Alfons Petzold (1882-1923): Dichter der Armut. Mit Textbeispielen 9783205789598, 9783205788041

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Alfons Petzold (1882-1923): Dichter der Armut. Mit Textbeispielen
 9783205789598, 9783205788041

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Wilhelm Petrasch

A L FONS PE T Z OL D (1882–1923) Dichter der Armut Mit Textbeispielen

2013 Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

(1882–1923)

Gedruckt mit der Unterstützung durch: Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7) Stadtgemeinde Kitzbühel Arbeiterkammer Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Alfons Petzold um 1920. © Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung

© 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H., Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: Generaldruckerei Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-205-78804-1

I n h a lt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Petzolds Lebensweg. . . . . . . . . . . Wanderleben der Eltern . . . . . . . Kindheit und Schulzeit . . . . . . . Lehrling und Hilfsarbeiter. . . . . . Obdachlos und krank . . . . . . . . Aufstieg zum anerkannten Dichter .

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 11  11  14  20  43  71

Die Armut in Petzolds Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102

Petzold als Lyriker.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

Petzolds Beziehungen zu Künstlerpersönlichkeiten seiner Zeit. . .

186

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

Bildtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

Literatur.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werke Alfons Petzolds . . . . . . . . . . . . . . Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahlbände nach dem Tod des Dichters. . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . .

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218 218 218 218 219 219

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

221

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Vorwort Alfons Petzold, der auch unter dem Pseudonym »De Profundis« geschrieben hat, war Zeitgenosse Stefan Zweigs (geb. 1881), der ihn auch gefördert hat, Otto Weiningers (geb. 1880), Hugo von Hofmannsthals (geb. 1874). Ein Kind jener Wiener Moderne, die einen Teil ihres Geistes und Charakters aus der Arbeiter- und der Volksbildungsbewegung bezog. Im aktuellen Stadtmarketing wird leicht vergessen, dass das Wien um 1900 nicht nur mit der Klimtikone, dem Plädoyer gegen das »verbrecherische Ornament« von Adolf Loos und der Couch von Sigmund Freud, auf der betuchte Zeitgenossen und Zeitgenossinnen ihre frühkindlichen Traumata zu erinnern trachteten, assoziiert werden darf. Das Wien um 1900, die Haupt- und Residenzstadt Kakaniens, war auch dynamische Zuwanderungsstadt, die zwei Millionen Bewohner und Bewohnerinnen beherbergte ; eine Stadt, in der die Hälfte der Bevölkerung nicht oder nur schlecht deutsch gesprochen hat und in der infolge des grassierenden Wohnungselends »die Betten nicht kalt wurden«, weil die Inhaber einer Bassenawohnung ihre Schlafstätten an sogenannte »Bettgeher« vermieteten. Wien war eine Stadt mit »Hausherrnmacht und Mieterelend«, wie es der Titel des Buches von Michael John, erschienen 1982, auf den Punkt brachte. Die Sozialreportagen Max Winters (geb. 1870, Journalist und später Vizebürgermeister Wiens) »im unterirdischen Wien« (erschienen 1905) und Emil Klägers (geb. 1880) »durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens« (erschienen 1908) hatten Anfang des 19. Jahrhunderts jene Lebensbedingungen journalistisch dargestellt, die Alfons Petzold in dem autobiographischen Roman »Das rauhe Leben« dichterisch stilisiert festgehalten hat. Die Sozialdemokratie hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts geeinigt und gefestigt. Sie war eine aufstrebende politische Kraft, die mit ihrem – 7 –

Vorwort

Kampf für soziale Gerechtigkeit und mit ihren Idealen für Bildung und ein sinnorientiertes Gemeinschaftsleben bereit und gerüstet war, die Geschicke der Stadt Wien gestaltend in die Hand zu nehmen. In Leben und Werk Alfons Petzolds spiegeln sich alle Widersprüchlichkeiten einer engagierten, um Emanzipation und Gestaltungsraum kämpfenden Arbeiterbewegung, die ihre Chancen weniger in einer proletarischen Arbeiter(gegen)kultur, denn in der Erringung bürgerlicher Bildungswerte und Anerkennung sucht(e). Alfons Petzold kannte die von Winter und Kläger beschriebene Welt der Obdachlosen, denen es an allem mangelte, aus eigener Erfahrung. Er bemühte sich als Dichter aber auch Zeit seines Lebens um die Anerkennung der literarischen Welt, die in Österreich um 1900 noch literarische Welt im Wortsinn war. Der Wiener Volksbildner und langjährige Direktor der Wiener Urania, in der ich vor genau vierzig Jahren im Jahr 1973 – damals 23 Jahre alt –, als Wilhelm Petrasch sein Amt antrat, einen Kurs zur Soziologie der österreichischen Gesellschaft hielt, ist eine bunte und schillernde Persönlichkeit. Er ist in den Literaturwissenschaften ebenso kompetent, wie er die Dichtung, die Oper und die anderen Künste liebt. Mit Literatur war Wilhelm Petrasch als Schauspieler, Pianist und Liedbegleiter, Leser, Initiator von Literaturarbeitsgemeinschaften – immer begeisterter Volksbildner – sein Leben lang verbunden. Alfons Petzold ist eine für die Geschichts- und die Literaturwissenschaft gleichermaßen interessante Persönlichkeit. Wilhelm Petrasch hat den Dichter Alfons Petzold zu seinem 90. Todestag mit dem vorliegenden Buch in Erinnerung gerufen. Dafür ist ihm und dem Böhlau Verlag, Peter Rauch und Eva Reinhold-Weisz sehr zu danken. Die Forschung ist wie ein Architekturprojekt ohne Abschlusstermin. Sie hat mit dem vorliegenden Buch wichtige neue (Denk-)Räume gewonnen. Hubert Christian Ehalt

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Vor be m e r k u ng Vor dem Eingang zum Stephansdom sitzen, knien oder stehen fast immer mehrere Bettlerinnen und Bettler. Auch vor und nach den Messen in anderen Kirchen der Innenstadt ist die Situation ähnlich, und die Besucher hören »bitte, bitteschön, danke«. In der Rotenturmstraße sitzt ein junger Mann mit gefalteten Händen auf dem Boden. Obdachlose bieten in der Wollzeile, in den U-Bahn-Stationen und Einkaufsstraßen die Zeitschrift »Augustin« an. Frauen mit Kleinkindern lehnen an Straßenecken oder kauern auf Stufen und bitten um Geld. Kleine Buben pilgern in den Straßenbahnen von Fahrgast zu Fahrgast und strecken ihre Händchen aus. Es gibt zwar im modernen Sozialstaat nicht mehr Hunger und Frieren als Massenphänomen, aber auch im 21. Jahrhundert leben in einem der reichsten Länder der Welt, in der Millionenstadt Wien, Menschen unter den schwierigsten Bedingungen. Auch wenn die Bettler vorwiegend aus der Slowakei und aus Rumänien kommen und der »Fonds Soziales Wien« in Kooperation mit verschiedenen Partnern, wie z. B. der Caritas, vielen Menschen in Notlagen hilft, so ist es doch eine Tatsache, dass in Österreich mehr als eine Million Menschen armutsgefährdet und allein in Wien etwa 100 000 Menschen manifest arm sind  – unter ihnen viele, die Sozialhilfe oder Notstandshilfe beziehen, und ihre Zahl steigt. In der westlichen Welt leben heute die meisten Menschen in einem umfangreichen System sozialer Sicherheit und sozialer Fürsorge, im fast überquellenden Wohlstand, die äußere Not scheint überwunden – nur die Kluft zwischen Arm und Reich wächst rasant. Im vergangenen Jahrhundert hat es durch wirtschaftliches Wachstum massive Fortschritte in der Beseitigung von Armut gegeben, und im Zuge der Industrialisierung begannen die Nationalstaaten, sich auch um organisierte Hilfe zu kümmern. Die Sozialpolitik leistete Gewalti– 9 –

Vorbemerkung

ges  : Fürsorge, Vorsorge, Sozialversicherungen, Krankenversicherungen, Entwicklungshilfe u. v. m. Und doch waren viele Menschen extrem arm. Große Schriftsteller hatten sich bereits eingehend mit dem großstädtischen Leben, mit den sozialen Problemen der frühkapitalistischen Gesellschaft beschäftigt und die sozialen Missstände in aller Drastik beschrieben. Charles Dickens rührte mit seinem Roman »Oliver Twist« Millionen. In Wien publizierte der Journalist Max Winter ( 1870–1937) kritische Sozialreportagen aus dem Leben des Proletariats. Der Journalist Emil Kläger und der Richter und Amateurfotograf Hermann Drawe berichteten in ihrem Werk »Durch die Wiener Quartiere des Elends und des Verbrechens« über die Welt der gesellschaftlichen Außenseiter. Unter den Dichtern war es vor allem Alfons Petzold ( 1882–1923) – er verbrachte seine Kindheit und Jugend in Not und Elend –, der die Armut im damaligen Wien in seinem autobiografischen Roman »Das rauhe Leben« sowie in seinen Novellen und Erzählungen erschütternd schilderte. Der Journalist und Schriftsteller Paul Wertheimer nannte Petzold in einem Artikel, den er 1923 in der »Neuen Freien Presse« veröffentlichte, einen »Dichter der Armut«.

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Pe t z ol ds L e be ns w e g Wa n de r l e be n de r E lt e r n Petzolds Vorfahren stammen aus Mitteldeutschland. Sein Groß­vater war als Sattler- und Tapezierermeister einer der reichsten, wenn nicht der reichste Bürger in der kleinen Landstadt Borna bei Leipzig im Herzogtum Sachsen-Altenburg. Man erzählte über ihn, dass er den Marktplatz dieser Stadt mit Goldstücken hätte pflastern können, »und noch immer würde das seine Geldtruhen nicht allzusehr erleichtern«.1 Sein jüngster Sohn, Petzolds Vater, wurde 1836 geboren und nach evangelischem Ritus auf die Namen Friedrich Hermann getauft. Den Kindern der angesehenen Familie war zunächst ein sorgloses, angenehmes Leben voll der Freuden beschert. Doch eines Tages starb die Mutter im Kindbett. Friedrich war in seinem zwölften Jahr, als eine sehr junge, hübsche Stiefmutter mit brandrotem Haar ins väterliche Haus einzog. Sie interessierte sich nicht für die Kinder, war herzlos, herrisch, eine dralle »Bauerndirne«, die letztlich die Familie zerstörte. Sie tyrannisierte die Kinder, das Gesinde, ihren Mann, verprasste mit Liebhabern fast sein gesamtes Vermögen und verfiel der Trunksucht. Der Großvater war zutiefst unglücklich über die Wahl dieser Frau, er fing ebenfalls an zu trinken, verzweifelte. Schließlich erhängte er sich. Als Friedrich vierzehn Jahre alt war, begann er bei einem Meister in einer benachbarten Ortschaft das Sattlergewerbe zu erlernen. Nach fünf Jahren Lehrzeit zog er nach Leipzig und fand Gefallen an der prächtigen Stadt, aber er sah auch ihr Elend  :

1 Alfons Petzold, Das rauhe Leben. Autobiographischer Roman. Ergänzt durch ein Tagebuch vom 1. Jänner 1907 bis 5. November 1922, Wien 1947, S. 11.

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Petzolds Lebensweg

» … zahlreiche Bettler, tausende schlecht genährte Arbeiter, darbende Frauen und Kinder in Unzahl, eine dumpfe, grollende Empörung, die in verwahrlosten, engen Gassen herumkroch.«2

Er wollte sein Leben nicht in einer Werkstätte zubringen, daher nahm er nach längerem Suchen eine Stelle als Diener bei einem reichen Studenten an. Sein Wissensdurst war groß, und sein freigebiger Dienstgeber ermöglichte es ihm, eine Privatschule zu besuchen, wo er in die Grundlagen der Technik und des Maschinenbaus eingeführt wurde. Leider musste der Student bald wieder in sein Heimatland zurückkehren, und Friedrich begann nun als Austräger in einem Leipziger Buchverlagshaus zu arbeiten. Es folgte die Militärdienstpflicht, eine Zeit der Opfer und Entbehrungen, in der er zum Korporal und dann zum Vizewachtmeister befördert wurde. Allerdings wurde er nach einer heftigen Auseinandersetzung mit einem Leutnant, in der er in Zorn geriet, zum gemeinen Soldaten degradiert und zu monatelangem Kasernenarrest verurteilt. Als er die Kaserne endlich verlassen durfte, musste er sich um einen Arbeitsplatz umsehen und fand eine Stelle als Gehilfe in einer Tapeziererwerkstätte. Er schloss sich der Arbeiterbewegung an und wurde ein Anhänger Liebknechts. In dieser Zeit lernte er Friederike Sophie Karoline Gundlach kennen, die Köchin bei einem Buchhändler war. Sie heirateten in der Nikolaikirche in Leipzig. Alfons Petzolds Mutter, ebenfalls 1836 geboren, war das dreizehnte Kind des Schuhmachermeisters Joachim Gottlieb Gundlach. Die Familie lebte in dem kleinen thüringischen Städtchen Freiburg an der Unstrut in der Nähe von Eisenach. Ihr Vater hatte seine Lehrzeit in Jena verbracht, als Schiller dort lebte, hatte dem berühmten Dichter so manches Paar Schuhe repariert »und neue Stiefel in dessen Haus am Marktplatz gebracht«.3 Die Familie hatte daher eine besondere Vorliebe für die Dichtungen Schillers. 2 Ebd., S. 15. 3 Ebd., S. 19.

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Wanderleben der Eltern

Friederike, die schon mit siebzehn Jahren das Elternhaus verlassen hatte, ersparte sich in ihren fünfzehn Jahren Dienstzeit eine bescheidene Summe und erwarb damit mit ihrem Mann eine kleine Gastwirtschaft in einem Vorort Leipzigs. Ihre Gaststube war stets voll von Leuten, und sie verdienten gut. Ihr Glück währte nicht lange. Friedrich hatte sich dem aufsteigenden Sozialismus verschworen und machte sein Gasthaus zum Sammelplatz aller Sozialdemokraten des Vorortes. Auch Parteigenossen trafen sich dort. Zudem wohnte Wilhelm Liebknecht in dem Haus und arbeitete mit Friedrich am Ausbau der Arbeitervereine. Da brach 1870 der deutsch-französische Krieg aus. Die Sozialisten protestierten in Schrift und Rede gegen den Krieg, doch ihre Aktionen scheiterten. Friedrich wurde wie viele andere beim »Leipziger Hochverratsprozess« von einem Schwurgericht zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Das Gasthaus musste auf behördlichen Befehl geschlossen werden. Friederike war damals hochschwanger und hatte nun keinen Arbeitsplatz. Erst nach längerem Suchen kam sie in einem öffentlichen Waschhaus unter. Bei einer hilfsbereiten Nachbarin gebar sie ein Mädchen. Ihr Bruder in Eisenach unterstützte sie finanziell und richtete ein Begnadigungsschreiben in ihrem Namen an den König von Sachsen. In weiterer Folge gewährte ihr der Landesfürst eine Audienz und nahm ihre Bitte entgegen. Friedrich wurde nach zweijähriger Haft entlassen. Aber sie mussten das Königreich Sachsen verlassen. Die Familie übersiedelte in die Schweiz. In Neuchâtel und dann in Zürich eröffneten Friederike und Friedrich einen Käseladen, mussten ihn allerdings nach kurzer Zeit wieder schließen. Später versuchten sie es noch einmal in München, doch auch hier scheiterten sie. Weitere Stationen ihres Wanderlebens waren Stettin, Hamburg, wieder München, Belgrad und Wien. In Stettin gebar Friederike einen Knaben  ; doch das Kind starb bald nach der Geburt an einer Kinderkrankheit  ; der Schmerz der Eltern war groß. Friedrich arbeitete als Zigarrenmacher, dann vertrieb er die Erfindung eines Schlossers, eine Vorrichtung, die an die damaligen Gasbrenner angebracht werden konnte und das Flackern der Flamme verhinderte. In Hamburg führte er einen Zigarrenladen, dem er – 13 –

Petzolds Lebensweg

ein Bankgeschäft anschloss  ; er kam sogar zu einem gewissen Reichtum, doch sein Buchhalter veruntreute eine hohe Summe und floh nach Amerika. In Belgrad war er »Leib- und Hoftapezierer« des Fürsten Milan IV. von Serbien, in Wien verkaufte er wieder Gaslichtbrenner. Auch Friederike trug während der Wanderjahre zum Lebensunterhalt bei. Sie wusch die Wäsche fremder Leute, arbeitete als Hilfsköchin in einem Hotel, eine Zeit lang war sie Krankenwärterin und half bei der Weinlese. Friederike war schon 46 Jahre alt, als sie noch einmal schwanger wurde. Am 24. September 1882 kam Alfons Petzold in der Robert-HamerlingGasse in Wien-Fünfhaus zur Welt. Er schrieb später  : »Es war zwölf Uhr mittags und Sonntag, da mein Dasein begann, und mein erster Weg ging durch fallende Blätter und blühende Astern.«4

K i n dh e i t u n d S c h u l z e i t Der kleine Alfons war ein äußerst schwächliches Kind. Er litt oft unter heftigem Fieber, Krämpfen, Husten und Erstickungsanfällen, er keuchte und kämpfte und rang um sein Leben. Tage- und nächtelang saßen seine Mutter und seine Schwester an seinem Bett und beobachteten seine Atemnot. Sie lebten in ständiger Sorge um ihn. In seinem zweiten Lebensjahr übersiedelte die Familie in eine Wohnung in Penzing – in einem Haus, das »in uralten Baum- und Grasgärten lag«.5 Doch die Idylle in der reinen Wienerwald-Luft dauerte nicht lange. Der Vater erfand ein Mittel zur Lösung und Entfernung von Kesselstein und wollte im industriereichen Ungarn damit Geschäfte machen. So zog die Familie nach Szeged und mietete ein zweistöckiges Haus. Friedrich reiste nun in Ungarn und den angrenzenden Ländern von Stadt zu Stadt, um »sein Pulver« zu verkaufen. Sein enormer Einsatz brachte auch den gewünschten geschäftlichen Erfolg. Alfons war meistens krank, musste oft wochenlang das Bett hüten  ; es zeigten sich die Folgen einer schweren 4 Ebd., S. 33. 5 Ebd., S. 35.

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Kindheit und Schulzeit

Rachitis, eine Verkrümmung der Wirbelsäule, ein Buckel, und es wurde ihm ein Geradehalter verpasst, »dieses Marterding aus Holz, Gummibändern und Eisen«, das er fürchtete »wie der mittelalterliche Verbrecher die Daumenschrauben«.6 Als Alfons ins schulpflichtige Alter kam, beschlossen die Eltern, nicht zuletzt wegen des zunehmenden Deutschenhasses, Szeged zu ­verlassen und wieder in Wien zu leben. Im Sommer 1887 zogen sie in ein Häuschen in Ober St. Veit, das »ganz im Grünen versteckt« lag und »von einem großen Garten umgeben« war.7 Der Vater war nach wie vor mehr auf Geschäftsreisen als daheim, war oft monatelang weg und kam manchmal »ohne Geld und Gepäck, in zerlumpter Kleidung und krank« nach Hause.8 Nicht selten mussten dann Wertgegenstände versetzt oder Geld ausgeliehen werden. Wieder wurde die Wohnung gewechselt, und Alfons begann seine Schulzeit in einer Gemeinde-Volksschule in Lerchenfeld. Als er schon ein bisschen schreiben und etwas lesen konnte, versuchte er »jedes Buch, jeden Zeitungsfetzen, kurz, alles Gedruckte«, das er erwischte, »zu buchstabieren«.9 Bald las er die schauerlichsten Räubergeschichten und Hintertreppenromane, die seine ältere Schwester nach Hause brachte  ; aber auch die Märchen, Erzählungen und Gedichte in ihrem Schullesebuch, und er begeisterte sich an den Dichtungen Tiecks, Arnims, Uhlands und Körners. Sein Vater sah es gar nicht gerne, wenn Alfons über seinen Büchern saß, die für ihn allesamt »dämliche Schwarten« waren. Im Gegensatz zur Mutter, die seinen Lesehunger stets förderte, war für den Vater die Beschäftigung mit Lektüre »eine unnütze Zeitverschwendung«. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Alfons auf den Straßen und Plätzen der Stadt mit Gassenjungen herumgetollt wäre. Er wollte, dass sein Sohn ein »tätiger, tapferer Mensch würde, kein Ofenhocker und säuselnder Traumichnicht«.10   6 Ebd., S. 39.   7 Ebd., S. 44.   8 Ebd., S. 46.   9 Ebd., S. 49. 10 Ebd., S. 50.

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Petzolds Lebensweg

Nach zwei Schuljahren schickten die Eltern Alfons auf Wunsch seiner Patin – er war katholisch getauft worden – in das Internat der Ordensgemeinschaft der Schulbrüder in Pressbaum. In dieser Schule verbrachte er drei Jahre. Die strenge Zucht, die dort herrschte, behagte ihm ganz und gar nicht. Er fühlte sich »in die Drehbank des geistlichen Unterrichts fest eingespannt und mit dem Stahl rücksichtsloser Lehrmoral bearbeitet«.11 In seinem Rückblick auf das Internatsleben hielt er fest  : »Bei den Lehrern herrschte fast ausnahmslos die Meinung, alle Knaben des Internats seien boshafte, lernfaule, nur auf schlechte Streiche bedachte Teufelsbeflissene, denen nur mit äußerster Strenge beizukommen sei. Es kam ihnen nicht in den Sinn, daß sie eben dadurch unser kindliches Gemüt verhärteten und uns zu Heuchlern und Mißgünstigen erzogen. Sie hofften, uns durch Gebete und andere geistliche Übungen zu bessern und zu braven, geduldigen Lämmern zu machen. Hätten unsere eifrigen Lehrer nur eine Ahnung gehabt, wie sie uns durch das fortwährende Bearbeiten unserer noch so reinen Seele mit abgegriffenen toten Worten, die wir oft stundenlang herableierten, die wirkliche Religion verhaßt machten, sie wären vor ihrem unheilvollen Einfluß in argen Schrecken und großes Entsetzen geraten.«12

Wie jedes Kind sehnte er die Sommerferien herbei und freute sich auf die ungezwungene und geborgene Atmosphäre im Elternhaus. Dort hatte sich so manches verändert. Seine Eltern hatten aufgrund schlechteren Verdienstes eine kleinere Wohnung mit nur zwei Zimmern bezogen und seine Schwester hatte geheiratet. Ganz in der Nähe des neuen elterlichen Heims lagen vor dem Schmelzer Exerzierplatz ausgedehnte Felder und Wiesen. Hier fand Alfons den idealen Spielplatz. Noch nach vielen Jahren erinnerte er sich gerne an seine damaligen Erlebnisse und schwärmte  :

11 Ebd., S. 51. 12 Ebd.

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Kindheit und Schulzeit

»Oh, welch zahlreiche Freuden sind aus diesem Grasboden in meine Adern geströmt  ! Welch unerhörte Beglückung erfüllte hier manchmal mein kleines Bubenherz  ! Was geschah nicht alles auf dieser für das Kinder­herz so unendlichen Heide, die … wie eine Meeresfläche gegen die fernen Wienerwaldberge anwogte  ; mit Baumgruppen und p ­ hantastischem Schanzwerk als Inseln, durchzogen von geheimnisvollen Gräben, in denen seltsames Unkraut wucherte und in üppiger Fülle Eidechsen, Kröten, Frösche, weiter draußen sogar Feldmäuse und Wildhasen hausten. Diese Heide war für uns Kinder die unermeßliche Prärie, die gelbe Wüste Afrikas, der Tummelplatz asiatischer Völker und, wenn der Regen über sie hinspülte, die Gefahren aller Art gebärende See. Auf ihrer Einsamkeit gründeten wir die Republik der Kindheit, dichteten wir im Spiel die Cooper- und Hoffmannschen Wildwestgeschichten in gläubigst hingenommene Wirklichkeit um. Alle Gestalten unserer Märchen bevölkerten ihre Erdhügel, Bäume und Gräben. Zelte erstanden auf ihrem Boden und verbargen abenteuerlüsterne Buben, die würdevoll als rote oder germanische Helden Kartoffelkraut oder getrockneten Huflattich rauchten.«13

Als der Vater plötzlich einen Blutsturz erlitt, holten die Eltern Alfons wieder nach Wien, und er durfte nun eine öffentliche Schule der Schulbrüder besuchen. Seine Leistungen in der Schule wurden nun besser. Allerdings bekam er in mehreren Gegenständen schlechte Noten. Rechnen und Geometrie waren für ihn »qualvolle Rätsel«, und die deutsche Sprachlehre »dunkelte vor« ihm »wie die lichtloseste Nacht«.14 In Geschichte, Geografie, Naturgeschichte sowie im mündlichen Vortrag hatte er immer ein »Sehr gut« im Zeugnis. Besonders glänzte er in Religion und Kirchengeschichte, die Lehrer waren erstaunt über sein großes Wissen. Sein Vater, ein »Freigeist«, war darüber ganz und gar nicht erfreut, er lachte ihn aus. Schmerzvoll war für Alfons das Turnen. Sein schwächlicher, leicht verkrümmter Körper war dafür nicht geeignet. Nach vergeblichen Anstrengungen wurde er schließlich von der Turnstunde befreit. 13 Ebd., S. 53 f. 14 Ebd., S. 56.

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Petzolds Lebensweg

Da der Vater nun oft wochenlang ans Krankenlager gefesselt war und sich weniger um seinen Sohn kümmern konnte, hatte Alfons genügend Gelegenheit, das Leben auf der Straße kennenzulernen. Er traf sich mit abenteuerlustigen Buben entlang des Wienflusses oder in der Nähe des Linienwalls, vor allem aber auf dem Schmelzer Friedhof. Manchmal zogen sie auch von Haus zu Haus und lauschten böhmischen Wandermusikanten, Roma-Kapellen, Drehorgelspielern, Dudelsackpfeifern oder beobachteten Akrobaten. Sie verübten viele übermütige Streiche, blickten kaum in die Schulbücher, lernten wenig. Ihre Lektüre waren Räubergeschichten, Schauer- und Indianerromane. Alfons vernachlässigte die Schule so sehr, dass er zwei der letzten Klassen wiederholen musste. Er nahm sich auch immer mehr Freiheiten gegen die Lehrer heraus, so dass man ihn fast aus der Schule gewiesen hätte. Als Alfons zwölf Jahre alt war, erlebte er seine erste Liebe. Das Mädchen wohnte im selben Haus, gesellte sich gerne zu den Buben und machte auch die wildesten Spiele mit. Alfons versuchte sie vor bösen Jungen zu beschützen und brachte ihr »die schönsten Wildrosen und Grüneidechsen«.15 Doch eine neuerliche Übersiedlung bereitete der jungen Liebe ein jähes Ende. Die seltsame Krankheit des Vaters, die die Ärzte nicht zu heilen wussten, führte über Krämpfe zu Lähmungserscheinungen, und der Vater war nicht mehr imstande zu gehen. Auch in der Nervenklinik des Allgemeinen Krankenhauses konnte man ihm nicht helfen. Der Verkauf seiner Erfindung ging bedenklich zurück, und die Familie geriet in Not. Die Mutter tat, was sie konnte, sie bereiste in Vertretung des Vaters sogar die näher gelegenen Provinzorte, aber sie war ebenfalls krank, sie litt an einem schweren Bruchleiden und musste große Schmerzen erdulden. Für Alfons waren die letzten Tage seiner Schulzeit »die trübseligsten« seiner Kinderjahre … »das Präludium zu den Jahren der Not, die auf den Jüngling warteten«.16 In diese Zeit fielen aber auch zwei Ereignisse, die seine weitere Entwicklung beeinflussten  : ein Opernbesuch und ein Besuch des kleinen 15 Ebd., S. 69. 16 Ebd., S. 71.

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Kindheit und Schulzeit

Schwender-Theaters in Rudolfsheim. Alfons war zutiefst beeindruckt, fasziniert und beglückt und beschloss, »andere Stücke wenigstens durch das Lesen kennenzulernen«.17 Durch Zufall erfuhr er, dass der Wiener Volksbildungsverein in Ottakring eine Volksbücherei eingerichtet hatte. Er ließ sich auf den Namen seiner Mutter einschreiben und entlieh nun oft dreimal in der Woche Bücher. Das erste Drama, das er in einer Nacht verschlang, war Schillers »Die Räuber«. Eine neue Welt erschloss sich ihm  : »Die wahren Leidenschaften des Menschen, von denen ich bisher nur verlogene Kunde bekommen oder die ich nur ganz verschwommen und dunkel geahnt hatte, überstürmten mein unverbrauchtes Gemüt und ergriffen mein Herz«18 … »Und daneben ging mir eine starkes Ahnen auf von der Macht des sozialen Milieus über den einzelnen, von dem weltbewegenden Einfluß einer Idee auf eine Masse und von der treibenden Kraft menschlicher Tugenden und Laster, die zu gleichen Teilen dazu bestimmt sind, unserem Dasein erst den lebenswürdigen Inhalt zu geben … Wie in trunkenem Taumel ging ich des anderen Tages in die Schule und konnte kaum die Nacht abwarten, in deren Stille und Freiheit ich den ›Wilhelm Tell‹ lesen wollte, was auch geschah. Auf diese Weise las ich – noch ein dreizehnjähriger Schulbub – ›Egmont‹, ›Götz‹ und ›Tasso‹ von Goethe, sämtliche Dramen Schillers, einige Kleists und die Shakespeareschen Königsdramen nebst dem ›Hamlet‹.«19

Die Not der Familie wurde immer größer. Nach einer Blutvergiftung, die sich die Mutter zuzog, blieb ihr linker Arm zunächst steif. Die Krankheit des Vaters hatte sich derart verschlechtert, dass er im Bett wie ein Säugling gepflegt werden musste. Kein Spital wollte ihn aufnehmen. Der Mutter gelang es schließlich nach endlosen Bemühungen, ihn im 17 Ebd., S. 73. 18 Ebd., S. 74. 19 Alfons Petzold, Aus dem Leben und der Werkstätte eines Werdenden, Wien/Leipzig 1913, S. 32 f.

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Petzolds Lebensweg

Elisabethspital unterzubringen, wo festgestellt wurde, dass er an einem unheilbaren Rückenmarksleiden erkrankt war. Die Mutter arbeitete von drei Uhr früh bis spät in die Nacht als Kinderfrau oder Bedienerin, da mit der Erfindung des Vaters kein Geschäft mehr zu machen war. Für Alfons kam das Ende der Schulzeit heran. Etwa drei Monate vor seinem vierzehnten Geburtstag war für ihn der letzte Schultag. Er sollte nun auch etwas zum Unterhalt beitragen, indem er eine Lehrstelle antrat. Am dritten Ferientag begleitete ihn seine Mutter zur Werkstatt eines Silberschmieds.

L e h r l i ng u n d H i l fs a r be i t e r In der »Silberpräge- und -montieranstalt« auf dem Schottenfeld sollte Alfons die Silberschmiedekunst erlernen. Versprochen wurde ihm vieles, auch die Möglichkeit angedeutet, ein großer Künstler dieses Faches werden zu können. Doch seine Arbeit bestand hauptsächlich »im Zutragen von Bedarfsgegenständen für die Küche und den Hausstand der Meisterin, in Gängen ins Punzieramt und die Schleiferei, im Abliefern der Arbeiten …«.20 Schon in seiner ersten Lehrstelle, als er sein »Proletarierdasein begann«, musste er erfahren, dass er von seinem Lehrherrn nicht ausgebildet, sondern als billige Hilfskraft ausgenutzt wurde  : »Der Meister, ein gutmütiger Riese, der wie ein aufgeblasener Ballon durch die zwei engen Räume der Anstalt schnaufte, war einer jener tschechischen Kleingewerbetreibenden, die in Wien trotz ihrer schlechten Aussprache des Deutschen den gemütlich-behäbigen, erbeingesessenen Bürger markieren wollten … Wir sahen ihn nur vormittags und kurz vor Feierabend in der Werkstätte, die übrige Zeit verbrachte er im Gast- oder Kaffeehaus, wo er eine wichtige Rolle zu spielen schien. Dafür war die kleine kugelrunde Frau Meisterin beinahe immer in der Werkstätte zu finden … Bei der Aufnahme wurde zwar von den herrlichsten Erzeugnis20 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., S. 82.

– 20 –

Lehrling und Hilfsarbeiter

sen der Silberschmiedekunst gesprochen, die in seinem Atelier verfertigt werden sollten, von silbernen Tafelgeschirren, die er für die höchsten Herrschaften anfertigte … Nun war ich aber schon sieben Wochen in dem ›Atelier‹, ohne auch nur den kleinsten Tafelaufsatz gesehen zu haben  ; Stockgriffe und Beschläge waren die herrlichen Schmiedearbeiten, die ich entstehen sah. Und selbst diese einfachen, kunstlosen Dinge wurden nur teilweise in unserer Werkstatt angefertigt. Wir erhielten sie in rohem Zustand aus einer Fabrik, um sie dann mit Gips oder einer Metallmasse auszugießen und verpackt weiterzuliefern. Auch waren sie zum kleinsten Teil aus Silber, meistens bestanden sie aus unedlen Mischmetallen, denen Gold- oder Silberglanz durch eine Säure und Schliff aufgelogen wurde. Aber selbst zu dieser Arbeit wurde ich kein einzigesmal hinzugezogen und ich hatte noch keinen Handgriff erlernt, der mir zu diesem Handwerk notwendig gewesen wäre.«21

Er wurde nur als Laufbursche eingesetzt. Da seine arme Mutter ihn kaum ernähren konnte, beschloss sie, für ihren Sohn einen Lehrplatz mit freier Verköstigung zu suchen. Alfons wechselte in eine Schuhmacherwerkstätte, in der sich acht Lehrbuben fünf Gesellen zu fügen hatten. Auch an diesem Arbeitsplatz waren seine Lehrherren nicht beflissen, ihn »in die Geheimnisse ihrer Kunst einzuweihen«.22 Die Lehrlinge fristeten ein erbärmliches Dasein  : »Meine Lehrkameraden waren zumeist elternlose Burschen aus Böhmen, die auf Gnade und Barmherzigkeit ihren Lehrmeistern ausgeliefert waren, was denn auch oft bis zur Grenze des Erlaubten ausgenutzt wurde. Hätte je einer von ihnen den Mut gefunden, sich bei der Genossenschaft der Schuhmacher zu beschweren, so wären sie von den Zünftlern wohl nur als undankbare Tagediebe angesehen worden. So nahmen sie mit geringerer oder größerer Geduld das Los auf sich, das ihnen das Leben beschert hatte, 21 Ebd., S. 80 ff. 22 Ebd., S. 87.

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und aßen heimlich den frisch gerührten ›Schusterpapp‹, um den ewig nagenden Hunger zu stillen.«23

Denn gutes Essen gab es dort nicht  : » … zum Frühstück eine Brühe … mit steinhartem Brot, zu Mittag eine Wassersuppe, ein paar Knochen und Abfallfleisch, nachmittags eine Wiederholung der Frühstücksherrlichkeiten und abends zehn Heller Nachtmahlgeld …«24

Die Schlafkammer war zu klein und äußerst dürftig ausgestattet  : »Unsere Kammer war nicht das Muster eines hygienischen Schlafsaales. Der kleine Lichthof, auf den das Fenster hinausging, sandte alle möglichen Gerüche zu uns empor, da ihn die übrigen Parteien des Hauses gern als Mistgrube benutzten. Die Betten waren ähnlich den Kojen der großen Schiffe übereinander aufgebaut, und dies war eine sehr kluge Einrichtung, da sonst kaum zwei Betten in dem Raum Platz gehabt hätten. Das ›Bettzeug‹ bestand meist aus zerfallenen Matratzen und stinkenden Decken, in denen eine Unzahl von Flöhen nistete.«25

Die Lehrlinge hatten Kohlen aus dem Keller oder Wasser in einem Rückenfass in die Küche zu schleppen, Geschirr zu waschen und den Gesellen Bier, Tabak und andere Dinge zu besorgen. Als eines Nachts die Gesellen betrunken nach Hause kamen, jagten sie die Lehrbuben mit einem Hosenriemen im Kreis herum, schütteten sie mit Bier an und verbrannten sie mit Zigaretten. Die herbeieilende Meisterin schlug, ohne die Schuldigen zu eruieren, mit einem Holzlöffel auf die verängstigten Lehrlinge ein und beschimpfte sie mit den unflätigsten Worten. Noch in derselben Nacht verließ Alfons dieses Haus. 23 Ebd., S. 86 f. 24 Ebd., S. 86. 25 Ebd., S. 87.

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Lehrling und Hilfsarbeiter

Der Vater lag schon seit Monaten im Spital, ohne dass sich sein Zustand gebessert hatte. Der Krankenhauspriester machte den Vorschlag, ihn auf Lebensdauer im Haus der unheilbaren Kranken unterzubringen, aber dazu müsse er den katholischen Glauben annehmen. Um seine Familie zu entlasten, wurde der Vater mit der größten Selbstüberwindung und ohne Überzeugung Katholik und erhielt ein Bett im »Haus der Barmherzigkeit« in Währing. Alfons war entsetzt über die katastrophalen Zustände in diesem Pflegekrankenhaus  : »Über der Klosterpforte des ›Hauses der Barmherzigkeit‹ steht in einer Nische Christus, die Armen der Welt begrüßend, und folgende Worte stehen zu Füßen der Statue  : ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‹ Ich habe diese Worte oft und oft gelesen, wenn ich am Sonntagnachmittag vor der Pforte auf Einlaß wartete, und mich in meiner kindlichen Einfalt dann immer gewundert, warum gerade die Führer und Pflegepersonen der Anstalt, deren Wahlspruch die Inschrift ja sein sollte, sich nicht daran gehalten haben, und warum die Liebe, die man für den Nächsten bezeigen wollte, ein so abstoßendes und häßliches Gesicht haben mußte  ? Ich will, so gut ich sie in Erinnerung habe, die Zustände in diesem Hause schildern, die für mich noch heute das Bedrückendste sind, was ich je erlebt und gesehen habe. Der Saal, in welchem mein Vater mit ungefähr zwanzig anderen Kranken lag, war wenig licht, da seine Fenster auf einen Gang, die Erholungsstätte der nicht bettlägerigen Kranken, hinausgingen. Dieser mußte den Garten ersetzen, da sonst nur für die Pflegenonnen ein solcher vorhanden war. Kein freundliches Bild schmückte die kahlen, weißen Wände, nur da und dort war die Abbildung eines gemarterten Heiligen zu sehen. Kamen wir auf einige Stunden zu meinem Vater, so klagte dieser meist über Hunger oder über eine neue Verfügung, die das Leben dieser Bedauernswerten noch elender machte. Das Essen war äußerst spärlich, wenig schmackhaft und unappetitlich zubereitet. Dabei wurden den Siechen bei jeder Gelegenheit Strafen auferlegt, die in der Entziehung gewisser Speisen bestanden. Von allen Seiten hörte man Klagen über die kleinen Portio­ nen, die man ihnen gab, und die Armen konnten meistens den Besuch

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ihrer Angehörigen nicht erwarten, die ihnen eßbare Dinge mitbrachten. Am bedauernswertesten waren diejenigen, um die sich kein Mensch kümmerte, ihr Los war dem eines lebendig Begrabenen ähnlich. Meine Mutter, der dieses Elend ins Herz schnitt, sparte sich die Woche hindurch das Essen vom Mund ab, um damit sonntags wenigstens einigen von diesen Armen eine kleine Freude zu bringen. Neben meinem Vater lag ein blinder und vollkommen gelähmter Hauptmann, der meiner Mutter beinahe die Hände abküßte, wenn sie ihm ein Stückchen gebackenes Pferdefleisch oder sonst eine Kleinigkeit reichte. Es kümmerte sich ja sonst kein Mensch um diesen zweiten Hiob, der mit einer unglaublichen Ergebenheit dahinsiechte. Er hatte nicht, wie die meisten anderen, einen Freiplatz in dem Hause inne, da seine Pension in die Anstalt eingezahlt wurde  ; trotzdem hatte er aber die gleiche Behandlung über sich ergehen zu lassen wie diejenigen, die nur in der Barmherzigkeit ihren Wohltäter sahen. Ich sehe noch heute sein vornehmes, totes Leidensgesicht, in dem eine furchtbare, stumme Anklage zu lesen war. Es scheint mir heute, daß das tadelnswerteste der Hausordnung die Willkür war, mit welcher die verschiedenartigsten Kranken zusammen in einem Saal untergebracht waren. Da lag neben bloß Gelähmten ein Mensch, dem die Lustseuche den halben Körper zerfressen hatte  ; er ging langsam bei unerträglichem Geruch in Verwesung über. Meinem Vater gegenüber tobte in einem Bett, das mit starken Drahtnetzen umspannt war, ein zwanzig Jahre alter Bursche mit einem grauenhaften Affengesicht. Tag und Nacht stieß er unartikulierte Laute aus. Hier lagen Krebskranke mit furchtbaren Geschwüren, dort ein kaum menschlich aussehender rachitisch Verkrümmter. Eine greuliche Herde von Kranken bevölkerte auch die Stiegen und Gänge, haarlose Wasserköpfe grinsten einem entgegen und ließen einen vor dieser Anhäufung unerdenklichen Elends erschauern. Wenn wir von unseren Besuchen aus dem Siechenhaus heimkamen, so verfolgten mich die Bilder, die ich dort geschaut, noch lange und schreckten auch meist durch meine Träume. Langsam lernte ich erst wieder lachen, wenn ich mich zwingen konnte, meine Gedanken davon abzulenken.

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Mutter und ich hatten im stillen nur einen Wunsch  : daß mein armer Vater bald von seinen Leiden erlöst würde.«26

Wieder suchte die Mutter eine Lehrstelle für Alfons. Diesmal fand sie einen Platz in der chirurgischen Instrumenten- und Bandagenfabrik »Odelga und Söhne«. Da es ein Knabenwunsch von Alfons gewesen war, Arzt zu werden, trat er mit großen Hoffnungen in die Fabrik ein. Er fühlte sich auch recht wohl dort, seine Arbeit war leicht, und er war auf dem besten Weg, einen Beruf zu erlernen  ; doch als die Not seiner Mutter von Tag zu Tag größer wurde, entschloss er sich, die Lehre zu verlassen und einen höheren Verdienst anzustreben, der es ihm ermöglichte, wenigstens seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Er wurde Maurerlehrling auf einer Baustelle. Sein Taggeld betrug eine Krone sechzig Heller, eine für ihn überaus hohe Summe. Unangenehme, ermüdende Arbeiten hatte er zu verrichten, wie schwer beladene Scheibtruhen auf schmalen Bretterstegen zu schieben, aber er war der anstrengenden, staubigen Arbeit nicht gewachsen. Die Bauhandwerker waren grausam zu ihm, sie hetzten ihn, spotteten über seine körperliche Schwäche, verachteten ihn. Sein rachitischer Körper machte eines Tages nicht mehr mit. Alfons brach entkräftet zusammen. Der Polier brachte ihn seiner Mutter nach Hause mit der Bemerkung, er sei für diesen Beruf zu schwach. Auch seine nächsten Versuche, eine Lehrzeit zu überstehen, scheiterten. Als Bäckerlehrling in Ottakring kam er beim Transport von Brot und Backwaren durch eine Ungeschicklichkeit mit dem linken Fuß unter ein Rad des Kastenwagens, als dieser eben zu fahren begonnen hatte. Geschockt und verletzt musste er noch hinnehmen, dass sein Meister ihn entließ. Als Piccolo in einem Gasthof in Simmering musste er achtzehn bis zwanzig Stunden täglich arbeiten, und die Schlafstelle war noch miserabler als in der Schuhmacherwerkstätte, geradezu unzumutbar  : »Es war halb drei Uhr früh. Wie freute ich mich auf den Schlaf in der großen Kammer mit den reinlichen Betten, die mir der Wirt nach mei26 Ebd., S. 91 ff.

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ner Aufnahme gezeigt hatte. Da der Oberkellner außer Haus schlief, war sicher das eine Bett für den Hausknecht, das andere für mich bestimmt. Leider sollte es anders kommen. Denn als ich unter Anleitung des schon sichtlich berauschten Wirtes die Tür zugesperrt, den Gashahn abgedreht hatte, führte er mich in das Extrazimmer, das ein ziemlich geräumiger Saal war, und zeigte mir im Schein einer Kerze eine Sitzbank. Der Sitz war aufzuklappen, und eine schmale Kiste mit einer schmutzigen Matratze und einer Pferdedecke zeigte sich mir. ›So, Franzl’, stotterte der Wirt trunken hervor – ich hatte von ihm den Namen Franzl bekommen – ›a so a feins Bett hast bei der Frau Muatta z’Haus gwiß net ghabt. Tua ma’s net verschweinigln wia de andern Buam. Serwas  !‹ Damit trollte er sich hinaus, sperrte die Küchentür zu und polterte eine Stiege hinauf. Er hatte die Kerze mitgenommen, und ich stand verblüfft und unschlüssig da. War es ein schlechter Witz, daß ich hier in dieser Kiste schlafen sollte, und würde nicht gleich die Tür zur Kammer aufgehen und der Hausknecht mir ein richtiges Bett zeigen  ? Ich wartete eine geraume Zeit, aber außer einem Mäuserascheln hörte ich nichts, so angestrengt ich auch horchte. Auch die Tür zur Kammer war versperrt, ich bemerkte es, als ich mich selbst überzeugen wollte, ob das zweite Bett darin nicht doch für mich gerichtet war. So machte ich mich endlich bekümmert über meine Kiste und versuchte, meine Schlafstelle so bequem als möglich zu richten. Aber, o Entsetzen  ! Ich fühlte etwas über meine Hand laufen. Glücklicherweise entdecke ich die Zündhölzer in meiner Tasche und kann darum nachsehen  – Ekel faßt mich  –, mehrere riesige Schwabenkäfer huschten, aufgeschreckt von dem Lichtstrahl, über das Bettzeug und flüchteten dann in ihre Schlupfwinkel. Ein Gefühl unsäglicher Verlassenheit erfaßt mich. Mein Gott, warum muß ich nur überall das Schlechteste mitmachen, bin ich nicht würdig, ein menschliches Dasein zu führen  ? Auf jeden Fall kann ich mich nicht überwinden, mich in diesen Sarg mit all dem Ungeziefer zu legen. Nicht einmal die Decke will ich benutzen, denn wer weiß, ob sie nicht von Läusen und Wanzen wimmelt. Aber schlafen muß ich, denn die Müdigkeit schlägt meinen Körper nieder. Der Kopf, die Brust, Beine und Arme schmerzen mich, als wären sie eine einzige Beule. So entledige ich mich meines Rockes und der

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Weste und strecke mich auf einer Bank aus, den Kopf auf den abgelegten Kleidungsstücken. Trotz aller Müdigkeit wollte der ersehnte Schlaf nicht kommen. Ich wälzte mich hin und her und versuchte alle Mittel, ihn zu erzwingen. Wäre die Luft nur nicht so schlecht oder ein Fenster zu öffnen gewesen. Aber diese waren wie die Türen fest versperrt. War dies meine schrecklichste Nacht  ? Ich weiß es nicht. Jedenfalls schmerzte mich mein Körper unbeschreiblich. Heiß und inbrünstig wünschte ich den Morgen herbei. Aber die Uhr im Saal brauchte eine Ewigkeit, bevor sie schlug. So ging es nicht länger. Ich hatte allen Ekel, jeden Abscheu vor Insekten und Schmutz überwunden und legte mich halb besinnungslos in das Sargbett. Hier endlich überfiel mich fiebriger Schlaf.«27

Auch an dieser Lehrstelle wurde Petzold skrupellos ausgebeutet und war zudem vulgären Beschimpfungen ausgesetzt  : »Als ich um acht Uhr abends, von dem vielen Herumlaufen zum Umfallen müde, erfuhr, daß erst gegen zwei Uhr, manchmal auch erst um drei Uhr zugesperrt wurde, überkam mich ein Schauern. Je dunkler es draußen wurde, desto mehr Gäste kamen zu uns herein. Alle Tische waren nun besetzt, und es wurde gegessen und furchtbar viel getrunken. Ich konnte dem Bedarf an Bier und Wein beinahe nicht nachkommen, meine dünnen Finger schienen mir abzubrechen. Dabei waren die Gäste wohl an geübtere Bedienung gewöhnt und von schrecklicher Ungeduld. Bald war ich ein ›tramhapata Kruz‹, bald eine ›scheanweanklete Schildkrot‹ oder ein ›Krowotennigl‹, und Tepp, Trottel und Esel waren Namen, die ich gar nicht mehr hörte, so oft wurde ich damit bedacht. Ich bemühte mich, so gut es ging, nicht darauf zu hören, aber einmal mußte ich doch mit Mühe meine Tränen zurückhalten  : Ein dicker, rotblau gefärbter Bürger Simmerings, dem ich sein Viertel Alsegger nicht schnell genug brachte, grunzte laut durch den Raum, daß alle Leute ihn hören konnten  : 27 Ebd., S. 113 ff.

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›Du bucklata Raubersbua, mir scheint, du hast in dein Buckel lauter Silberguldn drin, daß d’gar so fad umanandaschleichst. Da Wirt soll da dei Sparkassa aufschneidn  !‹ Um Mitternacht torkelten die meisten Gäste nach Hause und nur die Kartenspieler blieben noch sitzen. Unmengen von Wein verschwanden in ihnen wie in Schläuchen. In meinem Kopf begann es, als ob Mühlsteine mein Hirn zerrieben. Der Dunst war zum Schneiden, und meine Augen, die an eine solche Atmosphäre nicht gewöhnt waren, brannten wie glühende Kugeln in den Höhlen. Dabei wollte das Spiel- und Trinkgelage kein Ende nehmen. In der Küche war schon längst das Licht abgedreht, die Mädchen schliefen seit einiger Zeit. Nun kam auch die Wirtin, eine rundliche Frau, deren Haarschopf stark nach Nußöl duftete, und leistete den Gästen, die ich zum Teufel wünschte, Gesellschaft. Mit größter Gemütsruhe hatte sie sich zu ihrem Sessel ein Schaff Wasser gebracht und badete darin ihre prall aufgeblasenen Füße, während sie ein Glas Wein nach dem andern trank und ab und zu ein Stück Semmel hineintauchte. Der Wirt vertrat indessen den Schankburschen, der das Zinngeschirr und die Gläser reinigte. Endlich brachen die Gäste auf und verließen umständlich das Gasthaus, indem sie das unsinnigste Zeug mit der größten Wichtigkeit vorbrachten.«28

Als eines Abends seine Mutter kam, um ihn abzuholen, weil der sterbenskranke Vater ihn noch einmal sehen wollte, gab ihm der Wirt trotz aller Bitten auch nicht für ein paar Stunden frei. Als die Mutter darauf bestand, ihren Sohn jetzt mitnehmen zu dürfen, schrie ihr der Wirt entgegen  : »No, so schaun S’, daß zum Teufi gengan, samt Ihnan bucklatn Prinzn  ! In mein Gschäft is für so an Strolch ka Platz  ! Dös Zeugnis schick i Ihna murgn mit da Post.«29 Mutter und Sohn eilten zu Fuß durch die kühle Oktobernacht ans Sterbebett des Vaters. Am Morgen teilte ihnen ein Arzt mit, dass der Vater eine akute Gehirnerweichung habe und nicht mehr bei Bewusst28 Ebd., S. 111 ff. 29 Ebd., S. 122.

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sein sei. In der folgenden Nacht starb er. Alfons erkrankte plötzlich an Rippenfellentzündung mit hohem Fieber und musste das Bett hüten. Er konnte an der Beerdigung seines Vaters nicht teilnehmen. Als er halbwegs genesen war, beschloss er, eine Stelle zu suchen, für die keine Vorbildung notwendig war. Er war damals sechzehn Jahre alt. Das Erlernen eines Handwerks hatte er endgültig aufgegeben. Es gelang ihm schließlich, »als männliches Mädchen für alles in ­einer Stiefelschmier- und -wichsefabrik aufgenommen«30 zu werden. Sein Wochenlohn betrug nur fünf Kronen. Nach drei Monaten wurde er von einem »Schachtellieferanten« abgeworben, der ihm wöchentlich eine Krone mehr zahlte. Die Werkstätte war in einem Kellerraum untergebracht, in der sechs resolute Arbeiterinnen gemeinsam mit dem Besitzer Kartons herstellten. Es gab dort ein großes Problem, das in Großstädten nicht selten ist  : »Die Heftmaschine, an der ich arbeitete, wenn ich nicht gerade ›liefern‹ war, stand in einer Ecke des Raumes, und ich kehrte, vor ihr sitzend, meinen Rücken den Arbeiterinnen zu. Wenn ich sie in Bewegung setzte, klirrte sie so laut, daß man in der Werkstätte kein Wort verstehen konnte, wenn es nicht gebrüllt wurde. So konnte ich mit den Mädchen während der Arbeit wenig reden. Nur wenn ich die gehefteten Schachteln zum Bekleben an ihre Tische trug, fiel hie und da eine Frage oder eine Antwort auf einen spöttelnden Zuruf von meinen Lippen  ; um so wortreicher waren die Mädchen. Da wurde getuschelt, gehänselt, gefragt, erstaunt getan, geschimpft, Leute wurden ausgerichtet, mit einer Zungenfertigkeit, die mich verblüffte und schweigen hieß. Sie legten auch ihre Worte nicht auf die Waagschale und erörterten zum Beispiel erotische Fragen mit einer Ungeniertheit, die mir die Schamröte in die Wangen trieb. Ich fühlte mich daher mehr zu meinem Meister hingezogen, der gleich mir nichts von der Schlagfertigkeit und Redegewandtheit hatte, über welche die Arbeiterinnen von der ersten ›Pickerin‹ bis zum kleinsten Lehrmädchen herunter in einem so hohen Grade verfügten. 30 Ebd., S. 128.

