mit seinen neuen Lehren, die Leitung der Gruppe länger zu führen. Stekel, jetzt ein Herz und eine Seele mit ihm, ist ihm gefolgt, und ich habe mich entschlossen, nach diesem mißglückten Versuch die Zügel wieder in die Hand zu nehmen. Ich werde sie jetzt stramm anziehen; es dürfte ohnedies allerlei Malheur bereits angerichtet sein. Obmann-Stellvertreter ist Hitschmann, ein Strenggläubiger, wie Sie wissen. Die Opposition gegen Adler war bei den älteren Mitgliedern sehr stark, während bei den jungen und neuen sich viel Sympathie für ihn gezeigt hat. Ich betrachte mich nun als den Vollstrecker der Rache der beleidigten Göttin Libido und werde auch im »Zentralblatt« schärfer als bisher darauf sehen, daß die Ketzerei nicht zu viel Raum einnehme. Hinter Adlers scheinbarer Schärfe ist ein großes Stück Verworrenheit zum Vorschein gekommen. Daß ein Psychoanalytiker dem Ich so aufsitzen könnte, hätte ich nicht erwartet. Das Ich spielt doch die Rolle des dummen August im Zirkus, der überall seinen Kren dazugibt, damit die Zuschauer glauben, er ordne alles an, was da vor sich geht. […]  15. 6. 11  Wien, IX., Berggasse 19 […] Adler bin ich endlich losgeworden. Nachdem ich von Bergmann seinen Rücktritt vom »Zentralblatt« verlangt, hat er viel herumgezogen und endlich in sonderbaren Wendungen etwas erklärt, was man als Verzicht deuten muß. Wenigstens stimmt dazu die Ankündigung, daß er aus der WA Vereinigung austrete. Dann bricht das Zurückgehaltene heraus: »Der Verein hatte Ihnen gegenSigmund Freud

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über trotz einer einmaligen Entschließung nicht den moralischen Einfluß, Sie in der Verfolgung Ihres alten persönlichen Kampfes (!!) gegen mich aufzuhalten. Da ich keine Neigung habe, mit meinem gewesenen Lehrer diesen persönlichen Kampf zu führen, zeige ich hiemit meinen Austritt an.« Der Schaden ist nicht sehr groß. Paranoische Intelligenzen sind nicht rar und mehr gefährlich als wertvoll. Er hat als Paranoiker natürlich in vielem recht, wenn auch in allem unrecht. Einige recht unbrauchbare Mitglieder werden wahrscheinlich seinem Beispiel folgen. […]  C. G. Jung, 1003172 Seestraße, 11. VII. 11 Küsnach-Zürich […] Von Adler erhielt ich beiliegenden Brief. Er dehnt scheint’s seine Wahnideen auch auf mich aus, indem er sich auf ein in Wien angeblich zirkulierendes Gerücht bezieht, wonach ich seine Entfernung aus dem Verein verlangt hätte. Ich habe ihm natürlich gleich geschrieben, davon sei gar keine Rede, im Gegenteil fände ich seinen Verlust sehr bedauerlich etc. etc. Wer bringt solche Gerüchte auf ? […]  S. Freud, Karlsbad, 13. 7. 11  Haus Columbus […] Ich weiß nämlich, wer diese Gerüchte fabriziert. Es ist nicht schwer zu erraten: Adler selbst, in guter Absicht. Indem er Ihnen schreibt, wovon er die Widerlegung sicher erwarten kann, hofft er auf den Automatismus der Höflichkeit: im Gegenteil, es tue Ihnen leid, und Sie sind ihm völlig aufgesessen, was mich in eine schwierige Lage bringt. […] Daraus allein hat er sich das Gerücht gemacht und von Ihnen nun gehört, Sie bedauerten seinen Austritt, hielten ihn für einen Verlust usw. Daraus wird er jetzt Kapital schlagen; er hat Ihre Mißbilligung für mein Vorgehen gegen ihn, hat uns in Gegensatz zueinander gebracht […]  C. G. Jung, 1003 Seestraße, 19. VII. 11 Küsnach-Zürich […] Es ärgert mich sehr, daß ich Adler aufgesessen bin. Er wird mich infolgedessen später doch weiter von ihm entfernt finden, als er jetzt denkt. Ich ging auch ein bißchen vom Prinzip aus, mit dem Paranoiker nie zu hadern, sondern einfach begütigend zu dementieren. […]

172 Anfang der 1920er Jahre umnummeriert in 228.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

 12. Okt. 11  Wien, IX., Berggasse 19 Lieber Freund Etwas müde von Kampf und Sieg teile ich Ihnen mit, daß ich gestern die ganze Adlerbande (6 Stück) zum Austritt aus dem Verein genötigt habe. Ich war scharf, aber kaum ungerecht. […]  C. G. Jung, 1003 Seestraße, 15. XI. 12 Küsnach-Zürich […] Der Brief von Adler ist ein dummes Geschwätz, über das man ruhig zur Tagesordnung gehen kann. Wir sind hier keine Kinder. Wenn Adler aber irgendwo was Gutes oder Beherzigenswertes sagt, so werde ich es anerkennen, auch wenn ich Adler als Persönlichkeit nicht schätze. Wie schon in meiner Arbeit, so bemühe ich mich auch jetzt und fernerhin, mich von kleinlichen Komplexen fernzuhalten und unentwegt das zu tun, was ich für wahr und richtig halte. […] Der Hass gegen Abtrünnige, die es wagten, gegen die »Göttin Libido« zu freveln, also anderer Meinung als Freud zu sein, brannte auch im 80-jährigen Freud unvermindert fort. In einem Brief an Arnold Zweig, geschrieben im Juni 1937, einen Monat nach Adlers Tod, heißt es:

Ihr Mitleid für Adler begreife ich nicht! Für einen Judenbuben aus einem Wiener Vorort ist ein Tod in Aberdeen, Schottland, eine unerhörte Karriere und ein Beweis, wie weit er es gebracht hat. Wirklich hat ihn die Mitwelt für das Verdienst, der Analyse widersprochen zu haben, reichlich belohnt.173

Eine Freundin der Familie Adler Eine Freundin der Adler’schen Familie schrieb in ihren Adler-Erinnerungen an dessen Tochter, wie schockiert sie war, als Adler auf ihre Klage über schreckliche Schlaflosigkeit ganz nebenbei bemerkte: »Das wird schon werden. Schlaflosigkeit ist nicht gefährlich, schlafen Sie halt nicht, wenn Sie nicht können; aber es wird schon kommen.«174

173 Jones, Ernest (1962): Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Bern u. a. (Hans Huber), Bd. 3, S. 255. 174 Aus: Individual Psychology Newsletter, London, März/April u. Mai/Juni 1972, zitiert in: Jacoby, Henry: Alfred Adlers Individualpsychologie und dialektische Charakterkunde. Frankfurt/M. (Fischer-TB), S. 15. Eine Freundin der Familie Adler

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Ich habe geglaubt, daß er mein Problem der Schlaflosigkeit zu sehr vereinfachte, aber eines Tages habe ich festgestellt, daß ich keine Schlaftabletten mehr nahm. Ich habe sogar aufgehört, Schafe auf der grünen Weide meiner Einbildungskraft zu zählen … Eines Tages aber sagte er plötzlich zu mir: »Sie waren das älteste Kind Ihrer Familie, nicht wahr? Und nach Ihnen kam ein Junge.« Es war tatsächlich so. Aber wie im Himmel konnte er es erfahren haben? Von wem? Während ich mir diese Fragen vorlegte, schaute er mich amüsiert an, das Kinn in der Handfläche und den Ellbogen auf den Tisch gestützt: »Das würde Ihr Bestreben, das Weibliche zu verstecken, erklären. Sie sind dennoch sehr weiblich. Der Junge muß bald nach Ihnen gekommen sein, und da Ihre Eltern, wie alle unvernünftigen Eltern, einen Jungen wollten, erschraken Sie vor der Konkurrenz und wollten den Jungen übertreffen. Habe ich recht?« Er hatte recht, und wie! Ich erzählte ihm, wie ich als Kind darauf bestanden hatte, mit meinem Bruder Fußball zu spielen, und daß sich mein Bruder schämte, weil ich wie ein Junge angezogen war.

Carl Furtmüller Carl Furtmüller (1880–1951) war ein österreichischer Lehrer und Psychologe, der nach Adlers Trennung von Freud sein wichtigster Mitarbeiter beim Aufbau der Individualpsychologie wurde. Nach einem mit Auszeichnung bestandenen Abitur studierte Furtmüller ab 1898 Germanistik, Philosophie und Französisch an der Universität Wien. Vier Jahre später promovierte er an der philosophischen Fakultät. Ab 1901 unterrichtete Furtmüller zunächst als Hilfslehrer an einem Gymnasium, wenige Jahre später legte er die Lehramtsprüfungen für Deutsch, Griechisch, Latein, Philosophie und Französisch ab. Zusammen mit seiner Frau engagierte er sich im Verein »Freie Schule«, dessen treibende Kraft der Wiener Otto Glöckel (1874–1935) war. Furtmüller hatte Adler wohl durch die Familie seiner russischstämmigen Frau kennengelernt. Adler wiederum führte Furtmüller 1909 in Freuds Mittwoch-Gesellschaft ein, die dieser 1911 zusammen mit Adler verließ. Im November 1918 wurde die österreichische Republik ausgerufen, und Carl Furtmüller übernahm eine führende Rolle in der Reformbewegung der Mittelschullehrer. Glöckel, der neue sozialdemokratische Minister für Unterricht, berief Furtmüller 1919 in die Reformabteilung des Ministeriums, wo er einen herausragenden Anteil an der Ausarbeitung der Leitsätze eines Programms für die Neuordnung des Schulwesens hatte. Die Schriften Carl Furtmüllers wurden 1983 unter dem Titel »Denken und Handeln« von seinem Sohn Lux Furtmüller herausge-

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

geben. Auf den Seiten 233 ff. berichtet Furtmüller über »Alfred Adlers Werdegang«, woraus im Folgenden zitiert wird.175

Ohne Zweifel mußten Freuds feindliche Handlungen Adler tief verletzen. […] Es war überraschend und sprach für Adlers überragende Persönlichkeit, daß er im Lauf dieser Krise nie die Selbstbeherrschung verlor. Er sprach mit Ruhe, als er den Freunden berichtete, was sich ereignet hatte. In seiner Kritik an Freuds Handlungsweise war er sehr zurückhaltend und vermied streng jeden Gefühlsausbruch. Diese Haltung war für ihn eine Sache der persönlichen Würde. Sie war auch die beste Art, seine Freunde statt zu unfruchtbarem Groll zu positiver Arbeit anzuleiten.176 […] Adler verweilte nie lange bei rein theoretischen Gedankengängen; er zog es vor, durch Tatsachen zu veranschaulichen, was er meinte. Im Freudschen Kreis war er ein klarer, aber nicht besonders fesselnder Redner gewesen. Jetzt aber entwickelte er allmählich seine unnachahmliche persönliche Art, Kontakt herzustellen mit seinem Publikum. Dank dieser Gabe konnte er später auf großen Veranstaltungen ein neues Publikum, darunter sowohl Fachleute wie Laien, in seinem Bann halten und brachte es zustande, daß Hunderte von Hörern Monate und Jahre hindurch ohne jeden akademischen Zwang regelmäßig seine Kurse besuchten. Auch wenn er ein vorbereitetes Referat hielt, floß ein ununterbrochener lebendiger Strom zwischen ihm und den Zuhörern. Er merkte es sofort, wenn er nicht ganz verstanden worden war, und machte seinen Punkt klarer, wobei er oft Anekdoten aus dem praktischen Leben oder Krankengeschichten aus seiner therapeutischen Praxis heranzog. Er übersah es nicht, wenn Zweifel oder Widerspruch sich auch nur in der Miene oder der kleinsten Geste eines Zuhörers ausdrückten, und reagierte mit einer kurzen Nebenbemerkung, einem Aphorismus oder je nach den Umständen mit einem gemütlichen oder einem sarkastischen Witz. Dabei war er noch immer der ausgezeichnete Zuhörer, der er immer gewesen war, und folgte den Beiträgen der anderen Mitglieder bis in jede Einzelheit und Nuance. Oft kam es vor, wenn ein Redner eine interessante Idee äußerte, die bei den anderen nicht entsprechend Beachtung oder Anerkennung fand, weil sie nicht genügend eindringlich oder klar vorgebracht worden war, daß Adler es auf sich nahm, die Wichtigkeit jener Bemerkung hervorzuheben, 175 Furtmüller, Carl (1983): Denken und Handeln. Schriften zur Psychologie 1905–1950. Hg. von Lux Furtmüller. München u. Basel (Ernst Reinhardt). 176 Furtmüller, Carl (1983): Denken und Handeln, S. 249. Carl Furtmüller

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ihre volle Bedeutung klar zu machen und die Zusammenhänge mit dem zur Diskussion stehenden Thema und die sich daraus ergebenden Folgen aufzuzeigen und auf diese Weise dem andern die Ehren des Abends zu überlassen. Den tiefsten und nachhaltigsten Eindruck machte Adler auf seine Zuhörer, wenn er sich die Zeit nahm, auf die Einzelheiten einer Krankengeschichte einzugehen. Dann berichtete er entweder über einen abgeschlossenen Fall, wobei er auch die Wirkung der Behandlung schildern konnte, oder er kam mehrmals auf denselben Fall zurück, wobei er zeigen konnte, wie die fortschreitende Behandlung Fragen beantwortete, die in den vorhergehenden Berichten offen geblieben waren.177 […] Adler war sein Leben lang ein fleißiger und unermüdlicher Arbeiter, aber nie mehr als in den Jahren nach seiner Trennung von der Freudschen Gruppe. Da war vom Morgen bis spät in den Nachmittag und manchmal auch am Abend die Kette seiner Patienten; da war die Arbeit mit seiner Gruppe, die nicht auf die wöchentlichen Zusammenkünfte beschränkt war, denn es war nur natürlich, daß Gruppenmitglieder immer wieder bestimmte Probleme der Theorie oder der psychotherapeutischen Praxis mit ihm persönlich besprechen wollten, und er fand in seinem überlasteten Stundenplan immer Platz für solche Besprechungen; da waren Briefe und die Besucher aus dem Ausland; da war die Lektüre; und da war schließlich eine Familie mit vier heranwachsenden Kindern, die ihren Anteil an des Vaters Zeit und Aufmerksamkeit beanspruchten und auch erhielten. Nie klagte Adler wegen Überarbeitung, nie sah er müde aus. Als echter Wiener suchte er Entspannung vor allem im Kaffeehaus, wo er gerne ein bis zwei Stunden im Kreise von Freunden verbrachte und wo er meistens bald wieder in Gespräche vertieft war, die man als Fachsimpelei bezeichnen könnte, die ihm aber oft die Möglichkeit boten, sich über schwierige berufliche oder theoretische Probleme auszusprechen. Seine Ferien waren nie nach Monaten, sondern nach Tagen, höchstens Wochen bemessen. Dank dieser übersteigerten Arbeitsintensität konnte Adler sein Buch Über den Nervösen Charakter schon 1912 veröffentlichen.178 […] Die Individualpsychologen um Alfred Adler organisierten nach dem Ersten Weltkrieg in Wien zahlreiche Erziehungsberatungsstellen.

Adler selbst wirkte in einer dieser Beratungsstellen. Die Methode, die er dabei wählte, erschien zunächst als ein gewagtes Experiment, erwies sich aber als ein 177 Furtmüller, Carl (1983): Denken und Handeln, S. 251. 178 Furtmüller, Carl (1983): Denken und Handeln, S. 255.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

voller und sehr bedeutsamer Erfolg. Adler beschloß, seine Arbeit in der Beratungsstelle zur Vorführung seiner Methoden vor Studierenden der Individualpsychologie zu benützen, und hielt daher seine Aussprache mit dem Kind und den Eltern nicht privat, sondern vor einem engeren Kreis von Zuhörern. Das Verfahren begann mit einem mündlichen oder schriftlichen Bericht des Lehrers, der den Fall zur Beratungsstelle gebracht hatte. Daraufhin analysierte Adler diesen Bericht und zeichnete ein Bild des Charakters und der Probleme und Familiensituation des Kindes, so wie er sie sich aus den im Bericht mitgeteilten Tatsachen zusammenreimen konnte. Dann kamen die Interviews; zuerst Vater oder Mutter, dann das Kind, oder Adler kehrte die Reihenfolge um, wenn er fühlte, daß das Kind sonst mißtrauisch sein und eine »Verschwörung« vermuten könnte. Adlers Geschick im Umgang mit Menschen brachte es mit sich, daß sowohl Kinder wie Erwachsene sich bald in seiner Gegenwart wie zu Hause fühlten und von den Zuhörern gar keine Notiz nahmen oder sie bald vergaßen. Das heißt aber nicht, daß Adler es den Kindern »leicht« machte. Ganz im Gegenteil, da die Zeit kostbar war, liebte er es, schon mit seinen ersten Fragen und Bemerkungen auf den Kernpunkt der Schwierigkeiten zu zielen. Getreu seinen Grundideen gab Adler nie autoritativen Rat, sondern brachte das Kind dazu, mit ihm seine Schwierigkeiten zu durchdenken, und half ihm, einen Plan für die Überwindung dieser Schwierigkeiten aufzustellen. Dann wurde ein Datum für eine weitere Aussprache vereinbart, bei der das Kind berichten würde, wie sich der Plan auswirkte. Schließlich gab Adler den Lehrern und Eltern eine zusammenfassende Darstellung des Falls, den er oft als Beispiel benützte, um allgemeinere Probleme zu beleuchten. Für die Zuhörer war es immer ein Erlebnis, zu sehen, wie nahe Adler in seiner Skizzierung der Persönlichkeit des Kindes nach den Angaben des Anfangsberichts dem Bild gekommen war, das sich schließlich aus der Aussprache mit Kind und Eltern ergab. Genaue Protokolle über den Verlauf dieser Beratungen fehlen leider …179 […] Adler bereiste viele europäische Länder und referierte auf Deutsch. 1926 erhielt er erstmals eine Einladung in die USA.

Mehrere Jahre lang gingen diese Reisen nur in Länder, in denen er seine Vorträge auf Deutsch halten konnte, denn seine Beherrschung von Fremdsprachen war damals auf das Lesen beschränkt. Im Jahre 1926 aber entschloß er sich, eine Einladung nach Amerika anzunehmen und seine Vorträge dort auf Englisch zu halten. Er vollbrachte das Wunder, in seinem überlasteten Arbeitsplan 179 Furtmüller, Carl (1983): Denken und Handeln, S. 269. Carl Furtmüller

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Platz zu schaffen für tägliche Englisch-Stunden, und nach mehreren Monaten angespannten Studiums fühlte er sich zu diesem Wagnis bereit. Denn es war ein Wagnis, daß er sich, in einem Lebensalter, das kaum als das geeignetste erscheint, das Studium fremdsprachiger Konversation aufzunehmen, nach wenigen Monaten der Vorbereitung einem englischsprechenden Publikum stellen wollte, und zwar nicht nur, um wohlvorbereitete Vorträge zu halten, sondern auch Fragen und Einwände der Zuhörer zu beantworten. Adler reagierte auf diese Schwierigkeiten in durchaus charakteristischer Weise. Er hätte es als einen Mangel an Mut und Energie angesehen, wenn er auf diese Gelegenheit, seine Ideen vor einem breiteren Publikum darzulegen, verzichtet hätte. Dieser Aufgabe aus dem Weg zu gehen, weil sein Englisch nicht vollkommen war, wäre nach seiner Meinung eine jener Ausflüchte gewesen, mit denen Neurotiker ihr Ausweichen vor den realen Lösungen der Lebensprobleme zu entschuldigen pflegen.180 […] Seit der Zeit, als er noch als allgemeiner Arzt praktizierte, hatte Adler immer nach dem Prinzip gehandelt, daß der Arzt vor den Patienten und ihren Familien nicht als Priesterfigur erscheinen soll, die geheimnisvolle, esoterische Riten handhabt, sondern als ein Mensch, der sein Wissen und seine Heilmethode soweit irgend möglich den Laien verständlich zu machen sucht. Adler neigte dazu, seine Gedanken auf die einfachste Art darzulegen; er verzichtete lieber auf den Nimbus des Gelehrten, als sich so auszudrücken, daß der intelligente, aber ungeschulte Hörer oder Leser ihm nicht folgen konnte; und er zog es vor, komplizierte Details und kunstvolle Klassifizierungen zu vermeiden, wenn es sich zeigte, daß sie das Verständnis der grundlegenden Ideen eher hinderten als förderten. Adlers Neigung in dieser Richtung verstärkte sich nun mehr und mehr.181 […] Adler hatte die Erfahrung gemacht, daß interessierte Laien seinen Lehren im allgemeinen aufgeschlossener gegenüberstanden als die meisten Fachleute, sowohl Psychiater wie Psychologen. Auf kunstgerechte Debatten über Details und auf die Verteidigung jedes einzelnen Punktes seiner Theorien gegen spitzfindige Polemiker kam es ihm nicht an; er hielt es für fruchtbarer, Verständnis für die Grundgedanken seiner Lehren bei Männern und Frauen zu erwecken, die dadurch lernen würden, mit ihren eigenen Problemen besser fertig zu werden, und auch andern helfen könnten, ihre Probleme in ihrem Lebenskreis zu lösen. Er wollte sich dem einfachen Mann verständlich machen, sofern er intelligent war und bereit, neue Ideen durchzudenken und zu assimilieren.182 […] 180 Furtmüller, Carl (1983): Denken und Handeln, S. 271. 181 Furtmüller, Carl (1983): Denken und Handeln, S. 272. 182 Furtmüller, Carl (1983): Denken und Handeln, S. 273.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Zeitlebens ein unermüdlicher Arbeiter, verdoppelte Adler seine Anstrengungen während der Jahre, in denen er seine Tätigkeit zwischen Europa und Amerika teilte. Man kann sagen, daß er jahraus, jahrein in jedem der beiden Kontinente eine volle Jahresarbeit leistete. Und was unter normalen Umständen seine Ferienzeit gewesen wäre, wurde nun zu Perioden konzentriertester Arbeit. Da waren nicht nur seine zahlreichen Kurse und Vorträge, da war die Arbeit in Beratungsstellen und mit Privatpatienten, und gleichzeitig veröffentlichte er eine lange Reihe von Arbeiten und Büchern, die meist aus stenographischen Niederschriften seiner Vorlesungen hervorgingen. […] Leider führte seine Überarbeitung auch zu ernsteren Folgen. Sein wachsendes Alter hätte ihn zum Haushalten mit seinen Kräften mahnen sollen. Adler kümmerte sich nicht darum; er vertraute auf seine scheinbar unverwüstliche körperliche Gesundheit. Während seines ganzen Lebens war er nur dreimal ernstlich krank gewesen. Schließlich aber wurde die Belastung zu schwer. Sein Herz begann zu versagen und Adler, noch immer der tüchtige Diagnostiker, wußte es. Vielleicht hatte er sich einen Termin gesetzt, nach dem er völlig auszuspannen oder zumindest seine Tätigkeit einzuschränken gedachte. Denn als Freunde ihn im Frühjahr 1937 vor Überanstrengung warnten, erwiderte er lächelnd, daß er »nächstes Jahr« sich richtige Ferien nehmen werde. Aber es sollte nicht sein. Im April 1937 kam Adler nach Europa. Zwischen dem 26. April und 28. Mai hielt er Vorlesungen in Paris, Belgien, Holland und Schottland. Dabei kam er in den letzten Maitagen nach Aberdeen zu einer Reihe von Vorlesungen für Medizinstudenten und angehende Lehrer an der dortigen Universität. Das Programm wurde noch um einige Vorlesungen erweitert. Es war die Atmosphäre konzentrierter Arbeit, die Adler gewöhnt war und die er auch diesmal wie immer genoß. Am Vormittag des 28. Mai ging er auf einen Spaziergang. Plötzlich brach er zusammen. Er starb im Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus.183

Henry Jacoby Henry Jacoby (1905–1986), Journalist, Schriftsteller und Schüler Alfred Adlers, war als Fürsorger in Gefängnissen und Erziehungsheimen tätig. Er war bis 1933 Geschäftsführer der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen und arbeitete als Mitarbeiter der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« (IZI) und der Schriftenreihe »Schwererziehbare Kinder«. Als KPD-Mitglied wurde er 1936 als »Hochverräter« in Zuchthäuser des Dritten Reiches eingesperrt und emigrierte nach seiner 183 Furtmüller, Carl (1983): Denken und Handeln, S. 276. Henry Jacoby

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Entlassung in die USA. 1946–1968 hatte er leitende Tätigkeiten bei den Vereinten Nationen inne. Danach war er für Amnesty International tätig.184 Er veröffentlichte mehrere soziologisch geprägte Aufsätze und Bücher, zum Beispiel »Utopie als Gegenbild« in Otto Rühles »Baupläne für eine neue Gesellschaft. Die Bürokratisierung der Welt und Beiträge zur Soziologie der Sozialistischen Idee«. Die folgende kurze Passage stammt aus seinem Buch: Alfred Adlers Individualpsychologie und dialektische Charakterkunde, Frankfurt/M. (Fischer-TB), S. 13 f.

Über Alfred Adler ist wenig geschrieben worden. Er hat keine Memoiren und keine Aufzeichnungen über sich selbst hinterlassen. Kein Briefwechsel ist publiziert worden, und es gibt einen solchen vielleicht auch gar nicht. Alfred Adler war zu sehr ein Mann des praktischen Lebens, um eine Person der Literatur zu werden. Adler war, wie sein englischer Übersetzer, der Schriftsteller Nigel Dennis schrieb, ein geborener Erzähler, der sich weder die Zeit nahm noch die Mühe gab, zu schreiben, und dessen Schriften vielfach Stenogramme seiner Vorträge sind, die den Übersetzer Stunden der Verzweiflung kosteten. Der rundliche, quicklebendige Mann mit der etwas nachlässigen Kleidung und dem altmodischen Kneifer auf der Nase war immer bereit zu reden. Er sprach ebenso unbefangen und rasch vor Ärzten wie vor Lehrern, vor einem akademischen Publikum wie vor Arbeitern. Vor allem aber war Adler der Arzt »mit dem klinischen Blick«, der organische Krankheiten vor der eigentlichen Untersuchung erkannte und der aus Bruchstücken einer Lebensgeschichte, aus einer Erinnerung oder aus einem Traum Charaktere erkennen konnte. Seine Aufmerksamkeit galt den menschlichen Bewegungen. Nigel Dennis schreibt: »Er sagte oft seinen Studenten: ›Wenn wir eine Person verstehen wollen, müssen wir unsere Ohren schließen; wir dürfen nur schauen. Auf diese Weise erkennen wir die ganze Gestalt wie in einer Pantomime.‹ Physiognomie nannte er Bewegung, die zur festen Form geronnen war; einen Patienten sich auf eine Couch legen zu lassen, beruhte für ihn auf einem fürchterlichen Irrtum, da dem Therapeuten nur die ›unwahren‹ Worte des Patienten bleiben.« Adler hatte in den Beratungsstellen sofort Kontakt mit Kindern. Den Widerspenstigen, mit dem die Mutter nicht fertigwerden konnte, verblüffte er und brachte ihn zum Lachen, indem er ihn beispielsweise mit den Worten empfing: »Du siehst so aus, als ob du deiner Mutter viel hilfst.«

184 Wikipedia-Eintrag »Henry Jacoby«, http://de.wikipedia.org/wiki/Henry_Jacoby, Zugriff am 13. 06. 2014.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Dem Kind, das vor jedem Schulgang daheim eine kleine Katastrophe verursachte, schlug er vor, über das Bett einen Zettel zu heften mit den Worten: »Ich darf nicht vergessen, vor dem Weggehen Schwierigkeiten zu machen«, und mit dem Mädchen, das mit keinem Berater sprechen wollte, kam er sofort in Kontakt, als er sie fragte: »Nun rate mal, wie alt ich bin.«

Ernst Jahn Ernst Jahn war ein evangelisch-lutherischer Pfarrer der St.-Lukas-Gemeinde in BerlinSteglitz, mit dem zusammen Adler 1933 ein Buch veröffentlichte: E. Jahn & A. Adler: Religion und Individualpsychologie: eine prinzipielle Auseinandersetzung über Menschenführung. Wien u. Leipzig (Passer) [Reprints 1975 und 2008]. Jahn war an Psychologie interessiert, aber Sigmund Freuds Buch »Zukunft einer Illusion« (1927) schockierte ihn wegen Freuds kompromisslos atheistischer Haltung und dessen Annahme, dass Religiosität eine Neurose sei. Jahn schrieb eine Erwiderung unter dem Titel »Wesen und Grenzen der Psychoanalyse«185. Das brachte ihn zu Adler. »Er fand Adlers Hervorhebung des sozialen Gefühls als Hauptfaktor (statt der sexuellen Verdrängung) in der Seelsorge mit Paaren und Familien bedeutend und veröffentlichte 1931 sein Buch »Machtwille und Minderwertigkeitsgefühl«186. Kurz drauf begegneten sich die beiden Männer zu einer lebhaften Diskussion« (Edward Hoffman: Alfred Adler, 1997, S. 338). In einem neuen Vorwort von »Religion and Individual Psychology« berichtet Jahn über seine Treffen mit Adler:

Adlers Erscheinung ist mir immer unvergeßlich geblieben. Er war ein Mensch, der völlig von seiner Idee in Anspruch genommen war, und ohne jede Spur von Pathos, und doch erfüllt von einem enormen Wissensdurst. Auf seinen Vorschlag hin nahmen wir es in die Hand, die theologischen und medizinisch-individualpsychologischen Aspekte der Therapie zusammen in einem Buch darzustellen. […] Adlers Therapie will den Menschen mit Liebe in die Gesellschaft einfügen. Für ihn ist Brüderlichkeit ein Ziel mit fast religiösem Enthusiasmus.187

185 In der Reihe »Arzt und Seelsorger«, 9, Schwerin in Mecklenburg (Friedrich Bahn Verlag), 1927. 55 Seiten. 186 Jahn, Ernst (1931): Machtwille und Minderwertigkeitsgefühl: eine kritische Analyse der Individualpsychologie. Berlin (Warneck). 187 Aus: Jahn, Ernst (1964): Neues Vorwort zu »Religion and Individual Psychology«. In: Adler, Alfred (1964): Superiority and Social Interest. A Collection of Later Writings. Ed. by Heinz L. & Rowena R. Ansbacher. Evanston, Illinois (Northwestern Univ. Press), S. 273. Ernst Jahn

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Ernest Jones Ernest Jones (1879–1958) war ein britischer Psychoanalytiker, einer der wichtigsten Mitarbeiter Freuds und Autor des dreibändigen Standardwerks »Sigmund Freud – Life and Work« (1954–1957, deutsch »Sigmund Freud. Leben und Werk«, 1960–1962). Jones studierte in London, München und Zürich Medizin und spezialisierte sich auf Psychiatrie. 1908 traf er erstmals auf Freud. Jones arbeitete zunächst in Toronto (Kanada) und wurde Mitbegründer der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung. Zurück in London gründete er die British Psychoanalytic Society, deren Präsident er wurde. 1920 rief er das »International Journal of Psychoanalysis« ins Leben. Jones war zweimal Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (1920–1924 und 1932–1949). Er blieb in engem Kontakt mit Freud bis zu dessen Tod im Jahre 1939. In den Jahren zwischen 1954 und 1957 veröffentlichte er eine voluminöse, dreibändige Freud-Biografie, welche nach wie vor als wichtige Quelle der Freud-Biografik angesehen wird. Das folgende Zitat stammt aus der deutschen dtv-Ausgabe (München) von 1984, Bd. 2, S. 161.

Mein eigener Eindruck von Adler war der eines mürrischen, zänkischen Menschen, der immer zwischen Streitsucht und Verdrießlichkeit hin- und herpendelte. Es war offensichtlich, daß er sehr ehrgeizig war, und ständig fand man ihn im Streit mit den andern um Prioritätsansprüche hinsichtlich gewisser theoretischer Punkte. Als ich ihn dann Jahre danach wiedersah, bemerkte ich freilich, daß ihm der Erfolg zu einer gewissen Milde verholfen hatte, von der man in seinen früheren Jahren wenig spürte. Innerhalb der kleinen Gruppe war er gewiß die stärkste Persönlichkeit, und in den ersten Jahren hielt Freud offensichtlich viel von ihm. Er schätzte sein Buch über Organminderwertigkeit und fand auch, daß seine Studien über die Charakterbildung einige gute Beobachtungen enthielten. Aber Adlers Auffassung ging ganz einseitig vom Ich aus und gibt ein im wesentlichen falsch gedeutetes Bild der sekundären Widerstände gegen die verdrängten und unbewußten Triebregungen. Zudem hatte seine Theorie eine sehr enge und einseitige Grundlage: die aus dem »männlichen Protest« stammende Aggression. Sexuelle Faktoren, besonders jene der Kindheit, wurden auf ein Minimum reduziert: Den Inzestwunsch des Knaben, mit seiner Mutter intime Beziehungen zu haben, deutete er als den Eroberungswunsch des Männchens, das, unter der Maske des Sexualtriebs, das Weibchen in Besitz nehmen will. Die Begriffe der Verdrängung, der infantilen Sexualität und sogar des Unbewußten wurden abgeschafft, so daß von der Psychoanalyse nicht viel übrigblieb. Adlers Theorie war vor allem eine Psychologie des Ichs. Wie dieses aber von 178

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

unbewußten Vorgängen bearbeitet und beeinflußt wird, das heißt alles, was die Psychoanalyse beigesteuert hatte, wurde dabei kaum beachtet und bald überhaupt vollkommen ignoriert. Freud hat das Ich, wie Adler es darstellt, mehrmals mit einem Clown verglichen, der behauptet, alle schwierigen Kunststücke des Zirkus selbst vollbracht zu haben. Adler war nie mit Freud intim befreundet gewesen; auch läßt sich die Geschichte, er sei Freuds persönlicher Arzt gewesen, von keinem Familienmitglied bestätigen – sie klingt höchst unwahrscheinlich. Adlers wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten mit Freud waren so grundlegend, daß ich mich ebenso wie im Fall von Fließ nur wundern kann, wie Freud die Geduld aufbrachte, mit ihm so lange zusammenzuarbeiten. Die Mitteilung, Adler sei Freuds persönlicher Arzt oder Hausarzt der Familie gewesen, stammt von Adlers erster Biografin Phyllis Bottome, in: Alfred Adler (1939), S. 83, 91. Jones weist diese Angaben zurück, es habe sich keinerlei Hinweis darauf finden lassen.

Amerikanische Journalisten Edward Hoffman zitiert in seinem Buch »Alfred Adler. Ein Leben für die Individualpsychologie« (1994; deutsch 1997) an verschiedenen Stellen Artikel amerikanischer Korrespondenten, die sich mit Adler und seinen Büchern auseinandersetzen. Unter anderem erschien im März 1929 im »New York Herald« ein detaillierter und lobender Artikel mit der Überschrift »Vater des Minderwertigkeitskomplexes«, der Adlers beachtliche Popularität veranschaulicht. Hoffman fasst die Eindrücke amerikanischer Journalisten über Adler zusammen und zitiert dabei auch aus dem »Herald«-Artikel:

Wie amerikanische Journalisten berichteten, die ihn in Wien besuchten, war sein Tagesablauf ziemlich konstant geregelt. Im allgemeinen pflegte Adler frühmorgens, lange vor den ersten Patiententerminen, in sein Ordinationszimmer zu gehen. Nachdem er etwa bis gegen elf Uhr vormittags allein gearbeitet hatte, würde Adler Freunde, Studenten und Kollegen an seinem Schreibtisch empfangen und sie einladen, seine Ansichten zu diskutieren über alles, was ihn während der letzten vierundzwanzig Stunden am meisten interessiert hatte, seien es klinische, pädagogische oder öffentliche Fragen. Nach dem Mittagessen, um zwei Uhr, begann Adler dann Patienten zu sehen. Sein Wartezimmer hatte sich mittlerweile zu füllen begonnen, mit dem, was ein Reporter wie folgt beschrieb: »ein vielsprachiges Gemisch aus AlmosenAmerikanische Journalisten

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empfängern und Millionären, die alle darauf warteten, ihn zu sehen. Adlers Honorare waren – für jemanden mit amerikanischer Reputation – so niedrig, daß man am Ende sicher sein konnte, er praktizierte aus reiner Leistungskraft und Freude an seinem Beruf. Er reduziert die Qual der Sprechstunde zu einer ziemlich harmlosen Erfahrung.« Im allgemeinen traf sich Adlers locker organisierte Gesellschaft in einem privaten Raum im Obergeschoß des Café Siller in der Postgasse. Adler leitete nur selten die abendlichen Diskussionen, sondern fungierte mehr als Vorsitzender und ernannte freundlich bei jeder Sitzung ein anderes Mitglied, das ein spezielles Thema für das nächste Treffen vorbereiten sollte. Die Themen der einzelnen Präsentationen waren breitgefächert, sie reichten von einem aktuellen Kriminalfall aus den Schlagzeilen der Zeitungen bis zur neuesten psychiatrischen Theorie über straffällige oder schizophrene Kinder. In den langen Diskussionen, die den Berichten folgten, zog Adler es zunächst vor, zu schweigen und zuzuhören. Er ließ beinahe jeden, der wollte, einen bisweilen ziemlich phrasenhaften Kommentar abgeben, bevor er schließlich selbst das Wort ergriff. Dann pflegte er in ein paar kurzen Sätzen, die er mit einer gewissen Ausstrahlung, als ob es sich um eine endgültige Wahrheit handelte, verkündete, den Fall abzuschließen. Nur in seltenen Fällen würde Adler sich in eine ernsthafte Debatte verwickeln lassen, und wenn dies geschah, würde seine freundliche Art umschlagen und er würde streitsüchtig und hartnäckig argumentieren. »Es ist sowohl unterhaltend als auch lehrreich, das Schauspiel von Adlers Debatten in der Postgasse zu erleben«, schrieb ein amerikanischer Journalist, der beruflich in Wien war. »Mindestens einmal pro Nacht gibt es eine Szene Hetzjagd auf Freud. Eines Abends fragte jemand nach dem wesentlichen Unterschied zwischen der Psychoanalyse und der Individualpsychologie. Dies löste eine ausgedehnte Diskussion aus. ›Den Schwanz des Löwen verdrehen‹ wurde zu ›die Theorie des Löwen verdrehen‹. Adler übertrug sofort die geheimnisvolle Dreiecksgeschichte von Vater, Mutter und Sohn aus der Terminologie der Psychoanalyse in die der Individualpsychologie. Er behauptete, daß die Eifersucht des Kindes auf seine Eltern weniger auf einen wertvollen Instinkt zurückzuführen sei, als auf ein angeborenes Verlangen nach Herrschaft, und daß es die Kontrolle des Haushalts durch den Vater ablehnt und danach strebt, sich seinen Platz widerrechtlich anzueignen.« Adler zeigte auch die Tendenz, in einem idiosynkratischen rhetorischen Stil, den manche Reporter amüsant fanden, einzelnen Menschen, sozialen Klassen und sogar ganzen Nationen das Etikett des »Minderwertigkeitskomplexes« aufzudrücken. Genau wie Freud schien auch Adler nicht darüber zu stehen, seine 180

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

intellektuellen Gegner mit persönlichen Angriffen zu diffamieren – manchmal behauptete er zum Beispiel, jemand leide an einem Minderwertigkeitskomplex, der es ihm unmöglich mache, seine Theorien zu akzeptieren. Adlers schillernde Persönlichkeit war gut für Zeitungsartikel geeignet. Amerikanische Journalisten porträtierten den Begründer der Individualpsychologie im allgemeinen häufig mit Adjektiven wie »optimistisch«, »praktisch« und »kämpferisch«. Auch wenn sie nur stark vereinfacht wußten, daß Freud die Sexualität als wichtigsten menschlichen Trieb betonte, beeilten sich solche Reporter, Adlers energische und anscheinend widerstreitende Gegenposition zu liberalen Sexualvorstellungen wie Kameradschaftsehe oder Ehe auf Probe zu zitieren. »Liebe ist die Grundlage unserer gesamten Kultur«, hatte Adler einem Besucher gegenüber nachdrücklich betont, »und ohne sie würde unsere gegenwärtige Zivilisation in sich zusammenbrechen. Monogamie ist die höchste Form der Liebe. Ich habe keine Geduld mit den Bewegungen, die Liebe leichter machen. Wenn sie zu leicht gemacht wird, degeneriert sie zu billigem Vergnügen.«188 Hoffman zitiert ausführlich aus einem Artikel des »New York Herald« vom 17. März 1929:

Die wissenschaftliche Erziehung hat wieder einmal eine sehr humane Persönlichkeit hervorgebracht. Wahrscheinlich ist Alfred Adler der in Amerika derzeit genaueste und originellste ausländische Psychologe. Dieser herausragende Spezialist ist dennoch, zuerst, zuletzt und immer, einfach ein sein Zuhause liebendes und geselliges Wesen. Seine Wesensart ist in der Tat sehr amerikanisch. Obwohl seine Kontakte mit unserem Land sich auf drei kurze Besuche beschränken, teilt er, wie von Geburt an, die meisten unserer Tugenden und Schwächen. Er ist ein Self-made-Mann. Sein Leben liest sich wie ein Empfehlungsschreiben aus Smiles »Selbsthilfe«. Er ist optimistisch. Er ist hartnäckig. Er fließt von Mut und Energie über. Im Gebiet der praktischen Wissenschaft läßt sich seine Theorie der Individualpsychologie besonders auf uns anwenden. Er pflegte bezaubernde »Illusionen«, die seine Kollegen schon vor langer Zeit verworfen haben. Wie irgendein Collegestudent spricht er gewinnend über die Seele, den Einzelnen, Glück, Liebe und Fortschritt […] Die Wissenschaftler von heute sind entweder harte, kalte, effiziente Maschinen wie Freud oder pulsierende menschliche Wesen – nicht weniger effizient – wie Adler.189 188 Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 259 ff. Hoffman stützt sich unter anderem auf Smyser, W. L. (1929): Father of the Inferiority Complex. In: New York Herald, 17. März 1929. 189 Smyser (1929) (siehe vorherige Fußnote), zit. in Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler, S. 271. Amerikanische Journalisten

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An anderer Stelle seines Buches geht Hoffman erneut auf amerikanische Reaktionen ein.

