Alexander von Humboldts Metaphysik der Erde: Seine Welt-, Denk- und Diskursstrukturen 3631631707, 9783631631706

Anhand Alexander von Humboldts amerikanischem Reisewerk (Reise in die Äquinoktialgegenden des neuen Kontinents, Politisc

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Alexander von Humboldts Metaphysik der Erde: Seine Welt-, Denk- und Diskursstrukturen
 3631631707, 9783631631706

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Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel: Humboldts Erde-Mensch-Metaphysik
Zweites Kapitel: Humboldts Personalbiographie und seine Welt- und Schreibstrukturen
Drittes Kapitel: Die Kultur der Tiefebenen und Bergeshöhen
Exkurs 1: Die Humboldtschen Binomien nackt vs. bekleidet
Viertes Kapitel: Organisches vs. Anorganisches
Fünftes Kapitel: Natur vs. Kultur
Sechstes Kapitel: Kolonialisten vs. Kolonisierte – Europäer vs. Lateinamerikaner
Siebentes Kapitel: Koloniales und multikulturelles Lateinamerika
Exkurs 2:Poesie vs. Meteorologie: Licht und Luft in Mexiko und Kuba
Achtes Kapitel: Lateinamerika vs. Weltkapitalismus
Neuntes Kapitel: Mensch und Erde – Humboldts Universalien
Zehntes Kapitel: Globalisierung der Wissenschaft – Wissenschaft der Globalisierung –Globalisierung als Wissenschaft
Erklärung des Autors in eigener Sache
Sigelverzeichnis
Bibliographie

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Hans-Otto Dill

Hans-Otto Dill

Alexander von Humboldts Metaphysik der Erde Anhand Alexander von Humboldts amerikanischem Reisewerk (Reise in die Äquinoktialgegenden des neuen Kontinents, Politische Essays über Mexiko und Kuba) wird in dieser Untersuchung in Verbindung mit der Erdphilosophie seines Kosmos nachgewiesen, dass dessen Denk- und Diskursstrukturen auf einem in der Dialektik Erde-Mensch kulminierenden System von Binomen beruhen. Mit ihrer Hilfe sei es dem preußischen Natur- und Kulturwissenschaftler gelungen, wesentliche kausalgenetische Zusammenhänge zwischen der spezifisch lateinamerikanischen Natur und den indigen-kreolischen Gesellschaften auf diesem Subkontinent aufzudecken. Auch die respektiven Unterschiede zu Europa lassen sich mit dessen anderer Natur und Kultur – im Unterschied zu rassistischen und biologistischen Theorien – erklären. Der Autor Hans-Otto Dill, Romanist, Professor für lateinamerikanische Literatur; Autor u.a. einer Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im Überblick (1999), sowie von Dante criollo. Ensayos euro-latinoamericanos (2006) und Die lateinamerikanische Literatur in Deutschland (2009) beide Peter Lang; Studium der Romanistik 1954-1959; o. Prof. für lateinamerikanische Literaturen der Humboldt-Universität zu Berlin ab 1981, 1989-1990 an der Universität Göttingen; geschäftsführender Direktor des Instituts für Romanistik der Humboldt-Universität zu Berlin 1990-1992; Gastdozenturen an den Universitäten Sao Paulo und Hamburg.

ISBN 978-3-631-63170-6

www.peterlang.com

Alexander von Humboldts Metaphysik der Erde

Hans-Otto Dill

Alexander von Humboldts Metaphysik der Erde Seine Welt-, Denk- und Diskursstrukturen

Alexander von Humboldts Metaphysik der Erde

Hans-Otto Dill

Alexander von Humboldts Metaphysik der Erde Seine Welt-, Denk- und Diskursstrukturen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Katrin Hoffmann, Figuren, 2005. Blei/Zinn, ungebrannter Ton. Photographie: Katrin Hoffmann 2012.

ISBN 978-3-631-63170-6 (Print) ISBN 978-3-653-03146-1 (E-Book) DOI 10.3726/978-3-653-03146-1 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2013 Alle Rechte vorbehalten. PL Academic Research ist ein Imprint der Peter Lang GmbH Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.peterlang.de

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Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel:

Humboldts Erde-Mensch-Metaphysik

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Zweites Kapitel:

Humboldts Personalbiographie und seine Welt- und Schreibstrukturen

27

Drittes Kapitel:

Die Kultur der Tiefebenen und Bergeshöhen

35

Exkurs 1:

Die Humboldtschen Binomien nackt vs. Bekleidet

67

Viertes Kapitel:

Organisches vs. Anorganisches

71

Fünftes Kapitel:

Natur vs. Kultur

83

Sechstes Kapitel:

Kolonialisten vs. Kolonisierte – Europäer vs. Lateinamerikaner

97

Siebentes Kapitel: Koloniales und multikulturelles Lateinamerika

119

Poesie vs. Meteorologie: Licht und Luft in Mexiko und Kuba

147

Achtes Kapitel:

Lateinamerika vs. Weltkapitalismus

153

Neuntes Kapitel:

Mensch und Erde – Humboldts Universalien

167

Exkurs 2:

Zehntes Kapitel:

Globalisierung und Wissenschaft

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Erklärung des Autors in eigener Sache

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Sigelverzeichnis

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Bibliographie

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Erstes Kapitel: Humboldts Erde-Mensch-Metaphysik Alexander von Humboldts spektakuläres Auftreten auf der wissenschaftlichen Weltbühne Anfang des 19. Jahrhunderts bedeutete eine Wende der Weltwissenschaft im wortwörtlichen Sinn: als Wissenschaft von der Welt und als Weltwissen. Seine Sendung wird unter Außerachtlassung dieser planetarischen Dimension oft darauf verkürzt, nach Kolumbus der zweite Entdecker Amerikas gewesen zu sein, wie es der kubanische Gelehrte Luz y Caballero allerdings nur in Bezug auf Kuba formulierte, und wie es auch die Inschrift an seinem Denkmal im Ehrenhof der Berliner Humboldt-Universität besagt. Doch lateinamerikanischerseits wird die Entdeckung Amerikas durch Humboldt von einer ganz anderen Perspektive interpretiert, dass er nämlich die eurozentristische Sicht seiner Vorgänger, die bis heute die Zentralperspektive der meisten Europäer und Amerikaner ist, zurückgewiesen habe. Das heißt nicht, dass er statt der europäischen die amerikanische Perspektive einnahm, nur einen Regionalismus gegen einen anderen austauschte, sondern er wertete alle Phänomene aus der höheren, globalen Warte der Gea, der Erdkugel, was mehr ist als Geographie. Das bedeutete eine Umwertung aller Werte vom europäischen Regionalismus weg zum wissenschaftlichen Kosmopolitismus, zum „Weltbewusstsein“. Hieraus folgt der Hauptunterschied zwischen erstem und zweitem Entdecker: Kolumbus hatte den praktischen Beweis für die Kugelgestalt der Erde und die Erdrotation um die Sonne erbracht und damit endgültig den ptolemäischen Geozentrismus widerlegt, doch letzteren durch den Eurozentrismus ersetzt. Diesen Eurozentrismus widerlegte seinerseits Humboldt, der mit der Fokussierung auf den Planeten Erde einen wissenschaftlichen Neo-Geozentrismus begründete. Dieser beruhte auf seiner Überzeugung, dass die Erde trotz vieler „uranologischer“ Gemeinsamkeiten mit anderen Sternen des Kosmos über eine wichtige „tellurische“ Unikalität verfügt: über „organisches Leben“ und, vor allem, über das höchstorganisierte organische Wesen: den Menschen. „Erst in den Lebenskreisen der organischen Bildung erkennen wir (Menschen) recht eigentlich unsere Heimat“ (Ko I,64), schrieb er. Die Erde ist Heimat und Wohnsitz des Menschen. Deshalb umfasst sein Neo-Geozentrismus sowohl die Erdkugel als auch die auf ihr hausende Menschheit als eine Zweiheit sui generis. Laut biblischer Schöpfungsgeschichte war der Mensch nur wenige Tage jünger als die Erde, eine Differenz, die von der Wissenschaft, beginnend mit Buffons Les époques de la nature (1788), extrem disproportional gelängt wurde: das Erdalter auf 5 Milliarden Jahre, das Menschheitsalter auf 5 Millionen Jahre. Humboldt fühlte nicht mehr Keplers „Erschauern vom Blick in den dunklen Abgrund der zeitlichen und räumlichen Unendlichkeit“, sah wie sein Freund Leopold von Buch die Fossilien, die Athanasius Kircher noch hundert Jahre zuvor für Produkte der vis lapidifica (steinerzeugenden Kraft) hielt, als Zeugnisse der Geschichte der Lebewesen.