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Wir beide, so Herr wie Knecht, lebten unter diesen lauten Kindern der Vorstadtwelt wie zwei einsiedelnde Mönche, die zufällig in einen Schwarm andersgesinnter Menschen gekommen waren und die Sprache dieser nicht verstehen wollten. Nur war es bei mir eher meine Jugend, die mich abhielt, mich mehr mit meinen Arbeitskolleginnen abzugeben, als es unbedingt notwendig war, während den Meister die angeborene Schüchternheit daran hinderte. In einem waren wir den alten und jungen Arbeitshummeln über und flößten diesen sogar Respekt ein, das war unser Verhalten den Ratten gegenüber, deren es im Hause ungezählte gab. Besonders in den Kellerlokalitäten, die außer unserer Werkstätte auch noch ein Milchproduktengeschäft beherbergten, machten sich diese Grauröcke unangenehm bemerkbar. Beinahe jeden Morgen gab es vor Beginn der Arbeit eine Rattenjagd, bei der die Arbeiterinnen angstvoll auf die Tische kletterten und von diesen gesicherten Orten aus die kühnen Taten ihres Meisters und Kollegen, oft furchtsam aufkreischend, verfolgten, wenn sie es nicht gleich vorzogen, sich auf die Gasse zu flüchten. Wir fielen dann mit Besen und Stöcken über die pfeifenden Kellerhasen her, trieben sie entweder in die Löcher zurück oder erschlugen sie, wenn wir dabei Glück hatten. Aber auch tagsüber rief uns oft der entsetzte Schrei einer Arbeiterin zu Hilfe, wenn sich eine Ratte in einer Papierrolle oder gar in einer Tischlade versteckt hatte. Gleich wurden dann, wieder unter angstvollem Gezeter, die Tischplatte oder die Fensterbrüstung bestiegen und die kläglichsten Bitten und Beschwörungen an uns zwei Männer gerichtet, daß wir unser Schwert zur Verteidigung der bedrohten Weiblichkeit ziehen mochten … Trotz unseres Vernichtungseifers nahm die Rattenplage immer mehr überhand … Eine besonders ängstliche Arbeiterin kündigte eines Tages aus Angst, von den blutdürstigen Bestien gebissen zu werden, und die anderen waren nahe daran, ihrem Beispiel zu folgen.«31

Nach einem Unfall des Meisters wurde der Betrieb allerdings bald geschlossen. In dieser Kartonwerkstätte lernte Alfons Ludwig Ruppmeier32 31 Ebd., S. 136 ff. 32 Petzold wählte für Ludwig Ruppmeier in seinem autobiografischen Roman »Das rauhe

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aus Hernals kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Petzolds Mutter hatte eine Stelle als Wartefrau in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt in Rudolfsheim angenommen. Ihr Dienst begann um fünf Uhr früh und dauerte bis spät in die Nacht. Für die alte und gebrechliche Frau war dies wahrlich keine angenehme Arbeit, zudem war sie dabei den ständigen Streichen und Quälereien der Gassenjungen ausgesetzt. Alfons und sein Freund Ludwig kamen deshalb abends und auch sonntags zu ihr, um sie zu beschützen und auf dem Heimweg zu begleiten. Als sie sich wegen ihres langen Weges zum Arbeitsplatz in eine ihrem Wohnort näher gelegene Anstalt nach Ottakring versetzen ließ, traf sie es nicht besser. Es war Winter, eiskalt, der kleine Raum, in dem sie sich aufzuhalten hatte, war nicht geheizt, es plagten sie arge Schmerzen in ihrem noch nicht ausgeheilten Arm. Um die extreme Kälte zu überstehen, wickelte sie sich wollene Fetzen um die Füße und begann leidenschaftlich Kaffee mit Rum zu trinken. Eines Tages bekam sie Fieber und starke Heiserkeit, am Heiligen Abend als sie abgeholt wurde, fiel sie in Ohnmacht. Beinahe vierzehn Tage musste sie im Bett bleiben, und als sie ihren Dienst wieder antreten wollte, erfuhr sie, dass die Stelle mit einer anderen Frau besetzt worden war. Petzold war mittlerweile in einer Kunstblumenfabrik für sechs Kronen wöchentlich beschäftigt. Es war ein besonders strenger Winter mit Eis und tiefem Schnee. Die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung war äußerst schlecht  : »Außenpolitische Ereignisse beeinträchtigten den allgemeinen Geschäftsgang. Viele Fabriken arbeiteten mit der Hälfte ihres sonstigen Personals, und die Neubauten waren wegen der grimmigen, anhaltenden Kälte eingestellt worden. In jedem Beruf gab es eine erschrecklich große Anzahl von Arbeitslosen. Das Elend der unteren Volksschichten stieg wie sonst nur in Kriegs- und Mißerntejahren. Die Tagesblätter waren voll von Tragödien Leben« den Decknamen Ludwig Aschenbrenner. Siehe  : Roman Herle, Alfons Petzold. Versuch einer Monographie, Diss. Wien 1927, S. 16.

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des Hungers und Frostes. Vor den Wärmehallen stauten sich breite Massen schutzsuchender Menschen, und vor den Asylen für Obdachlose gab es blutige Kämpfe. Dabei johlte nicht weit davon der Fasching durchs Land und strömte ausgelassenste Festfreude aus den überfüllten Ballhäusern.«33

Ende März war in der Kunstblumenfabrik Saisonschluss, und Petzold war wieder einmal arbeitslos. Auch Ludwig Ruppmeier hatte seinen Posten verloren. Petzold verkaufte Möbel und Einrichtungsgegenstände beim Trödler, um wenigstens Brot kaufen zu können. Da sie beide keine Arbeit fanden, kam Ludwig auf die Idee, im Dornbacher Wald Vögel zu fangen und diese einem Vogelhändler zu verkaufen. Einen einzigen Vogel konnten sie erwischen und erhielten dafür vier Zwanzig-Heller-Stücke. In den nächsten Tagen räumten sie unter großer Gefahr den Schnee von einigen Dächern ab und erhielten dafür insgesamt sechzehn Kronen. Sie leisteten sich endlich einmal ein gutes Essen. In all den Jahren seiner Lehrzeit und auch als Hilfsarbeiter las Petzold bei jeder Gelegenheit, wenn er nicht gerade zu müde war, mit großer Freude die verschiedensten Bücher. Sie erschlossen ihm eine bessere Welt und führten ihn »an der Hand der Dichtung in die Gefilde fremder Phantasie, in denen Schicksale und Erlebnisse anderer Menschen und Dinge in ihrer Größe und Kleinheit an ihn herantraten und ihn sein eigenes karges Leben vergessen ließen«.34

Ludwig lockte es in die Ferne, er ging auf die »Walz«35. Petzold vermisste ihn sehr, seine unbändige Lebenslust, seine Geschicklichkeit, sich in jeder Situation zurechtzufinden  : 33 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., S. 158. 34 Alfons Petzold, Aus dem Leben und der Werkstätte eines Werdenden, a. a. O., S. 44. 35 Als Walz werden die Wanderjahre zünftiger Gesellen nach dem Abschluss ihrer Lehrzeit bezeichnet. Sie war ein Teil des vorgeschriebenen Ausbildungsweges all derer, die dem

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»Besonders am Sonntag, wenn ich die Mutter nun auf den Friedhof begleitete, fühlte ich mich ganz verlassen und konnte selbst in den Büchern keinen Ersatz für den Freund finden … Ich fing nun an, diese trostlose Stimmung in Worte zu fassen, die dann oft zu Versen wurden und die ich dann in einem Heft niederschrieb. Sie hatten alle nur ein Thema  : die Sehnsucht nach dem verlorenen Freund, und liehen mit Vorliebe die schwermütigen Worte und Wendungen Lenaus und Heines, deren Gedichte jetzt meiner Traurigkeit am besten entsprachen …«36

Nach einer kurzen Beschäftigung auf einer Baustelle ließ sich Petzold von seiner Mutter überreden, dem Sohn der damaligen Hausfrau Nachhilfe für den Schulunterricht zu geben. Deren Mann nahm ihn in seiner Bronzewarenfabrik auf und teilte ihn der Stanz- und Prägewerkstätte zu, wo er eine Stanzmaschine zu bedienen hatte. An zwei Nachmittagen in der Woche wurde ihm freigegeben, um mit dem Hausherrensöhnchen zu lernen. Der Lohn betrug zehn Kronen die Woche. Der Knabe, den er unterrichtete, war ein verhätscheltes, kapriziöses Kind, das »sich zum Tyrannen des Hauses entwickelte«.37 Als Petzold dem Knaben einmal eine Ohrfeige gab, wurde er entlassen. Petzold war nun ungefähr siebzehn Jahre alt. Er hatte sich verändert  : » … aus dem einstigen Klosterschüler war ein dummer, blindwütiger Schreier gegen den Klerikalismus geworden. Statt Lueger hieß nun mein Held K. H. Wolf 38, und ich verschlang jede in der Zeitung abgedruckte

Zunftzwang unterlagen, und eine der Voraussetzungen für den Gesellen, sich für die Prüfung zum Meister anzumelden. 36 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., S. 170 f. 37 Ebd., S. 174. 38 Karl Hermann Wolf (  1862–1941) war Abgeordneter des Böhmischen Landtags, Reichs­ tagsabgeordneter ( 1897), Mitglied der Provisorischen Nationalversammlung, Herausgeber und Schriftsteller. Er war Autor zahlreicher Artikel in der »Deutschen Wacht«, der »Deutschen Volkszeitung«, dem »Deutschen Volksblatt« und Obmann des »Deutschnationalen Vereines in Österreich«. Er gründete 1890 in Wien die »Deutschnationale Zeitung« und die »Ostdeutsche Rundschau«. Zwischen ihm und dem Minis-

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Rede dieses alldeutschen Führers. Ich schrieb eine Menge Kampf- und Spottverse gegen die Pfaffen, in denen ich die alleinigen Urheber allen Übels auf Erden erblickte. Mein sehnlichster Wunsch war deshalb, aus der katholischen Kirche aus- und in die protestantische einzutreten. Gesteigert wurde er durch die ›Los-von-Rom‹-Bewegung, die in diesen Tagen ihren Höhepunkt erreichte und deren begeisterter Sprecher und Apostel wieder der von mir so vielverehrte Wolf war. Wäre ich nicht so stillen und scheuen Gemüts gewesen, ich hätte einen großen Radaumacher abgegeben.«39

Immer öfter schrieb Petzold jetzt Verse  : » … sie klangen nicht mehr so traurig wie ihre Vorgänger. In manchen versuchte ich schon ein fremdes Schicksal sprechen zu lassen, und eines Abends war es mir gelungen, in einigen Versen das Leid und die Freude eines Arbeiters, wie ich es war, schüchtern und spröde zum Ausdruck zu bringen. Sonst waren aber die meisten meiner damaligen Ergüsse erfüllt von dem Denken eines siebzehnjährigen Burschen, der den Wilhelm Meister noch immer schrecklich langweilig fand und lieber zu Felix Dahn und Julius Wolff 40 griff.«41

Einem Freund, den er in der Volksbibliothek kennengelernt hatte und der eine Schauspielschule besuchen wollte, vertraute er seine Gedichte an, die dieser aufmerksam las. Er sagte, »einige … Gedichte hätten ihm terpräsidenten Graf Kasimir Badeni kam es zu einem Pistolenduell, bei dem Badeni verletzt wurde. 1901 trat er der Schönerer-Gruppe ( Alldeutsche Vereinigung) bei. Wegen parteiinterner Konflikte spaltete sich die Gruppe um Wolf 1902 als Frei-Alldeutsche, später Deutschradikale Partei, ab. 39 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., S. 175. 40 Julius Wolff ( 1834–1910) zählt zu den sogenannten »Butzenscheibendichtern«. So wurden jene Dichter abwertend bezeichnet, die altertümelnde Verserzählungen über historische – und Sagenstoffe verfassten. Ein bekanntes Werk von Wolff ist z. B. »Der Rattenfänger von Hameln« ( 1876). 41 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., S. 175.

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sehr gefallen, doch vermisse er erstens die Metrik und zweitens die Liebe darin«.42 Der neue Freund führte Petzold in die Geheimnisse der Metrik ein, er erklärte ihm anhand von Beispielen, »was ein Streckvers, ein Blankvers, ein Pentameter und ein Hexameter sei, wo man den Daktylus, wo den Alexandriner anzuwenden habe«.43 Beim nächsten Treffen brachte er eine Verslehre mit. Petzold studierte die Hebungen und Senkungen und schrieb nun täglich ein Gedicht nach dem anderen. Die beiden Freunde sprachen bei ihren Zusammenkünften verschiedene Texte aus Theaterstücken mit verteilten Rollen und beschäftigten sich eifrig mit Rhetorik und Mimik. Bald gesellte sich noch ein junger Mann zu ihnen, der sich voll und ganz dem Theater widmen wollte. Nun lernten die drei unterschiedliche Rollen auswendig und probten einzelne Szenen aus verschiedenen Stücken. Fast jeden Sonntag besuchten sie die Nachmittagsvorstellungen im Josefstädter Theater und an Montagen die billigen Klassiker-Vorstellungen im Deutschen Volkstheater. Begeistert jubelten sie den beliebten Schauspielerinnen Hansi Niese und Adele Sandrock zu, und es wuchs in ihnen der Wunsch, selbst einmal an e­ iner Theateraufführung mitzuwirken. Als sie mit Mitgliedern des »Ersten deutschen Hernalser Theater- und Humanitätsvereins Harmonie, 1898« bekannt wurden, begannen sie, einen großen Theaterabend zu planen. In einem Gasthaus in Hernals traten sie dann tatsächlich vor einem zahlreichen und begeisterten Publikum in Szenen aus »Don Carlos« auf. Erst nach langem Suchen fand Petzold eine neue Arbeitsstelle  : Eine Wäscherei in Hernals nahm ihn als Wasserträger auf. Der Lohn betrug neun Kronen die Woche. Auch waren er und seine Mutter wieder einmal umgezogen. Nach einer Stube im dritten Stock eines Zinshauses mit Blick auf einen kleinen Garten bewohnten sie nun eine armselige Kammer, »ein ebenerdiges, feuchtes Loch, dessen Fenster auf einen düsteren Lichthof führten, wo nur Abfall, heruntergebröckeltes Mauerwerk und manchmal eine Ratte zu sehen waren«.44 Die Freunde kamen immer 42 Ebd., S. 183. 43 Ebd., S. 184. 44 Ebd., S. 207.

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Petzolds Lebensweg

seltener und blieben schließlich aus. Die Tätigkeit in der Wäscherei  – Petzold hatte den Wäscherinnen im dritten Stock aus dem Hof Wasser in einer großen Butte zu bringen – war für seine schwache körperliche Konstitution nicht geeignet. Nach ein paar Wochen brach er zusammen und war abermals arbeitslos. Als die Mutter den Volkssänger Josef Hornig traf, der ein guter Bekannter des Vaters gewesen war, und ihm erzählte, dass Alfons Gedichte schrieb, äußerte dieser die Idee, Alfons möge doch Couplets und Possen für die Volkssänger verfassen. Petzold sträubte sich zunächst dagegen, doch dann versuchte er es, und schon für sein erstes Couplet erhielt er fünf Gulden. Aber es war gar nicht so einfach, Couplet-Texte zu kreieren, sollten sie doch immer pointenreich, politisch aktuell und auch humoristisch sein. Nur wenige, die er vorlegte, wurden auch für gut befunden. Allein, es fanden sich kaum Käufer. Auf den Rat eines erfahrenen Volkssängers hin schrieb Petzold auch Possen und »dramatische Lebensbilder«. Sein Einakter »Heimkehr des Zuchthäuslers« wurde im Großen Saal der Zobelschen Bierhalle auf dem Lerchenfelder Gürtel aufgeführt und mit rasendem Beifall bejubelt. Petzold erhielt dafür nur zehn Kronen. Da die große Zeit der Volkssänger – der Unterhaltungskünstler und Vokalisten in Theater-Ensembles – in den Vorstadtgasthäusern Wiens ihrem Ende zuging, wandte sich Petzold von dieser Art der Dichtkunst wieder ab, obwohl sie ihm »zu dem ersten materiellen und ideellen Erfolg verholfen hatte«.45 Eine Appreturanstalt und Färberei, ein großer Maschinenbetrieb mit einigen Hundert Arbeitern, nahm Petzold als Hilfsarbeiter auf. Er hatte zunächst Kohlen ins Heizhaus zu tragen, dann musste er eine Maschine, einen Kalander, bedienen, mit dem zumeist Stoffe verschiedenster Art mit einer Prägung versehen wurden. Sein Wochenlohn betrug vierzehn Kronen – mehr als jemals zuvor. Auf dem täglichen Weg zur Arbeit lernte er einen Metalldreher kennen, dessen Eltern eingewanderte polnische Juden waren. Durch diesen Freund kam er erstmals mit Sozialdemokraten in Berührung. Petzold bekannte später  : 45 Ebd., S. 234.

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Lehrling und Hilfsarbeiter

»Meine politischen Kenntnisse waren damals sehr gering … Vom Sozialismus wußte ich gar nichts und warf ihn mit Nihilismus und Anarchismus in einen Topf.«46

Der junge Jude nahm ihn mit in die Vereinsversammlungen der »Jugendlichen Arbeiter«, und schon nach dem dritten Besuch ließ sich Petzold als Mitglied aufnehmen. Er war fasziniert von den Vorträgen, die dort stattfanden, begeistert von der Vereinsbibliothek, er schätzte die Diskussionen über die Lage der jugendlichen Arbeiter und die Ratschläge, die ältere Mitglieder den jüngeren erteilten, er fühlte sich wohl in dieser Gemeinschaft. Eine neue Welt eröffnete sich ihm  : » … ein Mensch unter den Menschen sein zu dürfen, kein Zugtier unter Zugtieren, welche Offenbarung  ! … Ich bekam einen neuen Inhalt, einen inneren Reichtum, der mich gleich sein ließ mit jenen, welchen Geburt oder ein Glücksfall adelige Namen, Würden und Reichtümer geschenkt hatte. Mein früheres Leben fiel wie Schutt zusammen …«47

Petzolds Beschäftigung mit dem Sozialismus führte auch dazu, dass er nun die Freiheitsgedichte von Heine, Freiligrath und Herwegh las, deren Bücher er aus der Vereinsbibliothek auslieh. Seine eigenen Gedichte lenkte er in neue Bahnen, sie wurden Klagen, Anklagen, in denen Schachtbrände, Hunger, Revolutionen eine Rolle spielten, und der Held war immer der ausgebeutete Arbeiter. Die Gedichte schrieb er so nieder, wie sie in ihm »aufklangen«, denn mit den Regeln der Metrik, die er studiert hatte, kam er nicht zurecht. Er berauschte sich an den Worten »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«. Sozialismus war für ihn damals in erster Linie Anklage und Rache. Er sah »in jedem Unternehmer einen herzlosen Despoten, in jedem Priester die personifizierte Dummheit und Lüge und war nun … von einem ungerechten, blinden Haß erfüllt …«48 Zum Sozialismus in seiner edlen Form fand er erst Jahre später.

46 Ebd., S. 237. 47 Ebd., S. 238. 48 Ebd., S. 239.

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Petzolds Lebensweg

Sein Freund veranlasste, dass er eine Reihe seiner neuen Gedichte mit sozialem Inhalt an einem Vereinsabend im Lerchenfelder Gasthaus »Zum weißen Engel« vorlas. Eines der Gedichte jener Schaffensperiode, das Petzold selbst später angab, ist folgendes  : Der Krüppel Schleicht da einer die Straße entlang, mühselig, schleppend ist sein Gang  ; kann kaum seine Füße bewegen, muß wie ein Wurm sich winden und regen, blickt alle Menschen trübsinnig an  : ein verkrüppelter Mann. Vor Wochen noch stand er beim Amboßstein, glühte Eisen in Eisen ein. Bis ihn die Transmission erfaßt, die ihm die schaffende Hand zerpraßt, und er auf der Klinik lag und sann  : ein verkrüppelter Mann. Sein Chef, bei dem er den Arm verlor, sprach mit dem Bittenden vor dem Tor  : »Mann, das kann hier jedem geschehn  ; ich kann doch nicht hinter den Leuten stehn. ’s war halt vom Schicksal ein dummer Streich. Schade um Euch  !« Und gibt ihm zehn Kronen den Monat  ; zur Not entgehen die Kinder dem Hungertod. Doch weil sie ewig hungrig sind, sein Weib vom nächtlichen Nähn halb blind, muß er an Straßenecken stehn und um das kupferne Mitleid flehn.49

49 Alfons Petzold, Aus dem Leben und der Werkstätte eines Werdenden, a. a. O., S. 57 ff.

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Lehrling und Hilfsarbeiter

Petzolds politisches und soziales Gewissen war erwacht. Er ließ sich aufklären über die Arbeiterorganisationen, Gewerkschaften und Arbeiterverbände und las Artikel darüber. Er machte sich Sorgen über seine Arbeitskolleginnen und -kollegen  : »Mit Betrübnis vermißte ich eine solche Organisation in unserer Fabrik, wo ungefähr fünfhundert Arbeiter und Arbeiterinnen schutzlos der Willkür des Unternehmers ausgesetzt waren. Das ging am Morgen wie Schafe in die Hürde und verließ in derselben Teilnahmslosigkeit des Abends den Arbeitsstall, mit der einzigen Genugtuung im Gehirn, daß wieder ein Tag hinter ihm lag und daß der Samstag und Sonntag nähergekommen waren. Wenn ich über dieses traurige Leben meiner Kameraden nachdachte, befiel mich abwechselnd eine tiefe Traurigkeit und ein maßloser Zorn, und ich zergrübelte mir das Hirn nach einer Befreiung des Proletariats von diesem schmachvollen Los.«50

Es war mitten im Winter, Anfang Jänner. Petzold war im Vereinslokal der »Jugendlichen Arbeiter«, als eine Nachbarin ihn aufgeregt aufsuchte und ihm mitteilte, dass seine Mutter auf der vereisten Straße ausgerutscht sei und sich den rechten Arm gebrochen habe. Petzold rannte sofort nach Hause und fuhr mit der Mutter ins Allgemeine Krankenhaus, wo ihr nach endlosem Warten – der diensthabende Arzt war zu einer Geburtstagsfeier gegangen – zunächst auch geholfen wurde. Die weitere Behandlung konnte allerdings nicht verhindern, dass der Arm steif blieb. Da die Mutter nicht mehr arbeiten konnte, musste Petzold den kleinen Haushalt nun von seinem geringen Einkommen bestreiten. Er durfte nicht daran denken, was geschähe, wenn er entlassen würde, was ja jederzeit erfolgen konnte. Deprimiert stellte er fest  : »War es ein Trost, daß es hunderttausend Arbeiterfamilien so ging wie uns  ? Die waren oft noch schlechter dran als wir, denn nicht selten steigerte eine große Kinderschar die Angst vor Hunger und Obdachlosigkeit – 50 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., S. 243.

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Petzolds Lebensweg

die Kinder, die das tiefste Glück, die heiligste Freude ihres Lebens sein sollten. In den vielen, vielen Zinshäusern der Vorstädte waren die Wohnungen, Gänge und Stiegen erfüllt von dieser Angst, sie schwebte stets als dunkle Wolke über dem Leben des Arbeiters  ; sie konnte ihn bis zum Irrsinn erregen, am hellen Tag zum Erzittern bringen, ihm den tiefsten Schlaf stören, und selbst die Liebesstunde vergällen. Heimatlos  ! Oh, was ist das für ein harmloses Wort gegen das  : Arbeitslos  !«51

Ende September dieses Jahres beteiligte sich Petzold mit Eifer an der Wahlarbeit der »Jugendlichen Arbeiter« für die Landtagswahlen. Die sozialdemokratischen Agitatoren hatten es besonders schwer, da sie im Gegensatz zu den christlichsozialen von der Polizei verfolgt wurden. Die jungen Arbeiter verteilten Wahlaufrufe und warben noch am Tag der Wahl auf der Straße und in den Häusern um Stimmen. Petzold wurde bei dieser Tätigkeit von einem Polizisten erwischt und – wie viele andere – wegen Staatsgefährlichkeit festgenommen und eingesperrt. Groß war die Freude der Verhafteten, als feststand, dass Franz Schuhmeier Wahlsieger war. Petzold wurde zwar noch am selben Tag aus der Haft entlassen, er verlor aber wegen seiner Mitwirkung an den Wahlen – er war an diesem Tag nicht in der Fabrik erschienen – und seiner Angehörigkeit zu einem sozialdemokratischen Verein seinen Arbeitsplatz. Petzold musste wieder eine für ihn viel zu schwere körperliche Arbeit annehmen. Für eine Reinigungsanstalt war er »zwölf, manchmal auch dreizehn und vierzehn Stunden« als Fensterputzer tätig. Er erhielt einen Tagelohn von einer Krone fünfzig Heller. Es war einer der vielen unangenehmen Arbeitsplätze seiner Lehr- und Hilfsarbeiterzeit, von denen er in seinem autobiografischen Roman mehr als zwanzig angegeben hat. Es dürften allerdings weitaus mehr gewesen sein, wie aus anderen Schriften hervorgeht. Im November wurde seine Mutter ins Kronprinzessin-Stephanie-Spital in Ottakring eingeliefert. Sie war von einem Fleischhauer-Wagen niedergestoßen worden. Trotz ihrer großen Schwäche und ihres Nervenschocks behielt man sie dort nicht lange. Man schickte sie mit dem Bemerken 51 Ebd., S. 253 f.

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Lehrling und Hilfsarbeiter

» … Wir sind ja hier ein Spital und keine Versorgungsanstalt.52 … Wir haben keinen Platz für eine alte Pfründnerin, die noch dazu Ausländerin ist … «53 nach Hause. Petzold war verzweifelt  : »Ich mußte – ich war damals Fensterputzer – schon um halb fünf Uhr früh das Haus verlassen, um erst in der Abenddämmerung heimzukommen, und ich wußte doch meine arme, schwerkranke Mutter zu Hause ohne jegliche Pflege, höchstens, daß ihr die mitleidige Hausbesorgerin mittags ein wenig Suppe brachte. Dazu ging es schon in den November hinein, und in der kleinen Kammer, die ich mit meiner Mutter bewohnte, herrschte tagsüber empfindliche Kälte, ohne daß meine fußschwache Mutter sich davor schützen konnte. So lag sie denn geduldig, einsam, frierend und schmerzgeplagt in ihrem Bette, bis ich abends nach Hause gerannt kam, einheizte und ein warmes Nachtmahl bereitete. Des Nachts schlief ich auf einem großen Koffer, da ich meiner Mutter das Bett allein überlassen hatte. Die wirren Fieberphantasien, die meine Mutter des Nachts überfielen, samt dem furchtbar harten Lager ließen mich zu keinem gesunden Schlaf kommen und des Morgens war ich wie zerschlagen und gerädert. In meiner Not ging ich zur Polizei und fragte, was ich beginnen sollte, um die Mutter wieder in ein Spital zu bringen. Man zuckte die Achseln und wußte keinen Rat. Nur ein Polizeiagent sagte  : ›Wissen S’, das beste is, Sie nehmen Ihnare Mutter auf d’ Straßen mit, lassen s’ durt z’sammfalln und von der Rettung wieder in a Spital führn, dann ham S’ wieder für a paar Tag Ruah  !‹ Es war aber für mich nicht mehr nötig, diesem menschenfreundlichen Rat zu folgen. Der Tod war barmherziger als die Spitalverwaltung, weiser als die Polizei  ; er fragte nicht nach einem Heimatausweis, verlangte keine Sicherstellung eventueller Kosten  ; eines Nachts riß mich ein Ton, der wie ein Peitschenknall durch die Stube hallte, aus meinem Halbschlummer, ich stürzte zum Bett meiner Mutter und fand eine von aller Qual Erlöste.«54 52 Ebd., S. 270. 53 Ebd., S. 272. 54 Alfons Petzold, Aus dem Leben und der Werkstätte eines Werdenden, a. a. O., S. 60 ff.

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Petzolds Lebensweg

Petzold war neunzehn Jahre und zwei Monate alt, als seine Mutter starb.55 Meiner Mutter Du lehrtest mich, aus dem Geschick der Armut mich emporzurichten, und daß nur dem wird großes Glück, der auf das kleine kann verzichten. Und diese stille Lehre gab mir jenes lächelnde Bescheiden, das mir ein guter Wanderstab war auf der Straße meiner Leiden.56

Blut Blut meines Vaters, warum quälst du mich  ? Mein Wunsch ist, ganz in Stille Mensch zu sein. Doch du bist im Verlangen fürchterlich, denn aller Zwang der Menschen engt dich ein. Ich bin nur eine Wiese, schmal und seicht, du wühlst dich wie ein Strom in mich hinein. Doch wenn auch hier und da dein Ufer weicht, fest steht dahinter alter Sitte Stein. Du schlägst mich wund mit deinem Wellenschlage  ; oft stürmst du so verzweifelt in mir an, daß ich vor Bangnis kaum zu atmen wage,

55 Ebd., S. 59. 56 Alfons Petzold, Der Ewige und die Stunde. Gedichte, Leipzig 1912, S. 72.

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Obdachlos und krank

und während wild dein Wille braust heran, erstickt mein Schrei in einer stummen Klage und in der bittren Mahnung  : Sei ein Mann  !57

Obdac h l os u n d k r a n k Mit der zunehmenden Industrialisierung und dem verstärkten ­Zuzug der Landbevölkerung in die Haupt- und Residenzstadt wurde die Wohnungsnot in Wien immer größer. Die Mieten der Kleinwohnungen stiegen rasch. Viele Wohnungen waren feucht und dunkel, teilweise ohne Fenster und nicht beheizbar. Oft wohnten sechs oder acht Menschen in einem Raum. Fast ein Drittel der Wiener Bevölkerung hatte ihre Unterkunft nur als Untermieter oder »Bettgeher«. Manche fanden eine notdürftige Schlafstelle beim Arbeitgeber. In den Elendsquartieren in Ottakring und Brigittenau hausten apathisch Arbeitslose, Kriminelle, Prostituierte. Und die desolaten Wohnverhältnisse führten zu Krankheiten, Siechtum, Alkoholismus. Die Tuberkulose in den Armenvierteln war weit verbreitet, und viele Kinder litten unter Rachitis. Die Massenquartiere, Wärmestuben, Männerheime waren überfüllt. Den Ärmsten, den Obdachlosen dienten das Kanalsystem oder die Ziegelöfen am Stadtrand als Zufluchtsort. Das Industrieproletariat wuchs an. Nach dem Tod der Mutter stand Petzold allein da. Er war stellenlos und hatte monatelang nicht genug zu essen. Da man ihm ansah, wie schlecht es ihm ging, hatte er keine Chance, einen Arbeitsplatz zu finden. »In einem Parfümeriegeschäft meinte der Herr auch ganz offen, einen Menschen, der so sichtbar tuberkulös sei und der wohl kaum mehr als ein halbes Jahr zu leben habe, könne er doch nicht anstellen  !«58

57 Alfons Petzold, Der Dornbusch. Soziale Gedichte, Wien/Prag/Leipzig 1919, S. 73. 58 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., S. 275.

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Petzolds Lebensweg

Petzold wanderte über die Schmelz und war nahe daran, sich »in den Schnee zu legen, um endlich nicht mehr aufzuwachen, und diesem elenden Leben Valet zu sagen«.59 Der Hausherr kündigte ihm, da er die Miete für das Zimmer nicht mehr zahlen konnte. So war er in jene fatale Situation geschlittert, wie er selber sagte, » … wo der Proletarier in die bedrohliche Nähe des Zuchthauses kommt oder, wenn er sich zur Selbsthilfe zu gut oder zu feige ist, wie es bei mir der Fall war, der gänzlichen Verwahrlosung anheimfällt, bis er vor Kälte und Hunger in irgendeinem Winkel der Großstadt verreckt«.60

Erschöpft und verzweifelt suchte Petzold ein Massenquartier auf. Das Armenhotel in Ottakring trug die Aufschrift »Hotel garni, im Hofe rechts, Betten von vierzig Heller aufwärts«.61 Petzold schilderte  : »Ich durchschritt zwei Höfe, die von Wohntrakten umgeben waren, und gelangte durch eine kreischende Tür in den dritten Hof, den eine hohe Mauer abschloß. Er wurde auf der einen Seite von einem ebenerdigen Gebäude flankiert, dem gegenüber sich eine Bretterwand hinzog  ; entsprach das Stöckelpflaster der beiden anderen Höfe dem bürgerlichen, geordneten Aussehen der Wohngebäude, so harmonierte der letzte Hof, ungepflastert und voller Unebenheiten, mit dem Ziegelhaufen, in dem sich das Massenquartier befand. Beim Schein eines Öllämpchens sah ich fünf oder sechs vergitterte und rot verhängte Fenster, die fast ausnahmslos zerbrochene Scheiben aufwiesen. Die Dachrinne war ganz verbogen und goß das Regenwasser über das Gemäuer, und im großen und ganzen sah das Gebäude einem verfallenen Stall ähnlich.«62

59 Ebd., S. 276. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 277. 62 Ebd.

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Obdachlos und krank

Innen barg das Haus »jene dunkelste und allerletzte Armseligkeit der Großstadt …, die dort ihr Elend im Schlaf zu vergessen suchte«.63 Petzold hat das grauenvolle Bild, das sich ihm bot, nie vergessen  : »Ein fürchterlicher Gestank drang mir entgegen, und ich trat zögernd ein. Ganz benommen von dem mephitischen Geruch64, spähte ich in den Raum, in dem ich wie durch einen Nebel ein wüstes Durcheinander von Pritschen, Eisen- und Holzbettstellen, Sesseln und darübergehängten Kleidern, Handkoffern, Rucksäcken und Waschkübeln erblickte. Ungefähr ein Dutzend Menschen beiderlei Geschlechts lagen oder saßen zwischen diesen Gegenständen, die alle in einem Zustand größter Verwahrlosung waren … Was ich erblickte, war eine so furchtbare Orgie der sozialen Not, wie ich sie nie geahnt hätte. Hier eiterte das Großstadtleben in den furchtbarsten Geschwüren … eine junge Frau säugte ihr Kind und ein fünfzehnjähriger Junge schaute gierig auf die prall hervordringenden Brüste. Auf einem Bett, das kaum einen Meter breit war, drückte sich eine ganze Familie zusammen. Vater, Mutter und zwei Kinder. Allen vieren fieberte der Hunger aus den Augen. Einige der Gäste waren alte Arbeiter, die kein Heim und keine Familie hatten. Stumpfsinnig duselten sie vor sich hin oder lallten im Bann erbärmlichsten Schnapsgenusses irres Zeug. Einer von ihnen belästigte ein vielleicht zwanzigjähriges Mädchen mit unzüchtigen Redensarten und tappte fortwährend auf sie hinüber. Keiner der Anwesenden wies ihn zurück. Nur das Mädchen kreischte manchmal auf, wenn es der Alte gar zu arg trieb … Die mir angewiesene Lagerstätte bestand aus einem Strohsack, der auf einem halben Meter breiten Gestell lag. Das Leintuch und der Polsterüberzug mußten schon monatelang im Gebrauch gewesen sein, denn sie starrten von Schmutz. Die Decke war ein dünner Kotzen, der an vielen Stellen durchgewetzt war. 63 Ebd. 64 Übelriechend, stinkend, verpestend.

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Petzolds Lebensweg

Als ich sie aufhob, liefen ein paar Küchenschaben in eiligster Flucht davon. Am liebsten wäre ich die ganze Nacht angezogen auf dem Bett sitzengeblieben, aber Müdigkeit und die Kälte, die von den feuchten Mauern in das ungeheizte Zimmer ausstrahlte, ließen mich meinen Ekel überwinden  ! So zog ich Schuhe, Rock und Weste aus und breitete die zwei letzteren Kleidungsstücke über den Polster und das Leintuch. Dann legte ich mich in Gottes Namen nieder. Von Schlafen war natürlich keine Rede. Die Betrunkenen grölten und trieben allerlei Unfug … dazu fingen jetzt auch die Insekten an, sich bemerkbar zu machen. Meine Leidensgefährten machten sich einer nach dem andern daran, im Schein eines Zündhölzchens den Tieren nachzujagen. Die Luft wurde immer unerträglicher und jeder Atemzug eine Qual.«65

Die Nachbarin Petzolds war eine junge Mutter mit einem Säugling, die ihm im Lauf dieser Nacht ihre Lebensgeschichte erzählte  : »In der Fabrik lernte sie mit siebzehn Jahren ihren Mann kennen, nach kurzer Zeit zogen sie zusammen, ohne zu denken, daß Liebe ein Luxus ist. Als ein Kind kam, ging das Elend an, ihr Verdienst fiel aus, und was er am Samstag nach Hause brachte, reichte kaum für den Zins und die wöchentliche Rate an das Abzahlungsgeschäft, wo sie ihre Möbel gekauft hatten. Aber noch ging’s, bis auch er arbeitslos wurde. Mit Riesenschritten brach das Elend herein. Eines Tages wies man sie aus dem Hause, die Möbel wurden von der Firma zurückgenommen  ; da entfloh der Mann dieser brennenden Not und überließ Weib und Kind der unbarmherzigen Straße. Sie ging nicht in die Donau, hatte auch keine harten Worte für den Mann, sondern fand sich mit der Elastizität des Wiener Menschen in ihre trostlose Lage. Schleppte tagsüber ihr Kind von einer Wärmestube in die andere, war mittags und abends Gast bei den Klosterpforten, wo es Suppe für die Armen gab, und was sie für das Nachtlager brauchte, erhielt sie von den Passanten zugesteckt. Seit sechs Wochen führte sie dieses Leben, voll 65 Ebd., S. 279 ff.

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Obdachlos und krank

Sehnsucht nach dem Frühling, der vermehrte Arbeitsgelegenheit brachte und damit wohl ihren Hansl zurück und wieder eine Stube für alle drei. Als von einem nahen Kirchturm die Uhr die fünfte Morgenstunde verkündigte, zog ich mich eiligst an und verzichtete darauf, mich in dem Blechkübel zu waschen, der zu diesem Zweck hingestellt war, da ich gesehen, wie ihn ein Betrunkener zu anderem verwendet hatte. Ich war eben im Begriff, meine Schuhe mit Hilfe einer Spagatschnur an die Füße zu binden, als ein übernächtig aussehender Polizeiagent eintrat und uns die Papiere abverlangte. Er durchsah besonders die meinen mit großer Genauigkeit, schien aber weder durch den unerhörten Schmutz und die große Gefahr für Verbreitung von Seuchen noch durch das ungewohnte Durcheinander von Männern und Frauen irritiert zu sein.«66

Petzolds Arbeitssuche am nächsten Tag war erfolglos. Am Abend schlich er in klirrender Kälte zur Baron-Königswarterschen Wärmehalle in Ottakring und wartete gemeinsam mit Hunderten von Obdachlosen auf Einlass  : »Endlich öffnete sich das Eisengitter vor dem Eingang der Wärmestube. Ein tierischer Kampf begann, ein grauenhaftes Drängen. Kinder, Frauen, Schwächlinge wurden rücksichtslos zu Boden gestoßen. Flüche und Schmerzensschreie flogen grell durch die Luft. Unter denen, die keinen Einlaß mehr fanden, war ich. Eine Weile flehten, bettelten, schimpften wir noch vor der zugeschlossenen Pforte, dann verlor sich einer nach dem andern in der beginnenden Nacht, wie die Schiffbrüchigen von den Planken des untergehenden Schiffes im Meer verschwinden. Ich schloß mich einem Burschen an, mit dem ich einmal in einer Fabrik beschäftigt war und den ich hier als Leidensgefährten getroffen hatte. Auch er war seit Wochen arbeitslos und ohne Unterstand. Nun lud er mich ein, mit ihm diese Nacht im Sammelkanal zu verbringen, wo er schon einige Nächte hindurch logiert hatte.«67 66 Ebd., 283 f. 67 Ebd., S. 285.

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Petzolds Lebensweg

In der Nähe des Hauptzollamtes stiegen die beiden über die Kaimauer und eine Eisentreppe hinunter in das Betonbett des Wienflusses. Sie schlichen flussaufwärts und gelangten in das Dunkel eines Riesentunnels. Ein Bursche ihres Alters mit einer Blendlaterne empfing sie  : »Wir traten alle drei in die Spalte ein, die eine Art Luftschacht war und nach wenigen Schritten in eine kleine Halle führte  ; überall roch es nach feuchtwarmem Moder  ; die Unschlittkerzen, die meine Kameraden angesteckt hatten, gaben ein unstetes Licht, erhellten den Raum aber doch so gut, daß ich alles darin wahrnehmen konnte. Das niedere Gewölbe aus Ziegelsteinen maß vielleicht zwei Meter im Quadrat  ; auf dem Boden lagen alle möglichen Fetzen, Strohsacküberreste, Fragmente von Frauenund Männerkleidern, auch dicke Lagen von Zeitungspapier, darauf räkel­ ten sich sitzend oder liegend ein halbes Dutzend Gestalten. Es waren lauter Männer, von denen der jüngste etwa sechzehn, der älteste siebzig Jahre alt sein mochte. Ihre zerrissenen Kleider, die vielfach in Fetzen herun­ terhingen, die unrasierten, hohlwangigen Gesichter, die Entbehrungen, die aus ihrem ganzen Aussehen sprachen, kennzeichneten sie als die bejammernswürdigsten Bankrotteure der Gesellschaft. Mißtrauische Blicke trafen mich. Ein alter, total abgerissener Kerl, dem das eine Hosenbein in seiner ganzen Länge aufgeschlitzt war, so daß das nackte, mit Grind bedeckte Bein sichtbar wurde, torkelte auf mich zu, schob seine blutunterlaufenen Augen dicht an mein Gesicht und speichelte  : ›Wer san denn Sö, was wolln denn Sö, i kenn Ihnan ja nöt, Sö, ziagn S’ wieda a, Sö  !‹ Der Bursche, der uns empfangen hatte, drehte sich um und gab dem alten, betrunkenen ›Hanseltippler‹ ( als solchen machte ihn die leere Anchovisbüchse erkennbar, die er mit einem Strick um die Hüfte gebunden hatte) einen Stoß mit der Achsel, daß er an die Wand taumelte und dann auf die Erde rutschte, wo er liegenblieb. Jetzt waren noch einige der Anwesenden aufgestanden und uns entgegengetreten. Neugierde ist wie der Kork auf dem Wasser, sie geht auch im tiefsten Elend nicht unter. Eine Menge Fragen über meine Herkunft mußte teils mein neuer Freund, der Mehlspeisxandl, teils ich beantworten, dann aber war das Eis gebrochen,

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Obdachlos und krank

und sie behandelten mich wie einen alten Bekannten. Alles legte und setzte sich nieder, auch ich ließ mich an der Seite des Mehlspeisxandl auf einem Haufen von Lumpen nieder, der muffig genug roch und sich feucht anfühlte, aber vertrauenerweckender aussah als meine Schlafstätte am Abend vorher. Aus den Reden, die um mich herum geführt wurden, hörte ich vieles heraus, was mich von dem Schicksal der Leidensgefährten unterrichtete. Es waren Arbeitssuchende wie ich, aus der Strafanstalt eben Entlassene, seit Monaten Obdachlose, von der Polizei Gehetzte. In vielfacher Variation hallte das eine Grundthema an mein Ohr  : großstädtisches Proletarierelend. Wie wir da saßen oder lagen, in abfaulende Lumpen gehüllt, eine dünne Klostersuppe im Magen, als einzigen Genuß einen aufgeklaubten Zigarren- oder Zigarettenstumpf zwischen den Zähnen, Ratten und den stinkenden Wienfluß zu Nachbarn und immer in der Furcht, der Polizei in die Hände zu fallen, waren wir ausgestoßener von jeder Gemeinschaft der Menschen als der Verbrecher, der in seiner Zelle saß und vor Hunger, Krankheit und anderem Bösen behütet wird. Ein Schlag auf die Achsel schreckte mich aus meiner Nachdenklichkeit. Der ›geflickte Simmerl‹ war es, der Bursche, der uns hier eingeführt hatte. Er lud mich ein, an dem gemeinsamen Nachtmahl der ›Ratzenplatte‹ teilzunehmen. ›Hast gwiß eh an Mader‹, meinte er und zog mich an dem Rockärmel in den engen Kreis, den die Anwesenden jetzt bildeten. Aus einigen Ziegelsteinen war nahe dem Ausgang ein kleiner Herd aufgebaut, auf dem nun ein lustiges Feuer brannte. Der alte Hanseltippler fischte täglich das Brennmaterial aus dem Wienfluß. In einem verbeulten und verrosteten Gefäß, das ich schaudernd als Nachttopf erkannte, brodelten Kartoffeln, gelbe Rüben und Kraut. Diese Schätze, so erklärte mir der Mehlspeisxandl, stammten aus den Abfallhaufen der Gemüsemärkte, wo sie vor wenigen Stunden von den Mitgliedern der ›Ratzenplatte‹ beschlagnahmt wurden. Auch ich müsse morgen trachten, etwas beisteuern zu können. Es käme da beinahe alles in Betracht, was die Marktleute als verdorben oder sonstwie ungenießbar wegwürfen. Morgen zum Beispiel, am Freitag, gäbe es auf allen Märkten Fischstände  ; deren Abfälle, unter denen sich auch oft ein totes Weißfischel befinde, gäbe eine herrliche Suppe. Aus dem gleichen Grund wären auch die Plätze vor den Metzgerhütten zu beachten.

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Petzolds Lebensweg

Mir drehten diese Belehrungen über die kulinarischen Geheimnisse dieses Freigasthofes schier den Magen um, und es war mir trotz des großen Hungers nicht möglich, auch nur einen kleinen Löffel des grauen Breies, der süßlich roch, zu mir zu nehmen. Nach dem Abendessen zündeten wir unsere Zigaretten- und Zigarrenstumpfe an und plauderten noch eine Weile. Dann wurde die Unschlittkerze ausgelöscht, und binnen wenigen Minuten lagen wir im tiefsten Schlaf. Ich hatte mich wie die Kameraden nur der Stiefel entledigt und mit einem Kohlensack zugedeckt. Die schlaflose Nacht vorher machte sich geltend, dazu kam die Stille um mich, durch die das monotone Geräusch der Wienflußwellen als Schlummerlied hereinsickerte. So versank ich gar bald in einen traumlosen Schlaf, aus dem ich am Morgen wie gerädert erwachte. Ich hätte nicht gedacht, daß der neue Tag schon angebrochen war, denn es war stockfinster in dem Gewölbe. Aber der Mehlspeisxandl hatte mit lauter Stimme geschrien  : ›Aufstehen, Schurln, Zeit is  !‹ und ein Streichholz angezündet. Ich war erstaunt, daß unser Kamerad wußte, wie spät es war, obwohl er keine Uhr besaß. Er deutete auf meine Frage nach oben und sagte  : ›Hörst net die Elektrische pumpern und dö Mülliwagn scheppern  ?‹ Während wir unsere Stiefelfragmente so gut wie möglich an den ­Füßen befestigten, die zerlumpten Kleider mit der Hand abklopften und -schüttelten und uns notdürftig in dem zum Universalgeschirr erhobenen Nachttopf wuschen, teilte ein jeder seinen Plan für den kommenden Tag den Kameraden mit. Die einen wollten den Neubau eines großen Staatsgebäudes, an dem auch im Winter gearbeitet wurde, aufsuchen, vielleicht trat ein besonderer Glücksfall ein und sie würden aufgenommen. Sonst konnte man nach Nußdorf hinauswandern und trachten, bei der Eisgewinnung einen Verdienst zu erlangen. Der Mehlspeisxandl wollte gleich mir die Anzeigen der Tagesblätter in der Inneren Stadt durchsehen und dann sogleich die aussichtsreichen Adressen aufsuchen.«68

68 Ebd., S. 286 ff.

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Obdachlos und krank

Noch eine zweite Nacht verbrachte Petzold im Freihotel »Zum goldenen Ratzen«, wie der Sammelkanal von den dort Gestrandeten genannt wurde. Als er am nächsten Morgen den Hausmeister seines letzten Wohnhauses aufsuchte, um nach seiner Post zu fragen, erfuhr er, dass sein treuer Freund Ludwig Ruppmeier zurückgekehrt sei und seine neue Wohnadresse hinterlegt habe. Petzold eilte sofort nach Hernals. Ludwig lud ihn zum Essen ein, gab ihm Geld und nahm ihn in seiner kleinen Kammer auf. Es war einige Jahre später, als Petzold wieder wochenlang nach einem Hilfsarbeiterposten suchte  ; er war nun 24 Jahre alt. Es gelang ihm schließlich, in der Schokoladen- und Biskuitfabrik X. & Söhne, die etwa 1 600 Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigte, als Packer unterzukommen. Er hatte nicht nur Kisten, die mit Schokolade, Zucker- und Biskuitwaren gefüllt waren, zu verpacken, er musste am nächsten Morgen diese Kisten, die sechzig bis hundertfünfzig Kilo wogen, zu den bestimmten Wagen für den Abtransport tragen. In dieser Fabrik musste er sich den Spottnamen »der Buckelhupfer« gefallen lassen. Es herrschten dort menschenunwürdige Zustände  : »In den ersten Tagen meines neuen Berufs hatte noch hie und da etwas Neues mein Interesse erweckt. Nun aber war ich gleichgültig geworden, denn Tag für Tag gab es das gleiche zu sehen und zu hören, trottete ich an der Kette mit gesenktem Kopf wie ein blindes Roß, das nur ein Gefühl kennt  : das der Peitsche  ! … Im zweiten Hof von der Einfahrt lagen die Packräume, denen ich zugeteilt war. Ein langgestreckter, niedriger Raum, der stets in einem feuchten Dämmer lag und darin es nach verbrauchter Seife, faulendem Wasser und Menschenschweiß roch, war der An- und Auskleidesalon für die Packer. Auf das zweite Glockenzeichen rannten wir in den Pack- und Verladeraum, mancher noch mit seiner Toilette beschäftigt. Die Arbeit, die uns gleich am frühen Morgen erwartete, war die schwerste des Tages, wenigstens für mich, der ich, von Natur aus schwach gebaut, auch noch mit einem körperlichen Fehler behaftet war … Die Kisten, die wir tagsvorher gepackt hatten, standen berghoch aufgeschichtet im Verladeraum. Ein kleines Gebirge aus Schokolade, Zucker- und Biskuitwaren. Im Hofe stand eine ganze Wagenburg. Jeder Wagen, auch mehrere zusam-

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men, waren für die Bahnhöfe bestimmt und warteten auf ihre Last. Zu zweit trugen nun die Packer eine Kiste nach der andern zu den bestimmten Wagen, wo die Kutscher sie in Empfang nahmen. Das war ein Keuchen, Stampfen, Rufen und Schreien, ein Fluchen und Lachen  ! Über all diesem lärmenden Tun thronte auf seinem Podium der Gewaltige dieses Raumes, der Obermagazineur, welcher mit hoher, sich oft überschlagender Stimme seine Anordnungen traf. Er war auch ein ›Emporkömmling‹, aber keiner, der sich durch eigene Kraft oder Intelligenz aus der erstickenden Tiefe seiner Proletenvergangenheit etwas näher zur Sonne geschwungen hatte. Er verdankte seine Stellung einer Denunziation und seiner demütigen, hündischen Kriecherei gegenüber den Vorgesetzten – nicht zuletzt auch der Gabe, aus seinen Untergebenen mehr herauszupressen, als es anderen möglich war. Äußerlich ein gutmütiges, joviales Spießertum zur Schau tragend, war er in Wirklichkeit ein kleinlicher, böswilliger und rachsüchtiger Mensch, der in den Magazinen, die ihm unterstanden, ein Autokratenregiment führte und von allen Untergebenen gehaßt und gefürchtet wurde. Herr Pavlik hatte es ganz besonders auf jene abgesehen, die infolge physischer Unzulänglichkeit einer allzu schweren Tätigkeit nicht nachkommen konnten. Ich mußte unter diesen Eigenschaften Herrn Pavliks viel leiden. Waren alle für den Bahnversand bestimmten Kisten aufgeladen, so durften die Packer sich fünf Minuten Erholungspause gönnen  – dann ging es ans Reinigen der Magazinräume. War auch dieses geschehen, so bekamen wir die verschiedensten Arbeiten zugeteilt. Die einen hatten die Platten mit den Schokoladetafeln treppauf, treppab zu tragen, durch endlose Gänge und Hallen mit schlüpfrigem Boden, und immer waren sie so schwer, daß man sie kaum tragen konnte. Die meisten meiner Kameraden waren muskulöse Männer, und doch hatten sie vor dieser Arbeit den meisten Respekt, schleppten sich lieber stundenlang mit den schwersten Kisten ab, denn die mußten nicht so weit herumgetragen werden. Oft hatten die Kameraden Mitleid mit mir, der ich so schwach und abgehärmt aussah, und trachteten, mich von dieser gefürchteten Arbeit zu befreien. Sie gaben mir auch den guten Rat, mich um die Arbeit in dem weitläufigen Keller zu bewerben, wo leere Kisten eingelagert waren und man die schadhaften ausbesserte, was mir auch gelang …

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Um zwölf Uhr wurde durch einen gellenden Sirenenpfiff und ein kurzes Läuten der Beginn der Mittagspause angekündigt, die eine Stunde dauerte. Nun strömten von allen Seiten die hungrigen Arbeiter dem Ausgang zu, vor dem die Straße mit ihrer freien Luft, ein karges Mahl und, was die Hauptsache war, eine Stunde Ruhe winkte. Vor dem Ausgang gab es einen kleinen Hof zu durchschreiten, in welchem sich jeder Arbeiter und jede Arbeiterin einer Prozedur unterziehen mußte, die mir als die erniedrigendste Einrichtung der Fabriksordnung erschien. Im Gänsemarsch, rechts die Männer, links die Frauen, mußten wir langsam durch eine Art Engpaß trippeln, den zwei Männer beziehungsweise zwei Frauen bildeten, welche jeden Vorübergehenden einer genauen Leibesvisite unterzogen. Zur Verrichtung dieser Handlung wurden Abteilungserste verwendet, die ihrerseits wieder von den Direktoren und ersten Buchhaltern untersucht wurden. Ich habe es lange nicht begreifen können, daß es Menschen geben kann, die sich zu diesem ehrenrührigen Schergendienst hergeben. Erst als ich langsam die moralische Zersetzungsarbeit des Kapitals begreifen lernte, wurde es mir klar, daß diese Handlanger ebenso Opfer einer geschichtlichen Notwendigkeit sind wie ich und die übrige Schar von Arbeitern. Als ich das erstemal diese fremden, herumtastenden Hände an meinem Leib fühlte, war es mir, als schlüge mir jemand die Faust ins Gesicht, und ich wunderte mich über die Gleichgültigkeit der anderen, die sich das so ruhig gefallen ließen, ja oft dazu lächelten … Überhaupt waren die Statuten der Fabriksordnung von einer drakonischen Strenge und vom Direktor mit grausamer Willkür angewandt. Dieser war der Allmächtige in der Fabrik, denn die Chefs kümmerten sich um nichts als um den Profit, den die Fabriken trugen. Der Direktor behandelte seine Untergebenen wie Hunde. Er schrie Arbeiter, die im Vorübergehen kauende Bewegungen zu machen schienen, einmal an, als ich dabei war  : ›Macht das Maul auf, damit ich sehe, ob ihr gestohlene Schokolade darin habt  !‹ Einmal befahl er einer hochschwangeren Frau, ein schweres Faß über eine steile Leiter hinaufzutragen, und als ich hinzusprang, um ihr zu helfen, stieß er mich zur Seite, um mir in gemeinen Ausdrücken und Witzen zu verstehen zu geben, daß ich mich um meine eigene Arbeit kümmern sollte.