»What Life Should Mean to You« erhielt unterschiedliche Kritiken. Die »New York Times« kommentierte positiv: »Obwohl Adler einer der herausragenden Psychologen der Welt ist, kommt ihm, wenn er über Psychologie schreibt, niemand an klarer Einfachheit und Verständlichkeit seiner Sprache gleich.« Aber andere, wie »New Republic«, »Saturday Review of Literature« und »Outlook and Independent« kritisierten Adlers Bestreben, so komplexe Themen, die die menschliche Psyche betrafen, zu vereinfachen und zu popularisieren. »Es ist plausibel und mit größter Überzeugung geschrieben«, erklärte die »New Republic«, »dennoch ist die Terminologie keine Wissenschaft; noch genügt die Analyse der Gefühle allein, um die Verletzungen zu heilen, die die Natur und die Gesellschaft zugefügt haben.«190 Hoffman berichtet weiter, Charles Henry Davis und seine Tochter Annalee hätten 1932 auf Adlers Namen ein gesondertes Bankkonto eröffnet, um ihn finanziell zu unterstützen. Davis hatte die Idee, Adler eine Gastprofessur am Long Island College of Medicine zu verschaffen und diese für fünf Jahre mit jährlich 8.500 Dollar zu finanzieren. Dies war die bedeutendste akademische Position, die Adler in den USA erreichte. Im Oktober 1932 begann er zu lehren. Hoffman zitiert aus dem »Time Magazin«:

Der streitlustige kleine Alfred Adler, Entdecker des Minderwertigkeitskomplexes, pflegte jedes Jahr ein paar Monate in den Vereinigten Staaten zu verbringen, wo er in Clubs Vorträge hielt, Kinderpsychologen Ratschläge erteilte und sich vor gelehrten Institutionen, die ihn Wien abspenstig machen wollten, zur Schau stellte. Bis zu diesem Sommer gelang es keiner. Nächste Woche wird Dr. Adler anfangen, Studenten des Long Island College of Medicine medizinische Psychologie zu lehren. Die Ernennung ist für fünf Jahre gültig und bringt Long Island ein großes Ich. Denn Dr. Adler ist der Wissenschaftler des Egos. Mit 62 Jahren ist Dr. Adler grau, aber dynamisch. Wenn er Vorlesungen hält, schreitet er die Bühne auf und ab und zieht seine Nase so sehr in Falten, daß seine Brille wackelt. Er spricht Englisch mit österreichischem Akzent. Seine Gesichtszüge haben etwas Kindliches, etwas, das flüchtig von seinen glänzenden Augen und seinem sardonischen Lächeln verborgen wird.191

190 Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler, S. 333. Hoffman zitiert u. a. aus der »New York Times« vom 13. September 1931 und aus der »New Republic« vom 4. November 1931. 191 Time Magazine, 10. Oktober 1932, zit. in Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler, S. 336.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Die Washington Post veröffentlichte am 11. Januar 1937 auf Seite 13 einen Bericht192 über eine Veranstaltung mit Alfred Adler und dem amerikanischen Psychiater Harry S. Sullivan. Sullivan (1892–1949) zählt zu den Neo-Freudianern bzw. zur Neopsychoanalyse; er erwarb sich Verdienste um die Behandlung der Schizophrenie, unter anderem in der Klinik Chestnut Lodge, Maryland.

Psychologie kann Kriminalität senken, sagt Dr. Adler Berühmter Wiener bezaubert Stadthalle in verbalem Schlagabtausch Lebensstil wird zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr geformt Dr. Alfred Adler, der berühmte Wiener Psychologe und Vater des Minderwertigkeitskomplexes, sagte gestern Abend in der Stadthalle im Shoreham Hotel vor eintausend Menschen, bestehend aus der Washingtoner Intelligenzija und wohlmeinenden Bürgern, die etwas lernen wollten, dass ihr Lebensstil193 sich seit ihrem dritten Lebensjahr nicht mehr grundlegend verändert hat. »Es mögen einige sein, aber nicht viele«, sagte Dr. Adler, »die ihren vorgefassten Lebensstil ändern können, ohne dass ihnen gesagt wird, was ihren Lebensstil vor ihrem dritten Geburtstag geprägt hat.« Kinder, so erläuterte Dr. Adler, entwickeln Sozialinteresse oder scheitern darin zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr, und sie tragen ihre antisozialen Vorstellungen, die in dieser Frühzeit gebildet wurden, während ihres ganzen Aufenthalts auf der Erde mit sich herum. Dr. Adler, bebrillt und mit einem ausgeprägten österreichischen Akzent sprechend, bezauberte sein Publikum und zog daraus lang anhaltenden Beifall mit seinen Schnellfeuer-Entgegnungen in einem verbalen Duell mit Dr. Harry Stack Sullivan, dem Präsidenten der William A. White Psychoanalytic Foundation. Erwiderungen Dr. Sullivans Nachdem Dr. Adler in großer Ernsthaftigkeit dem Publikum gesagt hatte, dass viele antisoziale Bürger als respektable Mitglieder der Gesellschaft angesehen werden könnten, und dass der nationale Schaden durch Kriminalität in Höhe von 15.000.000.000 Dollar halbiert werden könnte, wenn man der individuellen Psychologie in den ersten Schuljahren ausreichend Aufmerksamkeit schenken würde, fragte Dr. Sullivan:

192 Mitgeteilt von Prof. Josef Rattner. 193 Im Original life’s outlook, wörtlich Blick auf das Leben; es darf aber anhand Adlers Schriften angenommen werden, dass »Lebensstil« gemeint ist. Amerikanische Journalisten

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»Ich frage mich, ob Dr. Adler jemals Mark Twains ›The Mysterious Stranger‹194 gelesen hat und ob er jemals daran gedacht hat, den Großteil der menschlichen Rasse auszulöschen und die Zivilisation mit einer Gruppe vielversprechender Kinder neu aufzubauen.« »Er macht nur Spaß«, antwortete Dr. Adler lächelnd. »Er weiß, dass jede Gruppe vielversprechender Kinder schließlich genauso viele Neurotiker pro­du­ zieren würde, wie es sie in der heutigen Welt gibt.« Das Publikum tobte. Dr. Adler hatte unterstrichen, dass das »Fehlen von Gemeinschaftsgefühl195 und höheren Tätigkeiten« von neurotischen Erwachsenen zurückverfolgt werden kann zu Ereignissen, die in ihrer Kleinkindzeit passierten. Diese Menschen, sagte er, werden unveränderlich geheilt, wenn sie lernen, was ihnen damals den verzerrten Blick auf das Leben eingab, und sie werden aktiver und nützlicher für die Gesellschaft196. »Wir haben doch aber gerade gewisse Schwierigkeiten mit einer Gesellschaft wegen eines hohen Niveaus an Aktivität, die zu viele Blechbüchsen produziert, und einer generellen Überproduktion«, sagte Dr. Sullivan. »Wie kann die Gesellschaft den explosionsartigen Ausbruch an guter Arbeit überleben, wenn alle normal und tatkräftig werden?«

Wie mit Freizeit umgehen? »Mir scheint, das ist auch von Mark Twain«, sagte Dr. Adler. »Menschen können nicht beschädigt werden, wenn sie Sachen produzieren, die Menschen gebrauchen können. Es wurde gesagt, wenn die Leute fünf Stunden täglich arbeiten, können sie genug für die gesamte Menschheit produzieren.« Dr. Sullivan, ein Psychiater, wollte wissen, was ein Psychiater Leuten sagen soll, nachdem das erfülltere Leben erreicht ist, wie sie ihre 19 Stunden Freizeit jeden Tag füllen sollen.

194 Von dieser Novelle, die Twain zwischen 1897 und 1908 mehrmals umarbeitete, gibt es vier bis fünf verschiedene Versionen. Die letzte, die Adler – wenn überhaupt – hätte bekannt sein können, wurde 1916 herausgegeben. Der Inhalt ist schwer wiederzugeben. Im Kern geht es um den Neffen des gefallenen Engels Satan (der ebenfalls Satan heißt, in anderen Versionen den Namen »44« trägt), der Unglücke voraussagt. Die Menschen, mit denen er es zu tun hat, sind beschränkt und kleingeistig, letztlich sogar nur materielose Gedanken in einem grotesken und dümmlichen Traum. Twain drückte damit tiefen Pessimismus bezüglich des Wesens und der Zukunft der Menschen aus, ebenso wie er die Heuchelei der organisierten Religion kritisierte. 195 Original: social interest. 196 Adler wird hier mit dem Wort society zitiert, nicht mit dem Wort community, Gemeinschaft.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Treuherzig erwiderte Dr. Adler: »Ein Psychiater beispielsweise kann seine Zeit durch vermehrtes Lernen füllen.« Das Publikum klatschte zwei Minuten lang. Jemand aus dem Publikum fragte Dr. Adler nach einer Definition des »Minderwertigkeitskomplexes«, der in viele Sprachen übernommen worden sei. »Er befindet sich tatsächlich nicht im Kopf irgendeines Menschen, er existiert nur in meinem Kopf«, entgegnete Dr. Adler. »Es ist ein Begriff, den ich benutze, um die Schwierigkeiten eines Menschen zu charakterisieren, der sich vor der sozialen Lösung sozialer Probleme scheut – ein Mensch, der sich auf eine Art benimmt, die zeigt, er kann seine Probleme nicht lösen.«

Gina Kaus In ihrer Autobiografie mit dem Titel »Und was für ein Leben … mit Liebe und Literatur, Theater und Film« (Hamburg 1979) hat die österreichische Romanschriftstellerin und Biografin Gina Kaus (geboren 1893 in Wien) ihre Begegnungen mit Adler lebendig geschildert. Sie war mit dem Schriftsteller, Psychologen und Adler-Mitarbeiter Otto Kaus verheiratet.  Im Wiener Café Herrenhof gehörte Gina zum literarischen Kreis um Franz Blei. Ihre Bücher fielen der Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten zum Opfer. Nach abenteuerlicher Flucht ließ sie sich 1939 in Hollywood nieder, wo sie einigen Erfolg mit Novellen und Dramen für den Film hatte. Sie starb im Alter von 92 Jahren 1985 in Los Angeles. In ihren Texten, die in sehr viele Sprachen übersetzt wurden, zeigt sie, dass sie eine kundige Individualpsychologin war. Die Autobiografin geht auf Adler in Wien und später in den USA ein.197

Im darauffolgenden Winter lernte ich zwei für mich ganz entscheidende Männer kennen. Der eine war Alfred Adler; ich muß ihn durch Kaus kennengelernt haben, der ein Adlerianer war (solange er Medizin studierte, hatte Kaus Psychiater werden wollen). Von den vielen Versionen über Adlers Beziehungen zu Freud halte ich die folgende für die wahrscheinlichste: Etwa 1900, als Freud bereits allen gebildeten Menschen bekannt, aber noch keineswegs anerkannt war, erschien in einer führenden Wiener Zeitung ein heftiger Angriff gegen ihn. Ein damals ganz unbekannter Arzt antwortete mindestens ebenso heftig mit einem Gegen-

197 Kaus, Gina (1979): Und was für ein Leben … mit Liebe und Literatur, Theater und Film. Hamburg (Albrecht Knaus), S. 100 f. Gina Kaus

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artikel. Freud suchte die Bekanntschaft seines Verteidigers, die beiden Männer verstanden sich zunächst vorzüglich. Adler wurde später Leiter des »Zentralblattes für Psychoanalyse« und ein führender Mann in der psychoanalytischen Bewegung. Aber nicht alle Theorien Freuds fanden seine Zustimmung; er hatte seine eigenen Ideen: den männlichen Protest, die herausragende Bedeutung des Minderwertigkeitsprinzips. Durch diese und viele immer wieder aufflammende Meinungsverschiedenheiten kam es schließlich zum endgültigen Bruch. Adler hielt in seiner eigenen Wohnung Vorlesungen, denen Otto Kaus und ich beiwohnten. Er sprach großartig, war ein kleiner, gedrungener Mann mit einem vollen, unendlich gutmütigen Gesicht, und wenn er sprach, hatte ich häufig das Gefühl, das habe ich immer gewußt, ohne es zu wissen, wie bei Sokrates das Sich-Erinnern an vor der Geburt Erlerntes. Tatsächlich habe ich in meiner Novelle »Der Aufstieg« das Wort Minderwertigkeitsgefühl ganz im Sinne Adlers verwendet, lange ehe ich den Namen Adler gehört hatte. Adler hatte einen unmittelbaren Kontakt zu Menschen, eine bestechende Wärme, er begriff auf Anhieb jedes Problem, das ihm vorgetragen wurde. Er war Sozialist und hielt seine Vorträge in allgemein verständlicher Form. Gelegentlich ließ er eine Frau mit ihrem Problemkind aufs Podium kommen und löste nach ein paar an das Kind gestellten Fragen die Schwierigkeit für die Mutter wie für das Publikum. Ich will vorgreifend von dem letzten Mal berichten, als ich ihn sah. Das war 1935. Ich war in New York zu Besuch, und Fritz Wittels nahm mich mit zu einem Vortrag über Psychoanalyse, zu dem Adler als Gast geladen war. Adler führte aus, wie verschiedene seiner späteren Doktrinen unter anderer Bezeichnung in die psychoanalytische Lehre eingegangen seien. Ein anderer Psychoanalytiker stritt dies in der Diskussion ab. Adler hatte als Gast das Schlußwort, und seine letzten Worte waren: »Mir ist es gleichgültig, unter welchem Namen meine Ideen angewandt werden – solange sie Kranken von Nutzen sind.«

Bruno Kreisky In der Autobiografie des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky (1911–1990), die unter dem Titel »Zwischen den Zeiten – Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten« (Berlin 1986) erschien, findet sich eine interessante Textstelle über die Lehre Adlers und den Gegensatz zwischen Psychoanalyse und Individualpsychologie in den frühen Zwanzi-

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

gerjahren. Der bedeutende sozialdemokratische Politiker hatte sich als junger Mensch mit beiden Theorien auseinandergesetzt. Sein Kommentar lautet:198

Was mich damals am meisten faszinierte, waren die Wiener psychologischen Schulen, und vor allem Alfred Adlers Individualpsychologie. Der Kampf der Freudianer gegen die Adlerianer zählte zu den großen geistigen Auseinandersetzungen meiner Jugendzeit, denen ich direkt beiwohnen konnte. Die Leitfiguren beider Seiten habe ich gehört und gesehen. Es ist gar keine Frage für mich, daß die Individualpsychologie von vornherein eine sehr viel praktischere Schule gewesen ist. Die Psychoanalyse hingegen war im Grunde eine Individualtherapie für einige Privilegierte. Den wirklichen Durchbruch schaffte sie erst in Amerika, jedenfalls was die Zahl der Psychoanalytiker betrifft und derer, die sich ihrer bedienen. Ich habe mich in die Werke Freuds vertieft und einige seiner Schriften sehr gründlich gelesen, vor allem seine »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, aber auch kleinere Werke wie »Massenpsychologie und Ich-Analyse« oder »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten«, »Die Zukunft einer Illusion« oder »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«. Doch so sehr ich die Psychoanalyse und die Leistung Freuds hochschätzte, schien mir doch die Individualpsychologie praxisorientierter zu sein. Wenn, wie Alfred Adler sagt, die Probleme der Psyche im Menschen auf Minderwertigkeitsgefühle zurückzuführen sind, dann ist deren Überwindung ein pädagogisches Ziel, und so hat die Individualpsychologie denn auch eine für die moderne Pädagogik solide Grundlage geschaffen. Ende der zwanziger Jahre setzten sich diese Anschauungen immer mehr durch, und viele junge Leute, die intellektuell etwas auf sich hielten, besuchten Montag abends die Vorträge des Vereins für Individualpsychologie. Die Individualpsychologie wurde zwar von den Psychoanalytikern als eine Art Halbwissenschaft abgetan, aber ich habe mich dort sehr viel mehr zu Hause gefühlt als in der Schule Freuds.

198 Kreisky, Bruno (1986): Zwischen den Zeiten – Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten. Berlin (Siedler), S. 163 f. Bruno Kreisky

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Sofie Lazarsfeld Sofie Lazarsfeld (1881–1976) war in der Hochphase der Individualpsychologie in den 1930er Jahren ein über Österreich hinaus beachtetes Mitglied der Wiener Gruppe. Ihr Ehemann und ihr Sohn, Robert und Paul, sowie ihre Tochter Elisabeth waren in der Wiener Sozialdemokratie aktiv. Über sie lernte sie Adler kennen, der sich kurz nach der Revolution von 1918 für einige Monate im Arbeiter- und Soldatenrat des 1. Wiener Bezirks nützlich zu machen versuchte. Lazarsfeld ging regelmäßig zu den Vorträgen von Alfred Adler, bei denen sie die Protokolle erstellte und dafür sorgte, dass diese Mitschriften als Artikel publiziert wurden. Besonders wegen ihrer Schriften zur Frauenrolle, Gleichberechtigung, Partnerschaft und Erziehung wurde sie häufig zu Vorträgen geladen, und sie veröffentlichte Artikel in Zeitschriften und öffentlicher Presse. Nach ihrer Emigration in die USA konnte sie ihre praktische Arbeit erfolgreich fortsetzen. Sie starb 95-jährig 1976 in New York. – Martina Siems (Berlin) veröffentlichte 2015 eine Dissertation über Leben und Werk von Lazarsfeld.199 Sie konnte dazu bislang unveröffentlichte autobiografische Aufzeichnungen verwerten. Im Alter von neunzig Jahren hatte Lazarsfeld begonnen, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Aus diesem maschinenschriftlichen Manuskript stammen die folgenden Passagen. Die Schreibweise wurde nur unwesentlich korrigiert.200

Durch meinen Sohn wurde ich mit den Theorien von Alfred Adler bekannt und später auch mit ihm. Er wurde mein Analyst und ich nachher noch sein Mitarbeiter in manchen Dingen. Ich fühlte mich in beiden Gebieten voellig zuhause, nicht durch Kenntnisse, sondern weil beide mir boten, was ich immer gesucht hatte. Einen Platz, wo ich mich heimisch fühlen konnte und wohin ich gehoerte. Mein Bedürfnis nach solch einem Platz muss sehr stark gewesen sein. […] Für jetzt will ich bei meinem retrospectivem Rausch bleiben. Der Hoehepunkt war erreicht 1932. Da hatte ich den Einfall, man müsse eine Individualpsychologische Sommerschule creieren, damit Kollegen aus andern Ländern in den Ferien kommen und lernen koennten. Es schien weit über meine Moeglichkeiten hinaus, aber es wurde schoenste Wirklichkeit. Das war auch nur moeglich, weil

199 Siems, Martina (2015): »Sofie Lazarsfeld (1881–1976): Leben und Werk unter besonderer Berücksichtigung von Pädagogik und weiblicher Persönlichkeitsentwicklung in der Individualpsychologie in der Zeit des Roten Wien. Göttingen (Verlag V&R unipress). 200 Lazarsfeld, Sofie (1972): Lebenserinnerungen, Teil 1, unveröffentlicht, S. 114 u. 130 f. Zu Sofie (Sophie) Lazarsfeld siehe auch Keintzel, Brigitta u. Korotin, Ilse (2002): Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich, Wien (Böhlau-Verlag), S. 450 f.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

so was in Oesterreich damals ganz neu war und weil ich so vielerlei Hilfe bekam, wie ich sie nie hätte erwarten koennen. Ich musste natürlich Alfred Adlers Erlaubnis haben, denn officiel geschah es in seinem Namen. Die bekam ich, aber zugleich mit reichlich Schwierigkeiten, die er mir in den Weg legte, obwohl es doch für seine Schule geschah. Er hat im Grund genommen das gleiche getan was ihm geschehn war, als er noch Mitglied der Psychoanalytischen Schule Freuds war. So wie er eigene Ideen entwickelte, tat Freud alles, um ihn nieder zu halten. Und da kam ich, brachte Neuerungen, die es zuvor in unserer Schule nicht gegeben hatte. Ist es zu verwundern, dass er eine bittere Erfahrung an mir abreagierte? Aber davon wollen wir nicht im Detail reden, wir sprechen von der Hilfe. Die groesste Hilfe war meine Tochter. Lisl war gerade frei und übernahm die gesamte Organisation. Darin war sie besonders gut, und ich brauchte mich um keinerlei Administratives zu kümmern, hatte nur das Programm und die bestmoeglichsten wissenschaftlichen Mitarbeiter zusammenzustellen. Das Suedbahnhotel am Semmering war interessiert, garantierte Gäste zu bekommen, und stellte uns die schoensten Zimmer zu akzeptablen Preisen zur Verfügung. Und das FremdenverkehrsBureau, das natürlich auf Zuzug neuer Besucher aus war, stellte sein Bureau zur Verfügung für das, was an Ankündigungen und Propaganda noetig war. Die Hauptarbeit natürlich blieb bei Lisl, aber es machte ihr Spass. Es wurde ein grosser Erfolg, ein Bericht darüber erschien damals in den von Danica Deutsch herausgegebenen Mitteilungsblättern und wurde hier in den USA sehr viel später im Journal von Dr. Ansbacher als historischer Rückblick publiziert, gleichsam als die Urgrossmutter der vielen solchen Sommerschulen, die es jetzt innerhalb unserer psychologischen Organisationen gibt. Die Schule dauerte drei Wochen, aber manche blieben über diese Zeit hinaus. Die waren so interessiert, dass sie individualpsychologische Gruppen in ihrem Land gründen wollten. Das geschah in der Schweiz, in Holland und ganz besonders bei unseren Nachbarn aus der Tschechoslovakei.

F. G. Lennhoff Der Sozialarbeiter F. G. Lennhoff, mit vollständigen, selten benutzten Vornamen Friedrich Georg, baute in Berlin zwischen 1919 und 1937 eine große Jugendhilfeorganisation auf, die Zugscharen. Sie war Teil der populären Wandervogelbewegung, eine weitgehend unpolitische Protestbewegung junger Leute, die in der freien Natur Kameradschaft suchten. Der 1903 in Berlin geborene Lennhoff hatte in Berlin schon einige Erfolge vorF. G. Lennhoff

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zuweisen, als er von Adler hörte und bat, ihn in Wien besuchen zu dürfen. Adler wiederum referierte vor Zugscharen-Mitgliedern, wenn er in Berlin war. Lennhoff beschrieb sein Leben und die Berliner Zugscharenbewegung der Jahre 1919–1937 unter dem Titel »The First Thirty Years«, welcher 1976 erschien.201 Er war 1937 nach England emigriert, wo die »zweiten dreißig Jahre« Jugendhilfe begannen. Er gründete im Nordosten Englands Shotton Hall, wo er bis zu seinem Tode arbeitete. Die Therapie-Heimschule für emotional gestörte Kinder und Jugendliche befindet sich in der Ortschaft Harmer Hill in der Grafschaft Shrewsbury/England. Lennhoff veröffentlichte 1960 über diese Arbeit ein Buch mit dem Titel »Exceptional Children« (London, Allen & Unwin), das 1967 als »Problem-Kinder« auf Deutsch erschien (München u. Basel, Ernst Reinhardt). Weitere Bücher Lennhoffs tragen Titel wie »Lets Try and Try Again« (London 1970), »Being Sent Away« (Shotton Hall Publications 1967) und »From Play to Work« (zus. mit John Lampen, Shotton Hall Publications 1973). »The First Thirty Years« erschien 1983 auf Deutsch unter dem Titel »Die Zugscharen. Eine Jugendhilfe-Organisation 1919–1937«.202 Daraus der folgende Abschnitt:

Wenig später hatte ich das Glück, dem ersten Kongreß für Individualpsychologie beiwohnen zu dürfen, auf dem Alfred Adler sprechen sollte. Bei der ersten Begegnung schenkte man ihm kaum einen zweiten Blick, so sehr glich er dem normalen Durchschnittsmenschen, dem man in jedem Bus begegnen kann. Wenn er jedoch anfing zu sprechen, änderte sich das mit einem Schlage. Er hatte die Macht, die Zuhörer in seiner Denkweise mitzunehmen, weil jeder sich persönlich angesprochen fühlte. Er erregte ihr Interesse, wenn er über die Tätigkeit des menschlichen Geistes sprach, und erweckte bei jedem Hörer Gefühle und Erfahrungen, die bisher unter der Oberfläche schliefen. Die Folgerungen, die er aus seinen Beispielen und den Schilderungen einzelner Fälle zog, schienen genau die zu sein, auf die jeder selbst gekommen wäre. Er konnte über komplizierte, emotionale Verwicklungen klar und einfach reden und sprach in Bildern, die den Hörer befähigten, den Kern der Sache zu begreifen und die Hilfsmittel zu verstehen, die er vorschlug. Durch seine natürliche und leichte Art half er den Hörern, Elemente ihres eigenen frühen Lebens zu erkennen, die unter dem Gewicht der Erlebnisse des Erwachsenen begraben lagen. Es schien mir, daß bei allen Vorlesungen, die Adler hielt, immer die gleiche Gruppe von ergebenen Damen die erste Stuhlreihe besetzte. Sie lauschten seinen 201 Shotton Hall Publications 1976; deutsch: Die Zugscharen. Sozialarbeit in der Zeitgeschichte. Eine Jugendhilfe-Organisation 1919–1937. München u. Basel (Ernst Reinhardt). 202 Lennhoff, Friedrich Georg (1983): Die Zugscharen. Eine Jugendhilfe-Organisation 1919–1937. Aus d. Engl. von Emily Lehmann. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 111–116.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Worten hingegeben wie einem Orakel und folgten ihm von Vorlesung zu Vorlesung. Stets trugen sie einen Band seiner Schriften an das Herz gedrückt oder sichtbar in der Handtasche. In der Reihe hinter ihnen saßen gewöhnlich Mitglieder seines Therapeutenkreises, Künkel und Frau, Manès Sperber, der feurige junge Marxist mit einer außergewöhnlich aggressiven Dialektik, Dr. Neuer und viele andere. Doch die meisten Hörer waren Lehrer und Sozialarbeiter, zum großen Teil Laien, die Adler mit Geschick in die Tiefenpsychologie einführte. Mit Ausnahme von Aichhorn war er vielleicht der einzige der berühmten Psychotherapeuten jener Zeit, die psychiatrisches Bewußtsein und psychiatrisches Wissen mit einer wirklich pädagogischen Sicht verbanden. Die Diagnose allein, die dem Patienten verständlich machte, warum er auf eine bestimmte Weise reagiere, genügte ihm nicht. Er war überzeugt davon, daß sie nur der Anfang sein könne und daß ein großer Teil wichtiger Arbeit nach dem Öffnungsprozess folgen müsse, um zu verhindern, daß der Patient von seinen neuen Einsichten überschwemmt wird. In Partnerschaft mit dem Therapeuten müsse er fähig werden, seine Persönlichkeit auf konstruktive und positive Weise wieder aufzubauen. Ich war von Adlers Ansicht in dieser Hinsicht besonders angetan. Sie erinnerte mich an ähnliche Erfahrungen von Partnerschaft mit meiner Mutter und meinem Freund und Lehrer, Herrn Schwabe, und letztlich mit den Kameraden und Zugscharen. Adlers Ansicht schien mit der Methode der Zugscharen auf einer Linie zu liegen. Auch sie wollten nicht nur analysieren, sondern versuchten, den Menschen zu helfen und Anteil zu nehmen. Es mußte von gegenseitigem Interesse sein, ein Treffen zu vereinbaren. Da Adler in Berlin zu beschäftigt war, um mir ein Interview zu gewähren, schickte ich ihm einen Brief, in dem ich ihm von der Arbeit der Zugscharen berichtete und schrieb, wie beeindruckt ich von seinen Vorlesungen gewesen sei. Dann stellte ich die Frage, ob ich ihn in Wien besuchen dürfe. Ein paar Tage später erhielt ich eine Notiz von Adler, in der er die Vereinbarungen bestätigte und mich zu einem Besuch in seiner Wohnung einlud. Nach einer langweiligen, langen Reise nach Wien fand ich seine Wohnung in einem einfachen Mietshaus mitten in einem kleinbürgerlichen Bezirk und klopfte an die Tür. Adlers junge Tochter, etwa fünfzehn Jahre alt, öffnete sie ein paar Zentimeter, gerade so viel, daß ich über ihre Schulter in einen engen Flur hineinsehen konnte, in dem Mäntel hingen. Sie empfing mich nicht so, wie ich es erwartet hatte, und sagte, ihr Vater sei im Augenblick nicht zu Hause. Sie fügte aber hinzu, daß ich ihn in einem Café am unteren Ende der Straße finden könne. Ich war über so viel Formlosigkeit bei einem Mann von solchem Ruf und Stand überrascht, denn ich hatte erwartet, daß er mich in seinem Studierzimmer empfangen würde. Doch da ich Adlers wenig eindrucksvolles, ja bescheidenes Haus sah, zog ich meine Schlüsse und machte mich auf den Weg zu dem Café. F. G. Lennhoff

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Dort fand ich Adler schnell unter anderen heraus. Er saß in einer entlegenen Ecke und unterhielt sich gemächlich mit ein paar alltäglich aussehenden Freunden. Gemäß meinem Gefühl für norddeutsche Etikette reichte ich dem Kellner meine Visitenkarte, aber er sagte nur in breitem Wiener Akzent: »Der Mann dort drüben ist Adler. Warum gehen Sie nicht einfach zu ihm hin?« Auch Adler hielt nichts von Zeremoniell. »Das ist ein Kollege von mir aus Berlin«, sagte er zu den anderen am Tisch. »Setz dich und trink einen Kaffee mit uns, Fritz, und erzähle meinen Freunden hier etwas von deiner Arbeit.« Als ich die Tätigkeiten der Zugscharen beschrieb, stellte Adler Fragen nach einzelnen Kindern, gab Erklärungen und machte Vorschläge für Hilfsmittel bei besonderen Schwierigkeiten. Er zeigte sich sehr beeindruckt von der Art, wie die Zugscharen ihre eigenen Projekte und ihre eigene Philosophie entwickelt hatten, von dem Konzept der Partnerschaft, den Anforderungen, dem Verzicht auf Moralisieren und Predigen und von den konstruktiven Antworten auf Verhaltensprobleme. Von ganzem Herzen stimmte er der Ansicht zu, daß alle Arten von Beschäftigungen, wie z. B. Musik, Handfertigkeiten, Theaterspielen und andere, Hilfsmittel sein können, um Schwierigkeiten zu überwinden und Selbstachtung aufzubauen. In solchen Tätigkeiten hat jeder die Möglichkeit, ein Gebiet zu finden, auf dem er sich ausdrücken und Erfolg haben kann. Wo Vertrauen entstanden ist, können weitere Forderungen an einen Menschen gestellt werden, nicht nur in dem, was seine besondere Fertigkeit betrifft, sondern auch in der Entwicklung seiner Persönlichkeit. Gleichzeitig macht er die Erfahrung, daß er jemand ist, der in der Gemeinschaft eine Stimme hat, die gehört wird und wirklichen Einfluß nimmt. Adler schlug vor, daß er, da er oft in Berlin sei, durch Besuche den Kindern und Mitarbeitern der Zugscharen helfen wolle, Problemen auf die Spur zu kommen. Außerdem lud er mich ein, an den Versammlungen seiner Mitarbeiter und Patienten in Wien teilzunehmen. Ich besuchte einige und fand sie sehr lehrreich, aber ich besuchte auch Aichhorn und beobachtete ihn bei seiner Arbeit in Wohnheimen von verhaltensgestörten jungen Menschen. Ich lernte auch Professor Tandler kennen, den Leiter der Wiener Gesundheitsabteilung, die für die Arbeit an der Problemjugend der Stadt verantwortlich war. Ich lernte viel aus den Besuchen der verschiedenen Arbeitszweige, und aus diesen ersten Begegnungen entwickelte sich eine langandauernde Verbindung mit Tandler und seinen Kollegen. Nach dem ersten Treffen sah ich Adler oft. Er besuchte die Zugscharenprojekte gern mit mehreren Kollegen. Dabei sprachen sie mit schwierigen Kindern und diskutierten über ihre Eindrücke. In jener Zeit hatten Psychiater im Gegensatz zu heute selten Gelegenheit, methodische Berichte von Psychologen aus der 192

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Sozialarbeit oder dem Lehrerberuf zu erhalten, aus denen sie Einzelheiten über die Entwicklung eines Falles oder über den familiären Hintergrund eines Schützlings entnehmen konnten. In der Beziehung waren die Zugscharen vielleicht ungewöhnlich. Sie führten über jedes Kind und jeden Jugendlichen in ihrer Obhut eine Akte und dehnten die übliche Aufzählung chronologischer Abläufe auf eine Beschreibung der Familienverhältnisse, Beruf, Interessen und Gefühlslagen aus, so daß die Situation des jungen Menschen im Zusammenhang mit dem ganzen Familienschicksal gesehen werden konnte. Außerdem hatte Adler es gern, wenn ihm ein Mitarbeiter mündlich über ein Kind berichtete. Er sah sich dann das betreffende Kind an und zog aus dem Gespräch mit ihm seine Folgerungen, die er später mit den Zugscharenleitern besprach. Wir waren immer wieder gebannt von der Sicherheit seiner Diagnose und den konstruktiven Vorschlägen, die er für die Behandlung machte. Ich glaube, daß sein Talent, Diagnosen zu stellen, und seine praktischen Therapievorschläge selten ihresgleichen haben. Nur Winnicott ist ihm vielleicht in den letzten Jahren nahe gekommen. Es war auch interessant zu beobachten, wie Adler seine Anregungen und Ideen mit anderen besprach. Er hatte keineswegs die oberpriesterliche, herablassende Art, die damals vielen praktizierenden Ärzten eigen war. Sie schrieben eine Behandlung vor und erwarteten, daß ein Geringerer sie ausführte. Es gelang ihm, mit allen in seiner Umgebung auf gleichem Fuß zu stehen und sie als Partner anzunehmen. Doch sein Rat, ob für Erwachsene oder Kinder, war nie oberflächlich oder gar weichlich. Er machte immer Eindruck durch seine einfache Klarheit. Der Betreute konnte die Folgerungen erfassen und sein Leben danach einrichten. Adler nahm es nicht übel, wenn jemand seine Ansicht nicht teilte, und wenn er merkte, daß durch die Ansicht des anderen ein neues Licht auf den Fall fiel, änderte er manchmal seine Meinung. Solch ein offener und dabei bescheidener Geist ist in der Tat selten, besonders unter Männern, die in ihrem Beruf einen so großen Namen haben. Eines Tages fragten ihn die Zugscharen um Rat wegen eines zwölfjährigen Jungen, der in einer der Tagesstätten gewisse Schwierigkeiten machte. Adler erhielt einen mündlichen Bericht, bevor er mit dem Jungen sprach, und machte ein paar Bemerkungen über seine Vermutungen, was mit dem Jungen los sei. Nach dem Gespräch kam er zurück und sagte, daß alles genau so war, wie er gedacht hatte. »Alles was ich euch gesagt habe, wurde durch die Antworten des Jungen bestätigt, und meine Eindrücke von seinem Verhalten waren entsprechend.« Er fügte noch einige Empfehlungen hinzu, die er für nützlich hielt. Als der Junge zu seinen Freunden zurückkehrte, fing er plötzlich an zu lachen. Ein Sozialarbeiter fragte ihn, was um alles in der Welt so amüsant sei, worauf er antwortete: »Ich habe gerade ein Gespräch mit einem ganz komischen F. G. Lennhoff

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Kerl gehabt. Er sprach mit einem so seltsamen Akzent, daß ich kein Wort verstanden habe. Darum habe ich zu allem, was er mich fragte, einfach immer ja gesagt.« Diese Geschichte wurde Adler wiedererzählt, der den Spaß, der auf seine Kosten ging, genoß und alles auf seine charakteristische, sich selbst nicht wichtig nehmende Art gut aufnahm. Adlers Einfluß und Unterstützung machte großen Eindruck auf die Zugscharen, und wenn er selbst nicht in Berlin war, so standen uns einige seiner Kollegen, einschließlich Dr. Neuer, zur Verfügung. Einmal sprach Adler zu eingeladenen Eltern und Freunden der Zugscharen in einem schönen Palast, der uns von einem reichen Zeitungseigentümer für diese Gelegenheit überlassen worden war. Er lag an einem der berühmten Plätze von Berlin. Adler sprach ausführlich über die Probleme der Kindererziehung und beeindruckte viele Hörer, als er bemerkte: Es gibt Eltern, die eine schwere Kindheit gehabt haben und ihre Kinder verwöhnen, weil sie es besser haben sollen. Doch wäre es ratsam, ihnen Grenzen zu setzen und Hürden zu schaffen, die genommen werden müssen. Ohne es zu wissen, tun diese Eltern ihren Kindern einen schlechten Dienst, wenn sie ihnen aus Schwäche und mangelnder Festigkeit nachgeben statt ihnen Mut zu machen, auf ihre hart errungenen Erfolge stolz zu sein. So wie physisches Wachsen mit Schmerzen verbunden ist, kann auch geistiges Wachstum nicht schmerzlos sein. Wenn Eltern ihrem Kinde alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumen, nehmen sie ihm die Möglichkeit, seine Fähigkeit zur Überwindung von Widerständen zu beweisen, ohne die es sich nicht entwickeln kann. Am nächsten Tage wurden Adler und ich von dem Zeitungsbesitzer zum Mittagessen in sein Privathaus eingeladen. Es ging informell zu, und als wir nach dem Mittagessen unsere Havannas rauchten, bat der Geschäftsmann, der nichts von der Abneigung Adlers gegen Freud wußte – die Abneigung bestand auf beiden Seiten –, seinen Gast, ihm den Unterschied zwischen seinen und Freuds Methoden zu erklären. Adler dachte einen Augenblick nach, und da er wußte, daß die Frage von einem Laien gestellt worden war, antwortete er: »Nach der Methode von Freud wird der Patient gebeten, sich auf eine Couch zu legen. Der Analytiker sitzt hinter ihm und erwartet, daß der Patient über seine tiefsten Gefühle und Reaktionen berichtet. Er erzählt und erzählt, doch nach einer gewissen Zeit wendet er sich um, da er keine Antwort erhält, und stellt fest, daß der Analytiker eingeschlafen ist. Im Gegensatz dazu erwartet die Methode, die ich vertrete, die aktive Teilnahme des Analytikers. Er muß sich bemühen, mit dem Patienten gemeinsam an dessen möglicher Wiederherstellung zu arbeiten.« Dieser unnötig verletzende Kommentar setzte mich in Verlegenheit. Ich wußte wohl, daß Adler seine Erklärung so einfach wie möglich formuliert hatte, um sie einem Neuling verständlich zu machen, trotzdem war ich der 194

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Meinung, daß ein Mann wie Adler es nicht nötig hatte, seinen Rivalen auf so billige und oberflächliche Weise abzutun, obwohl ich wußte, daß auch Freud seinen Gegner Adler zynisch und voller Groll behandelte. Dieses verdrießliche und wenig objektive Verhalten ließ das Geheimnis und den Glanz, der Adler bisher umgeben hatte, ein wenig verblassen. Obwohl die Tatsache, daß Adler ein spezielles praktisches Interesse an den Zugscharen zeigte, unsere Ansichten stärkte und vertiefte, fühlten wir uns doch nie seinen Methoden und Theorien allein verpflichtet. Wir holten uns auch Anregungen aus den Schulen von Freud und Jung. Da wir aber – mit Ausnahme von Aichhorn – sehr viel weniger Kontakt zu Analytikern dieser beiden Gruppen hatten, war der Einfluß der Anschauungen Adlers wahrscheinlich auffallend. Allerdings waren wir oft erstaunt, wenn wir feststellten, wieviel Gedankengut Freuds Adler in der Behandlung von Kindern anwandte. Er war bei weitem nicht so antianalytisch eingestellt, wie man ihm nachsagt. Nichtsdestoweniger ist es interessant zu beobachten, daß viele Kriterien, die Adler mit seiner Arbeit eingeführt hat, heute allgemein als Grundlage der Diagnose und Behandlung von Kindern und Jugendlichen gelten. Dazu gehört besonders die Notwendigkeit, den Patienten in Beziehung zu seiner Umwelt und sozialen Situation zu sehen. Es fällt leicht, den wesentlichen Beitrag, den Adler in dieser Hinsicht geleistet hat, zu vergessen. Er war der erste Psychologe, der die Bedeutung der sozialen Dimension auf die individuelle Entwicklung hervorhob. (Zum Thema von Adlers einzigartigem Beitrag zur Psychotherapie siehe Manès Sperbers Buch: »Alfred Adler oder das Elend der Psychologie«.)

Verlag Little, Brown & Company Adler hatte es in den 1930er Jahren in den USA Charles Davis überlassen, Angelegenheiten mit alten und neuen Verlegern abzuwickeln. Obwohl der Quäker und Philanthrop Davis Reichtum und Einfluss besaß, bekam er zunehmend Schwierigkeiten. Immer öfter wurden Manuskripte abgelehnt. Das hatte Gründe. Es wurden zu viele Veröffentlichungen angeboten, die sich inhaltlich mit vorherigen Büchern überschnitten. Das geht aus einem Brief des Lektors Stuart Rose an Davis hervor, den Edward Hoffman in seiner Adler-Biografie abdruckt.203

203 Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 351. Verlag Little, Brown & Company

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Ich habe Ihren Brief bezüglich künftiger Bücher von Dr. Adler erhalten. Wir haben den Eindruck, daß uns seit »What Life Should Mean to You« kein Buch angeboten wurde, das der Veröffentlichung durch uns wert gewesen wäre. Wie ich mich an die verschiedenen Bücher in Deutsch erinnere, die uns zur Begutachtung angeboten wurden, so war keines von ihnen neu und alle enthielten entweder ganz oder teilweise identisches Material von Adler, das bereits auf Englisch veröffentlicht worden war. Es sei auch daran erinnert, daß Adler nicht in der Lage war, das geplante, vereinbarte Buch zu schreiben, von dessen wahrscheinlichem Erfolg wir überzeugt waren. Wenn wir auch keine vertraglichen Rechte in dieser Angelegenheit haben, so werden wir auf jeden Fall gern alles sehen, was Dr. Adler nun für den amerikanischen Markt schreiben mag. Augenscheinlich sind Dr. Adlers Verlagsangelegenheiten aufgrund der zahllosen Bücher, die für den deutschen oder österreichischen Konsum vorbereitet und dann hier von den ausländischen Verlegern angeboten werden, in einem solch ungeordneten Zustand, daß es nicht weise wäre, zu versuchen, diese Bücher noch einmal in Englisch herauszubringen.