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Der „Erde“ als Ganzheit entspricht bei Humboldt die „Menschheit“ als Totalität. Das Bewusstsein von der Identität aller Menschenwesen schafft über alle Parzellierungen in Stämme, Völker und Nationen hinaus Humanität, „Menschlichkeit“. Als Secundogenitur wird die Menschheit erst durch Wachstum, Verbindung, Agglomeration und Proliferation zu einer dem Erdglobus ebenbürtigen „Ganzheit“, holt sie dessen Milliarden Jahre langen „Vorsprung“ auf. Humboldt beschreibt diesen Prozess der Eroberung der Erde durch den Menschen als Schaffung einer zweiten „Natur“, die als „Kultur“ über ein zwischengeschaltetes Übergangsfeld aus der Natur entsteht. Für beide Entitäten, Erde wie Menschheit, sah er sich in seiner Doppeleigenschaft als Natur- wie Kulturwissenschaftler kompetent.1 Verbindungen-Trennungen und andere binäre Antinomien Insofern die jüngere Menschheit aus der älteren Erde entstand, sieht er die Zweiheit Erde-Menschheit als Relation zwischen Produzent und Produkt bzw. Ursprung und Supplement.2 Den Prozess des Entstehens aller je neuen terrestrischen Verhältnisse der in stetem Wandel befindlichen Welt sieht Humboldt im Rahmen seiner Erde-Mensch-Metaphysik als eine unendliche Folge von „Trennungen“ und „Verbindungen“ in der Natur, im Natur-Kultur-Übergangsfeld und in der Kultur. Für terrestrisch am bedeutsamsten hält er die Trennungen von Land und Meer, Gebirge und Ebene, Pflanze und Tier, und Verbindungen wie Sinterungen, Legierungen, Amalgamierungen, Kreuzungen, Hybridisierungen, Bastardierungen, Mulattisierungen, Mestizierungen, Synkretismen. Eine „Verbindung“ ist auch die Weltwirtschaft als Zusammenführung der in einzelne nationale oder regionale Wirtschaftsverbände getrennten Ökonomien. Den Hellenismus nennt er ein „Gemisch von bindenden und trennenden Kräften“. (Ko II,131) Das Cinquecento war für ihn die Trennung der Historien- von der Landschaftsmalerei. Goethe beschrieb unter Humboldts Einfluss in den Wahlverwandtschaften (1810) die „Trennung“ einer Beziehung und das Eingehen einer neuen „Verbindung“. Der mexikanische Nobelpreisträger Octavio Paz verfasste, wohl unabhängig von Humboldt, einen höchst bedeutsamen Essay mit dem Titel Verbindungen – Trennungen. Weitere Binome Humboldts zur Bezeichnung natürlicher bzw. kultureller Trennungen und Vereinigungen sind: „Fest“ vs. „Flüssig“, „Lebend“ vs. „Tot“, Organisches vs. Anorganisches, „Warm“ vs. „Kalt“, Kosmos vs. Chaos, Gebirge vs. Ebene (bzw. „Niedrig“ vs. „Hoch“ sowie Horizontal vs. Vertikal), Kultur vs. 1

Er lobte die Naturpoesie der Hebräer, die „als Reflex des Monotheismus (...) stets das Ganze des Weltalls in seiner Einheit umfasst“. (Humboldt 1999, 176) 2 Binominale Adverbien charakterisieren Humboldts Gelehrtensprache allgemein: Erdbeben und Vulkaneruptionen sind beispielsweise Reaktionen des „Innen“ gegen das „Außen“ der Erde. (Ko I,190f.)2

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Natur, „Bewohnt“ vs. „Unbewohnt“, Stadt vs. Land, Moderne vs. Tradition. Hinzu kommen noch duale Begrifflichkeiten von hohem Allgemeinheitsgrad wie Immobil vs. Mobil und Homogen vs. Heterogen. Alle diese Binome bilden ein zusammenhängendes, auf irdischen Realitätssubstraten aufbauendes Begriffssystem, das Humboldts Diskursstruktur entscheidend prägt, wie nachfolgende Untersuchung zeigen soll. Humboldt rekurrierte mit seinen Binomien wohl auf Schellings Definition der Erde als „unendlichen Mangels an Sein“, als Planet, der durch proliferierende „Trennungen“ und „Vereinigungen“ des je Vorhandenen sich ständig erneuert und vervielfältigt und damit seinen Mängeln abhilft, wobei das Trennende gegenüber dem Zusammenbindenden meist überwiegt, was zu einer je größeren Menge von Substanzen führt: Als verstärkendes Synonym von „Trennung“ entlehnte Humboldt von Rousseau, Schelling und Hegel den Terminus „Entzweyung“, ein impliziter Doppelbegriff, der aus der Vorstellung einer entzweigebrochenen „Einheit“ folgt und einen feindlichen Gegensatz meint. Extreme Trennung bis zum Erinnerungsverlust drückt er mit dem von ihm häufig gebrauchten Begriff „Isolierung“ aus. Ohne Kenntnis und Berücksichtigung dieser für seine Denk- und Diskursstrukturen grundlegenden Binominalstrukturen, etwa nur mittels der üblichen biographischen, werkgeschichtlichen oder wissenschafts- sowie zeithistorischen Methoden, ist meiner Ansicht nach eine adäquate wissenschaftliche Darstellung seines Werkes nicht zu machen. Trocken vs. Nass – die Antinomie Europa-Amerika Den bedeutendsten Platz in der Schar Humboldtscher Geo-Binome nimmt die Trennung des „Festen“ vom „Flüssigen“ ein, die wie im Sintflut-Mythos der Bibel für die gesamte irdische Natur seit Anbeginn gilt. Die „Verbindung“ beider Konträre, von Trockenheit und Nässe, nimmt er bis in die Biochemie (?) hinein an: „In allen organischen Theilen stehen ungleichartige Stoffe untereinander in Berührung. In allen ist das Starre mit dem Flüssigen gepaart.“ (AdN 155, Hervorh. HOD ) Er behielt den aus Luthers Genesis-Übersetzung stammenden Terminus „Feste“ (bzw. „Festes“) als Gegensatz zu „Wasser“ bei: Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, und die sei ein Unterschied zwischen den Wassern. (...) Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Örter, daß man das Trockene sehe. Und es geschah also.