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Unter solchen Umständen war es kein Wunder, daß in der Fabrik die erbärmlichste Angeberei blühte. Es war ja für jeden unmöglich, durch ehrliche Erfüllung seiner Pflichten eine bessere Stellung und damit eine höhere Bezahlung zu erlangen. Nur durch völliges Preisgeben jedes sozialen Bewußtseins, durch Verrat seiner idealen Interessen und der der Kameraden konnte dies dem Arbeiter gelingen  ; skrupelloses Aufgehen im Dienst der Firma – mochte diese verlangen, was sie wollte – war die Bedingung, die dem gestellt wurde, der seine Lage verbessern wollte.«69

Petzold fragte seinen jüdischen Freund, der ebenfalls dort arbeitete und die gleiche Arbeit zu verrichten hatte wie er, »wie es käme, daß diese ausgebeuteten, geschändeten Menschen noch nie in Streik getreten waren, um auf diese Weise eine menschenwürdigere Behandlung zu erzielen. Was den Buchdruckern, Metallarbeitern, Bäckern und vielen anderen in der letzten Zeit gelungen war, sollte dies nicht auch hier gelingen  ?«70

Auch äußerte er seine Verwunderung darüber, dass die Chefs »keine Furcht vor einem Streik hätten, der, wenn er auch nur von kurzer Dauer wäre, ihnen doch einen großen Schaden zufügen müßte  ; nicht zum wenigsten der Konkurrenz wegen, mit der selbst diese mächtige Firma zu rechnen hatte.«71

Sein Freund erklärte ihm das so  : »›Das ganze System, nach dem die Firmeninhaber über uns schalten und walten, ist zum Teil eine Folge dieser Angst vor einem Streik, ist eine Schutzmauer vor dem revolutionierenden Klassenbewußtsein des Arbeiters. Warum glaubst du, daß man hier Leute, die drei, vier Jahre im Dienst der Fabrik standen und die ganze Zeit fleißig und willig waren, plötzlich ohne triftigen Grund entläßt und an ihre Stelle Arbeiter setzt, die einige Mo69 Ebd., S. 300 ff. 70 Ebd., S. 307. 71 Ebd.

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nate im Betrieb sein mußten, ehe ihre Leistungen einigermaßen denen der Entlassenen entsprachen  ? Hier hast du die Antwort  : Der Direktor weiß, daß der fortwährende Wechsel der Arbeiter einem intimen Meinungsaustausch, einem Besprechen ihrer sozialen Lage entgegensteuert, weil diese sich dabei doch immer mehr oder weniger fremd bleiben, und daß es ihnen bei dieser Vermischung von alten und neuen Elementen kaum möglich ist, ein einheitliches Entgegentreten zu erreichen. Dabei rechnet man nicht zuletzt mit der furchtbaren Notlage, die gewöhnlich auf dem neueingetretenen Arbeiter lastet. Er hat bis vor kurzem Hunger gelitten, vielleicht bittere Kälte erduldet oder war obdachlos gewesen und hatte Schulden zu bezahlen, die in dieser Zeit gemacht wurden. Jetzt auszutreten  ? Zu streiken  ? Und wieder zu hungern  ? Ja, mein Lieber, der Hunger hat schon viele schweigen gelehrt, auszuharren, wie schwer das Joch auch war, unter das sie sich zu beugen hatten. Diese Erfahrung benutzend, nimmt die Leitung mit Vorliebe solche Leute in ihre Dienste, denen man schon äußerlich, an Kleidung und Körper, die bitterste Not ansieht  ; sie geben das beste, ertragreichste Futter für den Götzen Mammon, lassen sich von ihm verschlingen, ohne sich viel zu wehren. – Und selbst wenn wir in Streik träten  : Glaubst du, daß wir etwas gewinnen würden  ? Unser Widerstand wäre bald gebrochen, weil uns die Hauptbedingung zu einem Erfolg fehlt  : Geld. Auf eine tatkräftige, ausreichende Unterstützung von anderen Gewerkschaften und Organisationen können wir nicht rechnen. Wir stehen zu isoliert da. Sehr wenige von uns gehören einer Gewerkschaft an. Die Furcht vor Kündigung, dem ›Pflasterküssen‹, hält uns vor dem Beitritt ab.‹«72

Nach beendeter Arbeit war Petzold »meist wie gerädert und oft vor Müdigkeit ganz teilnahmslos«,73 und nach einigen Wochen war er körperlich völlig fertig. Die Fabriksglocke war für ihn das Symbol seines »geknechteten Menschentums«.74 Er hatte nur einen einzigen Wunsch  : frei zu sein  ! 72 Ebd., S. 307 ff. 73 Ebd., S. 310. 74 Ebd., S. 300.

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Nicht viel besser erging es ihm auf seinem nächsten Posten, als Hausknecht in einer Kartonagenfabrik. Schon als er sich vorstellte, sagte der Chef, er werde ihn nicht Alfons nennen, dieser Name sei zu nobel, er solle »Karl« gerufen werden. Mit einem Ungetüm von einem Hundefuhrwerk hatte er Berge von Schachteln zu liefern, für den geringen Wochenlohn von nur zwölf Kronen. Es folgte eine Beschäftigung in einer Buchdruckerei »als Walzenwascher, Wagenhund und Einkassierer von sieben Uhr früh bis acht Uhr abends«75 für den Wochenlohn von vierzehn Kronen. Obwohl er zumeist todmüde war, bemühte sich Petzold, schon in der Straßenbahn und vor allem in seiner wenigen Freizeit zu lesen. Goethes »Faust« und Heines »Buch der Lieder« hatte er immer bei sich. Zutiefst beeindruckt war er von den Werken Tolstois und von der Bibel  ; später lernte er Bücher von Liliencron, Bierbaum76 und Henckell kennen. Er las wahllos, was ihm geborgt wurde oder was er billig bekommen konnte. Eine Ordnung in sein Bildungsstreben kam erst, als er begann, das 1905 in Ottakring eröffnete Volksheim und das ebenfalls in dieser Zeit dort gegründete Settlement zu besuchen  : » … in diesen Bildungsstätten verlebte ich frohe Stunden. Meine Erinnerung schwelgt noch oft im Gedenken der schönen Abende im Volksheim, wo ein neues Wissen meiner Seele wurde, indem ich in den naturwissenschaftlichen, literaturgeschichtlichen und historischen Vorträgen die Witterung von Dingen bekam, die über uns hinausliegen, und mit denen wir 75 Ebd., 323. 76 Otto Julius Bierbaum ( Pseudonym  : Martin Möbius, 1865–1910) war einer der meistgelesenen Autoren der deutschen Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts. 1884 wurde er Redakteur der Zeitschrift »Freie Bühne«, 1891 bis 1894 gab er den »Modernen Musenalmanach« heraus, 1894 gründete er die satirische Zeitschrift »Pan«, und 1901 war er Mitbegründer der Zeitschrift »Insel«, aus der später der Insel-Verlag hervorging. Ein großer Erfolg waren seine Überbrettl-Lieder ( »Irrgarten der Liebe«, 1901). Sein Theaterroman »Stilpe«, der 1897 erschien, gab den Anstoß zur Gründung des ersten Kabaretts in Deutschland, des »Überbrettls« von Ernst von Wolzogen, eine Einrichtung, an der Bierbaum beteiligt war.

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doch mit unserem früheren und gegenwärtigen Erleben auf tausendfache Weise verbunden sind, während ich im Settlement mit seinen Teeabenden, an denen Künstler aller Art ihre und fremde Kunst den Fabrik- und Heimarbeitern näherbrachten, Einschau halten durfte in das Märchenreich der Musik und der Farbe. Dabei kam ich an solchen Abenden in nähere Berührung mit Leuten meiner und anderer Gesellschaftsklassen, spürte überall verstecktes Leid und Sehnsucht nach einem besseren Leben, ob es nun ein Kamerad war oder ein Künstler, ein Fabrikant oder ein Doktor, mit dem ich sprach, und ich begann einzusehen, daß von uns nichts so schwer begriffen wird wie das Leben unseres Nächsten, da wir unser eigenes gerne mit einem Verhau aus Lüge umgeben.«77

Besonders erfreut war er über die reichhaltige Bibliothek des Volksheims, das er als »Haus der Sonne« und »Haus der hundert Fenster« bezeichnete. Sehr schlecht erging es Petzold in der Terrakotta-Fabrik »Wiener Kunst«. In der Schleifer-Abteilung musste er für zwanzig Heller die Stunde Figuren aus gebrannter Tonerde oder aus Gips mit Schmirgelpapier bzw. Glaspapier abschleifen. Es entstanden dabei ganze Wolken feinsten Staubes  : »Die Luft war geschwängert von den Millionen von Gips- und Tonstäubchen, die sich in die Nase, die Augen und den Mund der Arbeitenden setzten.«78 Er verdiente mit fast täglich drei Überstunden etwa zwölf bis dreizehn Kronen in der Woche. Von diesem Gehalt wurden ihm eine Krone zwölf Heller für Krankenkasse und Unfallversicherung abgezogen, sodass meistens nur elf Kronen übrig blieben. An manchen Tagen atmete er so viel Staub ein, dass er abends kaum etwas essen konnte, es plagten ihn Magenschmerzen und Atembeschwerden. Als er tagelang stechende Schmerzen in der linken Seite verspürte, suchte er einen Krankenkassenarzt auf, der nicht auf ihn einging und nur sagte, er habe die »Faulenzia«, und wenn es weiterhin steche, solle er in der Nacht einen kalten Umschlag um die Brust machen. Am nächsten Tag 77 Alfons Petzold, Aus dem Leben und der Werkstätte eines Werdenden, a. a. O., S. 63 f. 78 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., S. 347.

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brach Petzold in der Fabrik zusammen und wurde ins Allgemeine Krankenhaus eingeliefert. Dort wurde festgestellt, dass er eine Herzbeutelund Rippenfellentzündung hatte. Die Kunstanstalt entließ ihn sofort. Im Sommer 1905 verließ er Wien und suchte Arbeit in Böhmen und Schlesien. Eine beschwerliche Fußwanderung führte ihn sogar bis nach Kattowitz, wo er einige Wochen auf einem Bau arbeitete, dann aber wieder nach Wien zurückkehrte.79 Er kam als Diener in der Redaktion der Zeitschrift »Der Weg« unter, doch schon nach einigen Monaten wurde die Zeitschrift eingestellt, und er war wieder für längere Zeit ohne Beschäftigung. Über ein Jahrzehnt schleppte er sich schon von einem Arbeitgeber zum nächsten, als er im Jahr 1908 in einer Essig- und Obstweinkellerei aufgenommen wurde. Mit einem zweirädrigen Kastenkarren hatte er in einem ihm zugewiesenen Bezirk Wiens von Haus zu Haus zu fahren und »bestellte Flaschen Wein, Himbeersaft und Essig abzuliefern und neue Bestellungen entgegenzunehmen«.80 Den vollen Flaschensack musste er oft vier, fünf Stockwerke hinauftragen  ; bereits mittags war er todmüde. Er musste Beschimpfungen über sich ergehen lassen und Grobheiten hinnehmen  : »Um in Wien ein kleiner Agent, Inkassant oder Austräger zu sein, gehört ein guter Magen und eine abgebrühte Haut dazu. Alles sieht in diesen armen Straßenproletariern Faulenzer, freche Tagediebe und Gelegenheitsverbrecher. Jede, wenn auch noch so demütigende Vorsicht gegen sie ist angebracht und erlaubt. Nirgends ist man beliebt  : die Hausmeisterin blickt einen scheel an, weil man die Stiegen und Gänge beschmutzt, das Dienstmädchen, dem es unangenehm ist, um Geld zu bitten, die ›Gnädige‹, die man in einer wichtigen Arbeit stört oder enttäuscht, weil sie einen lieben Besuch erwartet hat, und vor allem der in der Wohnung allein weilende Mann, der nicht weiß, was er mit einem anfangen soll … Selbst die Kinder waren uns Stiegenläufern nicht gewogen.«81 79 Alfons Petzold, Aus dem Leben und der Werkstätte eines Werdenden, a. a. O., S. 67. 80 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., S. 362. 81 Ebd., S. 364.

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Am Spätnachmittag hatte er in der Kellerei und Essigküche schwere Fässer zu rollen, Flaschen zu verkorken oder das Gebräu im Obstkessel umzurühren – er atmete dabei die Dämpfe vieler Säuren und Essenzen ein, was äußerst ungesund war. Er litt wieder unter starkem Husten. Abends, wenn er nach Hause kam, legte er kalte Wickel auf die Brust und trank literweise Kräutersud. Am 6. August 1908 brach er völlig ermüdet zusammen  : Blut strömte aus seinem Mund. Marie Richetti, seine arme Quartiersfrau in Ottakring, kümmerte sich rührend um ihn, versuchte ihn zu trösten und betreute ihn mütterlich. Als der Arzt feststellte, dass der Bluthusten durch Tuberkulose der Lunge verursacht wurde, plagten Petzold sorgenvolle Gedanken  : »Bitter quälte mich der Gedanke an den Verlust meiner Arbeitsstelle … Ich fühlte es, meine jetzige Krankheit war ernster zu nehmen als alle anderen vorher. Ein ohnmächtiger Zorn gegen mein Schicksal torkelte fluchend durch meinen blutleeren Körper. Wäre es nicht am besten, aufzuspringen und das Blut aufs neue zu rufen und laufen zu lassen, bis es zu Ende war  ? Viel brauchte es dazu ja nicht, ich hatte in dem ernsten Gesicht des Arztes gesehen, wie es um mich stand. Ein kurzes, unangenehmes Sterben, und es lag hinter mir, dieses dreckige Leben, an dem ich ohnehin nur mehr mit einem Haar hing. Warum machte ich diesen letzten Schritt nicht  ? Ich hatte wirklich keine Furcht mehr vor dem Tode und keinen Glauben an eine freundlichere Zukunft.«82

Für den behandelnden Arzt war es nicht leicht, Petzold in ein Krankenhaus einzuweisen, denn keines wollte einen Patienten mit Bluthusten aufnehmen. Jedoch ein guter Freund des Arztes verschaffte ihm ein Bett im Rudolfspital, in das er am 12. August eingeliefert wurde. Die Tatsache, schwer krank zu sein, hatte Petzold zutiefst erschreckt  :

82 Ebd., S. 372 f.

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»Die großen Spitäler Wiens waren für mich die Stätten ärgsten Grauens und furchtbaren Elends. Vielleicht weniger wegen des körperlichen Leides, das innerhalb ihrer Wände in den weißen Betten lag, als um des Zwanges willen, den sie für den Arbeiter bedeuteten. Man mußte hier bleiben, bis der Körper gesund war, draußen aber ging inzwischen die Arbeit verloren. Beinahe jeden Tag verkündeten die Zeitungen den Selbstmord eines kranken Arbeiters oder einer Arbeiterin. Ich selbst kämpfte ruhelos mit dem Gedanken des erlösenden Selbst­ mordes.«83

Obwohl die Medizin im Aufbruch war, gab es an der Schwelle zum 20. Jahrhundert viele Krankheiten, die noch nicht heilbar waren. Die Menschen plagten Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten, auch die Säuglingssterblichkeit war hoch. Äußerst gefährlich waren die Infek­ tionskrankheiten. 1882 hatte Robert Koch den Erreger der Tuberkulose gefunden, doch das entwickelte Therapeutikum Tuberkulin erwies sich als Heilmittel ungeeignet. Viele junge Mütter starben an Kindbett­ fieber, dessen Ursache man nicht kannte, auch über die Entstehung der chirurgischen Wundkrankheiten wie »Eiterfieber« oder Wundstarrkrampfseuchen wusste man fast gar nichts. Erst als Ignaz Semmelweis Hygienevorschriften für Ärzte und Krankenhauspersonal einführte, traten Veränderungen ein. Eine Sensation waren die geheimnisvollen XStrahlen, die Wilhelm Röntgen 1895 entdeckte, mit denen man nun den menschlichen Körper durchleuchten konnte. Die Arbeiter gingen nur, wenn sie überaus große Schmerzen oder einen körperlichen Zusammenbruch hatten, zum Arzt. Ins Krankenhaus wurden sie nur im äußersten Notfall eingeliefert, denn die bestehenden Spitäler waren ständig überlastet, und der Mangel an Betten war virulent. Petzold wurde in einem großen Krankensaal untergebracht  : »Sehr erfreulich und tröstlich war das, was ich sah, nicht  ! Nur die Breite eines Nachtkästchens trennte ein Bett vom andern, es mußten über 83 Ebd., S. 367 f.

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dreißig in dem Saal sein, der bloß fünf gewöhnliche Wohnungsfenster hatte. Einige der Kranken waren aufgestanden und saßen in ihren blaugestreiften Kitteln müde auf ihren Betten. Andere stöhnten schmerzvoll auf ihrem Lager, wieder andere lagen bleich und still da, als wären sie schon gestorben, richteten nur hie und da ihren Oberkörper ein wenig in die Höhe, um zu husten oder etwas vom Nachttisch zu nehmen. Nur wenige lasen eine Zeitung oder unterhielten sich mit einem Nachbarn. In einem Bett am Ende des Saales lag ein Mann im Sterben. Er kämpfte bitter, stemmte den Rest seiner Kraft gegen den Unbezwingbaren. Sein letzter Atem preßte sich kreischend aus dem Mund, während sich die Hände in die Decke krallten. Das hagere Antlitz lag auf dem weißen Polster wie eine halb ausgelöschte Zeichnung. Die ohnmächtige Hand einer in sich hinein weinenden Frau zitterte darüber hin und streichelte es zärtlich … Die Menschen starben um mich wie Fliegen. Jeden Tag trugen die Spitaldiener einen oder zwei Erlöste in die Totenkammer. Die meisten starben ruhig, ohne viel gegen den Tod zu kämpfen. Und die sich mit letzter Kraft, mit Schreien und Aufbäumen des Körpers wehrten, wurden mit Hilfe der Morphiumspritze zu einem ohnmächtigen Sterben gebracht. O furchtbares Schicksal, hier sterben zu müssen, vor vierundzwanzig weißen Betten, voll des Jammers und der Qual … Ich schnappte nun schon die dritte Woche Krankenhausluft, von richtigem Atmen konnte keine Rede sein, da ich in vollkommen ruhiger Lage achtundvierzig Hebungen und Senkungen meiner Lunge zählte. Als ich nach vierzehn Tagen strengster Bettruhe das erstemal versuchte, mich aus dem Bett zu winden, kam ich mir wie ein halbzertretenes Insekt vor. Um über die Breite des Saals zu kriechen, brauchte ich eine lächerlich lange Zeit. Darüber war ich todunglücklich. Wenn das nicht besser wurde  – und der Zustand meines Körpers ließ mir wenig Hoffnung –, war ich zur Krüppelhaftigkeit verdammt und mußte mein Leben in eines der berüchtigten Versorgungshäuser meiner Heimatstadt hineinschleppen, wenn ich es nicht vorzog, mit einer monatlichen Pfründe von zwölf bis zwanzig Kronen den beneidenswerten Beruf eines von der Polizei gehetzten Bettlers zu ergreifen. Und das mit sechsundzwanzig Jahren, einem Alter, wo

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andere sich Macht, Reichtum, Glück, Ehre, kurzum das Leben zu erobern suchen  ! Auf das genaueste fing ich mich und meine Krankheit zu beobachten an. Die Teilnahmslosigkeit gegenüber dem Zustand meines Körpers, die mich in den ersten Wochen meines Krankseins beherrschte, war verschwunden und hatte einer zitternden Erregtheit Platz gemacht. Die Vorschriften der Ärzte und Pflegerinnen hielt ich auf das peinlichste ein, schluckte dankbar das bitterste Zeug hinunter, ließ mir den eisigen Zwang der Eisbeutel und kalten Wickel wie eine liebe Tat gefallen und rührte kein Glied, wenn es nicht sein mußte, um ja nicht die kranke Lunge unnötig zu erschüttern. Da ist es nun verständlich, daß ich auch die Krankheiten und ihre Erscheinungen der anderen Kranken mit größter Anteilnahme und Neugierde beobachtete. Dies geschah natürlich nicht zu meiner Beruhigung. Mein Saal beherbergte die schwersten Arten der Tuberkulose. Rings um mich sah ich rettungslose Fälle dem Tod entgegeneilen. Alles, was ich nun an ihnen beobachten konnte, übertrug ich auf meinen Zustand, maß an ihren Qualen die meinigen, sah in ihrem langsamen Sterben das furchtbarste Spiegelbild der bevorstehenden eigenen Auflösung. In den Mienen der Ärzte, wenn diese an den Betten dieser Todgeweihten standen, las ich mein eigenes Urteil, und als einmal die Roheit unserer Oberschwester so weit ging, einem dieser Kranken ins Gesicht zu sagen, daß er nur mehr einen Tag zu leben hätte, da war es mir, als wäre dieser Vernichtungsspruch an mich gerichtet gewesen. Ganz und gar ward ich der hoffnungslosesten Verzweiflung preisgegeben, als Doktor Stein, der gute Geist unserer Abteilung, von uns Abschied nahm  ; er mußte für sechs Wochen zur militärischen Dienstleistung einrücken. Jetzt war niemand mehr da, dem ich vertrauen konnte, der mich tröstete und auf dessen Wort ich baute. Die anderen Ärzte waren entweder kalte, abweisende oder oberflächliche Naturen, die mit den Kranken nur das Notdürftigste besprachen, und der Primarius nahm sich kaum Zeit, bei jedem Bett den Vortrag der Pflegerin anzuhören, geschweige denn sich mit dem Patienten in ein näheres Gespräch einzulassen. Für die zwei Dutzend Kranken, von denen die meisten komplizierte Fälle darstellten, war der Herr Primarius weniger maßgebend als die Frau Fanny, die in Wirklichkeit die eigentliche Leitung hatte, ob-

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wohl sie meiner Meinung nach selbst für ein weibliches Zuchthaus noch zu ordinär und roh gewesen wäre. In diesen bösen Tagen ging ich öfter denn je den Kreuzweg meiner Klasse zwischen den beiden sich gegenüberliegenden Polen, Lebensgier und tiefster Resignation, mit zerschundener Seele hin und her und lernte wieder ein Stückchen mehr von dem sonderbaren Schutz des Staates kennen, den dieser seinen geschwächten Bürgern zu bieten verpflichtet ist. Spitalspflege  ! … Sehr schlecht war es auch mit unserer Verpflegung bestellt. Das Essen war höchst einförmig und zumeist unschmackhaft zugerichtet, die Quantität für den Appetit mancher Kranken nicht hinreichend. Zu Mittag bestand es aus einem ausgekochten Stückchen Rindfleisch und einem Schöpflöffel voll Gemüse, dem ein Teller Wassersuppe voranging. Und das Abendessen war noch kärglicher. Ich hatte selbst als Arbeitsloser selten so gehungert, wie ich es in dieser Krankenhausstiftung tun mußte. Mein zweites Frühstück bestand nur aus einem Scheibchen weißen Brotes und einem Schluck gewässerter Milch. Als ich nun, vom Hunger getrieben, mir einmal den Mut nahm, bei einer Visite den Primarius um Verschreibung von ein wenig Schinken oder Wurst zu bitten, zuckte er bedauernd die Achseln und sagte  : ›Mein Lieber, das liegt nicht in meiner Macht  ! Der Herr Verwalter verlangt von uns die größte Sparsamkeit. Wenn ich Ihnen den Schinken verschreiben würde, hätte ich argen Verdruß mit ihm  !‹ Es war deshalb kein Wunder, wenn sich jeder Patient so schnell wie möglich wieder aus diesem Haus der Barmherzigkeit wünschte. ›Im Bett liegen und hungern kann i z’ Haus a, da brauch i ka Spital, wo’s von die Toten riacht und die Bazilln auf d’ Wänd umakräuln  !‹ sagten die meisten und hatten bitter recht damit. Es blieben so auch die wenigsten Kranken bis zur vollständigen Genesung hier. Wer von ihnen halbwegs ein Heim hatte, und wenn es ein noch so armseliges war, wartete kaum die Krisis seiner Krankheit ab und schleppte sich, wenn es sein mußte, auf allen vieren nach Haus. Er wurde auch nicht zurückgehalten. Im Gegenteil  : die Krankenhausleitung war froh, Platz zu bekommen, war doch der Andrang ein großer, und oft reichten die Hilfsbetten nicht dazu aus, die eingelieferten Kranken aufzunehmen.

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Zu Beginn der vierten Woche meines Aufenthalts im Spital erklärte auch mir der Primarius, daß ich in drei Tagen das Spital verlassen müsse. Ganz bescheiden glaubte ich einwenden zu müssen  : ›Herr Professor, ich hab aber noch so starke Atembeschwerden, daß ich kaum gehen kann  !‹ ›Da müssen Sie halt öfter aufstehen und nicht den ganzen Tag im Bett liegenbleiben  !‹ ›Bitt schön, Herr Professor, ich hab’s ja probiert, aber mir wird gleich soviel schlecht, und hier in der Brust steckt’s drin wie ein Brett  !‹ Der Primarius wurde ersichtlich ungeduldig. ›Das wird draußen schon besser werden. Ihr Bluthusten ist gut geworden, und das andere muß sich mit der Zeit geben‹ … Er schritt zum nächsten Bett. Hätte ich ein Heim gehabt, einen noch so bescheidenen Unterschlupf, in dem Verwandtenliebe auf mich wartete, wäre die Erklärung des Primarius nur ein Anlaß zur Freude gewesen. Aber so – ich war ja nur ein Bettgeher, ein Einmieter bei wildfremden Menschen, die ohnehin für mich schon mehr getan hatten, als ich verlangen durfte. Meine ›Bettfrau‹ war sogar der einzige Mensch, der mich alle drei, vier Tage auf eine Stunde besuchte, mir selbstgebackene Leckerbissen, Zeitungen, Bücher brachte und mir mit derben, guten Worten Trost zusprach. Von ihr konnte und wollte ich nicht mehr das Opfer verlangen, mich siechen, mit einer ansteckenden Krankheit behafteten Menschen wieder als Mieter aufzunehmen. Aber wo sollte ich sonst hin  ? Am nächsten Tage besuchte mich wieder meine Mietfrau. Sie hatte am Gang mit der Oberwärterin gesprochen und von dieser erfahren, daß ich das Krankenhaus verlassen müsse. Als die selbstverständlichste Sache sah sie es an, daß ich wieder bei ihr in der Küche wohnen würde … Am andern Vormittag wurde ich von dem Primarius noch einmal untersucht. ›Jetzt heißt es fleißig an die frische Luft gehen und viel und gut, besonders fett essen, verstanden, junger Freund  ?‹ sagte er nach flüchtigem Abklopfen und Horchen. War es der Hohn eines Unmenschen, der diese Worte zu einem arbeitslosen, lungenkranken Proleten sprechen ließ  ? Nein, der Mann mit dem schön gepflegten Ägypterbart war in Wirklichkeit

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kein Arzt, sondern ein gedankenloser Beamter des herrlichsten Berufes auf Erden.«84

Noch schwer krank wurde Petzold am 22. August mit der Bemerkung  : ›Wir sind ein Krankenhaus und keine Versorgungsanstalt  !‹85 entlassen. Marie Richetti ließ ihn nicht im Stich. Sie holte ihn ab und brachte ihn in ihre Wohnung. Er war wieder zu Hause, wenn er »das Heim fremder Menschen, deren Mitleid größer war als ihre Vorsicht, ein Zuhause nennen durfte«.86 Sein Zustand verbesserte sich nicht. Der Krankenkassenarzt stellte fest, dass seine Kollegen im Spital eine Rippenfellentzündung übersehen hatten, aber er wusste nichts anderes zu sagen als  : »Da heißt’s Geduld haben … Nur recht fleißig spazierengehen und viel essen  !«87 Petzolds tägliches Krankengeld betrug nur eine Krone zwanzig Heller, das reichte nicht einmal für ein ausgiebiges Frühstück, er war also »auch in bezug auf das Essen auf die Gutherzigkeit der Frau Marie … angewiesen«.88 Seine Verbitterung und Auflehnung gegen die bestehende Gesellschaftsordnung steigerten sich von Tag zu Tag  : »Mit jedem Mundvoll Luft, den meine zerlöcherten Lungen der Erde mühsam abrangen, sog ich mehr Empörerwahn ein. Die Menschheit teilte sich mir in zwei Lager. Das eine, viel kleinere, bestand aus den Reichen, den Mächtigen. Sie waren mir alle ohne Unterschied für die grausamste Vernichtung reif. Pech und Schwefel wünschte ich auf ihre Häupter herab. Denn hatten sie Barmherzigkeit, fühlten sie Milde für ihre enterbten Brüder und Schwestern in dem andern Lager, aus dem der Gestank bitterster Armut eine gewaltige Wolke schuf, die kein Sternen- und Sonnenlicht durchließ  ? Hatten sie Mitleid mit den ungezählten Opfern einer schamlosen Vergewaltigung ewiger Menschenrechte  ? … Ich wurde schmerzhaft

84 Ebd., S. 378 ff. 85 Ebd., S. 389. 86 Ebd., S. 392. 87 Ebd., S. 393. 88 Ebd.

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hellsichtig für die verborgensten Zeichen des Elends, überall wurden mir seine Spuren sichtbar … Ich legte in meiner Seele ein Archiv proletarischer Armut an. Da reihte sich Bild an Bild, eines trauriger, schmachvoller, entsetzlicher als das andere. Und nachts, wenn ich in der finsteren, muffigen Küche schlaflos dalag, gequält von der Sorge um die nächste Zukunft, wurden diese Bilder lebendig, eine grauenhafte, nicht enden wollende Filmreihe geschändeter, bis auf das Blut gepeinigter, abgerackerter, hungernder, kranker, lebensmüder Menschen zog an mir vorbei, und mich selbst sah ich an der Spitze des Zuges. Wenn ich auf der Sohle der grauen Häuserschluchten langsam dahinkroch, zum Arzt, ins Bureau der Krankenkasse oder in den nahen Park, hatte ich ja zum Beobachten unendlich viel Zeit. In all diesen Häusern lebte vom Keller bis zum Dach hinauf mein Geschlecht, das Geschlecht der Verdammten auf Erden.«89

Er schleppte sich in die Volksbibliothek und lieh sich Bücher aus. Er las »Die Anarchisten« von Mackay, die Lebensgeschichte des revolutionären russischen Fürsten Pjotr Alexejewitsch Kropotkin. Schon vorher im Krankenhaus hatte er vor allem Dickens gelesen, von dem ein paar Bändchen in Reclams-Universalbibliothek vorhanden waren, sonst fanden sich dort nur Zeitungen und Zeitschriften, es gab keine Krankenhausbibliothek. Am 5. September erlitt er einen neuerlichen Anfall, noch schwerer als der erste, und es folgten weitere Blutstürze. Vierzig Tage lang lag er fast regungslos im Bett. Er war dem Tode nahe und dachte nur noch ans Sterben. Völlig überraschend und unerwartet stand eines Tages der Hofburgschauspieler Ferdinand Gregori in der Tür. Er war durch Baronesse Frida Mühlwerth-Gärtner, die als Schauspielerin unter dem Pseudonym Frida Meinhardt bekannt wurde, auf den jungen Dichter aufmerksam geworden. Sie hatte an einer Lesung Petzolds in einem Arbeiterbildungsverein teilgenommen und sich danach Abschriften einiger seiner Gedichte besorgt. Gregori bat Petzold um die Erlaubnis, einige seiner Gedichte, die 89 Ebd., S. 394 f.

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auf ihn großen Eindruck gemacht hatten, im Rahmen seines Rezitationsabends vorstellen zu dürfen. Armut und Elend des Proletariats vor Augen, zog der Hofburgschauspieler zutiefst erschüttert die Brieftasche, nahm einen Fünfzigkronenschein heraus und sagte  : »›Lieber Herr Petzold, ich lasse Ihnen einstweilen dies als Anzahlung da, lassen Sie sich dafür die besten Sachen kochen und schlagen Sie sich die Gedanken ans Sterben aus dem Kopf. Jetzt sollen Sie erst zu leben anfangen. Ich will mich sofort dafür verwenden, daß Sie in eine Heilanstalt kommen, dort werden Sie schon gesund werden. Leben Sie einstweilen wohl und verlieren Sie mir den Mut nicht  !‹«90

Petzold staunte und dachte  : »Das kommt jetzt alles zu spät  !«91 Als er endlich aufstehen durfte, konnte er nur mit Mühe ein paar Schritte zu einem Lehnstuhl gehen, in den er sich täglich erschöpft fallen ließ. Er hatte nun genug Zeit zu lesen  : »In den katholischen Heiligenlegenden spielt die Krankheit eine große Rolle. Beinahe alle großen Heiligen, wenn sie nicht Märtyrer wurden, waren durch langwierige Krankheiten gepeinigt und priesen diese als Prüfung Gottes. Durch die Abspannung der Nerven, das Einnehmen narkotischer Mittel und die Einsamkeit, in der sich der Kranke meist befindet, ist er ja auch sonderbaren Erscheinungen und Gedanken viel zugänglicher als der Gesunde. Gott sei Dank habe ich aber zum Heiligen wenig Anlage, trotzdem versenke ich mich aber auch jetzt gerne in mystische und altruistische Bücher. Franz von Assisi ist einer meiner Lieblinge, und die Bergpredigt ist mir zugleich Offenbarung und herrliche Dichtung.«92

Obwohl er nicht sehr religiös erzogen worden war und schlechte Erfahrungen mit einem katholischen Internat gemacht hatte, vor allem 90 Ebd., S. 406. 91 Ebd., S. 407. 92 Ebd., Tagebuch, 3. Oktober 1908, S. 420 f.

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aber entsetzt war über die nicht ausgeübte Barmherzigkeit im Haus der Barmherzigkeit, als sein Vater dort aufgenommen werden sollte, wurde er doch zum Gottsucher. Die Lektüre Tolstois wurde ihm zu einem entscheidenden Erlebnis. Schon einige Zeit vor seinem Zusammenbruch versuchte er, gemeinsam mit seinem Freund Ludwig wie die Urchristen zu leben, »demütig, gütig, voll werktätiger Liebe zu allen Wesen und in freudiger Ruhe an dem goldenen Zukunftsreich der Menschen ganz bescheiden mitbauend«.93 Das soziale Evangelium wurde ihm zum besonderen Anliegen, und er wandelte sich vom proletarischen Klassenkämpfer zum gläubigen Menschen, jedoch fern aller dogmentreuen Kirchengläubigkeit. Nun, als er schwer krank darniederlag, nutzte er die Zeit, um zu lesen, was er bekommen konnte  : »Glückspeter« von Hans Christian Andersen, »Die Abenteuer des Arthur Gordon Pym« von Edgar Allan Poe, »Auch Einer« von Friedrich Theodor Vischer, »Schuld und Sühne« von Fjodor Dostojewski, »Gottesfriede« von Peter Nansen, »Repräsentanten der Menschheit« von Ralph Waldo Emerson u. a. Paul Göhres »Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie« regte ihn an, seine eigene Lebensgeschichte niederzuschreiben. Gregori trug mittlerweile bei seinen Lesungen mehrmals einige der sozialen Gedichte Petzolds vor, darunter dessen einziges mit revolutionärer Tendenz  : Ballade der Revolution ( auszugsweise) Halt  ! Hört ihr nichts von Schritten durch Straßen, hastig und schwer  ? Als kämen Reiter geritten im Stahlwams hart einher. Am nebelnden Himmel gleitet eine blutrote Wolk’  ; wild zur Vergeltung schreitet geknechtetes Volk. 93 Ebd., S. 324.

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Obdachlos und krank

Lang schwelte versteckt die Lunte, aber sie brannte doch. Nun, zur geschlagenen Stunde flammet sie häuserhoch, jauchzt sie über die Häuser mit prasselndem Ton. Im Schlosse flüstert der Kaiser  : »Revolution«. Tausende Tage und Nächte verrannen still und stumm. Nach dem, der Freiheit brächte, schauten die Armen sich um. Wartete lange Jahre friedlich der Knecht von der Wiege zur Bahre auf sein Recht. ( …) Einer, der mocht dazu taugen mit verfahltem Gesicht, – in seinen Tod heischenden Augen brennt ein dämonisches Licht – hält eine Rede  ; stumm, bleiern ist es um ihn  ; alle Lippen feiern, alle Augen glühn. Er spricht  : »Ihr, die ihr da lebet ohne Haus, ohne tägliches Brot  ; die ihr ewig im Fieber bebet vor der Reichen Henkersgebot, habt ihr euch endlich besonnen, daß es nimmer geht  ;

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daß fern allen Erdenwonnen fremd der Arme steht  ? ( …) Sie sollen es endlich wissen, was Hunger und Mattsein heißt. Wir wollen es endlich wissen, was Schlaf und Sattsein heißt. Von Stund an nimmer geschändet unser Körper soll sein  ! Die Knechtschaft sei beendet  ! Auf  ! Schließt die Reihn  !« ( …) Und wie eine riesige Schlange das Volk zusammen sich ballt  ; ein Zug gar breit und lange der Stadt entgegenwallt. Vorne schon Schüsse knattern, ein Fluchen, ein Getös, blutrote Fahnen flattern, und – hört ihr die Marseillaise  ? Wie eines Weltgerichts Posaunen schallet der Siegessang. Das ist kein weichliches Raunen, sondern ein Donnerklang. Ernst, ernst ist es geworden, nimmer ein Spiel. Hin zu der Freiheit Pforten, groß ist das Ziel  !

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Aufstieg zum anerkannten Dichter

Schaudert’s dich auch im Gehirne, dampft rotes Blut auch heiß, einst auf unserer Stirne dampfte der Sklavenschweiß. Schleicht auch durch Straßen und Gassen der Würger Tod, schon über all dem Hassen leuchtet das Morgenrot.94

Au fs t i e g z u m a n e r k a n n t e n Dic h t e r Petzold sandte immer wieder Gedichte an Zeitungen und Zeitschriften mit der Bitte, diese in ihr Blatt aufzunehmen, aber er erhielt meist keine Antwort. Manchmal kam es aber doch vor, dass seine Gedichte nicht im Papierkorb des Redakteurs, sondern in der Zeitung oder Zeitschrift landeten. Aber es war für Petzold betrüblich, dass die bürgerliche Presse seine Dichtungen manchmal annahm, während die sozialistischen Blätter sie ablehnten. Umso größer war seine Freude, als im Jänner 1909 in der »Arbeiter-Zeitung« ein Artikel unter dem Titel »Gedichte eines Wiener Arbeiters« von Stefan Großmann erschien, wobei auch vier seiner Gedichte veröffentlicht wurden. Ein verständnisvolles Publikum hatte Petzold in den Mitgliedern der Arbeitervereine gefunden, denen er immer wieder aus seinen Werken vorlas. Am 12. Jänner 1909 besuchte ihn ein Student der Rechtswissenschaften, Josef Luitpold Stern,95 der in der »Freien Vereinigung sozialdemokratischer Studenten« als Funktionär tätig war. Er lobte Petzolds Gedichte und teilte ihm mit, dass er demnächst nach Dresden gehe, um als Redakteur der Zeitschrift »Der Kunstwart« zu arbeiten und den 94 Alfons Petzold, Seltsame Musik. Gedichte. Mit einem Geleitwort von Frida von Meinhardt, Wien [ 1911 ], S. 32 ff. Das Gedicht ist auch im Band »Trotz alledem  !« enthalten, allerdings in einer kürzeren Fassung. 95 Seine Dichtungen veröffentlichte er unter dem Namen Josef Luitpold.

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Herausgeber sowie den sozialistischen Dichter Karl Henckell und den Verleger Eugen Diederichs auf ihn aufmerksam machen werde. Stern organisierte sofort einen »Petzold-Abend« für seinen Studentenverein, und in Dresden brachte er es zustande, dass zehn Gedichte Petzolds in der »Dresdner Volkszeitung« veröffentlicht wurden. Die Begegnung mit Stern wurde entscheidend für die weitere dichterische Entwicklung Petzolds, denn Stern förderte ihn und blieb ihm bis zu seinem Tod eng verbunden. Ferdinand Gregori und Frida Meinhardt machten eine breitere Öffentlichkeit auf Petzolds vielversprechendes Talent aufmerksam und wiesen auf seine Notlage hin. Gregori schaffte es, dass die Schiller-Stiftung, obwohl Petzold in literarischen Kreisen noch ein weitgehend Unbekannter war, 200 Kronen für ihn zur Verfügung stellte. Ihm und anderen Freunden gelang es auch, dem Dichter einen Aufenthalt in der Lungenheilanstalt Alland zu ermöglichen. Den Freiplatz verdankte Petzold den Großindustriellen Max und David Guttmann  ; doch es war ihm unangenehm, von Gegnern seiner Weltanschauung auf diese Weise unterstützt zu werden. Am 19. Februar 1909 kam Petzold schwer krank und völlig erschöpft nach Alland. Er, der fast immer in einer finsteren Kammer gehaust hatte und kaum in die Natur gekommen war, hatte nun viel Zeit und Ruhe zum Nachdenken, und allein das Fallen der Schneeflocken erfüllte ihn »mit ungeahntem Glück«  : »Schaut man hier in Alland zum Fenster hinaus, so glaubt man, ein Prinz in einem verwunschenen Schloß zu sein mitten in dem silbrig glänzenden Wald. Die Raben sind wie verzauberte Hexen. Alle Wege sind tief verschneit, und man kann gar nicht ins Dorf hinunter. Kommt die Sonne aus den Wolken hervor und überflutet die Landschaft mit ihrem Gold, so ist dies ein Anblick von märchenhafter Schönheit.«96

Besondere Freude bereiteten ihm die Vorfrühlingsnächte  :

96 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., Tagebuch, 23. Februar 1909, S. 432.

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Aufstieg zum anerkannten Dichter

»Die Schauer des heiligen Mysteriums der Wiedergeburt streichen durch die geöffneten Fenster herein in den Krankensaal, in dem zehn Menschen voll gläubiger Hoffnung auf den mächtigen Arzt ›Natur‹ von einem neuen, gesunden Leben träumen. Die tiefste Stille liegt in der Nacht, in der die Natur als froher Sämann den Samen ausstreut  ; in kurzer Zeit wird alles emporblühen, ein Lobgesang zu Ehren des sich immer wieder erneuernden Lebens. Ich wache. Durch das Fenster neben meinem Bette sehe ich auf einen Streifen Wald hinaus. Einige Dutzend Fichten und Tannen, ein paar niedrige Laubbäume steigen aus der Schneedecke empor  ; jeder Zweig hebt sich plastisch von dem eigenartigen Phosphorlichte ab, das in ruhiger steter Flut alles mit seinem magischen Glanze übergießt. Zwischen den Gipfeln zweier hoher Tannen flammt ein großer Stern, einem Gottesauge gleich, das einen Blick hineintut in einen kleinen Teil seines unermeßlichen Schaffens. Ein Vogel streicht vorbei, und das Sternauge segnet sein dunkles Federkleid mit einem seiner Strahlen. Daß ich das alles noch sehen und erleben darf  !«97

Dieser erste Aufenthalt Petzolds in Alland dauerte bis 30. Juli 1909. Aber er war noch lange nicht gesund. Am 8. September klagt er  : »Mich peinigen solche Schmerzen, daß ich nur mit Mühe die Gedichte niederschreiben kann, die mir einfallen … Ich habe manchmal eine so große Sehnsucht nach dem Glück des Gesunden, das für mich das Glück des Schaffenden wäre.«98

Eine Woche später besinnt er sich  : »Schönes hat mir das Jahr gebracht  : aus dem verbitterten Menschenverächter ist trotz allem Leid ein Freund und Kamerad der Menschen gewor97 Ebd., Tagebuch, 8. März 1909, S. 433. 98 Ebd., Tagebuch, 8. September 1909, S. 441 f.

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den. Ich habe das Gute und Schöne in der Welt sehen gelernt – obwohl gerade in diesem Jahr die Peitsche des Lebens oft wuchtiger auf mich niedergesaust ist als sonst.«99

Eine Stelle als Registraturbeamter mit gutem Gehalt, die ihm angeboten wurde, konnte er aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands nicht annehmen, und er vermerkte  : »Nun, da ich schon mit einem Fuß im Grabe steh’, ist’s mit der Hilfe zu spät.«100 Freunde und Gönner ermöglichten ihm, den November in Gries bei Bozen zu verbringen, wo er sich sehr wohl fühlte, aber als er im Dezember nach Wien zurückkehrte, schmerzte ihn wieder jeder Atemzug wie ein Messerstich. Zu Beginn des Jahres 1910 war er fast mutlos  : »Meine getreueste Geliebte ist doch das alte Mutterl ›Not‹. Jetzt sitzt sie wieder Tag und Nacht bei mir und tut mir schön – und wird mich ehest unter die Erde bringen, wie meine Mutter. Bald werde ich wieder hungern wie vor Jahren, denn mit den paar Kronen Honorar werde ich nicht weit kommen  ; außerdem ist das Dichten mit leerem Magen nicht so einfach.«101

Noch einmal war ihm ein Aufenthalt in Gries bei Bozen vergönnt, doch im Juli in Wien wurde eine neuerliche Erkrankung der Lunge festgestellt, und Ende dieses Monats wurde er zum zweiten Mal in die Lungenheilstätte Alland eingewiesen. Erst nach einem halben Jahr, im Jänner 1911, wurde er als geheilt entlassen. Für ihn begann damit ein neuer Lebensabschnitt. In Alland, das mitten im Wienerwald liegt, gewann der Dichter ein inniges Verhältnis zur Natur, und er lernte unter den Kranken Johanna Kraml102 kennen und lieben  :  99 Ebd., Tagebuch, 16. September 1909, S. 442. 100 Ebd., Tagebuch, 24. September 1909, S. 442. 101 Ebd., Tagebuch, 4. Jänner 1910, S. 446. 102 Über Johannas Mädchenname herrschte lange Zeit Unklarheit. Nach Roman Herle hieß Johanna Nowotny, nach Ernst Glaser Kramer, laut Stern, der sie gut kannte, hieß

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»Ich habe ein herrliches Mädchen kennengelernt. Sie ist auch lungenkrank, schwerer als ich, aber wir lieben uns beide sehr, und das ist Glücks genug  ! Seit drei Wochen sind wir im Geheimen verlobt. Neue Quellen rauschen in mir auf und befruchten mein Leben … Mein tägliches Denken beginnt und endet mit ihr, ich schreibe nur Liebeslieder und hie und da ein Lied an das Göttliche in mir und um mich, das dieses Glück erstehen ließ … Dieses Glück hat die Mutter für mich erbetet, für ihr Sonntagsund Sorgenkind.«103

Ende Jänner 1911 heirateten die beiden. Aus Petzolds Gedichtband »­ Johanna« ( Ein Buch der Verklärung, Wien/Leipzig 1915), in dem diese Liebesgedichte gesammelt sind, erfahren wir  : Ich staunte lange, als es kam, und wußte nicht, wie es geschah, als eine meine Hände nahm und tief in meine Augen sah. Und über meine Stirne strich und lächelnd sprach in Qual und Not  : Ich lieb nur dich und wieder dich, dein Kampf ist gut und süß dein Brot.104

Freunden und Verehrern gelang es mittlerweile, Verlage zu finden, die bereit waren, kleine Sammlungen von Gedichten des Dichters zu versie Noworka. Selma Steinmetz nennt sie nach einer Eintragung im Geburts- und Taufschein von Alfons Petzold Maria Johanna Kraml. ( Selma Steinmetz, »Rosen wollt ich dir flechten …« Die Frauen im Leben und Werk Petzolds, in  : Alfons Petzold. Beiträge zum Leben und Schaffen mit einer Petzold-Bibliographie von Herbert Exenberger/ Wien, Fritz Hüser/Dortmund, Hans Schroth/Wien, Dortmund Stadtbücherei 1972, S. 34, Anm. 9.) 103 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., Tagebuch 3. und 12. November 1910, S.  457 f. 104 Alfons Petzold, Johanna. Ein Buch der Verklärung, Wien/Leipzig 1915, S. 11.

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öffentlichen. 1910 erschien im sozialdemokratischen Verlag Wiener Volksbuchhandlung der Band »Trotz alledem  !« mit einem Vorwort von Josef Luitpold ( Stern), der auch die Auswahl vornahm. 1911 kam der Band »Seltsame Musik« bei Theodor Daberkow mit einem Geleitwort von Frida Meinhardt heraus. Sie hatte nach ihren Angaben sogar erreicht, dass die Erstauflage dieses Gedichtbandes in Philadelphia im Verlag der »Neuen Sonntagszeitung« bereits im Jänner 1910 herausgebracht wurde. Es gibt allerdings Vermutungen, dass Frida Meinhardt, die gerne alleinige Protektorin des Dichters sein wollte, die Ausgabe eines amerikanischen Verlags fingierte, da sie das Erstlingsrecht der Herausgabe der Werke des Dichters für sich beanspruchte. In diesem Band überwiegt das Volksliedhafte, in »Trotz alledem  !« steht das Soziale im Vordergrund. Insgesamt enthalten die beiden Bände eine Auswahl aus den frühesten Gedichten des Dichters. Seltsame Musik Es ist ein Spiel gegangen wohl über Platz und Gasse hin und hat mit tiefem Bangen erfüllt mir Herz und Sinn. Es war kein Spiel von Geigen und konnte keins von Flöten sein  ; es klang so müd und eigen ins Morgengrau hinein. Ich schaut nicht nach dem Spiele und nach dem Ort des Spieles aus, als ich zur Morgenkühle verließ mein kleines Haus. Mir war’s genug, daß leise dies Spiel an meinem Ohr verklang

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wie eine müde Weise beim allerletzten Gang.105

Durch die Veröffentlichung seiner ersten Gedichte wurde der Autor einem größeren Kreis Literaturinteressierter bekannt, vor allem auch in Arbeitervereinen und Gewerkschaften. Rasch folgten weitere Bände  : »Der Ewige und die Stunde« ( Gedichte, Leipzig 1912), »Memoiren eines Auges« ( Skizzen eines Sehenden, Wien/Leipzig 1912), »Erde« ( Ein Roman, Wien/Leipzig1913), »Heimat Welt« ( Dichtungen, Wien 1913), »Aus dem Leben und der Werkstätte eines Werdenden« ( Vortrag, Wien/Leipzig 1913), »Der heilige Ring« ( Neue Verse 1912 / 13. Mit einem Bilde des Dichters, Wien/ Leipzig 1914). Besonders das Werk »Der Ewige und die Stunde« weckte ein enormes Echo. Petzold drückt darin seine neue Weltanschauung aus, sein pantheistisches Weltbild und Gottgefühl, fern jeder Dogmatik. Und seine sozialistische Gesinnung blieb dabei stets deutlich.

Flug der Seele Grau überstäubt steh ich im Alltagsleben, vom Haß gepflastert ist mein Straßenzug  ; doch dort am Himmel, wo die Wolken schweben, zieht meine Seele hin mit frohem Flug. Was meine Hand muß so tagsüber greifen, ist alles nur ein Werk der armen Zeit  ; doch meine Seele sieht die Dinge reifen, die sich erhalten für die Ewigkeit.

105 Alfons Petzold, Seltsame Musik, a. a. O., S. 9 f.

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Und sitz ich auch in wüst und dunklen Räumen mit Dirnen, Bettlern bei Gesang und Spiel, geht meine Seele zwischen Wolkenbäumen doch Arm in Arm mit Gott zu ihrem Ziel.106

Auch die Gedichte des Bandes »Heimat Welt« beinhalten pantheistisches und sozialistisches Gedankengut. Sie sind geprägt von der Gewissheit der Gegenwart und Nähe Gottes, der Beseelung aller Dinge und der Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Respekt vor der Würde jedes Menschen, Brüderlichkeit, Liebe und Mitgefühl. Diese Einstellung wird auch in späteren Gedichten beibehalten. Gottesgefühl Ich stehe in der großen Welt, von Wolken, Wald und Nacht umstellt, allein. Und dennoch fällt kein Grauen, Herz, in dich hinein. Hier zirpt ein Heimchen leise  : »Du  !« Dort rauscht ein Baum mir selig zu  : »O Bruder, fühl, was dich umfaßt, fühl, daß du Gott zum Freunde hast  ! Gott selbst, der mit dem Heimchen zirpt und mit den Bäumen dich umwirbt.« Gott selbst  ? Nun sagt’s mir jeder Sinn, daß ich zurzeit Gott selber bin  !107

106 Alfons Petzold, Der Ewige und die Stunde, a. a. O., S. 14. 107 Alfons Petzold, Heimat Welt. Dichtungen, Wien 1913, S. 55.