Sophie Lustig Sophie Lustig war eine aus Russland gebürtige Frau eines wohlhabenden, aus Ungarn stammenden Textilfabrikanten, beide gehörten zur kulturellen und philanthropischen Elite von Providence / Rhode Island. Rhode Island ist einer der kleinen Staaten an der nördlichen Ostküste der USA. Adler wurde dort am 14. Januar 1927 erwartet; Lustig hatte die Vortragsreise dorthin organisiert. Sie »hatte zu Zeiten des Zaren die Universität von St. Petersburg absolviert und war eine schillernde Persönlichkeit, die Detektivgeschichten schrieb und deren veröffentlichte Memoiren später ein lokaler Bestseller wurden«.204 Lustig schrieb über Adler zwei Berichte für das »Providence Journal«:

Da saßen sie alle in einer kosmopolitischen, demokratischen Gruppe zusammen, Reiche und Arme, Patienten und Schüler, berühmte Ärzte und international bekannte Psychiater und hörten ihm zu […] Jeden Abend fesselte er in dem überfüllten Café die um ihn versammelte Menge, etwa wie einst im alten Griechenland die Athener Sokrates aufsuchten.205

204 Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 219. 205 Providence Journal, 13. Dezember 1926, zit. in Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler, S. 219.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Alphonse Maeder Der Schweizer Arzt und Psychiater Alphonse Maeder (1882–1971) lernte Adler 1910 kennen, als Adler noch mit Freud zusammenarbeitete. Maeder wurde später ein enger Mitarbeiter Carl Gustav Jungs und leitete die Züricher Ortsgruppe. Über Maeder ist wenig bekannt. »Von 1906 bis 1910 arbeitete Maeder in Zürich als Assistenzarzt bei Eugen Bleuler und Carl Gustav Jung, letzterer führte ihn in die Psychoanalyse ein. Von 1911 bis 1918 arbeitete er als Therapeut in Dr. Bircher-Benners Sanatorium, bevor er eine eigene Praxis als Psychotherapeut in Zürich eröffnete, wo er bis fast zu seinem Tode arbeitete.«206 Maeder hatte sich schon Jahre vor dem Konflikt zwischen Jung und Freud mit der Frage beschäftigt, ob die Psychoanalyse nicht eine spezifisch jüdische Angelegenheit sei, die so nicht verallgemeinerbar ist. Diese Haltung beunruhigte Freud tief und ließ Freud immer auf Distanz zu Maeder bleiben. Ellenberger zitiert eine persönliche Mitteilung Maeders.207 Auf welchen Bericht sich Maeder bezieht, bleibt unklar.

Nachdem ich meinen Bericht gelesen hatte, kam Adler zu mir, und während er einen Knopf meiner Weste nach dem anderen festhielt, begann er mir seine Ideen zu erklären. Er wollte mich für seine Theorien gewinnen […] Es war etwas Unangenehmes in seinem Verhalten […] Er war etwas eigenartig, nicht ansehnlich und hatte nichts Gewinnendes an sich.

Philip Mairet Der britische Adler-Unterstützer Philip (Phillipe) Mairet (1886–1975) nannte Adler den »Confucius of the West« im (unauthorisierten) Vorwort (»A Note on the Author and His Work«) zu dem Adler-Buch »The Science of Living« (1929, S. 30), das erst 1978 unter dem Titel »Lebenskenntnis« auf Deutsch erschien.208 Ebenfalls 1929 gab Mairet »Problems of Neurosis« heraus (deutsche Erstveröffentlichung 1981 unter dem Titel »Neurosen. Zur

206 Eintrag »Maeder, Alphonse E. (1882–1971)« in: Int. Dictionary of Psychoanalysis. Ed. Alain de Mijolla. Thomson Gale, 2005. http://soc.enotes.com/psychoanalysis-encyclopedia/maederalphonse-e; Zugriff 3. Januar 2007. Übersetzung G. M. 207 Zit. in Henry Ellenberger (1985): Die Entdeckung des Unbewussten. Zürich (Diogenes), S. 794. 208 Zu Mairet siehe: http://en.wikipedia.org/wiki/Philip_Mairet, Zugriff am 19. 09. 2008. – Mairet hatte über Adler geschrieben: »In his realistic grasp of the social nature of the individual’s problem and his inexorable demonstration of the unity of health and harmonious behaviour, Adler resembles no one so much as the great Chinese thinkers. If Europe is not too far gone Philip Mairet

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Diagnose und Behandlung«). Es handelt sich um eine Sammlung von Fallgeschichten, die Adler in öffentlichen Vorträgen vorgestellt hatte. Mairet war für die Übersetzung und Herausgabe von Adlers Vortragsmitschriften prädestiniert. Er war Journalist, Herausgeber der »New English Weekly« und an Psychologie und Philosophie interessiert. Von Mairet stammt das Buch »ABC of Adler’s Psychology« (London 1928). Von »Problems of Neurosis« wurde 1964 ein Reprint hergestellt, zu dem Heinz Ansbacher eine Einführung beisteuerte. Ansbacher zitiert darin eine persönliche Mitteilung von Mairet:209

Adler war, wie ich und andere es fühlten, ein großer Mann. Er hatte nicht die enorme Breite und kulturelle Tiefe wie Freud oder Jung, aber er wusste in dieser Hinsicht genug, um seinen Zweck zu verfolgen, und was er wusste, wusste er sehr gut. Zuallererst kannte er sich in der menschlichen Natur zutiefst aus. Direkter als die anderen großen Psychotherapeuten war er ein Moralist, aber es war keine moralische Schärfe in ihm. Zur Psychologie kam er als praktischer Arzt, der die Störungen der Menschen heilen oder ihnen helfen wollte, diese zu kompensieren, wenn sie teilweise unheilbar waren. Ich glaube, sein diagnostisches Auge war schärfer als das von Freud oder Jung, die auf anderen Gebieten die größeren Männer waren – und bessere Autoren, denn Adler war kein guter. Adler war wunderbar spontan, und einige seiner besten Vorlesungen wurden unvorbereitet abgeliefert. Mairet berichtete Ansbacher auch über die ihm übergebenen Notizen und Berichte, aus denen er das Buch »Problems of Neurosis« machen sollte:210

Einige davon waren Adlers eigene Notizen, anhand derer er sprach. Andere waren, soweit ich mich erinnere, mitstenographierte oder aufgeschriebene Berichte von Enthusiasten, die seine Vorlesungen gehört hatten. Ob Adler zu der Zeit bereits in den USA Vorlesungen hielt, erinnere ich nicht. Ich vermute, er war einmal

to make use of its services, he may very well come to be known as the Confucius of the West.« Das Zitat von Mairet zu Adler als »Konfuzius des Westens« wird u. a. von Bottome verwendet (Alfred Adler: Apostle of Freedom. London 1939, S. 249). 209 Zit. in Adler, Alfred (1964): Problems of Neurosis. A Book of Case Histories. Ed. by Philip Mairet. Introduced by Heinz L. Ansbacher. New York and London (Harper & Row), S. xxii/ xxiii. – Zu Mairet siehe auch Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 257 f. 210 Zit. in Adler, Alfred (1964): Problems of Neurosis. A Book of Case Histories, S. xxiii/xxiv. – Über »Problems of Neurosis« siehe Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler, S. 290 f.

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dort.211 Es ist möglich, dass die Vorlesungen alle in London vor medizinischen und psychologischen Gesellschaften gehalten wurden. Wie auch immer, sie waren in Englisch, was Adler ausreichend fließend sprach, aber in einem Englisch, das man schlecht drucken konnte. Ich machte mich also dran, diese Vorlesungen zu einem Buch zu machen, das als Problems of Neurosis gedruckt wurde. Ich erledigte meine Herausgeberpflicht, die tatsächlich darin bestand, das ganze mir überantwortete Material neu zu schreiben, sehr zu Adlers Zufriedenheit. Als etwa die Hälfte der Arbeit getan war, sah sich Adler an, was ich bisher getan hatte, und schrieb mir: »Scheuen Sie sich nicht, in unserem Sinne auszuarbeiten oder auszuweiten.« Ich fühlte mich geschmeichelt, machte es aber dennoch nicht, jedenfalls nicht in großem Umfang; wenn überhaupt, dann nutzte ich die Erlaubnis, seine Ausführungen zu »polieren«, obwohl ich magere Hinweise oftmals auf ansehnliche Länge auslegen musste. In seiner Autobiografie schrieb Mairet:212

Er [Adler] war nie ein sehr interessanter Autor; hingegen war Freud brillant und Jung faszinierend zu lesen. Adler wollte kein Schriftsteller sein – glaubte nicht besonders daran. In seinem Kopf musste jeder neue Funke universellen menschlichen Verstehens in dem Augenblick überspringen, wenn Menschen sich persönlich über diese Dinge unterhielten. Und letzten Endes müssen wir dies – vielleicht – als Wahrheit anerkennen.

Elizabeth H. McDowell Adlers unvoreingenommene Betrachtungsweise auch gegenüber sexuellen Störungen wird gut durch die folgende Anekdote illustriert. Sie stammt von Elizabeth H. McDowell aus den Dreißigerjahren, als Adler Professor am Long Island College of Medicine in Brooklyn, dem heutigen Downstate Medical Center der State University of New York, war. Die Erzählerin hielt sich dort zwecks Ausbildung zur Sozialarbeiterin auf.213

211 Adler absolvierte die erste seiner regelmäßigen Reisen in die Vereinigten Staaten im Winter 1926/1927. 212 Mairet, Philip (1981): Autobiographical and Other Papers. Worthing, West Sussex (Littlehampton Book Services), S. XIV. 213 Zit. in: Ansbacher, Heinz (1989): Alfred Adlers Sexualtheorien. Frankfurt/M. (Fischer-TB), S. 161. – Dieselbe Anekdote wird von McDowell auch in dem Buch »Alfred Adler: As We Remember Him« erzählt (siehe Teil 1 dieses Buches). Elizabeth H. McDowell

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Unter meinen kultivierteren Klienten war ein sehr umgänglicher, hochintelligenter junger Mann von einundzwanzig Jahren, der mit einem älteren Mann »in Sünde lebte« […] Auf den Vorschlag meines Supervisors, daß wir von der Anwesenheit Dr. Adlers profitieren sollten, faßte ich den Fall von John zusammen und schickte ihn an Dr. Adler, mit der Bitte um Rat für die Behandlung. Er gewährte mir eine Unterredung. […] Adler sah einen Moment lang auf meinen Bericht. […] dann blickte er mich über seine Brille hinweg an: »Sie sagen, John sei ein Homosexueller?« »Oh ja«, antwortete ich. »Und würden Sie sagen, daß er glücklich ist?« »Oh ja«, antwortete ich. »Nun«, sagte er, lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und steckte seine Daumen in seine Weste, »warum lassen wir ihn nicht in Ruhe? Hm?« Und er fügte ein paar Worte darüber hinzu, wie wenig man über den sexuell Abweichenden weiß.

Mills College Im Februar 1929 reiste Adler zu Vorträgen an die amerikanische Westküste. Unter anderem sollte er in der San Francisco Bay Area vor dem Mills College sprechen (siehe auch Margaret Johnstone Barlow in Teil 1). »Adler war freundlich und heiter und machte auch auf andere Studenten, die einen unangenehmen oder strengen europäischen Akademiker erwartet hatten, einen guten Eindruck«, schreibt Edward Hoffman in seinem Buch »Alfred Adler« (1997, S. 265). So berichtet der Reporter der Zeitung »Mills College Weekly«:214

Adler ist in Erscheinung und Haltung frei von jeglicher Voreingenommenheit. Er erklärt seine Theorien in den einfachsten Begriffen, in einsilbigen Wörtern, die er mit Gesten und aus dem Stegreif auf die Wandtafel gezeichneten Diagrammen veranschaulicht, und er beantwortet freundlich und ermutigend eine Unmenge von Fragen. Sein Tischgespräch ist intelligent und geistreich, und er kann sowohl zuhören als auch gute Geschichten erzählen. Er mag das amerikanische Essen, wartet aber auf eine Gelegenheit, seine Überlegenheit als Kaffeeexperte zu zeigen. (Er darf nicht auf dem Herd warm gehalten werden und muß, nach seiner Beschreibung, ›allein stehen‹ können.) […] Den aufschlußreichsten Einblick erlaubte er mir bei einer Gesprächspause während des Dinners. Campusberühmtheiten hatten für einen Augenblick aufgehört, ihn mit Essen und Fragen zu über214 Hoffman zitiert aus »Famous Psychologist is Guest on Campus«, Mills College Weekly, 13. Februar 1929, S. 2.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

häufen, und ich beobachtete, daß er darin vertieft war, einer in seiner Nähe stattfindenden Unterhaltung zuzuhören. Seine Augen blickten klug und gütig.

Ein Nachbar Henry Ellenberger stieß bei seinen Recherchen für »Die Entdeckung des Unbewussten« (1985) auf einen alten Mann, der in Wien ein Nachbar der Familie Adler gewesen war. Ellenberger zitiert ihn:215

Es war nichts Auffallendes an ihm. Er war bescheiden und machte keinen besonderen Eindruck. Man hätte ihn für einen Schneider halten können. Er hatte zwar ein Landhaus, aber er sah nicht aus, als hätte er ein großes Einkommen. Seine Frau war eine normale, anständige Hausfrau. Es gab nur ein Dienstmädchen im Haus. Obwohl er viel reiste und viel Besuch bekam, habe ich nie gewusst, dass er ein berühmter Mann war, bis der Tag kam, an dem zu seinen Ehren eine große Feier abgehalten wurde.

Hertha Orgler Bis zum Zweiten Weltkrieg gab es zwei Standardbiografien über Alfred Adler: Phyllis Bottome: Alfred Adler: Apostle of Freedom (1939; erweiterte 3. Aufl. 1957) und Hertha Orgler: Alfred Adler: The Man and His Work. Triumph over the Inferiority Complex (1939; deutsch 1956). Beide waren enthusiastische Anhängerinnen Adlers. So schrieb denn auch Orgler, Adler sei »einer der größten Psychologen seines eigenen und jedes kommenden Zeitalters«. Dieses Zitat gibt den Ton des gesamten Buches vor. Orgler schrieb durchgehend in Superlativen über Adlers Größe und Leistung. Ihr Buch ist erklärtermaßen ein Denkmal für den kurz vorher verstorbenen Meister, ihr Text ist besonders ergiebig für Adler-Anekdoten. – Über Hertha Orgler selbst ist kaum etwas bekannt; in der individualpsychologischen Bewegung spielte sie offenbar keine nennenswerte Rolle. Die folgenden Passagen stammen aus dem 4. Kapitel von »Triumph über den Minderwertigkeitskomplex«, betitelt »Adlers Persönlichkeit im Lichte der Individualpsychologie«.216

215 Ellenberger, Henry (1985): Die Entdeckung des Unbewussten. Zürich (Diogenes), S. 797. 216 Orgler, Hertha (1974): Triumph über den Minderwertigkeitskomplex. München (Kindler-TB), S. 229–248. Erstausg. Wien, Innsbruck 1956 (Urban & Schwarzenberg); am.: Alfred Adler: The Man and His Work. Triumph over the Inferiority Complex. London 1939 (Daniel). Hertha Orgler

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Da erschien auf dem Podium eine mittelgroße Gestalt. Er hatte nichts von autoritärem Gebaren an sich, im Gegenteil, ganz anspruchslos stand er da. Seiner sorglosen Kleidung, seiner zwanglosen Haltung sah man deutlich an, daß ihm nichts daran lag, welchen Eindruck seine Person hervorrief. So wenig sein Äußeres beim ersten Eindruck wirkte, so sehr wirkte seine Persönlichkeit, sobald er zu reden begann. Ein Wandel kam über ihn. Er entfaltete sich als eine warme, bezwingende, große Persönlichkeit. Er sprach nicht mit großem Pathos und leeren Gesten, er gebrauchte keine unverständlichen Ausdrücke, sondern einfach und schlicht war seine Rede. Jedes Wort, das er sagte, kam aus tiefster Überzeugung. Über welches Thema er auch sprach, stets vermittelte er seinen Hörern tiefste Menschenkenntnis. Seine leise, warme, wohlklingende Stimme drang deutlich durch den Saal. Mit Humor und kleinen Anekdoten wußte er seine Rede zu würzen. Anhand von praktischen Fällen erläuterte er seine Thesen, und durch eine Fülle von Bildern und Gleichnissen prägte er seine Ideen seinen Hörern ein. Obwohl er immer frei sprach, zeichneten sich seine Vorträge durch ihren künstlerischen Aufbau aus. Er war ein wahrer Meister des Wortes. Besonders zeigte sich das in seinen Diskussionen, die seinen Vorträgen folgten. Da meisterte er jede Situation durch seine Geistesgegenwart, seine Schlagfertigkeit und seinen Humor. Der große Erfolg seiner Vorträge bewies die Richtigkeit seiner Auffassung, daß das gesprochene Wort für die Ausbreitung seiner Lehre von unschätzbarem Werte sei. […] In den Büchern: »The Case of Miss A.« und »Technik der Individualpsychologie, I. Teil«, die eine Niederschrift der Deutung einer ihm vorher unbekannten Krankengeschichte vor Hörern enthalten, tritt uns besonders klar seine wunderbare Deutungskunst entgegen. Diese außergewöhnliche Deutungskunst war eine seiner größten Fähigkeiten. Immer wieder wurden seine Hörer gepackt, wenn er ihnen in seinen Lehrberatungen einen Bericht vorlas und dabei deutete. Aus einem bloßen Stück Papier zauberte er einen Menschen hervor, ließ ihn leben, zeigte ihn in seiner Einheit. Es war ein wirklicher Schöpfungsakt. Durch Adler sah man den Patienten vor sich, lebte mit ihm, verstand ihn. Wenn Adler plötzlich endete, war man wie aus einem Traum gerissen. Nun wurde der Patient selber vor Adler geführt. Alle Vermutungen, die Adler vorher über diesen Menschen ausgesprochen hatte, wurden jetzt durch seine Unterhaltung mit ihm bestätigt. Ob er in diesen öffentlichen Lehrberatungen Kinder vor sich hatte, ob erwachsene Patienten in seiner Privatpraxis, immer stellte er sich mit ihnen auf eine Stufe. Ob Verbrecher, Süchtige oder Neurotiker, er versetzte sich durch seine große Einfühlungsgabe ganz in ihre Person. »Wenn ich genau die irrige Meinung vom Leben hätte wie dieser Mensch, ich würde genau so handeln!« Er betrachtete selbst die schlimmsten Fehlschläge nicht als Abschaum der Menschheit, sondern 202

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als irrende Menschen, die aus falscher Ansicht vom Leben falsche Wege im Leben gingen. Sie selbst ihren Irrtum herausfinden zu lassen und sie in richtige Bahnen zu lenken, war sein Ziel. Während der Behandlung schaltete er seine Person völlig aus. Mit seiner großen Kunst, seiner unsäglichen Geduld, seinem nie versagenden Optimismus, seinem unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen und mit dem Rüstzeug der Individualpsychologie gelang es ihm, für unheilbar angesehene Verbrecher und Patienten zu retten. Aus der ganzen Welt kamen Patienten zu ihm, um sich von ihm heilen zu lassen. Adlers Erfolg lag teilweise darin, daß auch die isoliertesten Menschen allmählich fühlten: hier ist ein Mensch, dessen äußerstes Bestreben ist, uns zu helfen; hier ist ein Mensch, dem wir vertrauen können; hier ist ein verläßlicher Mitmensch! Ein Mitmensch! Das ist das Charakteristische an seiner Persönlichkeit. Von früheren großen Psychologen unterscheidet es ihn, daß er nicht nur Erkenntnisse sammelte, sondern eine Lehre warmer Mitmenschlichkeit begründete und selber als Mitmensch lebte. Unzählige Beispiele könnte ich für seine Mitmenschlichkeit anführen. Minderbemittelten stand er mit Rat und Tat zur Seite. Einst wurde er von Fürsorgern gefragt, ob man einen Menschen, der in tiefster Armut lebt, beraten sollte. Er antwortete: »Das wäre so, als ob Sie einem Ertrinkenden ein Lehrbuch der Schwimmkunst nachwerfen würden. Erst müssen Sie ihm aus seinem Elend heraushelfen, dann beraten!« Vielen seiner Mitarbeiter verschaffte er Stellungen und bemühte sich ohne ihr Wissen um ihr Fortkommen. Diejenigen Mitarbeiter, die neue Wege beschritten, lehnte Adler oft ab. Viele Menschen faßten das so auf, als ob er in dem Glauben, schon genug Ideen in seiner Lehre niedergelegt zu haben, argwöhnisch sei gegen jeden, der eine Weiterentwicklung anregte. Er hatte aber andere Beweggründe. Er sah in seinem Lehrgebäude ein harmonisches Ganzes und konnte daher keine Änderung ertragen, die ihm diese Harmonie zu zerstören schien. Nie konnte er, der alles in zielgerichteter Bewegung sah, die Entwicklung seiner Lehre für abgeschlossen halten! Im Gegenteil brachte er in seinen Kursen Anregungen zur Weiterentwicklung der Individualpsychologie. Nur zu gut kannte er seine Grenzen und war daher stets bestrebt, »vom größeren Irrtum zum kleineren« zu gelangen. – »Wir glauben nicht, daß wir die letzten Dinge erforscht, die letzte Wahrheit ausgesprochen haben, sondern daß dies alles nur ein Bestandteil der heutigen Kultur sein kann. Wir freuen uns auf die, die nach uns kommen.« […] Es war in London kurz vor seinem Tod. Adler hielt sich auf der Durchreise zu seinen Vorlesungen in Schottland für einen Tag dort auf. Er hatte Weisung gegeben, keine Patienten anzunehmen. Ein Emigrant, der seine Adresse herausgefunden hatte, suchte ihn auf und erreichte es, daß Adler ihm eine Unterredung bewilligte. Am Ende der Beratung fragte der Besucher ihn, was er zu zahlen Hertha Orgler

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hätte. Als Adler lächelnd erwiderte: »Ich nehme nie Geld von Emigranten«, entgegnete der Patient: »Auf diese Weise werden Sie kein reicher Mann werden.« »Das weiß ich!« war Adlers Antwort. – In der Tat gab er den größten Teil seiner Einnahmen für andere aus. Für sich war er sehr anspruchslos. Wie wenig er für Geld Interesse hatte, zeigt folgender Brief an mich nach Vorträgen in Berlin: »Sie wissen, daß ich in Geldsachen sehr liederlich bin, und deshalb bitte ich Sie, Ihre Güte vollzumachen und zu eruieren, wieviel ich noch zu bekommen habe, damit Sie dann für mich die Quittung einreichen können. Ich lege zu diesem Zweck ein von mir unterschriebenes Blatt bei, das Sie nach Gutdünken ausfüllen können.« […] Ganz erstaunlich war seine große Arbeitskraft und unermüdlich sein Fleiß. Um seine umfangreiche Arbeit zu bewältigen, pflegte er morgens sehr früh aufzustehen. Viele seiner Bücher sind in den frühen Morgenstunden entstanden. Er arbeitete von früh bis spät ohne Pause, auf seinen zahlreichen Vortragsreisen sogar in der Eisenbahn … – »Ich fahre jetzt nach Karlsbad für einige Stunden, dann nach Wildungen und Prag, immer für kurze Zeit, und arbeite im Eisenbahnwaggon«, schrieb er mir. Trotz seiner Arbeit machte er nie den Eindruck eines vielbeschäftigten Mannes. Im Gegenteil, wer Adler im Café Siller, Wien, das erstemal sah, hatte den Eindruck, einen der gemütlichen Wiener kennenzulernen, die einen großen Teil des Tages im Café bei einer Tasse Kaffee verbrachten. Das Café Siller, von dessen Fenstern man einen schönen Blick auf den Donaukanal hatte, war das Stammcafé der Individualpsychologen. Hier tagte Adlers Tafelrunde. Man hatte kein besonderes Zimmer für sich, sondern kam in einem der großen Caféräume zusammen. Da Adler es liebte, seinen Kreis um sich zu haben, so wurden die Marmortische zu einer langen Tafel zusammengeschoben. Hier an Adlers Tafelrunde lernte man den wahren Geist der Individualpsychologie kennen. Über dem Ganzen lag eine heitere, warme, herzliche Stimmung. Scherzworte schwirrten. Da saß Adler mit seiner nie fehlenden Zigarre und erzählte manchmal heitere Anekdoten. Oft wurde er in dieser behaglichen Haltung vom Nachbartisch aus unbemerkt gezeichnet, denn hier konnte ihn der Zeichner in Ruhe betrachten. Es war schwer, seinen pyknischen Typ richtig zu skizzieren. Zwar hatte er ein markantes, vorspringendes Kinn mit tiefem Grübchen, aber seine Nase war die Schwierigkeit. Von vorne breit, im Profil schmal, gab sie je nach der Position des Zeichners dem Gesicht ein anderes Aussehen. Er hatte eine volle Unterlippe, eine schön geschweifte Oberlippe, die von einem dunklen kleinen Schnurrbart etwas verdeckt wurde, enganliegende, gut geformte Ohren, eine hohe Stirne, einen für sein Alter erstaunlich üppigen Haarwuchs. Am schwersten war es, die Augen gut wiederzugeben. Fast alle Zeichnungen treffen die langen gebogenen Wimpern richtig, aber nicht den 204

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Ausdruck der Augen, der ständig wechselte. Gerade die Augen waren für ihn charakteristisch. Ob tiefernst, ob heiter, ob sinnend oder forschend, immer hatte sein Blick etwas Warmes, Verbindendes, immer erkannte man schon an diesem Blick den Mitmenschen. Als Mitmensch lernte man ihn auch hier an seiner Tafelrunde kennen. Er interessierte sich für das Schicksal jedes einzelnen, für alle hatte er ein ermutigendes Wort. […] Einmal hörte man, daß ein musikalisches Kind sich brennend eine Geige wünschte, doch die Eltern zu arm waren, um die Ausgabe zu ermöglichen. Sofort veranstaltete die Tafelrunde, von denen die meisten selber einfach lebten, eine Sammlung, von deren Erträgnis eine Geige gekauft wurde. […] Dinge, die in andern Ortsgruppen in ernsten, langen Sitzungen besprochen wurden, erledigte man in Wien an dieser Tafelrunde voll Unbeschwertheit nebenbei. Nicht nur Mitarbeiter und Anhänger bildeten Adlers Kreis, sondern oft brachte er auch Freunde und ausländische Gäste mit sich. Es konnte geschehen, daß er noch nach dem Ende der Oper mit ein paar amerikanischen Besuchern bei der Tafelrunde erschien, um zu hören, ob es noch irgend etwas zu erledigen gäbe. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Jeder wurde herzlich empfangen und fühlte sich dort willkommen. Bevor Adler aufbrach, spielte er manchmal noch eine Partie Billard, ein Spiel, das er sehr liebte. Sehr häufig brachten ihn einige Mitglieder der Tafelrunde nach Hause, denn er ging gerne gemütlich untergefaßt in Gesellschaft anderer. So lebendig er in kleinem Kreise war, so sehr hielt er sich bei offiziellen Gelegenheiten zurück. Der temperamentvolle Redner, der seine Hörer durch den Elan seiner Rede mitriß, war bei großen Gesellschaften ein ruhiger Gast. Bei dem wichtigen Empfang, der ihm zu Ehren von dem Staatssekretär Weismann im preußischen Ministerium des Innern gegeben wurde, hielt Adler einen hinreißenden Vortrag vor führenden Persönlichkeiten der Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Statt nun im persönlichen Gespräch den großen Eindruck seiner Rede zu verstärken, schwächte er ihn eher durch seine zu große Zurückhaltung ab. Er benahm sich so aus Furcht, daß die einflußreichen Leute denken könnten, er suche nach persönlichem Vorteil. Nie knüpfte er vorteilhafte Beziehungen an, war vielmehr stets bemüht, Interesse für seine Lehre zu erwecken, aber nicht für seine Person. Da er von der Bedeutung der Individualpsychologie so ganz durchdrungen war – (»Vielleicht gibt es ehrwürdigere Lehren einer älteren Schulwissenschaft. Vielleicht neuere ausgeklügeltere. Sicherlich aber keine, die der Allgemeinheit größeren Nutzen brächte«) –, widmete er den größten Teil seiner Arbeitskraft der Ausbreitung seiner Ideen. Daher die zahllosen Reisen, die zahlreichen Vorträge, die große Anzahl seiner Bücher. […] Hertha Orgler

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Erstaunlich war es, daß er trotz der umfangreichen Arbeit in Klinik, Poliklinik, Privatpraxis, trotz Vorlesungen, Vorträgen, wissenschaftlicher Arbeit, immer noch Zeit für seine Kinder fand. An seinen vier Kindern hing er mit großer Liebe. Als drei von ihnen einmal an einer uncharakteristischen Halsentzündung erkrankten, konnte Adler vor Unruhe darüber nicht schlafen. Mitten in der Nacht kam ihm der Gedanke, es könnte Diphtherie sein. Sofort sprang er auf, um einen Abstrich zu machen. Sein Verdacht fand sich bestätigt. – Glücklich schrieb er mir 1929 aus New York, wie wohl er sich in der Begleitung seiner jüngsten Tochter fände. In den Jahren, in denen er in Berlin Vorträge hielt, lebte seine älteste Tochter dort. Obwohl sein ganzer Tag voll mit Arbeit ausgefüllt war, kam er täglich mit ihr zusammen. Er wollte dieses Zusammensein möglichst eng gestalten. So schrieb er mir im September 1931, als ich für ihn eine möblierte Wohnung suchte: »Wegen der Wohnung würde ich Sie dringend bitten, mit Vali zu sprechen, ob sie und ihr Mann mit mir dort wohnen möchten.« Wie oft habe ich gesehen, daß er dieser erwachsenen Tochter zärtlich den Kopf streichelte. Dies war um so auffallender, als aus seinen Büchern hervorgeht, daß er gegen jede Äußerung von Zärtlichkeit trainiert hatte. »Auch bei einem Rückblick in unser eignes Leben wird es uns nicht entgehen können, daß jede Zärtlichkeitsregung von einer Art Schamgefühl begleitet wird und von dem Eindruck, als würde man dadurch schwächer werden oder im Werte sinken217*.« – Noch kurz vor seinem Tod sagte er mir in Holland, wie sehr er sich darauf freue, seine Tochter Vali in England wiederzusehen. Sein letztes Wort war »Kurt«, der Name seines Sohnes. – Natürlich interessiert es uns, ob Adler seine Erziehungsgrundsätze auch bei seinen Kindern anwandte. Seine Art und Weise als Vater wird am besten durch eine kleine Episode beleuchtet. Wie aus einer Kindheitserinnerung seiner zweiten Tochter hervorgeht, die er mir erzählte, war er mit ihr und ihrer älteren Schwester einmal auf Reisen, als sie noch kleine Kinder waren. In dem Hotel, in dem sie übernachteten, hatten sie Betten von verschiedener Größe. Sie fürchtete, sie sollte das kleine Bett bekommen, und fragte deshalb, welches Bett sie nehmen sollte. »Welches du willst«, antwortete ihr Vater, der sofort erriet, was sich in ihr abspielte. Begeistert wählte sie das große. Da er von der Gleichwertigkeit von Mann und Frau überzeugt war, ermutigte er alle seine Töchter, einen Beruf auszuüben. Am besten konnte man das herzliche Verhältnis zwischen Vater und Kindern sehen, wenn man Adler in seinem 217 * Anmerkung im Original: Liebesbeziehungen und deren Störungen. Wien u. Leipzig 1926 (Moritz Perles).

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Haus in Salmannsdorf besuchte. Er hatte mir schon öfters von seinem Häuschen und dem Garten in der Umgebung Wiens erzählt und mich sehr neugierig darauf gemacht. Als ich das erstemal nach Salmannsdorf hinauskam, war ich ganz entzückt von seinem Garten. Adler lächelte amüsiert, – denn ich hatte nur den vor seinem Hause gelegenen Garten gesehen, und zeigte mir den eigentlichen Garten, ein herrliches Grundstück hinter seinem Haus. Es war voller Bäume, Blumen und mit zahlreichen Gemüsen. Dort ging er von seinem schönen Schäferhund begleitet umher und beschnitt seine Rosen fachkundig. Es war eine Freude, ihn sich als Gärtner betätigen zu sehen. In seinem Treibhaus zeigte er uns stolz seine Kakteensammlung und seltene Pflanzen, die er sich aus U. S. A. mitgebracht hatte. Er, der so sehr frische Luft und Blumen liebte, gönnte sich aber nicht, den ganzen Sommer draußen zu leben. Meistens blieb er in seiner Stadtwohnung und fuhr nur über Wochenende nach Salmannsdorf. Gerne nahm er Gäste in seinem Auto mit, das er selber chauffierte, nachdem er noch mit 60 Jahren Autofahren gelernt hatte. Oben in seiner Villa wurden seine Gäste von seiner Frau und seinen Kindern empfangen. Sein »Häuschen« war eine wunderschöne Villa, ganz modern und sehr geschmackvoll eingerichtet. In dem Wohnzimmer stand ein Flügel, auf dem eine seiner Töchter ihn begleitete, wenn er mit seiner schönen Stimme sang. Hatte er einmal zu singen angefangen, so hörte er so bald nicht wieder auf. Seine Zuhörer ließen ihn nicht ruhen und baten immer noch um eine Zugabe. Er ließ sich auch nicht lange bitten. Am liebsten trug er Schubert vor. Je mehr Gäste er hatte, desto wohler fühlte er sich. Seine Kinder unterstützten die Eltern darin, es den Besuchern so angenehm wie möglich zu machen. Die Stunden verliefen dort immer in bester Stimmung. Zur Zeit des Heurigen lud Adler öfters seine Gäste ein, mit ihm zum Heurigen zu gehen. Man fuhr in die Wiener Vorstadt, um irgendein kleines Lokal aufzusuchen. Kaum war man eingetreten, als man sofort von der warmen vergnügten Atmosphäre des Heurigen umgeben und gefangen war. Je nach dem Wetter und dem Lokal konnte man im Freien oder drinnen sitzen. […] Hier in dieser warmen, herzlichen Atmosphäre fühlte sich Adler wohl. Er, der immer nach Wärme und Heiterkeit suchte, fand beides in den Herzen seiner Wiener. Wie tief er auch in Wien verwurzelt war, so gelang es ihm doch durch seine Anpassungsfähigkeit, sich in der Fremde schnell einzuleben. – Überall trugen seine Freunde dazu bei, es ihm im Ausland heimisch zu machen. Das zeigte sich am besten bei der Feier seines 60. Geburtstages. Adler wollte seinen 60. Geburtstag in seiner Bescheidenheit nicht feiern. Daher erschien keine Notiz in der Presse und niemand von seiner Familie kam nach New York. Seine Freunde und Anhänger aber wollten diesen Tag nicht ungefeiert vorübergehen lassen. Die Hertha Orgler

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Leiter aller Ortsgruppen des Internationalen Vereines für Individualpsychologie veranstalteten auf meine Anregung hin eine Sammlung, und ich brachte diese »Adler-Spende« nach New York. Am Morgen seines Geburtstages suchten eine New Yorker Ärztin und ich ihn in seinem Hotel auf, um ihn zum Frühstück abzuholen. Er empfing uns erfreut und lud uns ein, das Frühstück gleich an Ort und Stelle einzunehmen. Dabei zeigte er seine kleine Küche mit Frigidaire, in der er sich morgens selber sein Frühstück zubereitete. Voller Stolz setzte er uns selbstgebrauten Kaffee vor. Auch beim Lunch wurde nichts von seinem Geburtstag erwähnt. Scheinbar ganz harmlos fragte Dr. Knopf, eine Wiener Mitarbeiterin, ihn, ob man echten Rheinwein trinken könnte. – Es war ja 1930, die Zeit der Prohibition, und voller Mühe hatte sie echten Rheinwein aufgetrieben, den wir zwei Stunden zuvor gekostet hatten. Ahnungslos erwiderte Adler, daß er zwar an der Echtheit der Flaschen nicht zweifle, der Inhalt aber könnte so verfälscht sein, daß man zwei Stunden nach Genuß dieses Rheinweins erblinden könne. Er würde keinen Wein anrühren. Dr. Knopf sah sofort auf ihre Uhr und warf mir einen entsetzten Blick zu. Unruhig saß sie auf ihrem Stuhl und drängte bald zum Aufbruch. Dann eilte sie zu ihrem Bootlegger218. Kurze Zeit darauf suchte sie mich freudig auf. Der Mann hatte vor ihren Augen mehrere Glas dieses Weines getrunken, so könnte man ohne Sorge den Wein abends bei der Feier anbieten, die Adlers Freunde ohne sein Wissen in ihrem Heim arrangiert hatten. – Adler, der immer sein Werk in den Vordergrund stellte, hielt abends einen seiner Vorträge über Verbrechen. Er mußte sich am Eingang erst als Redner ausweisen, um hereingelassen zu werden, da der Saal, obwohl er einige Tausend Menschen faßte, so überfüllt war, daß eine halbe Stunde vor Beginn die Polizei den Eingang absperren mußte. Nach dem Vortrag fuhr Adler mit seinen Freunden im Auto davon, ohne zu fragen, wohin es ging. Zu seinem großen Erstaunen fand er sich plötzlich in Dr. Knopfs Wohnung, festlich gekleideten Freunden und einer schön gedeckten Tafel gegenüber. Und nun wurde doch gefeiert! In bester Stimmung hörte er unsere Toaste an und trank den Wein, über den er sich so ablehnend geäußert hatte, um seine Freunde nicht zu enttäuschen. Nach dem Mahl gab es noch eine Überraschung für ihn. Er wurde an einen Geburtstagstisch geführt, auf dem Dr. Knopf die Geschenke, die von überall eingetroffen waren, aufgebaut hatte. Am meisten freute er sich über die Adler-Spende. Er gab sie an eine Stelle in New York, an der schon eine Stiftung für Individualpsychologie bestand, mit der Weisung, daß sie zur Förderung der Individualpsychologie verwandt werden sollte, und zwar stets in dem Lande, in dem es am nötigsten sei. […]

218 Schwarzhändler.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Als ein begeisterter Verehrer der schönen Künste wies er immer wieder darauf hin, wieviel die Welt den großen Künstlern zu verdanken hätte. Die Maler hätten uns erst die verschiedenen Farben sehen gelehrt, die Musiker die feinere Unterscheidung der Töne, die Schriftsteller Sprachschönheit und Menschenkenntnis. Besonders liebte er Musik und Bücher. Die Lektüre diente ihm vor allem zur Herausarbeitung menschlicher Probleme. Sehr verehrte er die Bibel, Homer, Goethe und Shakespeare. Letzteren pries er als größten Psychologen unter den Schriftstellern. Dostojewskij, »der uns ein teurer und großer Lehrer geworden ist«, widmet er ein ganzes Kapitel in »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«. Darin betonte er, daß die Wirksamkeit von Dostojewskijs Gestalten wesentlich auf ihrer geschlossenen Einheit beruht. Raskolnikow, als er im Bett liegend über den Mord nachbrütet, sei derselbe, der den Trunkenbold unter den Rädern des Wagens hervorholt. Er bewundert Dostojewskij als Künstler, Ethiker und Psychologen. […] Die Einheit des rastlosen Suchers Adler, sein Lebensstil läßt sich nur herausfinden, wenn wir sein Ziel erkennen. Als Ziel gibt er uns selbst an: »den Tod überwinden.« […] Diese Zielsetzung gibt uns schon wichtige Aufschlüsse über ihn. Hier finden wir Optimismus, Aktivität und Mitmenschlichkeit. Er hatte einen schlechten Start im Leben, denn er war gehandikapt durch Rachitis, die ihn als Kind plump und unbeweglich machte, und durch eine leichte Form von Stimmritzenkrampf, die in ihm ein Gefühl der Unsicherheit hervorrief. Dazu kam noch Kränklichkeit in den ersten Jahren und dadurch bedingte Verzärtelung durch die Mutter. Durch die Geburt eines Bruders fühlte er sich vernachlässigt und zurückgesetzt, da nun sein jüngerer Bruder die Aufmerksamkeit seiner Mutter auf sich zog. Außerdem hielt er sich für häßlich und zu klein, worunter er sehr litt. – Organminderwertigkeit, Verzärtelung, Vernachlässigung, alle Möglichkeiten, die zu einem Minderwertigkeitskomplex führen können, waren bei ihm vereint zu finden. Er selber aber ist ein schönes Beispiel für die Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls. […] Er kämpfte gegen seine Ungeschicklichkeit und Unbeweglichkeit und hatte noch später Freude an der Bewegung, besonders am Bergsteigen, Schwimmen und Reiten. – Auch beim Reiten zeigte sich sein Lebensstil. So höre ich von Dr. Maximilian von Rogister, dem Verfasser von »Momella«, der oft mit ihm in den Wiener Praterauen spazieren ritt, wie Adler selbstsicher Hindernisse überwand, denen andere gewöhnlich auswichen. […] Erschütternd war es, ihn erzählen zu hören, wie ihn beim Tode zuckerkranker Patienten das Gefühl seiner Ohnmacht gegen den Tod überwältigte, und er deswegen die allgemeine Praxis aufgab. Als Nervenarzt bemühte er sich aufs äußerste, Selbstmord in seiner Praxis zu verhindern. […] Wie tief der Tod eines völlig Fremden auf ihn wirkte, sah ich selber. Hertha Orgler