Seine Studien beim Freiberger Geologie- und Mineralogielehrer Abraham Gottlieb Werner, der als „Neptunist“ das „Feste“ zu Ablagerungen eines Urmeeres erklärte, viele Aufenthalte am Mittelmeer, Überfahrten über den Atlantik und durch die Karibik, seine Forschungen an der Pazifikküste und am „Hum-

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boldtstrom“ sowie Kanufahrten durch das Amazonasbecken lehrten ihn die Distribution dieser zwei „Aggregatzustände“ empirisch erkennen,3 die (...) einstmals andere Verteilung des Flüssigen und des Festen (...), einen vormaligen Zustand der Erdoberfläche, der jedoch mit demjenigen nicht verwechselt werden muß, in welchem der erste Pflanzenschmuck unseres Planeten, die riesenmäßigen Körper ausgestorbener Landtiere und die pelagischen Geschöpfe einer chaotischen Vorwelt in der sich erhärtenden Erdrinde ihr Grab fanden. (AdN 184, Hervorh. HOD)

In Ansichten der Natur schreibt er dem Binom „Festes vs. Flüssiges“ Einfluss auf die Temperaturwerte Warm und Kalt zu: „Die Temperaturunterschiede mannigfaltiger Erdzonen beruhen hauptsächlich auf der Beschaffenheit des Bodens des Luftmeeres, d. h. auf der Beschaffenheit der festen oder flüssigen (continentalen oder oceanischen) Grundfläche, welche die Atmosphäre berührt.“ (ibd., 110, Hervorh. HOD) Die Bodenprofile bezeugten die urzeitliche Trennung beider Elemente, wie aus indianischen Mythen hervorgeht: In einer sehr fernen Zeit scheint das Meer diesen Gebirgsdamm von der Felsenküste von Araya und Maniquarez getrennt zu haben. Der zweite Golf von Cariaco ist durch einen Einbruch des Meeres entstanden, und ohne Zweifel stand damals an der Südküste das ganze mit salzsaurem Natron getränkte Land, durch das der Manizares läuft, unter Wasser. (ibd., 71) Sintflut-Mythen, die ihm Indios erzählten, registriert er als Ausdruck kollektiver Erinnerung an Einbrüche des Flüssigen in das Feste: Unter den Eingeborenen dieser Länder hat sich die Sage erhalten, „beim großen Wasser, als ihre Väter das Kanu besteigen mußten, um der allgemeinen Überschwemmung zu entgehen, haben die Wellen des Meeres die Felsen von Encaramada bespült.“ (...) Fragt man die Tamanaken, wie das Menschengeschlecht diese große Katastrophe erlebt habe, so sagen sie, ein Mann und ein Weib haben sich auf einen hohen Berg geflüchtet; da haben sie Früchte der Mauritiuspalme hinter sich über ihre Köpfe geworfen, und aus den Kernen derselben seien Männlein und Weiblein entsprossen, welche die Erde wieder bevölkerten. (...) Häufig sind die hieroglyphischen Figuren sehr hoch oben in Felswände eingehauen, wohin man nur mittels sehr hoher Gerüste gelangen könnte. Fragt man nun die Eingeborenen, wie es möglich sei, die Bilder einzuhauen, so erwidern sie lächelnd, als sprächen sie eine Tatsache aus, mit der nur ein Weißer nicht bekannt sein kann, „zur Zeit des großen Wassers seien ihre Väter so hoch im Kanoe gefahren“. (Äqu 233)

Die Scheidung von Land und Wasser ist von unterschiedlicher Mächtigkeit, wie Humboldt am Verhältnis von Pazifik zu Nordasien deutlich macht. Er stellt dem Stillen Ozean als größte Wasserausdehnung der Welt, gelegen auf dem südöstlichen Quadranten des Globus, die nördlichen Landmassen Asiens mit ihren Ebenen, Steppen und Wüsten gegenüber: beide Extreme, Land wie Wasser, halten sich in Humboldts Erdsicht die Waage.

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In einem Anflug von Humor spricht er in einem Brief an den Bruder Wilhelm über den Wechsel von Regen und Schnee als „der unglücklichen Eigenschaft des Wassers, bald fest, bald flüssig zu sein.“

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Die Bedeutung der Opposition Festes-Flüssiges für Geschichte und Kultur Die natürliche binäre Opposition Festes-Flüssiges präfiguriert – nicht prädeterminiert – für den Anthropologen und Kulturhistoriker Humboldt die Entwicklung der menschlichen Kultur, die Geschichte und das Schicksal der Erdbewohner, vor allem die weltentscheidenden Beziehungen Europas zum Rest der Welt, und ganz besonders die interkontinentalen zu Amerika: sie alle bauen seiner Ansicht nach auf dem naturgegebenen Verhältnis von Land und Meer auf. Als Erdwissenschaftler findet Humboldt strukturelle Gegensätzlichkeiten zwischen den Geologien beider Kontinente; als Kulturwissenschaftler geht er den Folgen der verschiedenen materialen Feinstrukturiertheiten beider Landmassen für die Beziehungen zwischen den Menschen dieser Regionen nach. Für ihn war Europa terrestrisch präformiert als ein aktivischer, Amerika als ein passivischer Kontinent. In früheren machistischen Zeiten hätte man bedenkenlos gesagt, ersterer sei eine männliche, letzterer eine weibliche Landmasse. Die Folgen der Natur-Konfiguration „Flüssig-Trocken“ gehören in das Natur-Kultur-Übergangsfeld. Aus dem Unterschied zwischen den Landmengen Europas und denen der übrigen Welt leitet er die tellurischen Voraussetzungen für Europas Weltherrschaft ab, das seine Zivilisation der auf diesem Kontinent vorhandenen einmaligen Distribution der Land- und Wassermassen und dem daraus folgenden Primat der Seefahrt verdanke. Die einzige ebenfalls denkbare Alternative, Europas Dominanz aus der angeborenen Superiorität der kaukasischen Rasse zu erklären, kam für ihn als Antirassisten nie in Frage. Konstitutiv für den Alten Kontinent ist seiner Ansicht nach der an den Verläufen der Küsten ablesbare, vielfach gegliederte Wechsel von Land und Meer, den es so ausgeprägt nirgends woanders auf der Erde gäbe. Daraus folgt für ihn die ungeheure Rolle der küstenbewohnenden Seefahrer und damit der Seefahrt, mittels der Europa die Welt kennen lernt, sie sich aneignet und „bedroht“ und über sie politisch, militärisch und kulturell die Führungsrolle ausübt. Relationierung von Geodäsie, Weltgeschichte und Politik ist kennzeichnend für sein Denken. Eine besondere Rolle spielt für Humboldt das Mittelmeer infolge dessen Situierung zwischen den drei seiner Ansicht nach für die frühe Menschheitsentwicklung entscheidenden Subkontinenten Orient, Südeuropa und Nordafrika. Die europatypische binäre Land-Wasser-Verteilung repetiert sich laut Humboldt in der vielfach gegliederten Nordküste des Mittelmeeres mit den Halbinseln Balkan, Apennin und Pyrenäen, denen an der Nordküste Afrikas keine vergleichbare Wasser-Land-Konstellation gegenübersteht, was das Zurückbleiben des Schwarzen Kontinents vorprogrammiert. Den Fernhandel und damit den Reichtum Europas sieht er deshalb besonders um das Mittelmeer herum von der Natur privilegiert:

12 Dieses rechtwinklige Durchkreuzen geodätischer Linien hat einen mächtigen Einfluß ausgeübt auf die Handelsverhältnisse von Europa, Asien und dem nordwestlichen Afrika, wie auf den Gang der Zivilisation an den vormals glücklicheren Ufern des Mittelmeeres. (Ko I, 272)

Das Fehlen eines Pendants zum nordmediterranen Strukturprivileg an der afrikanischen, also nichteuropäischen Südküste desselben Meeres bedeutet für Humboldt außer tellurischer Unterprivilegierung des Südens und Überprivilegierung des Nordens noch eine weitere Struktur-Opposition, nämlich Nordmittelmeerküste vs. Südmittelmeerküste, die den Makrogegensatz Europa-Welt „fraktal“ (Ette) in kleinerem Maßstab am mediterranen Mikromodell antizipiert. Man könnte im Sinne Humboldts die Ostsee als baltisches, die Europäizität förderndes hanseatisches Gewässer hinzufügen. Beide Binnenmeere verloren jedoch durch die Entdeckung Amerikas ihre Führungsrolle an den Nordatlantik. Seiner Ansicht nach wurde die Ausnutzung der privilegierten LandWasser-Verteilungsstruktur durch Europa bereits von Griechenland als Vorläufer und Modell Europas eingeübt und durchgespielt. Dies war in Kombination mit der Zugehörigkeit dieses Landes sowohl zur gemäßigten Zone als auch zu den Mittelmeeranrainern – eine Kumulierung naturstruktureller Privilegien – für ihn eine wichtige Voraussetzung für die Avantgarderolle der Hellenen in der europäischen und Weltzivilisation. Das vielfach gestückelte, fransenhafte Ineinander von Festem und Flüssigen in seiner Geographie machte Griechenland zur ersten Seefahrer-, Handels-, Militär- und Kolonisierungsnation der Welt, was alles für Humboldt Synonyma sind. Der erste Seefahrer war Odysseus, der erste Handelskrieg der Trojanische Krieg. Es folgten die mediterranen Venetianer und danach die Portugiesen Heinrich der Seefahrer und Magellan und die Italiener Kolumbus und Vespucci, die alle das griechische Erbe weiterführten. Amerika, dessen „Entdeckung“ und Einbeziehung in den abendländischen Wirtschaftsraum das Mediterraneum und die Ostsee als Zivilisationsmotoren entthronte und diese Rolle dem Nordatlantik übertrug, spielt als von Humboldt intensiv erforschter Kontinent eine besondere Rolle bei seiner Rekonstruktion der strukturellen Entwicklungsvorgaben und -nachteile, die die Natur den Erdenteilen vererbte. In der seiner Ansicht nach weltschicksalhaften Beziehung Europa-Amerika spielte Amerika die passive Rolle aufgrund der laut Humboldt unglücklichen Distribution seiner Landmassen, die eben nicht die fransenhafte Mischung zwischen Land und Meer, nicht die natürlichen Einschnitte, Flussmündungen, Häfen, die zu Seefahrt einladen, hat. Im Kosmos wiederholt er das Binom Fest vs. Flüssig als Verursacher der asymmetrischen Binomie Amerika vs. Europa, indem er kategorial zwischen den an das „Feste“ gebannten immobilen Volksstämmen mit Bodenhaftung wie den Indios einerseits und den seefahrenden westeuropäischen Nationen, die sich Kenntnis vom ganzen Globus verschafften und so diesen beherrschen konnten, andererseits unterscheidet. Einige Rassen, schreibt er,

13 fest dem Boden anhaftend, wurden verdrängt und durch gefahrvolle Nähe der gebildeteren ihrem Untergang zugeführt. Es bleibt von ihnen kaum eine schwache Spur geschichtlicher Kunde; andere Stämme, der Zahl nach nicht die stärkeren, durchschiffen das flüssige Element. Fast allgegenwärtig durch dieses, haben sie allein, obgleich spät erst, von einem Pol zum anderen die räumliche, graphische Kenntnis der ganzen Oberfläche unsres Planeten, wenigstens fast aller Küstenländer, erlangt. (Ko I, 141, Hervorh., HOD)

In Amerika stellt er einen verfehlten, nicht entwickelbaren und daher nicht verwerteten terrestrisch-maritimen Ansatz der Natur in der unglücklichen Trennung zwischen Nord- und Südamerika am Isthmus von Panama fest, der der Karibischen See keine dem Mittelmeer entsprechende kommerzielle, politische und zivilisatorische Rolle zuweisen konnte. Im Kosmos besteht er auf der wohlproportionierten europäischen Mischung von Land und Wasser, wodurch die Europäer früh Seefahrer wurden und die ganze Erde bereisten und eroberten. Dies blieb den Nichteuropäern, zumal den Altamerikanern, verwehrt infolge ihrer nur wenigen in die Lande eindringenden und sich mit diesen verquickenden Meeresbuchten. Wegen der Landmassenstruktur Amerikas im Unterschied zum gemischt maritim-terrestrischen Europa kamen die Altamerikaner nie auf die Idee außerkontinentaler Entdeckungsreisen, während die Kolumbus-Expedition von 1492, wie Humboldt unter Verweis auf Leif Erikson vermerkt, schon die zweite Landung der Europäer in der westlichen Hemisphäre war. In diesem Zusammenhang ist nicht uninteressant, dass der Humboldt bekannte hermetische spanische Barockdichter Góngora in seinem Hauptwerk, den Soledades (1636), die Seefahrt verdammte, weil sie zur unrechtmäßigen Inbesitznahme fremder Territorien, so zur Eroberung von Troja und des südlichen Amerika führte. Hieran wird ersichtlich, dass Humboldt Iberoamerika nie als gesonderten Subkontinent, sondern stets als Teil der Erde behandelte. Jede Region, ja jedes kleinteilige Stück des Erdbodens ist für ihn ein Partikel des großen Ganzen Globus, und „globales“ Denken seinem Denken dank seines ständigen „Vergleichens“ aller Weltteile inhärent. Humboldt hatte bereits als junger Reisebegleiter Forsters in den Häfen der Niederlande die Bedeutung der Seefahrt mit eigenen Augen erfahren und vom „länderverbindenden Ozean“ geschrieben. (Biermann 19) Er äußert sich häufig zum mangelnden fluvialen und maritimen Kommunikationssinn der Lateinamerikaner, rügt die Zerstörung der Inkabewässerungsanlagen durch die Spanier und die defekten Kanalbauten in Mexiko. Das riesige, vernetzte, von ihm bereiste Flusssystem Orinoko-Amazonas spielt, weil verkehrstechnisch und wirtschaftlich ungenutzt, ebenfalls keine zivilisatorische Rolle. Vielleicht hat diese terrestrisch-maritime Dialektik Humboldts den argentinischen Staatspräsidenten und Autor des berühmten Buches Zivilisation und Barbarei in der argentinischen Republik (1845), Domingo Faustino Sarmiento, beeinflusst. Dieser war eifriger Leser Humboldts, den er und den Augsburger Maler Johann Moritz Rugendas als die einzigen Europäer bezeichnete, die die Lateinamerikaner wirklich mit der Feder oder dem Pinsel