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Petzold hatte Werke der deutschen Mystiker gelesen  : Jakob Böhme, Johannes Scheffler, Angelus Silesius, Mechthild von Magdeburg beeindruckten ihn tief. Ganz besonders fasziniert war er vom Leben und Wirken des Franz von Assisi, den er später in einem eigenen Gedichtband würdigte. Intensiv beschäftigte er sich mit Rainer Maria Rilke, dem er sich verwandt fühlte und dessen Lyrik ihn sehr beeinflusste. Nachhaltig wirkten auf Petzold auch die Bücher Wilhelm Bölsches und Bruno Willes. Die beiden Autoren waren Wegbereiter des legendären Friedrichshagener Dichterkreises und Gründer der »Freien Volksbühne« Berlin und der »Freien Hochschule« Berlin, der ersten Volkshochschule Deutschlands ( ab 1902). Der Romancier und naturwissenschaftliche Volksschriftsteller Wilhelm Bölsche war der meistgelesene populärwissenschaftliche Schriftsteller seiner Zeit – er interpretierte u. a. die großen Forscher Charles Darwin und Ernst Haeckel – und gilt als Schöpfer des modernen Sachbuchs. Bruno Wille war Herausgeber der Zeitschrift »Der Freidenker«, Religionslehrer in der »Freireligiösen Gemeinde«, Redner auf Gewerkschaftsversammlungen und vor Arbeiterbildungsvereinen. Als Popularphilosoph vertrat er zunächst eine »Philosophie der Befreiung durch das reine Mittel«, in der er sich offen zum Anarchismus bekannte, und später eine pantheistische Naturmystik. Bekannt wurde er vor allem durch sein Weltanschauungsbuch »Offenbarungen des Wacholderbaumes. Roman eines Allsehers«. Petzold kannte auch Werke des amerikanischen Dichters, Essayisten und Philosophen Ralph Waldo Emerson, der eine philosophische Bewegung begründete und großen Einfluss auf die Bildung einer neuen amerikanischen Kultur hatte. Seine Erkenntnisse führten ihn dahin, die Natur als göttliche Offenbarung zu sehen. Sehr geschätzt hat Petzold auch das Werk »Walden oder Leben in den Wäldern«, ein Bericht über ein Experiment zur Selbstverwirklichung des amerikanischen Schriftstellers Henry David Thoreau, des besten Freundes R. W. Emersons. Die Beschäftigung mit all diesen Werken hat Petzolds Weltbild wesentlich geprägt.108 Im März 1910 trägt er in sein Tagebuch ein  : 108 Siehe  : Ernst Glaser, Alfons Petzold. Ein Beitrag zum Problem  : Arbeiterdichtung, Diss. Wien 1935, S. 46 ff.

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»Alle ehrliche Kunst ist tiefste Religion. Der Drang, ein Kunstwerk zu schaffen, ist die intensivste Sehnsucht, Gott nahe zu sein  ; die Zeit des Schaffens ist innigster Verkehr mit dem Wesen der Gottheit, ausgefüllt mit tiefem Erkennen alles Geheimnisvollen und Mystischen.«109

Zwei, drei Wochen später bekennt er  : »Bei mir ist alles Gefühl und nichts Verstand  – ich habe keine Philosophie  – darum mein Hang zur Mystik. Was man einmal in meinen Arbeiten schwach und schlecht finden wird, ist Produkt meines Verstandes gewesen. Etwas, was ich nicht aus mir selbst heraus schrieb, sondern mit Mühe weiß Gott woher holte. Meine schönsten Gedichte schrieb ich in einer Art Traumzustand, in dem ich nicht so viel Verstand gehabt hätte, um 2 und 2 zusammenzuzählen.«110

Nach der Heirat im ersten Monat des Jahres 1911 siedelte sich Petzold mit seiner Frau auf Rat der Ärzte in Klosterneuburg an. Da aber Johanna die raue, starke Luft dort nicht vertrug und heftig hustete, nutzten sie die Möglichkeit, für einige Zeit nach Südtirol zu ziehen. Petzold erhoffte sich herrliche Frühlingswochen in seinem »Märchenland«. Doch auch in Gries bei Bozen verließen ihn die Sorgen nicht. Johanna erkrankte an einer schweren Rippenfellentzündung und erholte sich nur langsam. Im Mai, als beide wieder in Wien waren, bemühte er sich vergebens, eine Stelle zu bekommen. Den Sommer verbrachten sie dann in St. Magdalena bei Linz. Johanna erlitt immer wieder heftige Anfälle, die stets eine akute Bedrohung bedeuteten. Als im September in Wien eine Verschlechterung ihres Lungenbefundes festgestellt wurde, musste sie bald darauf operiert werden. Nachdem sie sich einigermaßen von der Operation erholt hatte, gingen beide nach Alland, wo Johanna erneut gründlich untersucht wurde und sich zu ihrer größten Betrübnis wieder in die Lungenheilanstalt begeben musste. Erst etwa ein halbes 109 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., Tagebuch, 14. März 1910, S. 448. 110 Ebd., Tagebuch, 4. April 1910, S. 449.

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Jahr später durfte sie nach Hause. Im Herbst 1912 fand Petzold eine neue Wohnung im Wiener Stadtteil Pötzleinsdorf. Es folgten kürzere Aufenthalte in Alland und Gries. Im Sommer 1913 mieteten sie eine Wohnung in Kaltenleutgeben. Da ihnen das Klima in dieser Gegend nicht bekam, riet ihnen ein Arzt, in den Schwarzwald zu fahren. Sie entschieden sich für St. Blasien. Auf der Reise dorthin besuchten sie in München den sozialrevolutionären Lyriker und Vorkämpfer des Naturalismus Karl Friedrich Henckell, mit dem Petzold in Kontakt stand. Auf Anraten eines Arztes ging Johanna im Herbst für einige Zeit nach Leysin in die Schweiz. Ab Ende November lebten beide wieder in Gries bei Bozen. Petzolds Aufstieg als Dichter hatte begonnen. Ein Buch nach dem anderen kam heraus  : »Krieg« ( im Anzengruber-Verlag, Wien/Leipzig 1914)  ; »Volk, mein Volk …« ( Gedichte der Kriegszeit, bei Eugen Diederichs, Jena 1915)  ; »Johanna« ( Ein Buch der Verklärung, im Anzengruber-Verlag, Wien/Leipzig 1915). Nebenbei schrieb er Kritiken über einzelne Bücher und hielt Lesungen – als Gast des Akademischen Verbandes für Kunst und Musik auch in einem Hörsaal der Universität Wien. Vor allem in bürgerlichen Zeitungen erschienen immer wieder Gedichte von ihm, die »Frankfurter Zeitung« brachte sogar eine Novelle. Wegen seines schwachen körperlichen Zustandes war er nicht mehr imstande, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Die finanziellen Unterstützungen, die er gelegentlich erhielt, nahm er nur widerwillig an. Frida Meinhardt, die Schauspieler Ferdinand Gregori, Wilhelm Klitsch, Max Devrient und die berühmte Schauspielerin Else Wohlgemuth stellten im Rahmen ihrer Literaturabende stets auch einige seiner Gedichte vor. Er lernte Anton Wildgans, Felix Braun, Franz Theodor Csokor, Franz Karl Ginzkey, mit dem er schon seit Jahren korrespondierte, kennen. Eine besonders enge Freundschaft verband ihn mit Stefan Zweig. Schon 1912 – nach kurzer Bekanntschaft – notierte er  : »Seine scharfe Denkfähigkeit, die durch seine Güte eine ideale Reinheit bekommt, macht sein Gespräch zu einem großen Genuß für mich. Das

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ist das Beste, was mir mein Talent einträgt  : der Verkehr mit so edlen Menschen.«111

1914 erhielt Petzold endlich den Bauernfeld-Preis. Weitere Kreise wurden auf ihn aufmerksam, auch im Ausland. Ab Oktober 1914 ging es Johanna immer schlechter. Fieber und Husten waren ihre ständigen Begleiter. Von einem Blutsturz im November, auf den weitere folgten, erholte sie sich nicht mehr. Am 29. November starb Johanna an den Folgen der tückischen Krankheit. Petzolds Trauer war groß  : Was soll blühen auf deinem Grabe, Geliebte, sage  ? Epheu  ? Nein  ! Immergrün ist das Laub der Klage – Rosen waren unsere Habe  ; darum müssen es Rosen sein  ! Rosen zu Häupten, Rosen zu Füßen, um die Wolken und Sterne zu grüßen.112 ○ In deinen Augen schläft nun die lange, lange Nacht, Wald Ewigkeit wächst um dein glückliches Herz, du träumst, wie Gott mit den englischen Heiligen lacht, und hörst nicht, Stille, meinen rufenden Schmerz  : Geliebte  ! Es fliegt eine Amsel über den weiß, weißen Schnee, singt mitten im Winter ein Lied so süß und so weh  ! Sie schaut mich mit deinen seligen Augen an – O daß ich den Vogel nicht fangen und pflegen kann. Geliebte  !113 111 Ebd., Tagebuch, 24. Mai 1912, S. 481. 112 Alfons Petzold, Johanna, a. a. O., S. 51. 113 Ebd., S. 52.

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Er musste in seinem Schmerz nicht lange allein bleiben. Im April 1915 erzählt er  : »Welch ein Meer unsagbaren Leides umwogte mich seither. Aber Johanna wollte nicht, daß ich untergehe  ; sie sandte mir im schwersten Leid ein Mädchen, das mich dem Leben zurückgab. Aber nun gibt’s auch wieder neues Leid  : ich lebe stets in der grausamen Angst, dieses wieder zu verlieren. Dann weiß ich aber, daß es mit mir zu Ende ist.«114

Eine neue Frau war in sein Leben getreten  : Hedwig Gamillscheg. ­Einige Monate nachdem sie sich kennengelernt hatten, heirateten sie   : am 25. September 1915. Seine neue Liebe ist poetisch festgehalten in dem Gedichtband »Das neue Fest« ( Ein Büchlein der Liebe, Wien/Leipzig 1917)  : Es haben die Englein Gottes zu meiner Frau gesagt  : »Siehe, wie auf der Erde Dein Liebster weint und klagt, wie er die Nächte durchirrt und nach Dir schreit und Du sitzt da in Gloria und ewiger Herrlichkeit.« Da nahm die Geliebte ein Stückchen ihres Gewands, eine leuchtende Blume aus ihrem Heiligenkranz, legte ihr silbernes Lächeln, ihr klingendes Herz hinein und band das Ganze an einen himmlischen Stein.  – – – – – – – – Lag auf der Erde ein Mädchen in tieftiefem Schlaf, als sie ein Glänzendes zwischen die Brüste traf. Furchtsam erhob sich das Mädchen – – – es stand vor ihr meine heilige Frau im Strahlengewand und sprach  : »Geh, liebe Schwester, zu meinem Geliebten hin, sag ihm, daß ich so selig wie Jungfrau Maria bin. Ich geb Dir einen Strahl meines himmlischen Lichts, ich geb Dir mein Herz und das Lächeln meines Gesichts. 114 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., Tagebuch, 5. April 1915, S. 518.

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Nimm seine Hand und lasse sie nicht mehr aus, mach wieder fröhlich, o Schwester, sein dunkles Haus. Schwester, leb wohl  ! Ich segne Dein Tun und danke Dir.« – Das Mädchen betete lange und kam zu mir.115

Mittlerweile war der Erste Weltkrieg ausgebrochen und bald voll im Gang. Die Kriegsbegeisterung im Sommer 1914 war enorm. In eindrucksvollen Worten schilderte Stefan Zweig die August-Wochen dieses Jahres in der Donaumonarchie  : »Aufzüge formten sich in den Straßen, plötzlich loderten überall Fahnen, Bänder und Musik, die jungen Rekruten marschierten im Triumph dahin, und ihre Gesichter waren hell, weil man ihnen zujubelte, ihnen, den kleinen Menschen des Alltags, die sonst niemand beachtet und gefeiert. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich bekennen, daß in diesem ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches lag, dem man sich schwer entziehen konnte. Und trotz allem Haß und Abscheu gegen den Krieg möchte ich die Erinnerung an diese ersten Tage in meinem Leben nicht missen  : Wie nie fühlten die Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen  : daß sie zusammengehörten. Eine Stadt von zwei Millionen, ein Land von fast fünfzig Millionen empfanden in dieser Stunde, daß sie Weltgeschichte, daß sie einen nie wiederkehrenden Augenblick miterlebten und daß jeder aufgerufen war, sein winziges Ich in diese glühende Masse zu schleudern, um sich dort von aller Eigensucht zu läutern. Alle Unterschiede der Stände, der Sprachen, der Klassen, der Religionen waren überflutet für diesen einen Augenblick von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit. Fremde sprachen sich an auf der Straße, Menschen, die sich jahrelang auswichen, schüttelten einander die Hände, überall sah man belebte Gesichter. Jeder einzelne erlebte eine Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr der isolierte Mensch von früher, er war eingetan in eine Masse, er war Volk, und seine Person, seine sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen. Der kleine Postbeamte, 115 Alfons Petzold, Das neue Fest. Ein Büchlein der Liebe, Wien/Leipzig 1917, S. 9.

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der sonst von früh bis nachts Briefe sortierte, immer wieder sortierte, von Montag bis Samstag ununterbrochen sortierte, der Schreiber, der Schuster hatte plötzlich eine andere, eine romantische Möglichkeit in seinem Leben  : er konnte Held werden, und jeden, der eine Uniform trug, feierten schon die Frauen, grüßten ehrfürchtig die Zurückbleibenden im voraus mit diesem romantischen Namen.«116 Auch viele namhafte Schriftsteller, wie Thomas Mann oder Hugo von Hofmannsthal, wurden von diesem Taumel erfasst. Stefan Zweig berichtete  : »Wenig europäisch geschult, ganz im deutschen Gesichtskreis lebend, meinten die meisten unserer Dichter ihr Teil am besten zu tun, indem sie die Begeisterung der Massen stärkten und die angebliche Schönheit des Krieges mit dichterischem Appell oder wissenschaftlichen Ideologien unterbauten. Fast alle deutschen Dichter, Hauptmann und Dehmel voran, glaubten sich verpflichtet, wie in urgermanischen Zeiten als Barden die vorrückenden Kämpfer mit Liedern und Runen zur Sterbebegeisterung anzufeuern. Schockweise regneten Gedichte, die Krieg auf Sieg, Not auf Tod reimten. Feierlich verschworen sich die Schriftsteller, nie mehr mit einem Franzosen, nie mehr mit einem Engländer Kulturgemeinschaft haben zu wollen, ja mehr noch  : sie leugneten über Nacht, daß es je eine englische, eine französische Kultur gegeben habe. All das sei gering und wertlos gegenüber deutschem Wesen, deutscher Kunst und deutscher Art.«117 Auch Petzold, der religiöse Sozialist, war von der anfänglichen Euphorie angesteckt. Er wurde vom Jubel und Rausch der Massen mitgerissen. Die Mehrzahl der Mitglieder und Wähler der Sozialdemokratie begrüßte den Kampf mit den Gegnern. Die österreichische Sozialdemokratie unternahm bedauernswerterweise nichts, um den Krieg zu verhindern, sie missachtete die »in der sozialistischen Ideologie verankerten Prinzipien der internationalen Solidarität der Arbeiterschaft aller Länder und ihres bedingungslosen Pazifismus … Die Parteiführung wurde vom Kriegsausbruch überrascht. Sie war offenbar nicht darauf vorbereitet, daß die Re116 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt am Main 2007, S. 255 ff. 117 Ebd., S. 263.

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gierung eines Monarchen, dessen einziger Anspruch auf Nachruhm am Ende einer mehr als sechzigjährigen, an Mißerfolgen und Kata­strophen überreichen Herrschaft seine immer wieder gepriesene Rolle als ›Friedenskaiser‹ war, es wagen würde, ihn mutwillig um diesen Ruhm zu bringen. Selbst Victor Adler hatte nicht erkannt, daß die Annexion von Bosnien-Herzegowina im Jahre 1908 bereits den ersten wohlerwogenen Schritt der Kriegspartei auf dem Wege zum Weltkrieg bedeutete. Jedermann war bereit, die offizielle Version von der Mitschuld der serbischen Regierung an der Ermordung des Thronfolgers auf Treu und Glauben hinzunehmen …«118 Kampf und Hass, Leid und Elend beherrschten die Stoffe der Dichtung in den Jahren 1914 bis 1918. Ganz besonders getroffen und aufgewühlt hat das Kriegserlebnis die Arbeiter. Es ist daher nicht verwunderlich, dass mehrere Arbeiterdichter im Weltkrieg ihren großen Durchbruch erlebten  : Herausragende Bedeutung erlangten Heinrich Lersch, den Petzold kennenlernte, Karl Bröger, Max Barthel oder Gerrit Engelke. Auch Alfons Petzold veröffentlichte einige Werke mit Kriegsgedichten und -novellen. Er, der Kranke, der für den Militärdienst untauglich war, der zu Hause bleiben musste, was ihn überaus schmerzte, rief in »Krieg« zum Kampf auf und fand flammende Worte für Volk und Vaterland in »Volk, mein Volk …«. Ein Gedicht, das in beiden Bänden enthalten ist, fällt besonders auf. Es ist in volkstümlichem Stil geschrieben  ; es stellt uns den Krieg in seiner umfassenden Grausamkeit anschaulich vor  : Das feurige Männlein Ein feuriges Männlein reitet über die Welt, zündt an jeden Wald, zündt an jedes Feld, reit die kreuz und quer durch die Dörfer und Städt – Ach, wenn nur das Männlein sein Rössel nit hätt  !

118 Fritz Kaufmann, Sozialdemokratie in Österreich. Idee und Geschichte einer Partei von 1889 bis zur Gegenwart, Wien/München 1978, S. 46 ff.

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Doch das Rössel ist eilig wie der stinkichte Blitz  ; tät Menschenblut saufen, das berget viel Hitz, tät Menschenfleisch fressen, das hält’s in der Kraft, auf daß es tausend Meilen an einem Tag schafft. Wo sein Hufschlag tut klappern, da dörrt alles Kraut, kein Weib und kein Kind mehr zur Sonn hinauf schaut  ; da ist alles Leben keinen Blechbatzen wert und brinnen die Häuser wie Holz auf dem Herd. Weh  ! schreien die Menschen, die Bäum und die Stein – nur das feurige Männlein lacht grausig hinein.119

Die Mehrheit der Bevölkerung und auch viele Experten hatten gemeint, der Krieg werde schnell vorbei sein, allenfalls einige Monate dauern. Es sollte anders kommen. In Petzolds Aufzeichnungen vom August und September 1914 finden sich folgende Bemerkungen  : »Seit Tagen soll bei Lemberg eine furchtbare Schlacht wüten. Ich kann nicht arbeiten, oft ist mir der Hals zugeschnürt, und ich mag nichts reden und hören. Für uns Zurückgebliebene sollte etwas erfunden werden, das das Denken verhindert. Manchmal wieder bin ich voll Begeisterung und Vaterlandsliebe und möchte am liebsten mitstürmen. Ich habe in der letzten Zeit eine Menge Kriegsgedichte geschrieben …«120 »Ich schreibe Gedichte, die mir selbst unverständlich sind. Na, vielleicht macht der Russe oder Italiener einmal Feuer mit meinen Manuskripten und die Nachwelt bleibt davon verschont.«121 … »Vielleicht als Reaktion gegen alles Scheuselige, was man erlebt, hört, in Zeitungen liest, muß ich mich oft in das Leben des Franziskus von Assisi vertiefen …«122 119 Alfons Petzold, Krieg, Wien/Leipzig 1914, S. 4. 120 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., Tagebuch, 31. August 1914, S. 508. 121 Ebd., Tagebuch, 20. September 1914, S. 510. 122 Ebd., Tagebuch, 26. September 1914, S. 510.

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Als die ersten kriegsversehrten Soldaten heimkehrten und das Straßenbild veränderten und mehr und mehr Schreckensmeldungen durchdrangen, schlug der enthusiastische Patriotismus in blankes Entsetzen um. Petzolds Betroffenheit angesichts der Gräuel des Krieges bewirkte in ihm einen großen geistigen Umschwung, eine Anti-Kriegsstimmung. Die Not der Bevölkerung, das Leid der Frauen, der Mütter, der Witwen, der Kinder erschütterten ihn sehr. Seine Qualen fanden Ausdruck in seinem Gedichtband »Der stählerne Schrei« ( Neue Gedichte aus der Kriegszeit, Warnsdorf 1916) und seine Friedenssehnsucht vor allem im Gedichtband »Dämmerung der Herzen« ( Gedichte, Innsbruck 1917)  : Die Frage Wir wissen nicht wofür wir starben, wir fielen hin wie ungereifte Garben im Sommerfeld vom Sturme hingerafft. Es kam ein Tag mit einer Stunde, die legte sich wie eine große Wunde auf unseres Heeres stolze Kraft. Wir bluteten dahin, die Augen zur heimatlichen Ferne hingewandt und fühlten, wie dies fremde Land das Leben mocht aus unsern Adern saugen, in seiner Röte flammte Lehm und Sand. Nun liegen wir in starrer Ruhe, bis zu den Spitzen unserer braunen Schuhe mitleidig von den Brüdern zugedeckt. Gefallne Feinde liegen uns zur Seite. Aus unsrer Stille über allem Streite sich flatternd eine Flammenfahne reckt  : Wozu  ?123 123 Alfons Petzold, Der stählerne Schrei. Neue Gedichte aus der Kriegszeit, Warnsdorf 1916, S. 73.

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Der Gefangene lauscht Herz, das nach Heimatluft lechzt, Herz, das die Heimkehr erharrt – hat nicht die Türe geächzt, hat nicht die Schwelle geknarrt  ? Kommt da nicht jemand zu mir, spricht da nicht jemand das Wort  : »Frei ist die Straße vor dir, wandre und füge dich fort  !« Knistert’s da nicht wie ein Brief, flüstert’s nicht aus dem Papier  : »Lange die Heimat dich rief, aber nun darfst du zu ihr  !« Hat nicht die Wolke gelacht, höhnt sie nicht bös auf uns her  ? Mein Gott, wie lang ist die Nacht, Herz, und die Sehnsucht so schwer  !124

Wegen der Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn hatten Petzold und Hedwig im Mai 1915 Gries bei Bozen verlassen. Sie gingen nach Wien zurück und dann für kurze Zeit nach Baden. Nach der Hochzeit übersiedelten sie nach Brunn am Gebirge. Ein sehnlichst gehegter Wunsch erfüllte sich ihm –  : » … wir … erwarten Ende Juli einen kleinen Menschen, der unser Leben teilen wird. Hedwig ist ganz selig darüber. Ich kann es nicht glauben, daß es so etwas für mich geben wird. Ich hatte mit Johanna oft davon geträumt, damals ist alles so furchtbar geworden. Nun wage ich es kaum, daran zu denken.«125 124 Alfons Petzold, Dämmerung der Herzen. Gedichte, Innsbruck 1917, S. 11. 125 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., Tagebuch, 1. Jänner 1916, S. 520.

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Am 28. Juli 1916 wurde die Tochter Christiane geboren. Petzold sollte später noch zweimal Vater werden  : am 16. Februar 1921 kam Tochter Verena zur Welt und am 26. Juni 1922 der Sohn Wolfgang. Das Familienglück bedeutete Petzold viel  – er lebte nun in bürgerlichen Verhältnissen. Vater eines Kindes zu sein war für ihn überwältigend. Ab Februar 1917 gewährte ihm die Stadt Wien eine Ehrenpension. Als für sein zehn Monate altes Kind keine Milch mehr zu bekommen war, mietete er eine Sommerwohnung in Kitzbühel. Dort überlegten er und seine Frau, ob sie nicht in die Schweiz auswandern sollten  – sie hatten »das Hungern bei Wrucken und Maisbrot«126 satt. Letztendlich entschlossen sie sich im April 1918, doch in Kitzbühel zu bleiben. Noch im gleichen Jahr wurde Petzold sozialdemokratischer Gemeinderat der Stadt Kitzbühel. Die Auswirkungen des Krieges waren überall sichtbar und zu spüren. Petzold litt sehr darunter  : »Man sieht Schreckensgestalten auf den Straßen, Kinder mit drei, vier Jahren, die noch im Kinderwagen fahren müssen  ; die Mütter haben ausgehöhlte Wangen.127 … Der Hunger des Leibes und der Gehirne, der Staub und Schmutz der Dinge und Herzen erfüllen einen mit Schmerz und Ekel.128 … Angesichts des großen Unglücks, das seit Jahren auf unserer Erde lastet, sind mir alle Worte kläglich und armselig.129 … Wäre ich allein, so würde ich mich irgendwo vergraben, da ich in dem Unglück, das auf der Erde lastet, nicht helfen kann.130 … Ich möchte jetzt nicht Gott sein  ! Das Schreien der Mütter, Weinen der Bräute, der Fluch der Väter muß ihm schauerlich in den Ohren gellen und seine Donner übertäuben.«131

126 Ebd., Tagebuch, 24. März 1918, S. 532. 127 Ebd., Tagebuch, 25. Februar 1917, S. 525. 128 Ebd., Tagebuch, 23. September 1917, S. 528. 129 Ebd., Tagebuch, 1. März 1918, S. 531. 130 Ebd., Tagebuch, 25. April 1918, S. 533. 131 Ebd., Tagebuch, 26. September 1918, S. 535.

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Als sich im Oktober 1918 die Donaumonarchie aufzulösen begann, vermerkte er  : »Werden wir diesen furchtbaren Übergang ertragen  ? Eine Hungersnot, wie wir sie noch nicht gesehen haben, steht uns bevor, eine Depression, wie sie nur je ein besiegter Staat erlebt hat, wird unserer Niederlage folgen. Alles Opfern umsonst, umsonst diese Millionen von starken, schönen Männern, die ihrer Familie, dem Staat entrissen sind. Umsonst  ! wird jeder Krüppel uns entgegenschreien. Wenn man daran denkt, möchte man nichts mehr sehen, nichts mehr hören, sich nur hinlegen und selbst enden.«132

Auch in den Kriegsjahren war Petzold -fast ununterbrochen schriftstellerisch tätig, und obwohl mehrere Werke erst nach dem Ende des Krieges, als sich die Verhältnisse auf dem Büchermarkt gebessert hatten, gedruckt werden konnten, erschienen in rascher Reihenfolge folgende Bände sowie zwei Flugblätter  : »Sil, der Wanderer« ( Erzählungen, Konstanz 1916)  ; »Drei Tage« ( Eine Schilderung, Warnsdorf 1916)  ; »Das neue Fest« ( Verse der Liebe, Wien/Leipzig 1916)  ; »Deutsche Legende« ( Flugblatt, Wien 1916)  ; »Österreichische Legende« ( Flugblatt, Wien o. J.)  ; »Von meiner Straße« ( Novellen aus der Kriegszeit meines Lebens, Warnsdorf/Wien 1917)  ; »Verklärung« ( Legende in einem Akt, Warnsdorf/Wien 1917)  ; »Franciscus von Assisi« ( Eine Gedichtreihe, Warnsdorf/Wien 1918)  ; »In geruhigter Stunde« ( Neue Verse, Konstanz 1918)  ; »Der feurige Weg« ( Ein russischer Revolutionsroman, Wien/Leipzig 1918)  ; »Auferstehung« ( Novellen, Feldbücherei der k. u. k. 10. Armee, Nr. 39, Villach 1918)  ; »Der Dornbusch« ( Soziale Gedichte, Wien/Prag/Leipzig 1919). Aus  : Franciscus von Assisi Es war ein seliges Ingottgenügen, das aus ihm sprach und seinen Männerzügen die Klarheit einer Frühlingsblume lieh. 132 Ebd., Tagebuch, 25. Oktober 1918, S. 536.

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Aus seinen Augen schritt der Liebe Segen allen Wesen dieser Welt entgegen und grüßte sie. Auf allen Straßen, die er schritt, verspürte er eine Hand, die stark und froh ihn führte zu Gott empor aus seiner Dürftigkeit. Den Bettlern stahl er aus der Brust das Hassen, demütig mochten Herzoginnen fassen sein Bettlerkleid.133 ○ Die Brüder sprachen  : »Hört, er ist das Neue, das Unbegreifliche der Zeit. Und dennoch ist er Glut und Reue und ist das Wilde und das Scheue, ist Mensch in seiner Lust und seinem Leid. Und wenn er predigt, ist er einer, aus dem die Liebe Gottes spricht, dann wird er größer, wird er reiner als wir, und unter uns ist keiner, der dunkel bleibt bei seinem Licht.«134 ○ Was er ersah, war alles in die Gnade der großen Unbegreiflichkeit gehüllt, er fühlte Ehrfurcht vor der eklen Made, vor jedem Leben schmutzig und zerknüllt.

133 Alfons Petzold, Franciscus von Assisi. Eine Gedichtreihe, Warnsdorf und Wien 1918, S. 14. 134 Ebd., S. 19.

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Im Auge einer angespienen Dirne leuchtete ihm Marias Mutterblick und in des Bettlers notzerschrammte Stirne dichtete er ein köstliches Geschick. Aus flüchtigem Geschehnis fremder Tage hob er das ewig Wirkende empor, es war ihm immer Antwort, niemals Frage, und nie ein Kerker, immer nur das Tor. Durch das er die beglänzte Höhe schaute, auf der Gott saß, die Welt an sich gedrückt, zu dem sich Franz die Brücke Liebe baute, aus Menschenherzen, stark und unverrückt.135 ○ Das war der Demut größte, die süßer war als Honigbrot, daß, wenn Franziscus eines Bruders Schuhband löste, er seinen Kopf als Fußbank bot. Die Hände über sich gehoben, das Haupt tief in den Staub gebeugt, war seine Handlung ein Gott Loben, von Tat und Demut gleich gezeugt.136 Der Wanderer Ich bin aus jenem Land, das Armut heißt  ; Vater und Mutter lebten lange dort. Ich spüre dieser Landschaft grauen Geist  ; er wirkt in meinem schweren Blute fort. 135 Ebd., S. 21. 136 Ebd., S. 22.

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Oft will ich so sein, wie die andern sind, leichtflügig wie ein Blütenblatt im Wind, berauscht von allem, was ihr Auge sieht, gottnah schon durch das kleinste Vogellied. Sie wandern, wandern, wissen nicht wohin, und fragen nicht darnach  ; ihr leichter Sinn lebt nur dem Tage, den sie vor sich schaun, mit seinen Klängen, Kosen, schönen Fraun und jenen Stunden, die in Nacht und Traum verbrämt sind von der Liebe Purpursaum. Doch hab ich es gewagt, mit zager Hand Blüten zu fassen, mir zu Lust und Lohn – ersteht vor mir mein traurig Heimatland  ; Mutter und Vater winken ihrem Sohn.137

In Kitzbühel hatte Petzold ein Heim gefunden, er hatte eine Familie, die er über alles liebte, und mittlerweile einen innig mit ihm verbundenen Freundeskreis gewonnen. Er stand in persönlichem und brieflichem Kontakt mit Vertretern des österreichischen Literaturlebens, mit den großteils bereits erwähnten Stefan Zweig, Felix Braun, Franz Theodor Csokor, Peter Altenberg, Franz Karl Ginzkey, Josef Luitpold, mit Künstlern anderer Kunstgattungen, mit Verlegern, Redakteuren und Buchhändlern. Dr. Stefan Licht, den Petzold näher kennenlernte, pachtete 1919 gemeinsam mit seinem Bruder in Kitzbühel eine Buchhandlung, und sie bestellten Petzold als Leiter. Ein Jahr später stellte Licht Petzold und seiner Familie eine kleine Villa mit einem Garten zur Verfügung. Petzold arbeitete fleißig an seiner Lebensgeschichte, doch gute Prosa zu schreiben fiel ihm nicht leicht. 1914 hielt er fest  :

137 Alfons Petzold, Der Dornbusch, a. a. O., S. 64.

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»Es ist zum Teufel holen, daß mich die Lyrik so mit Haut und Haaren besitzt und ich gar keine Lust zur Prosa habe. Ich kann nicht einmal meine Gedanken über die Tagesereignisse ordentlich niederschreiben.«138

Er zweifelte überhaupt an seiner Begabung  : »Wodurch ich am meisten leide, das ist meine Unklarheit als Mensch und Künstler – ich weiß oft nicht, wie ich leben soll, auch die geistige Form sowie der Inhalt meines Schaffens ist mir nicht klar. Meiner seelischen Veranlagung nach hätte ich in der Blütezeit der Romantik leben müssen  ; da wäre vielleicht mein unruhiger, herumvagabundierender Geist auf seine Kosten gekommen, und mein Schwanken zwischen Trauer und Ausgelassenheit, tiefstem Gottesglauben und verbissenster Irreligiosität hätte mir einen besonderen ›Lebensstil‹ gegeben, den die heutige Zeit nicht brauchen kann und nicht versteht. Quälend empfinde ich auch den Einfluß der Bücher, immer kreist meine Seele um das, was ich eben lese, die Gedanken nehmen die Farbe des Buches an. Ohne zu lesen könnte ich aber erst recht nicht leben, ich müßte irrsinnig werden ohne Bücher.«139

Strenge Selbstkritik übte er an seiner Lyrik  : »Wenn ich mich nur auch damit begnügen könnte, nur wirklich schöne, erstklassige Verse zu schreiben. Was nützt das Vielschreiben, wenn es dem Gedicht an Innerlichkeit und Wahrheit fehlt  !«140

Schon 1912 hatte er erkannt  : »Das Müssen prostituiert jede Kunst und macht aus dem schönsten Werk Talmiware.«141 Tageszeitungen, Zeitschriften und verschiedene Blätter luden Petzold zur Mitarbeit ein. Die »Wiener Zeitung« stellte ihn als Mitarbeiter an 138 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., Tagebuch, 11. Oktober 1914, S. 513. 139 Ebd., Tagebuch, 5. Mai 1919, S. 542. 140 Ebd., Tagebuch, 20. Februar 1914, S. 500. 141 Ebd., Tagebuch, 2. Juli 1912, S. 483.

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und zahlte ihm dafür 200 Kronen monatlich. Für die »Neue Freie Presse«, die »Wiener Zeitung«, das »Literarische Echo« u. a. schrieb Petzold seit Jahren laufend Buchkritiken. Manchmal fällte er auch scharfe Urteile wie z. B. in einer Kritik über Bartsch.142 Petzold wurde auch außerhalb des deutschen Sprachraums beachtet. Es erschienen Übersetzungen seiner Gedichte und Novellen in Spanien, den Niederlanden und vor allem in Russland. Ein Duma-Abgeordneter versicherte ihm schon 1914, dass er unter der russischen Arbeiterschaft fast so bekannt sei wie Victor Adler.143 Europa hatte sich völlig verändert. Österreich war klein geworden. Stefan Zweig, mit dem sich Petzold öfter traf, stellte traurig fest, als er nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von einer Reise in die Schweiz nach Salzburg zurückkehrte  : » … nach diesem Österreich, das doch nur noch als ein ungewisser, grauer und lebloser Schatten der früheren kaiserlichen Monarchie auf der Karte Europas dämmerte. Die Tschechen, die Polen, die Italiener, die Slowenen hatten ihre Länder weggerissen  ; was übrig blieb, war ein verstümmelter Rumpf, aus allen Adern blutend. Von den sechs oder sieben Millionen, die man zwang, sich ›Deutsch-Österreicher‹ zu nennen, drängte die Hauptstadt allein schon zwei Millionen frierend und hungrig zusammen  ; die Fabriken, die das Land früher bereichert, lagen auf fremdem Gebiet, die Eisenbahnen waren zu kläglichen Stümpfen geworden, der Nationalbank hatte man ihr Gold genommen und dafür die gigantische Last der Kriegsanleihe aufgebürdet. Die Grenzen waren noch unbestimmt, da der Friedenskongreß kaum begonnen hatte, die Verpflichtungen nicht festgelegt, kein Mehl, kein Brot, keine Kohle, kein Petroleum vorhanden  ; eine Revolution schien unausweichlich oder sonst eine katastrophale Lösung. Nach aller irdischen Voraussicht konnte dieses von den Siegerstaaten künstlich geschaffene Land nicht unabhängig leben und – alle Parteien, die sozialistische, die klerikalen, die nationalen schrien es aus einem Munde – wollte gar nicht selbständig leben. Zum erstenmal meines Wissens im Lauf der Geschichte ergab sich der pa142 Ebd., Tagebuch, 18. Dezember 1911, S. 474. 143 Ebd., Tagebuch, 20. April 1914, S. 501.

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radoxe Fall, daß man ein Land zu einer Selbständigkeit zwang, die es selber erbittert ablehnte. Österreich wünschte entweder mit den Nachbarstaaten wieder vereinigt zu werden oder mit dem stammesverwandten Deutschland, keinesfalls aber in dieser verstümmelten Form ein erniedrigtes Bettlerdasein zu führen. Die Nachbarstaaten hingegen wollten mit diesem Österreich nicht mehr in wirtschaftlichem Bündnis bleiben, teils weil sie es für zu arm hielten, teils aus Furcht vor einer Wiederkehr der Habsburger  ; den Anschluß an Deutschland verboten anderseits die Alliierten, um das besiegte Deutschland nicht zu stärken. So wurde dekretiert  : Die Republik Deutsch-Österreich muß bestehen bleiben. Einem Lande, das nicht existieren wollte, wurde – Unikum in der Geschichte  ! – anbefohlen  : ›Du mußt vorhanden sein  !‹«144 In den Jahren nach dem »Großen Krieg« machte Petzold 1920 folgende treffende und sarkastische Bemerkung  : »In Ungarn der weiße Terror, in Polen Flecktyphus und die Pest, in Italien die Grippe, die mit zumeist tödlich endender Gehirnhautentzündung auftritt, in Frankreich Hochwasser und bei uns der Hunger  ! Ist es nicht eine Lust, Europäer zu sein  ?«145

1919/20 unternahm Petzold eine Vortragsreise nach Salzburg und Hallein. Am 20. Oktober 1920 wohnte er einer Aufführung seiner Legende »Verklärung« im Innsbrucker Stadttheater bei. 1921 las er aus seinen Werken in Wels, Gmunden, Steyr und Linz. Dazwischen war er mehrmals in Wien, wo er in der Wiener Urania und im Volksheim sprach. In Wels fand er seine Erfahrung bestätigt, »daß das Arbeiterpublikum das besterzogene ist …«146 1922 trug er zunächst in Bozen vor, dann in Heidelberg, Freiburg im Breisgau, in Baden-Baden, Offenburg, Wertheim und in Offenbach. Während dieser Zeit war er immer wieder krank, hatte Fieber, Husten und Rückenschmerzen. Als er im November nach 144 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, a. a. O., S. 321 f. 145 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., Tagebuch, 26. Jänner 1920, S. 545. 146 Ebd., Tagebuch, 19. Oktober 1921, S. 556.

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Kitzbühel zurückkam, war er überzeugt, er »werde … eine Zeit brauchen, um wieder in die Höhe zu kommen«.147 Er erholte sich nicht mehr von der anstrengenden Reise nach Deutschland. Am 25. Jänner 1923 starb er an einer Grippe. Auch in den schweren Nachkriegsjahren war seine Schaffenskraft ungebrochen  ; unermüdlich schriftstellerisch tätig, veröffentlichte er die Bände  : »Das Buch von Gott« ( Wien/Prag/Leipzig 1920), »Einkehr« ( Gedichte, Wien/Prag/Leipzig 1920), »Menschen im Schatten« ( Wiener Proletariergeschichten. Mit einer Einleitung von Prof. Eduard Engel und einem Bilde des Dichters, Hamburg/Grossborstel o. J. [ 1920 ]), »Der Franzl« ( Geschichte einer Kindheit, Wien/Leipzig 1920), »Das rauhe Leben« ( Der Roman eines Menschen, Berlin 1920), »Der Totschläger und andere Geschichten« ( Wien 1921), »Gesang von Morgen bis Mittag« ( Eine Auswahl der Gedichte, Wien/Leipzig 1922), »Liebet die Tiere  !« ( Bilder von Fritz Löwen, Worte von Alfons Petzold, Wien o. J.), »Der Pilgrim« ( Gedichte, Wien 1922), »Frühlingssage« ( Drei Prosadichtungen, Wien 1922), »Das Lächeln Gottes« ( Aufzeichnungen einer Liebe, Leipzig o. J.), »Sevarinde« ( Ein alter Abenteuer-Roman, Wien/Berlin/ Leipzig/New York o. J.). In seinen letzten drei Versbüchern »Der Irdische« ( Leipzig o. J. [ 1923 ]), »Totentanz« ( Leipzig o. J. [ 1923 ]) und »Gesicht in den Wolken« ( Wien/ Leipzig 1923) spiegelt sich die Nachkriegsstimmung wider. Er klagt die gesellschaftlichen Zustände der Zeit an, er sehnt sich nach Gott, aber er zweifelt auch und fühlt sich schuldig  : Gott leidet an mir Gott leidet an mir  ! Denn ich soll seine Sonne sein und bin nur trüber Schatten irgendeines seiner Dinge. Den Quell seines Herzens wollte er in mir sehen, doch ich sickere als unreines Wasser über die Straße der Zeit. 147 Ebd., Tagebuch, 5. November 1922, S. 575.

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Als brennenden Dornbusch, seine Allmacht verkündend, dachte er mich in der Stunde meiner Zeugung, doch wie Zittergras duck’ ich mich feige unter dem Speichel frevelnder Menschen. Er legte in mich die Empörung seiner Himmel, hieß mich lieben die Diebe und Mörder, die Huren, Säufer und anderen Knechte der Nacht, hieß mich verachten die Betrüger am Worte und die Schänder des Geistes, hieß mich dreimal töten die Propheten des Kampfes gegen die Liebe. Aber ich wurde ein Schwächling, verschloß meine Türe vor den heilig Unseligen und sitze zu Gast bei den Händlern der Leiber und Seelen, atme die Stickluft ihres Hasses, schreite mit ihrem Stolz als Stütze über die Gasse Endlichkeit. Mein Lachen ist Lüge, mein Weinen Trug und kalt und schamlos meine Gespräche über Wesen und Dinge. So leidet Gott an mir, unendlich und qualvoll, wie eine Mutter vor dem siechen Leib ihres ersten Kindes.148

Werkleute Werkleute laßt uns sein  ! Werkleute, die den Hammer, den Spaten, das Beil und die Säge lieben. Die Welt braucht die Arbeit der Hände, um wieder leben zu können, 148 Alfons Petzold, Gesicht in den Wolken. Gedichte, Wien/Leipzig 1923, S. 18 f.

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um wieder Freude zu finden an Tanz und Gesang, an der Liebe und der zeugenden Kraft des Geistes. Werkleute laßt uns sein  ! Ihr Dichter, Musiker, ihr Grübler über Bücher, Dinge und Wesen, ihr Tänzer und Freunde der Masken, ihr Sänger, Athleten, Läufer, Bezwinger der Berge, ihr Suchenden auf der Straße des Geistes und den Gassen des Wissens, ihr Lauschenden auf der Erde, ihr Sehenden über die Gräber hinaus, ihr Priester und Magier, Maler, Bildhauer und Lehrer, tretet an, ergreifet das Holz, den Stein, das Eisen, beuget den Rücken und kettet euch fest an das begonnene Werk  ! Tretet an  ! Denn laßt uns Werkleute sein  ! Werkleute an der gewaltigen Arche, die uns alle, alle aufnehmen soll. Bedenkt ihre Größe  ! Es muß ihr Kiel das Feuer der Tiefe berühren, und ihre Segel müssen die Sterne beschatten, von Pol zu Pol muß sie reichen und ihre mittlere Breite beinahe die Erde sprengen. Und laßt uns an Schlaf nicht denken, nicht an die Wollust der Ruhe  ! Denn die Wasser des Todes steigen und steigen, schon düstert es untergangsdrohend die Horizonte herauf. In den Wäldern heulen die Welthungerwölfe von Nacht zu Nacht immer stärker, Scharen grausiger Geier umwolken die Sonne, auf manche Landschaft fällt aus den Sternen blutiger Schnee, und rot leuchtet nahe Vernichtung aus dem Nebel unserer Angst. Darum, ihr Freunde, weg von den Betten der süßen Mädchen und Frauen, weg von den Tischen, darüber die Weine schweppern  ; kehrt den Museen und Schulen, den Kirchen, Moscheen und Tempeln euere Rücken  ; verrammelt mit Steinen und Balken die Tore der Theater, Musikhallen und Tanzsäle, räuchert die Banken von den Händlern und Wucherern,

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den Zuhältern unserer Not, aus und schmiedet die Müßiggänger an die Galeere der Schande. Werkleute laßt uns sein  ! Werkleute, die fröhlich das Morgenlicht grüßen wie einst das zu Tanz, Musik und Spiel hinlockende Leuchten der Lampen  ; Werkleute, die glücklich bei der Abendsuppe auf ihre erworbenen Schwielen blicken wie einst auf den Rosenglanz ihrer polierten Fingernägel. Symbolischer Klang sei uns das Kreischen der Säge  ; den unsagbar hinreißenden Rhythmus des Lebens verkünde uns das Kreisen der Räder und Kolben einer Maschine  ; und schön und über alles sei uns das Weib, das Wasser uns zuträgt, wie einst die attische Schwester der Griechen beim Bau ihrer Tempel. Werkleute laßt uns sein  ! Tretet an, ihr Freunde, tretet an  !149

149 Ebd., S. 33 ff.

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Di e A r m u t i n Pe t z ol ds Pros a Im Jahr 1916 schrieb Petzold ins Tagebuch  : »Von seligen Menschen will ich keine Geschichten schreiben, ihr Leben fließt gleichmäßig dahin, wie stille, schöne Rosawolken auf dem Sommerhimmel. Die Unseligen, deren Leben auf und nieder wogt, mit ihren tiefen und großen Leidenschaften sind es, die mich fesseln.«150

Petzold wurde zum Dichter der Armen, Leidenden, Unterdrückten, Behinderten, Besitzlosen, Ausgestoßenen. Er erzählte Geschichten von einfachen Arbeitern, von Kranken und Verkrüppelten, von Menschen, die im Elend lebten. Er fühlte sich in erster Linie als Lyriker, und es fiel ihm unglaublich schwer, gute Prosa zu schreiben. Schon 1912 erwähnte er  : »Ich arbeite jetzt meistens Prosa und bin oft verzweifelt über die Schwierigkeiten, die mir dabei die deutsche Grammatik macht  ! Ich ringe schwer mit der spröden Schönen …«151 Obwohl ihm das Prosaschreiben nicht lag, gelangen ihm realistische, milieuechte Erzählungen und Novellen wie »Armitschkerl«, »Nachbarn«, »Der alte Vagabund«, »Lina Berger«, »Der Kesselflicker«, »Wanja«, »Die polnische Jüdin«, »Der entlassene Sträfling«, »Konsequenz«, »Der Blinde«, »Fensterputzer« oder »Schneeschaufler«. Auch die autobiografische Schilderung »Drei Tage« zählt dazu. Besonders wirksam sind die Novellen »Der Totschläger«, »Die Magd« oder die Erzählung »Der Streckenwächter«. In »Der Franzl« werden u. a. die Schattenseiten des Untermietwesens beleuchtet. Mord, Selbstmord und vor allem Einsamkeit spielen in den Prosawerken eine große Rolle. 150 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., Tagebuch, 10. Februar 1916, S. 521 f. 151 Ebd., Tagebuch, 23. Jänner 1912, S. 476 f.

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Von seinen Romanen, die heute kaum jemand mehr kennt, ist wohl »Das rauhe Leben« der bedeutendste. Hier schildert er sein eigenes tragisches Lebensschicksal, sein Proletarierdasein, den täglichen Kampf ums Überleben in den Wiener Vorstädten, aber auch seine persönliche Emanzipation, er berichtet über die unmöglichen, menschenfeindlichen Arbeitsbedingungen für Lehrlinge und für Arbeiter in den Fabriken, und er klagt die damaligen sozialen Zustände an. Das Buch gestaltet ein Gegenbild zur »guten alten Zeit«, zum »Operettenklischee des kaiserlichen Wien«. Nach Robert A. Kann, der das Nachwort der bisher letzten Wiederherausgabe des Buches ( 1979) verfasste, sollte dieser Roman »zu den ganz großen autobiographischen Werken der Weltliteratur gezählt werden. Hiebei ist die Bezeichnung ›autobiographischer Roman‹, die Petzold unter den Titel des Buches setzt, im selben Sinn zu verstehen wie die ›Confessions‹ von Rousseau oder ›Dichtung und Wahrheit‹ von Goethe. Der Umstand, daß diese erlauchten Namen hier bewußt neben Petzolds Buch gestellt werden, soll darauf hinweisen, wie bedeutend und wie ungerechterweise verkannt ›Das rauhe Leben‹ ist. Es ereignet sich im Schrifttum aller Zeiten nicht selten, daß Schriftsteller, die auf ein umfangreiches literarisches Œuvre hinweisen können, ein Werk geschrieben haben, das ihre gesamte sonstige Produktion weit in den Schatten stellt. Man denke etwa an Boccaccios ›Decamerone‹, an Swifts ›Gullivers Reisen‹, Thackerays ›Vanity Fair‹ und vor allem an den ›Don Quixote‹ von Cervantes. Es scheint, als ob die Verfasser in einem Werk den wahren Ausdruck ihrer Persönlichkeit verankert hätten. Das trifft denn auch aus dem rein stofflichen wie gefühlsmäßigen Bereich heraus vollauf für Petzolds Buch zu. Hier ist freilich noch ein zweiter Gesichtspunkt von Bedeutung, der sich auf die Gegenwart bezieht. Er betrifft die Umwelt, in die Petzolds Werk gestellt ist. In einer Zeit, in der das Verlagswesen auf einer Welle nostalgischer, meist biographischer Habsburgliteratur der Franz-­JosephsZeit schwimmt, bedeutet Petzolds Buch einen bitter notwendigen Mahnruf, nicht die Kehrseite der Medaille zu ignorieren. Denn wenn man auch den Motiven der höfischen Literatur, also der Flucht in die Vergangenheit, in einer Zeit der Wirrnisse und Umsturzbewegungen Verständnis entgegenbringen kann und wenn auch in diesem Genre oft sehr – 103 –

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Beachtliches geleistet wurde und wird, so bleibt es darum nicht minder wichtig, einseitigen Betrachtungen des Geschichtsbildes entgegenzutreten, die immer zu Verzerrungen führen müssen. Diese Aufgabe scheint mir Petzolds Buch wie kaum ein anderes seiner Zeit meisterhaft zu erfüllen.«152 Weiters heißt es  : »Petzolds Werk zeigt mit tiefem menschlichen Einfühlungsvermögen und zwingender Gestaltungskraft, daß wir uns alle schämen müssen, dem, was er darstellt, viel zu wenig Beachtung geschenkt zu haben. Das Buch führt aber auch zu dem Schluß, daß es nicht so hätte sein müssen und in Österreich gewiß auch nicht mehr so ist.«153 Die Wiener Vorstädte bildeten damals einen großen Kontrast zum Glanz und der Helligkeit im elitären Zentrum, zur Pracht der Ringstraße. Fabriken, Industrialisierung, drei- und vierstöckige Zinskasernen, unermessliches Alltagselend, Arbeitslose, Kriminelle, Prostituierte, sozialer Abgrund waren ihre prägenden Merkmale. Petzold vermittelt uns ein anschauliches, zugleich aber erschütterndes Bild des »anderen«, des proletarischen Wien. Das Schrecklichste für jeden Arbeiter war, arbeitslos zu sein. Petzold, der mehrmals in diese Situation geriet, beschreibt in seiner Erzählung »Drei Tage« eindrucksvoll das Elend der Arbeitslosigkeit  : »Die siebente Woche arbeitslos. Ich weiß vor Elend nicht mehr, was beginnen. Ich rüttle an den Stäben meines Schicksals wie eine gefangene wilde Bestie. Wäre ich eine solche, würde ich mich aber sehr hüten auszubrechen. Die wilden Tiere in ihren stählernen Käfigen haben alle übergenug zu fressen, ein schützendes Dach über dem Leib und eine warme, reine Schlafstelle für die Nacht. Wie gerne würde ich meine menschliche Freiheit und sogenannte Würde für das Stück Pferdefleisch hingeben, das ein gefangener Leopard zum Abendschmaus bekommt. 152 Alfons Petzold, Das rauhe Leben. Der Roman eines Menschen. Mit einem Nachwort von Robert A. Kann, Graz/Wien/Köln 1979, S. 492 f. 153 Ebd., S. 495.

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Böse Gedanken wollen mein Gehirn für ihre bösen, lichtscheuen Wünsche gefügig machen, weichhämmern. Sie lassen mich vor den Auslagen stehenbleiben, hinter deren mächtigen Spiegelscheiben die herrlichsten Dinge der Sättigung und Wärme liegen  ; sie heißen mich den geputzten, gut genährten Leuten nachschauen, die ihre satte, lustige Zufriedenheit auf der Straße spazieren tragen. Oft bin ich innerlich ganz heiß vor Gier nach den Dingen hinter den kalten, höhnisch glänzenden Spiegelgläsern, ganz brennend vor Zorn über diese angegessenen, zukunftssicheren Menschen, die gleichgültig an mir vorübergehen, als wäre ich für sie nur ein Insekt. Jetzt ist es drei Uhr nachmittag. Ich sitze auf einer Bank der Ringstraßenallee und wärme mir, so gut es eben geht, an der noch kühlen Frühmaisonne die müden, fröstelnden Glieder. Wenn man solchen Hunger hat wie ich, würde man auch am Äquator frieren. Das Kauen von Zigarrenstummeln muß mir das unangenehme Gefühl einer vollständigen Magenleere etwas dämpfen. Trotzdem ich erst um elf Uhr vormittag bei den Lazaristen in der Kaiserstraße eine Suppe bekommen habe, spüre ich schon wieder vor Hunger leise Krämpfe. Ich bin eben erst zwanzig Jahre alt. Und dann diese Klostersuppen  ! Sie sind dünner und gehaltloser als das Wasser des Wienflusses … Eine Zeitung von vorgestern, die ich irgendwo aufgegriffen habe, ist meine Lektüre. Dabei spähe ich fortwährend, ob nicht ein Sicherheitswachmann in meine Nähe kommt. Mein unrasierter, wild stoppeliger Bart, die vom Ziegelstaub befleckten, zerschlissenen Kleidungsstücke, meine ungeputzten, schiefgetretenen, mit klaffenden Rißwunden bedeckten Schuhe stempeln mich für einen solchen ordnungsliebenden ernsten Helmträger zu einem Vagabunden. Denn leider sind diese sonst gewiß ehrenwerten Männer es gewohnt, in jedem herabgekommenen Proletarier einen Vagabunden zu sehen, der seine Not selbst verschuldet und deshalb kein Recht hat, sich in öffentlichen Anlagen auszuruhen … Ich gehe wieder in die Kaiserstraße. Dort befindet sich die Administration des ›Neuigkeits-Weltblattes‹. Diese Zeitung erscheint jeden Tag um sechs Uhr abend und bringt in ihrem Anzeigenteil immer einige offene Stellen, welche an dem Tor des Hauses angeschlagen werden.