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Adler hielt in Berlin einen Vortrag, als plötzlich in der Mitte seiner Vorlesung einer seiner Zuhörer zusammenstürzte. Sofort unterbrach er und eilte hinaus, um Erste Hilfe zu leisten. Ich sah, wie er auf dem Hofe bei dem Mann niederkniete und sich bemühte, ihn wiederzubeleben. Doch leider konnte weder er noch ein herbeigeholter Arzt von der Rettungsstelle helfen, da der Mann einem Herzschlag erlegen war. Adler kehrte in den Vortragssaal zurück und führte seinen Vortrag zu Ende, ohne den Todesfall zu erwähnen. Beim Herausgehen hörte ich, wie viele Hörer sich beschwerten, daß sein Vortrag auf einmal schlecht und unkonzentriert geworden wäre. In der Tat sprach Adler, der vor dem Vorfall so glänzend geredet hatte, danach ganz geistesabwesend. Man spürte, wie er mühselig nach Worten suchte, seine Ideen schwerfällig ausdrückte. Der Tod des Fremden hatte ihn so erschüttert, daß er während des Abends sein Gleichgewicht nicht wiederfinden konnte. Diese Übersensitivität, die von so großem Vorteil für seine Mitmenschen war, war für ihn selber von großem Nachteil. So konnte er nie überwinden, daß er von seiner Mutter zurückgesetzt worden war, und erwartete sein Leben lang, daß ein anderer ihm vorgezogen würde. Dies hat sich in all seinen Lebensbeziehungen, besonders in der Liebe, ausgewirkt. Verschärft wurde dieses Gefühl der Zurücksetzung durch die Ablehnung seiner Dozentur bei der Universität Wien. Der wissenschaftlichen Bedeutung Adlers ist dadurch kein Abbruch getan. […] Ich selber war unter seinen Hörern und konnte mich davon überzeugen, wie begeistert seine Studenten an der Columbia-Universität und am Long Island Medical College New York waren. Er verstand es, den ungenießbaren Stoff schmackhaft zu machen. Professor Butler, Präsident der Columbia-Universität, Nobelpreisträger, eine in der Weltöffentlichkeit sehr bekannte Persönlichkeit, sagte mir, wie beeindruckt er von Adlers Vorlesungen war […] Trotz aller wissenschaftlichen Anerkennungen, trotzdem er zum Bürger der Stadt Wien ernannt wurde, »in Würdigung der großen Verdienste, die er sich um die Wissenschaft erworben«, hat er die Ablehnung der Wiener Universität nie verwunden. Durch den anfänglichen Widerstand der Wissenschaftler wurde Adler, dieser weiche Mensch, dazu gedrängt, für seine Ideen zu kämpfen, und in seiner Dünnhäutigkeit fand er oft Kritiken so verwundend, daß er durch zu heftige Polemik reagierte. Im Hinblick auf einige Kritiken schreibt er mir 1932: »Während die einen in der Individualpsychologie eine Tendenz zur Gleichmacherei, die andern einen Willen zur Macht finden, kommen wieder andere zu der Auffassung, die Individualpsychologie verlange die Unterordnung. Dabei sehen letztere nicht einmal, daß Unterordnung ein schielender Begriff ist. Das einemal die größte menschliche Leistung (Unterordnung unter die Wahrheit), das andere Mal egoistisches kriecherisches Interesse bedeuten kann. Und dabei gibt es tausend Varianten.« 210

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Seine Einstellung, nicht willkommen zu sein, hielt ihn auch davon zurück, Gelehrte in andern Ländern unaufgefordert aufzusuchen. Dies wurde oft als Hochmut gedeutet. Nichts wäre törichter, als bei einem Manne, der stets die Gleichwertigkeit von allem, was Menschenantlitz trägt, betonte, an Hochmut zu denken. Wie fern ihm Hochmut lag, sieht man deutlich aus folgender Episode. Nach einer Teegesellschaft, zu der ein junger Mann seine Freundin, eine Kabarettänzerin mitgebracht hatte, nahm uns Adler alle in seinem Wagen mit auf die Heimfahrt. Da die Tänzerin pünktlich bei ihrer Nachmittagvorführung sein mußte, hielt er vor dem Café, stieg selber aus und nahm ihr ein Tanzröckchen, das sie beim Aussteigen beschwerte, ab. Da stand er auf einer der belebtesten Straßen Berlins am hellen Nachmittag, das uneingepackte Tanzröckchen aus Goldstoff in einer Hand, während er ihr mit der andern beim Aussteigen behilflich war! […] Anderen Menschen riet er zur Schonung, für sich selber kannte er das Wort »Schonung« nicht. Nie dachte er an sein Behagen oder an seine Gesundheit. Trotz fieberhafter Bronchitis las er zwei- oder dreimal täglich vor seiner Berliner Hörerschaft. Selbst eine fieberhafte Grippe hielt ihn nicht von seinen Kursen in New York fern. Erholungsferien machte er nicht, obwohl in den letzten Jahren sein Herz ihm schon Beschwerden gemacht haben muß: »Die kurze Zeit, die ich noch zu leben habe«, schrieb er mir im Herbst 1935, und wohl gerade der Gedanke an den nahen Tod trieb ihn an, Übermenschliches zu leisten. Wer las nicht mit Erschütterung, daß der Siebenundsechzigjährige in vier verschiedenen Ländern sechsundfünfzig Vorträge im letzten Monat vor seinem Tod hielt. Unaufhörlich trieb es ihn vorwärts, seine Ideen, seine Lehre noch selber zu verbreiten. Hindernisse kannte er nicht, da er dem Grundsatz huldigte: Hindernisse sind dazu da, um überwunden zu werden. Je mehr sich die Schwierigkeiten vor ihm auftürmten, um ihn zu überwältigen, um so mehr zeigte er sich ihnen gewachsen. Von Kindheit an hatte er ja darauf trainiert, sie zu überwinden. Er war keiner von den robusten Menschen, die sich freuen, ihre Kräfte an Widerständen zu erproben, oder die einfach keine Schwierigkeiten sehen. Im Gegenteil, seine reiche Phantasie malte ihm die Hindernisse noch viel größer vor, als sie tatsächlich waren, aber sein unerschütterlicher Mut und sein Streben nach dem Ziel ließen sie ihn überwinden. Er war keiner von den robusten Menschen, die sich freuen, ihre Kräfte an Widerständen zu erproben, oder die einfach keine Schwierigkeiten sehen. Im Gegenteil, seine reiche Phantasie malte ihm die Hindernisse noch viel größer vor, als sie tatsächlich waren, aber sein unerschütterlicher Mut und sein Streben nach dem Ziel ließen sie ihn überwinden. Wie alle seine Züge, so formte sich auch sein Ehrgeiz in Bezogenheit auf sein Ziel. Dieser Ehrgeiz, sicher in seiner Kindheit durch sein Gefühl der KleinHertha Orgler

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heit angestachelt, wurde verstärkt durch seine Position als zweites Kind – das ja nach Adler meist den Wunsch hat, den ersten zu überholen – und durch die Einstellung des Vaters, der Großes von diesem Sohn erwartete. Seine eigne Auffassung darüber war: ›,Mein Ehrgeiz ist so sehr durch diese leitende Fiktion, den Tod zu überwinden, festgelegt, daß ihn andere Ziele wenig aufstacheln können. Es kann vielmehr leicht der Eindruck erweckt werden, als ob mir in den meisten Beziehungen des Lebens der Ehrgeiz fehlte. Die Erklärung für dieses double vie, für diese Spaltung der Persönlichkeit, wie es die Autoren nennen würden, liegt darin, daß der Ehrgeiz ja nur ein Mittel darstellt, keinen Zweck, so daß er bald benützt, bald beiseite geschoben wird, je nachdem das vorschwebende Ziel bald mit diesem Charakterzug, bald ohne ihn leichter zu erreichen ist.« Wie den Ehrgeiz, so dämmte er auch seine Leidenschaften in Hinblick auf sein Ziel ein. Er, der eine so sensitive Künstlernatur hatte, empfänglich für das Schöne, der das Leben in seinen Höhen und Tiefen bejahte, der nicht »nein« sagen konnte, muß durch tiefe Leidenschaften gegangen sein […] Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls, Streben nach erfolgreicher Bewältigung der Lebensprobleme, frühzeitige Entwicklung des Interesses für andere finden wir in seinem Lebensstil. Solange er selber noch nach wissenschaftlicher Anerkennung strebte, hob er in seiner Lehre das Geltungsstreben hervor. Seine spätere Erkenntnis: eine große Leistung sei nicht möglich zu vollbringen, wenn man gleichzeitig an Anerkennung denke, der Sinn des Lebens sei: mitzuarbeiten an der Höherentwicklung der Menschheit – wurde das Ziel seiner Lehre und seines Lebens. […] Das Schöpferische in Adler läßt sich nicht erklären. Wie es zu seinem blitzartigen Erfassen sinnvoller Zusammenhänge kam, ist noch unlösbar. Nach Adlers eigner Auffassung läßt sich das Wesen des Genies nicht deuten. Adlers Größe zeigt sich in seiner Leistung, eine Lehre aufgebaut zu haben, die, wissenschaftlich begründet in der Theorie und darüber hinaus in ihrer Praxis, von ungeheurem Werte für die gesamte Menschheit ist. Sein konstruktiver Geist hat die Brücke gebaut von der Psychologie zur Medizin, zur Pädagogik, zur Theologie und zur Kriminologie. Er hat den Tod überwunden. Sein Werk und sein Name sind unvergänglich. Zur Passivität von Natur aus geneigt, zur Aktivität durch Erkenntnis durchgerungen, richtete er das große Lehrgebäude der Individualpsychologie auf. Als Forscher und Arzt, als Lehrer und Erzieher, als Redner und Autor wirkte er voller Optimismus, allen Stürmen und Anfeindungen trotzend, auf das eine Ziel hin: den Menschen zu helfen, sie zu fördern, ein Menschenhelfer, ein Menschenförderer, ein Menschheitsförderer zu sein!

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Karl Popper Sir Karl Raimund Popper (1902–1994) war ein in Wien geborener Philosoph, der mit seinen Arbeiten zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, zur Sozial- und Geschichtsphilosophie sowie zur politischen Philosophie den kritischen Rationalismus begründete. Seine Idee von der Notwendigkeit der Falsifizierbarkeit von Theorien gehört mit zu den wichtigsten Errungenschaften wissenschaftlichen Denkens. In seinem Buch »Ausgangspunkte« (1976) beschreibt er seine intellektuelle Entwicklung, die mit einer kritischen Sicht auf Marxismus, Psychoanalyse und Individualpsychologie beginnt. Als Schüler hatte er um 1919 herum einige Monate lang in Alfred Adlers Erziehungsberatungsstellen unentgeltlich mitgearbeitet. Als Erzieher in einem Wiener Hort beschäftigte ihn die Abgrenzung zwischen wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Theorien, wobei jene von Marx, Freud und Adler für ihn zur zweiten Kategorie gehörten, was er später u. a. in der »Logik der Forschung« (1934) ausführlich begründete. Die Falsifizierbarkeit wurde für ihn das Unterscheidungskriterium. Albert Einsteins Theorien hingegen hielt er für überprüfbar. Einstein schlug Experimente vor, deren Übereinstimmung mit seinen Voraussagen die Theorie stützen würde, während eine Nichtübereinstimmung die Theorie als unhaltbar erweisen würde. Das, so meinte Popper, sei die wahre wissenschaftliche Haltung. In seinem Buch »Vermutungen und Widerlegungen« (London 1963; deutsch 1994) geht er auf seine Begegnung mit Adler ein.219 Aus urheberrechtlichen Gründen ist es nicht möglich, die Passagen im Wortlaut zu zitieren. Wir müssen uns mit einer Zusammenfassung begnügen.

Bereits in jungen Jahren interessierte sich Popper für Einsteins Relativitätstheorie, für Marxens Geschichtsauffassung, für Freuds Psychoanalyse und für Adlers Individualpsychologie. Alle Theorien seien damals unter Studenten eifrig diskutiert worden. Popper kam zufällig in persönlichen Kontakt mit Alfred Adler, und er wurde eine Zeitlang sein Mitarbeiter in einer der Beratungsstellen für

219 Popper, Karl R. (1994): Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis. Übersetzt von Gretl Albert u. a., hg. von Herbert Keuth. Tübingen (Mohr Siebeck), 2. Aufl. 2009 (Gesammelte Werke in deutscher Sprache, Bd. 10), S. 49–56. – Das Buch ist eine Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen, die Poppers Gedanken zur Wissenschaftsphilosophie summieren. Seiner Ansicht nach sind alle wissenschaftlichen Theorien zunächst Vermutungen. Sollten neue Theorien den Versuchen zu ihrer Widerlegung standhalten, hätten sie eine höhere Plausibilität und Wahrscheinlichkeit und seien näher an der Wahrheit. Karl Popper

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Kinder und Jugendliche, die Adler und seine Mitarbeiter in den Arbeitervierteln Wiens eingerichtet hatte. Im Sommer 1919 begann Popper, die Wissenschaftlichkeit der marxistischen Geschichtstheorie, der Psychoanalyse und der Individualpsychologie anzuzweifeln. Er fragte sich: »Was ist es denn, was mit diesen drei Theorien nicht in Ordnung ist […]? Was macht sie denn so verschieden von einer physikalischen Theorie, wie etwa Newtons Theorie oder Einsteins Relativitätstheorie?« Es ging ihm nicht so sehr um die Frage, ob diese drei Theorien wahr seien. Ihn verblüffte, dass ihm die mathematische Physik so viel exakter erschien als soziologische oder psychologische Theorien. Ihn beunruhigte, dass die drei genannten Theorien, »obwohl sie vorgaben wissenschaftlich zu sein, in Wirklichkeit mehr mit primitiven Mythen gemeinsam hatten als mit der Naturwissenschaft, daß sie der Astrologie näher standen als der Astronomie.« Die Theorien von Marx, Freud und Adler hatten ohne Zweifel eine große Erklärungskraft, jedenfalls erschien das allen so, die sich damals damit beschäftigten. Diese Theorien schienen fähig zu sein, alles zu erklären, was in ihren Anwendungsbereich fiel. Ihr Studium rief eine Art intellektuellen Bekehrung oder Offenbarung hervor, es gingen einem die Augen auf für eine neue Wahrheit, die den Uneingeweihten verborgen blieb. Doch erst einmal aufmerksam geworden, tauchten überall bestätigende Beispiele auf. Die Welt war voll von Verifikationen der Theorie, was immer sich ereignete, fand eine Erklärung im Lichte der Theorie. Wer sich dieser scheinbar offen zutage liegenden Wahrheit nicht anschließen wollte, musste entweder den falschen Klassenstandpunkt haben oder dessen Verdrängungen war noch nicht analysiert worden. Als das charakteristischste Element dieser Theorien erschien Popper also der unaufhörliche Strom von Bestätigungen und verifizierenden Beobachtungen. Marxisten brauchten nur eine Zeitung aufzuschlagen, um ihre Geschichtsauffassung bestätigt zu finden. Psychoanalytiker der Schule Freuds betonten, dass ihre Theorien ständig durch ihre »klinischen Beobachtungen« verifiziert würden. Und was Adler anbelangt, so hatte Popper ein persönliches Erlebnis, das auf ihn großen Eindruck machte. »Ich berichtete ihm damals, im Jahr 1919, über einen Fall in der Beratungsstelle, der mir nicht sehr ›adlerianisch‹ vorkam. Er hatte aber nicht die geringste Schwierigkeit, ihn im Sinne seiner Theorie als einen Fall von Minderwertigkeitsgefühlen zu diagnostizieren, obwohl er das Kind nicht einmal gesehen hatte. Ich war darüber etwas schockiert und fragte ihn, was ihn zu dieser Analyse berechtigte. ›Meine tausendfältige Erfahrung‹, war seine Antwort; worauf ich mich nicht enthalten konnte zu erwidern: ›Und mit diesem Fall ist Ihre Erfahrung jetzt eine vieltausend-und-einfältige!‹« 214

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Popper schloß daraus, dass Adlers frühere Beobachtungen vielleicht nicht besser fundiert waren als die neue, dass jede von ihnen im Lichte »früherer Erfahrung« interpretiert wurde und zugleich als eine neue Bestätigung gezählt wurde. Aber was, so fragte sich Popper, wurde damit bestätigt? »Nicht mehr als die Tatsache, daß ein Fall im Sinne der Theorie gedeutet werden konnte.« Das aber bedeutet nicht viel; jeder nur denkbare Fall konnte im Sinne von Adlers Theorie und ebenso gut im Sinne von Freuds Theorie gedeutet werden. Popper bringt dazu ein Beispiel:. »Stellen Sie sich einen Mann vor, der ein Kind ins Wasser stößt in der Absicht, es zu ertränken, und einen anderen, der sein Leben opfert, um das Kind zu retten. Beide Fälle kann man gleich gut im Sinne der Psychoanalyse und der Individualpsychologie erklären. Nach der Freudschen Lehre leidet der erste Mann an einer Verdrängung (etwa der einer Komponente seines Ödipuskomplexes), während der zweite zu einer Sublimierung gelangt ist. Nach Adlers Theorie leidet der erste Mann an Minderwertigkeitsgefühlen (die ihn vielleicht dazu zwingen, sich zu beweisen, daß er es wagt, ein Verbrechen zu begehen), und der zweite leidet in derselben Weise (aber er muss sich beweisen, dass er es wagt, das Kind zu retten). Ich konnte mir kein menschliches Verhalten ausdenken, das man nicht durch beide Theorien interpretieren konnte.« Was in den Augen der Bewunderer für die Theorien sprachen – ihre große Erklärungskraft –, war für Popper in Wirklichkeit eine gravierende Schwäche dieser Theorien. Diese Überlegungen führten ihn im Winter 1919/20 zu Schlußfolgerungen, die er in »Vermutungen und Überlegungen« folgendermaßen formulierte (Hervorhebungen im Text durch KP): »(1) Für fast jede Theorie kann man leicht Bestätigungen oder Verifikationen finden; nämlich dann, wenn man nach Bestätigungen sucht. (2) Deshalb sollten Bestätigungen nur dann ernst genommen werden, wenn sie das Resultat riskanter Vorhersagen sind, das heißt dann, wenn wir ohne Kenntnis der betreffenden Theorie ein Ereignis erwartet hätten, das mit der Theorie unvereinbar ist: ein Ereignis also, dessen Eintreffen die Theorie widerlegen würde. (3) Jede ›gute‹ wissenschaftliche Theorie ist ein Verbot; sie verbietet das Eintreffen gewisser Ereignisse. Je mehr eine Theorie verbietet, desto ›besser‹ ist sie. (4) Eine Theorie, die durch kein denkbares Ereignis widerlegt werden kann, ist unwissenschaftlich. Unwiderlegbarkeit ist nicht, wie oft angenommen wird, eine Stärke der Theorie, sondern eine Schwäche. (5) Jede echte Überprüfung einer Theorie ist ein Versuch, sie zu falsifizieren, zu widerlegen. Prüfbarkeit ist Falsifizierbarkeit, aber es gibt Grade der Prüfbarkeit: Manche Theorien sind besser prüfbar, mehr der Widerlegung ausgesetzt, als andere; sie laufen sozusagen ein höheres Risiko.« Karl Popper

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Einsteins Gravitationstheorie erfüllte für Popper in vorbildhafter Weise das Kriterium der Falsifizierbarkeit, die Astrologie hingegen nicht. Es sei typisch für Wahrsager, die Dinge so im Vagen zu halten, dass ihre Voraussagen kaum fehlgehen können.. Der Marxismus verfiel trotz bemühter Anfänge schließlich auf solche Wahrsagermethoden. Die Theorien des jungen Marx könnten sogar als wissenschaftlich gelten, denn sie wurden widerlegt. Die beiden psychologischen Theorien hingegen seien einfach unprüfbar bzw. unwiderlegbar gewesen. Es gab kein menschliches Verhalten, das sie nicht in ihre Theorie integrieren konnten. Natürlich hätten Freud und Adler gewisse Dinge richtig erkannt. und sicherlich werde dies eines Tages in einer wissenschaftlichen – das heißt überprüfbaren – Psychologie eine Rolle spielen. Aber »klinische Beobachtungen« seien dazu ebenso wenig geeignet wie die Beobachtungen, auf die Astrologen in ihrer täglichen Praxis stoßen. »Klinische Beobachtungen« seien »Interpretationen im Lichte von Theorien«. Sie haben die Tendenz, die Theorie zu stützen, nicht, sie zu widerlegen oder zu revidieren. Für eine echte Überprüfung müssten »Kriterien der Widerlegung« aufgestellt werden. Der »Ödipuskomplex« beispielsweise sei ein Konstrukt, dessen Vorhandensein Analytiker immer erwarten. Er selbst habe, so Popper in einer Fußnote220, den Ausdruck »Ödipuseffekt« eingeführt, um den Einfluss einer Theorie oder Erwartung auf die Interpretation eines Ereignisses zu kennzeichnen. Auch müsse bedacht werden, dass Patienten den Analytikern in ihren Träumen und ihrem Verhalten gerne entgegenkommen, um ihre Erwartungen an das psychische Material nicht zu enttäuschen. Mit Verwunderung zitierte Popper einen Satz von Freud, welcher behauptete, dass die Suggestionswirkung keinerlei Einfluss auf die Zuverlässigkeit psychoanalytischer Resultate habe.221

Alan Porter Alan Porter wurde neben Walter Beran Wolfe der zweite wichtige Zuarbeiter, Redigierer und Ghostwriter für Adlers weitgefächerte Publikationstätigkeit in den USA und Großbritannien. Porter war Schriftsteller, Gelehrter und Herausgeber des »London Spectator«. Nachdem er Adler in Wien besucht hatte, gründete er zusammen mit Mairet und anderen den Londoner Zweig der Internationalen Schule für Individualpsychologie. 1929 220 Popper, Karl R. (1994): Vermutungen und Widerlegungen. Tübingen (Mohr Siebeck), 2. Aufl. 2009, S. 55 f. 221 Freud, Sigmund (1925): Gesammelte Schriften, Bd. III, Kapitel »Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung«, Leipzig u. a. (Internationaler Psychoanalytischer Verlag), S. 314.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

zog er nach New York um, wo er unter anderem an der renommierten London School for Social Research Vorträge hielt. Anfang 1930 trat Adler an Porter heran wegen der Bearbeitung und Herausgabe neuer Buchprojekte. Auch sprang Porter mehrere Male für Adler als Referent an der Columbia University ein. Im April 1930 schrieb er an Adlers Mäzen Davis. Es ging um das Honorar für Porter:222

Seit gestern widme ich meine gesamte Zeit der Vorbereitung des Buches von Dr. Adlers amerikanischen Vorlesungen. Als ich die Arbeit mit Dr. Adler besprach, sagte ich ihm, daß ich für die Vorbereitung mehr als drei Monate benötigen würde, und schlug vor, daß ich zu einem Satz von $ 300 pro Monat, für jeden Monat im voraus, bezahlt werde. Er stimmte meinem Vorschlag zu und bat mich, ihn Ihnen zur Genehmigung vorzulegen. Ich schreibe deshalb, um zu erfahren, ob Sie diesen Bedingungen zustimmen. […] Andere Artikel, die ich an der Hand habe, sind zwei weitere aus den Vorlesungen über Verbrechen, drei über Liebe und Ehe, drei über den Schulberatungs-Beirat. Ich schlage vor, daß diese unabhängig von dem Buch betrachtet und bezahlt werden, da ich das Material nicht in derselben Form verwenden werde.

Carl Rogers Carl Rogers (1902–1987) war einer der einflussreichsten amerikanischen Psychologen und wird der humanistischen Psychologie zugeordnet. Seine klientenzentrierte Gesprächstherapie wurde zu einem festen Bestandteil der Gesprächsführung in der Psychotherapie. Sein therapeutisches Vorgehen nennt sich »nichtdirektiv«, aber natürlich ging er von seinen Vorannahmen aus und beeinflusste damit das therapeutische Geschehen (Übertragung). Grundgedanke der Persönlichkeitstheorie von Rogers ist das Streben des Menschen nach Selbstverwirklichung und Selbstaktualisierung. Ob Rogers wirklich etwas Neues in die Tiefenpsychologie einbrachte, ist umstritten. Vieles formulierte er nur um. Immerhin war er auch von Alfred Adler beeinflusst, wie Heinz L. Ansbacher in einem kurzen Beitrag für das »Journal of Humanistic Psychology« anmerkte.223 Ansbacher schreibt über Rogers:

222 Brief an Charles Davis, 2. April 1930, zit. in Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 292 f. 223 Ansbacher, Heinz L. (1990): Journal of Humanistic Psychology, Fall, S. 47 f. Ansbacher erzählt diese Geschichte leicht abgewandelt in Ansbacher, Heinz (1988): A Memory by Carl Rogers of Alfred Adler. In: Individual Psychology Newsletter, Jahr 32-B, S. 10 f. Carl Rogers

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Carl Rogers wird [von mir, Ansbacher] zuerst diskutiert, denn es war seine Achtung gegenüber Adler, kurz vor Rogers Tod, die den hier vorliegenden Artikel inspirierte. Rogers schrieb: »Ich hatte die Ehre, Dr. Alfred Adler zu treffen, zu hören und zu beobachten. Das war im Winter 1927/28, als ich Assistenzarzt224 am neuen Institute for Child Guidance in New York war (das Institut löste sich in der wirtschaftlichen Depression auf). Ich war an den rigiden Freudianischen Zugang am Institut gewöhnt – fünfundsiebzig Seiten Fallgeschichte und erschöpfende Testreihen, bevor man überhaupt daran denken konnte, ein Kind zu ›behandeln‹ – und war geschockt von Dr. Adlers sehr direkten und trügerisch simplen Art der unmittelbaren Beziehungsaufnahme zum Kind und den Eltern. Es dauerte eine Weile, um zu erkennen, was ich von ihm gelernt hatte (persönliche Mitteilung, 19. Januar 1987).« Jene, die die Arbeit von Adler und Rogers kennen, sahen immer die Übereinstimmungen. Aber das obige Zitat ist meiner Kenntnis nach die einzige Äußerung Rogers’, in welchem er einen direkten Einfluss Adlers auf ihn anspricht. Anlass dieses Statements war die Feier zum 35-jährigen Bestehen des Alfred Adler Institute Chicago und des ersten Gründertages zu Ehren des 90. Geburtstages des Gründers, Rudolf Dreikurs, am 8. Februar 1987. Rogers war zwar eingeladen, konnte aber nicht kommen, weshalb er eine Nachricht sandte, deren zweiter Absatz oben steht, der dann im Programmheft veröffentlicht wurde. An Dreikurs erinnerte sich Rogers, kurz nachdem er 1945 nach Chicago kam, wo er bald Dr. Dreikurs traf und »einen tiefen Respekt für diesen Mann und für sein Werk entwickelte, indem er den Ansatz Alfred Adlers fortführte« (persönliche Mitteilung, 19. Januar 1987). Mehr als zwanzig Jahre später (1967) erwähnte Rogers auch seine Begegnung mit Adler. Aber dann bemerkte er nur, dass »Alfred Adler [neben anderen] uns unterrichtete und die ganze Belegschaft schockierte, indem er die Ansicht vertrat, dass eine ausführliche Fallgeschichte unnötig sei. Ich erinnere mich daran, wie ich dachte, wie uninformiert er sein muss, da wir doch routinemäßig Fallgeschichten von fünfzig bis siebzig Seiten aufnahmen« (Rogers 1967, S. 357). Wie Rogers in seinem späteren Statement sagte: »Es dauerte eine Weile, um zu erkennen, was ich von ihm gelernt hatte.« Man mag dazu ergänzen, dass es der oben genannten speziellen Gelegenheit bedurfte, damit Roger dies ausdrückte.

224 Englisch intern, kann auch Praktikant bedeuten.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Paul Rom Paul Rom wurde 1902 in Breslau geboren. Er verlebte seine Schul- und Studienjahre in Leipzig und wirkte von 1927 bis 1933 als Studienrat in Freital bei Dresden. Er trat 1930 dem Dresdner Verein für Individualpsychologie bei und gründete 1932 in Freital eine individualpsychologische Erziehungsberatungsstelle. Nach 1933 lebte er als Heilerzieher in Athen, dann in Paris, wo er an der Sorbonne Germanistik und Psychologie studierte. Im Zweiten Weltkrieg diente er erst in der französischen Fremdenlegion, dann in einer Vichy-Arbeitskompanie in der nordafrikanischen Wüste, wo sein Buch »La Paix des Nerfs« (Genf 1943) entstand; schließlich diente er noch in der Britischen Armee, in der er 1945/46 als »W.O. II Psychology Instructor« tätig war. Nach dem Kriege ließ er sich in England nieder, war zunächst Französisch-Lehrer und Psychologe in einer Heimschule für intelligente neurotische und delinquente Jungen in Kent und lebte anschließend in London als Lehrer und Schriftsteller. – 1966 erschien auf Deutsch »Alfred Adler und die wissenschaftliche Menschenkenntnis«. In einfacher Sprache, doch mit wissenschaftlicher Genauigkeit, bietet das Buch ein anschauliches Bild von Leben und Werk Adlers, dessen Individualpsychologie jeden Erzieher angehen sollte. Das schmale Buch schließt in einem Epilog mit »Persönlichen Erinnerungen«, die hier ungekürzt folgen.225

Epilog (Persönliche Erinnerungen) Kongreß in Berlin Ich sah und hörte Alfred Adler zum ersten Male auf dem 5. Internationalen Kongreß für Individualpsychologie, der 1930 in Berlin im Schöneberger Rathaussaal stattfand. Wie so viele andere, die von dem berühmten Manne gehört hatten, war auch ich erstaunt über die Schlichtheit seines Äußeren, über die Einfachheit seines Sprechens. Der damals Sechzigjährige, klein, aber von kräftiger Statur, trat mit einer Unbefangenheit und Natürlichkeit vor die Versammlung, die an Bernard Shaw erinnerte. Der große Kongreßsaal in Schöneberg war übervoll. Adler sprach einleitend über schwererziehbare Kinder. Das war das zweite Kongreßthema, zu dem dann führende Mitglieder der Adlerschen Schule besondere Referate hielten, nachdem der erste Teil des Kongresses mehr ärztliche Fragen behandelt hatte. 225 Rom, Paul (1966): Alfred Adler und die wissenschaftliche Menschenkenntnis. Frankfurt/M. (Waldemar Kramer), S. 129–132. Paul Rom

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Adler war eingeladen worden, zwischen zwei Kongreßsitzungen in das Haus der Berliner Studenten zu kommen und zu ihnen zu sprechen, was er mit größter Selbstverständlichkeit tat. Er erzählte dabei auch von seiner Reise nach den Vereinigten Staaten, wo er »die Fahne der Individualpsychologie« aufgepflanzt habe – doch berichtigte er sich und ersetzte das Wort »Fahne« mit stolzer Bescheidenheit durch »Fähnchen«. Adler leistete in jenen Tagen auch einer Einladung Albert Einsteins Folge, ihn in seinem Heim in der Nähe von Berlin zu besuchen. Die Würde des Kongresses, das Erlebnis, wie bedeutsam die Lehren dieser wissenschaftlichen Schule für Menschenkenntnis und Lebensführung sind, veranlassten mich zum eingehenden theoretischen und praktischen Studium, und ich trat dem Dresdner Verein für Individualpsychologie bei, dessen Vorsitzender Dr. med. Hugo Freund war. Ihm, der inzwischen ein Buch über konstruktive Psychologie erscheinen ließ, verdankte ich auch eine »Lehranalyse«, d. h. eine systematische Aufhellung und Neuausrichtung meines damaligen Lebensstils. Im Dresdner Verein Im Frühjahr 1932 hörten wir Adler in einer Heilanstalt in der Nähe von Dresden sprechen und einen »Fall« interpretieren. Ich erinnere mich, daß in der folgenden Aussprache jemand fragte, ob die Individualpsychologie die Religion ersetzen wolle, worauf Adler überzeugend sagte: »Die Individualpsychologie will nichts ersetzen; sie will nur auf ihre Art den Menschen helfen.« Eine Zuhörerin, die Adler durchaus feindlich gesinnt war, erinnerte sich an diese einfachen Worte noch nach vielen Jahren, so sehr war sie davon beeindruckt worden. Dr. jur. B. Roth, neben Dr. Freund ein führendes Mitglied des Dresdner Vereins, hatte Adler in seine Wohnung eingeladen, um ihm Gelegenheit zu geben, mit den Mitgliedern gesellig beisammen zu sein. Als Adler zu den schon Versammelten hereintrat, erklärte bei der Vorstellung ein Studienrat unter einer etwas linkischen Verbeugung, daß die Lehrer viel von der Individualpsychologie zu lernen haben; wenn Adler nur seinen Begriff der »Gemeinschaft« etwas konkretisieren wollte … Adler sagte darauf leise und klar in seinem Wiener Tonfall: »Mit Ehrfurcht und Demut …« Natürlich hielt er später eine kleine Rede, und dann waren wir noch lange zwanglos beisammen. Dabei kam der kleine Sohn des Hausherrn unerwartet ins Zimmer und sah sich verwundert um. Adler breitete beide Arme aus nach ihm und sagte: »Wem gehörst du denn?« Aber das etwa achtjährige Bürschchen lief, anstatt heranzukommen, schnell wieder hinaus. Der Vater, ein Rechtsanwalt, erklärte lachend, daß sein Sohn ihn im Laufe des Tages gefragt habe, wer denn der Herr Adler sei, der am Abend zu Besuch kommen würde. Da habe er geantwortet: »Das ist der 220

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Mann, dem du es verdankst, daß du nicht all die Schläge bekommen hast, die du verdient hättest!« Und einer im Kreise sagte: »Sie hätten auch sagen können, daß er der Mann ist, der Ihnen das Geschäft verdirbt« – denn dieser Anwalt war Spezialist für Ehescheidungen. Eine Karte Im Jahre 1934 hatte ich, während ich als Heilerzieher in Athen lebte, eine Einführung in die Individualpsychologie geschrieben. Ich schickte Adler das Manuskript und bat ihn um ein Vorwort. Von Wien aus, wo er den Sommer 1935 in Ferien war, schrieb er diese Zeilen: »Von Ihrem Vorschlag, mich eine Vorrede schreiben zu lassen, bitte ich Sie Abstand zu nehmen, ich müßte sonst gerechterweise jährlich 6 Vorreden schreiben. Habe deshalb bisher immer mit größtem Bedauern abgelehnt. Deshalb würde es mir schrecklich übelgenommen werden, wenn ich es doch täte. Also, nichts für ungut. Ihnen wünsche ich den größten Erfolg.« Letzte Begegnung in Paris Nach Beendigung des Studienjahres 1936/37 im Long Island Medical College von New York kam Adler nach Europa, um in Belgien, Holland, Frankreich und Großbritannien Vorträge zu halten. In der vorletzten Woche des Mai war er in Paris, wo ich damals seine Lehre vertrat. In Frankreichs schöner Hauptstadt traf ich Adler zum letzten Mal. Er hatte mich telephonisch gebeten, ihn in seinem Hotel in der Nähe des Louvre aufzusuchen. Bei einer Tasse Kaffee und während er, wie üblich, eine Zigarre rauchte, unterhielten wir uns über verschiedene Probleme und Personen der Bewegung. Frau Adler gesellte sich bald zu uns und nahm an der Unterhaltung teil. Adler ermutigte mich, die »Blätter für Individualpsychologie«, die ich damals in Paris herausgab, auf Französisch umzustellen. (Das Erscheinen von »Courage – Feuilles de Psychologie Adlérienne« wurde dann 1939 durch den Krieg unterbrochen.) Er sprach über manche seiner früheren Anhänger, die fanatische Parteipolitiker geworden waren. Eine lapidare Äußerung ist mir noch in Erinnerung: »Das Gemeinschaftsgefühl«, sagte er, »ist weiter nichts als die gelungene Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls.« Anfangs hatte er das Gemeinschaftsgefühl manchmal als »angeboren« angenommen. Obige Formulierung präzisierte, was er einige Jahre vorher wie folgt ausgedrückt hatte: »Die Individualpsychologie hat das jedem Menschen innewohnende Stück Gemeinschaftsgefühl erkannt und führt es als unverbrüchlichen Bestandteil menschlichen Wesens auf angeborene Möglichkeiten zurück, die der Entwicklung harren.« Paul Rom

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Ich erwähnte mit Bedauern, daß es noch keine französische Übersetzung seines Buches »Menschenkenntnis« gäbe. »Ach, das ist ja ein altes Buch«, sagte er, »ich sähe lieber eine Übersetzung meines letzten Buches ›Sinn des Lebens‹.« Es sollte noch über zehn Jahre dauern, bis M. Payot nach dem Kriege französische Übersetzungen dieser beiden Werke herausbrachte. Später kam Dr. Herbert Schaffer zu uns, und Adler regte nach der Vorstellung an, daß wir beide als seine Anhänger in Frankreich zusammen für die Individualpsychologie wirken. Als Schaffer mir seine Karte gab, fand ich, daß seine Wohnung kaum zwei Minuten von der meinen entfernt war. Lachend sagte ich zu Adler: »Sie mußten von New York nach Paris kommen, um zwei Männer zusammenzuführen, die fast Haus an Haus wohnen!« Darauf sagte er: »Es war mein ganzes Leben lang mein Bestreben, Menschen zusammenzubringen.« Diese schlichten Worte schätze ich wie ein persönliches Vermächtnis. Im Cercle Laënnec Und dann stand Adler am selben Abend – es war der 19. Mai 1937 – wieder vor uns, im Saale der Gesellschaft »Les Amis de Laënnec«, um vor katholischen Medizinern und Studenten und vor Freunden aus verschiedenen Ländern einen Vortrag zu halten. Adler sprach englisch, nachdem sein Freund Dr. James Moore aus London ihn und seine Lehre in einer französischen Rede eingeführt hatte. Wie so häufig wurde Adler dann bei der Beantwortung von Fragen besonders lebhaft und eindrucksvoll. »Vielleicht«, sagte er an einer Stelle ungefähr, »vielleicht komme ich wieder einmal nach Paris, und dann sind schon so viele Individualpsychologen hier, die sprechen können, daß ich selber als Zuhörer unter ihnen sitzen kann …« Ich dachte schmerzerfüllt an diese Worte, als acht Tage später die Todesnachricht kam …

Lou Andreas-Salomé Lou Andreas-Salomé, geborene Louise von Salomé (1861–1937), war eine weitgereiste Schriftstellerin, Erzählerin, Essayistin und Psychoanalytikerin aus russisch-deutscher Familie. Sie wuchs als Liebling des Vaters in einer wohlhabenden, kulturell vielseitig interessierten Familie in Russland auf, in der Deutsch, Französisch und Russisch gesprochen wurde. Sie war äußerst intelligent und gewinnend und verstand es, mit berühmten Männern ihrer Zeit Bekanntschaft und Freundschaft zu schließen – in erster Linie zu Paul Rée, Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud. Im WikipediaEintrag heißt es: »Männer machten ihr weitgehende Angebote (körperliche Intimität 222

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

meist eingeschlossen), sie nahm davon, was sie wünschte; sie bestimmte die Bedingungen.« 1887 heiratete Lou von Salomé in Berlin den Orientalisten Friedrich Carl Andreas. 1912/13 besuchte sie in Wien Freuds Vorlesung in der Psychiatrischen Klinik über »Einzelne Kapitel aus der Lehre von der Psychoanalyse« und nahm als damals einzige Frau an den Gesprächen der Mittwochsgesellschaft, dem internen Kreis um Freud, teil. Anfänglich besuchte sie parallel dazu die Zusammenkünfte der gegnerischen Gruppe um Alfred Adler. Freud jedoch war es, der zur entscheidenden Bezugsperson ihrer letzten 25 Lebensjahre wurde. Freud hielt sehr viel von seiner Schülerin. In einer engen, platonischen Beziehung wurde sie für ihn durch ihren Wissensdurst und ihre Neugier auf menschliche Verhaltensweisen eine hochgeschätzte Diskussionspartnerin, mit der er viele Briefe tauschte.226 Im Folgenden wird aus den Tagebuchnotizen 1912/13227 zitiert.