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verstanden hätten. Er bedauerte, dass weder Spanier noch Lateinamerikaner Seefahrer waren und nicht die vielen Flüsse Lateinamerikas als Verkehrsadern nutzten. Humboldts Überlegungen über die Funktion des Mittelmeeres als kultur-, handels- und kommunikationsförderndes Element zwischen Europa, dem Orient und Afrika finden keine bzw. eine späte und praktisch folgenlose Anwendung auf die Karibische See als quasi amerikanisches Binnenmeer. In seinem KubaEssay betrachtet er die Wasserfläche zwischen den zu Kuba gehörenden Inseln eher wie einen maritimen See: er nennt die Karibische See ein „Mittelmeer“ und Kuba ein „Mittelmeerland“: es „liegt der schöne Hafen von Havanna im mexikanischen Mittelmeer“, schreibt er. (Kub 57) Humboldt erarbeitete eine Reihe kausaler Beziehungen zwischen der Flüssig-Fest-Struktur der Erdkugel und ihren ökonomischen, machtstrategischen und zivilisatorischen Folgen. Im Kosmos kommt er auf die Verteilung von Festem und Flüssigem rund um das Mittelmeer als Ausgangsfokus der Eroberung der Erde durch Griechen und Europäer zurück. Er werde bei Darstellung der Geschichte der Weltanschauung von einem „eingeschränkten Erdraum ausgehen.“ (Ko II, 95): Wir wählen das Meerbecken, um welches diejenigen Völker sich bewegt haben, auf deren Wissen unsere abendländische Kultur (die einzige fast ununterbrochen fortgeschrittene4) zunächst gegründet ist. Hauptströme (...) welche die Elemente der Bildung und der erweiterten Naturansichten dem westlichen Europa zugeführt haben. (! ibd.)

Über dieser Land- und Wasser-Basis-Struktur erheben sich auf der Erde die pflanzlichen, tierischen und menschlichen Erscheinungen, die das Weltbild bestimmen, das Humboldt dem Leser vorschlägt. Horizontal vs. Vertikal - Reise und Weg Das Binom Horizontal vs. Vertikal als Ausdruck terrestrischer Basisbedingungen spielt in Humboldts Geographik nächst der Opposition ErdeWasser die wichtigste Rolle. Es bezeichnet die räumlichen Ausdehnungen der Erde, die qua Kugel notwendig eine dreidimensionale Gestalt hat, der sich alle irdischen Phänomene zu unterwerfen haben, auch ihre Bewohner, die Menschen. Diese Hauptdimensionen der Erde erfuhr er persönlich, biographisch und empirisch nicht erst mit seiner Südamerikaexpedition, sondern bereits in seiner Freiberger Hochschulzeit mit seinen vielen Studienreisen sowie während seiner mehrjährigen Tätigkeit als Bergbeamter im Fränkischen mit permanenten Inspektionsvisiten. Er wurde so zum „horizontalen Reisenden“ par excellence, zum Weltreisenden mit der größten Flächenerfahrung. „Reise“ ist wichtigstes Erkenntnismittel des terrestrischen Forschers Humboldt, insofern ihm sein Wissenschaftsgegenstand nicht ins Haus geliefert 4

Diese wichtige Parenthese stammt von Humboldt, nicht von mir! HOD

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wird, sondern er sich diesen „erreisen“ muss. Erdkundliche Wissenschaften verlangen Ortsveränderungen des forschenden Subjekts in statischem Ambiente. Ein Chemiker reist nicht zu den Chemikalien, um sie zu erforschen. Ein Physiker muss sich nicht an den Ort physikalischer Zustände begeben. Die Ortsveränderung, damit der Wissenschaftler und sein Objekt zusammenkommen und der Forschungsvorgang beginnen kann, erfolgt hier auf Seiten der Objekte, die in die Laboratorien der immobilen Wissenschaftler gebracht werden. Anders bei den terrestrischen Wissenschaften. Deren Objekte werden primär in ihrem räumlichen Vorhandensein und Verbund an Ort und Stelle ihres Vorkommens, und nur dort, unverändert, in ihrem jeweiligen natürlichen Kontext oder Biotop, als statische Phänomene vom sich zu ihnen begebenden mobilen Forschungssubjekt, dem Geo-Wissenschaftler, erforscht. Das ist Bedingung ihres wissenschaftlichen Objektseins für den Geologen, in dessen Arbeitsbereich die topologische Verortung der terrestrischen Objekte gehört. Humboldt nannte sich einen „wissenschaftlichen Reisenden“, womit er seine Ortsveränderungen vom bloßen Tourismus – damals Vergnügungs- und Bildungsreise genannt – und von den modischen Badekuren unterscheiden wollte. Das Attribut „Reisender“ wurde ihm in den Nachschlagewerken wie ein Beruf angehängt. Viele Inspektionen und Studienreisen führten ihn zu Metallund Salzbergwerken in den Alpen, den Mittelgebirgen, in Schlesien, der Schweiz, Norditalien, durch große Teile Europas und des Mittelmeerraumes. Er machte Touren ins Rheinland, die Schweiz, Österreich, Italien, Frankreich, Belgien, die Niederlande, England und Schottland. 1805, nach seiner Amerikareise, besuchte er Rom, Florenz, Bologna, Mailand, Venedig und Neapel. Seine iberoamerikanische Reise, die sich von 1799-1804 über fast fünf Jahre erstreckte und längere Aufenthalte in Spanien und auf den Kanarischen Inseln, in Venezuela, Guayana, Brasilien, Kolumbien, Ecuador, Peru, Kuba, Mexiko und den USA einschloss, war eine für ihn normale Ortsveränderung, Bestandteil seiner Erkundung der Standorte von Mineralen, Vegetabilien und Populationen in der Welt. Die Russlandreise von 1829 diente geodätischer, mineralogischer und meteorologischer Erkundung von Bergwerken, Metallhütten und Bodenschätzen wie Gold und Diamanten. Sie führte ihn über Königsberg, Dorpat, Sankt Petersburg, Moskau, Kasan, Perm, Jekatarinenburg und Tobolsk in Sibirien zum Südostabhang des Altai bis zur chinesischen Grenze und über Semipalatinsk, Tomsk, den Ural, Orenburg, Astrachan, das Wolgadelta, Woronesh, Moskau und Sankt Petersburg zurück nach Berlin. Kein Mensch machte seinerzeit so viele ausgedehnte Reisen wie Humboldt, wobei schon die An- und Rückfahrten unter damaligen verkehrstechnischen Bedingungen anstrengend und zeitraubend waren. Der französische Humboldtforscher Charles Minguet weist schon im Titel seines Vorworts zur Pflanzengeographie „Alexandre de Humboldt, le voyageur scientifique“, auf die für Humboldt charakteristische Verbindung von Wissens-