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Als ich knapp vor sechs Uhr hinkomme, steht schon eine Menge Arbeitsloser aller möglichen Berufe vor dem Haustor, das der unvermeidliche Polizeimann bewacht. So ist es hier außer am Sonntag jeden Abend. Und der Stellenlose, der von hier aus eine Beschäftigung bekommt, wird angestaunt, als hätte er das große Los gewonnen. Fünfzig bis achtzig Arbeitslose kommen jeden Tag dorthin, und nur drei bis höchstens sieben Stellen sind ausgeschrieben  ; von denen wird die Hälfte nur an jene Leute vergeben, die einem katholischen Jünglings- oder Gesellenverein angehören. Aber man erscheint jeden Abend pünktlich vor dem breiten, braun gedunkelten Tore, wartet geduldig, bis der faßbauchige, duselige Administrationsdiener herausgewatschelt kommt und mit teilnahmsloser Umständlichkeit die Blätter mit den Anzeigen in den Rahmen spannt, drängt sich dann mit kämpfenden Ellbogen und schiebenden Schultern rücksichtslos vor, um – zumeist eine Enttäuschung zu erleben, die man im stillen vorausgeahnt hat. Und am nächsten Tage steht man wieder da. Diese ewige, wie ein Eidechsenschwanz sich immer wieder erneuernde Hoffnung auf Arbeit ist für uns Arbeitslose das, was für einen Hungernden die Brotkrümchen aus einer besseren Zeit in seinen Taschen sind. Sie sättigen nicht, aber sie täuschen dem Kauenden die Illusion einer Mahlzeit vor. So verschafft uns die Hoffnung nicht die kleinste Beschäftigung, aber sie hält uns vor der gänzlichen Verzweiflung zurück und steht als abwehrender Engel vor dem Polizeigefangenenhaus oder gar vor dem Zuchthaus … Der arbeitslose Wiener Arbeiter ist immer sehr national gesinnt, besonders der nichtorganisierte, und schimpft furchtbar auf die ›verfluchtn Böhm und Krowoten‹, in denen er nur eine unlautere Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sieht. Er will sich nicht die Mühe nehmen, darüber nachzudenken, daß diese arbeitslosen Tschechen, Slowenen, Ungarn, Kroaten gerade so arme Teufel sind wie wir und der Grund unseres Elends ganz anderswo zu suchen ist als in der Überschwemmung Wiens mit fremdsprachigen Arbeitern … Bei einem Schneiderehepaar bin ich seit elf Wochen Bettgeher. Aber ich habe schon die zweite Woche meine Bettmiete nicht bezahlt, die eine

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Krone fünfzig Heller für die Woche ausmacht. Die armen, kindergesegneten Leute brauchen das Geld notwendig, und ich schäme mich wegen meiner Schuld sehr vor ihnen. Darum komme ich in den letzten Tagen erst kurz vor der Torsperre nach Hause. Dann liegen meine Quartiergeber in ihrem Zimmer schon im Bett und sehen mich nicht, da sich meine Schlafstätte in der Küche befindet. Wenn in den nächsten Tagen kein Wunder geschieht, das es mir ermöglicht, meine Mietschuld zu begleichen, werde ich sicher eines schönen Abends die Küche versperrt finden, und ich kann auf der Straße schlafen. Gestern schon fand ich abends auf meinem Bett einen Zettel meiner Vermieterin, der die Forderung nach dem Bettgeld mit der schüchternen Drohung sofortiger Kündigung enthielt. Mein Gott, die Leute sind arme Schlucker, die sich mit fünf kleinen Kindern durch das eisenharte Leben schlagen müssen. Sie nähen – er und sie – zu Hause Knabenanzüge und verdienen bei täglich vierzehnstündiger Arbeitszeit zusammen zwanzig bis fünfundzwanzig Kronen in der Woche. Dazu ist jetzt noch ›stille Saison‹, in der sie nicht einmal das am Wochenende ausbezahlt bekommen. So kann ich ihnen ihre Ungeduld über den säumigen Zahler nicht verdenken. Jeder ist sich selbst der Nächste. Im Grunde genommen bin ich ja im Verhältnis zu diesen armen Leuten noch gut daran. Wenn es mir schlecht geht, hungere ich nur allein und brauche nicht auch noch meine Kinder darben zu sehen, wie es bei diesen Bettvermietern oft der Fall ist. Ich habe heute vormittag bei einem Neubau zwei Wagen mit Ziegeln abladen geholfen, wofür ich zwanzig Heller bekam. Ich wollte mir das Geld aufsparen zum Bezahlen eines Teiles meiner Mietschuld. Aber dieser Vorsatz hat schwache Beine und bricht kläglich zusammen. Der Hunger ist mir näher als die Obdachlosigkeit. Er brennt wie höllisches Feuer in den Gedärmen und schickt mir seine wütenden Stichflammen bis ins Gehirn, das schon unangenehm zu schmerzen beginnt. Ja, man kann durch Hunger Kopfschmerzen bekommen. Und wenn man dann noch andere Sorgen hat, fängt einem der dumme Schädel gewaltig zu brummen an. So gehe ich denn in einen Bäckerladen und kaufe mir um zehn Heller schwarzes Brot von einem schon zwei Tage alten Laib. Da bekommt man

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nämlich das doppelte Quantum. Mit dem Brotschatz unter dem Rock setze ich mich in einem Vorstadtpark auf eine Bank und verzehre in kleinen Schnitten, langsam kauend, mein gewiß nicht üppiges Abendmahl. Erfahrungen haben mich gelehrt, selbst bei dem grimmigsten Hunger nicht gierig und in großen Bissen das Essen hinunterzuschlingen. Wohl wäre dabei das Gefühl der Sättigung ein angenehmeres und der Magen schneller befriedigt als beim langsamen Verspeisen in kleinen Mengen, aber dafür bekommt man wieder viel früher Hunger. Viele Kinder spielen um mich. Alle Bänke sind von müden Arbeitern und ihren Angehörigen besetzt. Die Alleen sind erfüllt vom Flüstern verliebter Paare und dem hellen Gesang junger Leute. Parkfest der Armen  ! … Ein Mädchen, das neben mir mit ihrem Liebhaber sitzt, zieht eine kleine silberne Uhr hervor und sagt, erschreckt auffahrend  : ›Schon dreiviertel auf Zehne  ! Schani i muß z’ Haus, sonst muß i Sperrgeld zahln und kriag von der Muatta an Murrer  !‹ Sie entfernt sich eiligst. Auch ich haste heimzu, denn die Wiener Hausbesorger sind im Einhalten der Sperrstunde von einer Genauigkeit und im Einfordern des ›Sperrsechserls‹ von einer unbarmherzigen Rücksichtslosigkeit ohnegleichen. Geräuschlos ziehe ich mich in der stockdunklen Küche aus, in der es atembeklemmend nach Seife, Spülwasser und Speiseresten riecht. Leise öffne ich das schmale Fenster ober der Türe, das auf den Gang hinausgeht. Doch komme ich vom Regen in die Traufe, denn der Türe gerade gegenüber ist der Abort eingebaut, der noch keine Wasserspülung hat und von drei mit Kindern und Aftermietern reich gesegneten Parteien benutzt wird. Der Nachbar von links, ein Schuhmacher, hat allein drei Gesellen und zwei Lehrbuben, die alle bei ihm schlafen. Dafür hat er die größte Wohnung im Stockwerk, Küche, Zimmer und Kammer, die außer von den Arbeitsleuten noch von seiner Frau, deren Schwester und fünf oder sechs Kindern bevölkert wird. Ich lege mich auf die Seite und versuche einzuschlafen. Aber trotz meiner Müdigkeit flieht mich der Schlaf wie schon manche Nacht vorher. Nun bin ich ganz der Barbarenhorde meiner Sorgen ausgeliefert, und sie

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verstehen es gut, mich zu peinigen. Dazu kommt noch, daß meine leibliche Ausdünstung ein gewaltiges Heer Wanzen aus allen Löchern und Fugen lockt, das blutdurstig über mich herzufallen beginnt. Es ist unglaublich, wie zahlreich und voll Todesverachtung diese Betthunnen sind. Hunderte haben schon auf der Wand, auf Polster und Leintuch im Kampfe mit mir einen schnellen unrühmlichen Tod gefunden, und noch immer ziehen sie in dichten Scharen gegen mich zum Kampfe auf, lassen sich listig vom Plafond auf mich herabfallen, saugen sich an allen möglichen Stellen meines gequälten Körpers fest, um sich dann, von meinem Blute vollgesogen, mit der gleichgültigen Todesverachtung eines asiatischen Fanatikers töten zu lassen. Endlich falle ich, ermattet vom Blutverlust und Kampf in einen unruhigen Schlaf, in dem mich die Bisse der tollen Wanzen und das brüderliche Schnarchen der drei Gesellen und zwei Lehrbuben von nebenan verfolgen … Ich komme zur Administration des ›Neuen Wiener Tagblattes‹, der ersten Morgenstation aller nicht qualifizierten Arbeitslosen Wiens. Hier wird jeden Tag mit Ausnahme des Montags um 7 Uhr morgen der kleine Anzeiger dieses Blattes ausgehängt, das von allen Wiener Zeitungen die größte Anzahl Annoncen bringt, darunter viele Ankündigungen aller möglichen offenen Stellen. Auf dem Weg hieher war ich noch schnell in eine Suppen- und Teeanstalt eingetreten und hatte ein Glas Tee mit Zitrone, das acht Heller kostete, zu mir genommen. Allerdings erst nach einem harten Kampf mit meinem finanziellen Gewissen, das diese Ausgabe unvereinbar mit dem Zustand meiner Kasse fand. Aber wie es sich zeigte, siegte der Leichtsinn, ein wenig von meinem revoltierenden Magen unterstützt. In meiner rechten Westentasche ist jetzt nur mehr ein Zweihellerstück vorhanden. Die schluchtartige Schulerstraße im Rücken des Stephansdomes, in der sich alle Administrationen der großen Blätter Wiens befinden, ist gedrängt voll Menschen, überwiegend Männer, die stellenlos sind. Da es unablässig regnet, drückt sich alles, was keinen Regenschirm besitzt, in den kargen Schutz der Häuser, deren Geschäftsläden zumeist noch verschlossen sind. Nur eine Kaffeehalle und zwei Gemischtwarenver-

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schleißer haben ihre gastlichen Türen aufgetan für die Beneidenswerten von uns, die das Aushängen der ausgeschriebenen freien Stellen bei einer Schale Kaffee oder warmen Knackwurst abwarten können. Ich zwänge mich in eine Toreinfahrt, die schon von mehreren schutzsuchenden Leidensgenossen besetzt ist, und schaue nun, halbwegs vor dem elenden Wetter geschützt, dem Treiben um mich zu. Die von hier aus eine Arbeitsstelle suchen, gehören zumeist den freien Berufen an, wie dem der Haus- und Geschäftsdiener, Packer, Fensterputzer, Taglöhner und Hilfsarbeiter aller Art, Kutscher, Hausbesorger. Diese Berufszweige haben entweder gar keine oder nur eine sehr mangelhafte eigene Arbeitsvermittlung. An manchen Tagen, besonders am Sonntag und Donnerstag, ist die Zahl der hier ausgeschriebenen freien Stellen und Arbeitsgelegenheiten relativ groß zu nennen. Doch die Menge der Arbeitslosen saugt sie täglich spurlos auf, wie glühender Sommerwind die Tropfen aus einer Gießkanne, und es kommt selten, sehr selten vor, daß eine solche Anzeige zweimal veröffentlicht werden muß, um für den Arbeitgeber von Erfolg zu sein. Nur die massenhaften Stellenangebote für Lehrlinge, Praktikanten, Los- und Versicherungsagenten sowie für weibliche Haushalthilfen müssen oft ein Woche lang und noch mehr in das Blatt eingeschaltet werden, bis sie besetzt sind. Und diese Anzeigen füllen an manchen Tagen, in langen, schmalen Kolonnen gedruckt, ganze Seiten der umfang- und auflagereichsten Tageszeitung Österreichs, an deren Geschäftslokalen jetzt die eisernen Rollbalken in die Höhe knarren. Uniformierte Diener der Administration, die mit ihren gutgenährten, sorgenlosen Gesichtern jeden Tag aufs neue den Neid von uns armen Teufeln erwecken, hängen die großen braungerahmten Anzeigentafeln heraus, an die sich sofort ein Haufen arbeitshungriger Menschen preßt. Hier vollzieht sich das gleiche Schauspiel – nur in einem viel größeren, eindringlicheren Bilde – wie am Abend vorher in der Kaiserstraße. Die Anzeigen werden eiligst abgesucht und die Adressen aufgeschrieben oder dem Gedächtnis eingeprägt. Heute ist nur eine einzige Geschäftsdienerstelle eingeschaltet. Dagegen werden von verschiedenen Firmen vier jugendliche Laufburschen gesucht. Davon drei mit ›kleinem Anfangsge-

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halt‹. Ich notiere mir sofort diese vier Adressen, ebenso die Chiffre, unter der das Offert für den freien Geschäftsdienerposten an die Annoncenexpedition des Blattes geschickt werden muß, und trabe auf gut Glück der nächst gelegenen Adresse zu. Als ich vor dem betreffenden Hause erscheine, haben sich wohl schon zwei Dutzend Leidensgefährten vor dem noch geschlossenen Laden einer großen Leinenwarenniederlage, die den Laufburschen benötigt, angesammelt. Das Geschäft wird um acht Uhr aufgesperrt, und vom nahen Turm der Kirche Maria am Gestade wirft das Schlagwerk der Uhr gerade das Zeichen der halben Stunde über die Dächer. Also heißt es noch warten. Obzwar die Aussicht auf Erlangung dieser Beschäftigung furchtbar klein ist, hat sich doch die Zahl der um diese freie Stelle Vorsprechenden um bald acht bis zehn Arbeitsuchende vermehrt. Und noch immer taucht bald an dieser, bald an jener Ecke der Straße ein Arbeitsloser auf, der, durch den ekligen Schnürlregen auf uns zusteuernd, hier gleich uns sein Glück versuchen will. Es fehlen noch immer einige Minuten auf acht Uhr, und schon bilden wir vor dem Geschäft ein kleines Heerlager dienstloser Landsknechte der Großstadtindustrie. Wir haben sogar Vorposten aufgestellt, die auf den Randsteinen und Torstufen der nächsten Häuser sitzen. Alle Altersverschiedenheiten sind bei uns vertreten, desgleichen alle möglichen Nationen und Bildungsgrade, Berufe und Schattierungen des Großstadtelends unter den Arbeitern. Vielen von uns sieht man es auf den ersten Blick an, daß sie die weiche fette Wiese einer brotschaffenden Arbeit längst hinter sich haben, schon viele, viele Tage durch die dürre Wüste Not wandern müssen und dem Abgrund der endgültigen bürgerlichen Vernichtung schon bedrohlich nahe stehen. Nur ganz wenige haben noch halbwegs ordentliche Kleider und Schuhe an und frische reine Kragen um den Hals. Die meisten bemühen sich ängstlich, die oft argen Defekte ihrer Kleidung und Wäsche mit

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allen möglichen Kunstmitteln zu verbergen. Sie müssen und wollen ja bei dem Arbeitgeber einen halbwegs günstigen Eindruck ihres Äußeren hervorrufen. Da hat einer seinem schmutzigen Hemdkragen durch starkes Auftragen von Kreide notdürftig neue Weiße verliehen. Einem älteren Manne neben mir sehe ich deutlich an, wie er den grau gewordenen Stellen seines Gehrockes mit Wichse ihre ehemalige Farbe zurückzugeben trachtete. Desgleichen versuchte ein junger Bursche die klaffenden Löcher in seinen Stiefeln mit Wichse zu verschmieren. Nun kriechen ihm aber die gelblichgrauen nassen Fußfetzen neugierig aus den schwarz überstrichenen Stiefelwunden, und er versucht vergeblich, mit dem Zeigefinger die Lappen wieder in ihre frühere Lage zu stopfen. Schamhaft blickt er um sich. Ein Neuling. Ich und noch einige jüngere und ältere Kameraden sind die Ärmsten unter diesen Armen. Die Ellbogen unserer ausgewaschenen Röcke sind durchgescheuert, die Hosenenden ausgefranst, die Schuhe sind so zerfetzt, daß sie nur mehr Fragmente darstellen und nur noch wie durch ein Wunder an den Füßen haften. Um jeden Strich Wichse wäre schade gewesen. Übrigens hat mir meine Bettvermieterin schon seit mehreren Tagen die Wichse versteckt in der ganz richtigen ökonomischen Überlegung  : Zahlst du keine Bettmiete, brauchst du auch nicht mit gewichsten Stiefeln herumzulaufen. Meinen Hemdkragen habe ich mir gestern bei einem einsamen Auslaufbrunnen ausgewaschen und auf der Lehne einer Bank getrocknet. Leider kenne ich kein Verfahren, um ihn ohne Stärke steif zu machen. Er dreht sich nun wie ein weißer Nonnengürtel um meinen Hals. Auch meine Stiefel versuchte ich, so gut es ging, zu restaurieren und nähte die Risse im Oberleder mit Spagat zusammen. Aber das Leder ist morsch wie Zeitungspapier und hält in der Naht nicht mehr. So trete ich auf einen Augenblick rasch hinter ein Haustor und ziehe die locker gewordenen Fäden wieder heraus. Am peinlichsten berühren mich die schamlosen Löcher in meiner Kleidung, da sie mir im Verein mit meinem seit Wochen nicht rasierten Bart das Aussehen eines Vagabunden geben. Aber mir fehlten bisher

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immer die paar Kreuzer auf Zwirn zum Nähen, und die Fachschule der Wiener Friseure, in der man an zwei Abenden unentgeltlich rasiert wird, war seit zwei Wochen aus irgendeinem Grunde gesperrt. Wohlhabende oder gar reiche Leute, die sozial denken, Einsicht haben und wohltätig sein wollen, sollten eine Nähstube für arbeitslose, in ihrer Kleidung heruntergekommene Männer errichten und für deren Unterhalt sorgen, damit diese armen Menschen dort ihre Kleider, eventuell auch ihr Schuhwerk ausbessern könnten. Das dazugehörige Material müßte umsonst zu bekommen sein. Mit der Errichtung eines solchen Kleiderspitals für mittellose, keine Familie besitzende Arbeitslose wäre manchem von uns geholfen und es würde gewiß nicht so viele vollkommen Entgleiste und Zerbrochene geben. Gar mancher Arbeitswillige würde so eine Stelle erhalten, der jetzt wegen seiner zerrissenen Kleidung überall abgewiesen wird, immer tiefer und tiefer sinkt, bis er im Schlamm des Verbrechens erstickt. Ringsum klirren und knarren die eisernen Rollbalken vor den Geschäftslokalen in die Höhe. Augenblicklich ist in diesem Teil der Inneren Stadt, der vom Handel und Gewerbe in Besitz genommen ist, das regste Leben erwacht. Oh, wie glücklich wäre ich, der geringste Laufbursche, der allerletzte Handlanger in einem dieser vielen himmelhohen Häuser zu sein, in denen vom Keller bis zur höchsten Bodenluke Menschen regsam schaffen dürfen, um sich das tägliche Brot und etwas darüber zu verdienen. Eine unendliche Mutlosigkeit nimmt zum soundsovielten Male von mir Besitz. Ich sage es mir wie das sichere Einmaleins vor, daß es gar keinen Sinn hat, mich hier vorzustellen. Wie es mir hundertmal in den vergangenen sieben Wochen geschehen ist, dasselbe erwartet mich ganz sicher auch hier  ; eine gleichgültige Abweisung mit einem mißtrauischen, wenn nicht gar empörten Blick auf meine Elendsgestalt. Wenn ich es so sicher wüßte, heute abend meine Mietschuld bezahlen zu können, wie ich überzeugt bin, die Stelle als Laufbursche nicht zu bekommen, ich würde einen Freudensprung machen. Dennoch, trotz meiner tiefen Mutlosigkeit, dränge ich mich durch die anderen vor, als die breite Straßentüre aufgeht, die zu den inneren Ge-

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schäftsräumen in der Leinenniederlage führt, und ein graubeschnurrbarteter muskulöser Geschäftsdiener, einen Riesenbesen in der Hand, sehr verblüfft unsere Versammlung anstarrt. Er ermannt sich aber sogleich und läßt vier oder fünf der Vordersten von uns eintreten. Die anderen Nachdrängenden wehrt er energisch ab, den Besenstiel als Schlagbaum benützend  : ›Zeit lassn. ’s kommt a jeder dran. Unser Chef nimmt eh net glei den erstn bestn  !‹ … Nach etwa zehn Minuten kommt auch an mich die Reihe. Ich klopfe schüchtern an und schiebe mich auf ein scharfes ›Herein‹ in das Allerheiligste der Firma. Ein kleiner dicker Herr, ganz Lüsterrock, goldene Uhrkette und Glatze und wie aus drei Kugeln zusammengesetzt, fängt meinen stotternden demütigen Gruß mit eisiglistigen Augen auf. Dann dreht er sich langsam wie auf Scharnieren dem riesigen Schreibtisch zu, und indes sein linker, gelb hervorquellender Augapfel schielend auf meinen Schuhen haftenbleibt, grunzt er mit nasser Stimme, die wie aus einem dichten Nebel zu mir dringt  : ›Sie haben sich umsonst heraufbemüht. Ich kann in meinem Geschäft nur anständig gekleidete Leute brauchen. Ich verzichte auf einen Einblick in Ihre Zeugnisse, guten Tag  !‹ Ich krieche mehr bei der Tür hinaus, als ich gehe. In Mund und Hals quellen mir alle Schleimhäute auf. Ich habe das sonderbare Gefühl, als läge mir das Herz auf der Zunge und ich müßte es herausreißen und mit den Füßen zerstampfen. Aber ich bringe nicht das leiseste Wort einer Entschuldigung heraus, als ich hinter mir den Chef zu einem andern Herrn sagen höre  : ›Nicht einmal grüßen kann der Kerl, und solche Vagabunden läßt man frei auf der Straße herumlaufen. Eine schöne Polizei ist das – ‹ …«154

Eine geregelte Arbeitsvermittlung im heutigen Sinn gab es damals noch nicht. Die Arbeitslosen zogen daher von Fabrikstor zu Fabrikstor und 154 Ein Bruder so wie du. Das Alfons-Petzold-Buch. Eine Auswahl aus den Werken des Dichters von Karl Ziak, Wien/Frankfurt [ 1957 ], S. 77 ff.

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hofften, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Die Unternehmer konnten Arbeitskräfte aufnehmen ganz nach Belieben und bezahlen, was sie wollten. Für die Arbeitslosen war es sehr mühevoll, irgendwo unterzukommen, und wenn ihnen das nicht gelang und sie kein Geld für den täglichen Lebensbedarf mehr hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich um eine Klostersuppe anzustellen  : »Der Orden der Barmherzigen Brüder unterhält … ein berühmtes Krankenhaus. An der Pforte dieser Anstalt teilen die Brüder jeden Tag um elf Uhr vormittag eine Schale Suppe an arme Leute aus, in der frisches, kleingeschnittenes Brot und zuweilen auch ein Bissen Fleisch herumschwimmen … Wir sind wohl an die hundert Menschen, Männer, Weiber und sogar Kinder, alles verwahrloste, von dem härtesten Elend ausgeschrotete Gestalten, die hier durch eine mittelalterliche Einrichtung christlicher Barmherzigkeit ihren quälenden Hunger notdürftig gestillt bekommen. Wir sind eine furchtbare Versammlung. Des Lebens Schiffbrüchige umgeben mich, von dem noch mit seiner ganzen moralischen Energie gegen den Wogenschwall der Not Ringenden bis zu dem völlig Zusammengebrochenen, der nur noch ein Glück, einen Inhalt des Daseins kennt  : die Betäubung durch Schnaps. Dicht in meiner Nähe stehen einige dieser Unglücklichen. Ihre Kleidungsstücke bestehen nur noch aus schmutzstarrenden Fragmenten. Der eine, ein anscheinend noch junger Mann, hat statt der Schuhe alte Sackteile um die Füße gewickelt, so daß es aussieht, als hätte er die Elephantiasis. Ihre von ungepflegten Bart- und Kopfhaaren wild umwucherten Gesichter sind schmutziggrau, wie in Asche gelegen oder wie die aufgedunsener Wasserleichen. Zu dieser Gruppe völlig Zerbrochener gehört auch ein Weib, das schwer betrunken ist  ; es beschimpft seine Schicksalsgefährten mit nicht wiederzugebenden, unflätigen Ausdrücken, schüttet sich die warme Suppe über das schmierige, zerfetzte Umhängetuch und bedroht stehenbleibende, sie betrachtende Leute mit der alten Fischkonservenbüchse, die sie als Schüssel benützt hat. Endlich wird ein Wachmann auf das Weib aufmerksam, und da sein Zureden nichts hilft, führt er sie unter dem Gejohle der Neugierigen auf die nächste Sicherheitswachstube.

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Dort läßt man sie in einem Winkel auf dem Erdboden den Rausch ausschlafen, um sie dann aufs neue ihrem menschenunwürdigen Schicksal zu überlassen. Dies wiederholt sich bei ihr gewiß jeden dritten, vierten Tag, bis eines Tages der Tod sich ihrer erbarmt und man sie in einer Gärtnerhütte, in einem Straßengraben oder auf einem Misthaufen leblos auffindet, wie ein Tier verreckt … Auch unter uns Hungernden gibt es noch eine Art sozialer Gesellschaftsordnung, die ihre zwar ungeschriebenen, aber dennoch streng eingehaltenen Gesetze hat und uns auf diesen letzten ›Auswurf‹ der Gesellschaft mit scheelen Augen herabblicken läßt. Dabei verspüren wir wahnsinnige Furcht in uns, vielleicht einmal das Schicksal dieser Geächteten erdulden zu müssen, wenn nicht das Wunder des Zufalles eintritt, das uns wieder eine Arbeitsstelle verschafft und damit den verlorenen Platz in der Zivilisation zurückgibt …«155

Auch die schreckliche Angst, die Bettmiete nicht mehr bezahlen zu können, bedrückte viele Arbeitslose. Allein der Gedanke, als allerletzten Ausweg betteln zu müssen, war für Petzold unerträglich  : »Einem Pfeilschuß gleich schnellt mir ein Gedanke durch das zermarterte Gehirn  : Betteln  ! Als wäre ich mitten im Winter in einen Bach gefallen, so durchschauert es mich eisig. Betteln  ! Fremde Menschen, von deren Leben, Anschauungen, Gesinnungen ich keine Ahnung habe, um ein Almosen ansprechen  ! Ich soll dies tun, ich, der scheue, schüchterne Bursche, ich, der sich nicht einmal in viel harmloseren Dingen seinem besten Freunde anvertrauen würde, in der festen Einbildung, lästig zu fallen und unverstanden zu bleiben  ! Betteln  ! Meine Nerven beben, als stünde ich vor einer Handlung, die mir vielleicht den Tod bringt. Einen Augenblick dreht sich alles um mich im Kreise. Die verschiedenartigsten Schreckgespenster kämpfen in meinem armen Gehirn um die Oberherrschaft. Bald gewinnt die Angst vor der drohenden Obdachlosigkeit die Oberhand und ich will schon in dumpfer Er155 Ebd., S. 94 ff.

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gebenheit den erstbesten Vorübergehenden anbetteln. Da siegt die Abscheu und reißt mich zurück. Nein, nein, ich will nicht zum Bettler herabsinken  ; lieber will ich wie ein räudiger Hund auf dem Misthaufen verrecken  ! Ich muß laut gedacht haben, denn die vorübergehenden Leute starren mich verwundert an, und mir kommt vor, als lenke der Polizeimann von der anderen Straßenecke seine Schritte auf mich zu. Wie ein auf frischer Tat ertappter Einbrecher schleiche ich mich in eine Seitengasse. Dort fange ich zu laufen an, denn mir ist, als hätte ich doch gebettelt und würde nun von der Polizei verfolgt. Bäume und dichte Sträucher eines Parks. Außer Atem lasse ich mich auf einer versteckten Bank nieder und suche in meinem Gehirn Ordnung zu schaffen. Aber der Gedanke an die drohende Obdachlosigkeit ist wie ein bohrendes Messer. Ich male mir schon das Bild der kommenden Nacht mit den grellsten Farben des Schreckens aus. Soll ich noch einmal meine Bettvermieterin um Nachsicht bitten  ? Ach, ich habe es schon so oft getan und meine brennende Scham mit Füßen getreten  ; ach, ich habe schon zu oft in die sorgenvolle, bittere Miene meiner Herbergsmutter geblickt, in ihre von Nachtarbeit getrübten Augen und darin immer auch neben dem Ausdruck der zwingenden Not ein leises Mißtrauen gegenüber meiner Entschuldigung und Vertröstung auf die Zukunft bemerkt. Und dann, der Zettel mit der Drohung sofortiger Kündigung im Falle meines weiteren Unvermögens, die Bettmiete zu begleichen, dieser Zettel, den ich vor zwei Tagen auf der Bettdecke gefunden, sagt der nicht genug  ? Nein, da war wohl nicht mehr auf weitere Duldung zu hoffen. Wenn das Schicksal gut auf mich zu sprechen ist, darf ich vielleicht noch eine Nacht unter einem schützenden Dach in einem warmen Bett zubringen. Wenn nicht heute, morgen, Samstag, war mir die Kündigung von meinen Quartiersleuten gewiß. Und keine Hoffnung auf Arbeit  ! Stunde um Stunde vergeht und immer tiefer sinke ich in den Brunnen meiner Verzweiflung …«156 156 Ebd., S. 102 f.

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In allerhöchster Not war es für Arme möglich, einen Armenrat ( aus dem später der heutige Fürsorgerat wurde) aufzusuchen. Wer zu große Erwartungen hatte, wurde allerdings meistens bitter enttäuscht. Petzold machte wahrlich wie viele andere eine schlechte Erfahrung, als er sich entschloss, »kompetente« Hilfe in Anspruch zu nehmen  : »Wie schon viele Tage vorher laufe ich auch heute von Fabrik zu Fabrik, von einem Neubau zum andern, ohne Arbeit zu finden. Nirgends wird ein Taglöhner, ein Hausknecht, ein Hilfsarbeiter benötigt … Da lese ich an einem Hause die Aufschrift ›Armenrat‹. Aus dem dichten Nebel meiner Not steigt ein kleines Rettungslicht. Noch nie habe ich um die Armenhilfe der Gemeinde angesucht. Wenn es mich auch manchmal schon fest beim Kragen hatte, vor diesem Schritt bin ich immer zurückgescheut. Doch heute hat das Grauen der kommenden Nacht das letzte Fünkchen Stolz in mir ausgetreten, und ich danke dem Zufall, der mir durch das kleine Schild an dem Hause einen so guten Wink gegeben. Entschlossen suche ich das Magistratsamt meines Wohnbezirkes auf, um in den dort ausgehängten Veröffentlichungen die Adresse des Armenrates zu finden, dem der Häuserblock zugeteilt ist, in dem ich meine letzte Wohnstätte hatte. Dies ist bald geschehen, und indes sich in mir Hoffnung und Zweifel auf das ärgste bekämpfen, wandere ich zu der Wohnung meines Armenrates, die nur wenige Minuten entfernt ist. Er wohnt im ersten Stock, und ich steige mit trommelndem Herzen die paar Stufen hinauf, nach Luft ringend, denn die Erregung liegt steinern auf meiner Brust. Oben angekommen, nehme ich, eine Fensterscheibe als Spiegel benützend, noch einmal eine flüchtige Verschönerung meines zerlumpten Äußeren vor, striegle mir die verschweißten Kopfhaare mit einem zinkenarmen Taschenkamm, drehe den zerzausten dünnen Schnurrbart in zwei traurige Spitzen zusammen und bin sehr unmutig über die langen roten Bartstoppeln, die meinem abgemagerten Gesicht einen besonders verwahrlosten, verbrecherischen Ausdruck verleihen. Nur mühsam meine Aufregung unterdrückend, klopfe ich schüchtern an die Türe …

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Ich warte eine gute Weile. Man hat mein leises Klopfen wohl nicht gehört. Mein Finger erlaubt sich deshalb, etwas dringlicher an die Türe zu pochen. Schlürfende Schritte nahen. Ein messinggefaßtes Guckloch wird geöffnet. Ich fühle einen forschenden Blick auf mir ruhen. Nach einer Weile höre ich einen Ton wie das Krächzen eines Raben. Meine Ohren greifen mühsam die Worte auf  : ›Was wolln S’ denn  ?‹ Ich frage im unterwürfigsten Tone der Welt  : ›Bitt schön, ist der Herr Armenrat zu sprechen  ?‹ Als Antwort rasselt es hinter der Tür  : ›Schon wieder so a Bettler  !‹ Die Schamröte schießt mir siedendheiß ins Gesicht. Am liebsten möchte ich wieder die Treppe hinunterspringen, aber die Zwinggabel der Not hat mich schon zu fest aufgespießt. Jetzt heißt es auch noch diese Demütigung über sich ergehen lassen. Ich trete ein und sehe mich im Vorzimmer, das in Halbdunkel getaucht ist, einer älteren Frau gegenüber, die in ihrer schmutzigen Küchenschürze und mit ihren langen, halbnackten Armen, einem halbergrauten, zerzausten Haarschopf und einem käsigen Gesicht einen abstoßenden Eindruck auf mich macht. Ich wiederhole noch demütiger als das erstemal meine Frage und bekomme unfreundlich zur Antwort  : ›Hab’s eh schon einmal ghört, glauben S’, i bin törrisch  ? Wartn S’a bissl  !‹ Herrgott, wenn schon die Köchin so ein Drachen ist, wie wird da erst der Herr sein. Einige Minuten werde ich allein gelassen. Dann höre ich eine singende Männerstimme  : ›Niiicht eineee Minuuuten kaann man ruuuhig seineee Zeitung leeesen. Ob diese Leut niiicht naachmittaag kommeeen kööönnen. Faaanny, lassn S’ ihn halt herein.‹ Die mumienhafte Köchin erscheint wieder und schiebt mich, ohne viel Umstände zu machen, in ein helles, freundliches Zimmer, in dem ein beschlafrockter Herr, behaglich in einen Lehnsessel zurückgelehnt, sitzt.

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Alles an ihm glänzt wie mit Fett eingelassen  : Haare, Wangen, Nase, die fleischigen Hände. Nur die Augen starren mich glanzlos, wie zwei fahlgrüne Schimmelflecke, an. Eine verrückte Einbildung zwängt sich in mein Gehirn. Dieser satte Herr dort, den du durch dein Kommen in schlechte Laune gebracht hast, ist jetzt für dich ein Gott, der dein Schicksal in seinen Händen hält. Knie nieder, bete ihn an und mach ihn dir wieder gewogen  ! ›Waaas wollen Sie deen. Saaageen Sie’s schnell, Zeit haaab ich niiicht viel  !‹ Die keifende Waschweibstimme meines Gottes ernüchtert mich. Stotternd – ich muß die Worte förmlich aus mir herausgraben – erzähle ich ihm von meiner schrecklichen Notlage und bitte ihn flehentlich, mir mit ein paar Kronen zu helfen  : ›Bitt schön, Herr Armenrat, wenigstens drei Kronen, damit ich mein Bettgeld zahlen kann  !‹ Diese Bitte wiederhole ich mindestens fünfmal in allen Variationen. Der Herr Armenvater – so nennt der Wiener die Armenräte – hat sich während meines Sprechens mit einer langen Stecknadel die Zähne ausgestochert. Nun streckt er die kurzen Beine, prescht sich mit den Wurstfingern auf die Schenkel, holt pfeifend tief Atem und singt  : ›Ja, wiiissen Sie, mein Lieber, Geeld könneen wiir Ihneen niiicht geee­ ben. Siiie siiind nicht verheiraatet, haaabeen keinee Kiiinder zu erhaalten. Waaas wollen Siiie denn  ? Diiie Gemeindee kaann niiicht einem jeden Vaaazierenden das Beeettgeld zaahlen. Siiie müssen siiich halt fleißiiiger umschaun, werden schon einee Arbeit fiiinden. Waann Siie wolleen, geb iiich ihnen halt einee Anweisung auf das städtische Werkhaus –‹ Wie ich so schnell wieder auf den Gang hinausgekommen bin, weiß ich nicht. Ich habe nur die dunkle Erinnerung, daß ich bei der Erwähnung des Werkhauses, um dem Dicken nicht in das Gesicht zu spucken, stracks kehrtmachte und mich ohne Gruß empfahl, sozusagen mich selbst hinauswarf. ›Werkhaus  !‹ Ich soll wie ein Vagabund, wie ein arbeitsscheuer Strolch in das Werkhaus gehen, in dieses Vorzimmer des Zuchthauses, neben oftmals abge-

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straften Verbrechern Säcke picken, soll einen Stempel in mein Arbeitsbuch bekommen, womit es mir ganz unmöglich wird, einen anständigen Erwerb zu erhalten. Denn wer nimmt einen Arbeiter, der einmal in dieser Schule des Verbrechens auf einem Strohsack geschlafen hat  ? In ohnmächtigem Grimm beiße ich in das Handgelenk, um nicht laut aufzuschreien. Ich will zurück zu diesem dicken Kerl da oben, ihm in sein dummes, fetttriefendes Gesicht schlagen und in die Ohren schreien  : ›Hund, du elender, du hast nicht das Recht, statt mir ein Brot und ein Bett zu geben, mich zu beschimpfen wie einen abgestraften Landstreicher. Du hast die Pflicht, mir zu helfen, damit ich nicht verkomme, ein Dieb werden oder mir das Leben nehmen muß. Aber du und die Stadt, die dich angestellt hat, den Armen zu helfen, habt kein Herz, nur einen großen Magen. Fressen und saufen könnt ihr, dabei heuchlerisch die Augen verdrehen und blind und taub sein, wenn es euren Sack betrifft. Ihr habt meine Mutter verhungern lassen, und nun muß auch ich auf irgendeinem Misthaufen krepieren, wenn ich es nicht vorziehe, das Wasser der Donau zu kosten, die mitleidiger ist als ihr. Seid froh und bedankt euch bei euren Heiligen, daß ich ein feiger Kerl bin, sonst würde ich dir fettem Gauch mein altes, rostiges Taschenmesser in die Speckseite stoßen und dich, verfluchte Stadt, in der nächsten Nacht an vier Ecken anzünden  !‹«157

In der Erzählung »Eine Geschichte« schildert uns Petzold noch einen Armenrat, dessen »Hilfeleistung« in eine tragische Katastrophe führte  : »Zehn Wochen war er schon arbeitslos. Drei Kinder und ein Weib, das den Keim neuen Lebens in sich klopfen hörte, darbten mit ihm. Der Zins war im Rückstand  ; den letzten Wertgegenstand hatte die Not durch das Fenster gierigen Trödlern in die Hände geworfen. Er sah vor sich ein – Bettlerleben. Trotz der starken Hände – der Arbeitsfreude. Heute schleicht er wie ein geschlagener Hund aus dem Hause. 157 Ebd., S. 112 ff.

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In seinem Magen klunkert kaltes Wasser – sein Frühstückstrunk. Eine Rinde alten, harten Brotes, die er dazu aß, hat einen bitteren Geschmack in seinem Munde hinterlassen. Seine Füße schleppen sich wie die eines Hinfälligen schwer über das von der jungen Sommersonne beglänzte Pflaster. Und bitter und schwer ist ihm der Weg, den er geht. Zum Armenrat  ! … Seine Augen blendet ein weißes Emailschild, auf dem in schwarzen Buchstaben zu lesen ist  : ›Josef Seidelhuber, Bürger, Stadtziegeldeckermeister und Armenrat.‹ Er ist am Ziel … Er beißt die Zähne aufeinander, tritt ins Haus und steigt die wenigen Stufen empor, die zu der Wohnung des Armenrates führen. Vor einer hohen, braunen Flügeltür bleibt er stehen. Noch einmal packt ihn die Angst vor diesem Schritt der Verzweiflung. Er kann noch immer umkehren … Da sieht er vor sich das Bild seiner Gegenwart  : die trostlose Leere seiner von der Not ausgeraubten Stube und darin sein Weib mit den drei Kindern, die vor Hunger still geworden sind mitten im frohen Lachen. Er umkrampft mit der linken Hand die Türklinke und klopft zaghaft, mit langsamem Knöchelschlag an … Die kühle Dämmerung eines Vorzimmers umfängt ihn … Mit festem Schritt geht er auf eine verhangene Tür zu, schiebt den Vorhang beiseite, drückt auf die Klinke und – sieht sich vor einem dicken, älteren Mann stehen, der sich gerade mit feistem Behagen in einen Lehnstuhl zurücksinken läßt und eine Zigarre anzündet. Indes der vom Elend verfolgte Arbeiter mit hastigen, einander fressenden Worten seine Leidensgeschichte dem dicken Mann erzählt, raucht dieser ruhig seine Zigarre und wirft ab und zu abwägende Blicke auf die Gestalt des vor ihm Stehenden. Die Hände des Armenrates sind große, aufgedunsene Fleischschwämme und erzählen von der Trägheit und dem Nichtstun ihrer Tage. Das Gesicht kommt vor lauter Gesicht gar nicht zum Vorschein.

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Er befühlt mit seinen hervorstehenden Kugelaugen jede Sehne, jeden Muskel des Arbeiters und prüft sie mit Rücksicht auf die Fülle ihrer Kraft und Geschmeidigkeit. Als der Arbeiter geendet, schnauft der Dicke einige Male  ; dann prustet er  : ›Ja wissen S’, mei liaber Mann, dös is ja gwiß alles recht traurig  ! Do is oba schwer z’helfen, weil mir halt gar so wenig Göld in da Armenkassa ham. Aber wissen S’ wos  ? Sö wolln ja arbeitn, nöt  ? Segn S’, i brauch grad an Hilfsarbeiter, der wülli is und a wengerl wos leisten kann. Wenn S’ wolln, könnan S’ murgen oder heut no bei mir anfangn. I zahl Ihna zwa Kronen und achtzig Heller per Tag. Dös is a Sechserl mehr, wia dö andern ham  ; aber weil S’ a Familienvoter san, tua i dös  ! Alsdann  ! San S’ anverstanden  ?‹ Der Arbeiter kann kaum vor Freude ›ja‹ sagen und will vor Dankbarkeit die Schwammhände des Armenrates abküssen, der ihm jetzt die Adresse des Hauses sagt, auf dessen Dach gearbeitet wird. Die weiße Glut der Sommersonne hat ihren Höhepunkt erreicht. Es ist ein stilles Sieden in der Luft, das alles mit seiner trockenen Hitze verbrüht. Pferde, Hunde, Menschen kriechen wie ermattete Insekten über die glühenden Steine des Straßenpflasters. Die weißen und grauen Flächen der Häuser mit ihren Millionen Glasaugen sind gewaltige Reflektoren, die die Sonnenwärme in mächtigem Gestrahle zurückgeben. Auf ihren himmelnahen Dächern lechzen die roten Ziegelzungen nach einem Tropfen Feuchte. Auf dem Dache eines fünfstöckigen Hauses keucht der Arbeiter von vorhin unter einer Last von Dachziegeln, die er aus einer Bodenluke zu dem steil aufragenden Dachfirst schleppen muß. Das ist jedesmal ein mühseliger und gefährlicher Gang. Die schwindelnde Tiefe und der brennend heiße, glatte Weg über das Dach hinauf  !

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Aber die Not, die er zu Hause weiß, und die Sorge, die im Herzen sitzt, sind furchtbare Lehrmeister. Schon neun- und zehnmal hat er den Weg hinter sich und ruht sich oben beim Rauchfang eine Weile aus. Er denkt dabei immer des Geldes, das er heute Abend nach Hause bringen wird. Er hört schon den Jubel der Kinder. Und sieht aus den Augen seines Weibes den Kummer fliehen  ! Darüber vergißt er fast seinen Hunger, der ihn mit kalten Händen ergriffen hat  ! Wenn er so hindämmert, weckt ihn immer der Vorarbeiter, der die Ziegel in die offene Stelle des Daches einfügt. ›Sö  ! Hör’n S’  ! Passn S’ auf, daß Ihna dö Sunn nöt abi wirft  ! Dö hat’s heut wieder gnädi.‹ Und wieder steigt er auf und ab. Immer stärker bedrängt der Hunger seinen Leib  ; drückt ihm mit der einen Hand den Magen zusammen und hämmert mit der Faust der anderen Hand auf sein Gehirn los. ›O  ! das tut verteufelt weh  !‹ Wieder ruht er ein wenig aus. Er drückt den schmerzenden, glühheißen Kopf in die Hände und läßt das Kinn auf den harten Knien ruhen. So träumt er hin, betäubt von Hunger und Sonne. Der Vorarbeiter ist auf der anderen Seite des Schornsteins beschäftigt und sieht ihn nicht. Der Arbeiter träumt, daß er zu Hause sei. Die Kinder sitzen fröhlich um ihn und stopfen die hungrigen Mäulchen mit Butterbroten. Vor ihm steht ein Glas Bier, aus dem er und seine Frau zuweilen trinken. Endlich wieder einmal ein bisserl Geld im Hause  ! Wie das alle fröhlich macht  ! Jetzt muß er aber schlafen gehen, erstens wegen dieser dummen Kopfschmerzen und dann heißt es, morgen frühzeitig aufstehen.

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Seine Frau schlägt ihm nasse, kühlende Tücher um die Stirn. O, wie das wohltut  ! Und wie fein und weich heute das Strohbett ist  ! Ah  ! – ›Sö  ! Hör’n S’  ! Hör’n S’  ! Um Gotteswillen  ! Festhalten  !‹ Der Vorarbeiter schreit es mit schriller Stimme, die sich überschlägt. Aber der Körper des Arbeiters rollt übers Dach, immer schneller und schneller. Der Vorarbeiter schließt vor Grauen die Augen und gräbt vor Entsetzen seine Zähne in die Hand ein. Unten auf der Straße klatscht es breiig auf. Die Passanten stieben in wilder Flucht auseinander. Ein Wachmann schüttelt den Schauder von der Seele und untersucht den Körper des Abgestürzten. Ein Arm bleibt in seinen Händen. Er weiß genug. Er reißt von einem Komfortablergaul die Decke herunter, wirft sie über die Leiche und geht, die Anzeige zu erstatten.«158

In fast allen seinen Novellen und Erzählungen schildert Petzold verschiedene Erscheinungsformen von Armut und Elend der kleinen Leute. Arbeitslosigkeit, desolate Wohnverhältnisse, Alkohol und Gewalt, brüchige, verworrene Familienverhältnisse, inhumane Arbeitsbedingungen, Krankheit, Obdachlosigkeit, ausgebeutete Menschen werden in seinen Geschichten schonungslos und ergreifend dargestellt. Sie vermitteln in schlichter Sprache ein detailreiches Bild der sozialen Ungleichheit in der damaligen Zeit und zeigen gesellschaftliche Missstände auf. In »Der Franzl« erzählt Petzold die tragische Geschichte eines Wiener Kindes, das in einer Trinkerfamilie aufwächst  : 158 Alfons Petzold, Der Totschläger und andere Geschichten, Wien/Prag/Leipzig 1921, S.  107 ff.

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»Als Franz Stadler dieser nachlässigen Welt geboren wurde, schwemmte sich sein Vater, der Drechslermeister, den Holzstaub der Arbeit, den säuerlichen Geruch der armseligen, verwahrlosten Wochenstube und die heulenden Vorwürfe seines kreißenden Weibes mit Bier und billigstem Schnaps hinunter, raufte und grölte sich in der düsteren Spelunke in die Vorstadtpolitik hinein, torkelte dann schwer betrunken durch die Straßen und heulte, auf einem Randstein niedersitzend, den Mond an, der vor seinem Gesicht in einer Regenpfütze ein empörtes Antlitz zeigte und die Ursache war, daß der erboste Drechslermeister mit zorngeballten Fäusten vornüber in die schmutzige Lache fiel. Während so der Vater seine Menschenwürde vergaß, schrie die kreißende Mutter in dem wackligen Bett über ihren mächtigen, nackten Bauch hin, daß die Fenster klirrten. Sie stieß in der schmerzhaften Bedrängnis mit den Füßen die ununterbrochen schnatternde Wehmutter in den Leib und beruhigte sich nur, wenn sie das Weinglas, gefüllt mit stärkstem Kornbranntwein, gereicht bekam. Mit Händen, in denen Schmerz, Gier und Wut zuckten, führte sie es an die Lippen und schlürfte mit wollüstigem Schmatzen das ätzende Getränk. Dann fing sie wieder zu stöhnen an und stemmte die Füße gegen das Bettende, als wollte sie sich mit ihrer drängenden Qual über die ganze Erde strecken, ein fleischgewordener Fluch, schamlos und voll des wildesten Hasses … Das Kind kam zur Welt. Der Säugling lag die meiste Zeit in einem alten Kinderwagen, den der Vater einmal bei guter Laune von einem Eisentrödler heimgebracht hatte. Mit dem Vehikel wurden auch Holz, Kohlen und andere Dinge in das Haus geschafft. So hatte der Wagen nicht nur ein zerrissenes Dach und schadhafte Radfelgen, sondern es war auch sein Inneres mit Kohlenstaub und sonstigem Schmutz bedeckt, von dem der puppengroße Franzl ein Erhebliches abbekam und oftmals wie ein Mohrensprößling aussah. Die Mutter kümmerte sich nicht viel um den Säugling. Sie wickelte ihn nur um und legte ihn trocken, wenn die Zeit des Stillens gekommen war. Bloß weil ihr die Kuhmilch zu teuer und die Zubereitung für den Genuß zu umständlich war, nährte sie mit der eigenen Milch den ewig hungrigen ›Schratzn‹, der freilich erst nach langem Schreien zu seinem Recht kam.