Besuch bei Alfred Adler  (Montag, 28. Oktober 1912) Erster Besuch bei Alfred Adler. Bis spät nachts. Er ist liebenswürdig und sehr gescheit. Mich störte nur zweierlei: daß er in viel zu persönlicher Weise von den obwaltenden Streitigkeiten sprach. Dann, daß er wie ein Knopf aussieht. Als sei er irgendwo in sich selbst sitzen geblieben. Ich sagte ihm, ich käme eigentlich überhaupt nicht von der Psychoanalyse an ihn heran, sondern von religionspsychologischen Arbeiten, die in seinem Buch [»Über den nervösen Charakter«] auf reiche Bestätigungen und auf verwandte Gedanken in Bezug auf Fiktionsbildung stießen. Aber sachlich kamen wir nicht sehr weit. Auch nicht, als wir beim Nachtmahl ziemlich lebhaft über Psychoanalytisches in Streit gerieten. Ich hielt es für unfruchtbar, daß er, um die Terminologie vom »Oben« und »Unten« und vom »männlichen Protest« festzuhalten, das »Weibliche« immer nur negativ bewerten kann, während ja etwas Passives (und als solches sexual oder allhaft Wirkendes) der Ichhaftigkeit positiv unterbaut ist. Bei ihm ist so auch alle Hingabe, ganz einfach dadurch, daß er sie »weibliches Mittel zu männlichen Zwecken« benennt, um ihre Positivität und Realität gebracht: was sich sofort in der Neurosenlehre rächt, wo infolgedessen der Kompromißbegriff nicht mehr zustandekommt. […] Mir war stark unsympathisch, was Adler von Stekel228 erzählte, und daß er 226 Freud, S.; Andreas-Salomé, L. (1966): Briefwechsel. Frankfurt/M. (S. Fischer). 227 Andreas-Salomé, Lou (1958): In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres (1912/1913). Frankfurt/M. u. a. 1983 (Ullstein Materialien), S. 14 ff., 24 f., 28, 136 f. 228 Wilhelm Stekel (1868–1940). Im Gefolge einer Intrige um das »Zentralblatt für Psychoanalyse« (das Stekel zusammen mit Adler auf Vorschlag von Freud 1910 gegründet hatte), bei der sich Freud durch Stekel hintergangen fühlte, veranlasste Adler Stekel ebenfalls zum Lou Andreas-Salomé

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von dessen Blatt was für sich erwartet, obwohl er so gut weiß, wie Stekel es sich gewann. Er behauptet, Stekel sei trotzdem gutmütig: gewiß ist er so wenig herzhaft böse, wie er auch als Geist nirgends recht durchgreifend standhält. […] Alfred Adler an Lou Andreas-Salomé  am 29. Oktober 1912 Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die Mitteilung über das Kapitel Stekel-Freud-Zentralblatt einige Tage nicht weitergeben. Es erwächst aus Ihrem Schweigen niemandem ein Schaden, und es würde nur vermieden, daß in dem jetzt entbrennenden Kampfe zwischen Stekel und Freud ich hineingezogen würde. Halten Sie mir zugute, daß ich auf keiner der beiden Seiten stehen will. […] Im Adler-Kreis  [Donnerstag, 7. November 1912] Als ich heute zu Adler kam, telephonierte er grade mit Stekel, und so hörte ich das ganze Gespräch [über den bevorstehenden »Abfall« Stekels von Freud]. Im Zwiegespräch mit Adler ist mir vieles durch seinen Entwicklungsgang klar geworden. Nicht umsonst ist er ein Marx-Schüler und ausgegangen von nationalökonomischen und philosophisch-spekulativen Interessen. Grade wie im Proletariat die soziale Utopie aufrecht erhalten wird durch Gründe zu Neid und Haß, so entsteht nach Adler im Kinde durch sozialen Vergleich das hinaufgesteigerte utopische Persönlichkeitsideal. Also Milieutheorie, eine rationalistische, und zwischen ihr und der organischen Minderwertigkeit, auf der sie physiologisch fußt, fällt das Freudsche Ubw zu Boden – sozusagen zwischen Leibesschaden und Idealbildung. Dieser Umstand wird es Adler ermöglichen, sowohl bei Physiologen wie theoretischen Psychologen leichter Anklang zu finden als Freud, aber er opfert dabei das Grundproblem, und seine Lösung ist deshalb keine Erlösung: was sich wahrscheinlich praktisch erweisen wird. […] Adler-Vortrag im ärztlichen Verein  [Dienstag, 12. November 1912] Ellen und ich gingen zusammen hin, über das Drum und Dran lachten wir viel. Später mit Adler und andern noch in ein Café, wo Adler sich amüsant und liebenswürdig gab. Ernsthaft mit ihm geredet nur unterwegs dorthin. Aber Austritt aus dem Freud-Kreis. Obwohl Stekel immer wieder versuchte, eine Versöhnung mit Freud herbeizuführen, wollte Freud nichts mehr mit ihm zu tun haben und lehnte eine Begegnung zum letzten Mal ab, als beide im Londoner Exil waren. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges veröffentlichte Stekel bis 1928 sein Hauptwerk, die »Störungen des Trieb- und Affektlebens« in zehn Bänden.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

es gelingt nicht recht, ihn zu »stellen«. So bezüglich der von ihm im Vortrag gebrachten Analyse: die Schmerzäußerungen konnten »Arrangement« sein, erschienen jedoch reichlich auch sonst begründet; faßt er es so auf, daß jede ähnliche Äußerung, bereits beim Tier, schon ein Beachtetwerdenwollen und Arrangement ausdrückt, dann ist wiederum nichts durch eine so blasse Verallgemeinerung gesagt – so wenig etwa wie durch seine andere Bemerkung: alle körperlich Kranken sind Neurotiker, und vice versa. Denn in beiden Fällen muß man dann von neuem unterscheiden und gliedern, um aus dem vage Selbstverständlichen zu positiven Einsichten zu gelangen: es ist deshalb nichts damit erreicht als die Täuschung, man wisse nun mehr. Diskussionsabend – Freud über Adler  [Mittwoch, 4. Dezember 1912] […] In der Tat unterscheiden Freud und Adler sich in ihrer therapeutischen Methode wie Messer und Salbe. […] Alfred Adler  [Freitag, 21. März 1913] Am Karfreitag im Alserhof Adler Adieu gesagt, nachdem ich ihn zuletzt Ende Februar gesprochen, wo er sich meinetwegen aus seiner Gesellschaft von Zuhause entfernte, weil ich die nicht mitmachen wollte. Mir wäre es recht gewesen zu schweigen (wie Freud es wünscht); als es nicht ging, gerieten wir um Freud aneinander. Mit Adler ist es für mich nun so geworden, daß sein Buch »Über die Minderwertigkeit von Organen« mir die beste Erinnerung an seine Schriften bleibt. […]

Hedwig Schulhof 1868 in Ratzau/Reichenberg geboren, war Hedwig Schulhof eine der frühesten Unterstützer Adlers kurz nach dessen Trennung von Freud 1911. Sie engagierte sich stark in der deutschen und österreichischen Frauenbewegung. So repräsentierte sie 1916 die »Deutsche Vereinigung für Mutterschutz und Säuglingsfürsorge in Nord Böhmen« im Bund Österreichischer Frauenvereine229. Sie schrieb einige Aufsätze für den »Bund«, das Zentralblatt des Bundes Österreichischer Frauenvereine230, u. a. über »Entwick229 Aus: Protokoll der 9. Generalversammlung des Bundes Österreichischer Frauenvereine. Wien, 1916. 230 »Der Bund« erschien 1905–1919. Hedwig Schulhof

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lung und Ziele der Frauenbewegung« und »Individualpsychologie und Frauenfrage«. Ein Buch von ihr trägt den Titel »Henrik Ibsen: der Mensch und sein Werk im Lichte der Individualpsychologie« (1923). Die Aufsätze erschienen in der Zeitschrift »Neues Frauenleben«231, herausgegeben von Auguste Fickert. Im Internationalen Frauenbund/ International Council of Women war sie stellvertretende Delegierte für Österreich und in Österreich zuständig für Pressekontakte. Sie nahm teil an den Kongressen des Internationalen Frauenbundes 1913 in Den Haag und 1914 in Rom. Generalsekretärin des Frauenbundes war Alice Salomon, die damals in der Neuen Ansbacherstr. 7 in Berlin lebte.232 – Hedwig Schulhof schrieb 1937 angesichts des Todes von Adler für die »Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie« einen Aufsatz mit dem Titel »Erinnerungen an Alfred Adler«, der hier in voller Länge folgt:233

Es liegt nun um mehr als ein Vierteljahrhundert zurück, daß mir das Erlebnis Alfred Adler wurde. Erst als »geneigte«, dann als enthusiastische Leserin, schließlich von Mensch zu Mensch. Im Jahre 1907 langte ich nach der »Studie über Minderwertigkeit von Organen« und der Gedankenreichtum der, im Verhältnis hierzu, wenig umfangreichen Schrift frappierte mich, die biologischen Begründungen eines stimulierend optimistischen Glaubens an die Schöpferkraft der »Unzulänglichkeiten unseres irdischen Körpergebildes« faszinierten die, damals ganz im Bannkreis der romantischen Gedankenrevolution in deutschen Landen Stehende. Je mehr ich in der Folge von meinem späteren Lehrer und Meister las, desto persönlicher wurde sozusagen mein Verhältnis zu ihm, lange, ehe ich ihm persönlich nahekam, denn dieses begab sich erst nach der Lektüre seines 1912 erschienenen Standardwerkes »Über den nervösen Charakter«. Danach ging es einfach nicht mehr anders, – eine Parallele zwischen Adlers wissenschaftlichen Ergebnissen und feinstem romantischem Gedankengut wollte zu diesem modernen »Realpsychologen«. Ich widersetzte mich diesem Willen nicht weiter, worauf Adler umgehend antwortete, er sei lebhaft interessiert und überrascht von den aufgezeigten Fäden und möchte das Eingesandte, mit meiner Zustimmung, der Öffentlichkeit übergeben, was dann im November 1913 im »Literarischen Echo« geschehen ist. Inzwischen hatte ich ihn in Wien persönlich aufgesucht, und zwar – als Patientin. Ich erinnere mich, wie ich diesem ersten Besuch, gleichsam als Visitenkarte, ein paar gedruckte Kleinigkeiten vorausgeschickt habe. Er, der ja verblüffend zwischen 231 Erschien 1902–1918. 232 Siehe Internationaler Frauenbund: Bericht über die Generalversammlung 1914 in Rom. Karlsruhe (G. Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlag). 233 Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie, 1937, 15, S. 168–171.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

den Zeilen und zwischen den Worten zu lesen wußte, empfing mich wie eine alte Bekannte, mit den Worten: »Sie haben doch eigentlich zu uns gehört, ehe Sie uns kannten. Übrigens scheinen Sie von dem ›Weltgift‹ (damit meinte er die instinktmäßig funktionierende Minderbewertung des weiblichen Geschlechtes innerhalb unserer Kultur) ganz gehörig mitgenommen zu sein.« Einigermaßen erstaunt über dieses in-medias-res als Einleitung, entgegnete ich: »Ja, kennen Sie denn meine sozusagen Krankengeschichte, noch ehe ich Ihnen mein Leid geklagt habe?« In seiner Antwort hierauf habe ich gleich eingangs erlebt, was niemals aufgehört hat, mit dem frischen Reiz überraschender Neuheit auf mich zu wirken: das genial Zusammenschauende, das Synthetisierende seiner Beobachtungs- und Denkweise. Ich hatte klagen, wohl auch anklagen wollen, wurde aber unwillkürlich ganz Ohr, als ich hörte: »Alles, was Sie schreiben, tun und lassen, schreit doch förmlich: ›Was hätte aus mir werden können, wenn ich ein Mann wäre?‹ und – Sie haben wahrscheinlich Recht, – Sie hätten Ihr Ziel viel, viel leichter erreichen können.« Ich hatte mich denn doch ein wenig vor einem, mehr oder weniger schmerzhaften Eindringen in den jardin secret der Seele gefürchtet. Daß hingegen eine Stunde im Sprechzimmer eines Seelenarztes zum Amüsantesten gehören könne, was wohl überhaupt zu erleben ist, das hatte ich mir nicht träumen lassen. »Jeder ist sich selbst der Fernste« sagt Nietzsche mit viel Recht und wessen Amt es ist, das hieran irgendwie leidende Individuum so nah als möglich an seine Wirklichkeiten heranzuführen, der muß mitunter auch wehtun. Aber, wenn der Tief- und Scharfblick des großen Seelenkenners dieses mußte, dann hatte der, von verstehender Güte durchwärmte Humor Alfred Adlers etwas so ungemein Wohltuendes, daß man sich schwerlich verletzt, wohl aber unwiderstehlich zum Nachdenken gedrängt fühlen konnte. So kam es auch, daß ich ihm, als er wieder einmal besonders intensiv mit Röntgenstrahlenaugen verborgene Hintergründe einer falschen Einstellung zum Leben durchdrungen hatte, sagen mußte: »Während Sie mich hier so schonungslos verfolgen, kann ich nicht umhin, eine artistische Freude an Ihrer Klugheit zu haben«, worauf er mit dem ganzen Charme seiner durchgeistigten Güte erwiderte: »Würden’s mir denn sonst so gut gefallen?« Kann es für einen Menschen, den ein tief erschüttertes Selbstgefühl (wie es doch mit gradweisem Unterschied alle aufweisen, die beim Nervenarzt landen) krank gemacht hat, etwas Heilsameres geben, als dieses: wenn ich dir auch nach und nach auf alle deine Schliche und Schwachheiten komme, bist doch wer, der einem gefallen kann. Und dabei dieses sieghaft optimistische Vertrauen auf die schaffende Kraft, auch noch im abwegigsten Menschen, Nein sagen zu lernen zu den Taschenspielerkünsten des Intellektes, die dort kleidsame »Titulargründe« herbeizaubern, wo in Wirklichkeit Macht- und Eitelkeitsgelüste zum Überlegenheitsziele bewegen wollen. Hedwig Schulhof

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Manchmal überwog natürlich auch der Ärger, wenn einem solches unentrinnbar klar gemacht worden war. Aber, – ich erinnere mich, wie mich ein sanfter Zwang auch dann immer wieder zu Adler zurückzog, wie ich z. B., nachdem ich geradezu ergrimmt von ihm Abschied genommen, am Tage vor meiner Abreise, telephonisch noch eine Unterredung von ihm erbat und, als ich eine halbe Stunde beim »Schwarzen« im Café Prückel, zugebilligt erhalte, auf die Frage: »Wissen Sie auch, Herr Doktor, warum ich Sie noch einmal sprechen wollte«, die lächelnde Antwort bekam: »Weil Sie dachten, daß ich noch nicht hoch genug von Ihnen denke.« Damit waren mir natürlich alle Waffen aus der Hand geschlagen, – wieder war ich entlarvt und zugleich hatte das charmante »noch nicht« etwas überwältigend Wohlschmeckendes. In jener halben Stunde, aus der allerdings mehr als eine ganze wurde, scheint es geschehen zu sein, daß aus der Patientin die Schülerin wurde, die mit den Worten: »Ich glaube, Herr Doktor, daß ich jetzt schon Ihre therapeutische Hochschätzung nicht mehr brauche« aus der »Behandlung« entlassen sein wollte. Als ich bald darauf wiederkam, da – es war eine köstliche Zeit – durfte ich in zahlreichen »Privatissima« erfahren, wie für Adler diese »Hochschätzung«, dieses »Hochhalten« des Mit-Menschen nicht nur Therapie und Prophylaxe der Menschenseele, wie dies für ihn Kern- und Angelpunkt einer Weltanschauung war, das Gutsein sowohl ethische als individualund sozialhygienische Forderung war. Immer und überall studierte und lehrte dieser begnadete Lehrer. Sein stilles Sprechzimmer und das laute Kaffeehaus habe ich so als »Hörsaal« kennen gelernt. U. a. fragte er, der wußte, daß ich Drillingsgeschwister intim kannte, interessiert nach deren psychologischen Eigentümlichkeiten und als ich: »übersteigerte Lebensangst« und entsprechende »Lebensfeigheit« als das Charakteristischste hervorhob, leuchtete er unverzüglich mit den Worten in die Tiefe: »Nicht anklagen! – stellen Sie sich einmal vor, draußen vor dem Kaffeehaus spazierten einige Tiger herum, ich glaub’, man kann schon recht mutig sein und sich’s doch überlegen, die Tür aufzumachen. Sicher hat man diesen Dreien, schwach wie sie gewesen sein mögen, noch mehr als so vielen anderen, warnend von den Schwierigkeiten und Gefahren des Lebens erzählt, vor denen sie sich zu hüten haben. Daraus sind nach und nach gewissermaßen »Tiger« geworden, vor denen sie sich tief innerlich fürchten. Haben Sie nicht bemerkt, daß die meisten Menschen solche fiktive Tiger fürchten, die ihre »Aktion« hemmen; – fragen Sie sich selbst einmal.« Und – ich fragte – –. Vor allem aber genoß ich, wie ich durch lange Jahre, immer wieder neu und anders, den großen Erzieher zum Wirklichkeitssinn genossen habe. So auch einmal ganz besonders während des Krieges, als ihn eine Vortragsreise über Prag auch nach Reichenberg geführt hatte. Durch den stark gedrosselten Reisever228

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kehr war der Rastlose bis zum nächsten Abend bei uns festgehalten. Am Vormittag hatten ihn Patienten und andere Heischende reichlich in Atem gehalten, am Nachmittag aber, das hatte ich mir fest vorgenommen, verschleppte ich den Widerstrebenden, den ich durchaus auch ein Weilchen für mich allein haben wollte, an einen ziemlich abseitigen Aussichtspunkt, wo er die Gegend und ich seine Gesellschaft ungestört genießen konnte. Schließlich aber schien es, als ob seine vorher geäußerten Besorgnisse recht behalten würden. Wir gerieten tatsächlich in Gefahr, diesen einen täglichen Zug nach Wien zu versäumen. Kleinlaut und zerknirscht sagte ich, während wir vorwärts hetzten: »Werden Sie sehr unglücklich sein, wenn Sie den Zug verpassen?« und war nicht wenig getröstet, die Antwort zu bekommen: »Da es mir gar nichts nützen würde, wenn ich unglücklich wäre, werde ich keinesfalls unglücklich darüber sein.« Tatsächlich erreichten wir glücklich den Zug und ich hatte von neuem vom Meister gelernt, wie man es machen und nicht machen soll. Solcher lehrreichen Episoden, wo Adlers lösende Wärme und leuchtende Weltweisheit wie von einem sammelnden Brennpunkt aus erstrahlte, könnte ich kein Ende finden zu erzählen, wenn ich mich laufen ließe. So aber, sei es dankbarem Erinnern nur noch vergönnt, zusammenfassend zu sagen: Hier ist Einer viel zu früh von uns gegangen, dessen gesegnete Kraft zu wärmen, zu leuchten, – bei uns sein wird, so lange wir leben. Jenseits aller panegyrischen »Pietätsmichelei«, die es liebt, an frischen Gräbern Vollmenschen ins Übermenschentum zu retouchieren, ist Alfred Adler in Wahrheit und Wirklichkeit als ein Schaffender und Schenkender durch dieses Erdenleben gegangen, alle, die er mit dem Namen Freund und Mitarbeiter ehrte, zur Weiterarbeit, nach Kraft und Maß, verpflichtend, an seinem Erbe, das über ihn hinaus in die Zukunft wachsen will.

Kurt Seelmann Kurt Seelmann (1900–1987) war ein Münchner Pädagoge, Psychotherapeut, Erziehungsberater und Vertreter der Individualpsychologie. 1921 wurde er Schüler und Mitarbeiter von Leonhard Seif – einem Adler-Schüler – in der ersten psychotherapeutischen Erziehungsberatungsstelle in München. 35 Jahre lang arbeitete er als Lehrer und Rektor von drei Volksschulen (Grundschulen) in München. Er wirkte als Dozent und Lehranalytiker am Münchner Institut der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie. Als Direktor des Stadtjugendamtes München entwickelte er das »Ferienausflugsprogramm«. Seine bekanntesten Publikationen sind »Kind, Sexualität und Erziehung«, München 1941, Reprint 1952 (Ernst Reinhardt), »Woher kommen die kleinen Buben und Mädchen?«, Kurt Seelmann

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München 1961 (Ernst Reinhardt) und die »Peter-Pelikan-Briefe«, München (Ehrenwirth). Die Briefe wurden als Erziehungshilfe von fünfzig süddeutschen Städten allen Müttern kostenlos briefweise zugeschickt, die ihr erstes Kind geboren hatten. Bei Leonhard Seif (1866–1949), einem Neurologen, Erziehungsberater und Individualpsychologen, absolvierte er seine Lehranalyse. In dem von Ludwig Pongratz herausgegebenen Sammelband »Psychotherapie in Selbstdarstellungen« (Bern u. a. 1973, Hans Huber) schreibt Seelmann über sein Leben, woraus im Folgenden das Kapitel »Besuch bei Professor Alfred Adler in Wien« zitiert wird (S. 406–411).

Eines Tages – vielleicht im März 1923 – fragte mich Dr. Seif, ob ich Lust hätte, Alfred Adler kennenzulernen. […] Wir fuhren zusammen nach Wien und »begaben« uns (Wiener Ausdruck) am Abend zu einem bekannten Wiener Lokal, in dem man sich ganz zwanglos treffen wollte. Um stilecht zu sein, nahmen wir eine Wiener Pferdedroschke. Ich war wieder in der angeregten Abenteuerstimmung, die mich immer befällt – ich habe wohl schon davon gesprochen –, wenn ich jemand Neuen kennenlernen (für diesen Fall muß ich sagen:) darf. Ich hatte bis dahin merkwürdigerweise noch kein Bild von Adler gesehen und stellte mir ihn als einen vornehmen, älteren Herrn vor. Der Begründer der Individualpsychologie sah anders aus, schon eher wie ein Schwabinger: Verknitterte Hosen, überm Arm einen ebenso verknitterten Trenchcoat, ein Mann aus dem Volke, Wiener Dialekt sprechend, lustig lachend, freundlich, herzlich, ein »Menschenfreund«, wie mir schien, nicht von Hochmut geplagt. Ich konnte mir gut vorstellen, daß er zu allen gleich das richtige Wort fand und auch keiner von ihm gehemmt sein würde. […] Als es etwas ruhiger geworden war und fast alle saßen, kam zu uns an den Tisch ein rothaariges älteres Fräulein, Ida Löwy. Wir kamen schnell miteinander ins Gespräch. Sie war die Wiener Erziehungsberaterin. Wir erzählten ihr, daß wir Mitarbeiter an der Seifschen Beratungsstelle seien. »Da müssen wir uns noch gründlich darüber unterhalten! Ich wollte schon immer einmal, extra deswegen, nach München hinübergondeln und komm doch immer wieder nicht dazu. Aber jetzt muß ich endlich einmal nach München. Der Dr. Adler hat mir gesagt, der Seif macht das ganz ausgezeichnet. […]« Dann holte uns Dr. Seif an den Tisch, an dem Adler saß, und stellte uns vor. Er [Adler] sagte: »Ich möchte mich mit allen Münchner Herrn ausführlich unterhalten. Ich komm schon noch an Euern Tisch. Schaut Euch einmal um, Ihr müßt unbedingt die Ida Löwy kennenlernen.« Wenn man als Neuling in einen Kreis kommt, von dem man niemand kennt, und die andern alle kennen sich gut, als wenn sie lauter Freunde wären, kommt man sich immer ein bißchen über230

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

flüssig vor. (Das eine weiß ich noch, daß ich in Adlers Freundschaftskreis die erste Frau mit kurz geschnittenen Haaren, »Pagenkopf«, gesehen habe.) Adler hielt sein Versprechen, kam an den Tisch und sagte uns nur, daß er heute nicht mehr kommen könnte. Aber morgen sicher! […] In der Kaffeepause am letzten Tag setzte sich Adler zu uns und nahm sich für uns – das sei wirklich anerkannt – viel Zeit. Am Vormittag hatte er einen interessanten Vortrag gehalten. Einfach im Wortschatz, aber nicht primitiv oder ärmlich, gelegentlich ein bißchen wienerisch, mit anschaulichen Bildern dazwischen, dynamisch spannungsgeladen, endete er in einer Pointe und stellte dahinter noch eine nachdenkliche Frage (beinahe so, als habe er sie selbst noch nicht für sich beantwortet). Eine technisch und inhaltlich wirklich gute Rede! Wir sagten ihm, wie begeistert wir sind, daß wir ihn nun auch einmal gehört haben. Und er lachte und nahm das Lob von uns gern an. Ich beschwor ihn, er müsse unbedingt ein Buch für Lehrer schreiben. Die könnten das gut brauchen. Das wäre eine echte Schulreform. Da lachte Adler herzlich. »Ach, lieber Seelmann, ich bin doch Arzt und kein Lehrer. Da weiß ich etwas Besseres! (Pause). Vor mir sitzen nämlich zwei Lehrer aus München. Die müßten das so richtig aus der Praxis heraus schreiben.« […] Soweit sind wir noch nicht, gestanden wir ihm ein. Und ob wir das je können werden, das wüßten wir auch noch nicht. »Dann mach ich einen anderen Vorschlag! Jeder hat doch ein Schulzimmer voller Buben vor sich sitzen. Wenn jetzt jeder von Euch beiden sich einen schwierigen Burschen oder zwei raussucht und ihn zunächst einmal in seiner Schwierigkeit beschreibt, wenn Ihr das zusammentragt, was Ihr von der Vorgeschichte in Erfahrung bringen könnt, und dann ehrlich schreibt, was Ihr unternommen habt, um den schwierigen Burschen aus seiner Schwierigkeit herauszuholen, das gäbe einen Bericht, wie er schon längst einmal in unserer internationalen Zeitschrift hätte stehen müssen. Also meinen Auftrag habt Ihr. Bis wann kann ich damit rechnen?« […] Mit der Veröffentlichung des Schulkinderheftes waren wir »angekommen«, hatten den Weg zur Individualpsychologie gefunden, gehörten zur ADLERei, zu den ADLERianern, zur Internationalen Gesellschaft für Individualpsychologie.

Regine Seidler Regine Seidler (1895–1967) war eine Wiener Lehrerin, die 1922 von Adlers Erziehungsberatung gehört hatte. Sie war maßgeblich beim Ausbau des Netzes von Erziehungsberatungsstellen in Wien der Zwischenkriegszeit beteiligt, verfasste individualpsychologische Beiträge in Lehrerzeitschriften und war Mitglied der individualpsychologischen ArbeitsRegine Seidler

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gemeinschaft der Lehrer und Erzieher. Von 1926 bis 1932 war sie Vorstandsmitglied im Individualpsychologischen Verein Wiens, später stellvertretende Vorsitzende und Ehrenvorsitzende.234 Seidler stellte Adler bei einem der Beratungsabende eine 12-jährige Schülerin vor. Dieses Mädchen stammte aus ärmlichsten Verhältnissen, war von der Mutter unerwünscht, wuchs bei Pflegeeltern auf, die beide starben, als das Kind (es hieß Mitsi) sieben Jahre alt war. Die Mutter nahm das Kind wieder zu sich und bekam ein zweites Kind. Mitsi brannte mehrmals durch, wobei sie sagte, ihre Eltern seien tot, sie wisse nicht, wohin sie gehen sollte. Seidler berichtet:235

Ich lernte Adler in der Beratungsstelle kennen. Vor 16 Jahren hatte ich in einer 2.-kl. Bürgerschule (7. Schuljahr Pflichtschule) eine 12jährige Schülerin, die mir schon in den ersten Schultagen durch ihr schlechtes Aussehen auffällig war. […] Bald nach Schulbeginn fehlte sie an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Als sie endlich wieder auftauchte, teilte uns die Schulfürsorgerin mit, daß das Kind auch nicht zu Hause gewesen sei, es sei vor drei Tagen »durchgebrannt« und in der dritten Nacht nach Hause zurückgekehrt. – Ich wusste dunkel, daß im Schuljahre vorher eine Erziehungsberatungsstelle gegründet worden sei, und wollte mich nun mit dem geschilderten Mädchen dorthin wenden. Da das Schuljahr eben erst angefangen hatte, war die Beratungsstelle noch nicht wieder in Tätigkeit und Alfred Adlers Einleitungsvortrag stand gerade bevor. Der Vortrag, der erste, den ich von Adler hörte, behandelte die Organisation der Beratungsstelle und die individualpsychologische Einstellung zu den Schwierigkeiten von Kindern. Adler machte einen tiefen Eindruck auf mich und ich folgte seiner im Vortrag gegebenen Anweisung, eine »Vorgeschichte« des »Falles« vorzubereiten. […] Adler […] zeigte den Lebensstil (den irrtümlichen!), den sich das Mädchen im Kampf um die Position im Elternhaus neben dem beliebteren kleinen Bruder vom Augenblick des Eintretens in dieses Elternhaus notwendig schaffen musste. Alle psychischen Züge: das Ringen um größere Beachtung […], das Stehlen, die Unverträglichkeit gegenüber dem Bruder schienen verständlich; sie verrieten die Stellungnahme gegen die Mutter, die das Kind – unwissentlich – vom Augenblick der »Heimkehr ins Elternhaus« so schwer enttäuscht hatte. – Adlers sicherlich mindestens einstündige Ausführungen gipfelten in der Erklärung, die »Heilung des Kindes könne nur durch die ›Aussöhnung‹ mit der Mutter angebahnt werden«. – Es würde zu weit führen, den Verlauf der Beratung, die 234 Siehe Wikipedia-Eintrag »Regine Seidler«, Zugriff am 15. 05. 2010. 235 Seidler, Regine in einem Brief an Hertha Orgler, abgedruckt in Orgler, Hertha (1974): Alfred Adler. Triumph über den Minderwertigkeitskomplex, Vorwort. München (Kindler-TB), S. 212– 215.

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in der denkbar erfolgreichsten Weise verlief und in ihren Auswirkungen Mitsi zu einem glücklichen und nützlichen Menschen machte, wiederzugeben. […] Adler war in der Erziehungsberatungsstelle von vorbildlicher Uneigennützigkeit, Bescheidenheit, Gefälligkeit, Pünktlichkeit. Selbstverständlich waren die Beratungen unentgeltlich. In all den vielen Jahren versäumte er nicht eine Beratung. Niemals blickte er ungeduldig auf die Uhr, eilte er schnell weg. Man hätte aus seinem Gehaben schließen können, daß ihm unendlich viel Zeit zu Gebote stehe, daß er nichts zu tun habe. Wir wissen, daß das genaue Gegenteil der Fall war. Er trat so einfach auf, daß neue Zuhörer nicht ahnten, daß sie sich einem Gelehrten von Weltruf gegenüber befanden. Mit den Leuten aus dem Volke sprach er in ihrer Mundart, die er unverfälscht beherrschte. (Oft wies Adler auf das »Gassenbubendasein« seiner Kindheit hin.) Er wußte sich so plastisch und drastisch auszudrücken, daß selbst schwierige Erkenntnisse den einfachsten Menschen verständlich wurden. Zu einer Frau, die vom kleinen Sohn in der schrecklichsten Weise tyrannisiert wurde, sagte Adler einmal: »Sö san halt all’weil ang’schirrt.« (Sie sind immer eingespannt.) Sofort verstand die Mutter, dass nicht sie ihren Jungen, sondern der Junge sie lenke. Einmal fragte Adler eine Mutter, die wegen ihrer Tochter zur Beratung kam: »Was tramt’s denn?« (Was träumt sie. …) Die sehr ärmliche Frau mochte wohl vom »Traumbüchl« schon gehört haben und sagte mit verlegenem Lächeln »Gengen S’, Herr Doktor, auf so was wern S’ do nix halten!« Da erwiderte Adler, gleichfalls lächelnd: »Ja, ist’s denn an andre, wann’s tramt?« (Ist es denn ein a n d e r e s Mädchen, das träumt?) Es war geradezu ein Erlebnis zu beobachten, wie der einfachen Frau mit einem Schlag die große Erkenntnis von der E i n h e i t der Person kam. Wußte sie es auch gewißlich nicht auszudrücken, sie verstand nun, daß alle seelischen und körperlichen Ausdrucksformen, also auch der Traum, den Lebensstil des Menschen offenbaren. – Adler benahm sich immer äußerst taktvoll, wo es sich um heikle Sachen handelte. Als einmal ein Mädchen in die Beratung kam, das durch sexuelle Verfehlungen in eine besonders schwierige Situation geraten war, begab sich Adler zu dem Kind in den Warteraum, um das Gespräch mit ihm unter vier Augen abzuwickeln, trotzdem er sonst in jedem Fall aus prinzipiellen Gründen die Öffentlichkeit der Beratung durchführte. – Einmal handelte es sich um einen schwer kriminellen Vater, der im Kerker war, als das Kind zur Beratung kam. Die Fehler des Kindes standen in Beziehung zur Situation des Vaters, weshalb dessen Angelegenheiten zur Sprache kommen mußten. Sofort nahm Adler in seiner Besprechung die heikle Sache auf, jede Verurteilung des Vaters aufs schärfste ablehnend. Er wies nach, daß die Verfehlungen des Mannes einem irregeleiteten, aber an und für sich lobenswerten Gemeinschaftsgefühl entsprangen. Mit dem Regine Seidler

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Kinde und mit der Mutter sprach er mit äußerster Zartheit. – Als Adler schon in Amerika weilte, pflegte er im Mai in seine alte Heimat zu kommen. Nun war er der »große« Mann, Ausländer begleiteten ihn auf Schritt und Tritt; aber in alter Bescheidenheit, in unveränderter »Verschwendung« von Zeit und Geist nahm er für die wenigen Wochen, die wir ihn wieder um uns hatten, die Tätigkeit in der Beratungsstelle auf.

Jan C. Smuts Adler war stark beeinflusst von Jan Christiaan Smuts (1870–1950), einem südafrikanischen Staatsmann, General und Philosophen, der den Begriff »Holismus« kreierte. Die »Ganzheitslehre« (von gr. holos, »ganz«) ist die Lehre, dass die Elemente eines Systems – einer »Ganzheit« oder »Gestalt« – durch die Strukturbeziehungen vollständig bestimmt sind. Die Bezeichnung geht auf Smuts in seinem 1926 erschienenen Buch »Holism and Evolution« zurück. Smuts war zunächst Anwalt, dann Staatsanwalt, später wurde er Minister in der Regierung der Burenrepublik Transvaal. Ob Smuts ein Unterstützer der Apartheid war, ist umstritten.236 Im Ersten Weltkrieg kämpfte er gegen die deutschen Truppen in Deutsch-Ostafrika. Nach zwei Jahren in britischem Regierungsdienst kehrte er 1919 nach Südafrika zurück, wo er 1919–1924 und 1939–1948 Premierminister war. Er war aktiv an der Gründung des Völkerbundes und der UN beteiligt.237 Neben seinen politischen Aktivitäten beschäftigte sich Smuts mit Naturphilosophie und Biologie. Er glaubte, dass in der Natur eine Tendenz von simplen zu komplexen Ganzheiten herrsche, was heute als metaphysische Überhöhung der Evolutionsbiologie angesehen wird.238 – Die Adler’sche Individualpsychologie ist eine holistische Schule der Psychologie, ihr Name ist keine Huldigung des Individuums, sondern eine Referenz an die Unteilbarkeit der Einheit Mensch, in welcher alle Teile kooperativ aufeinander bezogen sind.239 Adler und Smuts korrespondierten über Smuts’ Buch, das Adler so sehr gefiel, dass er es ins Deutsche übersetzen ließ. Ende der Zwanzigerjahre traf Smuts Alfred Adler auf einem Kongress in Berlin und kam mit ihm ins Gespräch.

236 Die »South African History Online« verneint das; http://www.sahistory.org.za/pages/people/ bios/smuts-j.htm, Zugriff am 15. 05. 2010. 237 Zu Details siehe Wikipedia-Eintrag »Jan Christiaan Smuts«, Zugriff am 15. 05. 2010. 238 Siehe Psychology.Wikia, Eintrag »Alfred Adler«, http://psychology.wikia.com/wiki/Alfred_ Adler, Zugriff am 15. 05. 2010. 239 Ob Adler wirklich ein »Holist« war, ist fraglich. Adler glaubte, aus jeder einzelnen Ausdrucksbewegung eines Menschen seinen gesamten Lebensstil herauslesen zu können, während Holisten sich auf Aristoteles’ Satz beziehen: »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«.

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Smuts schrieb am 16. Februar 1938 an Hertha Orgler und berichtete ihr über seinen Eindruck von Adler.240

Nach dieser Korrespondenz traf ich Professor Adler in Berlin und hatte die günstige Gelegenheit einer langen Unterhaltung mit ihm über philosophische Probleme von gemeinsamem Interesse. Ich hatte den günstigsten und angenehmsten Eindruck von ihm und glaube, daß sein frühes Hinscheiden ein großer Verlust für die Wissenschaft der Psychologie ist. Wer kann in Hinblick auf seine Theorie der Individualpsychologie daran zweifeln, daß sie in Substanz gut gegründet ist und auf sehr wichtige Tatsachen hinweist, die von seinen Vorläufern unbeachtet gelassen waren? […] Adlers bedeutender Fortschritt besteht darin, daß er klar erkannte, daß Freud zu weit ging betreffs des sexuellen Elements in der Formung der Persönlichkeit, und daß er die Aufmerksamkeit auf andere ebenso wichtige Aspekte der holistischen Aktivität des menschlichen Individuums zog. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß er seinen Finger auf einige der wichtigsten Aspekte der menschlichen Persönlichkeit gelegt hat, und auf die Kräfte, die hinter menschlichem Betragen liegen. Ich habe keinen Zweifel, daß, hätte er länger gelebt, er seine wertvollen Theorien weiter ausgearbeitet und vervollkommnet hätte. Aber auch so, trotz seines frühzeitigen Hinscheidens, hat er einen soliden und dauernden Beitrag zur Wissenschaft der Psychologie hinterlassen.

Manès Sperber Manès Sperber (1905–1984) war Schüler und Mitarbeiter Alfred Adlers. Er lernte Adler Ende 1921 in Wien kennen, bis 1928 hatte er fast täglich Kontakt zu ihm. Sperber gibt in seinem Buch »Alfred Adler: Der Mensch und seine Lehre« (1926) der Bewunderung für Adler Ausdruck. Adler war für ihn eindeutig eine Identifikationsfigur, Sperber nannte ihn den »Konfuzius des Westens« und »das soziale Genie unserer Zeit«. Auf Wunsch Adlers ging der junge Sperber 1928 nach Berlin, um ein Gegengewicht zu dem konservativ-religiösen Fritz Künkel zu bilden, der seit drei Jahren die nach Wien größte individualpsychologische Ortsgruppe prägte. Künkel war damals der anerkannteste und bedeutendste Individualpsychologe neben Adler. Er entwickelte die Adler’sche Theorie

240 Smuts, Jan C.: Brief an Hertha Orgler. In: Orgler, H. (1974): Alfred Adler. Triumph über den Minderwertigkeitskomplex. München (Kindler-TB), S. 226 f. Manès Sperber

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weiter, »freilich nicht zu Adlers Entzücken«.241 Künkel war praktisch veranlagt, fleißig, aber seine religiöse und politisch konservative Haltung wurde von Adler mit wachsendem Unbehagen betrachtet. Der 22-jährige Manès Sperber war ebenso dynamisch, selbstbewusst, aber ein Kommunist. Bald darauf begannen die öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen innerhalb der Berliner Ortsgruppe. 1929 spaltete sich die Gruppe, die eine politische Spaltung zwischen Sperber und Künkel war. Die letzte persönliche Begegnung Sperbers mit Adler fand 1931 statt, wenig später brach Sperber mit ihm wegen Meinungsverschiedenheiten über die Verbindung von Individualpsychologie und Marxismus. Schon vorher hatte Sperber (wie auch der Marxist Otto Rühle) Adlers Wendung ins Metaphysische kritisiert.242 Gemeint ist Adlers verstärkte Betonung des »Gemeinschaftsgefühls« als Unterscheidungskriterium zwischen Normalität und Neurose. Sperbers bekanntestes Werk ist seine Romantrilogie »Wie eine Träne im Ozean« (1949–1955), die stark autobiografische Züge trägt. Die Handlung spielt in der Zeit zwischen 1931 und 1945 und berichtet von den ideologischen Verblendungen der Kommunisten und der KP. – Es folgen zunächst Passagen aus Sperbers Autobiografie »Die vergebliche Warnung« (1975), die zwischen 1919 und 1933 spielt. Darin setzt er sich ausführlich mit Adler auseinander. Es werden Absätze aus »Alfred Adler: Der Mensch und seine Lehre« von 1926 abgedruckt, anschließend längere Abschnitte aus seinem erstmals 1970 erschienenen Buch »Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie«. Das »Elend der Psychologie« war für Sperber die unangenehme Eigenschaft der frühen Individualpsychologen und Psychoanalytiker, den Gegner mit dem neu gewonnenen Vokabular ihrer Wissenschaft zu pathologisieren, statt sich sachlich mit deren Argumenten auseinanderzusetzen.243 Zunächst also Passagen aus »Die vergebliche Warnung«:

Mitten in diese Zeit [Herbst 1921] fällt meine erste Begegnung mit Alfred Adler, dessen Kurs in der Volkshochschule zu besuchen, ich in der Heilanstalt [Sperber hatte Tuberkulose] dem Zimmergenossen versprochen hatte. Um es gleich vorwegzunehmen: Als ich, einer von etwa fünfzig meist jungen Hörern dem Begründer der Individualpsychologie zum erstenmal gegenübersaß, blieb mein Blick nicht lange auf ihm haften; nichts an ihm war auffällig, nicht besonders. Was er sagte, war gescheit, doch kunstlos, um nicht zu sagen gestaltlos formuliert. Oft spürte man, daß, was der Dozent aus dem Stegreif vorbrachte, nicht wirklich improvisiert, sondern wiederholt war, ähnliches hatte er wohl schon oft in 241 Bruder-Bezzel, Almuth (1991): Die Geschichte der Individualpsychologie. Frankfurt/M. (Fischer-TB), S. 71; siehe auch Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler, S. 338. 242 Bruder-Bezzel, Almuth (1991): Die Geschichte der Individualpsychologie. Frankfurt/M. (Fischer-TB), S. 191. 243 Siehe dazu auch Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler, S. 260.