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erwerb und Ortsveränderung hin. Im Vorwort letzter Hand zum Äquinoktialen Tagebuch vom 26. März 1859 bezeichnet sich Humboldt selber als „wissenschaftlichen Reisenden“. Zur Russlandreise habe ihm sein Bruder Wilhelm geraten, „weil er fühlt, dass mein eigentlicher Wirkungskreis das Reisen, das Leben in der freien Natur ist“. (Knobloch 104) Dazu stellt Knobloch fest: „Während Gauß (in Kehlmanns Roman das Pendant zu Humboldt, HOD) größere Reisen nach Möglichkeit vermied, verschmolzen bei Humboldt Reisen und Forschen zu einer notwendigen, unauflösbaren Einheit“. (ibd., 99) Reisen ist für Humboldt gleich Forschen, kein Mittel zum Zweck, einen Zielort zu erreichen, sondern um an Untersuchungsmaterial heranzukommen, also Ausdruck seines prinzipiellen Empirismus. Reisen als Mittel zum Erwerb und Produktion von Wissen „über die Welt“ als flächige Extension spielt in seiner Biographie eine Hauptrolle. Noch im Kosmos singt er eine Lobeshymne auf das Reisen: Dieses wirke „kräftig auf die Liebe zum Naturstudium.“ (Beck in Ko I, 405f.) Reisen stimuliere den Reisenden emotional und umgekehrt. Er lernte als junger Mann von Georg Forster wissenschaftliches Reisen regelrecht wie ein Handwerk. Beider Reisen durch Deutschland und in viele europäische Länder waren Lehr- und Lernzeiten des Forschens und Reisens: „Mit Alexander erarbeitet Forster mit Genauigkeit und Tiefe alle möglichen Disziplinen. Von Deutschland nach England über Holland und Belgien über den Rhein bringt er ihm besonders die Beschreibung der Natur unter allen ihren Formen bei.“ (Fayet 37) Waren die meisten Entdeckungs- und Forschungsreisen von der Antike bis zu Charles Darwin Seereisen mit entsprechend begrenzter Küstenforschung vom Schiff, Ufer oder Hafen aus, rühmt sich Humboldt seiner großen und langen Landreisen, durch welche er Territorien, Natur und Menschen kennen lernte: Es ist mir ein Glück geworden, das nur wenige wissenschaftliche Reisende in gleichem Maß mit mir geteilt haben: das Glück, nicht bloß Küstenländer, wie auf den Erdumseglungen, sondern das Innere zweier Kontinente in weiten Räumen (...) zu sehen. (Ko I,8)

Sein Interesse für Flüsse und Ströme dagegen ist mäßig. Im Flusssystem Orinoko-Amazonas examiniert und beschreibt er Wasserpflanzen und -tiere: Fische und Amphibien, Krokodile, Schildkröten, elektrische Aale und Piranhas, fluviale Eigenheiten wie die zwei Hauptflusswassersorten (schwarzes und weißes Wasser) mit ihren unterschiedlichen biologisch-chemischen Bestandteilen sowie die Stromschnellen. Die Ozeanüberquerungen von Europa nach Amerika und zurück hinterlassen wenig Spuren in seinen Schriften: die Beschreibung des nur mehrtägigen Aufenthalts auf Teneriffa, der dortigen Berge und Pflanzen ist bei weitem ausführlicher als die der betreffenden mehrwöchigen Seereise. Mehr Interesse hat er für künstliche Wasserstraßen als Mittel des ihn aus praktischen Gründen interessierenden Binnentransports, von Handel, Verkehr

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und Kommunikation. Er schlägt den Mexikanern mehrere Varianten eines Panamakanals vor zwecks Schaffung einer direkten und billigen Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik, und das Anfang des 19. Jahrhunderts, ein Dreivierteljahrhundert vor dem Baubeginn durch die französische LessepsGesellschaft und mehr als ein Jahrhundert vor Inbetriebnahme des PanamaKanals durch die USA im Jahre 1914! Die Transport- und Kommunikationsmittel interessieren ihn über ihre Funktion als Mittel des Handelsaustauschs und Personenverkehrs hinaus im Rahmen seiner Erdmetaphysik als Instrumente der Integration isolierter Gebiete und Völker in den Weltzusammenhang bzw. die Menschheit, wie wir später sehen werden. Empirismus, Reisen und Feldforschung gehören bei Humboldt zusammen. Seine Reisen dienten der Feldforschung – ein neuer aufkommender Typ institutionalisierten Forschens, womit er sich von den Laboratoriums- und Schreibtischgelehrten unterschied. Wie sehr er damit von der Pariser Wissenschaftselite abstach, zeigt die Verachtung des nie gereisten „sédentaire“ Cuvier für den „naturaliste voyageur“ Humboldt, worauf Gayet (Préface, 11) anspielt. Laut Humboldt merke man Buffon an, „daß er Mitteleuropa nie verließ, daß ihm die eigene Ansicht der Tropenwelt fehlt, die er zu beschreiben glaubt“. (Ko II, 57) Viel Gravierenderes hätte er von Hegel, de Pauw oder Raynal sagen können, die Amerika ebenfalls nicht aus eigener Anschauung kannten, sich jedoch in der „Berliner Debatte über die Neue Welt“ detailliert in negativen, unzutreffenden und besserwisserischen eurozentristischen Urteilen über den fernen Subkontinent ergingen. Und Humboldts Gegenpol Claude Lévi-Strauss beginnt seine Traurigen Tropen mit dem für seine Kollegen skandalösen Satz: „Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende“ (7). Er hasste auch die Feldforschung. Humboldts Objektivität, d. h. Wissenschaftlichkeit, die die Genauigkeit und Wirklichkeitsadäquatheit seines Welt- und Menschenbilds verbürgt, hängt mit seinem Status als Privatreisender zusammen. Während nur wenige andere zeitgenössische „Reisende“ wie Darwin, Leopold von Buch oder Theodor KochGrünberg genuine Forschungszwecke verfolgten, waren die meisten – David Livingstone, Cecil Rhodes, Gustav Nachtigal, Dr. Carl Peters oder der im britischen Auftrag handelnde Sir Robert Schomburgk – Agenten von Regierungen oder Handelskompagnien zur Rekognoszierung der Bodenschätze, Böden und politischen Verhältnisse und handelten aus kolonialen oder kommerziellen Interessen. Humboldt aber war pekuniär, ideologisch und moralisch unabhängig, insofern er seine lange Südamerika-Expedition samt Kosten für seinen Sekretär Bonpland sowie für den Druck seiner umfangreichen und kostspielig illustrierten Werke aus dem Erbteil seiner Mutter bezahlte. Er war weder industriellen und kommerziellen Unternehmungen und staatlichen Instanzen, Sponsoren oder Mäzenen rechenschaftspflichtig noch Zensoren untertänig:

18 Meine Unabhängigkeit wird mir mit jedem Tage teurer, dabei habe ich nie, nie eine Spur von Unterstützung irgendeines Gouvernements angenommen, und falls deutsche Zeitungen vielleicht einen englischen, mir übrigens sehr schmeichelhaften Artikel übersetzen - daß ich mit Aufträgen vom spanischen Gouvernement reise und zu einem hohen Posten im Rat von Indien bestimmt sei - lache darüber wie ich. (Humboldt 1987, 176)