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Die Flöhe, Wanzen und anderen Insekten, die in der unsauberen, sonnenarmen Wohnung prächtig gediehen und in ihrer Vermehrung von der nachlässigen Frau des Drechslers kaum gehindert wurden, suchten sich den hilflosen, unbeschützten Kinderkörper als Lieblingsopfer aus. Es konnte niemand wundern, wenn das geplagte Menschlein sich diese Vorliebe für sein bißchen Fleisch und Blut nicht gefallen lassen wollte und mit derartigem Stimmenaufwand dagegen protestierte, daß die Hängelampen im ganzen Hause zu schaukeln begannen. Die Mutter ließ ihn zuerst eine Weile schreien, dann gab sie ihm einige empfindliche Klapse, die aber zumeist die Sache noch ärger machten, so daß sie zuletzt einen Zummel mit Rum tränkte und ihn dem Säugling in das Mündchen schob. Der fiel darauf in eine Art verzückte Betäubung und vergaß für längere Zeit die Anwendung seines kräftigen Stimmchens … Als Franzl drei Jahre alt war, holten eines schönen Tages zwei Männer mit großmächtigen Säbeln und sonderbar blitzenden Hüten, die in einem scharfen Spitz endigten, den Vater ab. Er sollte eine Strafe bekommen, weil er einem Menschen im Gasthaus mit seinem Messer wehgetan hatte. So weinte und klagte es wenigstens die Mutter ihrem Kinde vor. Das verstand aber nicht die Bedeutung des Geschehens und wunderte sich nur über die Tränen, die die Mutter um den abgeführten Vater weinte, für den sie doch bisher nur garstige, ungeheuerlich wilde Schimpfworte gehabt hatte. Er wird am Abend oder in der Nacht schon wieder heimkommen oder, wie es alle Wochen ein paarmal geschah, morgen in aller Frühe ins Zimmer hereinschleichen. So tröstete sich der Kleine und trappelte, unschweren Herzens und vergnügt über die schöne Sommersonne, die draußen über der Erde stand, in den Garten hinaus … Franzl hatte schon im Hausflur das übermütige Jauchzen seiner täglichen Gespielen gehört, und sein kleines Herz freute sich mächtig, nun auch an dem lustigen Spiel teilnehmen zu können. Hinter der mächtigen Buchsbaumkuppel hervorspringend, krähte er vergnügt  : ›Jetztn bin i a do  ! Laßts mi mitspüln und machts ma an Platz  !‹ Und er versuchte, die Kinderkette bei den Händen der Linnerl, seiner besonderen Freundin, und des Greißlertoni zu lösen. ›So gehts, laßts aus  ; i möcht a mitspüln  !‹

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Aber da geschah etwas, etwas für ihn Unfaßbares, ein für ihn noch nie Dagewesenes. Die Händchen vor ihm trennten sich nicht auf sein wiederholtes, ungestümes Verlangen, schlangen sich im Gegenteil nur noch fester zusammen, und alle Kinder machten bitterernste Gesichter auf ihn. Der rothaarige Greißlertoni stieß sogar mit dem Fuße nach ihm, fauchte wie der alte gelbe Kater beim Kohlenhändler Schwatosch und schrie ihn an  : ›Mit dir spüln ma nimmer. Dei Votta is a Mörder. Laß uns a Ruah  !‹ Hilflos und ohne Verständnis starrte der Franzl seine älteste Freundin, die Linnerl, an und wollte wie schutzsuchend nach ihrem Rock greifen. Sie wich ihm aber aus, wendete ihr Gesichtlein von ihm ab und sagte wie eingelernt in die Luft  : ›Mir derfn alle nimmer mit dir spüln. Heut ham’s dein Vatern ins Landesgricht gführt, weil er a Mörder is.‹ Und sie begann wieder mit lieblicher Stimme den Reigen zu führen und zu singen  : ›Mutter geht ins Waschen mit der großen Taschen.‹ Der Kreis der Kinder drehte sich wieder lustig vor dem kleinen Franzl, der zum erstenmal das beschmutzende, seelenerstickende Leid des Ausgestoßenseins empfand. Eine Welt hatte sich neben seinem Dasein gebildet, die nichts von ihm wissen wollte, seine Berührung als Schimpf ansah und sich des früheren Umganges mit ihm schämte. Und gerade der Verkehr mit den anderen Kindern des Hauses und der Nachbarschaft war bisher sein ganzes Glück und wohl die einzige Freude seines Kinderherzens gewesen. Langsam, wie zu Boden getreten, schlich er in das Haus zurück … Nun dachte sich sein kleines Gehirn angestrengt in die Ereignisse des Tages zurück, versuchte Ordnung zu bringen in die aufregenden Eindrücke. Immer wieder umkreisten seine kindlichen Gedanken das Bild der Verhaftung seines Vaters, das plötzlich seine bisherige Harmlosigkeit verloren hatte. Die Kinder draußen im Garten hatten seinen Vater einen Mörder genannt … Warum hatte er das getan, warum  ? Der kleine Franzl wollte das wissen und zu der Mutter gehen, um sie darum zu fragen. Er drängte die zutrau-

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liche Katze von sich weg, stand auf und ging in die Wohnung, von der ihn nur einige Schrittchen trennten. In der Küche war es dunkel und ruhig, mehr noch als draußen auf der Kellerstiege. Geschirr stand umher, unabgewaschen, mit Speiseresten, die sauer rochen. Im Herde war kein Feuer  ; das kam dem Kleinen sonderbar vor, da die Mutter sonst immer um diese Zeit den Nachmittagskaffee vorbereitete. Er schlich sich zur Türe, die in die Werkstätte führte. Auch dort waren Fliegen, Spinnen und ein ruppiger Stieglitz nebst einigen auf den Holzspänen herumtanzenden Sonnenstrahlen die einzigen Anwesenden. Von der Mutter aber war auch hier keine Spur. Doch aus dem einzigen guten Zimmer, das Wohn- und Schlafstube zugleich und von der Werkstätte durch eine Tapetentüre zu betreten war, hörte nun Franzl ein stöhnendes Schnarchen dringen. Das war die Mutter  ! … Nun lag sie wieder einmal angekleidet auf dem Bett. Die aufgelösten Haare hingen ihr unordentlich ins Gesicht und bewegten sich unheimlich bei jedem Atemstoß. Franzl hockte sich auf den abgenützten Bettvorleger hin, unschlüssig darüber, was er tun sollte. Das gräßliche Schnarchen der Mutter zersägte ihm schmerzhaft das Gehirn. Grausige Untiere aus Märchen, die man ihm erzählt hatte, erstanden in der Einsamkeit. Allmählich umklammerte Furcht das kleine Herz. Das fahle Licht zerfiel in abendliche Dämmerung. Wohl war außerhalb des Hauses noch helle Sonne, aber draußen auf dem Hof und in der Gasse waren auch der Hohn, das böse Wort und die Verachtung. So blieb er zitternd auf dem Fußboden sitzen, getraute sich nicht einmal leise zu weinen, fror trotz der Wärme in unerhörte Angst hinein und dörrte doch wieder im Fieber des Schreckens, indes die verschluckten Tränen ihm die Kehle wundätzten. Durst fing ihn zu peinigen an. Sein Blick suchte die Stube nach Wasser ab. Hier war keines vorhanden, und er getraute sich nicht, das Zimmer zu verlassen, um sich in der Küche, die wie ein dunkles Loch am Ende der Werkstätte hereindrohte, Wasser zu holen. Doch da – neben ihm auf dem Stuhl stand eine weitbauchige Flasche, offen und bis zur Hälfte gefüllt. Mit dem rechten Händchen konnte Franzl sie erreichen. Er faßte sie behutsam und zog sie an sich. Aber vielleicht enthielt sie nur Petroleum, Essig oder Spiritus zum Ansetzen von Politur

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für den Vater. Diese Flüssigkeiten kannte er zur Genüge, da er sie oft vom Kaufmann holen mußte. Mißtrauisch führte er die Flaschenöffnung an die Nase und roch … Oh, das zog süß und überaus angenehm, stark und belebend aus dem Flaschenhals in seine Geruchsnerven. Wohl erinnerte ihn der Duft des geheimnisvollen Getränkes an den Geruch, den Vater und Mutter immer ausströmten, wenn beide den seltsamen Zustand hatten, in dem sie sich so sonderbar benahmen, herumschrien, sich gegenseitig beschimpften und herumrauften oder eine Lustigkeit zeigten, die sich in einem überlauten Lachen und im Brüllen von Liedern äußerte. Aber zugleich stieg es ihm auch so angenehm berauschend in das kleine Gehirn, wischte die letzte Scheu weg, daß er das Mündchen an die Öffnung der Flasche preßte und zu schlürfen begann, durstig und hastig. Bei dem ersten Schluck wollte er furchtbar erschrocken aufschreien. Da kam ja böses Feuer aus der Flasche  ! Wie das schrecklich brannte  ! Doch quetschte seine Kehle, zusammengezogen von dem scharfen Trank, keinen Ton hervor. Und dann, als er schon die Flasche entsetzt fallen lassen wollte und Luft bekam, floß es auf einmal herrlich süß in seiner Mundhöhle zusammen. Ein solch starker Wohlgeschmack, wie er ihn noch nie vorher beim Genuß eines Zuckerwassers gespürt hatte, erfüllte nun seinen Mund, daß er verzückt die Augen schloß. Und frohgemut und gedrängt von dem Durst, der nach dem ersten Schluck eher stärker als schwächer geworden war, klammerte er aufs neue die Lippen um die Flaschenöffnung und sog mit noch immer geschlossenen Augen einen und noch einen Mundvoll aus dem bauchigen Gefäß. Plötzlich hörte er das Bett hinter sich in allen Fugen knarren und ächzen, fühlte ein feuchtes Prusten, ein gurgelndes Atmen über sich hinströmen, und gleich darauf riß ihn eine fette, quatschige Hand an der Schulter zum Bett herum. Zu Tode erschrocken blickte Franzl auf. Da sah er in das rotbekleckste, aufgetriebene Gesicht der Mutter, das unsinnige Wut und ernüchternde Verstörtheit zu einer greulichen Fratze verzerrte. So furchtbar aussehend hatte der Franzl die Mutter noch nie erblickt. Starre lief durch sein Körperchen. Die Flasche klatschte aus seinen vom Schrecken aufgesprengten Fingerchen auf den Boden, brach dort in Trümmer, aus denen es feuchtwolkig, betäubend aufstieg.

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Das Zimmer schwoll an von dem Schreien des Weibes, und Schläge fielen auf das Kind nieder, hageldicht auf Kopf, Gesicht, Rücken und Brust. ›Du verfluachts Saubratl, elendiger Mistkäfer   ! Wer hat denn dir g’haßen, mein Danziger mit Rum ausz’saufen  ? Du Bruat von da Mist­ gstättn, ha, sag’s, wer da dös eingebn hat  ! Du bist ma ja a rechts Früachtl. Grotst scho zeitig dein Vatern, den Saumagn, nach. Aber i wer die scho drischakn, daß da solche Spieletln vageh laßt, du Lauser du. Da hast ane und no ane, Hundling, schäbiger  !‹ So sausten Hiebe und Schimpfworte auf den Franzl herab, der nur ein stumpfes Wimmern halblaut von sich gab. Die Schläge wurden noch ärger, als Frau Stadler, mit einem schwerfälligen Ruck sich aus den zerwühlten Betten wälzend, die Scherben auf dem Fußboden bemerkte. Da geriet sie in ein Delirium der Wut und wollte sich mit ihrem ganzen Körper auf den Franzl werfen. Doch mochte ihr der sinnlose Zorn die Augen blenden, oder war in der aufrechten Haltung, die sie jetzt einnahm, ein starker Schwindel über sie gekommen  ; denn plötzlich hieb sie mit beiden Händen in eine andere Richtung hin und drehte sich ungeschickt um sich selbst. Auch glaubte sie wohl in dem Halbrausch, der sie noch immer umfing, plötzlich ihren Mann vor sich zu haben, verfolgte dessen vermeintliche Erscheinung mit lallendem Toben und torkelndem Schritt, bis sie sich an einem hervorspringenden Mauerpfeiler den Kopf beulig stieß und nun erschöpft und etwas ernüchtert auf einen Sessel fallen ließ … Franzls Vater hatte seiner Trunkenheit wegen einen argen Streit mit dem Besitzer des Hauses gehabt, in dem der Kleine geboren worden war und seine ersten sechs Kinderjahre verbrachte, und das Ende vom Liede war, daß er ausziehen mußte. Nun wohnten sie in einem turmhohen Zinshaus, das sechzig Fenster und beinahe ebenso viele Parteien hatte. Von außen sah es ganz stattlich aus  ; über den Fenstern des ersten Stockes waren sogar Engelsköpfe und Blumengirlanden in Stuckarbeit angebracht. Aber im Innern schienen Holz und Mauerwerk das bitterste Elend auszueitern. Die Wände grauschwarz, der Bewurf teilweise abgefallen, die Stufen ausgebrochen, das Stiegengeländer vom Rost angefressen, von Feuchtigkeit auseinander-

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schwellende Tür- und Fensterstöcke. Im ganzen Hause herrschte stets ein abscheulicher Gestank, da die Abortanlagen mangelhaft angelegt waren. Die Wohnung des Drechslermeisters bestand aus einem Zimmer und einer stockdunklen Küche. In dieser standen zwei Betten, die an zwei Arbeiter vermietet waren. Die Mutter kochte ihnen den Frühstückskaffee, wusch für sie die Wäsche und kochte ihnen manchmal ein Nachtmahl. Alles um wenig Geld. In dem zweifenstrigen Zimmer schlief die kleine Familie, und dort stand vor einem engbrüstigen Fenster des Vaters schmale Holzdrehbank – die große Drehbank aus Eisen hatte er wegen Arbeitsmangels, wie er zu sagen pflegte, verkauft. Der wahre Grund war aber der, daß er einmal für die Befriedigung seiner Trunkenheit kein Geld hatte und im halben Rausche seinen Meisterstolz, diese große Egalisierdrehbank, für wenige Kronen an den Branntweinschenker verkaufte. Jetzt verdiente er überhaupt nur mehr hie und da etwas Geld, wenn ihm ein anderer Drechslermeister aus Mitleid ein paar einfache Stücke in Arbeit gab. Die großen Lieferanten vertrauten dem ewig betrunkenen Mann kein Material mehr an. Das Geld, das so hereinkam, war aber im Haushalt kaum mitzuzählen, da es der Drechsler meistens gar nicht nach Hause brachte, sondern gleich in irgendeiner Kneipe oft bis auf den letzten Heller vertrank. Im Gegensatz zu ihrer früheren Wohnstätte lebten sie in dem riesigen Zinshaus unter vielen, vielen Menschen. Und beinahe Körper an Körper, denn die papierdünnen Wände ließen jedes lauter gesprochene Wort in der Nachbarwohnung durchhören. Am Tage ging es noch an  ; da saugten die Geräusche vielfältigster Tätigkeit alles andere auf. Doch des Nachts war es, als schöben sich die Stubenwände auseinander, die Töne des Dunkels, das Ächzen, Murmeln, Stöhnen, verhaltene Keuchen und tiefzügige Atmen, wurden deutlich vernehmbar, und man glaubte Leib an Leib zu liegen in der schamlosen, mageren Nacktheit der Armut. Da zogen aus fremden Herzen Qualen, Sorgen, böse Geheimnisse zu den eigenen Bedrückungen ein  ; alle Laster, die Tür an Tür lebten, verbanden sich  ; die Nöte dieser hundert Menschen verteilten sich in alle

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Stuben und verwandelten sich in einen scharfen Giftgeruch, der in allen Kammern dieses Hauses in eine dumpfe, drückende Angst überging  : den Schlaf der Armen …«159

Wie extrem arm und vom Schicksal benachteiligt manche Menschen waren, erfahren wir aus der Erzählung »Nachbarn«  : »Neben meiner Kammer, die wenigstens ein Fenster hatte, das auf einen Lichthofschacht hinausging, war eine Art Zelle, die nur mit einer Tür atmete. In ihrem ewigen Zwielicht hauste eine Frau mit einem sieben- oder achtjährigen Mädchen. Ich traf die beiden des öfteren auf der Stiege. Beim dritten- oder viertenmal grüßten wir uns. Das Weib war eckig, hochgewachsen und zeigte unter ihrer Elendsmaske Spuren ehemaliger Schönheit. Das Kind hatte seltsam starre Augen, es war blind. Doch machte mein scharfer Blick die sonderbare Entdeckung, daß eigentlich das blinde Mädchen den Schritt der Mutter lenkte. Das weckte stark meine Neugier, und ich erfaßte die nächstbeste Gelegenheit, die sich mir bot, um mit den beiden näher bekannt zu werden. Eines Abends kletterte ich, von der Arbeit heimkommend, die drei vom harten Frost des Jännertages vereisten Treppen des Zinshauses hinauf. Die einzige offene Gasflamme, die auf dem Gange nur notdürftig das Elend und Vergrolltsein ringsum beflackerte, ließ große Treppenteile im Dunkel liegen, und die Füße traten nur ängstlich auf. Beinahe schon den obersten Gang erreicht, hörte ich plötzlich hinter mir den harschenden Laut ausgleitender Schuhe und darauffolgend einen Schreckens- und Fluchruf, dem leises Wimmern nachklang. Dieses vor allem riß mich von der Treppenmündung zurück. So schnell es ging, hoppelte ich die Stiegen hinunter und stieß in der Mitte der zweiten Treppe auf einen Klumpen, der sich regte und aus dem das Wimmern stieg. Zu ihm mich beugend, erkannte ich das blinde Kind, das hier ausgeglitten und sich verletzt haben mußte. Als ich es bei den Achseln aufheben wollte, richtete es sich selbst auf, atmete hastig und stöhnte ›Mutter  !‹ Da suchte diese mein geweckter Blick und fand sie in der Gittereinbuchtung 159 Ein Bruder so wie du, a. a. O., S. 173 ff. u. 192 f.

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der Stiegenwand starr, schwarz in dem dämmerfahlen Gelb kleben, wie einen toten Schatten. Ich rief sie an  : ›He, he, Frau, kommen S’ her, Ihnaren Bauxerl is net viel gschegn. Vielleicht a bissl’s Haxerl vastaucht.‹ Stelzenhaft trat sie zu uns. Stumm, einer Maschine gleich, mit steifem Gelenk versuchte sie das Kind in die Arme zu nehmen. Sie mußte unrichtig zugepackt haben, denn die Kleine schrie schmerzlich auf, faßte aber doch zugleich die Mutter beim Rocksaum und begann die Treppe hinaufzukriechen, blieb aber bald wieder auf einem Absatz hocken, schien ein Jammern zu unterdrücken und gab nur ein Wort frei. Voll Sorge und Not fiel es von ihren Lippen ›Mutter  !‹ Wie teilnahmslos war diese vor dem wieder zusammengesunkenen Kind stehen geblieben. Nur mit langen, mageren Fingern zitterte sie sich wie ratlos über das Gesicht, das ein zerfetzter Spitzenschal einhüllte. Nun war mir die Sache zu dumm. Entweder war das Weib so gefühlsroh, oder so furchtbar ungeschickt, oder gar ihrer Sinne nicht mächtig. Auf alle Fälle mußte ich da helfend eingreifen. So schob ich die Frau auf die Seite, hob die Kleine wie einen Juteballen in meiner Fabrikswerkstätte trotz ihres erschreckten Sträubens auf und trug sie bis an die Tür der Kammer, die beide, Mutter und Kind, bewohnten. Während ich meine kleine Menschenlast auf der Brüstung des Gangfensters behutsam absetzte, trat auch die Mutter in den zuckenden Lichtkegel der Gasflamme, näherte sich uns und ließ sich von der Kleinen einen Schlüssel aus der Manteltasche nehmen. ›Bitt schön, aufsperrn‹, hauchte das Kind und reichte mir den Schlüssel. Ich lehnte es an den Fensterrahmen und schloß die Tür der Stube auf. Beim Schein der Ganglampe sah ich auf einem niederen Wäschekasten einen Leuchter mit Kerze stehen, zündete diese an und schleppte das Kind herein, das ich behutsam auf ein schmales Bett niederließ, da ich in der winzig kleinen Kammer keine Sitz- oder Liegegelegenheit entdecken konnte. Was ich rasch überblickte, war das Bild größter Dürftigkeit und Armut. An Dingen, die man Möbel nennen durfte, gab es außer dem brusthohen Kasten und dem Bett nur noch eine Stellage, kaum einen Meter hoch und breit, und ein Schemelchen, auf dem eine ruppige, gelbrote Katze saß, die uralt sein mußte … … An dem Morgen, der diesem Abend folgte, stand ich

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aber noch früher auf, um nach meiner kleinen Patientin sehen zu können. Als ich bei ihr eintrat, fand ich Mutter und Kind schon munter, ja letzteres zu meiner Überraschung außerhalb des Bettes mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigt. Ich wollte der Kleinen Vorwürfe machen, desgleichen der Frau, die noch im Bette lag und gegen die Stubendecke stierte, als mir das Mädchen das Wort abschnitt und hastig herauspreßte  : ›Net schimpfen, lieber Herr, mir geht’s ja schon ganz gut. Der dumme Fuß tut nur mehr ein bissl weh, dös wird a no vergehn. Ich muaß jetzt das Fruahstuck machen, weil d’ Muatta scho an großen Hunger habn wird  !‹ ›Ja, kann denn die Muatta dös net selber kochn  ?‹ fragte ich erstaunt und empört zugleich. ›Na  !‹ klang es zögernd zurück. ›Ja, um Gotts willn, warum denn net  ?‹ Da tastete das blinde Armitschkerl auf mich zu, suchte meinen Kopf, zog ihn zu sich herab und flüsterte mir stockend ins Ohr  : ›Weil s’, weil s’ net recht beinand is im Kopf – weil, weil die Muatta narrisch is.‹ Ich fuhr zurück, starrte die Kleine an, die sich ein paar Tränen aus den toten Augen wischte und zu ihrem Kochtopf zurückhinkte. Die Mutter närrisch, das Kind blind  ! Mein Gott, war denn solch ein Unglück möglich  ? Ich hatte während meines Lebens zwischen den Enterbten, Verachteten, Hungernden, Vertierten, Duldenden und Vergrollten alle möglichen Schattierungen menschlichen Elends zu sehen bekommen, hatte selbst schon des öfteren in der Tragödie der Not eine handelnde Person abgegeben, und war bisher der Meinung gewesen, daß es nichts mehr gäbe, was mich vom Grund auf erschüttern und die inbrünstige Entrüstung und Wut meiner ersten Proletenjahre über diese verfluchte Gesellschaftsordnung wieder wecken könnte. Nun stand ich vor einer Elendstragödie, die alle vorher gesehenen und miterlebten in den Schatten stellte. Ja, war es denn wirklich möglich, daß es so etwas gab  ? Ich fuhr mir über die Augen, grub mir die Fingernägel in den Handballen. Ach, ich lag nicht im Schlafe, grausame Nüchternheit lebte in mir und meine Augen sahen blutige Wahrheit …«160 160 Alfons Petzold, Der Totschläger und andere Geschichten, a. a. O., S. 15 ff.

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In vielen seiner Erzählungen und Geschichten beschreibt Petzold das triste Leben in den Vorstädten Wiens und entwirft so ein Bild der großstädtischen proletarischen Realität. Welch erbärmliches Dasein nicht wenige Menschen damals führen mussten, zeigt folgendes Beispiel aus der Erzählung »Winternächte«  : »Auch durch ein vorhangentblößtes Fenster flutet das himmlische Licht und bestrahlt das Innere einer armseligen Zinshausstube, in der an Hausrat nichts zu finden ist, als ein schmales Weichholzbett, auf dessen blankem Strohsack ein soeben gestorbenes Kind von höchstens sechs Jahren seine Glieder in die Ewigkeit streckt. Zu seiner linken Seite kniet die Mutter, die, umhüllt vom Mantel des Schmerzes, nicht die zornige Kälte dieser Nacht spürt. Wie eine segnende, tröstende Lichthand liegt ein Strahlenband des Mondes auf dem gebeugten Scheitel des Weibes, das jetzt sein Golgotha erlebt. Im wüsten Dunkel schrecklichen Verlassenseins, in einer Spitalecke, umgeben von Verratenen und Verworfenen des Lebens, war ihr dies Kind geboren worden. Dessen Vater hatte schon vor Wochen das sich von ihm Mutter fühlende Mädchen von seinem Schicksal abgeschüttelt, so wie man ein Lästiges abtut, und war eines Tages verschwunden, um nicht wiederzukommen. Als die junge Mutter, halb blind vor Jammer, versunken in der Trostlosigkeit ihres Daseins, das Neugeborene in den Händen hielt, da war sie auf einmal wieder sonnensehend geworden und fühlte eine große Stärke in sich aufkeimen. Aus dem ersten Schrei ihres Kindes hörte sie den Ruf des Lebens und aus seinen Augen glänzte ihr der Widerschein der Sonne. Ins Findelhaus  ? – Zu fremden, hartherzigen Leuten, weit weg von der Mutter  ? Nein, nein  ! Das Geschenk einer heiligen Stunde, die süße, liebliche Bürde ihrer jungen Hände, dies köstliche, winzige Wesen aus zartem Rosafleisch mit dem blutroten Mündchen sollte nie Brot aus einer fremden, mißgünstigen Hand nehmen und fremden Haß und Sorgenteil in sein kleines

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Herz pflanzen müssen. Sie selbst wollte es aufziehen, für sich erziehen zu einem Menschen, der brav und treu sein Dasein lebt und die arge Schuld des Vaters in Segen umwandelt. Bald ging sie mit tiefen, schmerzlichen Nadelgruben in den überfleißigen Fingern und eingeknickter Brust auf der staubigen Straße der Jahre dahin, neben sich die schöne Blüte ihrer Jugend, ihr Kind, das bei jedem Schritt fröhlicher und menschenreifer wurde. Und nun das  ! Vor ein paar Tagen war es noch tagselig mit anderen Kindern die hohen Treppen des Hauses auf und ab gesprungen, hatte sich schnell eine Schnitte Brot von der an die Nähmaschine gebannten Mutter geben lassen und war wieder fort gewesen. Husch, husch wie der Wind hinab in den Keller zu den Kaninchen des kleinen Schuster-Alois oder hinauf auf die Straße, wo es Schneemänner und Schlittenfahrt gab. Erst vorgestern abends war es mit Fieber und bösen Halsschmerzen heimgekommen. Schnell ins Bett und den Armenarzt geholt. Der hatte ein sehr ernstes Gesicht gemacht und gebrummt  : ›Diphtheritis.‹ Und nichts, nichts mehr konnte helfen. Vor einer Stunde war der Tod gekommen … Nun liegt die Mutter vor ihrer toten Jugend und spürt ihr Herz einfrieren in dieser furchtbaren Einsamkeit, indes ihr Leib eine einzige brennende Träne ist.«161

Von unglaublichen Schicksalen zwischen Verzweiflung, Angst, Lebensmut und Hoffnung berichtet Petzold u. a. in der Erzählung »Die polnische Jüdin«  : »In irgendeinem Winkel einer Stadt in Galizien lebt sie mit ihrem Mann und fünf Kindern. Der Mann und zwei der ältesten Kinder sind als Hilfsarbeiter in einer Petroleumgrube beschäftigt, was diese verdienen, reicht gerade für Maisbrot, Kartoffeln und den täglichen Hering. Für das feuchte Loch, das sie im Judenviertel bewohnen, muß die Frau das zerfallene Haus reinhalten und dem Hausbesitzer, einem Trödler, die Magd abgeben. Die 161 Ebd., S. 98 ff.

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drei kleinen Kinder streichen tagsüber, die Obhut der schwerarbeitenden Mutter entbehrend, durch die Gassen. Eines Tages wird das jüngste, ein drei Jahre altes Mädchen, der Liebling der Familie, von einem tollen Hund gebissen. Was kümmert es die Behörde, daß ein armes Judenweib halb irrsinnig wird, weil man ihr sein Kind nimmt  ? Das Gesetz befiehlt  : ins Pasteur-Institut nach Wien. Woche um Woche verrinnt, es kommt keine Nachricht, wie es dem Kinde geht, alle brieflichen Anfragen sind vergebens. Die große Stadt, die das Kind verschlungen, bleibt stumm auf die Rufe einer angstvoll harrenden Mutterseele. Irgend ein Kanzlist dort denkt sich  : Ach was, ein Judenweib. Da setzt sich in der Mutter ein Gedanke fest  : Sie muß nach Wien zu ihrem Kind, und sie sagt es ihrem Mann. Der lacht trübe auf  : ›Eine arme Jüdin und Wien  ! Warum willst nicht gleich nach Paris  ?‹ Sie aber läßt nicht mehr los, verkauft ihr Federbett dem Trödler, spart sich vom Mund den Bissen Brot, sie weiß die Ihrigen so zu begeistern für ihren Plan, daß diese beschließen, keinen Hering mehr täglich zu essen, man streicht an dem zuletzt gekauften zu jeder Mahlzeit das Brot und die Kartoffeln hin und her, so hat man eine ganze Woche den Geschmack von Hering im Mund, ohne einen zu essen, das kann man sich merken  ! Endlich ist so viel Geld zusammengerafft, als für die Eisenbahnkarte nach Brünn notwendig ist, den Rest des Weges geht die Mutter zu Fuß …«162

Benachteiligte und Ausgestoßene in der Gesellschaft sind sehr oft die Hauptpersonen in Petzolds Erzählungen. Deren trauriges Schicksal und widrige Lebensumstände stellt er eingehend dar. Die Erzählung »Ar­ mitsch­kerl« über das kurze, tragische Leben einer jungen Frau berührt von Anfang an  : »Im ganzen Reich des übervölkerten Zinshauses hieß die bucklige Blumenarbeiterin vom dritten Stock nur das ›Armitschkerl‹.

162 Alfons Petzold, Sil, der Wanderer. Erzählungen, Konstanz 1916, S. 20 f.

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Und die scharfmäulige Hausmeisterin, die sonst über jeden Bewohner etwas Anrüchiges zu sagen hatte, verschluckte die Bosheit, die auf ihrer Zunge lag, wenn die Rede auf das verwachsene Mädchen kam, und verkündete immer nur das Beste vom ›Herrgott sein Fuaßbankerl‹. Dieses duldsame Mitleid hatte das höckerige Mädel nicht nur seiner armen Körperbildung zu verdanken. Sein Gesicht war daran zur Hälfte schuld. Gestützt von alabasterfarbenen, edelgeformten Wangen, die in ein demutschönes Kinn endigten, verbleichte eine hellschimmernde, feine Stirne in ein Gesträhle dunkelbrauner Haare. Die Augen glänzten blauen Sternen einer Winternacht gleich und sprachen die lautlose, königliche Sprache eines harmonischen Lebens, dem nur eines fehlte  : Liebe. Das Armitschkerl hatte seine Eltern nie gekannt. Irgendwo von zwei glühenden, unvernünftigen Menschen gezeugt, geboren von einem verzweifelten jungen Weibe in einer dunklen Nische der Welt, von einem Weibe, dem die furchtbare Stunde der Ernüchterung das Mutterherz gestohlen, so daß es sein Neugeborenes allein am Wege liegen ließ, wurde dieses Kind von blutfremden Taglöhnersleuten als Pflegling angenommen und aufgezogen. Die Pflegeeltern hatten wenig gute Worte, aber Schimpf und Hiebe für das Kostkind. Sie nahmen den Erhaltungsbeitrag, den sie für das Kind bekamen, schimpften auf die knauserige Gemeinde und zogen mit vereinten Kräften das Armitschkerl an den Ohren in das Leben hinein. Das verwachsene Kind wuchs in seiner liebeleeren Armseligkeit zu dem Tische der Arbeit empor, es erlernte das Kunstblumenmachen, unterstützte seine säuferwahnsinnigen Pflegeeltern, bis diese statt Branntwein Erde schluckten, und lebte nun seit einem Jahre mit einer Tabakarbeiterin zusammen im dritten Stock des mächtigen Zinshauses …«163

Die meisten Arbeiterfamilien wohnten damals in schlecht gebauten, überbelegten Häusern. Immer wieder beschreibt Petzold in seinen Erzählungen die desolaten Lebensbedingungen in den Zinskasernen, und 163 Ebd., S. 7 f.

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er bedauert, dass die Proletarier nur wenig Zeit für Bildung, eine geringe Lebenserwartung und kaum Zukunftschancen hatten. In der Novelle »Der Kranke« allerdings sieht er trotz vorherrschender Missstände die Zukunft in einem optimistischen Licht  : »Von meinem Fenster aus kann ich die ganze Front eines modernen Zinshauses überblicken. Es ist vier Stock hoch und, obzwar es erst vor zwei Jahren gebaut wurde, schaut sein Äußeres schon furchtbar vernachlässigt und verwahrlost aus. Das Mauerwerk, dessen Anwurf schon grauschwarz geworden ist, kommt an vielen Stellen zum Vorschein. Die Fensterstöcke verlieren ihre ursprüngliche braune Farbe und schauen wie aus rohem, verwitterten Holz gezimmert aus. Auf dem Gesimse liegt fingerhoch eine Kruste von Straßenstaub. Der Besitzer dieses Hauses ist gewiß einer jener Bauunternehmer, die aus verbrecherischer Profitgier aus dem schlechtesten Material solche Häuser bauen lassen, deren kleine, ungesunde, jeder Hygiene hohnsprechenden Wohnungen sie um einen furchtbar hohen Mietzins vermieten, um das Haus, welches einen hohen Ertrag aufweist, mit großem Nutzen weiter zu verkaufen. Solche Häuser gleichen natürlich ein paar Jahre nach ihrem Erbauen mehr Ruinen als Wohnstätten und sind wahre Zuchtanstalten für mörderische Krankheitsbazillen. Dreißig Fenster von diesem, vor meinen Blicken sich aufbäumenden Hause starren auf mich. Die wenigsten mit einem Vorhang geschmückt, verwehren den Blick in das Innere der Wohnungen, deren notdürftiger Hausrat mir anzeigt, daß nur arme, sehr arme Leute hier wohnen. An einigen Fenstern stehen Drehbänke, hinter denen ich die Gestalten von Perlmutterdrechslern sehe, einer Klasse von Heimarbeitern, deren einst blühende Industrie vollkommen verelendet ist. Aus anderen Wohnungen tönt das einförmige Klopfen von Schusterhämmern zu mir herüber. Kinder sind bald an jedem zweiten und dritten Fenster zu sehen. Sie drücken ihre blassen Gesichterln fest an die Scheiben oder beugen sich aus den offenen Fenstern weit heraus, um ein bißchen Luft und Licht zu erlangen. Auf allen diesen Kindergesichtern liegt das frohe, hoffnungsvolle Lachen des Lebens, mir eine Verbildlichung meines neuen Evangeliums, das da

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von mir fordert  : ›Suche in jedem noch so armen, häßlichen Dinge die Schönheit, die Liebe und die Güte  !‹«164

Wie in jeder größeren Stadt gab es auch im alten Wien Prostitution. Zahlreiche Frauen lebten in Armut, viele verfügten nur über eine geringe Ausbildung und fanden bloß schlecht bezahlte Arbeitsplätze. Um überleben zu können, arbeiteten sie als Gelegenheitsprostituierte, wie zum Beispiel manche Dienstmädchen oder Wäscherinnen. Einige Frauen allerdings verdienten ihr Geld nur durch die Prostitution. In Petzolds Lyrik wie auch in seiner Prosa kommen immer wieder Dirnen vor, die er stets mit einem hohen Maß an Verständnis für die Schwächen und Stärken anderer Menschen auszeichnet. In »Lina Berger« geht es um die Tragik einer jungen Frau, die als letzten Ausweg, um Geld zu verdienen, die Prostitution sah  : »Als die seit Monaten beschäftigungslose Verkäuferin Lina Berger die Not zuhause nicht mehr länger ansehen konnte, ging sie eines Morgens zu der ›Frau‹ in der Leopoldstadt, deren Adresse sie einmal zufällig erfahren hatte. Bei dem Anblicke der mit dichten Tüllstoffvorhängen verkleideten Fenster der ebenerdigen Wohnung der ›Frau‹ ging ihr ein kalter Schauer durch den Leib und es wurde ihr schrecklich bewußt, als sie daran dachte, daß sie nun im Begriffe sei, ihren jungen, reinen Mädchenkörper der Schande preiszugeben. Aber der Gedanke an die hungernde, alte Mutter und die jüngere Schwester ließ sie die Zähne zusammenbeißen und machte sie stark zu diesem Schritte. Die ›Frau‹ war, da Lina schön und erst neunzehn Jahre alt wurde, sehr freundlich mit ihr, fragte sie nach ihren Familienverhältnissen, Gesundheitszustand und früheren Umgang mit Männern aus und bestimmte sie, am Nachmittag desselben Tages noch zu ihr zu kommen, sie werde ihr ein Fenster freimachen und sie in die kleinen Geheimnisse des Geschäftes einweihen. Die leidigen Rennereien zur Polizei, beson164 Alfons Petzold, Von meiner Straße. Novellen aus der Kriegszeit meines Lebens, Warnsdorf/Wien 1917, S. 196 f.

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ders wegen der ›faden‹ Einwilligung des Vormundes werde sie ganz allein besorgen. Sie hatte schon öfters für so ›a liabs Putzerl‹ dergleichen Sachen mit Glück durchgeführt, denn sie habe ein paar ›gute Freunderln‹ dort oben. ›Sö brauchn morgen nur zum Doktor gehen, das andere besorg alles i. Wissen S’, ich sorg für meine Fräul’n, wia a Muatta‹, so sprach die kleine, dicke Frau zur Lina, der sie, listig mit den Augen blinzelnd, die Wangen zum Abschied streichelte. Nach zwei Tagen war Lina im Besitze eines kleinen Buches, dessen erste Seite jedem, der es wissen wollte, bescheinigte, daß sie, Lina Berger, ehemaliger Charakter  : Verkäuferin, im Jahre 1892 zu Wien geboren, dahin zuständig, mit Einwilligung ihres Vormundes unter Nummer 871 in die Liste der unter sittenpolizeilicher Aufsicht stehenden Personen eingetragen sei und sich dem auf Seite 18 bis 22 stehenden Reglement unterzuordnen habe. Auch der erste Gesundheitsbefund des Polizeiarztes war in der dazu bestimmten Rubrik eingetragen. Lina wurde totenbleich, als sie von der ›Einwilligung‹ ihres Vormundes las  ; denn wußte es dieser, so erfuhren es auch bestimmt ihre Angehörigen, für die Mutter wäre dies der Tod. Als sie der ›Frau‹ ihre schreckliche Angst mitteilte, lachte diese nur und kicherte  : ›Was glauben S’, Fräul’n, für was i meine guatn Freunderln bei ›St. Theobald‹ hätt, wann s’ mir net amol bei aner solchn Klanigkeit helfn kunnten. Ihna Herr Vurmund waß ka Bröserl von da ganzn Gschicht und gibt no zehn heilige Eid auf Ihna Jungfernschaft. Hi, hi  !‹ Die erste Zeit fühlte Lina einen entsetzlichen Ekel vor diesen neuen Leuten, vor dem Schmutz dieser Existenz und oft war sie im Begriffe, irgend etwas zu tun, um diesem gemeinen Leben zu entfliehen. Aber ihre Familie lag ihr am Halse und drückte sie fester in diesen Sumpf. Sie biß die Zähne zusammen und ertrug dieses Leben weiter, das ihr, als Monate darüber vergingen, sogar erträglich vorkam. Nur das Verheimlichen ihrer Schande vor der alten Mutter, dieses fortwährende Lügengewebe, das sie um sich spinnen mußte, quälte sie Tag und Nacht und gönnte ihr keine frohe Stunde. Zu Hause hatte sie erzählt, daß sie eine sehr gut bezahlte Stellung in einer von ihrem Wohnorte weit entfernt liegenden Fabrik mit Tag- und Nacht-

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betrieb hätte, wo sie von Zeit zu Zeit Nachtdienst zu machen habe. Damit begründete sie ihr oftmaliges nächtliches Fernbleiben vom Hause. Bei der ›Frau‹ wurde sie in kurzer Zeit das ›Herzbinkerl‹  ; denn da sie jung, sehr hübsch und von peinlicher Sauberkeit war und auch nicht das freche Benehmen der anderen ›Fräul’n‹ zeigte, hatte sie bald einen großen Kundenkreis von ›besseren‹ Herren. Die ›Frau‹ gab ihr das beste ›einträglichste‹ Fenster und lud sie zu den Soireen, welche von Zeit zu Zeit in den oberen Räumlichkeiten des Hauses für die treuesten und kapitalkräftigsten ihrer Kunden veranstaltet wurden und zu denen sonst nur fremde ›Damen‹ Zutritt hatten. Auch dort wurde Lina wegen ihres diskreten, vornehmen Benehmens, das seltsam von dem aufdringlichen Tun der ›anständigen‹ Damen abstach, bald die Attraktion. Lina verdiente viel Geld und konnte, da sie sehr eingeschränkt lebte, immer einiges davon in die Sparkasse tragen. Und sie legte wie ein Geiziger Kreuzer um Kreuzer zusammen und freute sich kindlich über das Anwachsen ihrer Sparkassaeinlage. Ihr ganzes Sinnen und Denken drehte sich nur um eines  : ›wieder ehrlich werden  !‹ Dazu brauchte sie Geld, sogar viel, einige tausend Kronen vielleicht. Mit dieser Summe wollte sie sich irgend ein kleines Geschäft einrichten, von dessen Ertrag sie mit Mutter und Schwester leben konnte. Sie träumte Tag und Nacht von diesem schönen Bilde der Zukunft, in dem sie sich erblickte, wieder rein und ehrlich vor den Menschen stehend …«165

Zu Petzolds Zeiten wurden noch viele Wanderberufe ausgeübt. Scherenschleifer, Kupferschmiede, Glasbläser und andere Handwerker sowie Wandermusiker und Schausteller zogen über Land und durch die Städte und boten ihre Dienste an. Petzold, der den grauen Alltag der Arbeiter, die Schicksale der einfachen Leute in seinen Geschichten und Gedichten wirklichkeitsgetreu beschrieb, erzählte in der schlichten Geschichte »Der Kesselflicker« von dem sehr jungen Slowaken, der in Wien im Regen krank wird und weit entfernt von seiner Familie und seiner Heimat einsam stirbt  : 165 Alfons Petzold, Sil, der Wanderer, a. a. O., S. 31 ff.

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»Seit Stunden regnete es in unendlicher Fülle, so, als hätte der Himmel alle Ströme der Erde aufgesogen und gäbe nun deren Gewässer großmütig den Menschen zurück. Wie ein graues, langsam flutendes Meer lag es über der Stadt. Frantiček Steppan, ein sechzehnjähriger Kesselflicker, hatte schon seinen mit vielen andersfärbigen Zeugflecken besetzten Rock ausgezogen und über die Stücke mit den Blech- und Drahtwaren gebreitet. Doch das Wasser sickert auch durch den Rock und läuft an den kostbaren Pfannen, Sieben, Schöpfkellen und Mausefallen herunter und macht dem bösen Rost freie Bahn. Unterstellen will sich der Junge nicht. Es ist schon spät am Nachmittag, und wegen des Regens hat er heute noch nichts verdient. So zieht er denn auch noch seine mit Schafpelz gefütterte Ärmelweste aus und deckt sie über den Rock. In kürzester Zeit ist er bis auf die Haut naß, was ihm weniger Kummer macht als die Sorge um sein Hab und Gut auf dem Rücken. Unentwegt läuft er durch die menschenleeren Gassen und ruft hie und da mit seiner schrillen Knabenstimme  : ›Heferl, Reindl, Pfanneflicker ise do  !‹ Aber welche Hausfrau läßt bei solchem Wetter einen schmutzigen, durchnäßten Kesselflicker in ihre reine Küche. Wenn die zu Hause in der kleinen Slowakenortschaft des Trenčíner Komitats wüßten, wie sich der schwächliche Frantiček abplagen muß, um die paar Kreuzer für die Schlafstelle im Wiener ›Krowoten-Viertel‹ und die Handvoll Zwiebeln für das tägliche Mahl zu verdienen, sie würden gewiß nicht alle Wochen um Geld schreiben. Was nützt ihm die geweihte Kerze, die seine Mutter an seinem Geburtstage vor dem Gnadenbilde von Maria Elend brennen läßt, wenn er sich nie satt essen kann und bei solchem Wetter herumlaufen muß, wie ein Strolch, ja wie ein richtiger, arbeitsscheuer Vagabund … Einigemal kommt er in die Versuchung, im Torbogen eines der Häuser Schutz zu suchen. Aber hier hat er erst vorgestern nach Arbeit umgefragt, und er muß trachten, in eine von ihm schon längere Zeit nicht besuchte Gegend zu kommen.

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Endlich erreicht er die erste Gasse, wo er beginnen will, seine Fertigkeit im Heilen kranker Töpfe, Kasserollen, Siebe und seine guten Mausefallen und Drahtkörbe anzupreisen. Er tritt in das nächste Haus, verpustet sich, schüttelt das Wasser wie ein Pudel von Hut und Rückenlast und beginnt mit wenig Hoffnung im Herzen von Tür zu Tür sein deutsch-slowakisches Sprüchel herzusagen. ›Heferl, Reindl, Pfanneflicker ise do, gnädige Paní, schöne Nudelsieb und Drahtkastel zum Mausfangen  !‹ Er ist gerade im Begriff, den zweiten Stock zu ersteigen, als ihn ein wütender Anruf von der ersten Stufe wieder herunter reißt. ›Krowotischer Saubinkel, wirst net glei außi gehn aus mein Haus  ! Glaubst, i hab dö Stiagn für di gweißingt  ? Schau nur, daß i dir net mit mein Rüattelbesen Füaß mach. So a Gemeinerei  !‹ Er wagt keine Widerrede, keine Bitte, er kennt die Wiener Hausbesorgerinnen zu gut. Demütig schlürft er wieder in den Regen hinaus. Alle aber können doch nicht so bös sein, einem armen Slowakenjungen nicht vergönnen zu wollen, seinem Verdienst nachzugehen und dabei auch ein wenig ins Trockene zu kommen. Denn draußen gießt es noch immer wie mit Feuereimern herunter. So zwängt er sich mit seiner Weißblechlast gleich durch das enge Ziertor des nächsten Hauses. Doch schon beim Stiegenaufgang hört und sieht er in der halben Dämmerung das elektrische Licht in den Leuchtbirnen aufspringen und in seiner nassen Armseligkeit gehorcht er schweigend dem strengen Befehl eines schwarzbekappten, blaugeschürzten Mannes  : ›Schaun S’, daß S’ ’nauskommen. Hier ist das Hausieren verboten  !‹ Wie kalt und grausam doch menschliche Worte sein können. Gleich den eisigen Regentropfen fallen sie in seine Ohren und rinnen von da bis in sein Herz …«166

166 Alfons Petzold, Der Totschläger und andere Geschichten, a. a. O., S. 89 ff.

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Besonders scharf kritisiert Petzold die pädagogischen Einrichtungen der katholischen Kirche. Er, der selbst äußerst schlechte Erfahrungen in einer Klosterschule machen musste, wusste, dass in klösterlichen Internaten Schläge und andere Bestrafungen nicht selten waren, das Wohl des Kindes nicht im Mittelpunkt stand und christliche Liebe kaum zu finden war. Die Erzählung »Konsequenz«, die unchristliches Verhalten zum Thema hat, geht ans Herz  : »Eine lanzengroße und dürre Nonne mit einem käsigen Gesicht und modergrünen Flecken unter den Augen und an den Schläfen steht unter dem geduldigen Kastanienriesen, hat die Hände wie die Fangkrallen eines Raubtieres, das eine Beute hält, verkrampft und rattert dazu ein Gebet um das andere herunter. Wie Blumen um eine Vogelschrecke trippeln die kleinen Zöglinge des Kindergartens mit den unruhigen Füßchen bachstelzengleich wippend vor der Nonne in den kühlen Kies hinein. Alle blicken angestrengt auf den klappernden Mund des schwarzen Sackes mit der großen weißen Windmühlenflügelhaube, unter der der magere Kopf wie eine Stecknadel verschwindet, und plappern jedes Gebet papageienartig mit. Auf den Platz, wo Kinder und Nonne stehen, werfen der frühlingsbelaubte Baum und das breite Anstaltsgebäude ihren kalten Morgenschatten. Die Kleinen stehen wie junge Störche bald auf dem rechten und bald auf dem linken Fuße, sich mit der nackten Sohlenfläche des hinaufgezogenen Fußes die fröstelnde Wade des stehenden Fußes reibend. Wenn der laue Wind hinter dem Hause hervor durch die betenden Kinder läuft und ihnen von der schönen Wiese, aus der er kommt, erzählt, von der Sonne, die dort so prächtig warm scheint, von den vielen Blumen und den Vöglein, die viel feiner beten können als die liebe Schwester Adelberta, wenden die kleinen Andächtigen furchtsam und doch sehnsuchtslüstern nach Sonne, Käfer und Blumen die ernstblickenden Augen der Seite zu, wo ein Zipfel der Wiese herüberwinkt.

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Und das klappernde hölzerne Gebet hebt sich in solcher Minute wie ein anklingender süßer Gesang aus einer düsteren Kapelle und übertönt das häßliche Geräusch der Nonnenzunge. Sehnsucht nach Sonne und Blühen ist im Vaterunser der kleinen Dorfjugend und macht dieses Gebet zum wahren Lobgesang Gottes. Nur der fünfjährige Weber Karl denkt nicht an die Wunder der nahen Wiese. Die andern Kinder sind schon längst beim fünften Ave Maria und dritten Glaubensbekenntnis angelangt, dieweil er sich noch immer mit einem Vers des Vaterunser abgibt und in einem fort vor sich hin wispelt  : ›Gib uns heute unser tägliches Brot  – gib uns heute unser tägliches Brot – gib uns heute unser tägliches Brot  !‹ Dabei denkt er unausgesetzt an das, was ihm seine Mutter heute früh gesagt hat  : ›Mei Karltschi’, hat sie gesagt, indes ihr die Tränen wie ein Regen herunterrannen, ›wann i heunt nit beim Höfinger Bauern arbeiten derf, ham ma heunt z’ Mittag ka Stück Brot dahoam …‹ ›Gib uns heute unser tägliches Brot  – gib uns heute unser tägliches Brot  !‹ ›Dö Goas gibt a grod jetzten koa Milli, Bua  ! Bua, warum hat denn nur da liabe Herrgott dein Vattern so fruah in’ Himmel ’naufgnumman  !‹ ›Gib uns heute unser tägliches Brot  – gib uns heute unser tägliches Brot  !‹ ›Bet, Bua  ! Bet, doß da Höfinger heunt a Weib braucht auf sein Feld  !‹ Dann hat ihm seine Mutter ein steinhart Stückl Brot in die Taschen gesteckt und in das Kloster gewiesen. Da muß er nun mit den anderen Kindern bis zu Mittag bleiben. Wenn die große Ganguhr läutet, dürfen sie nach Hause gehen, wo derweil schon das Essen hergerichtet ist … ›Gib uns heute unser tägliches Brot  – gib uns heute unser tägliches Brot  !‹

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Die Armut in Petzolds Prosa

Das Essen  ! Bei ihm zu Hause wird es wohl keines geben. Da wird die Mutter, wie es schon einmal war, wieder beim leeren Tisch sitzen und weinen, weil sie keine Arbeit bekommen hat und kein Brot kaufen konnte. Wenn er doch nur wüßte, wohin er gehen könnte, um Brot für seine Mutter und sich zu bekommen. Er möchte hinlaufen und wenn’s dort hinter dem großmächtigen Berge wäre, in dessen Walde der Wolf hausen soll, der das arme Rotkäppchen aufgefressen hat. ›Gib uns heute unser tägliches Brot …‹ Inbrünstig betet der kleine Kerl wohl noch hundertmal diesen einen Absatz des Vaterunser in den Morgen hinein. Denn  : Wenn der liebe Gott so grundgut und mächtig ist, wie es die Klosterschwestern und der Herr Pfarrer immer sagen, dann wird er gewiß ihm und seiner Mutter helfen und Brot schicken. Die Morgenandacht ist zu Ende. Wie befreite Schmetterlinge flattern die Kinder auf die besonnte, blühende Wiese hinaus. Nur der Weber Karl nicht. Der will in die kleine Kapelle gehen, um dort weiter den lieben Gott um das Brot zu bitten. Wie er so auf dem Wege dahin ist, steigt ein kräftiger Brotgeruch in sein schnüffelndes Näschen, er macht halt, reckt sich in die Höhe, so daß seine spähenden Äuglein über das Sims des Fensters, vor dem er steht, gleiten können. Was sie erblicken, macht das Herz des Kindes erbeben. Da liegen in zwei gewaltigen Pfannen, noch leise surrend in dem heißen, sich langsam abkühlenden Fett, eine Menge schön gelbbraun gebackener Brotkuchen. Dem Karl brechen schier die Zehen ab, so spreizt er sich auf ihnen zum Fenster empor, um von dem herrlichen Brotgeruch nur recht viel einatmen zu können. Das ist bald so gut, als hätte man den Kuchen zur Hälfte schon im Magen und die andere Hälfte in der Hand. Freilich, satt wird man nicht

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davon und der Mutter kann man den feinen Geruch auch nicht nach Hause bringen. Ihm fallen wieder die Worte aus dem Vaterunser ein. Leise flüstert er sie vor sich hin  : ›Gib uns unser tägliches Brot  ! Gib uns unser tägliches Brot  !‹ Da zuckt es blitzartig in dem kleinen Gehirn auf  : ›Die Kuchen hier sind für dich und deine Mutter. Der gute, liebe Gott hat dein Gebet erhört, da nimm von dem täglichen Brot und trag davon heim, so viel du kannst  !‹ Und der Spatz über ihm in der Dachrinne, ein Maikäfer, der vorbei­ summt, und der knusperige Kuchen in dem noch immer leise prasselnden Fett gicksen, brummen und zischen ihm zu  : ›Nimm … nimm … nimm  !‹ Jeder Muskel in dem kleinen Bubenkörper spannt sich verlängernd, das rechte braune Händchen greift hastig hinauf und … ein saftiger Kuchen verschwindet von der Blechplatte und gleitet in Karls weite Hosentasche. Dem einen Stück folgt ein zweites, das seinen Platz zwischen Wams und Hemd findet. ›Wird die Mutter eine Freud haben, wenn ich ihr Brot heimbring  !‹ fährt’s frohlockend durch des Kleinen Gehirn, indem er nach dem dritten Kuchen hinauflangt. Da wird er plötzlich von einer kalten, knöchernen Hand gepackt, mit hartem Griff auf die Knie niedergezwungen und eine Stimme, die ihm in den Ohren weh tut wie die kantigen Kiesel den nackten Knien, schreit  : ›Du Mistbub, du gottloser Fratz, du Klosterdieb, so eine Schlechtigkeit, so eine Verdorbenheit, schleicht sich der scheinheilige Kerl im Hause herum und stiehlt  !‹ Es ist die lange, dünne, modergesichtige Nonne, die den Knaben beim Kuchennehmen ertappte und nun ihrer Entrüstung durch alle möglichen Schimpfwörter und Püffe und Schläge auf den Rücken des kleinen Missetäters Luft macht. Der weint nicht, heult nicht, bringt kein Wort der Entschuldigung heraus, sondern erträgt geduldig die Schläge der wütenden Nonne, die Hände an diejenigen Stellen seiner Kleidung gepreßt, die das Brot verbergen.

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Die Armut in Petzolds Prosa

Die Nonne zerrt ihn durch den Gang in eine Ecke des Schulzimmers. ›Da kniest dich her, Bankert  !‹ Sie verschwindet. Der riesige Kopfputz schwankt wie ein weißes Geiertier auf ihrem Stecknadelhaupt. Karl reibt sich den schmerzenden Rücken und streichelt liebkosend über die Brotstücke in seinen Taschen. Vor ihm hängt der gekreuzigte Christus. Der Weber Karl faltet die Hände und betet  : ›Lieber Gott, net wahr, ich hab net gstohlen und eine Sünd getan. Du hast ja selbst gsagt, daß i mir’s Brot nehmen dürft, und wann die böse Schwester wiederkommt, hilfst mir dann, daß s’ ma nix tuat. Gelt  ?‹ Die Tür geht auf und herein tritt die Schwester Adelberta mit den anderen drei Schwestern der Anstalt. Alle vier Nonnen machen Gesichter wie bissige Katzen, sie ziehen den Knaben roh aus der Ecke, eine hält ihm die Hände, damit ihm die zweite die Kuchen wegnehmen kann, denn der Kleine wehrt sich gewaltig und schreit in einem fort  : ›Dös Brot dürfts mir net wegnehmen, der liebe Gott hat m’r’s selber gschenkt. Warts nur, wann er über euch kommt  !‹ Aber der liebe Gott kommt nicht, um ihm gegen die bösen Nonnen beizustehen. Die nehmen ihm alles weg, geben ihm eine Tracht Prügel und jagen ihn aus dem Garten auf die Straße hinaus. ›Daß du ja nicht wiederkommst, du Brotdieb  !‹ Er sitzt auf einem Meilenstein und weint um das schöne Brot, das ihm die schwarzen Nonnen genommen, und auch ein bissel um den lieben Gott, an den er nicht mehr glauben kann.«167

167 Alfons Petzold, Sil, der Wanderer, a. a. O., S. 44 ff.

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Pe t z ol d a l s Ly r i k e r Petzold sah sich selbst als Lyriker. Heute ist seine Prosa, die anschaulich und detailreich das Proletariermilieu schildert, von größerem Interesse als seine Lyrik. Viele seiner Gedichte, vor allem die sozialkritischen, sind nicht mehr aktuell, denn die Missstände, die sie aufzeigen, sind mittlerweile längst behoben. Sie berühren daher nicht mehr so wie zur Zeit ihrer Entstehung. Die Kluft zwischen Arm und Reich allerdings, die in Petzolds Dichtung eine wichtige Rolle spielt, ist auch heute noch nicht überwunden, im Gegenteil, sie wächst weltweit. Ein großer Teil der Gedichte Petzolds ist dem Arbeiterstand gewidmet. Ihr Thema ist das »proletarische Schicksal«. Sie stellen das elende Leben des Arbeiters dar  : des Maurers, des Korbflechters, des Grubenarbeiters, des Fabrikarbeiters, der Tabakarbeiterin, des Laufmädchens, der dienenden Frauen, des Arbeitslosen sowie des Betrunkenen, des Bettlers, des Blinden, des kranken Proletariers, des Aussätzigen, des Missachteten, des Verstoßenen u. a. Und sie geben Einblicke in die Seele des Industriearbeiters und seines Umfelds. Von der Presse wurde Petzold seinerzeit als Arbeiterdichter etikettiert. Für ihn bedeutete es eine Abqualifizierung, denn viele verbanden damit mindere literarisch-künstlerische Qualität. Er litt darunter, hatte er sich doch mit den Jahren aus dem Proletariat sozusagen herausgeschrieben. Als freier Schriftsteller sagte er  : » … ich bin der Nur-Dichter, der … nur singt  !«168 Petzolds soziale Lyrik ist überaus engagiert, sie macht auf die gesellschaftliche Lage der Arbeiter aufmerksam. Ihre Aussagen sind Anklage, die sich gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse richtet, und Bot168 Alfons Petzold, Gesang von Morgen bis Mittag. Eine Auswahl der Gedichte, Wien/ Leipzig 1922, S. 6

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schaft, die den Arbeitern kommende Veränderungen, eine humanere Ordnung verkündet.169 Die erlebte Not empfand Petzold als Auftrag  :170 »Aus den finsteren Löchern des sozialen Unrechtes komme ich hervor. Dort kauerte ich jahrelang und schrieb im Hunger und Dunkel die Klage und den Haß der Armen in zerbrochenen Versen nieder.«171

In Petzolds sozialen Gedichten können wir das Elend des Proletariats nacherleben  : Proletarierkinder Dreißig lichthungrige Fenster, eng aneinander gereiht  ; aus jedem mit hungriger Stimme nach Freude die Armut schreit. An jedem zweiten und dritten Fenster ein blasses Kindergesicht, und jedes hat in den Augen eine klagende Stimme, die spricht  : »Wir sollen die hoffnungsvollen Blüten der Menschheit sein, wir sollen schließen die Kraft und die Schönheit der Zukunft ein. Doch unsere Väter hungern am Werktisch und an der Bank, die Brüste unserer Mütter sind schlaff und krank. Luft suchen unsere Lungen, die Hände frisches Brot. Was wir als Erbe bekommen, ist Siechtum und früher Tod. Und hinter unserer Gasse ist die Welt so reich und weit …« Dreißig lichthungrige Fenster, eng aneinander gereiht  ; aus jedem mit grausiger Stimme die Schande der Großstadt schreit.172

169 Siehe  : Anklage und Botschaft. Die lyrische Aussage der Arbeiter seit 1900. Hg. und eingeleitet von Friedrich G. Kürbisch, Hannover 1969, S. XVII. 170 Ebd., S. XVIII. 171 Alfons Petzold, Gesang von Morgen bis Mittag, a. a. O., S. 5. 172 Alfons Petzold, Trotz alledem  ! Gedichte. Auswahl und Geleitwort von Josef Luitpold, Wien 1910, S. 10.