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früheren Kursen vorgetragen. Er sprach vom Machtstreben, doch darüber hatte Nietzsche vorher – und in welch einer Sprache – geschrieben. Nein, ich ahnte keineswegs, welche Bedeutung Adler und seine Lehre für mich erlangen sollten, doch kam ich jeden Montagabend wieder. Manchmal nahm ich auch an der Diskussion teil, die den Vorträgen folgte. Es fiel mir nicht schwer, öffentlich aufzutreten, ich war’s ja vom Schomer [eine jüdische Jugendgruppe] her gewohnt. Wie viele meinesgleichen stand ich unter dem Einfluß der Psychoanalyse, die ich jedoch nur ganz oberflächlich kannte, und brachte in ihrem Sinn Einwände vor, die zumeist nicht dümmer und gewiß nicht klüger waren als jene, welche die Freudianer seit 60 Jahren erheben. Adler, der mein Wissen wohl überschätzte, antwortete den Diskussionsteilnehmern mit gleichbleibend wohlwollendem Ernst, so daß jeder sich danach für gescheiter und die eigenen Argumente für interessanter halten durfte, als er es vorher zu glauben gewagt hätte. So fiel mir der Fünfzigjährige durch seine Art zu debattieren auf: er flößte selbst jenen, deren Meinung er widerlegte, Mut zu sich selbst ein und zugleich den Wunsch, dem Vortragenden zuzustimmen, sich ein für allemal auf seine Seite zu stellen. Einige Jahre später ließ Adler in der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« einen kurzen Text Benjamin Franklins, eine Art Vademekum für Debattierer, abdrucken. Uns kamen diese sehr gescheiten und überdies witzigen Ratschläge zugute; Adler bedurfte ihrer nicht, denn er hatte sie angewandt, noch bevor er sie gelesen hatte. Er begann jede Erwiderung damit, daß er dem Vorredner in irgendeinem Punkt recht gab und in einem anderen interessante Hinweise entdeckte, ehe er daranging, ihn mit viel Freundlichkeit zu widerlegen. Oft war der Gegner durch die einleitenden Komplimente so anästhesiert, daß er gar nicht mehr imstande war zu widersprechen. Es gab Hörer, die bei jeder Gelegenheit das Wort ergriffen, junge und alte Käuze, es gab Frauen, deren gepreßte Stimmen eine Schüchternheit verrieten, welche sie daran hinderte, deutlich genug zu sprechen, und es ihnen erschwerte, ihre Ausführungen abzuschließen. Adler verriet nie auch nur die geringste Ungeduld. Wer über ein Thema referieren wollte, brauchte sich nur zu melden und ein Datum festzulegen. Ich sprach etwa 25 Minuten lang über die »Psychologie des Revolutionärs«. Was ich im einzelnen dargelegt, kühn behauptet und aggressiv proklamiert haben mag? Gewiß habe ich viel zu schnell gesprochen, die Endsilben hastig verschluckt und manche Sätze bis zur Unkenntlichkeit dadurch entstellt, daß ich sie bis zum Bersten mit Parenthesen anfüllte, die sarkastisch und, viel seltener, selbstironisch wirken sollten.244 […] 244 Sperber, Manès (1975): Die vergebliche Warnung. Wien (Europa-Verlag), S. 68–70. Manès Sperber

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Gleich nachdem ich geendet hatte, nahm Adler Stellung, ohne wie sonst Wortmeldungen angeregt zu haben. Und entgegen seiner Gewohnheit begann er nicht mit Lobesworten für den Referenten, sondern ging methodisch auf die wichtigsten Punkte des Vortrags ein, freundlich, aber kritisch. Er ließ mancherlei gelten, jedoch fast immer mit Einschränkungen; ich sollte sofort antworten. Wahrscheinlich stimmte ich einigen seiner Einschränkungen zu, doch nicht allen; ich erinnere mich nicht, worin ich ihm am energischsten widersprochen habe, aber ich weiß auch heute, daß diese Auseinandersetzung in mir das Gefühl einer beunruhigenden Freude zurückließ. Sie wurde dadurch verstärkt, daß Adler mir beim Hinausgehen sagte: »Sie haben wie ein Individualpsychologe gesprochen, der noch nicht weiß, daß er einer ist.« Ich durfte ihn ein Stück Weges begleiten; als er mir zum Abschied die Hand reichte, kam ich auf diesen Satz zurück. »Ich bin kein Individualpsychologe, aber vielleicht sollte ich es werden«, sagte ich, wohl mit unsicherer Stimme. Er antwortete: »Gewiß, ich werde Ihnen helfen; wir alle werden Ihnen helfen.« Erst zwei, drei Wochen später erfuhr ich, wer mit »wir« gemeint war. Er lud mich ein, an den Sitzungen seines engen Kreises teilzunehmen; sie fanden damals in dem Kellerlokal Die Tabakspfeife statt, das in einer Seitengasse des Stephansplatzes lag. Viele Teilnehmer waren Mitglieder des Psychoanalytikervereins gewesen und etwa zehn Jahre vorher, zusammen mit Adler, ausgetreten. Andere waren erst später, nach dem Krieg, hinzugekommen. Es waren Ärzte, Philosophen, Professoren, einige Frauen, unter ihnen Sophie Lazarsfeld und Gina Kaus, eine junge hübsche Journalistin. Mein Erscheinen löste Verwunderung aus, doch blieb sie auch am ersten Abend diskret. Wahrscheinlich hatte Adler angekündigt, daß er einen ganz jungen Menschen eingeladen hatte. Nun sie mich in ihrer Mitte sahen, fragte sich wohl jeder – nicht länger als einen Augenblick –, welche Bewandtnis es wohl mit mir haben mochte. Ich trug einen grüngefärbten, hochgeschlossenen Soldatenrock, Breeches und rotbraune Ledergamaschen. Noch immer war ich schlecht, nicht gemäß meinem Geschmack, sondern gemäß den Launen des Zufalls gekleidet – wie in jenen Jahren so viele, die aus den Resten der Militärdepots fast alles bezogen, was sie auf dem Leibe trugen. Man dachte wohl, daß ich bald wieder verschwinden würde, aber ich kam sehr oft, wenn auch nicht regelmäßig wieder. Manche meinten, ich müßte wohl einer von Adlers Patienten sein, und sie mochten mir nicht zuhören, wenn ich in der Diskussion das Wort ergriff; andere zogen mich ins Gespräch, interessierten sich wirklich für den Jungen und halfen mir so, mich in dem Kreis heimischer zu fühlen. Dank ihnen erfuhr ich sehr schnell, was ich alles noch lesen, lernen mußte, um die zumindest formale Gleichberechtigung, die mir Adler von vornherein zuerkannt hatte, wirklich zu verdienen. Ich war nicht einmal dessen sicher, 238

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daß ich ein Adlerianer sein mußte oder werden wollte; es gab ja noch immer den Schomer, die Revolution, die Literatur. Es gab auch den tatsächlich oder nur scheinbar verführerischen Traum vom stillen, einsamen Leben des Dorfschullehrers, des Leuchtturmwächters. Und sollte ich nicht, sobald meine Lungen geheilt waren, sofort nach Palästina auswandern, wie es die Besten unter den Schomrim taten? Adlers Einladung hatte meiner Eitelkeit geschmeichelt und mich auch aus besseren Gründen gefreut, aber ich erkannte nicht sofort, welch ein belangreiches Beginnen es war. Mir erschien’s als eine der zahlreichen Korridorepisoden, die man auf dem Umweg zu einem Ziel durchschreitet. Ich wußte schon damals, daß manche Menschen nie aus dem Korridor hinauskommen – gleich Booten, die im toten Arm des Stroms kreuzen und schließlich verfaulen, ehe sie, leck geworden, unter dem Wasser verschwinden. Ich hielt es für gewiß, daß ich alle Korridore schnell hinter mir lassen würde. Während eines ganzen Jahres oder vielleicht noch länger verkannte ich die Bedeutung, die Adler für mich gewinnen und die seine Lehre trotz aller Wandlungen für mich bewahren sollte.245 Er [Adler] beeindruckte mich während der ersten zwei Jahre wie so viele seiner Hörer, er begeisterte mich nicht. Warum nicht, warum gerade er nicht? Von mehreren Gründen drängt sich mir einer auf, der zwar nicht triftig, aber dennoch bemerkenswert ist. An seiner Sprache lag es, an der Überzahl alltäglicher Wörter, die er in einem Satzbau ohne Relief ebenso mühelos wie glanzlos aneinanderreihte; daraus erklärt sich auch, daß mir – wie so vielen seiner Kritiker, insbesondere den Freudianern – das Neue, durchaus Originelle seiner Auffassungen nicht sofort auffiel. Ausdrücke wie »Minderwertigkeitsgefühl, Unsicherheitsgefühl, Streben nach Überlegenheit, Herrschsucht, Kompensation, Gemeinschaftsgefühl« – nun, das ist bekannt, dachte man, das kann ja jeder so ausdrücken, indes Freud Termini benutzte, die oft genug nicht die seinen waren, sich jedoch dem Leser als die originelle Terminologie seiner Lehre einprägten. Gewiß, ich war sehr jung, in der Tat zu jung. Adler überschätzte den Sechzehnjährigen, den er in den Kreis seiner engsten Mitarbeiter einführte. Ich hatte damals kein einziges Buch von ihm gelesen. Und merkwürdigerweise – erst jetzt staune ich darüber – ließ ich, ein leidenschaftlicher Leser, fast ein Jahr verstreichen, ehe ich sein repräsentatives Werk »Über den nervösen Charakter« zur Hand nahm. Ich las es, die zahlreichen medizinischen Fachausdrücke waren mir zumeist unbekannt und oft auch nicht erratbar; das inhaltsreiche Werk beeindruckte mich aber sehr, es flößte mir tiefen Respekt für den Autor ein. Ich machte ihm Komplimente – ach, ich ahnte ja gar nicht, wie dummdreist es von mir 245 Sperber, Manès (1975): Die vergebliche Warnung, S. 72–74. Manès Sperber

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war und wie sehr ich mich damit lächerlich machte. Ich schlug ihm sozusagen ermutigend, wenn nicht gar gönnerhaft auf die Schulter. Solches tat ich nicht das erste und helas, beileibe nicht das letzte Mal. Er aber nahm es gut auf und riet mir, seine späteren Bücher und die einiger anderer Psychologen zu lesen. Erst nachher, Monate später, »entdeckte« ich sein Genie. Das geschah, als er – in seiner Wohnung auf der Dominikanerbastei – seinen nächsten Gefährten einen Fall von manisch-depressivem Irresein darlegte und daran Erwägungen über das Wesen solcher Fälle und über die Möglichkeiten ihrer Heilung anknüpfte. An jenem Abend erfuhr ich über Seelenkranke weit mehr, als ich vorher oder je nachher aus Büchern oder von irgendwem hätte lernen können. Und seit damals wußte ich, daß die Einwände gegen seine oft allzu platte Sprache zwar nicht unbegründet, aber durchaus unerheblich waren. Es kam darauf an, wie man ihm zuhörte: wie man an seinem lauten Denken teilnahm. An jenem Abend hatte Adler einige beschriebene Blätter vor sich, die Krankengeschichte, die er als Ausgangspunkt seiner Erwägungen gewählt hatte. Er sprach wie zu sich selbst, hörbar genug in einem lauten Denken, das beispielhaft war für seine angewandte Zusammenhangsbetrachtung, für jenen alternierenden Prozeß des Auseinandernehmens und Zusammenfügens, dank dem Teile zu einem Ganzen werden. Erst an jenem Abend wurde ich ein Adlerianer und machte mich daran, alles zu lesen, was er je veröffentlicht hatte. Und nicht viel später begannen die Gespräche, in denen er mir, wenn wir allein waren, Einzelheiten aus seinem Leben mitteilte. Mehrere Jahre nachher, als alles zu Ende war, fragte ich mich, warum er gerade mir, dem Adoleszenten, so vieles anvertraute. Es ist wahr, damals erstaunte es mich nicht und flößte mir auch kein Gefühl von Stolz ein, weil es ja nicht das erste Mal geschah, daß Erwachsene zu mir so sprachen, als wären sie meines vollen Verständnisses und verschwiegenen Einverständnisses sicher. Und erst in späteren Jahren verwunderte ich mich darüber, daß Adler mir niemals angeboten hatte, mich zu behandeln. Daß ich nicht die Mittel hatte, eine Psychotherapie zu bezahlen, kann für ihn kein Hindernis gewesen sein. Er bewies mir gegenüber in all den Jahren eine so freundschaftliche Großzügigkeit, daß ich auch heute nicht ohne Rührung an sie denken kann. Gewiß, ich war kein Fall akuter Neurose, das heißt, ich wurde mit meinen Schwierigkeiten allein mehr oder minder rasch, mehr oder minder gut fertig, dennoch wäre mir seine therapeutische Hilfe sehr zustatten gekommen; das wußte er sicher. Meine Mittellosigkeit verbot es mir, ihn darum zu bitten, er selbst brachte es nie zur Sprache. Ja, erst jetzt wundere ich mich darüber, aber damals, in der Sonne seiner stets gleichbleibenden Gunst, suchte und fand ich nur Gründe, ihn zu bewundern, mit ihm in allen wesentlichen Fragen übereinzustimmen. Und er ermutigte mich am wirksamsten 240

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dadurch, daß er auf all meine Einwände sehr ernst einging und manche sogar gelten ließ. Er war mir ein vorbildlicher Lehrer, dem mein Leben lang dankbar zu bleiben ich mir in jenen Jahren versprach. Dabei ahnte ich recht früh, daß es nicht immer leicht sein würde, denn in meiner Gegenwart äußerte er sich zuweilen ungerecht, mit geradezu grausamer Strenge über Freunde und Anhänger, gegen die er plötzlich ein Mißtrauen gefaßt hatte. In solchen Fällen war er unfähig, selbst den geringsten Einspruch zugunsten der ungerecht Verstoßenen auch nur ruhig anzuhören. Und dann mochte er mich plötzlich so feindlich anblicken, daß mir bange wurde im Gefühl, einem fremden Mann gegenüberzusitzen, sosehr hatte er sich unversehens verwandelt. Er wies mich scharf zurück, mit einer abweisenden Handbewegung, die dann zur resignierenden Geste wurde. Ich wußte, nein, ich ahnte, ich begann zu befürchten, daß er eines Tages auch über mich so vernichtende Urteile fällen und keinen Rekurs zulassen würde. Und ich vermutete, daß, während sein böser Blick auf mir ruhte, er wohl denken mochte: »Auch dieser wird mich eines Tages verraten!« Doch gleich darauf schien er es nicht mehr zu glauben, und auch ich verscheuchte eiligst alle Befürchtungen. Daß er in den zehn Jahren unserer merkwürdigen Beziehung mich nicht als fremd empfand, obschon uns außer dem Altersunterschied von 35 Jahren seine bedeutende Position und so vieles andere trennten, lag wohl daran, daß er, der große Errater, herausfand und es schätzte, daß auch ich fast absichtslos, ob ich nun zuhörte oder sprach, ob ich in ein fremdes oder bekanntes Gesicht blickte, stets wie ein Jagdhund Spuren suchte und ihnen unermüdlich folgte. Also erriet er, daß ich erriet – zum Beispiel dieses: daß die Kränkung, die Freud und seine Getreuen ihm in den Monaten vor dem Bruch angetan hatten, in ihm nachwirkte, als ob es eben erst geschehen wäre –, doch war seither ein Jahrzehnt vergangen. Und welch ein Jahrzehnt … In den Gesprächen mit mir kam er immer wieder auf jene Intrigen und Anfeindungen, auf die gezielten Mißverständnisse und tückischen Verdächtigungen zurück. Fasziniert hörte ich ihm zu – gewöhnlich war es schon die späte Nacht, wir hatten eine Stunde vorher oder länger das Stammcafé verlassen, nun saßen wir bei einem Glas Bier im »Griechenbeisl« oder in einem Kaffeehaus »mit verlängerter Sperrstunde«. Adler mag angenommen haben, daß ich alles noch in der Nacht oder am Morgen danach aufzeichnen würde, aber ich habe nie etwas notiert, sondern mich auf das Gedächtnis verlassen. Wie alle ganz jungen Menschen habe ich ein-, zweimal ein Tagebuch zu führen begonnen, es aber schnell aufgegeben. Im übrigen wäre es später wie fast alle meine Papiere vernichtet worden – in Berlin, Wien oder Paris.246 […] 246 Sperber, Manès (1975): Die vergebliche Warnung, S. 75–79. Manès Sperber

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Ich war damals neunzehn Jahre alt und stand in der Gunst des Meisters, der mich ermutigte, Kurse zur Einführung in die Individualpsychologie zu geben, die sich dann in Arbeitsgemeinschaften verwandelten. Adler übergab mir überdies Fälle von Kindern und Jugendlichen, recht schwierige, überaus lehrreiche Grenzfälle, denen ich sehr viel Zeit widmete. Ich schrieb, weil ich mich dazu gedrängt fühlte, ich liebte die Literatur, doch besessen war ich damals nur von der Psychologie.247 […] Einige Monate nach meiner Rückkehr aus Meran veröffentlichte ich mein erstes Buch, ein dünnes Bändchen, mit dem Titel: »Alfred Adler, der Mensch und seine Lehre«; es war die erste Monographie über den Begründer der vergleichenden Individualpsychologie. Im biographischen Teil verwandte ich recht ausgiebig die mündlichen Mitteilungen, die er mir über seine Kindheit, seinen Werdegang und, besonders ausführlich, über sein Zerwürfnis mit Freud gemacht hatte. Weniger als fünf Jahre waren vergangen, seit ich das erste Mal in seinen Kurs gekommen war; weder er noch ich konnte voraussehen, daß er wieder fünf Jahre später, im frühen Herbst 1932, mit mir brechen würde. Der erste Satz dieses biographischen Essays lautete: »Alle Formeln, die man für ihn, den Menschenkenner par excellence, den Weisen ohne äußern und innern Bart fände, müßten sich als nichtssagend vor der Einzigartigkeit der Erscheinung eines Menschen erweisen, der so restlosen Mut zum Menschsein aufbringt.« Und am Schluß heißt es »[…] diese Leistung konnte nur der hervorbringen, der vom Pathos der Gemeinschaft beseelt war, der sich gedrängt fühlte, jene Lehre zu schaffen, die alle, die sie kennenlernen, mit einer Lebensaufgabe belastet: voranzugehen bei dem Abbau des Strebens nach Macht und bei der Erziehung zur Gemeinschaft […] Alfred Adler ist das soziale Genie unserer Zeit.« Die Bewunderung, der ich so dithyrambischen Ausdruck gab, war echt, denn ich empfand das Bedürfnis, sie jedem kundzutun. Es gab welche, die meinten, Adler hätte meine Jugend mißbraucht, indem er mich dazu gedrängt hätte, diesen Lobgesang anzustimmen und zugleich gegen Freud dreist zu polemisieren. Ich widersprach dem aufs heftigste – mit Recht, meine ich heute noch, ein halbes Jahrhundert danach. Ich hatte damals die erste Gelegenheit, die sich mir bot, ergriffen, um mich zu Adler zu bekennen, was ich um so dringender wünschte, als ich tatsächlich über das Vorgehen Freuds und der Freudianer gegen Adler und alle übrigen Ketzer tief empört war. Alles, was seither, während der letzten 50 Jahre, publik geworden ist, beweist, daß Adlers Darstellung objektiv war. Freuds sukzessive Brüche mit so vielen seiner intimsten Mitarbeiter erhärten diesen Beweis. 247 Sperber, Manès (1975): Die vergebliche Warnung, S. 96.

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Es ist wahr, ich wollte dem bewunderten Mann auch Dank abstatten für das Vertrauen, das er mir von Anbeginn erwiesen hatte. Und ich wollte ihm auch eine Freude bereiten. Er war der erste Leser, für den ich in wenigen Wochen diesen Essay schrieb, ich durfte ihm größere Stücke aus dem Manuskript vorlesen. Handelte es sich nur um eine naive, juvenile Geste? Das behauptete Hans Sperber, der bedeutende Linguist, ein Freudianer. Und er sagte mir voraus, ich würde diese Schrift einmal sehr bereuen. Wir pflegten einander nur während der Sommerwochen in Grundlsee zu treffen, wo er ein Gast Genia Schwarzwalds war. Professor Sperber war ein gescheiter, wohlwollender Mann, dessen Urteil mir auch deshalb wichtig war, weil sein Buch über den Bedeutungswandel der deutschen Sprache mich beeindruckt hatte. Seine Äußerung stimmte mich nachdenklich, in den Jahren des Bruchs mit Adler und auch später habe ich manchmal an sie gedacht. Er hat sich geirrt, denn ich habe nie bereut, dieses Büchlein geschrieben zu haben, auch nicht in jenen für mich so schlimmen Jahren, in denen Adler und sein sektiererisches Gefolge, wahllos in den Mitteln, mir bösartige Kränkungen zufügten. Natürlich bedeutet das nicht, daß ich im Jahre 1936 über ihn so geschrieben hätte, wie ein Jahrzehnt vorher. Nein, das hätte ich nicht vermocht, und ich habe es in »Alfred Adler oder das Elend der Psychologie«, das ich 1971 veröffentlicht habe, auch nicht getan. […] Dennoch war ich so dumm, daß ich nicht merkte und erst viel später entdecken sollte, daß mein Büchlein mir bei vielen Adlerianern, besonders bei einigen seiner frühen Weggefährten, eine sorgsam verhehlte und um so unversöhnlichere Feindschaft zugezogen hatte. Ich ahnte nicht, daß die Nichterwähnung ihrer Namen in meiner Monographie von ihnen als eine beleidigende Herausforderung aufgenommen werden könnte. Ich hätte dem Umstand Rechnung tragen müssen, daß sie sich nicht als Anhänger Adlers ansahen, sondern als seine Gefährten – sie, die zusammen mit ihm Freud verlassen hatten. Sie waren auf mich um so wütender, als sie gar nicht wagen konnten, diesen Vorwurf an Adler selbst zu richten, da sie damit die gleichsam rebellische Eifersucht enthüllt hätten, die seine Erfolge bei ihnen hervorriefen; diese Erfolge, die ja auch ihnen in jeder Hinsicht zugute kamen, aber Adler weit über seine frühere Position als Primus inter pares hinaushoben. Mich bestürzt noch heute das völlige Versagen jenes Scharfblicks und jener Intuition, die ich soeben an dem Zwanzigjährigen gerühmt habe. Was ich da ahnungslos angestellt hatte, wurde mir erst von dem Augenblick an klar, als sich Adlers Freundschaft für mich in eine zuerst zaghafte, wahrscheinlich ihn selbst befremdende Mißgunst zu verwandeln begann. Da erst traten jene Kollegen vor, um ihn vor mir, insbesondere vor meiner für die Individualpsychologie so gefährlichen politischen Tätigkeit zu warnen. Das geschah fast ganz offen nach Manès Sperber

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dem Wahlsieg, den die Nazis im September 1930 bei den Reichstagswahlen errangen.248 […] Die erste, anscheinend schnell und folgenlos beendete Verstimmung zwischen Adler und mir hatte einen besonderen und, könnte man meinen, paradoxen Grund: Während einiger Monate widmete ich mich ununterbrochen, bei Tag und bei Nacht, der Beobachtung und Behandlung eines halbwüchsigen Patienten, eines Falls von Dementia praecox, den Adler mir anvertraut hatte. Ich wohnte allein mit dem Kranken in einer am Rande der Stadt gelegenen Wohnung und führte ihn einmal in der Woche Adler vor, der meinen jeweils kurzen oder längeren Bericht anhörte und danach einige Fragen an mich und an den Kranken stellte; im übrigen ließ er mich völlig frei gewähren. […] Joseph war sechzehneinhalb Jahre alt, zweites Kind, doch einziger Sohn einer wohlhabenden Familie, die unansehnlich und in ihrem Äußeren armselig wirkte. Erst acht Monate nach dem Ausbruch der Krankheit, die mit einer schnellen Folge von Gewalttätigkeiten und irren Reden begonnen hatte, wandten sich die Eltern an Adler. Die inzwischen außer Gebrauch geratene Kraepelinsche Bezeichnung Dementia praecox entsprach genau diesem Fall, den man in der einschlägigen Literatur ausführlich beschrieben fand. Joseph war untersetzt und dicklich, im Schlaf hatte er ein schwammiges Knabengesicht, das im Wachen durch den immer wieder verstohlen von unten her starrenden und schnell wieder abgewandten Blick einen unangenehmen Ausdruck annahm und häßlich wurde. Ich entdeckte sehr bald, daß er, glaubte er sich allein, vor dem Spiegel diesen starren Blick und seine schnelle Abwendung unermüdlich wiederholte. Er übte auch andere Grimassen vor dem Spiegel ein. Nachts erhob er sich manchmal vom Bett, ging ins Vorzimmer und, nur mit Nachthemd oder Pyjama bekleidet, spielte er sich selbst den wilden Mann vor. So mißtrauisch er in den ersten Wochen auch war, er sollte niemals entdecken, daß die Spiegel in allen Räumen so angebracht waren, daß er stets zumindest von einem Raum aus indirekt beobachtet werden konnte. In seinem Verfolgungswahn war Joseph darauf gekommen, daß sich seine Verfolger durch Geräusche mit der Nase verständigten und in dieser geheimen Sprache seine Ermordung vorbereiteten. Er lauschte auf die Geräusche, die ich in meinem Bett machen würde, sobald ich die Leselampe abgedreht hatte. Er wußte nicht, daß ich sehr lange unbeweglich mit geschlossenen Augen daliegen konnte; das tat ich seit meiner späten Kindheit jedesmal, wenn ich vor dem Einschlafen die Ereignisse des Tages »abrollen« ließ. Da ich die erwarteten oder gefürchteten Geräusche nicht machte, verminderte sich sein Mißtrauen mir 248 Sperber, Manès (1975): Die vergebliche Warnung, S. 128–132.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

gegenüber, denn er schloß daraus, daß ich mich an der Verschwörung vielleicht nicht beteiligte. Auch deshalb gelang es mir, früher als vorgesehen, in ihm den zwar überaus schwachen, doch zeitweise wirksamen Willen zu einem Kontakt zu wecken. Er öffnete einen schmalen Spalt im Panzer, in dem er, der rastlos Verfolgte, ein Asyl gefunden zu haben glaubte. Er lugte durch diesen Spalt hinaus, spähte mir nach, um herauszufinden, ob ich in der Verschwörung gegen ihn irgendeine Rolle spielte. Zugleich aber wuchs auch sein Interesse für mich, das heißt, es kam öfter vor, daß meine Existenz in ihm eine Neugier hervorrief, die mit ihm, das heißt mit dem Komplott gegen ihn, nichts zu tun hatte. Man weiß, daß Mathematiker neben unserer Welt einen anderen, ebenso denkbaren, das heißt mathematisch in sich schlüssigen Kosmos errechnen könnten. Im Zusammenleben mit Joseph tat sich mir eine ganz andere, eine winzige, in sich geschlossene Welt auf, deren einziger Bewohner von der Gewißheit beherrscht war, daß nur er allein die volle Wahrheit kannte, sie aber, wollte er sein Leben retten, mit allen Listen verheimlichen müßte. Ein Paranoiker zieht große Stücke der erlebbaren Wirklichkeit in seine fixe Idee mit ein, läßt aber zahllose Bereiche gleichsam als riesige Enklaven bestehen. Sein Beziehungswahn bleibt also begrenzt und erlaubt ihm häufig, seine Arbeit ordentlich auszuführen, meistens zu ordentlich, pedantisch, und sich im Alltag zurechtzufinden und nicht aufzufallen, außer durch Eigenheiten, die man ihm nachsieht, weil doch fast jeder einmal launisch oder schrullig reagieren kann.249 […] Hier spreche ich nur davon, weil diese Episode, wie angedeutet, Adlers erste Verstimmung gegen mich hervorgerufen hat. Das geschah, als Adler in Josephs Zustand eine erstaunliche Besserung feststellte, eine – schien’s ihm – normale Kontaktfähigkeit, die den Gesichtsausdruck des Jungen so auffällig verwandelte, daß er gar nicht mehr dem Kranken ähnelte, den man zu ihm gebraucht hatte. Adler führte mit ihm ein längeres Gespräch, das noch wenige Wochen vorher völlig unmöglich gewesen wäre, und erörterte mit ihm die nahe Zukunft. Am Abend des gleichen Tages rief mich Adler an und sagte, er hätte die Eltern vom Erfolg der Behandlung verständigt und mit ihnen abgemacht, daß sie vor Ende der Woche ihren Sohn abholen sollten. Er fand höchst rühmende Worte für meine Arbeit und forderte mich auf, ungesäumt einen Bericht zu schreiben und ein langes Referat über diesen Fall in einer der wöchentlichen Sitzungen des Individualpsychologischen Vereins zu halten. Fast betreten dankte ich ihm für seine Worte und bat ihn, mir trotz seines Zeitmangels wenigstens eine halbe Stunde zu widmen. Er, der mir nie etwas verweigert hatte, stimmte auch diesmal mit gewohnter Herzlichkeit zu. Zwei Tage später empfing er mich 249 Sperber, Manès (1975): Die vergebliche Warnung, S. 136–139. Manès Sperber

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mit Worten freudigen Triumphs, ich aber war gekommen, um ihm eine enttäuschende Mitteilung zu machen: Ich glaubte nicht an die Dauer, ja nicht an die Echtheit dieser Heilung, sondern betrachtete sie als eine – wer weiß wie schnell – vorübergehende Besserung, als eine Remission. Ich gab zu, daß diese durch die Behandlung beschleunigt, vielleicht auch ausgelöst und dank ihr eindrucksvoller ausgefallen sei. So wäre die einzige Schlußfolgerung, daß diese besondere Psychose, die Hebephrenie, wie Adler sie mit Recht schon vorher genannt hatte, psychisch gut ansprechbar wäre. Das könnte ich in dem Referat darlegen und zuvor den Fall so analysieren, als ob es sich um eine Psychoneurose handelte. Gleich danach würde ich hinzufügen, daß jedoch ein Fall von Psychose vorlag, die Analyse somit nur den Mittelbereich der kranken Persönlichkeit deuten konnte, nicht aber die »extremen Ränder«. Adlers Gesicht verdüsterte sich, während ich sprach, schließlich unterbrach er mich mit der Bemerkung, daß ich nach diesen sehr anstrengenden Wochen übermüdet wäre und auch deshalb nicht nur meine eigene Leistung verkenne, sondern auch die für die Individualpsychologie so interessanten Folgerungen unterschätzte. So wäre es also das beste, ich ließe mir Zeit mit dem Referat und hielte es nach reiflicher Überlegung einige Zeit später. Er selbst behielt sich vor, in den einleitenden Worten und in der Diskussion seine von meiner Deutung abweichende Meinung vorzutragen. Die Verdüsterung wich wieder aus seinem Gesicht, sein Ton verlor die schlecht verhohlene Strenge. Er las mir einen interessanten Brief vor, den er gerade aus New York bekommen hatte, und begleitete mich dann bis zum Treppenabsatz. […] Der Gedanke an die in der Öffentlichkeit auszusprechende Meinungsverschiedenheit blieb äußerst beklemmend. Und natürlich zweifelte ich nicht einen Augenblick daran, daß Adler von der Heilung Josephs überzeugt war. Daß ich seine Überzeugung nicht teilen konnte, hatte nichts mit irgendeiner vorgefaßten Meinung zu tun, sondern mit dem Ergebnis meiner Erfahrungen, die ich während jenes Zusammenlebens mit dem Halbwüchsigen gewonnen hatte: Gewiß gab es, wie in der Neurose auch in diesem Fall, das mehr oder minder bewußte, jedenfalls vom Kranken selbst mißverstandene Arrangement im Sinne Adlers, es gab die Spiegelkomödie, in der Joseph seine Rolle unermüdlich probte, die des wilden Mannes so gut wie die des ungerecht bestraften, hilflosen Kindes. Er wiederholte auch eine Reihe von anscheinend sinnlosen Zwangshandlungen, die zu einer Zwangsneurose gepaßt hätten. Trotz alldem mußte der Beobachter zur Gewißheit gelangen, daß all das und die Streitgespräche mit der nur dem Kranken hörbaren Stimme nicht ein Organdialekt waren, in dem eine schwere seelische Störung ihren Ausdruck suchte, sondern umgekehrt eine Störung von Organen, die sich in einem psychischen Dialekt äußerten. Im Verlauf eines 246

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späteren Gesprächs sagte ich Adler, daß es mir schiene, als wäre Josephs Psychose das Erbrechen eines schwer Besoffenen oder eines Vergifteten. Mein Referat fand einige Wochen später im großen Hörsaal des Anatomischen Instituts in der Schwarzspanierstraße statt. Einleitend wies Adler auf das ungewöhnliche Interesse meines Experiments, meiner Beobachtungen und ihrer Resultate hin, und in der Debatte brachte er seinen praktisch unbegrenzten therapeutischen Optimismus zur Geltung. Er war souverän wie in seinen besten Stunden. Gleich allen anderen lauschte ich ihm, wie er da alle überlieferten Etiketten in Frage stellte und alle Grenzpflöcke beseitigte. Neurose, Psychose – jeder wußte, was diese Worte bezeichneten, jedoch seien die Grenzen zwischen ihnen fließend. Jedes Krankheitsbild erforderte seine besondere Deutung im Sinne einer Ganzheitsbetrachtung, ohne sie blieben Verzerrungen und tendenziöse Akzentverschiebungen unvermeidlich. Im Schlußwort widersprach ich kaum merklich dem Lob, das mir gespendet worden war. Viele Einzelheiten, die ich erwähnte, waren eher geeignet, Adlers Argumente zu erhärten. Begann ich einen Satz des Widerspruchs, so schwächte ich ihn alsbald so ab, daß er nicht mehr klar genug war. Spätnachts, als ich wieder allein war, empfand ich zum erstenmal, wie widerlich ein Erfolg sein kann, doch erst am Morgen des übernächsten Tages ermaß ich seine Abscheulichkeit. Es klingelte ununterbrochen an unserer Tür, Männer und Frauen kamen, alle mit dem gleichen Zeitungsblatt in der Hand. Sie beriefen sich auf einen Artikel, in dem über jenen Abend berichtet und ich als ein Wundertäter gerühmt wurde, der junge Geisteskranke nach kurzer Behandlung in normale Menschen verwandle. Es war eine der schlimmsten Stunden meines Lebens, diesen unglücklichen Vätern und Müttern ununterbrochen wiederholen zu müssen, daß alles falsch war und sie von mir nichts zu erwarten hätten. […] Am Tage nach meiner Rückkehr ging ich abends in Adlers Café. Er beantwortete meinen Gruß mit gewohnter Wärme, fragte mich aus, wo ich mich in der letzten Woche vergnügt hätte. Alles war wie früher; der eine oder andere der Stammtischgäste erwähnte den Fall Joseph, um mir Komplimente zu machen; es genierte mich nicht mehr, weil ich kaum hinhörte. Zwischen Adler und mir ist nie wieder die Rede auf diesen Fall gekommen; den zuerst gefaßten Plan, über ihn ausführlich zu schreiben, gab ich dann auf. Man weiß, daß manches Unglück viel lehrreicher ist als das Glück. […] Etwa anderthalb Jahre später erfuhr ich durch einen Zufall, daß Joseph nach einem schweren Rückfall in der großen Wiener Irrenanstalt Steinhof interniert worden war.250 […] 250 Sperber, Manès (1975): Die vergebliche Warnung, S. 140–146. Manès Sperber

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Ich wüßte nicht mit Bestimmtheit zu sagen, wer, die Rühles oder Adler, zuerst die Meinung äußerte, daß die Berliner Gesellschaft für Individualpsychologie jemanden wie mich, gerade mich brauchte. Adler wünschte, daß ich die Vereinigung davor bewahren sollte, vom rechten Weg abzuweichen. Er fand in den Arbeiten Fritz Künkels, der führenden Persönlichkeit der Berliner Vereinigung, recht vieles, was zwar noch nicht im Gegensatz zur Individualpsychologie stand, aber immer deutlicher eine Loslösung von ihr anzukündigen schien. Alice Rühle, die Künkels Fähigkeiten richtig, somit sehr hoch einschätzte, befürchtete ihrerseits, daß seine Neigung zu einer christlichen Philosophie ihn dazu verführen könnte, sich einem Mystizismus deutsch-protestantischer Prägung zuzuwenden; Otto Rühle schließlich sah in ihm einen Mann der Rechten, zwar weit klüger als die Deutschnationalen, aber doch einen Nationalisten. Die Rühles glaubten zuversichtlich, daß ich, dank ihrer Hilfe, der individualpsychologischen Bewegung in Berlin und überall in Deutschland einen »Linksruck« geben würde.251 […] Fritz Künkel wußte von mir und zweifelte nicht daran, daß ich nicht nur mit Adlers Zustimmung, sondern auf dessen Wunsch nach Berlin gekommen war. Als Vorsitzender der »Berliner Gesellschaft für Individualpsychologie« hieß er mich willkommen und drückte seine Gewißheit aus, daß meine Mitarbeit sich für alle als überaus nützlich erweisen würde. […] Adler hatte mir vor meiner Abreise zwei Bogen in die Hand gedrückt – sie enthielten in doppelter, handschriftlicher und maschinegeschriebener Ausfertigung eine Empfehlung, die mich als den »besten Interpreten seiner Anschauungen« bezeichnete und sein »vollstes Vertrauen« in meine Person und zu meinen Initiativen nahezu hyperbolisch ausdrückte. Diese Empfehlung habe ich nie benutzt, ja ich habe nicht einmal erwogen, sie jemandem zu zeigen oder ihrer Erwähnung zu tun. Und es hatte dieser seltsamen Bescheinigung gar nicht bedurft, um in mir das sichernde Bewußtsein zu stärken, daß ich nicht etwa für mich, sondern vor allem als Abgesandter für eine Sache einzutreten hatte.252 […] Wie diese Beziehung begonnen und recht schnell eine unvergleichliche Bedeutung für mich erlangt hat, habe ich hier ausführlich dargelegt. Doch wie, wann hat sie geendet, genauer: wann begann sie zu enden? Das unangenehme Intermezzo, das im Zusammenhang mit dem Fall des jungen Joseph meine erste Enttäuschung über Adler hervorrief, blieb ohne Folgen. Vergaß ich es keineswegs, so war mein Groll dennoch völlig verraucht, diese Episode änderte nicht das Bild, das ich mir von Adler gemacht hatte. Und er seinerseits bewies mir weiterhin das Vertrauen, das er dem Halbwüchsigen geschenkt hatte. 251 Sperber, Manès (1975): Die vergebliche Warnung, S. 155 f. 252 Sperber, Manès (1975): Die vergebliche Warnung, S. 169 u. 171.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Als ich in Berlin die Redaktion des Bulletins der Individualpsychologischen Gesellschaft »Sachlichkeit« übernahm, schickte er mir handgeschriebene Beiträge und ermutigte mich so, dieses bescheidene Blättchen in eine »Zeitschrift für individualpsychologische Pädagogik und Psychohygiene« zu verwandeln. Aus Amerika, wo er während des Wintersemesters lehrte, und aus Wien schrieb er mir Briefe, in denen er mir gewöhnlich kurz über seine Arbeit und seine Vortragsreisen berichtete und ausführlicher über die Entfaltung der Bewegung; er ging überdies mit freundschaftlichem Interesse auf die Berichte über meine Tätigkeit ein. Wie fast alles, was ich damals besaß, ist auch meine gesamte Korrespondenz jener Zeit schon im Jahre 1933 verlorengegangen, daher kann ich nicht das genaue Datum des langen Briefes feststellen, in welchem Adler anregte, ich sollte ein ausführliches Buch über »Sigmund Freud und die Psychoanalyse« schreiben. Was ich in meinem Essay über Adler nur polemisch angedeutet hatte, würde ich da mit allen Einzelheiten entwickeln können. Er deutete an, daß er mir in jeder Hinsicht behilflich sein und mir einen Verlag und einen substantiellen Vorschuß verschaffen wollte, so daß ich ohne materielle Schwierigkeiten so viel Zeit, als ich brauchte, für diese Arbeit aufwenden könnte. Er sagte diesem Werk einen großen Erfolg voraus, besonders in Amerika. Das peinliche Gefühl, das diese Anregung in mir hervorrief, verstärkte sich, als ich ein paar Tage später den Brief erneut durchlas. Adler zweifelte offenbar keinen Augenblick daran, daß ich seinen Vorschlag annehmen würde. Ich aber hatte keine Zeit und vor allem keinen Grund, eine Kampfschrift gegen Freud zu veröffentlichen, die, gleichviel wie ich es anstellte, jedem als eine wenn auch indirekte, persönliche Abrechnung Adlers mit dem Begründer der Psychoanalyse erscheinen mußte. Als Adlerianer und als Marxist war ich (und bin es heute mehr denn je) ein entschiedener Gegner der meisten als Theorien präsentierten fragilen Hypothesen der Freudianer, doch empfand ich nicht die geringste Neigung zu einer Polemik, um so mehr, als ich keineswegs in die Nachbarschaft jener geraten wollte, die mit den schlechten Gründen der überlieferten Sexualmoral einerseits und denen einer bornierten Experimentalpsychologie anderseits die Psychoanalyse bekämpften und herabsetzten. Am peinlichsten berührte mich an diesem Vorschlag, daß er jenen recht zu geben schien, die, wie Hans Sperber, mir vorgeworfen hatten, ich hätte mich von Adler mißbrauchen lassen und seiner Rancune gedient. Erst nach langem Zögern beantwortete ich den Brief, dankte ihm für die Anregung und begründete die Ablehnung damit, daß ich mitten in Aufgaben steckte, von denen ich keine einzige vernachlässigen oder aufschieben könnte; zu diesen gehörten meine direkten und indirekten Bemühungen, die Adlersche Lehre zu verbreiten, ihr tätige Anhänger zu werben, die ihrerseits in ihrer Manès Sperber