Aus dieser Unabhängigkeit leitet sich die extrem unparteiische und nahezu ideologiefreie Wissenschaftlichkeit des von ihm vermittelten Weltbildes ab. Seine Reise nur zu uneigennützigen wissenschaftlichen Zwecken erschien einem ihm begegnenden Missionar „zum wenigsten ganz unnütz“ (Äqu 93). Heute, da Ökonomisierung die Wissenschaften regiert, ist diese finanzielle Nonchalance noch unglaublicher als zu Humboldts Zeiten. Der routinemäßig zu verfassende Reisebericht oder das simultan geschriebene Reisetagebuch gehören zur Reise dazu. Die volkstümliche Redensart „Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen“, verdankt sich dieser speziellen Diskurspraxis. Humboldt stellt sich mit seinen Reisejournalen bewusst in eine lange Traditionslinie und beschreibt die Reisen und Reiseberichte seiner Vorgänger, der „Entdecker“: er gehört mit Reinhold Forster (Vater) und Chateaubriand zu den ersten Historiographen der Weltreisen. Referenzen zu großen Reisenden finden sich überall in seinen Schriften: er kommentiert den ausgangs des 13. Jahrhunderts von Marco Polo einem Mitgefangenen diktierten Bericht über seine Asienreise, das „Bordbuch“ des Christoph Kolumbus, die „Reisebeschreibungen“ von Amerigo Vespucci, James Cook, Georg Forster und Robert Schomburgk. Chateaubriand (44) beginnt seinerseits seinen Bericht über seine Amerikareise mit einer Geschichte der Reisebeschreibungen von der Antike bis zum „illustren Humboldt, (...) der alles beschrieben und alles gesagt hat“. Die Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent, fait en 1799, 1800, 1801, 18o2 1803 et 1804 par Alexandre de Humboldt et Aimé Bonpland, rédigé par Alexandre de Humboldt, ist laut dem Mexikaner Jaime Labastida (384) „das umfangreichste und substantiellste Reisewerk, das je von einer Einzelperson verfaßt wurde“. Humboldt stellte fest, dass erst zu seiner Zeit die wissenschaftlichen Reisebeschreibungen und mit ihnen die wissenschaftliche Aneignung der Erde zu überwiegen begannen, im Unterschied zu den exotisierenden Erlebnisdarstellungen der Entdecker und Eroberer des 15. und 16. Jahrhunderts. Konstatierte er bei Mandeville noch „Dürftigkeit der (dargestellten) Natur“ und „wenig belehrende Bergbesteigungen“ (Ko II, 60f.), so sei nun die abenteuerliche Handlung nur noch ein Mittel, um Natur- und Sittenbeobachtungen aneinander zu reihen, „weil die Vervollkommnung der Bewegungsmittel auf Meer und Land die Welt zugänglicher, ihre einzelnen Teile in der weitesten Ferne vergleichbarer macht.“ (ibd., 61) Es geht Humboldt nicht nur um das an ihm gerühmte „Vergleichen“ zwecks Gleichstellung oder Differenzierung europäischer und amerikanischer Phänomene, sondern um die Komplettierung des Bildes der Welt durch Nennung der jeweils der gleichen Klasse zugehörenden irdischen Phänomene an

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unterschiedlichen Standorten, um so zu der von ihm stets erstrebten Gesamtsicht von Erdball und Menschheit als „Einheit in der Verschiedenheit“, ein von ihm gern gebrachtes Schlagwort, zu gelangen. Für ihn war Reisebeschreibung ein sowohl literarisches wie wissenschaftliches Diskursgenre, das die empirische Eroberung des Erdballs durch die Menschen, die Verwandlung von Natur in Kultur dokumentiert und publik macht. Kleinteilige Feldforschung vs. Studierzimmergelehrsamkeit In einem Brief vom 11. April 1799 an seinen Freund Friedländer entwickelte Humboldt ein rein naturwissenschaftlich-geographisches Feldforschungsprogramm für seinen Aufenthalt in dem „Weltteil, den ich von Kalifornien an bis Patagonien zu durchlaufen gedenke“: Ich werde Pflanzen und Tiere sammeln, die Wärme, die Elektrizität, den magnetischen und elektrischen Gehalt der Atmosphäre untersuchen, sie zerlegen, geographische Längen und Breiten bestimmen, Berge messen (...) und den Einfluß der toten Natur auf die belebte Tierwelt untersuchen.

Mit „toter Natur“ sind geologische Materialien und Zustände: Minerale, Klima, Temperaturen, Elektrizität, Magnetismus, Atmosphäre, Längen- und Breitengrade und Bergeshöhen gemeint, die er von den Lebewesen, „der belebten Tierwelt“ abgrenzt – von Menschen ist hier noch keine Rede: Zwischen beiden Teilbereichen der Natur visiert er anfangs eine einseitige Beziehungsrichtung an, den „Einfluß der toten Natur auf die belebte Tier- und Pflanzenschöpfung“, später ist es umgekehrt. Auf die „Scheidung von Meer und Land“ folge, schreibt er im Kosmos, „das Leben, das als zelliges Gewebe der Pflanzen und Tiere sich entwickelt“, (Ko I, 64), sich im Schleidenschen Sinn aus der unzelligen Mineralwelt herausarbeitet – Vorahnung der Zellforschung als Feld der Entschlüsselung des Rätsels des Lebens. Der Umfang dieses erd- und naturwissenschaftlichen Forschungsprogramms ließ ihm keine Zeit für private oder touristische Aktivitäten. So bemerkt er über den Aufenthalt in Cumana (= Cumaná): „Ich war am 29. Oktober schon (...) um fünf Uhr morgens auf dem Dach unseres Hauses, um mich zur Beobachtung der Sonnenfinsternis zu rüsten“, nachdem er am Vorabend noch Pflanzen und Steine klassifiziert hatte: Die beschlossene Fahrt auf dem Orinoco und Rio Negro erforderte Zurüstungen aller Art. Wir mußten die Instrumente auswählen, die sich auf engen Kanoes am leichtesten fortbringen ließen. (Äqu 132) (Über eine Schiffsexkursion auf dem Rio Manizares): Unser Hauptzweck bei dieser kleinen Reise war, die Trümmer des alten Schlosses zu Araya besehen, die Salzwerke zu besuchen und auf den Bergen, welche die schmale Halbinsel Maniquarez bilden, einige geologische Untersuchungen anzustellen. (ibd., 80)

Laut Minguet verbrachte er 307 von 1. 500 Tagen seiner Reise mit astronomischen Beobachtungen. Das Ergebnis war die erstmalige wissenschaft-