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Morgen bei der Fabrik Auf dem Pflaster ein Getrabe von vielen, vielen Füßen, ein Stehenbleiben, ein Weitergehn, ein flüchtiges Morgengrüßen. Unter der Mütze, unter dem Hut, schlaftrunken noch manch Gesicht, und jeden Rücken beugt schon halb der Arbeit schweres Gewicht. Junge und Alte, Männer und Frauen gehn durch das Tor der Fabrik, und niemand richtet zur Sonne empor einen frohen Menschenblick.173

Die Teilnahmslosen Da stehen sie und regen schwer die Glieder in den durchdampften Räumen der Fabrik. Ein jeder senkt auf seine Arbeit nieder den noterstarrten, teilnahmslosen Blick. Sie sind nicht Menschen mehr, sind nur Maschinen, die in dem vorgeschriebnen Stundenkreis sich drehen müssen, ohne daß von ihnen nur einer seine Kraft zu schätzen weiß. Sie können nimmer ihre Hände spannen nach ihrer Tage mühevollem Tun um eigne Werke  ; was sie je begannen muß halbvollendet tot im Dunkel ruhn. Sie schaffen abertausend Gegenstände, sie machen viele Dinge stark und groß  ; doch ist nicht Gott im Regen ihrer Hände, und was von ihnen kommt, ist seelenlos.174 173 Ebd., S. 8. 174 Alfons Petzold, Der Ewige und die Stunde, a. a. O., S. 105.

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Das Große Eins muß dir immer gegenwärtig sein, ob du nun hämmerst, Mann, auf Stahl und Stein, ob, Fäustel haltend, du zur Tiefe sinkst, ob du des Feuers helle Kraft bezwingst, ob du die Felder segnest mit der Saat und Länder bindest mit dem Kupferdraht –  : Daß irgendwo ein Bruder steht und schafft ein Gleiches mit der gleichen stummen Kraft, daß irgendwo ein Bruder so wie du strebt sehnsuchtsschwer der Sonnenstunde zu, in der, verbrüdernd eine ganze Welt, er deine Hand in seiner Rechten hält.175 Die Schiffsheizer Sie wissen nichts von dem, was neben ihnen vorgeht im Meere, auf dem nahen Land  ; sie sehen nur das Stürmen der Maschinen, das Kolbenschwingen und den Kesselbrand. Ewig im Licht des Drahtes und der Kohle ist ihnen fremd der sonnentiefste Tag und nur mit ihres Fußes nackter Sohle verspüren sie der Ferne Wellenschlag. Manchmal, wenn feine Herren, schöne Damen neugierig ihrer Hände Tun besehn und seltne Worte, wundersame Namen durch Rauch und Dünste sich wie Sterne drehn, 175 Alfons Petzold, Heimat Welt, a. a. O., S. 59.

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dann kommt es vor, daß mancher von den Stillen und Rußgeschwärzten schwer die Faust bezwingt, daß sie nicht gegen seinen bessern Willen an eine zarte, weiße Kehle springt.176

Der Korbflechter Erst klopfe ich die rauhe Rinde herab vom Weidenstammgezweige, daß sich das fertige Gebinde den Blicken weiß und glänzend zeige. Dann fügt sich unter meinen Händen das gute Holz so wie das schlechte, wenn ich es mit den harten Enden verbinden muß zum Korbgeflechte. Die feinen Ruten, flach gezogen, ich muß sie auseinanderlenken, auf daß sie im gespannten Bogen sich um so inniger verschränken. Und will mir eine Rute streben aus des Geflechtes festen Gängen, so muß ich sie – wie mich das Leben – mit sicherm Griffe niederzwängen.177

176 Alfons Petzold, Der Dornbusch, a. a. O., S. 70. 177 Alfons Petzold, Der Ewige und die Stunde, a. a. O., S. 117.

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Die Hilfsarbeiterin Sie war so schön, so schön wie ein Baum, dessen Blüte frühlingsbegrüßend grünende Äste bedeckt. Manch Auge der Männer auf sie herunterglühte, von stillen Wünschen heimlichen Schauens geweckt. Und sie war froh, ihre jauchzende Stimme schallte wie Vogelgesang durch den großen Raum der Fabrik. Ihre Stirne durchschnitt keine sorgende Falte, nicht in heimlichem Kummer verkroch sich ihr Blick. Und hilfreich war sie, beugte ein anderer Rücken sorgengeschwächt sich müd auf die hastende Hand, sprang sie hinzu und mochte sich hundertmal bücken für die Genossin, die kränklich neben ihr stand. Und einmal war’s  ; sie sah im öligen Nebel vor sich die Genossin in jäher Gefahr, da sprang sie zu und hob den rettenden Hebel und – brachte sich selbst der Maschine als Opfer dar. Von ihrem Haar eine lockige schimmernde Strähne faßte der Riemen – an die Räder gepreßt fraßen sich hundert gierige, eiserne Zähne in den blühenden Leib des helfenden Mädchens fest. Blut schoß empor – die steinernen Fliesen bedeckte fliehendes Leben, die Räder flammten so rot, aus dem Graus der Sekunde, aus dem öligen Nebel reckte siegesgewiß seine ehernen Hände der Tod.178

178 Alfons Petzold, Trotz alledem  !, a. a. O., S. 16 f.

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Der Arbeitslose Staub auf den Schuhen und auf der getretenen Seele, schleicht er den Weg der stummen Vergrollten dahin, springt ihm kein fröhliches Wort aus der trockenen Kehle, Suche nach Arbeit drückt seinen grübelnden Sinn. Seine Tage sind dunkel, die Sonne verhüllen graudampfende Nebel. Er hebt nicht die Blicke empor. Die Klänge der Arbeit, die alle Straßen erfüllen, brausen um ihn wie ein hohnvoll spottender Chor. Wie doch die Stunden in quälendem Hoffen sich dehnen, indes ihn vorwärtspeitscht die hungernde Not. Er klopft an die Türen, dahinter die Hämmer dröhnen, all seine Sinne schreien nach Arbeit und Brot. Alles umsonst. Der Taglauf beugt sich dem Ende. Wiederum nichts. Seine Lippen flüstern es matt. Er schaut mit Haß auf die schwielenbedeckten Hände und schleicht hinaus auf das lehmige Feld vor der Stadt.179

Chor der Frauen Wir sind die Stillen und ewig Gebeugten, die von dem Willen der Armut Gezeugten  ! Aus unseren Händen strömt Reichtum und Fülle, 179 Alfons Petzold, Der Ewige und die Stunde, a. a. O., S. 118.

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aus unseren Lenden schafft Gott seine Hülle. Man nennt uns die Schwestern der Blüten und Bäume – wie läßt du dich lästern, du Traum aller Träume  ! Wir sind die zahllosen vergessenen Tage und unsere Rosen sind Wunden und Plage.180

Wir wollen wie die Kinder sein Wir wollen wie die Kinder sein und suchen mitten im Qualm der Großstadt Beeren, süß und groß. Seht, die Laternen sind breitästige Tannen und Buchen und das granitene Pflaster weiches, schillerndes Moos. Die mächtigen Häuser farnüberwucherte Felsen, über die der Lärm, ein brausender Wildbach, stürzt, in dem die Wellen der Freude den Stein wegwälzen, der uns den Blick in das herrliche Leben kürzt. Wir wollen wie die Kinder sein und schauen und immer nur schauen, wie durch ein wunderlich Tor und aus Kieseln, Sand und Holzstückchen bauen einen Turm bis in die Sonne empor.181

180 Alfons Petzold, Dämmerung der Herzen, a. a. O., S. 17. 181 Alfons Petzold, Der Dornbusch, a. a. O., S. 29.

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Zukunft Einmal werden sich die Tage ändern, leuchtend werden wie ein Baum im Frühling  ; Gott wird stehn an allen Straßenecken und aus jedem Herzen Güte schürfen. In den Häusern werden alle Dinge Wesen sein, die mit beseelter Stimme leise zu dem frohen Menschen sprechen  : Welche Gnade, daß wir leben dürfen  ! Jeder von uns wird durchs Dasein schreiten, angetan mit festlichen Gewändern, unter einem lichtbeglänzten Himmel, den im Dunkel unsere Väter spannten. Alles Seltsame und Wunderbare wird sich unsrer starken Sehnsucht schenken, und wir werden wie die Kinder greifen nach der Weisheit alles Unbekannten.182

Petzold liebte die Erde, die Natur, die Menschen. Sehr deutlich drückte er seine Liebe zur Erde im Prolog zu »Drei Tage« aus und vor allem in seinem Hymnus »Ich singe Lob der Erde« … (…) Doch immer war ein Letztes mir verblieben in der Vergrollten sehnsuchtslosen Schar  : Die Erde, diese Erde mußt ich lieben, wenn sie auch noch so herzlos zu mir war. Und brannten auch wie Feuer meine Wunden, die sie mir schlug – ich fühlte stark und tief, 182 Alfons Petzold, Der heilige Ring. Neue Verse 1912–13. Mit einem Bilde des Dichters, Wien/Leipzig 1914, S. 68.

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daß doch in ihrer Zukunft fernen Stunden Erlösung für mein kleines Schicksal schlief.183 ( …)

Ich singe Lob der Erde Schön ist die Erde  ! Erhebend das Wissen, auf ihrer Fläche zu stehen, und nichts kann erniedrigen das hohe Gefühl meiner Seele, in einem Menschen zu wohnen. Wohl ist gewaltig des Himmels wolkenbefahrenes Meer mit seinen silbernen Inseln, den Sternen, auf denen die Götter der Sage, die Helden der Märchen wohnen, und wundervoll glänzen die goldenen Dächer der Sonne, der Burg Gottes, in der durch diamantene Hallen die Seligen wandeln. Doch stünde ich oben zwischen den Göttern und Geistern, im Ohr der Engel Posaunenmusik und den seraphischen Gesang, getränkt mit den bittersten Erfahrungen aller bisher verstorbenen Brüder und Schwestern, und sähe ich tief unter mir atmen und beben die schweigsam liebenden Wälder, die Horizonte stützenden Ebenen, die Städte, des schäumenden Lebens voll, das wuchtige Strömen der Flüsse, das Donnergewoge der Meere, die Stätten der keuchenden Arbeit, die Berge, Quellen, zuckenden Tiergestalten und mitten darunter den kämpfenden, leidenden, 183 Alfons Petzold, Drei Tage. Eine Schilderung, Warnsdorf 1916, Prolog, S. 2.

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aber doch aufrechten Menschen, ich zerginge vor Sehnsucht im Reiche der Verklärten nach der schönen Lust und Qual meiner Erde.184

In vielen Gedichten Petzolds ist Rilkes Sprach- und Formstil erkennbar, andere wiederum sind der Romantik Eichendorffs und Heines verwandt, aber trotz aller Vorbilder fand Petzold eigene Sprach- und Formweisen. Nicht nur Technik und Industrie oder soziales Elend spielen in seinen Gedichten eine große Rolle. Er schrieb auch Natur- und Liebesgedichte, Lieder und später Oden und Hymnen, große lyrische Gesänge. Einen breiten Raum in seinem Schaffen nimmt die Naturlyrik ein. Und die Natur wird dabei immer in Beziehung zum Menschen oder zu Gott dargestellt. Alle Gedichte sind hochmusikalisch und sehr rhythmisch.

Frühling in Alland Die Schneegelände tauen, dem Tal entsteigt ein herber Duft. Die grünen Fichten schauen voll Sehnsucht in die blaue Luft. Unendlich frohe Güte durchzieht, umwebt ein jedes Sein und hüllt die kranke Blüte in hoffnungsvolle Träume ein.185

184 Alfons Petzold, Gesicht in den Wolken, a. a. O., S. 39 f. 185 Alfons Petzold, Der Ewige und die Stunde, a. a. O., S. 87.

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An einem Abend Der Sonne goldne Glockenhämmer beenden ihren letzten stolzen Reim. Da zieht der Tag und seine Wolkenlämmer die blaue Straße durch den Abenddämmer zur horizontnen Hürde ein. Auf der geschweiften Hügelnase im Astwerk einer Esche sitzt ein Mann  ; der bläst aus einem grünen Riesenglase zur dunklen Höhe eine Seifenblase – ein bleicher Mond steigt himmelan. Das Violette einer Stunde dem satten Schwarz verkohlter Rinde gleicht. Nachtluft hängt kühl an meinem Munde, aus fernem Nachtkonzert der Bauernhunde ein Name hell herüberstreicht.186

Die Abendwolke Selig bist du, o rötlicher Hauch, der du im Abend über den sommernden Himmel schwebst. Du kommst aus dem glühenden Herzen der Sonne und gehst in den kühlen Frieden der Sterne ein. Wenn schon allen die Hand vom Werke fiel, ziehst du noch lächelnd dahin, im Schauen der ruhenden Erde, nimmst aus den Hütten und Häusern der Kinder Gebet und das sehnsüchtig schwärmende Lied der Liebenden auf. 186 Alfons Petzold, Einkehr. Gedichte, Wien/Prag/Leipzig 1920, S. 60.

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Voll dieser köstlichen Fracht schwebst du dahin, von den Rosen der himmlischen Gärten über und über geschmückt, fröhlich erwartet von silbernen Fahnen und Wimpeln im Hafen der Sterne.187

Ein Heimatlied Wien  : wie ein Abendgesang, Wien  : wie ein Magdgefühl, traurig und wehmutbang in der Fremde Gewühl. Berge und Wälder schaun auch in manch andre Stadt, aber nicht eine hat süßere Fraun. Sagt einer  : Wien, zieht’s mich von jedem Ort, möchte ich heimzu fliehn mit diesem Wort. So aber muß ich sein, fern meiner Heimatwelt, Stein, den an fremdem Stein kein Mörtel hält.188

187 Ebd., S. 16. 188 Alfons Petzold, Der stählerne Schrei, a. a. O., S. 4.

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Weltfreude Es steht kein Baum so tief und arm im fremden Laub, als daß er sich nicht hebe zu froher, ferner Sicht. Laß greifen seine Äste in Dunkelheit und Staub, ein Blatt auf seinem Wipfel das tanzt und singt im Licht. O Seele, sei auch du im Wipfelmeer ein Blatt, ein höhenfroher Tänzer, der leicht im Lichte schwingt, fühl, wie dich Raum und Sonne noch stets geborgen hat, wenn auch dein Fuß auf Erden in Schmutz und Dunkel sinkt.189

Zu den schönsten und originellsten Gedichten Petzolds zählen viele seiner Liebesgedichte. Die Begegnung mit Johanna inspirierte ihn zu seinen vollendetsten Versen, die vertraut klingen und entfernt an alte Volkslieder erinnern. Johanna ist auch sein erster großer Lyrikband »Der Ewige und die Stunde« gewidmet. Aus seinem Tagebuch geht hervor  : »Alle Frauen, die mir bis jetzt begegnet sind – mögen sie noch so gütig und liebevoll gewesen sein, waren nur einzelne Akkorde in meinem Lebenslied. Der vollausklingende Satz tönt erst in Johanna in reinster Harmonie.«190

189 Alfons Petzold, Der Ewige und die Stunde, a. a. O., S. 95. 190 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., Tagebuch, 22. Dezember 1910, S. 458.

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»Lichter um mich, Lichter in mir, Liebe in mir. Ich bete  ! Alles, was ich jetzt beginne, ist ein Gebet, das lautet  : Leben  ! Erhalte mir diese Liebe, mache mich ihrer wert  !«191 »So arm, nichtssagend kommen mir die Worte vor, wenn ich von Johanna spreche. Und doch, wer mich und mein vergangenes Leben kennt, der muß es verstehen, was sie für mich bedeutet  ! Das Leben selbst  ! Das mächtige, schaffende Leben, das über Zeit und Raum steht und ewig ist in seiner Fülle von Güte und Liebe.«192

In seiner autobiografischen Kurzdarstellung »Im Spiegel« heißt es später  : »Und als mir das Weib entgegenkam, sang ich berauscht den hohen Psalm des Seins. Überall sah ich Liebe, und die Quelle, aus der diese goldene Flut strömte, nannte ich Gott.«193

Und schon 1909 sagte er über sich selbst  : »Zwei Eigenschaften besitze ich, um die man mich beneiden könnte  ! Ich kann lieben und kann geben  ! Lieben bis zur Selbstvergessenheit, bis zum völligen Aufgehen in dem geliebten Wesen – … «194

Meiner Frau I. Ich bin von einem Lied das erste Wort. Wer kennt den Ton und seinen Schall  ?

191 Ebd., Tagebuch, 24. Dezember 1910, S. 459. 192 Ebd., Tagebuch, 27. Dezember 1910, S. 461. 193 Alfons Petzold, Gesang von Morgen bis Mittag, a. a. O., S. 5. 194 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., Tagebuch, 23. Dezember 1909, S. 445.

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Du singst die ganze Strophe fort und gibst mir guten Widerhall. II. Ich bin ein Baum. Meine Blätter wiegen sich in dem Raum, der weit umspannt die stille Ewigkeit. Du bist die Gärtnerin und pflegst die Erde, daß meinen Blättern Nahrung werde. III. Im Nebel schäumt der wilde Fluß, der Himmel wölbt sich grau im Guß. Im Osten glänzt ein schmales Band – ich greife bang nach deiner Hand. Ein Lächeln spielt um dein Gesicht – der ganze Himmel steht im Licht. IV. Deine Liebe ist ein Becher, gefüllt mit edlem Wein. Ich will der ewig trunkne Zecher sein. Ich trinke alle Nächte, alle Tage und halte einsam fröhliche Gelage. Mein Mundschenk ist die Sehnsucht tief in mir nach dir  !

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V. Dein Leben wölbt sich kühn wie eine Brücke, von meinem Elend zu dem späten Glücke. Mit sichrer Hand hast du den Brückenbogen von einem End zum anderen gezogen. Schau ich vom Port zurück den grausen Pfad, dank ich dir tief, daß du mir bist genaht.195

Aus  : Johanna Leise flutet von mir zu dir inniges Verstehen, müssen wir doch denselben Weg über die Brücke gehen. Über die Brücke, die uns führt durch das Alltagsgewürme, unten branden die Wasser dumpf, oben brausen die Stürme.196 ○ Rosen wollt ich dir flechten, rote ins Haar hinein, daß es Dornen gewesen, kannst du mir das verzeihn  ? O, du willst es, ich höre, wie deine Seele spricht  : 195 Alfons Petzold, Der Ewige und die Stunde, a. a. O., S. VIIf. 196 Alfons Petzold, Johanna, a. a. O., S. 15.

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Irrender Liebster, birg in meinem Schoß dein Gesicht  ! Schließe die Augen, erschließe deines Herzens Schrein, für deine Dornen leg ich eine Rose hinein  !197



Es ist die Welt voll Süße seit du ihr schenktest deinen Tritt, es brachten deine Füße den Traum der Himmel mit. Wo immer du auch weilest, glänzt in der Nacht ein heller Strahl und wessen Raum du teilest, der sitzt bei Gott zu Mahl.198 ○ Das ist das Große meiner kleinen Liebe, daß sie dich gönnt der ganzen Welt, daß meine Seele nicht in dem Getriebe der Brandung Eifersucht zerschellt. Und daß ich fühle, wie dein ganzes Wesen von Liebe zu mir ist durchtränkt, und ich aus allem deinem Tun kann lesen, wie du mir stündlich wirst durch dich geschenkt.199



Des Tages heißer, wilder Streit, des Abends lächelnde Gelassenheit, 197 Ebd., S. 17. 198 Ebd., S. 26 199 Ebd., S. 34.

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sie reichen sich in dir die Hände, was meine Seele und mein Leib erlebt, in dir zu einem Klang zusammenstrebt – du bist der Anfang, bist das Ende des Fadens, den mein Schicksal webt.200 ○ So schön wie du ist die Birke nicht, aber sie hat doch dein Gesicht, wenn sie nachts aus dem Dunkel schaut, ganz von Liebe und Licht betaut. O wäre ich ein Vogel, in ihrem grünen Haar würde ich singen die tausend Jahr  !201

Der zweite Liebesgedichtzyklus Petzolds »Das neue Fest« ist Hedwig zugeeignet. Auch diese Gedichte klingen einfach und klar, nehmen die zeitgenössische Tradition auf und sind doch eigenständig. Aus  : Das neue Fest Sage, daß du mich lieb hast, setz dich zu mir her  ! Lieb, es ist mein Weg so schwer und so gut bei dir die Rast. Will nicht schauen, will nicht denken, all das schafft so arge Pein, will mich ganz in Ruh versenken und nur Schale deines Atems sein.

200 Ebd., S. 36. 201 Ebd., S. 42.

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Lege all dein Tun beiseit, Liebling Gottes, komm  ! Schenk mir in den Becher Zeit einen Tropfen Ewigkeit, daß ich wieder werde wie die liebe Erde, reich an Glauben, still und fromm.202 ○ Ich bin ganz dunkel von Gestalt, wie eine Föhre steh ich da  ; du bist die Sonne über dem Wald und meinem Wipfel nah. Ich schaure, bis zum Wurzelgrund verspür ich deinen heißen Mund – und tausend brennende Sommer umgeben mein tief vom Winter erfaßtes Leben.203 ○ Von dir ist alles ergriffen, mein Kind, in deiner Stimme lebt Wald und Wind, wogt eine Sommerwiese, silbert Schnee, ranken sich Rosen und duftet Klee um eine Kapelle, darinnen steht ein Mensch und flüstert ein Gebet in heißer Inbrunst vor sich hin, das hat ein Wort nur und einen Sinn  : Geliebte  !204 ○ Wenn du heimgehst zu Gott, will auch ich heimgehn, will demütig vor der himmlischen Pforte stehn.

202 Alfons Petzold, Das neue Fest, a. a. O., S. 13. 203 Ebd., S. 15. 204 Ebd., S. 20.

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Will schüchtern anklopfen mit dem Herz in der Hand, um Einlaß bitten in das selige Land  : Ich weiß ja, ich bin voll Sünde und sie so rein, aber ich kann nicht ohne die süße Geliebte sein. Lieber Torwart, sprich ein Wort für mich bei dem Herrn, ich will nur sein der letzte Engel und Stern, sein Schemel, auf den er die göttlichen Füße stellt, ein Staubkorn, das seine Gnade im Himmel hält. Er schenk mir das leiseste Lächeln aus seinem Gesicht, damit ich sie seh alle Tage im ewigen Licht.205 ○ Ein Kind liegt in der Wiege uns beiden zugesellt, viel Wunden und viel Siege erstehen neu der Welt. Die Augen mit den feuchten Blauperlen süß und klar, sie müssen nun schon leuchten im Licht, das unser war. Die Händchen mit den vielen Rundgrübchen noch darin, sie werden einst mit Schwielen verstehn des Lebens Sinn. Die Wunden und die Siege sind wert nicht einen Schlag – 205 Ebd., S. 32.

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Petzold als Lyriker

ein Kind liegt in der Wiege und lächelt in den Tag.206

Fast alle Liebesgedichte Petzolds sind in den beiden Bänden, die seinen Frauen gewidmet sind, enthalten. In seinen vielen anderen Werken sind nur sehr selten Liebesgedichte zu finden. Ein sehr schönes, melancholisches Gedicht ist folgendes  : Volkslied Es rief mich ihr Verlangen  : Komm Liebster, es blüht der Klee  ! Da bin ich zu ihr gegangen drei Winter, durch Arbeit und Schnee. Und als ich mit müden Füßen erschaute ihr Kammerlicht, da mochte ein Weib mich grüßen mit einem alten Gesicht  : O Liebster, was kommt du gefahren zu mir so müde und spät  ? Ich habe in den drei Jahren die fröhliche Jugend vernäht  ! Wir setzten uns beide ganz stille und traurig ans Lampenlicht, ich mit den müden Füßen, sie mit dem alten Gesicht.207

206 Ebd., S. 55. 207 Alfons Petzold, Der Dornbusch, a. a. O., S. 69.

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Petzold als Lyriker

Tief geliebt und verehrt hat Petzold seine Mutter. In »Das rauhe Leben« zeichnete er den Leidensweg dieser Frau nach, aber auch mehrere Gedichte geben Zeugnis dafür, dass er sich zu einer großen Dankesschuld ihr gegenüber verpflichtet fühlte. Die vielen Opfer, die seine Mutter auf sich nahm, um ihm und ihrem kranken Mann in jeder Lage, in jeder Not beizustehen, bewahrte er stets in seinem Herzen  : »In meinen Büchern werden Sie immer und immer wieder das Bild meiner Mutter auferstehen sehen, dieser Frau, deren Leben nichts war als ein fortgesetztes Dulden und die doch nie Klage führte über ihr armes Frauentum, das nur die unendliche Liebe und Treue zu den Ihren verklärte und ihm einen königlichen Glanz verlieh.«208

Über den Tod seiner Mutter berichtete er  : »Sie starb so schwer, wie ihr Leben gewesen, und hatte nicht mehr die Kraft, mir ihr Sterben leicht zu machen  ; sonst hätte sie es getan und mir noch im letzten Augenblick tröstlich zugelächelt  !«209 Meine Mutter Wieviel Tage und Nächte werden noch vergehn, bis ich wieder werde meine Mutter sehn  ? Bis ich wieder höre ihre Stimme lind  : »Hast du heimgefunden so wie ich, mein Kind  ?

208 Alfons Petzold, Aus dem Leben und der Werkstätte eines Werdenden, a. a. O., S. 62. 209 Alfons Petzold, Das rauhe Leben, a. a. O., S. 275.

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Petzold als Lyriker

Schau, mein Bub, ich habe schon dein Bett gemacht, gleich an meiner Seite rechts im Armenschacht. Rück mit deinem Sarge fest an mich heran, daß ich Bub, des öftern nach dir sehen kann.«210 Am Grabe der Mutter Zum Muttergrab war ich hinausgegangen  ; ein Sonntag war’s, noch früh zur Sommerszeit. Die Luft ging mild und küßte meine Wangen, die brannten heiß, vom Tränenstrom befreit. Bei meiner Mutter grünem Erdenzwinger sank ich aufs Knie, und in das kurze Gras grub ich mit wildem Ächzen meine Finger und sprach  : »Sieh, Mutter, voll ist nun das Maß. Nun komme ich, reich mir die lieben Hände, in denen früher ich mein Haupt verbarg, nimm mich zu dir, denn für mein frühes Ende ist ja noch Platz in deinem Arbeitssarg.« Wie ich dies stöhnte, hörte ich ein Klingen  ; ein eisern Kreuz geborsten war entzwei, und aus dem Grab hört ich ein seltsam Dringen, fünf Worte nur  : »Sohn, bleib dem Leben treu  !«211 210 Alfons Petzold, Der Ewige und die Stunde, a. a. O., S. 93. 211 Alfons Petzold, Seltsame Musik, a. a. O., S. 45.

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Petzold als Lyriker

Als Petzold 1914 wie die meisten Dichter der damaligen Zeit vom Kriegstaumel erfasst war, ließ er sich hinreißen, Hymnen an Volk und Vaterland, Sieges- und Schlachtenlieder, wilde Hassgesänge zu schreiben. Petzold, der für sozialen Ausgleich, Frieden und Völkerversöhnung eingetreten und im Grunde ein stets liebender Mensch war, veröffentlichte zur unangenehmen Überraschung vieler kampfansagende Texte. Diese Tatsache hat seinem Ruf schwer geschadet. Es gab Kritiker, die ihn verurteilten. Auch seine Freundschaft zu Josef Luitpold Stern ging fast in die Brüche, denn Stern lehnte jede nationale Kriegslyrik ab. Petzold bedauerte es sehr, nicht den Rat seines Freundes eingeholt zu haben. Und er ließ rasch Gedichte folgen, die ein ganz anderes Bild zeigen. Der weitaus überwiegende Teil der Gedichte Petzolds dieser Zeit ist gezeichnet von Friedenssehnsucht und der Verneinung des Krieges. Er schrieb ein Gedicht nach dem anderen und war stets auf der Suche nach Verlegern. Er musste schreiben, nicht nur um bekannt zu werden, sondern vor allem um das tägliche Brot zu verdienen. Das führte dazu, dass er aus der Fülle seines Schaffens nicht sorgfältig auswählte. Er nahm daher neben schönen und ausdrucksvollen Gedichten auch weniger gute, belanglose in seinen Bänden auf.

Die Erde und der Krieg Erde, birg dein menschlich Angesicht schaudernd in die heilgen Gotteshände, lösch der Sonne und der Sterne Licht – denn es glühn des Krieges wilde Brände. Ganz in rote Dunkelheit versinke alles Land, ob dem der Blutrausch dampft, über das ein rotes Scheusal stampft, in der Hand die blanke Mörderzinke. Erde, panzere dein göttlich Herz, laß es jetzt, nur jetzt, noch weiterschlagen,

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Petzold als Lyriker

laß den heißen Klang vom blauen Erz nicht in seine große Stille tragen. Jeder Ton der Güte ist verklungen und ein ungeheures Wutgeschrei dringt aus allen Wesen, rast vorbei, Haß vergiftet alle unsre Zungen. Erde, beuge deine weise Stirn, daß sie, mit des Himmels Blau verbündet, leuchtend wie ein niebestiegner Firn über allem Schlachtengreuel kündet  : Mitten aus dem fluchumbrausten Sterben hebt sich meiner Felder Erntepracht, Licht muß folgen auf die schwerste Nacht und die Liebe wird den Haß beerben.212 Jeremias 9, 16–17 Wildes Schnauben der Rosse läßt sich vernehmen, vom lauten Gewieher der Hengste zittert das Land, fressende Habsucht fällt über die Erde und läßt sich nicht zähmen, Bäume, Gräser, Gestirne speien blutigen Brand. Weil meine Heimat zerbricht, werde auch ich zerbrochen, gehe ich stöhnend umher, von weißem Grauen erfaßt. Ach, kein Arzt kann uns heilen, ich höre den Tod anpochen, in den Häusern Israels ist er überall Gast. O wäre mein Haupt bedeckt mit glühenden Narben, wär ich voll Tränen und ein wehausschreiendes Tier, daß ich weinen und schreien könnte für alle, die starben, erschlagen, ermordet von fremder, wahnwitziger Gier.213

212 Alfons Petzold, Krieg, a. a. O., S. 11. 213 Alfons Petzold, Dämmerung der Herzen, a. a. O., S. 52.

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Die Kinder im Krieg Wir haben nicht Kleider, noch Schuhe, wir laufen durch Hunger und Frost, ganz leer ist der Großmutter Truhe und Brot eine seltene Kost. Der Vater steht oben in Polen, hebt er seine Flinte, dann kracht’s, die Mutter aber sucht Kohlen und faule Kartoffeln des Nachts. Wir haben kein Öl in der Flasche, der Mond gibt uns manchmal ein Licht, warum brennt nicht im Ofen die Asche, warum hilfst du, Herr Jesu, uns nicht  ? Wir hören im finsteren Zimmer auf der Gasse Soldatenschritt, da weint unsere Mutter wie immer und wir, wir weinen mit.214

Allerseelennacht Unruhig holt die Uhr zum Schlage aus, Licht huscht aus meiner Hand zum Messingleuchter, tanzt auf der Kerze wie ein irrer Geist. Ich spüre Schatten wandern durch das Haus, auf meiner Stirne schauert’s immer feuchter, indes die Angst sich in mein Herz verbeißt. 214 Alfons Petzold, Der stählerne Schrei, a. a. O., S. 74.

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Dies ist die Nacht, in der aus Lehm und Flut die Toten dieses Krieges sich erheben und zu uns wandern  ; nicht die stärkste Wand hemmt ihren Schritt, im Zimmer tropft ihr Blut und ihre Stimmen hör ich um mich beben  : Auch du hobst gegen uns einmal die Hand.215

Über Gräber gesprochen Kein Körnlein Haß, nur viele Hände voll der Liebe, die verzeiht und tief versteht, sei auf der Feinde Gräber ausgestreut darüber hin die Zeit großschrittig geht. Und ein Besinnen über uns hinaus erfülle uns bei jedem Hügelstand  ! Der Haß ist heimatlos, die Liebe hat ein unbegrenztes, schönes Vaterland. Sie blüht aus allem, was uns Leben ist, aus jeder Stunde, jedem harten Tod, unsäglich fromm, unsäglich gut empor, und ist wie Blut und Abendsonne rot.216

Petzold war ein sehr gottverbundener Dichter. Alle seine Werke sind von seinem Gotterlebnis durchdrungen. Von den Kirchen hatte er sich distanziert. Ihre Vertreter, die Priester und Nonnen, wurden von ihm meist negativ-kritisch beurteilt. Allerdings tauchen Christus und Maria immer wieder in seinen Dichtungen auf  ; er schrieb auch einige Marien215 Alfons Petzold, Dämmerung der Herzen, a. a. O., S. 46. 216 Alfons Petzold, Der stählerne Schrei, a. a. O., S. 82.

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und Christuslegenden. Und ganz besonders verehrte er Franz von Assisi. Dieser Heilige war für ihn der »Apostel der sozial Bedrückten« und ein Vorbild der Sozialdemokratie. In seinem Franciscus-Gedichtzyklus stellte er den Heiligen von seinem pantheistischen Standpunkt aus dar. Für Petzold sind alle Dinge beseelt und von Gott erfüllt. Alle Naturerscheinungen nennt er seine Brüder und das Leben ist ein Wandern zu Gott. Gnostische Vorstellungen und mythische Literaturen beeindruckten ihn sehr. In dieser Hinsicht hat er viel mit Rainer Maria Rilke gemeinsam, den er sehr verehrte. Petzold ließ in seinen Franciscus-Zyklus auch folgende Widmung drucken  : »Dem Bruder Franz dieser Zeit Rainer Maria Rilke in getreuer Gefolgschaft«. Während des Weltkriegs änderte sich Petzolds pantheistische Weltanschauung, er konnte an die allumfassende Liebe fast nicht mehr glauben, und er näherte sich einem persönlichen Gott, der straft und rächt, dem Gott des Alten Testaments. Der Dinge Wesen Das Wesen der Dinge, was ist es nur  ? Ein Wandern im Ringe der Gottnatur. Ein Sehnen aus Hülle, aus Raum und Zeit, zur quellenden Fülle der Ewigkeit.217 Gott Ob nun ein jedes Ding von ihm dir kündet, ob du ihn glaubst zu finden nur im Dom –

217 Alfons Petzold, Der Ewige und die Stunde, a. a. O., S. 3.

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Petzold als Lyriker

merke es  : Jedwelche Menschheit mündet in seinem Strom  !218 Aus dem Buch von Gott Aus allen Blumen blüht Gott, mit allen Vögeln singt er, aus allem Haß und Hohn und Spott der Menschen winkt er, wie aus Lied und Blüte in starker, unendlicher Güte.219 ○ Ich hab mit allen Frommen das selige Gefühl gemein  : Ich bin von Gott gekommen und kehre zu ihm ein. Er ist das Meer, das Größe und Kleinheit seinen Tropfen gibt, das Gute wie das Böse wird gleich von ihm geliebt. Was kümmern mich die Gleise, die vor mir laufen durch das Land, das Endziel meiner Reise gebietet seine Hand. Dann ist nur tiefste Ruhe und süße Freude um und um  ; er nimmt mir ab die Schuhe und lächelt stumm.220

218 Ebd., S. 40. 219 Alfons Petzold, Das Buch von Gott, Wien/Prag/Leipzig 1920, S. 42. 220 Ebd., S. 54.

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Gott und der Dichter Alle seligen Herzen und jauchzenden Münder singen voll Ehrfurcht das Lob seiner Herrlichkeit und ich bin ihm nahe, ganz nahe, so als stünd er nicht an dem dämmrigen Rande der fernsten Zeit. Er hält meine Hand in der seinen und wir wandern nachtein, tagaus den engen Pfad meiner Pflicht, indes in demütigem Schauer die andern verbergen vor seinem Glanze ihr Angesicht. Es strahlt seine Wahrheit auf meinem dunkelsten Pfade, es wirkt seine Stärke in all meiner Hände Tun, ich bin sein Werk und ich bin der Sinn seiner Gnade und fühle in mir seine große Ewigkeit ruhn. Andere können von seinen Engeln nur künden, ihn sahen sie nie enthüllt und entblößt vor sich. Ich aber durfte sein tiefstes Wesen ergründen und hörte ihn sprechen  : »Dichter, ich segne dich  !«221 Weltliebe So mußt du lieben, daß die Wesen lechzen nach deines Daseins schüchternem Gesang, daß alles stumm wird, jedes Schrein und Ächzen, bei deiner Stimme leisem Klang. So mußt du lieben, daß die Dinge lauschen, von ihrer toten Starrheit zugedeckt, darunter auf einmal die Adern rauschen, von deinem Atem aufgeweckt. 221 Alfons Petzold, Der heilige Ring, a. a. O., S. 39.

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So mußt du lieben, daß die Sterne steigen zu dir herab, weil du der hellste bist, und zwischen Tag und Nacht ein großes Schweigen vor deiner hohen Menschheit ist.222

Zur rechten Hand Gottes Wir werden einst zur rechten Hand Gottes stehn, sind wir auch Zuchthäusler, Dirnen und Knechte dunkler Begierden, und der unendlich Gerechte wird uns segnen trotz allem bösen Geschehn. Engel, die mit dem Prunke der Himmel bedacht, werden für uns die silbernen Lyren greifen, ihre Gewänder werden die unseren streifen wie der Tag am Morgen die düstere Nacht. Es wird fallen von uns jedes böse Gesicht, alle Härte und Schmach unsrer irdischen Pflichten  ; wir werden nimmer von den Drangsalen berichten, vor denen hier so manche Seele zerbricht. Es wird kein Sinken aus Traum und Stille sein zurück in den Lärm der Händler, Sünden und Kerker, treten wir einmal als heilige Tagewerker in den Raum der letzten Ewigkeit ein. Wir werden einst die rechte Hand Gottes schaun, segnend über unsere Massen erhoben, wir werden unser vergangenes Dasein loben als Diebe, Mörder, Knechte, gefallene Fraun, 222 Alfons Petzold, Der stählerne Schrei, a. a. O., S. 92.

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die einmal unter gewaltigem Zwang sich aufheben mußten aus täglichen Dingen, um mit dem Teufel einsam, verstoßen zu ringen, Brust an Brust ein ganzes Leben lang.223

Das Gesicht Gottes Ewig im Nächtlichen schwebt Gottes Gesicht durch den Raum. Schon der Mann, der im Scheine düster flackernden Urlichts riesige Echsen beschlich, sah es im Nebel aufbleichen und wurde erstarrender Schrei. Inmitten des mordenden Eises Nebels, über den Wassern der Weltflut, umdonnert von wankender Erde, wenn sich voll Grauen der Tag in die Tiefe des Westmeeres stürzte, die Tiere und Menschen, zur Erde geworfen, Schlaf für das irre Gehirn ersehnten, schwebte, wie aus dem Dunst der Leichen zusammengeballt, von Entsetzen umrauscht, von Bitten und Gebeten umflattert, lautlos und furchtbar Gottes Gesicht dahin. Menschen begannen zu rasen gegeneinander, blutige Bäche rieselten über Ebenen, Kadaver hügelten sich auf, 223 Alfons Petzold, Totentanz. Gedichte, Leipzig 1923, S. 20.

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umlagert von ermattetem Kriegsvolk, letzte Sonne erstickte in Rauch und Qualm. Pest ritt auf knöchernem Rosse, entvölkerte Dörfer und Städte, und heulende Hungerwölfe stürzten ihr nach in den Abend, aus dem es sich hob, feuerumzüngelt, blutbeglänzt, hinschwebend vor dem Schiefergewölke der Nacht  : das Gesicht Gottes. Rad greift dröhnend in Rad, über stählerne Walzen schleifen zischend Riemen  ; Männer, auftauchend aus roter Glut, schaufeln keuchend Kohle und Erz. Dampfsirenen posaunen die Stille der Nacht tot, Feuersäulen steigen zum Himmel empor, saugen die Sterne ein, Lärm der Arbeit stürzt über ängstlichen Menschenschlaf. Im ewigen Tag der Hände erzittert die Erde, duckt sich unter hindonnernden Eisenbahnzügen. Wasser, bezwungen von Schleuse und Stauwerk, rauscht seine Klage dem Mond entgegen, der zwischen rauchausstoßenden Essen wie der Kopf eines Gehängten pendelt. In einer dämmrigen Arbeiterstube, starrt, die heißen Augen ans Fenster gedrückt, ein Knabe in die ermordete Nacht hinaus. Schwer nur atmet des Kindes Brust, es bäumt sich krampfig sein Leib, lautlos schreit es und schreit es, denn seine Blicke umfassen ein Antlitz, vom Blut der Wunden beträuft,

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die das Feuer der Hochöfen und Fabriken der armen Dunkelheit schlägt  : das Gesicht Gottes, das, ewig im nächtlichen Raume schwebend, duldet und schweigt.224

Merktafel Immer ist es der Schweigende, der das Wort sät in die Welt. Immer ist es der sich Neigende, der zuletzt als Sieger Einzug hält. Allen laut und hastig Strebenden baut ein tiefes Grab die Zeit, nur den still und einsam Lebenden blüht die hohe Ewigkeit.225

224 Alfons Petzold, Gesicht in den Wolken, a. a. O., S. 7 ff. 225 Alfons Petzold, Heimat Welt, a. a. O., S. 62.

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Pe t z ol ds Be z i e h u ng e n z u K ü ns t l e r pe r sön l ic h k e i t e n se i n e r Z e i t Ein sehr aufrichtiger Freund Petzolds war der Volksbildner, Redakteur, Reformator der Arbeiterbibliotheken, Direktor der Wiener Arbeiterhochschule, Lyriker, Erzähler und Dramatiker Josef Luitpold Stern. Zahlreiche Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Notizen zeugen von der gegenseitigen Wertschätzung der beiden. Zu Petzolds 50. Geburtstag  – den dieser allerdings nicht mehr erlebte – würdigte ihn Josef Luitpold in dem Artikel »Erinnerung an Alfons Petzold« in der »Arbeiter-Zeitung«  : »In vielen Bildern lebt die Gestalt Alfons Petzolds in mir fort  : wie er klein, verwachsen, mühsam keuchend über die Treppen des Volksheims steigt, Student unter Studenten  ; wie wir tiefnachts noch beisammen sitzen und er mir, seltsames Feuer in den blauen Augen, die Geschichten erzählt, die er dann am nächsten Morgen wortwörtlich niederschreibt, die Geschichten von den Roten in der Fabrik, von den Schneeschauflern, vom Fischbraten  ; oder wie er im Saal des Architektenvereines vor Damen und Herren liest und sich zum Schluß erhebt, um Strophen der Verherrlichung Franz Schuhmeiers hymnisch und mit doppeltstarker Wucht zu sprechen und die Herren und Damen erheben sich mit ihm. Aber über alledem das Vorstadtzimmer, ebenerdig, am Richard-Wagner-Platz Nr. 3, Tür 2  : Frau Richetti und ihre Töchter in Heimarbeit an den Nähmaschinen, ein Kanarienvogel singt, und ganz am Fenster und an schmalem Tisch sitzt der kranke Zimmerherr mit der rasselnden Brust, wie aus Wachs, und seine überschlanken Finger blättern fiebrig in Papier. War es vormittags, als er vorzulesen begann  ? Jetzt wird es abend, die Nähmaschinen surren immer noch, der Vogel singt und Petzold liest, leidend, aber begeistert, und ich höre Strophen, die der Weltliteratur verbleiben,

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und ich weiß  : Wien, Österreich hat seinen ersten, großen, sozialistischen Arbeiterdichter. Ich gehe herum – es ist 1908 – und erzähle von Alfons Petzold, von den Dichtungen, die nun in verschwenderischer Fülle und steigender Vollendung mitten in den Martern seines Siechtums und seiner Armut glücken, ich halte Vorträge über ihn  ; Verleger, Schriftsteller, Führer der öffentlichen Meinung mache ich aufmerksam, Emil Reich in Wien, Karl Henckell in München, Ferdinand Avenarius in Dresden, Bruno Wille in Berlin  ; ich schreibe Aufsätze über Petzold und erlebe als junger Mensch, was dem Alternden ewig wieder begegnet  : wie schwer der Wille zur Anerkennung  l e b e n d i g e r Größe zu wecken ist. Als Petzold früh starb, wollten manche und viele als seine Freunde gelten, die es niemals waren. 1907 bis 1914 aber sind die sieben glorreichen Jahre des Aufstieges, der künstlerischen Entfaltung dieser einzigartigen Erscheinung. In diesen Jahren waren er und ich in der Erschaffung der österreichischen sozialistischen Lyrik  e i n Geist.  S e i n e Gedichte,  s e i n e Sprachkraft,  s e i n e Gestalten,  s e i n e Bücher wurden auch m e i n e Sorge. Wir waren Tag um Tag in Fühlung. Eigene Schöpferlust drängte ich zurück. Er war der Baum, ich wollte Gärtner sein. Er die Sonne, ich der Schatten, an dem sie ihr Steigen mißt. Und der Baum wuchs und die Sonne seiner Dichtungen hob sich flammend in die letzten Jahre der Vorkriegswelt. Liebe und Kameradschaft, Armut und Siechtum, Arbeitersehnsucht und Lebensbejahung waren die sechs Strähnen, die zur Zauberwebe Alfons Petzold wurden. Wer seine Werke kennt, kennt nur Bruchstücke eines größeren Kunstwerkes und das war das wirkliche, das stündlich bedrohte Leben dieses Mannes. Als die siebente Strähne zu verweben war, der Krieg, führte falscher Einsatz zu Stockung, Verwirrung, Abbruch der herrlichen Verflechtungen. Auch unsere Kameradschaft zerbrach. Der Gärtner wurde trotzig, der Schatten wurde Zeichen des Abends. Alfons Petzold verlor seine Güte nie  ; er blickte verwundert und verwundet und starb innen und außen. Die sieben glorreichen Jahre aber bleiben. All das Bilder in meinem Herzen. Aber neben mir auf dem Schreibtisch türmen sich  s i c h t b a r e,  l e s b a r e Erinnerungen  : die hundert um hundert Briefe des großen Genossen meiner Jugend. Eine Welt voll

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Schmerzen und Schwermut, voll Bangigkeiten und Erwartungen rührt sich in diesen Stößen vergilbenden Papiers. Petzold war leidenschaftlich und unbeirrbar auch als Briefschreiber. Ich bekam die sieben goldenen Jahre hindurch fast Tag um Tag einen Brief, eine Karte von ihm, nicht selten zweimal täglich. Was steht drinnen in den zehntausend Zeilen  ? Die Sonate dieses denkwürdigen Daseins hat vier Sätze  : Ich bin krank. Ich habe kein Geld. Ich dichte. Ich liebe das Leben. Schreie der Armut  : ›Stehe eine Tagereise von Wien entfernt heute mit fünf Kronen da.‹ – ›Ich bekomme schon zwei Monate kein Krankengeld mehr.‹ In Alland teilt ihm der Direktor die Unheilbarkeit seines Leidens mit. ›Jetzt bin ich nur noch zum Adressenschreiben und zum Dichten zu gebrauchen. Bei dem einen verhungert der Geist, bei dem andern der Körper.‹ – ›Die Ärzte sind für Meran  ; aber ich und Meran  !‹ – Der Arbeiterbildungsverein Ottakring will die Fahrtkosten bestreiten. Er lehnt ab, ›da ich der Meinung bin, daß das Geld für nützlichere Sachen verwendet werden kann.‹ Ein anderes Mal  : ›Leider bin ich gezwungen, das Geld anzunehmen, denn bei mir heißt es  : Vogel friß oder stirb.‹ Bitterkeit schlägt in Ironie um  : ›Bitte, fragen S’ doch einmal bei Rothschild an, ob er nicht mit mir tauschen will.‹ Wer auf Erden hätte mit ihm getauscht  ! ›Liege seit gestern mit Fieber 38, Lungenschmerzen, Husten mit greulichem Auswurf in der einen Ecke im Bett, indes meine arme Frau in der andern Ecke des Lebens Herrlichkeit durchzukosten hat.‹ Reicht er beim Landesfonds um Stundung des Allandbeitrages ein, verliert er seine politischen Rechte. ›Diese Kapitalisten lassen sich viele Zinsen zahlen.‹ Wir bringen ihn nach Bozen. Wie lange fährt der Totkranke  ? 23 Stunden lang im Personenzug. Wie wohnt er  ? Im billigsten Gasthof der Stadt. ›Meine Stube sonnenlos, das Fenster in einen Lichthof, rings von Mauern umzäunt.‹ Und er notiert  : ›Ein Hirn mit Ei Kronen – ’90, ein Gulasch Kronen – ’80.‹ Und ewig  : ›Ich brauche Geld.‹ Heldenberichte des Künstlers mitten in Siechtum. ›Seit einigen Tagen wieder Brust- und Rückenschmerzen. So liege ich die meiste Zeit und kritzle mit Bleistift in Hieroglyphen Reime. Auch der Plan zu einem Drama der Heimarbeiterinnen, deren Leben ich wie meine Tasche kenne, liegt mir im Sinn.‹ – ›Bis 40 Grad, doch sind einige Gedichte entstanden,

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von denen Ihnen eines, Der ewige Wanderer, wohl gefallen wird.‹ In der Kärntnerstraße bricht er in einem Blutsturz zusammen. Kaum wieder bei Besinnung, arbeitet er an seinem Roman ( ›Der feurige Weg‹) weiter. Nach Alland kommt er im Frühling. Dort sieht ›der Knecht der Fabrik in einen herrlichen Garten, in dem jedes Ding Kraft und Stärke, aber auch Güte predigt‹. Kommen Tage der Besserung, hat es ihn ›am Frack‹, dann ist er gern lustig, schickt mir leere Postkarten, oben mit dem Vermerk  : ›Lieber Freund‹, unten  : ›herzlich Ihr J. L. S. Das Übrige hätten Sie auszufüllen.‹ Für sich weiß er tausend Unterschriften  : Spatz, Wolkenreiter und Faulenzer, lyrischer Irokese, alter Tintenmeier, kleines, beschränktes Dichterchen, Sorgenpalesterer. Solche Briefe spickt er aufmerksam mit bissigen und derben Betrachtungen und Späßen. Über die Lyrik scherzt er  : ›Wer mit dem Mensch einmal anbandelt, kann drei Kreuz schlagen.‹ Sieht er ein Fernrohr in der Hand des Wirtes zu St. Magdalenen, so hört er ihn auch schon in die Küche rufen  : ›Jetzt kimmt der Herr Röhritzgruaber, er kriagt an Schweinsbraten, net fett.‹ Oder  : ›Jetzt kimmt der Lehrer Haas auf a Tarockerl. Resi, richt auf an Tapper z’samm.‹ Karl Henckells fünfzigsten Geburtstag beschwört er mich, mit Trommeln, Pauken und Posaunen zu feiern, kann doch das Bürgertum, ›dieses feige, heimtückische Luder, noch immer nicht vergessen, daß Henckell einer von denen war, die es in den angemästeten Arsch zwickten‹. Über alles ragt Alfons Petzolds eigene Güte im Alltag. Seine Stellung zum Weltkrieg entzweit uns, trennt uns künstlerisch und politisch. Ich lehne seine Kriegsgedichte mehrmals öffentlich scharf und unerbittlich ab. Er bleibt mir trotzdem inniger Freund. Ich werde 1915 mit der Marschkolonne an die Front geschickt. Er schreibt indes an meine Mutter  : ›Es ist so schwer, unter Männern sich zu sagen, daß man sich sehr, sehr lieb hat, aber jetzt möchte ich ihm das schreiben mit den treuesten, heißesten Worten und ihm sagen, daß er ganz dicht an meinem Herzen steht, seit jeher, jetzt und für immer  !‹ Glockenhaft aber schlägt sein Herz, wenn er von der Arbeiterbewegung, wenn er von Weg und Ziel des Sozialismus schreibt. Er war ein ganzer Genosse. Sein größtes Glück  : als Genosse und Dichter zugleich gewer-

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tet zu werden. ›Die Jugendlichen, dritter Bezirk, wollen einen Prolog von mir.‹ – ›Die Bezirksorganisation XVI, mit Genossen Sever an der Spitze, plant einen Petzold-Abend.‹  – ›Am 1. Oktober beginnt die Parteischule wieder. Was halten Sie von Ihrem Besuch  ?‹ Aber er hat kein Geld für die Straßenbahn und gehen kann er nicht. Er weiß, was er am 25. Juli 1909 niederschreibt  : ›Der Weg, den ich durch Nacht zum Licht gegangen bin, ist dem Weg vergleichbar, den das österreichische Proletariat gegangen ist.‹ Der Tod rief ihn von diesem Wege ab  ; das österreichische Proletariat geht ihn weiter.«226

Petzolds zweite Frau, Hedwig, schätzte die Freundschaft zwischen Petzold und Luitpold überaus hoch ein, sah sie aber auch mit einem kritischen Blick. Für das Bändchen »Ich bin voll Sehnsucht«, das 1950 erschien und Gedichte Petzolds enthält, traf sie die Auswahl und teilt in ihrer Einführung mit  :  » … Auf dem Wege seines Reifens … hat Petzold eine der reizvollsten und interessantesten Dichterfreundschaften erlebt, die bisher literarhistorisch noch nicht entdeckt worden ist. Im Arbeiterbildungsverein lernte er einen Studenten kennen, den heute noch lebenden Volksbildner und Dichter Josef Luitpold Stern. Der war selbst ein begabter Lyriker, allerdings einer, dessen Antrieb weniger aus einer überquellenden Anlage, weniger aus dem Gefühl kam, als vielmehr aus dem Intellekt. Stern verfügte also gerade über das, was Petzold fehlte und umgekehrt. Darüber hinaus war Stern ein unermüdlicher fanatischer Arbeiter, einer, der nicht nur Inhalte aussagen wollte, sondern auch das Handwerkliche des Schriftstellers beherrschte. Lange ausführliche Aussprachen, schriftliche Hinweise in Briefen versuchten kritisch das Petzoldsche Schaffen zu beeinflussen. Kein Zweifel, daß Petzold in jenen entscheidenden Jahren aus diesem Zusammensein sehr viel gelernt hat. In den nachgelassenen Papieren Petzolds finden sich eine Menge Briefe 226 Josef Luitpold, Erinnerung an Alfons Petzold, in  : Arbeiter-Zeitung, 24. September 1932, S. 7.