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Heimat – in Deutschland, Jugoslawien, Lettland, Litauen und in der Sowjetunion – den Wirkungsbereich der Individualpsychologie fortgesetzt erweiterten. In dem recht langen Brief war dem Vorschlag Adlers nur ein Absatz gewidmet; ich wußte, daß er meine Gründe als zutreffend und dennoch unzureichend erkennen und daher folgern würde, daß ich ihm nach wie vor treu ergeben blieb, wo es darum ging, für seine Lehre einzutreten, daß ich es aber vorzog, dort zu kämpfen, wo es um unser aller Schicksal ging. Erst als wir einander in Wien wieder trafen, erwähnte Adler noch einmal seinen Vorschlag. Er wollte wissen, ob ich mir die Ablehnung wohl überlegt hätte und bei ihr zu bleiben gedächte. Ich hatte den Satz, mit dem ich dies bestätigte, kaum beendet, als er einige Jünger, die am Nebentisch saßen, heranwinkte; er wechselte das Thema, noch ehe sie sich zu uns gesellten. Keiner von uns beiden sprach über die Angelegenheit, als wir später einmal zu einem Gespräch zusammenkamen. Ruth Künkel, die es arrangiert hatte, versprach sich viel von der Begegnung Adlers mit Künkel und mir. Sie lud uns alle zu einem Mittagessen bei Kempinski am Kurfürstendamm ein. Jeder von uns dreien hätte, denke ich, der klugen, charmanten Ruth zuliebe alles tun wollen, um diese 105 Minuten angenehm zu gestalten; es gelang keinem. Daß Künkel nicht sein Apostel sein wollte, verzieh ihm Adler um so leichter, als er ihn niemals als einen verläßlichen Anhänger betrachtet hatte. Mich sah er so gut wie niemals an; zweimal versuchte er, mich anzulächeln – das Lächeln kam nicht zustande, es glich einer wehleidigen Grimasse. Uns allen mißlang alles – jeder Satz, der die Unterhaltung in Gang bringen sollte, endete abrupt in einem betroffenen Schweigen. Nur Aussprüche über die Speisen, die man uns auftrug, über den Wein, das Mineralwasser, die Semmel, die die Berliner Schrippe nennen, über die Bedienung bei Kempinski und schließlich über den Kurfürstendamm – derlei Bemerkungen formten Gesprächsfetzen, die sich jedoch nicht zu einem Gespräch zusammenfügen ließen. Endlich ergriff Adler, wohl Ruth zuliebe, die Initiative, unsere Zusammengehörigkeit in einer eindrucksvollen Weise zu illustrieren: er erfaßte für einen Augenblick meinen, dann Künkels Ärmel, schließlich den eigenen und sagte zu Ruth: »Sehen Sie, unsere Anzüge haben fast die gleiche Farbe und das gleiche Muster.« Ruth stimmte mit überstürzter jugendlicher Begeisterung zu, wir bestellten das Dessert. Der Mißmut der Enttäuschten in Ruths schönen Augen und Adlers Versuch, unsere Anzüge für eine flüchtige Manifestation eines Gemeinschaftsgefühls zu benutzen – das erlebte ich nachher in Wiederholungen wie das nicht enden wollende Geräusch einer beschädigten Grammophonplatte, auf der die Nadel in der ewig gleichen Rille kreist. Das war meine letzte persönliche Begegnung mit Alfred Adler. Im Herbst 1932 trafen wir einander während einiger Tage häufig bei der internationalen Tagung 250

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

der Individualpsychologen in Berlin. Er begrüßte mich wie einen Fremden und mied mich sodann. Ich meinerseits achtete darauf, nicht in seine unmittelbare Nähe zu geraten. Ein Jahr vorher hatte ich sein Verhalten als kränkend empfunden; fast alle seine Getreuen, die ihn jeden Abend im Café Siller umringten, hatten bereits im Herbst 1931, als ich während einiger Wochen wieder in Wien war, große Mühe, mich sofort zu erkennen. Die hemmungslosesten Schmeichler unter ihnen, die mir mit dem Eifer von Höflingen den Hof gemacht hatten, sahen mit verglasten Augen an mir vorbei. Adler hatte viele Menschen von Charakter angezogen, aber ihre Zahl verminderte sich in dem Maße, als sich der Kreis seiner Mitarbeiter, Jünger und Anbeter in eine Sekte verwandelte, wie sie sich etwa 15 Jahre vorher oder noch früher um Sigmund Freud gebildet hatte. Sektierer sind darauf aus, einander und sich selbst in den Treuebeweisen gegenüber dem Haupt der Sekte täglich zu übertreffen. A la longue genügen auch die übertriebensten Lobpreisungen nicht, man dient dem Meister am überzeugendsten, wenn man sich durch die Enthüllung des Verrats hervortut, den ein anderer Sektierer unter Umständen begehen könnte und insgeheim vielleicht schon vorbereitet. Was das Beste an Adler und das Beste an mir war, hatte unsere Beziehung ermöglicht, wobei natürlich sein Anteil der weitaus größere, der wirklich belangreiche war. Früh genug, ich habe es bereits erwähnt, stieß ich bei ihm auf die Stichflamme des Argwohns, die sich plötzlich entzündete, wenn ich einen Freund oder Mitarbeiter zu verteidigen suchte, von dem er sich gerade abwandte, als ob dieser ein geheimer und um so gefährlicherer Feind wäre. Tief beeindruckt, ja erschreckt, mochte ich dann verstummen, doch habe ich ihm nie gegen meine Überzeugung recht gegeben. Warum nicht, da mir doch an seiner Freundschaft so viel lag? Eben deswegen: ich wagte eher, sein Mißfallen zu erregen als ihm irgend etwas vorzutäuschen. Ich glaube, ich habe fast alle seine Sympathien geteilt und nur wenige seiner Abneigungen. Adler hat es nach 1930 nie zu einer Diskussion über meine Arbeiten kommen lassen, denen er eine Abweichung von seinen Auffassungen hätte vorwerfen können. Mehrere Aufsätze, die ich veröffentlichte, besonders der letzte über »Schule und Sekten«, welcher in der von Professor Arthur Kronfeld herausgegebenen Fachzeitschrift erschien, mußten ihn erbosen. Überdies waren einige seiner deutschen Mitarbeiter immer mehr nach rechts gerückt; sie und ihre Gesinnungsgenossen ließen keine Gelegenheit ungenutzt, Adler zu warnen, daß die Zukunft der Individualpsychologie in Deutschland aufs schwerste gefährdet würde dadurch, daß Leute wie ich als ihre legitimen Repräsentanten angesehen und daß seine Lehre deshalb als marxistisch, ja als kommunistisch abgestempelt werde. Adler war politisch viel klüger als jene, die auf ihn so einsprachen, daher Manès Sperber

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kann er nicht gehofft haben, daß die von einem Juden begründete individualpsychologische Bewegung in einem Dritten Reich weiterwirken könnte, selbst wenn sie nicht im geringsten mit dem Odium des Marxismus belastet wäre. Trotzdem bezichtigte er uns, den Bestand der individualpsychologischen Bewegung in Deutschland zu untergraben und alles zu tun, was ihre Vernichtung herbeiführen mußte. Er verkannte die Situation: Wir waren es, die der Individualpsychologie in vielen Bereichen einen bedeutenden Platz errungen hatten – in der städtischen und staatlichen sozialen Fürsorge, in der Sozialpädagogik; wir lehrten an den wichtigsten Fachschulen und gewannen in jedem Semester neue aktive Anhänger. Die von jenen Sektierern gegen uns lancierten Angriffe erschütterten keineswegs unsere Position, sondern verminderten das Ansehen, das wir Alfred Adler verschafft hatten. Das zahlreiche Publikum, das der Berliner Tagung beiwohnte, war in der überwiegenden Mehrheit unserthalben gekommen. Adler hatte, bevor ich nach Berlin ging, mehrfach vor ausländischen Freunden gerühmt, daß ich die Jugend für ihn gewänne. Er sah diese Jugend auch in Berlin um mich versammelt, doch diesmal wünschte er, daß sie mir bald abspenstig werde. Über das tiefe Leid, das Alfred Adler mir damals und in den Jahren danach zufügte, dürfte ich nur meinem Freund Beno geklagt haben. Es dauerte viele Jahre, ehe ich den Schmerz überwand. Es kam darauf an, die Erinnerung an das Gute, das ich Adler verdankte, keinen Augenblick durch das Unrecht verdunkeln zu lassen, das er mir antat. Nicht nur ihm, sondern auch mir selbst schuldete ich es, niemals meine Dankbarkeit ihm gegenüber zu vermindern oder auch nur zu desaktualisieren. Das war gerecht und für mich selbst von größter psychohygienischer Bedeutung. Er hatte mir, allerdings nicht nur mir, das Böse weitergegeben, das Freud ihm zugefügt hatte. Doch eben dank Adler war ich fähig, diesem seinem Beispiel nicht zu folgen. Heute, mehr als 40 Jahre nach jenem schmerzlichen Erlebnis, denke ich viel öfter an die vergangene Freundschaft als an ihren Verlust. Noch entschiedener als seinerzeit bedauere ich, daß Adlers Lehre nicht die Verbreitung gefunden hat, die sie verdient und die zum Nutzen aller so notwendig wäre; nach wie vor meine ich, daß die Mitwelt und bisher auch die Nachwelt Alfred Adler und sein Werk zum eigenen Schaden verkennt und maßlos unterschätzt.253

253 Sperber, Manès (1975): Die vergebliche Warnung. Wien (Europa-Verlag), S. 266–272.

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Sperber erzählt in »Die vergebliche Warnung« eine Anekdote:254

Ein junger Philosoph, der schlechthin alles gelesen zu haben schien, führte in meiner Gegenwart ein langes Gespräch mit Adler, der auf dessen zahllose, fast durchwegs kritische Fragen mit Geduld und Gleichmut und einem Humor einging, der allerdings dem Interviewer fast völlig entging, so daß er immer ungeduldiger, fordernder und schließlich herausfordernd wurde. Am Ende, die Unterredung hatte sicher zwei Stunden gedauert, verlangte der Philosoph wieder einmal vorwurfsvoll, daß Adler doch zugebe, daß seine Lehre bestimmte Fehler habe. Da holte Adler nach einer Pause anscheinend tiefer Nachdenklichkeit seine Virginiazigarre ganz sachte aus dem Mund, sah dem strengen Prüfer in die Augen und antwortete: »Jo, was wollen S’ denn, mein Lieber, gar kane Fehler soll meine Sache haben?« Aus »Alfred Adler: Der Mensch und seine Lehre« (1926):255

Wer Adler je zu seiner vielhundertköpfigen Hörerschaft im Volksheim Koflerpark sprechen gehört hat, […] wer diese Massenwirkung erlebt hat, der muß erkannt haben: Adlers Wirkung ist die eines […] eigentümlichen Revolutionärs legitimiert durch die Gemeinschaft und durch sein Werk, durch die Liebe Tausender und – die Indifferenz der verknöcherten Professoren, und vor allem durch sein Ziel: die Individualpsychologie zur Erzieherin der Menschheit zu machen, durch sie Politik und Religion – irgendeinmal – ersetzt zu wissen, dieses Ziel ist revolutionär, ist mit dem Pathos der Gemeinschaft gesetzt […] Alfred Adler ist das soziale Genie unserer Zeit. Aus der Distanz von über vierzig Jahren blickte Sperber in »Alfred Adler oder das Elend der Psychologie« auf seine Zeit mit Adler zurück:

Wir dachten, wir wären die erste Generation, die bewußt im Zeit-Raum lebte: alle Zeiten waren unser, da wir, mehr der Zukunft als der Gegenwart zugehörig, uns gleichzeitig brüderliche Zeitgenossen all jener dünkten, die uns vorausgegangen waren. Schüler Sigmund Freuds oder Alfred Adlers, lauschten wir auf ihre Lehren, als wären sie nur der wohlartikulierte Widerhall unserer eigenen

254 Sperber, Manès (1975): Die vergebliche Warnung, S. 192. 255 Sperber, Manès (1926): Alfred Adler: Der Mensch und seine Lehre. München (Bergmann), S. 9 u. 39. Manès Sperber

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Intuition […] Alles stellte sich uns in einer dialektischen Einheit dar; alles war Bewegung; nur was Bewegung war, existierte. Hier könnte ich mühelos ›überblenden‹: Auf der schwarzen Tafel zeichnet ein untersetzter Mann einen kreideweißen Strich, er zieht ihn sachte von unten nach oben. Mit einer Entschiedenheit, als ob er mit diesem Strich einen unwiderleglichen Beweis lieferte, fügt er hinzu: »Sie sehen, das ist also das seelische Leben; alles Seelische ist eine Bewegung, muß als eine Bewegung von unten nach oben verstanden werden.« Es mag sein, daß nicht wenige der jungen Zuhörer Adlers zuletzt wegen dieses Wortes wiederkamen: Bewegung. Es war einfach und doch ein Schlüsselwort ohnegleichen. Man hatte sagen hören, daß der Dr. Alfred Adler berühmt und weit bedeutender wäre, als er aussah – denn er sah aus wie ein Wiener Kleinbürger. So sprach er auch, so kleidete er sich zuweilen, und selbst sein Gesicht hatte eine unleugbare Ähnlichkeit mit dem gutmütig karikierten Antlitz des ewigen Wieners, dem man in so vielen Zeitungen und auf Plakaten begegnete. Auf den ersten Blick imponierte er also niemandem und interessierte nur mäßig. Aus der Nähe betrachtet, überraschten seine Augen: ihr Ausdruck wechselte mit ungewöhnlicher, manchmal erschreckender Rapidität. Der Blick des aufmerksamen, doch harmlos gütigen Beobachters verwandelte sich unversehens, wurde forschend, stechend, ja feindselig, ehe er sich eben so schnell wieder veränderte und schließlich ganz abgewandt wurde. Adler wirkte damals auf alle, die mit ihm zu tun hatten – besonders aber auf die jungen Leute, die von ihm lernen wollten –, so ermutigend, daß jeder selbst nach einem ganz kurzen Gespräch mit ihm gleichsam einen neuen Glauben an sich selbst davontrug, eine zwar unformulierte, doch äußerst bestärkte Hoffnung auf die eigene nahe oder ferne Zukunft – und dies nicht etwa, weil man glaubte, fortan von anderen mehr erwarten zu dürfen. Man dachte, wußte auf einmal, daß man von sich selbst ungleich mehr fordern, mehr aus sich ›herausholen‹ könnte, als man es vorher je für möglich gehalten hätte. Gar mancher fühlte sich wie verwandelt, in einen anderen, besseren, klügeren, aktiveren Mitmenschen verwandelt. Und dieses Gefühl hielt einen Abend lang vor, einen Tag, eine Woche, manchmal länger. Obschon allmählich verblassend, mochte diese Wirkung fortdauern und nie mehr ganz verschwinden. Adlers Biografen, insbesondere die Frauen unter ihnen, haben häufig die ›Ausstrahlung‹ seiner Persönlichkeit dithyrambisch hervorgehoben. Ihre Schilderungen, zuweilen naiv und aus nekrologischer Begeisterung übertrieben, trafen jedoch im wesentlichen zu. Wer immer sich Alfred Adler ohne Mißtrauen oder Abneigung näherte, wurde von ihm zumeist auf wahrhaft sokratische Art empfangen. Diese Art befähigte ihn, auch dem unansehnlichsten Gesprächs254

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

partner das Gefühl der Gleichheit, der Gleichwertigkeit einzuflößen. Adler war gewiß ein ungewöhnlich ehrgeiziger Mann mit einem zwar gebändigten, doch keineswegs überwundenen Willen zur Macht – man wird darauf noch zurückkommen –, doch war es mehr als der Kunstgriff eines Menschenkenners oder als ein Mittel, schnell Kontakt herzustellen, es war gleichermaßen ein Ergebnis seiner Lebensphilosophie und ein Ausdruck seines Wesens, daß er sich zumeist so verhielt, als ob der andere, als ob ein jeglicher seinesgleichen wäre. Gewiss war Sokrates klug genug, um auch ohne das Delphische Orakel seine eigene Weisheit nicht zu verkennen und sie auch in seinen unzähligen Debatten nicht zu vergessen. Im Zwiegespräch aber verhielt er sich, als ob der andere selbstverständlich seinesgleichen wäre und nur eines Hinweises bedurfte, um aus eigener Einsicht zu eben so weisen, unwiderleglichen Schlüssen zu gelangen wie der weiseste der Griechen. Zum Unterschied von den professionellen Sophisten wandte er die Dialektik nicht an, um den anderen als Stichwortbringer für den eigenen Monolog zu mißbrauchen, sondern um in einem Dialog das überaus schwierige Wechselspiel der Ungleichen zu dramatisieren, in dem ein jeder zugleich ich und du ist. Und nur das eine, wenn er auch das andere ist. Auch deshalb schrieb Sokrates nicht; er brauchte das leibliche Gegenüber, den Partner – zum Unterschied von einem Schriftsteller, von Platon zum Beispiel, der seinen Monolog fiktiv in Dialog und Drama ausfächerte. Da jeder Vorzug so gut wie jeder Vorteil gewöhnlich aufgehoben werden muß, darf man annehmen, daß es nicht zuletzt seine sokratische Natur war, die Adler daran hinderte, seine Lehren schriftlich so überzeugend, eindrucksvoll und nachwirkend darzutun, wie es eben so häufig im Zwiegespräch gelungen ist. Fast ein halbes Jahrhundert, genau 48 Jahre, ist es her, daß dieser sokratische Dialogist mich ins Gespräch gezogen hat. Es hat kaum mehr als ein Jahrzehnt gedauert. Nun, da ich mich anschicke, über ihn und seine Lehre zu schreiben und noch weit ausführlicher über die Psychologie als angewandte Menschenkenntnis, wie sie sich mir heute darstellt, anbietet und zugleich verweigert, steigt die Erinnerung an jene ferne Zeit und jenen kleinen großen Mann übermächtig in mir auf. Mannigfache Meinungsverschiedenheiten, alle Bitternis eines Zerwürfnisses, der stumme Bruch schließlich, den er gewollt und fünf Jahre vor seinem verfrühten Tod herbeigeführt hat – nichts von alledem vermindert die Gewißheit, die ich an einem kalten Herbstabend im Jahre 1921 gewonnen habe: die Gewißheit, daß Alfred Adler seinen Jüngern, solange er ihnen vertraute und sich von ihrem Vertrauen getragen fühlte, ein unvergleichlicher Lehrer, Meister und Freund gewesen ist. Von ihm erfuhren sie ein für allemal, daß Meinung nichts ist im Vergleich zum Wissen und daß alles Wissen Stückwerk bleibt ohne das Verstehen. Er Manès Sperber

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lehrte jeden, die eigene Unzulänglichkeit zu erkennen und zugleich sich mit ihr so abzufinden, daß er fähig würde, sie zu überwinden, zu kompensieren oder gar zu überkompensieren. Im gleichen Atemzug belehrte er uns über die unfaßliche Nichtigkeit und über die unübertreffliche Größe des Menschen. In seinen besten Stunden bewies Adler durch das Beispiel, das er gab und das er selber sein konnte, daß, wer die Menschen in schmerzlicher Ironie durchschaut hat, sie nicht nur trotzdem, sondern eben deswegen lieben kann.256 […] Ein Psychoanalytiker, der nach dem »Abfall« Alfred Adlers und seiner Gefährten im Jahre 1911 seine Freundschaft mit dem Ketzer [d. i. Adler; GM] aufrechterhielt, kam zu ihm einmal mit einer schwierigen, nicht vorgesehenen Frage: Er behandelte einen über 30 Jahre alten Amerikaner seit Jahren. Endlich war es so weit, die Bewußtmachung war gelungen, der Mann akzeptierte alle Deutungen, natürlich auch jene, die seine inzestuöse Fixierung an seine Mutter bewies. Aber nun erklärte dieser Patient, daß er in der Tat mit seiner Mutter schlafen wolle. »Was tun?« fragte der Psychoanalytiker. Nach einem besonders langen Zug aus seiner Virginia antwortete Adler gelassen: »Sagen Sie Ihrem Patienten, daß, wenn er’s wirklich möcht’, dann soll er auch ganz ruhig …« Der Psychoanalytiker: »Um Gottes willen, was geschieht, wenn er es wirklich ausführt?« Darauf Adler, wenn möglich noch gemütlicher als sonst: »Aber gehn S’, verrückt ist ja nur er, nicht seine Mutter. Die Dame dürfte überdies recht betagt sein. Welcher Mann von dreißig Jahren, reich und gut aussehend, wird sich ein Liebesverhältnis mit einer alten Frau anfangen, wenn ihm das nicht wie dem Ödipus einen Königsthron einbringt oder einen sonst unerreichbaren Vorteil?«257 […] Während des Jahrzehnts, das dem Ersten Weltkrieg folgte, erreichte Adler, obschon bereits in den Fünfzigern, den Höhepunkt seines Schaffens. Sein Kreis erweiterte sich fortgesetzt, immer mehr Menschen zog es zu ihm hin, weil er den Eindruck vermittelte, daß er tiefe Menschenkenntnis und ungewöhnliche Klugheit mit echter Güte verbände. Er war tatsächlich in winzigen wie in wichtigen Dingen stets aufmerksam und hilfsbereit; er konnte, völlig posenfrei, mitten in einer Debatte aufstehen, um ein Fenster zu schließen, wenn er merkte, daß jemand sich gestört fühlte oder erkältet war. Hier darf ich eine sehr persönliche Erinnerung einschalten: Adler war dem blutjungen Menschen gegenüber, der ich damals war, ein durchaus uneigennütziger Freund, der weise und großzügig verwöhnen konnte und gleichzeitig fordernd förderte. […] In diesem Zusammen256 Sperber, Manès (1970): Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie. Frankfurt/M. u. a. 1993 (Klett-Cotta), S. 12–16. 257 Sperber, Manès (1970): Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie, S. 87 f.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

hang sei wiederholt, daß nichts von dem, was Alfred Adler schriftlich niedergelegt hat, eine angemessene Vorstellung von seiner Kunst vermittelt, alle Mittelbarkeit auszuschalten und einzelne im Zwiegespräch oder ein Publikum in Vorträgen unmittelbar so anzusprechen, daß sie das Gefühl haben konnten, mit ihm mitzudenken, mitzugehen, auch wenn sie völlig stumm blieben. Diese Eigenart wirkte umso erstaunlicher, als Adler zwar über einen reichen Wortschatz verfügte, jedoch ein relativ beschränktes Vokabular verwandte, wie es die meisten Fachleute gewöhnlich tun. […] Er kümmerte sich sonst wenig um die Formulierung dessen, was er zu sagen hatte, vielleicht auch deshalb, weil ihn stets das Gefühl bedrängte, daß die Zeit zu schnell verrann und so ungeheuer viel zu tun übrig blieb. Um des Wesentlichen willen, dachte er, dürfte, müßte man alles, was nicht wesentlich war, etwa die Form, vernachlässigen. Das ist verwunderlich, denn Adler hatte Sinn für Formen, nicht nur in der Musik, sondern wo immer es um die so mannigfachen Ausdrucksweisen ging, in denen sich der Charakter gleichermaßen verhüllt und verrät. Er riet seinen Schülern: »Wenn Ihnen das, was der Patient sagt, widersprüchlich und verwirrend vorkommt, dann schließen Sie die Ohren und öffnen Sie weit die Augen. Schauen Sie ihm genau beim Reden zu, und Sie werden auf einmal ganz genau verstehen, was er Ihnen nicht sagt.« Wie sonst nur große Humoristen, erfaßte Adler die kaum merkliche Eigenart in Ausdrucksweise, in Gebärden und Bewegungen; er hatte einen stets wachen Sinn für jede Art von Komik, insbesondere für all das, was sich darin enthüllte. […] Was ich auf diesen Seiten über Alfred Adler ausgesagt habe, und gar vieles, was in einer detaillierteren, indiskreteren Schilderung, die ich nie schreiben würde, am Platz wäre, bezieht sich auf den Mann, den ich zwischen 1921 und 1931 aus der nächsten Nähe kennenlernen durfte. Ich habe den Fünfzigjährigen leben sehen. Außer während der Ferien und wenn er auf Reisen war, verging bis 1928 kaum ein Tag, an dem ich ihm nicht in seinen Kursen oder in den Sitzungen, zu denen sich ein engerer Kreis um ihn versammelte, und jedenfalls an seinem Stammtisch im Café Siller begegnete, wo sich seine Mitarbeiter und seine verläßlichsten Anhänger allabendlich einstellten. Auch wenn der Tag noch so anstrengend gewesen war und wenn ihn die Arbeit, wie es gar oft geschah, bis in den späten Abend beansprucht hatte, kam er doch noch ins Café und begrüßte jeden mit einem guten Wort. Man brach nicht auf, ehe er laut erklärte: »Na also, jetzt is ka Schand’ mehr, nach Haus zu gehn.« Häufig blieb ich dann noch mit ihm allein bis spät nach Mitternacht. Wir mochten dann in irgendeinem der Beisel hinter dem Kai noch etwas trinken und essen. Manchmal war er es, der ganz allein sprach. Vielleicht weil sein junger Begleiter sehr aufmerksam zuzuhören verstand und seine Augen Zustimmung Manès Sperber

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oder anregenden Zweifel lebhaft ausdrückten, sprach sich der ältere Mann so ungehemmt aus, wie er sonst wohl kaum Gelegenheit und fast nie Neigung hatte, es zu tun. Öfter noch kam es zu wirklichen Zwiegesprächen. Adler interessierte es, zu erfahren, was junge Menschen über seine Lehre und über die verschiedenen Probleme der individualpsychologischen Bewegung denken mochten. Daß ich im Stande und geneigt war, vieles in einer anderen, als der Fachsprache auszudrücken, ja daß ich nicht verhehlte, wie sehr mich diese manchmal störte – auch das, glaube ich, zog ihn an. Doch später, nach dem Bruch, stieß es ihn um so entschiedener ab, als er darin ein Zeichen des Verrats witterte. […] Und ebenso wie Freud (und übrigens wie alle Despoten) ertrug auch Adler den Gedanken nicht, daß man von ihm abfallen könnte; ihnen allen scheint es in solchen Fällen entscheidend wichtig, dem Abfall durch Ausstoßung zuvorzukommen. Das tat auch Adler, sobald er einen Verdacht geschöpft hatte. […] Adler handelte immer, als wäre es an ihm, und nur an ihm allein, seine Lehre wie eine Botschaft zu verbreiten, die die Menschen, ohne es zu wissen, dringender brauchen als einen Bissen Brot. So viele Getreue, eifrige Apostel umgaben ihn, aber er wollte die ganze Last tragen. Je älter er wurde, umso entschiedener, ja aggressiver wurde sein Optimismus. Er begründete ihn mit der Macht des Gemeinschaftsgefühls, das er für unbesiegbar hielt; er sagte ihm eine große Zukunft, er sagte ihm die Zukunft der Menschheit voraus. Dies nicht zuletzt auch, weil er davon überzeugt war, daß seine eigene Lehre immer mehr Einfluß auf die Erzieher gewinnen würde, sodaß diese die neue Generation zu freien kooperativen Menschen im Sinne des Gemeinschaftsgefühls erziehen würden. […] Doch der skeptische, ironische Durchschauer und Menschenkenner beharrte in seinem Vertrauen auf die rettende Kraft des Gemeinschaftsgefühls.258

Friedrich Torberg Friedrich Torberg (1908–1979) wurde bekannt als Theaterkritiker und Herausgeber der antisozialistischen, kulturpolitischen österreichischen Zeitschrift »Forum« (1954–1966). Aus seinem gescheiterten Mathematikabitur machte der 21-Jährige seinen ersten Erfolgsroman »Der Schüler Gerber hat absolviert«. 1975 erschien seine Anekdotensammlung vom Untergang der Donaumonarchie und der unnachahmlichen Wiener Kaffeehaus-

258 Sperber, Manès (1970): Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie, S. 121.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

kultur »Die Tante Jolesch«, der er 1978 wegen des Erfolgs »Die Erben der Tante Jolesch« folgen ließ. Aus Letzterem stammt folgende Passage:259

Als Anfang 1930 mein Erstlingsroman vom »Schüler Gerber« erschienen war, brachte mir eines Tages Doktor F., ein junger, zu meinem engsten Freundeskreis gehöriger Adler-Schüler, das neueste Heft der monatlich erscheinenden »Zeitschrift für Individualpsychologie« mit einer seitenlangen Besprechung meines Romans, aus der hervorging, daß das seelische Charakterbild des Helden sich ziemlich genau mit den Thesen der Individualpsychologie deckte. Nun hatte ich von diesen Thesen (anders als von denen der Psychoanalyse) bis dahin so gut wie nichts gewußt und war – ich zählte damals wenig mehr als 21 Jahre – von der Beachtung und Anerkennung, die mir da zuteil wurde, gleichermaßen überrascht und geschmeichelt. Gewissermaßen als Gegenleistung begann ich mich mit der Adlerschen Lehre zu beschäftigen, fühlte mich von ihr in hohem Maß angesprochen, ja überzeugt – kurzum: ich wurde ein Anhänger der Individualpsychologie (der ich geblieben bin), und als Doktor F. mir bald darauf mitteilte, daß Alfred Adler mich kennenzulernen wünsche, durfte ich mich schon einigermaßen vorbereitet fühlen. Daß ich überdies von der Aussicht auf eine persönliche Begegnung mit ihm begeistert war, geschah nicht ganz ohne Hintergedanken, die ich hier redlicherweise preisgeben muß: Ich befand mich nämlich in einer Verfassung, die man nur deshalb nicht als Pubertätskrise bezeichnen kann, weil sie kein temporärer, sondern ein seit langem standhaft andauernder Zustand war, an dem auch der Erfolg meines Romans nichts ändern konnte. Und ich zweifelte keinen Augenblick, daß Adler, den ich für eine Art Wunderrabbi hielt, das richtige Heilmittel für mich parat hätte. Das von mir mit so überschwenglicher Hoffnung erwartete Zusammentreffen fand im Café Siller statt. Adler machte auf mich den späterhin immer aufs neue bestätigten Eindruck eines umgängigen, fast schon gemütlichen Mannes aus der Wiener Vorstadt, wozu auch seine dialektgefärbte Ausdrucksweise und die von ihm gerauchte Virginier (die traditionelle Lieblingszigarre der Fiakerkutscher) einiges beitrug. Er hatte es in keiner Weise darauf angelegt, sich stelzbeinig oder bedeutungsschwer in Szene zu setzen – der leider unübersetzbare englische Ausdruck »down to earth« würde ihn (wie übrigens auch seine Lehre) am besten charakterisieren. Ich hatte sofort Vertrauen zu ihm, und je weiter das Gespräch fortschritt, desto sicherer war ich, daß es mir die ersehnten Ratschläge zur Bewältigung meiner Schwierigkeiten bringen würde. 259 Torberg, Friedrich (1978): Die Erben der Tante Jolesch. München 1990 (dtv), S. 124–127. Friedrich Torberg

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Als Adler sich ausdrücklich und aufmunternd erkundigte, wie ich denn mit dem Leben zurechtkäme und was für Probleme ich hätte, schien mir der große Moment gekommen. Ich möchte sein Wohlwollen nicht mißbrauchen, begann ich, aber da er mich nun schon fragte … und dann sprudelte ich los, dann begann ich ihm meine kleinen, banalen Wehwehchen aufzutischen, die ich natürlich für einmalige, noch nie dagewesene Katastrophen hielt: ich fühlte mich von meiner Umgebung nicht richtig eingeschätzt, besonders von ihrem weiblichen Teil, das läge wohl an meinen Minderwertigkeitsgefühlen (womit ich – vermeintlich raffinierterweise – auf eine der Adlerschen Grundthesen abzielte), ich hätte Hemmungen, ich könne mich immer nur unglücklich verlieben – die, die ich liebe, bekomme ich nicht –, die, die ich bekomme, liebe ich nicht –, natürlich wirke sich das auch nachteilig auf meine Arbeit aus, mit der es nicht vorwärtsgehen wolle – Ungefähr an dieser Stelle merkte ich, daß Adler von meinen Mitteilungen in keiner Weise erschüttert war. Sie schienen ihn sogar zu langweilen, denn er trommelte mit den Fingern ziemlich unverhohlen auf die Tischplatte. Betreten brach ich meinen Redeschwall ab. »Hm«, machte Adler. »Was ich da von Ihnen gehört hab – finden Sie das in Ordnung?« Neue Hoffnung durchflutete mich. Jetzt, im nächsten Augenblick, würde er mir das heilende Rezept verabreichen. Gierig an seinen Lippen hängend, beugte ich mich vor: »Nein, Herr Professor!« Adler drehte die Handflächen nach oben: »Na also«, sagte er in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, daß er den Fall für gelöst hielt, und zwar durch mich gelöst. Offenbar war damit, daß ich das alles nicht in Ordnung fand, alles in Ordnung. Wie recht er hatte, und daß in diesem Rechthaben eines der Fundamente seiner Seelentherapie beschlossen lag, ist mir erst nach und nach aufgegangen. Und von da an war ich gegen die wehleidige Überschätzung meiner Kümmernisse gefeit. […] Ich habe Alfred Adler späterhin noch mehrmals gesehen und habe Gespräche mit ihm geführt, von denen ich heute noch zehre. Einmal wurde ich von ihm zu einem der »Privatseminare« zugezogen, die in seiner Wohnung auf der Dominikanerbastei stattfanden, auf ungefähr zwei Wochen verteilt und mit insgesamt zwanzig Teilnehmern, zehn davon individualpsychologisch geschulte Ärzte und zehn »interessierte Laien«, größtenteils freien Berufen angehörig: ein Maler, ein Komponist, ein Schauspieler, ein Schriftsteller und etliche Wissenschaftler aus verschiedenen Fächern. Wenigstens einer der nachhaltigen Eindrücke, die ich damals mitbekam, sei hier festgehalten. 260

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Am Schluß einer Seminarstunde wurden – was mit dem besprochenen Thema zusammenhing – die »Laien« von Alfred Adler aufgefordert, sich einer nach dem andern in einen Nebenraum zu begeben und seiner Sekretärin je einen Traum und eine Kindheitserinnerung zu diktieren – in die Schreibmaschine, denn aus der Handschrift könnten Schlüsse gezogen werden. Er, Adler, würde dann die einzelnen Texte ihren Verfassern zuordnen. Überflüssig zu sagen, daß das Zauberkunststück gelang: nach flüchtigem Überlesen verteilte Adler jedes der Blätter an den, der es diktiert hatte. Auch ich bekam das meine sofort eingehändigt. Adler zögerte keine Sekunde – und ich hatte mir doch die größte Mühe gegeben, ihn irrezuführen, hatte neben einem völlig indifferenten Traum eine Kindheitserinnerung diktiert, von der ich sicher war, daß er sie für die des Malers halten würde. Sie bezog sich auf die Theateraufführung eines Märchens, die ich mit meiner jüngeren Schwester an einem Sonntagnachmittag besuchen sollte; infolge eines Irrtums unsres Kinderfräuleins waren wir verspätet aufgebrochen, ich war ungeduldig vorangelaufen, war im Haustor gestolpert und hingefallen und vermerkte im Diktat meine genaue Erinnerung daran, daß das Drahtgeflecht des Schuhabstreifers auf meinen weißen Strümpfen ein schwarzes, quadratisches Muster eingezeichnet hatte. Mit diesem optischen Detail wollte ich Adler auf die falsche Spur des Malers lenken. Ich gestand ihm das nachher ein, fragte ihn, warum mein Versuch mißglückt war, und bekam die folgende Auskunft: »Weil an Ihrer Erinnerung nicht das Optische entscheidend ist, sondern das Detail. Ein Maler hätte sich vielleicht an das Straßenbild vor dem Haustor erinnert, an die Luft, an die Stimmung der ganzen Szenerie. Schriftsteller erinnern sich an Kleinigkeiten, die ein andrer gar nicht wahrnimmt. Sie werden noch merken, welche Rolle das Gedächtnis für Details auch bei Ihnen spielen wird.« »Und was, Herr Professor, wenn ich die ganze Geschichte erfunden hätte?« »Das hätte keinen Unterschied gemacht«, antwortete Adler nachsichtig. »Man erkennt einen Menschen an seiner Lüge genauso gut wie an seiner Wahrheit, auch das werden Sie noch lernen.« Es waren Formulierungen dieser Art, mit denen Adler selbst den kom­pli­ ziertesten Sachverhalt zu durchleuchten wußte. Einem meiner Freunde, der sich viel darauf zugute tat, daß er sowohl seine Gattin wie seine Geliebte mit der gleichen Aufmerksamkeit behandelte, sagte er: »Das ist ja nicht schwer. Zwei Frauen sind weniger als eine.« Wenn’s ihm drauf ankam, besaß er freilich auch die Fähigkeit, sich auf hinterhältige Weise dumm zu stellen. Ich habe noch den Tonfall im Ohr, mit dem er in einem Vortrag über »Verbrechen und Strafe« eine der von ihm verworfenen psychoanalytischen Theorien abtat: Friedrich Torberg

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»Herr Professor Freud«, begann er tastend, »ist der Meinung, daß ein Verbrecher seine Tat auch deshalb begehen könne, um –« (er betonte dieses Wort mit ungläubigem Nachdruck und wiederholte es) – »um bestraft zu werden. Ja, also …« (jetzt schüttelte er den Kopf) »… bitte …« (verstärktes Kopfschütteln, gefolgt von einer resignierten Geste) »… ich versteh das nicht.« Und es klang wahrhaftig so, als hätte Alfred Adler noch nie etwas von Masochismus gehört. Er verstand auch nicht, warum ein junger Zuhörer seines Vortrags über den Generationenkonflikt ihn nachher um eine Unterredung bat. Adler war in diesem Vortrag besonders heftig über die Freudsche Lehre vom Ödipus-Komplex hergezogen, und das schien den jungen Mann zu beunruhigen. Zaghaft und stotternd begann er seine eigene Situation zu schildern, genauer: das Verhältnis zu seiner Mutter, mit der ihn große Zuneigung verbinde und deren Zärtlichkeit ihm unentbehrlich sei … ja er müsse gestehen, daß ihn beim Austausch dieser Zärtlichkeiten manchmal die sonderbarsten Regungen überkämen, über die er sich nicht recht klar werden könne … aber es schiene ihm, als wären sie zwischen Mutter und Sohn nicht unbedingt am Platz … er wisse nicht, wie er sich ausdrücken solle … Adler hörte ihm mit wachsender Ungeduld zu und bekundete das durch sein mir bekannt gewordenes Fingertrommeln. »Also bittschön«, unterbrach er schließlich den Stammelnden. »Was wollen S’ denn eigentlich von der alten Dame?!«

Leo Trotzki Leo Trotzki (1879–1940) war eine der wichtigsten Figuren der russischen Revolution. 1917 schloss er sich den sozialrevolutionären Bolschewiki an. Trotz ideologischer Gegensätze avancierte er zum engsten Mitarbeiter Wladimir Lenins und zählte zu den führenden Organisatoren der Oktoberrevolution. Trotzki führte 1918 die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk und wurde zum Volkskommissar für Verteidigung ernannt. In dieser Funktion organisierte er die Rote Armee. Nach dem Tod Lenins 1924 kam es zu einem erbitterten Machtkampf mit Stalin, in dem Trotzki unterlag. 1925 wurde er als Kriegskommissar abgesetzt, 1927 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und zwei Jahre später des Landes verwiesen. Er lebte einige Zeit in Wien und lernte Adler kennen, vermutlich über ihre jeweiligen Ehefrauen, die häufigen Kontakt hatten. Adler nannte Trotzki später einen Psychopathen. – Trotzki wie Adler waren mit Adolf Joffe (1888–1927) bekannt. Joffe lernte Adler um 1903 in Berlin kennen und wurde von ihm später in Wien psychoanalytisch behandelt. Joffe war fünf- bis sechsmal pro Woche bei Adler zur Therapie. Diese war teuer, doch Joffe verfügte über erhebliche Mittel, denn sein 262

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Vater war ein reicher Kaufmann auf der Krim. Wie lange die Behandlung dauerte, weiß man nicht. 1908 schloss Joffe in Wien seine Ausbildung als Arzt ab. In Wien lernte er Leo Trotzki kennen, dessen Freund und Weggefährte er wurde. Gemeinsam mit Trotzki gab er von 1906 bis 1912 die russischsprachige Zeitung »Prawda« (Wahrheit) heraus, die nicht mit dem späteren Leitorgan der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zu verwechseln ist. Joffes abenteuerliches Leben führte ihn in höchste Staatsämter der jungen Sowjetunion. Aus Protest gegen Trotzkis Entmachtung beging er 1927 Selbstmord.260 – Im mexikanischen Exil schrieb Trotzki mehrere Bücher, darunter »Die permanente Revolution« (1930), »Mein Leben« (1929) und »Stalin« (1941), Letzteres eine Abrechnung mit dem despotischen und autoritären Stalinismus. Am 21. August 1940 wurde Trotzki in Stalins Auftrag im mexikanischen Exil ermordet. Er erwähnt Adler in seiner Autobiografie »Mein Leben« nur zwei Mal und nur ganz kurz.

Mein Hauptmitarbeiter an der [Wiener] »Prawda« war Adolf Joffe, der später bekannte Sowjetdiplomat. Seit den Wiener Tagen datiert unsere Freundschaft. Joffe war ein Mann von hoher Geistigkeit, großer persönlicher Weichheit und der Sache unverbrüchlich ergeben. Er opferte der »Prawda« seine Zeit und seine Mittel. Wegen einer nervösen Krankheit stand Joffe in psychoanalytischer Behandlung bei dem bekannten Wiener Arzt Alfred Adler, der als Schüler von Professor Freud begonnen hatte, sich dann aber in Opposition zu seinem Lehrer stellte und eine eigene individualpsychologische Schule gründete. Durch Joffe wurde ich mit den Problemen der Psychoanalyse bekannt, die mir sehr verführerisch erschienen, obwohl auf diesem Gebiet vieles sehr schwankend und unbeständig ist und den Boden für Phantastik und Willkür öffnet. […] Die Anpassungsfähigkeit der Kinder [gemeint sind Trotzkis Kinder] ist unermesslich. Da wir in Wien meistens im Arbeiterviertel gelebt hatten, beherrschten die Jungen außer Russisch und Deutsch auch den Wiener Dialekt vorzüglich. Doktor Alfred Adler pflegte vergnügt zu sagen, sie sprechen wienerisch wie ein guter alter Wiener Fiakerkutscher.261 In den Jahren meines Wiener Aufenthalts hatte ich recht engen Kontakt zu den Freudianern, las ihre Werke und besuchte gar mitunter ihre Zusammenkünfte […] Einen ersten, im übrigen recht knappen Einblick in die Geheimnisse der Psychoanalyse erhielt ich vom Renegaten und nunmehrigen Oberpriester der neuen Sekte persönlich. Mein wirklicher Führer durch die Gefilde jener damals 260 Die Einzelheiten zu Joffe stammen aus dem Wikipedia-Eintrag »Adolf Joffe«, Zugriff am 13. 05. 2010. 261 Trotzki, Leo (1929): Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Berlin 1990 (Dietz Verlag), S. 200 u. 250. Leo Trotzki

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noch weithin unbekannten Ketzerlehre war jedoch Joffe. Als junger Mediziner war er Anhänger der psychoanalytischen Schule, als Patient hingegen leistete er den nötigen Widerstand und verlieh dergestalt seiner psychoanalytischen Propaganda eine skeptische Note.262

Sophia de Vries Sophia J. de Vries wurde in Arnhem, Holland, im Februar 1901 geboren, sie war das jüngste von vier Kindern. Sie erwarb einen Bachelorabschluss in Erziehung und begann 1919, mit lernschwachen Kindern zu arbeiten.263 Ihren ersten Eindruck von adlerianischen Ideen erhielt sie von Fritz Künkel, der damals ein populärer Vortragender zum Thema »schwierige Kinder« war. 1922 studierte sie eine Zeit lang die Montessori-Pädagogik. 1933 bildete sie sich an der Universität Amsterdam in Psychologie weiter. 1935 ging sie nach Wien, wo sie Unterricht bei Alfred Adler, Lydia Sicher, Alexander Müller, Rudolf Dreikurs, August Aichhorn und Karl Bühler nahm. Ihre Lehranalytikerin war Lydia Sicher, eine der ersten Mitarbeiterinnen Adlers, und ihr Supervisor Alexander Müller, ebenfalls ein enger Mitarbeiter Adlers. In ihrer Wiener Zeit arbeitete sie zusammen mit Charlotte Bühler in der »Kinderübernahmestelle«264. Diese war 1925 von der Gemeinde Wien eröffnet worden. Die vom Arzt und Politiker Julius Tandler begründete Institution des sozialdemokratisch regierten Wien diente bis 1998 der vorübergehenden Unterbringung, Beobachtung und Weitervermittlung von sozial auffälligen Säuglingen, Kindern und Jugendlichen. Zum Zeitpunkt ihrer Errichtung galt sie international als vorbildliche soziale Einrichtung. Der Zweite Weltkrieg zwang Sophia de Vries zurück ins besetzte Holland. Nach dem Krieg konnte wieder adlerianische Therapie und Theorie gelehrt werden. Als Dozentin arbeitete sie in Amsterdam mit Alexander Müller zusammen. 1948 immigrierte sie in die USA und siedelte sich 1952 in Nord-Kalifornien an, wo sie Einzelfallhilfe für das Lincoln Child Center in Oakland leistete und zugleich in eigener Praxis Fälle behandelte. Sie schloss sich eng an das Alfred Adler Institute in San Francisco an. Unter anderem übersetzte sie Schriften von Alexander Müller und Alfred Adler, was zum »Adlerian Translation Project« führte. In diesem Rahmen wurden im Laufe von Jahren »The Collected Clinical Works of Alfred Adler« herausgegeben. – Es stehen von Sophia de Vries ein kurzer Text und ein Video-Interview zur Verfügung, in denen sie 262 Zitiert nach Etkind, Alexander (1996): Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Russland. Leipzig (Kiepenheuer), S. 287 f. 263 Biografische Skizze von Sophia de Vries unter http://www.adlerian.us/dev-bio.htm, Zugriff am 26. 06. 2013. 264 Zur Kinderübernahmestelle siehe Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Julius-TandlerFamilienzentrum, Zugriff am 23. 06. 2013.

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

über ihre Begegnungen mit Adler spricht. Zunächst der Text »Close Encounters With Alfred Adler«265, anschließend die Transkription und Übersetzung eines Ausschnitts eines Interviews mit Henry Stein am 20. Mai 1980 in San Francisco.266

Alfred Adler zu treffen war ein Ereignis, das man lange in Erinnerung behielt. Ich erinnere mich an unser erstes Treffen und die bereichernden, die folgten und die den ersten Eindruck bestätigten. Während er seine Hand ausstreckte, bohrten sich seine Augen hinter einer irgendwie altmodischen Brille ins Mark, gleichzeitig forschend und freundlich. Wenn der warme Händedruck es nicht ohnehin vermittelt hätte, die Offenheit seines Gesichts sagte: »Es freut mich, Sie zu treffen. Wer immer Sie sind, ich achte Sie. Lassen Sie uns reden.« Was wir besprachen, lässt sich kaum wiedergeben. Vielleicht waren es technische Details, die er in seinen Vorlesungen erwähnt hatte. Ich verließ die Unterredungen mit dem Gefühl, dass Adler mich schon mein ganzes Leben lang kannte, mich in- und auswendig kannte und meinem Wissen ein ganzes Semester hinzugefügt habe. Sein Denken war flink und er gab uns, was er wusste. Je mehr wir seinen Vorlesungen folgten, desto mehr lernten wir über seine Technik und seine Begegnung mit Menschen, die Hilfe brauchten. Vieles davon kann nicht in Lehrbücher gepackt werden: Intonation, Gestik, Körperausdruck, Empathie müssten miterlebt werden. Adler hatte Achtung vor seinen Patienten, was eine Atmosphäre der Offenheit erzeugte und seinen Willen ausdrückte, durch einen sprudelnden Brunnen von Wissen zu helfen. Die Beziehung kam immer zuerst, sofort gefolgt von Ermutigung, was den Patienten fühlen ließ, dass er wertvoll sei und hoffnungsvoll sein könne. Wenn er Beispiele vorstellte, benutzte er oft die Sprache, die er mit seinen Patienten gesprochen hatte. Die Wortwahl war an die Verständnisfähigkeit der Patienten angepasst. Hier war also ein Therapeut, der, in sorgsamer Annäherung, schnell zum Kern des Problems vorstieß und der die einfache Alltagssprache aus dem Vokabular des Patienten verwendete. Ein menschliches Wesen, welches eine Behandlung anbot, die leicht angenommen werden konnte, weil sie logisch präsentiert wurde. Manchmal ließ er den vom Patienten imaginierten Berg mit einem Satz zu jenem Maulwurfshügel werden, der er wirklich war. Eine junge Frau, die als Sekretärin im Büro ihres Vaters arbeitete, beklagte sich bitterlich, dass ihr Vater immer so viele Briefe diktierte, wenn sie sich mit 265 Vries, Sophia de (1996): Close Encounters With Alfred Adler, http://www.adlerian.us/newslett. htm, Zugriff am 23. 06. 2013. 266 Ein Ausschnitt daraus in einer Länge von 2:30 min ist unter http://www.youtube.com/ watch?v=TS4OeEpwbKM zu sehen, Zugriff am 23. 06. 2013. Sophia de Vries

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ihrem Freund zum Ausgehen treffen wollte. »Kennt Ihr Vater ihn?«, fragte Adler. »Er weiß nicht einmal, dass ich einen Freund habe«, lautete die Antwort. »Dann macht er es ja nicht absichtlich.« Die junge Frau fand bald heraus, dass das Problem nicht ihr Vater sei, sondern die Beziehung zu ihrem Freund, die sich in ihrem Zögern ausdrückte, ihrer Familie von ihm zu erzählen. Im letzten Jahr, in welchem Adler in Holland Vorlesungen hielt, durfte ich ihn in meiner Heimatstadt vorstellen. Das gewählte Thema lautete »Gemeinschaftsgefühl« – Sozialinteresse und Verantwortung. Adler erläuterte, das Ziel in der Erziehung sollte niemals Wissensanhäufung oder das Erreichen des höchsten Abschlusses sein. Wissen allein reicht nicht aus, es ist die Anwendung des Wissens, die das Wohlbefinden der Menschheit und die weitere Entwicklung verbessern oder zerstören kann. Darum sollte das Kind im frühen Alter lernen, wie wichtig es ist, das, das Gelernte im Hinblick auf die positiven Seiten des Lebens anzuwenden und sich als ein Teil des Ganzen zu fühlen: als Teil seiner Familie, seiner Schulklasse, seiner Lebensgemeinschaft. Wenn etwas schiefläuft, sollte das Kind lernen, seinen Teil der Verantwortung zu tragen und seine Fehler zu korrigieren. Adler erläuterte »Gemeinschaftsgefühl« und schloss mit den Worten: »Ich habe auf Ihre Schultern die Bürde der Verantwortung gelegt – weil jene, die das Wissen haben, die Aufgabe haben, der Menschheit zu helfen in Richtung auf den nächsten Schritt in eine bessere Welt.« Alle, die Adler kannten und verstanden, können nicht anders, als seine Botschaft für den Rest ihres Lebens mit sich zu tragen. Aus dem Video-Interview mit Sophia de Vries im Jahre 1980:

Ich glaube, das erste Mal sah ich Adler, als er eine Vorlesung hielt. Und da sah man diesen untersetzten Mann, wie er auf das Podium stieg, mit dem freundlichsten Ausdruck auf dem Gesicht, den man sich vorstellen kann. Und er fing sofort an zu sprechen, er hatte eine wunderbare Stimme, und es war absolut still, sodass man sehr klar hören konnte, was er sagte, und er präsentierte, was er sagte, sehr logisch, sehr folgerichtig. Er hatte niemals Notizen, er improvisierte immer. Es gab einen enormen Applaus und normalerweise gab es eine weitere Stunde für Fragen, er war sehr großzügig mit seiner Zeit, sehr großzügig. Und er hatte eine enorme Energie; er hielt Vorlesungen am Morgen und am Nachmittag und am Abend. Und er stellte sich sofort auf die Zuhörerschaft ein, die er vorfand. Ich hörte jedes Mal zu, wenn er sprach, auch an der Universität vor den Studenten und vor dem Lehrkörper. Dann wählte er andere Worte, als wenn er vor einem allgemeinen Publikum sprach. Er passte seine Sprache an die Menschen an, die vor ihm saßen. Er benutzte eine viel theoretischere Sprache, wenn er vor Studenten oder Heilberuflern sprach, als wenn er vor Laien sprach. 266

Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Nachrufe Alfred Adler starb am 28. Mai 1937 auf einer Vortragreise in Aberdeen, Schottland, an einem Herzinfarkt. Er war schon vorher krank und abgeschlagen, verordnete sich aber ein unbarmherziges Arbeitspensum. Edward Hoffman fasst in seiner Adler-Biografie (1997) die Nachrufe in der Presse zusammen. Er verwendet dazu Artikel aus der »Neuen Freien Presse«, Wien, der Zeitschrift »New English Weekly«, der »Boston Globe«, der »Times« und der »New York Herald Tribune«.267

In seiner Heimatstadt Wien war der detaillierte Nachruf der »Neuen Freien Presse« wahrscheinlich der erste, der bewundernden Mitbürgern und auch langjährigen Gegnern die schockierende Nachricht brachte. Der Nachruf hob ihn hervor als »einzigartiger Denker, dessen Theorien seit Jahrzehnten im Mittelpunkt öffentlicher Diskussionen stehen und die ebenso viele begeisterte Anhänger wie erbitterte Gegner gefunden haben […] Alfred Adlers Name und seine Theorien sind weit über die Grenzen, nicht nur des heutigen Österreich, sondern auch über die der alten Monarchie hinaus gedrungen. In England und besonders in Amerika gilt er als einer der berühmten gelehrten Österreicher.« In England folgte die »London Times« dem Weg von Adlers einflußreicher Laufbahn auf seiner jüngsten Vortragsreise. In seiner »New English Weekly« lobte Herausgeber Mairet, daß Adler sein Schwergewicht auf die Erziehung als Kraft des sozialen Fortschritts gelegt hatte, und fügte hinzu: »Er hat noch mehr getan: seine Psychologie ist in sich selbst ein Grundriß der Ethik […] von beinahe konfuzianischer Einfachheit und konfuzianischem Realismus.« Auf der anderen Seite des Atlantiks berichtete der Nachrichtendienst der United Press ebenfalls über Adlers plötzlichen Tod in Schottland. Der Zeitungsbericht bemerkte, daß »er mit Freud zu den größten Psychologen der Welt gehörte«, und hob überwiegend die stürmische Beziehung der beiden Denker hervor. Die »New York Times« veröffentlichte ähnlich wie ihr Londoner Pendant einen detaillierten und ausgewogenen Bericht über Adlers einflußreiche Karriere. Einige Tage später nahm die »New York Times« seinen Tod zum Anlaß, eine generelle Reportage über die Psychoanalyse herauszubringen, in dem sie den offensichtlichen Popularitätsverlust der Psychoanalyse im Vergleich zum Kommunismus in den Kreisen der amerikanischen Intelligenz darstellte. Die 267 Hoffman, Edward (1997): Alfred Adler. München u. Basel (Ernst Reinhardt), S. 386 f. Nachrufe

267

»Times« bemerkte sarkastisch: »In der Blütezeit der Psychoanalyse waren ihre Jünger sicher, daß sie eine neue Wissenschaft sei; nun fangen sie an, sich zu fragen, ob sie wirklich eine Wissenschaft sei oder nur eine Art, deine Freunde ungestraft zu beleidigen.« Der vielleicht faszinierendste Nachruf in Amerika wurde von der »New York Herald Tribune« veröffentlicht. Wie die meisten Berichte bezeichnete er Adler als den »Vater des Minderwertigkeitskomplexes« und als ein Mitglied, zusammen mit Freud und Jung, des einflußreichen »Dreigestirns dessen, was beinahe ebenso eine neue Religion wie eine neue Wissenschaft werden sollte.« Diese drei Persönlichkeiten und ihre vielen Anhänger, bemerkte die »Tribune«, »sollten die geistigen Oberflächen ihrer Zeit erneuern und in der Zivilisation eine Wirkung hinterlassen, die recht gut […] mit der verglichen werden kann, mit der Charles Darwin eine vorangegangene Generation verwüstete.« »Adler, der das spezifische System der Psychoanalyse ablehnte und dessen Ansichten weniger dogmatisch, sondern mehr in Bewegung waren als die von Freud, hat vielleicht geholfen, einige der schlimmeren Auswirkungen der Schule zu korrigieren, während er dazu beitrug, ihr generelles Evangelium zu verbreiten«, gab die »Tribüne« zu verstehen. »Indem er irgendwo zwischen Freud, dem Wissenschaftler, und Jung, dem Propheten, stand, leistete er bei der Pionierarbeit dieses gewaltigen Dreigestirns einen unschätzbaren Dienst. Er hinterläßt sein Monument, wie die anderen es tun werden, inmitten der Welt.«

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Teil 2: Zeitzeugen über Alfred Adler

Teil 3

Über mich selbst Dr. Alfred Adler268

Schon als kleines Kind sehnte ich mich danach, im Freien zu sein und meine Kameraden zu treffen. Ich litt damals an Rachitis, weshalb meine Eltern gegen meinen Wunsch, an der frischen Luft zu spielen, nichts einzuwenden hatten. Das wurde durch die Tatsache erleichtert, dass ich am Stadtrand in einem der letzten Häuser Wiens aufgewachsen bin, wo sich weite Wiesen hinter dem Haus ausbreiteten und wir Kinder nach Herzenslust spielen konnten. Zahlreiche Kameraden, frische Luft und Sonnenschein ließen mich bald gesunden. Die Sympathie für die Gesellschaft anderer ist mir bis heute geblieben. Allerdings kam es bei unseren Spielen im Freien einmal dazu, dass ich einen anderen Jungen verletzte. Damals war ich zehn oder elf Jahre alt. Vor diesem Ereignis hatte ich wenig Neigung verspürt, mich um meine Schulaufgaben zu kümmern. Viel lieber spielte ich draußen. Die Verletzung, die ich dem Kameraden versehentlich zugefügt hatte, war keineswegs ernsthaft, aber sie berührte mich doch so stark, dass ich es danach vorzog, im Haus zu bleiben und dort zu arbeiten. Bis zu meinem dritten Lebensjahr litt ich an einem leichten Bronchialasthma, verursacht durch die Kontraktion der Stimmritze immer dann, wenn ich wütend war. Das erlebte ich als eine ziemlich schmerzhafte Situation, ja sogar so quälend, dass ich als Dreijähriger entschied, nie mehr wütend zu sein. Seitdem und bis heute bin ich nie wieder wütend geworden. Und mit der Wut verschwanden meine Atemaussetzer. Als Zweitgeborener war ich immer der Liebling des Vaters. Beide Eltern behandelten mich gut; aber wie jedes Kind in ähnlichen Umständen schloss ich mich stärker dem Elternteil an, der mich verwöhnte. Wie ich später verstand, 268 [Anmerkung im Original:] Organisator und Leiter von achtundzwanzig Kinderberatungsstellen. Wegen seiner großen Verdienste um die öffentlichen Schulen Wiens wurde er im Februar, zu seinem 60. Geburtstag, zum Ehrenbürger der Stadt Wien ernannt. Quelle: Adler, Alfred (1930): Something About Myself. In: Childhood and Character, 7 (7), April, S. 6–8, angekündigt als »The Life of a Famous Psychiatrist«. Übersetzt von Dr. Klaus Hölzer.

traf dies besonders nach der Geburt eines jüngeren Bruders zu, der mir naturgemäß einen Teil der mütterlichen Fürsorge entzog. Ich muss bereits ein sehr selbstgenügsames und unabhängiges Kind gewesen sein. Ich wusste sehr gut, welche Wege ich einzuschlagen hatte, und war freundlich zu jedermann. Nur wenige Schritte von unserem Haus entfernt befand sich das kaiserliche Schloss Schönbrunn. Schon so früh im Leben muss ich ein großer Blumenliebhaber gewesen sein; nichts konnte mich davon abhalten, die wunderschönen Blumen dieses Parks zu pflücken. Meine Laufbahn als Dieb war aber nur kurz, denn eines Tages verbot mir der Schlosswächter, den Garten zu betreten. Bei anderer Gelegenheit – es war immer noch im dritten Lebensjahr – zeigte sich meine übermäßige Liebe zur Musik in ungewöhnlicher Weise. Meine Eltern waren unterwegs auf einem kleinen Ausflug und hatten uns drei Kinder in der Obhut eines Kindermädchens zurückgelassen, um an der Hochzeit eines Verwandten teilzunehmen. Bei ihrer Rückkehr bereitete ich ihnen eine echte Überraschung. Ich stand auf dem Tisch und sang mit mächtiger Stimme einen damals populären Gassenhauer. Noch heute kenne ich den Text fast Wort für Wort. Es ging um eine Frau, die stolz auf ihr Mitgefühl war. Sie rühmte sich eines so zarten Herzens, dass es sie unglücklich machte, zu erleben, wie einem Huhn der Hals umgedreht wurde. Der Refrain lautete: Sie beweinte das arme Huhn im Topf, aber zerschlug Geschirr auf Huberts Kopf. Mein Vater hörte mit einem amüsierten Lächeln zu, bis ein schrecklicher Verdacht in ihm hochstieg – das Kindermädchen muss uns am Abend in ein Kabarett mitgenommen haben! Das Fräulein wurde auf der Stelle entlassen, und ich sicherte mir wieder ein Stückchen Freiheit. Kurz darauf erkrankte mein jüngerer Bruder an Diphtherie. Damals verstand man diese Krankheit kaum. Mein älterer Bruder und ich durften im selben Zimmer wie der Kranke schlafen, und niemand fürchtete sich vor Ansteckung. Unser Doktor schwor ganz besonders auf ein bestimmtes Heilmittel. Im Krankenzimmer ließ er heißes Wasser in eine große Wanne füllen, in die meine Mutter von Zeit zu Zeit lange Gräser und getrocknete Blüten kippte. Mein Bruder starb, wir anderen blieben gesund. Am Tag der Beerdigung brachte man mich zum Großvater. Das Begräbnis muss mich stark beeindruckt haben, denn man hatte mir oft gesagt, ich könne leicht an einem meiner Atemaussetzer sterben. Nach der Beerdigung sollte meine Mutter mich wieder nach Hause bringen. Ich kann mich noch deutlich daran erinnern, wie diese gute Frau – gut bis in die Tiefen ihrer Seele – ganz in Schwarz gekleidet und einen schwarzen Schleier tragend ununterbrochen weinte. Mein Großvater wollte sie trösten und flüsterte ein paar Worte, die ein Lächeln auf ihr Gesicht brachten. Er muss von einem möglichen Kindersegen in der Zukunft gesprochen haben. 272

Teil 3: Über mich selbst

Ihr Lächeln schockierte mich. Wie kann eine Mutter nur lächeln am Tag der Beerdigung ihres Kindes!

Der Anfang der Individualpsychologie Ist es denkbar, dass Kinder Tatsachen auf diese Weise missverstehen? Nein, keineswegs! Viel später wurde mir klar, dass ich mich dafür entschieden hatte, das Ereignis auf diese Weise zu interpretieren, weil ich gleich nach der Geburt meines Bruders kritisch gegenüber meiner Mutter eingestellt war. Es war derselbe Grund, weshalb ich mich von ihr ab- und dem Vater zugewandt hatte. Ich glaube, das Verständnis solcher Zusammenhänge hat sich als eines der solidesten Prinzipien der Individualpsychologie erwiesen: Wir akzeptieren die Eindrücke und Erfahrungen unserer Kindheit auf die Weise, wie wir bereit sind, sie zu akzeptieren, und wir reagieren auf eine Weise, wie wir uns zu reagieren angewöhnt haben. Wir leiden nicht unter dem Schock unserer Erfahrungen (dem sogenannten Trauma), sondern machen daraus genau das, was unseren Zwecken am besten dient. Ich verstand meinen Widerstand gegen meine Mutter noch besser, nachdem ich ihn an zwei anderen schwachen Erinnerungen wiedererkennen konnte. Die erste ist folgende: Nach einem Streit zwischen Vater und Mutter drehte ich mich voller Bewunderung zu ihm und rief: »Du bist tapfer wie ein Soldat!« Worauf er besorgt den Finger auf seine Lippen legte und mir zuflüsterte: »Du darfst niemand ein Wörtchen darüber erzählen.« Im zweiten Fall erinnere ich mich an einen Onkel aus der Familie meiner Mutter, der mich streng wegen meiner ewigen Halsstarrigkeit gegenüber der Mutter tadelte. Ich war regelrecht bestürzt. Bisher hatte ich diesen offensichtlichen Sachverhalt nicht bemerkt. Ich entschied mich, freundlicher zu ihr zu sein, und fand es umso leichter, als meine Mutter überaus gutmütig war. Nach diesem Vorfall widersprach ich meiner Mutter nie wieder, und bis heute halte ich sie für die beste aller Mütter.

Todesangst bestimmt den Beruf An die folgenden Ereignisse kann ich mich nur vage erinnern. Als Vierjähriger nahm mich ein älterer Junge mit aufs Eis. Er fuhr so schnell, dass ich ihn bald aus den Augen verlor und bitterlich frierend zurückblieb. Wie ich nach Hause kam, weiß ich nicht mehr. Müde legte ich mich auf eine Couch und schlief ein. Meine Mutter war mit Hausarbeiten beschäftigt. Sie hatte nichts Besonderes Alfred Adler

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an mir bemerkt. Mein Vater trat ins Zimmer und wie er mich sah, schrie er voller Angst, ich müsse sehr krank sein. Es wurde Nacht, und ich schlief. Mein Vater brachte einen Fremden an mein Bett. Ich wusste, das musste der Doktor sein. Er untersuchte mich, fühlte meinen Puls und sagte zum Vater: »Bemühen Sie sich nicht mehr. Der Junge ist verloren.« Ich verstand die Bedeutung seiner Worte sehr wohl und bemitleidete mich zutiefst, als ich an den Bruder dachte, der letztes Jahr gestorben war. Danach habe ich sehr lange geschlafen. Als ich erwachte, fand ich mich erneut in einer peinlichen und unerwarteten Situation. Wieder stand ein Fremder an meinem Bett, den ich ebenfalls für einen Doktor hielt. Vater und Mutter drückten meine Arme und Beine nach unten, und ich spürte starke Schmerzen an meinem linken Oberschenkel. Erschrocken schaute ich hin und sah das strömende Blut. Mehrere eklige Würmer lagen da herum, von denen ich später erfuhr, dass es Blutegel waren, und obwohl ich es unbedingt wollte, gelang es mir nicht, sie zu entfernen. Ich erholte mich schnell von der Lungenentzündung, die ich mir zugezogen hatte. In dieser Zeit hatte ich entschieden, Arzt zu werden, um mich in der Zukunft selbst gegen Krankheit und Tod zu schützen. Soweit ich mich zurückerinnern kann, war ich immer von Freunden und Kameraden umgeben, und meistens war ich ein geschätzter Spielkamerad. Wie ich bereits erwähnte, begann diese Entwicklung schon früh und hörte nie auf. Aus diesem Gefühl der Solidarität mit anderen ist vermutlich das Verständnis für die Notwendigkeit der Zusammenarbeit entstanden. Dieses Motiv ist zum Schlüssel der Individualpsychologie geworden. Geteiltes Leid und geteilte Freuden haben mir immer am meisten bedeutet. Auch wenn ich um die Position der Unabhängigkeit stark kämpfen musste, kann niemand, der mich je gekannt hat, sagen, ich hätte die Nöte eines Mitmenschen übersehen, oder wäre überehrgeizig gewesen. Mein erstes Buch handelt von Erkrankungen im Schneiderhandwerk. Nachdem ich mich in der Medizin zu Hause fühlte, kam ich zur Psychologie, zu der ich zunächst alle Zugänge verschlossen fand. Ich arbeitete selbstständig und hatte eine Theorie der Hysterie entwickelt, als Freud mich einlud, mit ihm und seinen Schülern Probleme der Neurose zu diskutieren. Es war gewiss nicht der rechte Platz für mich, sodass ich immer wieder versuchte, mich von der Gruppe zu lösen, die zu meinen Auffassungen weit mehr in Opposition stand, als dass sie ihnen zustimmte. Gegen meine innere Überzeugung blieb ich dabei, überredet von der Zusage, dass die Freiheit der wissenschaftlichen Auffassung für alle gelten sollte. Angesichts der zunehmenden Ablehnung meines eigenen Standpunktes, der sich von dem ihren so sehr unterschied, entschloss ich mich endgültig zur 274

Teil 3: Über mich selbst

Trennung von dieser Gruppe. Jeder, der die näheren Umstände kennt, weiß, dass meine besondere Situation von der Tatsache gekennzeichnet ist, dass ich niemals eine einzige Vorlesung von Freud besucht habe und dass ich der Einzige in der Gruppe war, der niemals erdulden musste, seinen geistigen Horizont durch Lehr- oder sonstige Analysen einengen zu lassen. Während meiner Diskussionen mit dieser Gruppe veröffentlichte ich verschiedene Artikel. Einer von ihnen, »Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose«, wurde sowohl für die Freud-Schule als auch für die Individualpsychologie ganz entscheidend, allerdings in sehr unterschiedlicher Art und Weise. Die Freudianer stützten darauf ihre »Instinkt- oder Triebtheorie«. In der Individualpsychologie leitete ich von der Aggression das Motiv der Kreativität im Ausdruck von Leben und seiner sozialen Struktur ab.

Die Entdeckung des Minderwertigkeitskomplexes Die »Studie über Minderwertigkeit von Organen« (1907) wurde außerhalb des Freud-Kreises sehr positiv aufgenommen. Zusammen mit anderen Arbeiten gilt sie als Grundlegung der konstitutionellen Pathologie und ihrer Bezüge zur psychischen Entwicklung. Das Buch wurde von den Freudianern nicht gerade herzlich begrüßt, und obwohl es bereits vor 23 Jahren erschien, wurde es erst in den letzten Jahren positiv erwähnt. Diese Anerkennung aus neuerer Zeit hob meine Selbstachtung ebenso wenig, wie die anfängliche Nichtbeachtung sie niederdrückte. Mit einigen Freunden gründete ich die Gesellschaft der Individualpsychologie, um unseren Standpunkt, unberührt von dogmatischen Einmischungen von außen, weiterzuentwickeln. Jetzt fühlte ich mich ausreichend vorbereitet, um das Buch zu schreiben, das zum Fundament der Individualpsychologie werden sollte – »Über den nervösen Charakter«, 1912. In dieser Arbeit beschrieb ich die Abhängigkeit aller psychischen Phänomene vom Erreichen des Zieles der Überlegenheit. Die herausragende Rolle des menschlichen Gefühls der Minderwertigkeit, seine Kompensation in positiver wie negativer Richtung und andere mit ihnen verbundene Probleme wurden umfassend erläutert. Die Einheit des Individuums in seinen tausendfältigen Variationen wurde allgemein als der charakteristische Gegenstand der Individualpsychologie anerkannt, und die Ableitung aller Symptome und ihrer Ausdrucksformen von dieser Einheit – später als Lebensziel bezeichnet – setzte sich durch. Gleichzeitig wurde die entscheidende Rolle der ersten Kindheitsjahre für die Ausbildung des Lebensstils erläutert. Mit dieser Entdeckung wurde der Determinismus in der Psychologie Alfred Adler

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an entscheidender Stelle durchbrochen. Das Individuum entscheidet selber, wann es besondere Erfahrungen oder Situationen (oft fälschlicherweise) zur Basis seines nachfolgenden Lebens macht. Mein nächstes Buch »Theorie und Praxis der Individualpsychologie« erschien 1918 nach der Publikation verschiedener Artikel und Essays. Das Buch »Menschenkenntnis« betont die breiteren und weniger technischen Aspekte der Individualpsychologie. Von meinen Publikationen des Jahres 1929 möchte ich die Titel »Problems of Neurosis« (Kegan Paul, London) (deutsch: »Neurosen«) und »The Science of Living« (Greenberg, New York) (deutsch: »Lebenskenntnis«) erwähnen. Derselbe New Yorker Verlag hat kürzlich (1930) einen Band, den ich mit Mitarbeitern verfasst habe – »Guiding the Child« – herausgegeben.

Johns Wandlung John war fünfzehn und konnte nicht lernen. Er war mürrisch, stur und widerspenstig, einer, der die ganze Schulklasse ständig in Aufruhr versetzte. Die Förderlehrerin befreundete sich mit John und fand heraus, dass er gerne mit den Händen arbeitete und mit Werkzeugen hantierte. Sie besuchte sein Zuhause und fand heraus, dass er zu einer »wilden Bande« gehörte. Er war schlampig, übel gelaunt, für sein Alter sehr groß und hasste es, in einer Klasse mit Kindern sitzen zu müssen, die halb so groß wie er waren. Intelligenztests ergaben, dass er einigermaßen normal war, nicht schwachsinnig, aber unter dem Durchschnitt. Das Leben lang musste er sich mit intelligenteren Kindern messen. Seine um eine gute Erziehung bemühten Eltern haben ihm seine vielen Misserfolge immer wieder vorgehalten. Was John brauchte, war, ein wenig Geschmack am Erfolg zu finden. Man empfahl, dass John Glaskästen für Blumen herstellte und dafür öffentliche Anerkennung bekam. Um seinen Interessen eine andere Richtung zu geben, wurde John dem YMCA269 vorgestellt, wo er boxen lernte und solide Kameradschaft fand. Anschließend wechselte er zu einer Gewerbeschule, wo er nicht mehr auf ihn überlegene, sondern auf intellektuell gleichwertige Mitschüler traf. John war begeistert, denn er liebte es, mit seinen Händen zu arbeiten. »Mir leuchtet das ein«, sagte er. »Es tut mir gut nach außen hin.« In wenigen Monaten war John ein veränderter Junge. Seine Energien konnten auf nützliche Dinge gerichtet werden. Seine Freunde hatten ihm geholfen, Aufgaben zu finden, bei denen er erfolgreich war. So gewann er Selbstvertrauen und machte seinen Weg. 269 Young Men’s Christian Association, deutsch: Christlicher Verein Junger Menschen (CVJM).

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Teil 3: Über mich selbst

Literaturhinweis

Edward Hoffman, Psychotherapeut in New York, ist Autor des Buches »The Drive for Self. Alfred Adler and the Founding of Individual Psychology« (1994), deutsch: »Alfred Adler. Ein Leben für die Individualpsychologie« (1997), aus dem Amerikanischen übersetzt von Eva Spur (München u. Basel: Ernst Reinhardt). Es ist die beste derzeit verfügbare Adler-Biografie. Die Zusammenstellung »Alfred Adler – wie wir ihn kannten« profitiert sehr von diesem akribischen Werk.

Quellennachweis

Wir danken für freundliche Abdruckgenehmigungen: Alfred Adler Institute of San Francisco (Anthony Bruck; Sophia de Vries) Hogrefe AG Verlag Hans Huber, Bern (Alexandra Adler in Ludwig Pongratz; Kurt Seelmann in Ludwig Pongratz; Ernest Jones) LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München (Friedrich Torberg) Passagen Verlag, Wien (Beatrice Uehli Stauffer) Ernst Reinhardt Verlag, München u. Basel (F. G. Lennhoff; Carl Furtmüller) Stiftung der Werke von C. G. Jung, Zürich (Carl Gustav Jung) Wallstein Verlag, Göttingen (Albert Ehrenstein) Henri Zerner, Paris (Sofie Lazarsfeld) Die Werke von Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé sind inzwischen ge­ meinfrei.

Herausgeber und Verlag ist es nicht immer gelungen, die Rechteinhaber zu identifizieren bzw. zu kontaktieren. Etwaige Rechteinhaber mögen sich bitte melden: Dr. G. Mackenthun, Eberbacher Str. 4, 14197 Berlin E-Mail: [email protected]

Namenregister

A Aberdeen 21, 25, 46, 56, 90, 103, 115, 125, 169, 175, 267 Adler, Alexandra 13, 18, 22, 26, 29, 38, 59, 76, 86, 115, 125, 128, 130, 277 Adler, Kurt A. 7 f., 13, 18, 26, 30, 58, 116, 125, 127, 129 ff., 134 f., 206, 277 Adler, Margot 129 Adler, Nelly (Cornelia) 13, 18, 28, 31, 52, 125, 127 f., 130, 151 Adler, Raissa 108, 134 f. Adler, Tanya 129 Adler, Valentine 130 Aichhorn, August 191 f., 195, 264 Andreas-Salomé, Lou 161 f., 222, 224, 278 Ansbacher, Heinz 8, 13, 16, 43, 101, 112, 177, 199, 217 Ansbacher, Heinz und Rowena 112, 115, 133, 148 Ansbacher, Rowena 8, 13, 16, 42 f., 177 Aristoteles 112, 234 Äsop 49 B Babbott, Frank 13, 81 Barker, Dudley 108 Barker, Ernest 112 Barlow, Margaret Johnstone 13, 53, 200 Beecher, Marguerite 13, 89 Beecher, Willard 13, 91 Beecher, Willard und Marguerite 93 Beecher, William 136 Berger, Ida 13, 83 Bergner, Elisabeth 8, 138 Binswanger, Ludwig 114 Bishop, Jim 13, 98 Blei, Franz 139

Bottome, Phyllis 8, 13, 26, 29, 34, 55, 105, 107 f., 112 ff., 139 f., 142 f., 145 f., 148, 179, 201 Brandt-Erichsen, Martha 13, 50, 71 Brill, Abraham 74, 150 Brodsky, Paul 13, 60 Brody Oller, Olga 65 Bruck, Anthony 13, 52, 73, 148 f., 277 Bruder-Bezzel, Almuth 236 Bühler, Charlotte 264 Bühler, Karl 264 Burt, Cyril L. 114 C Café Siller 20, 48, 60, 65, 180, 204, 251, 257, 259 Carpi, Daniela 153 Corsini, Raymond 13, 87 Coster-Lucas, Jacqueline 13, 45, 68 Coward, Noel 113 Crookshank, F. G. 74, 149, 154 D Davis, Charles Henry 44, 50 f., 71 f., 182, 195, 217 Davis, Helen Maria 44 De Busscher, Jacques F. 13, 104 Denham, Margery 13, 44, 102 Deutsch, Danica 8, 13 f., 32, 189 Deutsch, Leonhard 32 de Vries, Sophia 13, 47, 74, 102, 149, 264, 266, 277 Dewey, John 154 Dostojewski, Fjodor 209 Doyle, Conan 36 Dreikurs, Rudolf 13, 63, 87, 155, 218, 264 Dreikurs, Sadie 13, 64

E Ehrenstein, Albert 157 f., 277 Einstein, Albert 51, 213, 216, 220 Eisner, Margarete 8 Eitingon, Max 34 Ellenberger, Henry 16, 112, 197, 201 Epstein, Raissa 18, 26, 30, 46, 54, 56, 60, 72, 78, 106, 125, 129 f., 146 f., 160 F Fallgeschichte John 276 Fallgeschichte Joseph 244, 247 f. Farau, Alfred 13, 48, 69 Feichtinger, Frederic 13, 98 Feldmann, Evelyn 8, 12 f., 54, 106 Fickert, Auguste 226 Filene, Edward 89 Forbes-Dennis, Ernan 29, 55 f., 107 f., 152 f., 176 Freistadt Herzka, Else 158 ff. Freud, Sigmund 7, 18, 32, 87, 132 f., 156, 161 f., 166, 169, 171, 177 f., 186, 194, 197, 216, 222, 225, 243, 249, 251, 253, 262 f., 278 Fröschels, Emil 13, 67 Furtmüller, Aline 25 f. Furtmüller, Carl 16, 21, 112, 115, 170, 277 Furtmüller, Lux 170 G Gay, Peter 18, 161 Glöckel, Otto 86, 170 Gondor, Emory I. 30 Gondor, Lillian 85 Gramercy Park Hotel 21, 28, 94, 98 Grant Robertson, Sir Charles 111 Greenberg, Jae W. 16 Gregersen, Halfdan 126 Greulich-Janssen, Gisela 8 Griechenbeisl, Vereinslokal 241 H Hemming, James 13, 103 Hernfeld, Fred, siehe Farau, Alfred Hetherington, Sir Hector 111 Hirschfeld, Magnus 34 J Jacoby, Henry 13, 73, 153, 169, 175 f. Jahn, Ernst 112, 177 Joffe, Adolf 262 f. Jones, Ernest 161, 169, 178 f., 277

Jung, Carl Gustav 166, 197, 277 K Kadis, Asya L. 13, 95 Kaiser, Christine 129 Kaus, Gina 8, 185, 238 Kaus, Otto 185 f. Kemper, Werner 13, 78 Kinder Adlers 18 Knopf, Olga 13, 37, 208 Kokoschka, Oskar 60, 144 Konfuzius 97, 198, 235 Krausz, Erwin 13, 59 Kreisky, Bruno 186 Kronfeld, Arthur 251 Künkel, Fritz 63, 68, 191, 235, 248, 250, 264 Künkel, Ruth 250 L Langdon-Brown, Walter 110 Lasky, Melvin J. 153 Lazarsfeld, Sofie 13, 38, 188, 238, 277 Lehmbruck, Wilhelm 138 Le Nain, Louis 36 Lennhoff, F. G. 13, 79, 189 f. Liebmann, Susanne 13, 66 Lombardi, Donald N. 13, 26 Long Island College of Medicine 81, 83, 98, 129, 182, 199 Löwy, Ida 230 Lustig, Sophie 196 M Maeder, Alphonse 197 Mairet, Philip 97, 109, 197 ff., 216, 267 Manaster, Jane 12, 16 f. Mandell, Sybil 13, 43 Maslow, Abraham Harold 13, 94 McDowell, Elizabeth 13, 83, 199 Meiers, Joseph 34, 104 Metteson, Priscilla 51 Minder, Robert 77 Moore, James 148, 222 Moore, Merrill 13, 35, 96 Mowrer, Hobart O. 13, 45 Müller, Alexander 264 N Nacque, Freyda, zweite Ehefrau von Kurt Adler 129

Namenregister

279

Neuer, Alexander 77, 157, 191, 194 Neufeld, Irvin 13, 100 New School for Social Research 20, 39, 74 Nijinsky, Romola 114 Nijinsky, Vaslav 114 North American Society of Adlerian Psychology 7 f. Nothnagel, Hermann 17 Novello, Ivor 109 O Orgler, Hertha 66, 201, 232, 235 Overholt, Betty Jane 8, 11, 14 P Painter, Genevieve 8, 14 Panken, Jacob 92 Papanek, Ernst 13, 86 Papanek, Helene 13, 38 Parkhurst, Helen 137 Plank, Robert 13, 61 Plottke, Paul, siehe Rom, Paul Pongratz, Ludwig 78, 126, 155, 230, 277 Popper, Sir Karl Raimund 213, 215 f. Porter, Alan 216 R Rattner, Josef 7 f., 183 Redwin, Eleanor 66 Reiss, Sidonia 13, 63 Rogers, Carl 217 f. Rom, Paul 13, 33, 77 ff., 219 Rosenberger, Ross D. 13, 37 Roth, Sydney Martin 13, 15, 39, 41, 76, 100, 113 Rühle, Alice 248 Rühle, Otto 236, 248 Ruitenbeek, Hendrik 7 S Salmannsdorf 20, 56, 206 Salomé, Louise de, siehe Andreas-Salomé, Lou Salomon, Alice 226

280

Namenregister

Schaffer, Herbert 13, 36, 93, 222 Schulhof, Hedwig 225 f. Seelmann, Kurt 229 f. Seidler, Regine 231 f. Seif, Leonhard 229 f. Senior, Clarence 13, 86 Shoobs, Nahum E. 13, 50, 96 Sicher, Harry 13, 35, 96 Sicher, Lydia 13, 61, 264 Siems, Martina 188 Smith, Helena H. 106 Smuts, Jan Christiaan 234 Sokrates 186, 196, 254 f. Sperber, Hans 243, 249 Sperber, Manès 62, 77, 97, 131 ff., 191, 195, 235 ff., 239, 241, 244 f., 247, 252, 256 Stein, Henry 265 Stekel, Wilhelm 18 f., 166 f., 223 f. Stuyvesant, Peter 84 Sullivan, Harry S. 183 f. T Tabakspfeife, Vereinslokal 238 Tandler, Julius 264 Torberg, Friedrich 258, 277 Trotzki, Leo 262 U Uehli Stauffer, Beatrice 158 f., 277 V Vaihinger, Hans 19, 132 Vries, Sophia de, siehe de Vries, Sophia W Wagner-Jauregg, Julius 114, 127, 158 Way, Lewis 13, 55 Wolfe, Walter Beran 115, 216 Z Zweig, Arnold 112, 169