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und Karten von Sterns Hand, die von einer brennenden Anteilnahme am Schaffen des Freundes zeugen  : da geht es um Buchstaben, um Worte und ganze Verszeilen, da wird bewiesen und klar gemacht, warum der und jener Vorschlag zu einer Änderung vorgebracht wird. Liest man heute nach mehr als vierzig Jahren solche Zeugnisse eines freundschaftlichen Urteils, so hat man den Eindruck, daß Stern in Petzold so etwas wie ein zweites Selbst liebte, daß er dessen Arbeiten wie einen gemeinsamen und damit eigenen Besitz betrachtete. Es begab sich hier, auf der Ebene der Lyrik, ähnliches wie zehn Jahre später in der Freundschaft Petzolds mit Stefan Zweig auf der Ebene der Prosa. In einem Brief beneidet Zweig das Petzoldsche Fabuliertalent und bricht in den Ruf aus  : ›Wenn ich so viel Wirklichkeitssinn, so viel scharfe Erinnerungen hätte, wie Du, mein Lieber, dann solltest Du sehen  !‹ Diese Freundschaft mit Josef Luitpold Stern wurde später für mehrere Jahre getrübt. Der äußere Anlaß waren Petzolds Kriegsgedichte. Es wird aber wohl im Grunde die Tatsache mitgespielt haben, daß Petzold als zu starke Persönlichkeit sich dem Formwillen des Freundes nicht mehr beugen wollte, trotz guten Willens und schlüssiger Einwände. Petzold war, darin den Reichsdeutschen Lersch und Bröger verwandt, zu Beginn des Weltkrieges mit flammenden Gedichten hervorgetreten. Das wurde ihm von manchen Sozialisten der damaligen Zeit übel vermerkt. Er hat damit allerdings nur von dem Rechte des Dichters Gebrauch gemacht, sich von einer Erschütterung der Welt mitreißen zu lassen, ohne nach ihren gründigen Ursachen zu fragen und ohne ihre zeitnahen politischen Strömungen mitzumachen. Aber auch der Grundton seiner Kriegslyrik ist ein reiner menschlicher Ton, ist das große Hoffen des humanistischen Menschen durch alle Trübnis und allen Kampflärm hindurch  : ›Licht muß folgen auf die schwerste Nacht /  Und die Liebe wird den Haß beerben.‹«227

Eine tiefe Freundschaft verband Alfons Petzold mit dem berühmten Erzähler, Dramatiker, Lyriker und Essayisten Stefan Zweig. Obwohl die 227 Alfons Petzold, Ich bin voll Sehnsucht. Gedichte. Einführung und Auswahl  : Hedwig Petzold, Wien [ 1950 ], S. 12 ff.

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beiden aus grundverschiedenen sozialen Verhältnissen stammten, Petzold aus dem Proletarierelend, Zweig aus dem jüdischen Großbürgertum, hatten sie eines gemeinsam  : Die dichterische Tätigkeit war ihr Lebensinhalt. Petzold wünschte gegen Ende seines Lebens, dass Stefan Zweig in Zusammenarbeit mit Josef Luitpold seinen Nachlass verwalten sollte. Am fünfzigsten Jahrestag der Geburt Petzolds veröffentlichte die »Neue Freie Presse« das Feuilleton »Gedenken an Alfons Petzold« von Stefan Zweig  : » … Alles Licht in diesem Menschen kam aus seinen Augen. Sie waren blau und klar, sie hatten viel Leiden gesehen und waren doch nicht trüb geworden von der Trübe der Welt. Gläubig dankbar sahen sie einem entgegen, und wo sie Freundschaft fühlten oder Vertrauen, wußten sie weich zu werden und begannen zu strahlen von sehr viel Glück. Er war zeitlebens ein Kranker gewesen, er wurde spät und  – wir wissen es heute  – trügerisch gesund, er war viel in Spitälern gelegen, hatte viel gearbeitet in dunklen Stuben, so freute er sich mit seiner ganzen Seele, mit seinem ganzen schmächtigen, niedergedrückten Körper des Lebens und des Lichtes. Immer war es gut, mit ihm zu sein, immer kam er froh einem entgegen und reichte einem die feine, schlanke, etwas heiße Hand ( er hatte immer etwas Fieber) zum Willkomm, und unverweigerlich nach einer halben Stunde, nach einer Stunde Gespräch nahm er einen beiseite und holte aus der Tasche oder vom Schreibtisch her beschriebene Blätter, seine neuesten Gedichte, um sie einem vorzulesen mit seiner leisen, schwingenden Stimme  ; das war sein höchstes Glück. Denn Alfons Petzold lebte in Gedichten und lebte eigentlich durch sie. Jahre und Jahre schrieb er ununterbrochen Verse, immer neue, immer neue. Es waren keine selten gesegneten Augenblicke seines Lebens, die ihn mit Versen überraschten. Dichten war gleichsam Funktion seines Daseins, seines Körpers, so wie sein schwerer, gedrückter Atem, so wie das Blut, das blaß und fiebrig in seinen Adern ging. Er schrieb Gedichte, weil Verse für ihn Rettung waren vor dem Grauen, das er erfahren, und sie waren tatsächlich seine Rettung aus fürchterlicher Finsternis geworden … … In seinem sechzehnten Jahre entdeckt der junge Petzold, daß unter den vier-

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zigtausend Häusern in Wien eines ist, das ihm gehört, er entdeckt sich die Volksbibliothek des Volksbildungsvereines. Für zehn Heller oder zwanzig Heller wöchentlich kann er da Vergessen kaufen, Vergessen in die wunderbare Welt der Bücher und zugleich aus sich selbst die stärkste Waffe schmieden, um die Wirklichkeit sich zu erobern. Bücher sind nun des jungen Laufburschen Waffe und Wall gegen die Welt, Bücher und bald die Vorträge und Kurse des Volksheims, in denen er, abgemüdet vom täglichen Tun, aber doch auch wieder unermüdlich in seiner Anspannung die Fundamente seines Wissens und seines Könnens legt. Und wir können heute ruhig sagen, daß der Volksbildungsverein und das Volksheim Alfons Petzold gerettet und ihn für uns gerettet haben. Denn so wie es in dem Alter eines jungen Mannes oder eines jungen Mädchens einen Augenblick höchster Empfänglichkeit für Liebe gibt, wo die Begegnung, der Zufall das äußerste Wunder an Hingabe und Gefühlskraft erzeugt, so gibt es in dem Leben fast jedes Menschen eine Sekunde, wo die Begegnung mit den Büchern, mit der gesteigerten Welt ihn aufgetan findet. Diese Gelegenheit auch den Ärmsten zu bieten und gerade den Ärmsten, ist ja der wundervolle Wert dieser wohltätigen Anstalten, und hätte der Volksbildungsverein, das Volksheim in all den Jahren, wo sie Tausenden und Zehntausenden Bildung gaben, nichts geschaffen als diesen Alfons Petzold, so wäre damit schon der Beweis seiner Notwendigkeit gegeben. Denn in diesem Hause hat dieser junge Mensch sich entdeckt und gerettet, das Volkbildungsheim war die erste Stufe seines Aufstieges in die obere, in die geistige Welt. Dieser Weg, wir wollen es nicht vergessen, war damals noch schwerer und weiter als er heute ist … und so wurden die ersten Gedichte, die noch ganz ungelenken dieses Proletariers, zu einer wahrhaften Entdeckung, zu einem wahrhaften Ereignis. Der Volksbildungsverein gewährte ihm seine aufopfernde Förderung, Professor Reich und Ferdinand Gregori waren stolz über dieses neue Zeugnis schöpferischer Bildungskraft, die ganze Arbeiterschaft nahm diesen Arbeiterdichter, ›ihren‹ Dichter, als Beweis für die latente Kraft, die in der unterirdischen und gleichsam unentdeckten Schicht des Proletariats verborgen war, und Alfons Petzold hatte Grund, seinen Gedichten dankbar zu sein und sie zu lieben, denn sie retteten ihm

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das Leben. Man las sie vor, man druckte sie, man schuf dem Dichter einen kleinen stillen Lebensraum, um sich besser entfalten zu können. Er konnte sich pflegen, seinen armen, abgemüdeten Körper erneuern und endlich ungehindert seinen geistigen Weg gehen. Rührend und erschütternd nun war, wie dieser feine, gütige und edle Mensch in dieser unverhofften Auferstehung sich bewahrte und entfaltete. Er vergaß seine Kameraden im Dunkel nicht  : in unzähligen Gedichten hat er das Schicksal proletarischer Existenzen und die Tragik ihrer Not erschütternd dargestellt. Aber auch der andere Klang blieb in ihm stark. Denn wie er das Leben anklagte, daß es ungerecht, hart und mörderisch sei gegen Unzählige, so vergaß er auch nicht zu schildern und auszusagen, wie es schließlich gegen ihn doch gütig gewesen war, wie es ihn, der in seiner Kindheit die Grenzen seiner Stadt nie weiter überschritten als bis zum Kahlenberg, die Landschaft entdecken ließ  ; den Himmel und die Freiheit und das Glück eines eigenen, zwar bescheidenen, aber sorglosen Heims. Er liebte alles, was um ihn war, seine Frau, seine Kinder, seinen Garten und die Luft darüber und den Himmel, er liebte seine kleine Bibliothek, die er sich zusammengespart und die er Buch für Buch sorgsam bewahrte ( ich habe nicht vergessen, wie er jedes einzelne immer mit seinen feinen, zarten Händen, als sei es etwas Zerbrechliches, anfaßte und streichelte). Er war gläubig zu allen Menschen und wurde beinahe fromm in diesem steten ehrlichen Dankbarsein, fromm gegen die unbekannte Macht, die ihn – er begriff es selbst nicht, wie und warum  – aus den vielen herausgesucht und herausgehoben in eine so helle, so reine Welt. Und jeden Tag schrieb er seine Strophen, seine Gedichte, manchmal schöne, manchmal nur aus der bloßen Freude des Schreibens entstandene, heraus, denn er hatte ein kleines, kindliches Gefühl des Glückes, wenn es viele waren, und glaubte sich, rührend wie er war, verpflichtet, unablässig und jeden Tag dem unbekannten Gott, der ihm das Wort verliehen, eine Opfergabe darzubringen. Es war schön, mit ihm zu sein, diesem beglückten und dankbaren Menschen, dessen höchste Freude ein selbstgeschaffenes Gedicht oder die freundlichen Worte eines Menschen waren. Vielleicht hätte eine Zeit ihn gekränkt, ihn befremdet, die über politischem und wirtschaftlichem Ge-

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lärm das Gedicht nicht mehr hören will, und eine leise Musik, wie er sie zu schaffen liebte, nicht mehr versteht. Und es ist darum gefährlich zu fragen  : Was ist geblieben und was bleibt von dem Dichter, der er gewesen  ? Denn das ist schwer zu sagen … ein paar von den Gedichten, glaube ich, werden weiter leben bei den wenigen, die für Gedichte noch empfänglich sind, und das Bekenntnisbuch ›Das rauhe Leben‹, das sein Schicksal erzählt, wird Jahre und Jahre noch bestehen als ein Dokument des österreichischen Proletariats, als eine ehrliche, als unbestechliche Schilderung der arbeitenden Welt vor dem Kriege. Und bleiben wird gewiß das vorbildliche Beispiel einer geistigen Willenskraft, die durch innere, stille Zähigkeit alle Hemmnisse überwand, und außerdem allen, die ihn kannten, das Bildnis eines edel duldenden und reinen Menschen, der, endlich erlöst, alle Not, die er einstens vom Leben erlitten, mit Liebe zu erwidern wußte.«228

Zu den besten Freunden Petzolds zählten auch die Schriftsteller Felix Braun, Franz Karl Ginzkey, Peter Altenberg und Anton Wildgans. Der Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Vertreter des Impressionismus, Felix Braun, dem Petzold menschlich eng verbunden war und der Petzolds Werke genau kannte, schrieb in seinem Nachwort zu dem Band »Die hundert schönsten Gedichte«, für den er die Auswahl der Gedichte traf  : »Alfons Petzold war unter den österreichischen Dichtern der letzten Generation der einzige, dem der Titel des Volksdichters mit Fug zukam. In diesem Sinn schloß er unmittelbar an den größten Volksdichter unseres Vaterlandes, an Peter Rosegger, an, mit dem er auch die Herkunft aus dem Volksgrunde gemein hatte. Wie Rosegger aus dem Bauerntum ist Petzold aus der großstädtischen Arbeiterschaft hervorgetreten  ; wie jener für sein steirisches Landvolk schrieb er – zunächst wenigstens – für das Wiener Proletariat der Darbenden und Besitzlosen … Dennoch wäre es eine ungenügende Würdigung, Petzolds Dichtung ausschließlich als die eines Arbeiters anzusehen. Wohl ist das soziale Erlebnis sein bedeutendstes  : es 228 Stefan Zweig, Gedenken an Alfons Petzold, in  : Neue Freie Presse, Morgenblatt, 24. September 1932, S. 1 ff.

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hat ihn erweckt, aber nicht erfüllt. Eine ursprünglich dichterische Natur, stand er allen Erscheinungen und Kräften der Welt und des Lebens offen  ; schöne Liebes- und Landschaftsgedichte, manche tiefere Einsicht in das Geheimnis des Göttlichen danken wir seiner Kunst … Seit Ferdinand von Saar als der erste österreichische Dichter das Erlebnis der Armut und des Mitgefühls mit ihr im Gedicht ausgesprochen hat – sein ›Arbeitergruß‹ ist wohl überhaupt das erste soziale Gedicht in Österreich gewesen –, ist diese Verbundenheit des Dichters mit dem Volke nicht mehr gelöst worden. Hofmannsthals ›Manche freilich … ‹, Rilkes ›Buch der Bilder‹ und ›Stundenbuch‹, die Bücher von Anton Wildgans und Franz Werfel folgten. Alle diese aber stehen bloß in einer Art sentimentalischer Beziehung zur Not. Alfons Petzold war ihr echter, ihr berufener Dichter. Als jedoch nach seinem Tod das Gedichtbuch ›Gesicht in den Wolken‹ erschien, zeigte sich erst, um wieviel mehr als nur ein Dichter der Not der Dichter dieser großen lyrischen Gesänge gewesen war …«229

Ein großer Förderer Alfons Petzolds war der Offizier und Schriftsteller Franz Karl Ginzkey, der zum Kreis der neuromantischen Lyriker und Novellisten zählt. Sehr erfolgreich waren seine Kinderbücher, vor allem »Hatschi Bratschis Luftballon« ( 1904). In seiner »Erinnerung an Franz Karl Ginzkey«, die Petzold seinem Freund zum 50. Geburtstag widmete, heißt es  : »Vor vierzehn Jahren war es  ; ich arbeitete noch als Gelegenheitsarbeiter auf einem Neubau zehn Stunden des Tages. Aber wenn ich auch noch so todmüde am Abend heimkam, setzte ich mich doch, anstatt schlafen zu gehen, an das Kammerfenster und schrieb in Prosa oder Vers, vor allem in diesem nieder, was mir tagsüber beim Ziegelschupfen und -tragen eingefallen war. In meinem großen schwarzen Dienstbotenkoffer lagen meine Gedichte schon zu hohen Stößen gehäuft. Manchmal, zumeist an einem Samstagabend, nahm ich einen Pack davon und las daraus in einem Arbei229 Alfons Petzold, Die hundert schönsten Gedichte. Auswahl und Nachwort von Felix Braun, Wien 1952, S. 117 ff.

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terverein vor. Zu einer solchen Vorlesung hatte sich nun auch einmal ein junger Doktor der Philosophie eingefunden. Als ich fertig war, trat er auf mich zu, stellte sich vor, ließ mich von meinem Leben erzählen und gab mir zuletzt das Versprechen, mit dem ihm gut bekannten Dichter Ginzkey wegen meiner Gedichte zu sprechen. Franz Karl Ginzkey war mir aus Anthologien wohlbekannt  ; außerdem hatte er vor kurzem den Bauernfeldpreis erhalten, war darum für mich der Inbegriff einer dichterischen Berühmtheit und in meiner jugendlichen Ehrfurcht und Demut vor dieser wagte ich gar nicht zu hoffen, daß sich Ginzkey auch nur im geringsten für mich armen dichtenden Bauarbeiter interessieren würde. Um so größer war mein Jubel, meine Begeisterung, als einige Tage später von dem jungen Doktor die Nachricht kam, ich möge sofort alle meine lyrischen Arbeiten bei dem Portier des MilitärGeographischen Instituts für Herrn Ginzkey abgeben. Dieser habe ihm mit Freude zugesagt, meine Arbeiten gewissenhaft durchzusehen und mir mit Rat und Tat beizustehen. Und ich, der ich vorher nicht eine Zeile wegen meiner Gedichte einem Dichter, Schauspieler oder sonstigen einflußreichen Menschen geschrieben hatte, packte nun auf das unbescheidenste Hunderte meiner poetischen Erzeugnisse zusammen und trug das mehrere Kilo schwere Paket an den bezeichneten Ort. Freilich sagte ich mir zugleich die schönsten Sprüchlein der Geduld vor, sagte mir, daß ich wohl Monate auf eine Antwort des Dichters warten müsse. So war ich denn nicht wenig freudig überrascht, als schon nach drei Wochen ein Bote des Dichters erschien, der mir die vier- bis fünfhundert Gedichte – so viel waren es mindestens – zurückbrachte nebst einem langen Schreiben Ginzkeys und seinem soeben erschienenen Gedichtbuch ›Das heimliche Läuten‹. Zuerst erbrach ich mit Herzklopfen und zitternden Händen den Brief. Las ihn einmal, zweimal, las ihn an diesem Abend vielleicht noch zwanzigmal, las ihn noch nach Tagen, Wochen und Monaten. Und für jedes Wort darin bin ich Ginzkey noch heute dankbar. Wie hatte er sich doch ganz in mein Leben und Wollen hineingedacht, wie zart und doch bestimmt zeigte er mir die Fehler in meinen Versen auf, die der Sprache, der

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Form und des Inhaltes, wie eindringlich richtete er meinen angeborenen künstlerischen Instinkt auf die Stärke meines dichterischen Könnens  : das Volkstümlich-Soziale. Und nirgends war eine hochmütig schulmeisterliche Ansicht zu verspüren. Jeder Rat, jeder Tadel, so fühlte ich stark, kam hier aus einem gütigen, wachen Herzen. Vieles, was ich bis heute erreichte, habe ich diesem Briefe zu verdanken, und in seinem Sinne handle ich noch heute jungen unbekannten Dichtern gegenüber, die zu mir mit ihren noch ungedruckten Bekenntnissen kommen, wie ich einst zu Franz Karl Ginzkey kam. Wenn meine Worte an sie auch nur die Hälfte der Wirkung auf ihr zukünftiges Werk ausüben, die die Worte Ginzkeys auf mein späteres Schaffen hatten, dann will ich zufrieden sein …«230

Franz Karl Ginzkey, der Petzolds Schaffen sehr schätzte, hielt nicht nur nach dem Tod Petzolds anlässlich der Trauerfeier im Salzburger Stadttheater am 4. Februar 1923 eine »Rede für Alfons Petzold«, er würdigte ihn auch in seinem Vorwort zum Band »Pfad aus der Dämmerung«, der 1947 im Wiener Verlag erschien  : »In Alfons Petzold ist uns einer jener Dichter erstanden, die über den Rahmen ihrer Kunst hinaus auch noch eine andere menschliche Sendung erfüllen. Die sittliche Forderung tritt in ihnen so stark zutage, daß das Gebilde ihrer Dichtung, mag es noch so anerkennenswert sein, hinter die Offenbarung ihrer Menschlichkeit zurücktritt. Um solches zu erreichen, muß man viel erlebt und viel erlitten haben. Die Worte solcher Dichter sind nicht ästhetisch ersonnen, sie sind ein Aufschrei des Lebens selbst, das sich immer wieder unerbittlich zu sich selbst bekennt … Was uns so sehr an diesem Dichterschicksal ergreift, ist der siegreiche Kampf der Seele mit den Dunkelheiten der tiefsten Armut, mit den Gespenstern einer Lebensnot, die gemeinhin sonst in den Abgrund und nicht in die Sphäre eines Künders edler reiner Lebenswerte führt …

230 Alfons Petzold, Pfad aus der Dämmerung. Gedichte und Erinnerungen, Wien 1947, S.  263 ff.

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Petzolds so frühes Hinscheiden muß als ein schwerer Verlust nicht nur für seine engere Heimat, sondern für die gesamtdeutsche Dichtung überhaupt gewertet werden. Er hätte uns zweifellos noch vieles gegeben, was seiner Persönlichkeit und der vollendeten Form nach berufen gewesen wäre, dauernd fortzubestehen. Aber auch, was er uns hinterlassen hat, es sind nahezu zwanzig Bücher, größtenteils Gedichtbände, verdient, in Ehren bewahrt zu werden. Die wenigen Jahre des Schaffens, die ihm in ungequälter Ruhe gegönnt waren, er hat sie im Glauben an seine Berufung ausgenützt wie nur irgendeiner … Auch als Verfasser kürzerer Erzählungen hat sich Petzold meisterhaft bewährt. Immer mehr entwuchs er in seinen Schilderungen dem Qualkreis des eigenen Leides, immer tiefer lernte er in die Seelen der Menschen schauen und die Dinge um ihrer selbst willen würdigen, und so erwarb er sich die Grundlage aller wahren Erkenntnis  : Objektivität. Und mit der zunehmenden Kraft kam auch die Freude am vollkommenen Worte, und es kam schließlich auch der beste Lohn des Mannes, der überwindet  ; es kam der Humor. Es ist kein billiger, es ist ein grimmiger, ehrlich erworbener Humor, man wird in Petzolds Menschendarstellungen oft an Peter Rosegger erinnert, der gleichfalls aus der klärenden Schule der Armut kam, die den Dingen allen erborgten Glanz nimmt, sie aber gerade deshalb um so reiner erstrahlen läßt in der Würde ihrer Wahrhaftigkeit … Sprach man mit ihm, so fühlte man immer die Ruhe des seelisch wahrhaft durchgebildeten Menschen, sein Gleichgewicht, seine Güte, seine Geschlossenheit. Man verspürte, was er in seinen Liedern mit zunehmender Inbrunst verkündet, er habe sein eigenes Leid, er habe auch das Leid der Menschheit mit unendlichem Gewinn für sich durchlitten und sei nun gereinigt …«231

Die Rede, die Ginzkey 1923 nach dem Tod Petzolds anlässlich der Trauerfeier für seinen Freund hielt, schloss er mit den Worten  :

231 Ebd., S. 5 ff.

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»Der letzte Sinn seines Wirkens, seiner milden, edlen Lehre, war wohl dieser  : Daß jeder, hat er erst heimgefunden zur eigenen Seele, zu ihren Tiefen, zu ihrer Einfalt, zu ihrer Beruhigung in Gott oder was wir so nennen wollen, daß jeder dann am besten auch der G e m e i n s c h a f t sich zugesellt, denn alles Große und Dauernde, auch im menschlichen Zusammenhalt, wurde niemals aus dem lärmenden Zwiespalt der Straße geschaffen, sondern an den stillen Wunderquellen der Selbsterkenntnis, der Welteinsicht und des staunenden Gemütes …«232

Gute Kontakte hatte Petzold auch zu den deutschen Arbeiterdichtern Karl Henckell, Karl Bröger und Heinrich Lersch. Zahlreiche Briefe sind noch erhalten. Aus einem Brief Petzolds an Karl Bröger aus dem Jahr 1911 geht hervor, dass der Gedichtband »Trotz alledem« ( 1910) als erste Buchveröffentlichung Petzolds zu gelten hat und nicht das Bändchen »Seltsame Musik«, das schon vorher in Philadelphia erschienen sein soll, wie Frida von Meinhardt behauptete. Der Brief gibt auch Einblick in den damaligen Literaturbetrieb und beleuchtet das Verhältnis der Arbeiterdichter zur bürgerlichen Kultur  : »Ihr lieber Brief mit Beilage hat mir eine wirkliche und große Freude bereitet. Auch Sie sind mir kein Fremder mehr. Ich las ihre Gedichte, die in den Süddeutschen Monatsheften erschienen und freute mich sehr über die Anerkennung, die für Sie drinnen liegt, in einer der bedeutendsten Monatsschriften deutscher Zunge veröffentlicht zu werden. Im allgemeinen sind wir Lyriker die Stiefkinder unter dem schreibenden Volke, um so mehr muß es uns freudig stimmen, wenn die Anerkennung unseres Schaffens durch Kreise und Personen geschieht, die gerade an die Lyrik der Gegenwart hohe Anforderungen stellen. Dazu kommt noch als besonderes ins Auge zu fassendes Moment, daß wir beide einer Klasse entstammen, die für alles andere eher den Boden abgibt als für die subtilste Menschenkunst  : die Lyrik … Staunen umfaßt mich, wenn ich sehe und höre, welchen Eindruck das Büchlein ›Seltsame Musik‹ macht, das es überall auf das beste besprochen 232 Ebd., S. 17.

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wird, wo ich selbst, ein lyrischer Rabenvater, doch gar nichts von ihm halte und es am liebsten verleugnen möchte. Die Tragikomödie eines Buches  ! Ohne meinem Wissen und Willen wurde dieses Heft von einer übereifrigen Dame ( gemeint ist Frida von Meinhardt. Anm. d. Herausgebers) zusammengestellt, ein wehleidiges Vorwort geschrieben, von dem ich keine Ahnung hatte, denn erst, nachdem die Blätter schon beim Buchbinder waren, bekam ich den Bürstenabzug. Nun war natürlich nichts mehr zu ändern, und ich mußte mir halt diese Bevormundung gefallen lassen, war ich doch der arme Proletar, der froh sein sollte, wenn sich seiner ein Mäcen annahm. Na, ich dankte schön dafür  ! Die Gedichte dieser Sammlung sind alle älteren Datums, entstanden in meiner Sturm- und Drangperiode als Mensch und Dichter, und sind deshalb in Form, Ausdruck und Inhalt unvollkommen und dilettantisch. Mein erstes Büchlein ›Trotz alledem‹, welches voriges Jahr erschien, zeigt vielmehr meine dichterische Persönlichkeit, wie sie in Wahrheit ist, als dieses Notizbüchel ›Seltsame Musik‹. Wenn Sie obengenanntes Büchlein noch nicht haben, so werde ich es Ihnen senden. In ihm sind schon die Anfänge meines jetzigen Weltschauens zu finden  : der Pantheismus Goethes, der sich auf die Vergottungslehre eines Eckehart und Jakob Böhme stützt …«233

Innig befreundet war Alfons Petzold schließlich mit einem Künstler, der zwar auch Lyriker, in erster Linie aber ein erfolgreicher Bildhauer war, nämlich Gustinus Ambrosi. Die engsten Kontakte hatten die beiden in den Jahren 1915 bis 1917, und sie hielten ihre Beziehung bis zum Tod Petzolds aufrecht.234 Am 20. August 1916 begann Ambrosi mit der Arbeit an einer Büste Petzolds. Am 2. Oktober war sie fertig. Es ist die

233 Brief von Alfons Petzold an Karl Bröger, 4. August 1911, in  : Arbeiterdichtung. Analysen – Bekenntnisse, Dokumentationen, hg. von der Österreichischen Gesellschaft für Kulturpolitik, Wuppertal 1973, S. 244 f. 234 Siehe  : Otto E. Plettenbacher, Studien zur Freundschaft zwischen Gustinus Ambrosi und Alfons Petzold, in  : Mitteilungen der Gustinus Ambrosi Gesellschaft 4, hg. vom Vorstand, Wien 1983, S. 9 ff.

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einzige Büste, die je ein Künstler von Petzold geschaffen hat. Für das Bändchen »Franciscus von Assisi«, das 1918 herauskam, gestaltete Gustinus Ambrosi das Titelblatt und illustrierte den Text. Am 16. November 1919 erschien in der Zeitung »Die Zeit« ein Artikel Petzolds über Gustinus Ambrosi, in dem er seine Wertschätzung für den Bildhauer ausdrückte  : »Gustinus Ambrosi, der Wiener Bildhauer mit der Giottogestalt und dem florentinischen Kopf eines mediceischen Fürstenjünglings, ist mit seinen sechsundzwanzig Jahren der revolutionärste Künstler Österreichs, wenn unter Revolution das gewaltsame Sichaufbäumen langunterdrückter, Neues und Großes gestalten wollender Kräfte zu verstehen ist. Seine Kindheit war körperliches Leid und Armut, seine Jugend Frondienst als Dekorationsbildhauerlehrling. Doch wenn er hoch über dem Getue der Menschen auf einem Großstadthause die Fassade ausbessern mußte, maß er von Horizont zu Horizont die Welt für sein künftiges Schaffen aus und wuchs aus der Erbärmlichkeit und dem Zwang kleinbürgerlicher Meistertyrannei in den Himmel seiner schöpferischen Sehnsucht hinein. Hier, über der Erde, den gotischen und barocken Türmen nah, im Blick die fernen Berge, enthüllte sich ihm die reine Linie ewiger Kunst, die nun in seinem Werk den Beschauer so entzückt. Mit dreizehn Jahren modellierte er schon beinahe lebensgroße Gestalten, nicht Figuren, und mit fünfzehn schuf er im feuchten Halbdunkel einer unter Dach gelegenen Schlafstube ein ganz reifes Werk, den abgestürzten sterbenden Dachdeckergesellen. In diesem ›Mann mit dem gebrochenen Genick‹, welches Werk, nun in Erz ausgeführt, zur tiefsten Ergriffenheit zwingt, gab uns Ambrosi [ die ] skulpturelle Verklärung eines Proletariers, der seiner Arbeit zum Opfer gefallen ist. Dann schuf er die Studie seines stürzenden ›Ikaros‹, mit welchem Bildwerk er haarscharf an die Lösung eines der schwierigsten Raumprobleme tritt. Eine Gehirnentzündung raubte ihm sein Gehör. Dadurch zur einsamsten Einsamkeit verdammt, mußte er sich selbst eine bewegte Welt mit

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tönenden Gestalten schaffen. Deshalb hört er besser als wir die Sprache der stummen Dinge, der silbernen Sterne, der schwarzen Erde. Deshalb richtet Gott an seine Seele die uns Wortreichen verborgen bleibenden Gespräche, wird ihm Beethoven wirklich brausende Majestät, der er von Angesicht zu Angesicht nahe ist. Wie die Großen vor ihm kennt er nur die Arbeit an seinem Werk. Tag und Nacht steht er vor ihm. Es ist ihm Gebet, Erholung, Erhöhung, Genuß. Und wie Michelangelo macht es ihn bedürfnislos. Er lebt tagelang von einer Handvoll Zwiebeln und einem Laib Brot. Unser gestriges Dasein war noch zu kalt, zu habgierig, zu ehrfurchtslos für das Wollen und Können in der Kunst dieses brennenden Jünglings unter uns. Vielleicht, daß das Heute mit seiner schüchternen Ausschau nach den Morgenröten eines reineren Menschentums seinem Schaffen verständnisvoll und freudig nahetreten wird. Denn ihm gehört das Volk, aus dessen ewigem Jungbrunnen aller bauenden Kräfte er aufgestiegen ist. Des Volkes Empörung über seine Knechtung, seine Sehnsucht nach Aufstieg und Befreiung ist im Werke dieses Künstlers. Ja, auch schon sein Jubel über die bereits begonnene Erlösung. Stürme, Flügel, alles, was uns reinfegen, was uns aufwärtstragen soll, sind in seinem Marmor. Und Andacht vor dem Geist der Arbeit. Ehrfurcht vor dem Geist, welcher Wälder und Sterne, ein Lerchenlied und das Abendmahlbild in Mailand schuf. Demut vor uns selbst ist in ihm. Seine, Ambrosis Werke ahnen das Neue und Große voraus, das unser geduldig wartet. Und da es in Erfüllung gehen will, das Zeitalter tätiger Liebe, sollen wir an das Werk dieses Künstlers herantreten und heiß bemüht sein, es verstehen und lieben zu lernen.«235

Ambrosi ( 1893–1975) hinterließ ein umfangreiches Werk  : mehr als 2 000 Skulpturen in Stein, Bronze, Marmor und Gips, Brunnen- und 235 Die Zeit, 16. November 1919, in  : Ambrosi-Festschrift, Wien 1948, S. 15.

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Grabmalskulpturen, Denkmäler, Modelle und Entwürfe sowie Zeichnungen. Im Zentrum seiner Arbeit stand die Porträtplastik, als deren Meister er Weltruf erlangte. Er schuf Bildnisse von drei Päpsten ( Pius XI., Pius XII., Johannes XXIII.), von Staatsmännern ( Theodor Körner, Adolf Schärf, Leopold Figl, Julius Raab), von Schriftstellern und Musikern ( Stefan Zweig, Felix Braun, Franz Karl Ginzkey, Richard Strauss), von Kardinälen und Fürsten u. v. a. Ambrosi hatte viele jüdische Auftraggeber  ; in der NS-Zeit allerdings arbeitete er auch im Auftrag Albert Speers.

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N ac h wort Kein Dichter des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat die Armut in der Metropole Wien so anschaulich und eindringlich geschildert wie Alfons Petzold. Er, der selbst in ärmlichen, trostlosen Verhältnissen aufwuchs, führt uns in seinen Werken in die schrecklichen Tiefen des Proletarierdaseins. Er zeigt uns die Kehrseite des Fin de Siècle, der »guten alten Zeit«. Er erzählt vom Massenelend in der Gesellschaft, von der Ausbeutung der Arbeiter und der Lehrlinge, von ihrem harten Alltags­ leben, von zwölfstündiger und längerer Arbeitszeit, von Arbeitslosen, Abstumpfung und Apathie, von erdrückender Wohnungsnot und desolaten, unmenschlichen Wohnverhältnissen, Bettgehern und Obdachlosen, von Alkoholismus, Prostitution, Krankheit, Hunger, Brutalität. Die unüberbrückbare Kluft zwischen wohlhabenden Schichten und Vorstadtproletariat wird von ihm ungeschminkt und schonungslos dargestellt. Es ist heute kaum vorstellbar, dass Wien, zurzeit die Stadt mit der weltweit höchsten Lebensqualität, die zu den reichsten Städten der Welt zählt, eine Stadt ohne Slums, vor hundert Jahren eine Bevölkerung hatte, die zum Großteil unter der Armutsgrenze lebte. Petzold hat in seiner Dichtung die miserablen sozialen Zustände seiner Zeit sehr realistisch und facettenreich beschrieben. Die Dramen Gerhard Hauptmanns, in denen ebenfalls die großen sozialen Probleme der damaligen Zeit aufgegriffen wurden, werden bis heute auf den besten Bühnen aufgeführt, seine Werke werden weiterhin veröffentlicht und verfilmt. Petzolds Name dagegen ist nur noch wenigen ein Begriff. Seine Texte werden kaum mehr verlegt, seine Bücher verstauben ungelesen in den Bibliothe­ken. Die letzte Ausgabe des autobiografischen Romans »Das rauhe L ­ eben« erschien vor mehr als dreißig Jahren ( 1979). Seither ist nur mehr ein kleines Lesebuch von Ludwig Roman Fleischer veröffentlicht worden ( 2002). Es ist auch keine Herausgabe seiner wichtigsten Werke – 205 –

Nachwort

geplant. Petzold wird bis heute »nur« als »Arbeiterdichter« bezeichnet, aber bedauerlicherweise schwingt mit diesem Wort immer noch ein abwertender Beigeschmack mit. In Büchern über das Großstadtelend wird Petzold nicht einmal erwähnt. Immerhin wurde 1982 zum hundertsten Geburtstag Petzolds in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek im Wiener Rathaus eine repräsentative Ausstellung und von der »Alfons Petzold Kulturgesellschaft« 1983 gemeinsam mit der Volkshochschule Ottakring eine Gedenkfeier veranstaltet. Petzolds Leben war seit seiner Lungenerkrankung stets mit dem Tod verbunden – ähnlich wie später bei Thomas Bernhard, der ebenfalls schon als Jugendlicher an Tuberkulose erkrankte. Bernhard flüchtete in die Isolation, er wurde zum Außenseiter, Petzold blieb in seinem Herzen, auch als es ihm finanziell etwas besser ging, den Armen und einfachen Arbeitern verbunden. Er war stets auch ein überzeugter und aufrichtiger Sozial­ demokrat. In Parteikreisen ist er immer noch eine bekannte Persönlichkeit. Da Petzold mehrmals betonte, dass ihm das Prosaschreiben sehr schwer fiele, wurden seine Prosaarbeiten weniger beachtet und im Lauf der Jahre zum Teil als unbedeutend abgetan und ignoriert. Aber gerade in seiner Prosa wird die erschreckende Wahrheit über die unerträg­lichen Lebensumstände der damaligen Wiener Bevölkerung eindrucksvoll sichtbar gemacht. Als Lyriker ist Petzold zwar anerkannt, aber der letzte Auswahlband seiner Gedichte, »Die hundert schönsten Gedichte«, stammt aus dem Jahr 1952. Petzolds beste Gedichte sind leidenschaftlich, bewegend, gefühlvoll und voller Poesie. Und viele eignen sich zur Vertonung. Der Komponist Robert Schollum sagte  : »Petzold ist offensichtlich so sehr als ›Tendenzdichter‹ angesehen worden, daß eine intensivere Beschäftigung mit seiner Lyrik erst gar nicht weiter ins Auge gefaßt wurde, obzwar sie in ihrer klaren Schönheit und ihrem starken Stimmungsgehalt, der allerdings mit Romantisch-Schwärmerischem zu tun hat, in vielen Fällen geradezu nach Musik ruft.«236 Eine Reihe von Komponisten hat auch 236 Robert Schollum, Vertonungen Petzoldscher Gedichte, in  : Alfons Petzold. Beiträge zum Leben und Schaffen mit einer Petzold-Bibliographie von Herbert Exenberger – Wien, Fritz Hüser – Dortmund, Hans Schroth – Wien, a. a. O., S. 35.

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Nachwort

tatsächlich Gedichte von Petzold vertont, u. a. Franz Schreker ( »Das feurige Männlein«). Petzold ist der Dichter der Kleinen, der vom Leben Benachteiligten, der nicht Beachteten, der Vergessenen. Er selbst blieb bis zu seinem Tod bescheiden, demütig und liebevoll. Das Streben nach Ruhm und Ehre lag ihm fern  : Von keinem Nachruhm will ich wissen, kein stolzer Denkstein schmück mein Grab, des Ruhmes Flitter kann ich missen, den schüttelt meine Seele ab.237

237 Alfons Petzold, Seltsame Musik, a. a. O., S. 9.

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Bi l d ta f e l n

Abb. 1: Alfons Petzold. Bronzebüste von Gustinus Ambrosi, 1916 ( Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek)

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Abb. 2: Titelblatt des Werkes »Johanna. Ein Buch der Verklärung«, gestaltet von George Karau.

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Bildtafeln

Abb. 3: Illustration von George Karau aus dem Buch »Johanna. Ein Buch der Verklärung«.

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Bildtafeln

Abb. 4: Titelblatt des Werkes »Franciscus von Assisi«, 1918, entworfen von Gustinus Ambrosi.

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Bildtafeln

Abb. 5: Alfons Petzold. Lavierte Federzeichnung von Gustinus Ambrosi. Postkarte ( Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek)

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Bildtafeln

Abb. 6: Volkshochschule Ottakring. Ansicht des neu erbauten Gebäudes ( damals »Volksheim« mit Lesehalle und Volksbibliothek des Wiener Volksbildungsvereins) um 1905 ( Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek) Abb. 7: Arbeiterheim Ottakring, errichtet in den Jahren 1905 bis 1907, 1934 weitgehend zerstört ( Wien Museum)

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Abb. 8: Begräbnis des sozialdemokratischen Arbeiterführers Franz Schuhmeier. Der Trauerzug mit dem sechsspännigen Leichenwagen in der Thaliastraße, 1913 ( Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek)

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Abb. 9: Alfons Petzold ( Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek)

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Da n k Es ist mir ein aufrichtiges Bedürfnis, all denen zu danken, die zum Erscheinen dieses Buches beigetragen haben, namentlich Stadtrat Dr. Michael Ludwig als Aufsichtsratsvorsitzenden der Wiener Volkshochschulen GmbH, dem Bürgermeister der Stadt Kitzbühel, Dr. Klaus Winkler, der Wiener Arbeiterkammer und nicht zuletzt dem Leiter des Referats für Wissenschafts- und Forschungsförderung der Stadt Wien ( MA 7), Univ.-Prof. Dr. Hubert Christian Ehalt, der auch das Vorwort verfasste. Im Besonderen danke ich meiner ehemaligen Mitarbeiterin Frau Mag. Margarete Venjakob für viele Verbesserungen, zahlreiche Anregungen und Ergänzungen sowie die Unterstützung beim Lesen der Korrekturen. Mein Dank gilt selbstverständlich auch dem Böhlau-Verlag für die sorgfältige und aufmerksame Betreuung, vor allem Frau Dr. Eva Reinhold-Weisz sowie Frau Stefanie Kovacic und Herrn Michael Rauscher.

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L i t e r at u r W E R K E A L FONS PE T Z OL DS Ly r ik Trotz alledem  ! Gedichte. Auswahl und Geleitwort von Josef Luitpold, Wien 1910. Seltsame Musik. Gedichte. Mit einem Geleitwort von Frida von Meinhardt, Wien [ 1911 ]. Der Ewige und die Stunde. Gedichte, Leipzig 1912. Heimat Welt. Dichtungen, Wien 1913. Der heilige Ring. Neue Verse 1912–13. Mit einem Bilde des Dichters, Wien/Leipzig 1914. Krieg, Wien/Leipzig 1914. Volk, mein Volk … Gedichte der Kriegszeit, Jena 1915. Johanna. Ein Buch der Verklärung. Auswahl und Herausgabe Josef Luitpold. Buchschmuck George Karau, Wien/Leipzig 1915. Der stählerne Schrei. Neue Gedichte aus der Kriegszeit, Warnsdorf 1916. Das neue Fest. Ein Büchlein der Liebe, Wien/Leipzig 1917. Dämmerung der Herzen. Gedichte, Innsbruck 1917. Franciscus von Assisi. Eine Gedichtreihe. Illustriert von Gustino Ambrosi, Warnsdorf 1918. Der Dornbusch. Soziale Gedichte, Wien/Prag/Leipzig 1919. Einkehr. Gedichte, Wien/Prag/Leipzig 1920. Das Buch von Gott, Wien/Prag/Leipzig 1920. Gesang von Morgen bis Mittag. Eine Auswahl der Gedichte, Wien 1922. Gesicht in den Wolken. Gedichte, Wien/Leipzig 1923. Totentanz. Gedichte, Leipzig [ 1923 ].

Pros a Aus dem Leben und der Werkstätte eines Werdenden, Wien/Leipzig 1913. Sil, der Wanderer. Erzählungen, Konstanz 1916. Drei Tage. Eine Schilderung, Warnsdorf 1916. Von meiner Straße. Novellen aus der Kriegszeit meines Lebens, Warnsdorf/Wien 1917. Das rauhe Leben. Der Roman eines Menschen, Berlin 1920. Das rauhe Leben. Autobiographischer Roman. Ergänzt durch ein Tagebuch vom 1. Jänner bis 5. November 1922, Wien 1947.

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Literatur Das rauhe Leben. Der Roman eines Menschen. Mit einem Nachwort von Robert A. Kann, Graz/Wien/Köln 1979. Der Franzl. Geschichte einer Kindheit, Wien/Leipzig 1920. Der Totschläger und andere Geschichten, Wien/Prag/Leipzig 1921.

Aus wa h l b ä n de n ach de m Tod de s Dich t e r s Pfad aus der Dämmerung. Gedichte und Erinnerungen, Wien 1947. Ich bin voll Sehnsucht. Gedichte. Einführung und Auswahl  : Hedwig Petzold, Wien [ 1950 ]. Die hundert schönsten Gedichte. Auswahl und Nachwort von Felix Braun, Wien 1952. Ein Bruder so wie du. Das Alfons-Petzold-Buch. Eine Auswahl aus den Werken des Dichters von Karl Ziak, Wien/Frankfurt [ 1957 ]. Alfons Petzold. Einmal werden sich die Tage ändern. Eingeleitet und ausgewählt von Ernst Glaser, Graz-Wien 1959. Alfons Petzold. Ich mit den müden Füßen. Texte eines Arbeiters. Ein Lesebuch. Hg. von Ludwig Roman Fleischer, Klagenfurt 2002.

W e i t e r f ü h r e n de L i t e r at u r Alfons Petzold. Beiträge zum Leben und Schaffen mit einer Petzold-Bibliographie von Herbert Exenberger – Wien, Fritz Hüser – Dortmund, Hans Schroth – Wien, ( Autoren  : Gerhard Rademacher, Richard Klucsarits, Selma Steinmetz, Robert Schollum, Herbert Exenberger), Dortmund Stadtbücherei 1972. Alfons Petzold – Stefan Zweig. Briefwechsel. Eingeleitet und kommentiert von David Turner, Wien-Washington D.C./Baltimore/Boston/Bern/Frankfurt am Main/Berlin/Vienna/Paris 1998. Anklage und Botschaft. Die lyrische Aussage der Arbeiter seit 1990. Hg. und eingeleitet von Friedrich G. Kürbisch, Hannover 1969. Ambrosi-Festschrift, Wien 1948. Arbeiterdichtung. Analysen – Bekenntnisse – Dokumentationen. Hg. von der Österreichischen Gesellschaft für Kulturpolitik, Wuppertal 1973. Denscher, Bernhard und Luger, Johann, Alfons Petzold ( 1882–1923). Katalog zur Ausstellung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek im WienerRathaus von November 1982– März 1983, hg. von Franz Patzer, Wien 1982. Ganz unten. Die Entdeckung des Elends. Wien, Berlin, London, Paris, New York. Hg. von Werner Michael Schwarz, Margarethe Szelles, Lisa Wögenstein ( 338. Sonderausstellung des Wien Museums), Wien 2007. Glaser, Ernst, Alfons Petzold. Ein Beitrag zum Problem  : Arbeiterdichtung, Diss. Wien 1935. Herle, Roman, Alfons Petzold. Versuch einer Monographie, Diss. Wien 1927.

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Literatur Kaufmann, Fritz, Sozialdemokratie in Österreich. Idee und Geschichte einer Partei von 1889 bis zur Gegenwart, Wien/München 1978. Luitpold, Josef, Erinnerung an Alfons Petzold, in  : Arbeiter-Zeitung, 24. September 1932, S. 7. Plettenbacher, Otto E., Studien zur Freundschaft zwischen Gustinus Ambrosi und Alfons Petzold, in  : Mitteilungen der Gustinus Ambrosi Gesellschaft 4, hg. vom Vorstand, Wien 1983. Salzner, Margarete, Heinrich Lersch und Alfons Petzold. Ein biographischer Beitrag, Diss. Wien 1943. Slezak, Friedrich, Ottakringer Arbeiterkultur an zwei Beispielen  : 1. Alfons Petzold ( 1882– 1923) und Josef Slezak ( 1887–1976), 2. Franz Schütze ( 1882–1943) und sein Kinderfreunde-Orchester, Wien 1982. Wertheimer, Paul, Ein Dichter der Armut, in  : Neue Freie Presse, 28. Jänner 1923. Zweig, Stefan, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt am Main 2007. Ders., Gedenken an Alfons Petzold, in  : Neue Freie Presse, Morgenblatt, 24. September 1932, S. 1ff.

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R e gis t e r Adler, Victor 86, 96 Altenberg, Peter 94, 195 Ambrosi, Gustinus 201–204, 218–220 Andersen, Hans Christian 68 Angelus Silesius 79 Arnim, Achim von 15 Barthel, Max 86 Bernhard, Thomas 206 Bierbaum, Otto Julius 56 Boccaccio, Giovanni 103 Böhme, Jakob 79, 201 Bölsche, Wilhelm 79 Braun, Felix 81, 94, 195, 196, 204, 219 Bröger, Karl 86, 200, 201 Cervantes, Miguel de 103 Csokor, Franz Theodor 81, 94 Daberkow, Theodor 76 Darwin, Charles 79 Devrient, Max 81 Dickens, Charles 10, 66 Diederichs, Eugen 72, 81 Drawe, Hermann 10

Ginzkey, Franz Karl 81, 94, 195–198, 204 Goethe, Johann Wolfgang von 19, 56, 103, 201 Göhre, Paul 68 Gregori, Ferdinand 66, 72, 81, 193 Großmann, Stefan 71 Gundlach, Friederike Sophie Karoline → Petzold, Friederike Gundlach, Joachim Gottlieb 12 Guttmann, Max und David 72 Haeckel, Ernst 79 Hauptmann, Gerhard 205 Heine, Heinrich 33, 37, 56, 161 Henckell, Karl 56, 72, 81, 187, 200 Herwegh, Georg 37 Hornig, Josef 36 Johanna 82 Johannes XXIII. 204

Emerson, Ralph Waldo 68, 79 Engel, Eduard 98 Engelke, Gerrit 86

Kann, Robert A. 103, 104, 219 Kläger, Emil 10 Klitsch, Wilhelm 81 Koch, Robert 60 Körner, Theodor 15, 204 Kraml, Johanna 74, 75 Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch 66

Figl, Leopold 204 Fleischer, Ludwig Roman 205, 219 Freiligrath, Ferdinand 37 Gamillscheg, Hedwig 83

Lersch, Heinrich 86, 200, 220 Licht, Stefan 94 Liebknecht, Karl 12 Liebknecht, Wilhelm 13

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Register Liliencron, Detlev von 56 Luitpold, Josef 71, 76, 94, 175, 186, 190–192, 218 Mackay, Charles 66 Mann, Thomas 85 Meinhardt, Frida 66, 72, 76, 81 Milan IV., Fürst von Serbien 14 Nansen, Peter 68 Niese, Hansi 35 Petzold, Christiane 90 Petzold, Friederike 13 Petzold, Friedrich 12–14 Petzold, Johanna 80 Petzold, Verena 90 Petzold, Wolfgang 90 Pius XI. 204 Pius XII. 204 Poe, Edgar Allan 68 Raab, Julius 204 Richetti, Marie 59, 65 Rilke, Rainer Maria 79, 179 Röntgen, Wilhelm 60 Rousseau, Jean Jacques 103 Ruppmeier, Ludwig 30, 32, 51

Schärf, Adolf 204 Scheffler, Johannes 79 Schiller, Friedrich 19 Schollum, Robert 206, 219 Schreker, Franz 207 Speer, Albert 204 Stern, Josef Luitpold 71, 175, 186, 190, 191 Strauss, Richard 204 Swift, Jonathan 103 Thackeray, William Makepeace 103 Thoreau, Henry David 79 Tieck, Ludwig 15 Tolstoi, Leo 56, 68 Vischer, Friedrich Theodor 68 von Assisi, Franz 67, 79, 179 von Hofmannsthal, Hugo 85 von Magdeburg, Mechthild 79 Wertheimer, Paul 10, 220 Wildgans, Anton 81, 195, 196 Wille, Bruno 79, 187 Winter, Max 10 Wohlgemuth, Else 81 Zweig, Stefan 81, 84, 85, 94, 96, 97, 191, 192, 195, 204, 219

Sandrock, Adele 35

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WILHELM PETRASCH

DIE WIENER URANIA VON DEN WURZELN DER ERWACHSENENBILDUNG ZUM LEBENSLANGEN LERNEN

Gegründet 1897 vom Niederösterreichischen Gewerbeverein nach dem Vorbild der Urania Berlin wurde die Wiener Urania schon bald zu einem unentbehrlichen Volksbildungsinstitut, das sich dabei stets die neuesten Errungenschaften der Technik nutzbar machte: so führte die Urania als erste in Wien den Projektionsapparat, den Stummfi lm und den Tonfi lm in der Erwachsenenbildung ein. Daneben bot die Urania einen anspruchsvollen Kurs- und Vortragsbetrieb an, für den namhafte Professoren, Künstler und Intellektuelle wie Albert Einstein, Thomas Mann, Thomas Masaryk, Max Planck und andere als Vortragende gewonnen werden konnten, und errichtete mit dem Observatorium die erste Volkssternwarte Österreichs. 2007. 482 S. 46 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-77562-1

„Über die Urania gab es bisher nicht einmal eine Broschüre. Das ist nun vorbei.“ Die Presse / Feuilleton – Das Buch

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