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liche Präsentation zehntausender Mineralien, Erze, Gesteine und Bodenproben. Auch demonstrierte er die Geographie der lateinamerikanischen Flora auf einer berühmten Zeichnung (Naturgemälde der Tropenländer) mit einer Vielzahl namentlich eingezeichneter Pflanzenfamilien an den Abhängen der Berge. Er beschrieb ihre Standorte und Höhenlagen und bei welchen Temperaturen und Klimabedingungen welche Pflanzengattungen und -familien wuchsen, detaillierte ihre Biotope und Lebensweisen. Auch schrieb er eine dürre Geographie amerikanischer Land- und Wald- (Pumas, Lamas) sowie Wasser-tiere (Elektroaale, Piranhas, Seekühe) und ein Kapitel über den merkwürdigen Nachtvogel Guácharo. Er kartierte und beschrieb Iberoamerika als ein Natur- und Geowissenschaftler, der sich die Feldforschung, die kleinteilige Erfassung der Erdräume, das Stricken der Maschen am großen Netzwerk der Erde zur Hauptaufgabe gemacht hat. Diese Kleinteiligkeit ist in den wenig kultivierten Gebieten an die Dominanz der Natur gebunden und weicht erst in dem Maße, in dem er sich den stärker besiedelten Gebieten zuwendet, größerer Flächenbeschau, die von den Städten über die Länder und Kontinente bis zur Erdkugel des Kosmos als maximalem Lebensraum des Menschen reicht. „Weg“ als Episteme und Element Humboldtscher Feldforschung Feldforschung und „Weg“ gehören für Humboldt zusammen. Ist „Reise“ Mittel zu Bewältigung großer horizontaler Entfernungen zwecks Erreichung vorbestimmter forscherischer Zielorte, so dient „Weg“ direkter, kleinfeldriger empirischer Feldforschung in Bodennähe. „Weg“ meint gegenüber „Reisen“ als zeitlich aufwendiger, Tage und Wochen umfassender Ortsveränderung eine Kurzstrecke als unmittelbares, direktes Detail der Forschungsarbeit. Wichtiger noch ist der ontologische Unterschied zwischen beiden Fortbewegungsarten. Meint „Reisen“ die Ortsveränderung des mobilen Subjekts, so „Weg“ die von der respektiven Benutzung unabhängig existierende, unveränderliche, oft unsichtbare immobile Bahn. „Reisen“ ist Ortsveränderung des menschlichen Subjekts, „Weg“ die vorgegebene Erstreckung, auf der sich dieses Subjekt „bewegt.“ Etymologisch hängen im Deutschen „Bewegung“ und „Weg“ zusammen: Sich bewegen heißt sich auf den Weg machen. „Weg“ und „Reise“ mit den Ortsbestimmungen „unterwegs“ und „Ziel“ sind für Humboldt nicht Akzidentien, sondern Konstituenten wissenschaftlichen Arbeitens. „Unterwegssein“ ist ihm weder marginales Erlebnis eines Spaziergangs noch notwendige Strecke, um irgendwo „anzukommen“, sondern „der Weg ist das Ziel“, nämlich die Erforschung der Objekte am Wegrand. Weg war bei Humboldt identisch mit Fußweg, denn meistens ging er zu Fuß, um die Bodenperspektive zu behalten und alle am Wege auftauchenden potentiellen Wissenschaftsobjekte wahrnehmen und erhaschen zu können. Er bezeichnete sich als einen Menschen, der „an den Boden und seine Naturverschiedenheit gebannt ist“. Er verbrauchte mit dieser Fortbewegungsart

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in Südamerika sechzehn Paar Stiefel. Er verschmähte es, auch aus Gründen der Achtung der menschlichen Würde, sich von Indios oder Negersklaven in der Hängematte, damals in der Wildnis übliches Transportmittel für Weiße, tragen zu lassen. Auch ließ er es nicht zu, auf dem Rücken eines Arbeiters wie es der Gepflogenheit entsprach durch ein Bergwerk getragen zu werden. Neben dieser hehren Begründung ließen ihn auch praktische Forschungsumstände die Fortbewegung als Fußgänger bevorzugen: Nur so konnte er drei ihm wichtige wissenschaftliche Objektbereiche ständig in Kontrolle halten: 1. die direkt am Erdboden befindlichen Minerale, Steine, Erden und Böden; 2. die Pflanzen, vor allem Gräser und Stauden; sowie 3. zoologisch-entomologische, sich am Erdboden bewegende Kleinobjekte wie Insekten, Kriechtiere, Käfer. Alle diese Kleinobjekte, die Humboldt und Bonpland tagsüber am Wege gesammelt hatten, untersuchten, klassifizierten und präparierten sie abends in der Unterkunft. Stiegen die Expeditionäre zu Tal, so „ich immer zu Fuß“. (Ma 59) Vom Aufstieg auf den Altisana schreibt er: Der Wind nahm auf jenem Bergrücken so stark zu, daß, wenn man erst einmal den Fuß auf die Erde gesetzt hatte, um einige Pflanzen zu sammeln oder Steine zu prüfen, es fast unmöglich war, wieder auf das Maultier zu steigen. Man hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. (Ma 57, Hervorh. HOD)

Für Habhaftwerdung, Untersuchung und Einfangen der bodenverhafteten Gesteine, Pflanzen und Tiere war die übliche Hängematten- oder Reiterperspektive unpraktisch: sie hätte ihn an der Wahrnehmung dieser Objekte gehindert und zu ständigem umständlichen Wechsel zwischen Ab- und Aufspringen zwecks genauer Inaugenscheinnahme und Bergung des Transportgutes genötigt: Die Kreolen vertrauen der Gewandheit und dem glücklichen Instinkt der Maultiere so sehr, daß sie auf dem langen, gefährlichen Wege abwärts im Sattel bleiben. Wir stiegen lieber ab, da wir Anstrengung weniger scheuen als jene und gewöhnt sind, langsam vorwärts zu kommen, weil wir immer Pflanzen sammelten und die Gebirgsarten untersuchten. (Ma 11)

Der Weg führte ihn nicht zu den Untersuchungsobjekten hin, sondern bot sie ihm als biotopisches Ziel dar. Seine philosophischen Überhöhungen betreffen den „gebahnten und anmutigen Weg“ zum Gipfel: An ferne Wanderungen gewöhnt, habe ich ohnedies vielleicht den Mitreisenden den Weg gebahnter und anmutiger geschildert, als man ihn finden wird. Das ist Sitte derer, die gern andere auf die Gipfel der Berge führen. Sie rühmen die Aussicht, wenn auch ganze Teile der Gegend in Nebel gehüllt bleiben. (Ko I, 40f.)

Humboldt ging auch auf seiner Russlandexpedition als Sechzigjähriger lange Strecken zu Fuß. Sein Begleiter General Helmersen, erinnert sich: “Er ritt auf den Exkursionen nie. So man im Fuhrwerk nicht weiter konnte, stieg er aus und ging zu Fuß weiter, ohne sichtbare Ermüdung hohe Berge ersteigend oder

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über Steinmeere kletternd“. (Botting 299) Während der langen Russlandreise legte er in 23 Wochen 124.500 Werst zurück, passierte 658 Poststationen und wechselte 12.244 Pferde. (Humboldt 1983, 160) – Seine Fußläufigkeit soll hier weniger als Ausweis seiner physischen Leistungsfähigkeit gelten als vielmehr als Grundbedingung seiner Bodennähe, seines Empirismus. Mit der wissenschaftlichen Erfassung der Böden, Pflanzen und Kleinlebewesen sowie in gewissem Umfang der Tierwelt Amerikas leisteten beide Forscher einen zur damaligen Zeit einzigartigen Beitrag zur Gesamtdarstellung der Natur der Erde, wie sie Humboldt im Fragment gebliebenen Kosmos geplant hatte. Gegenüber den „Wegen“ fungierten die Wohnorte, die er und Bonpland während ihrer Orinokoreise anstrebten, nur als technische Aufenthalte, um zu rekognoszieren, Vorräte zu ergänzen, Quartier zu nehmen, notwendige Behördengänge durchzuführen, Post zu erledigen, sich vom vergangenen Reisetag auszuruhen oder eine Erkrankung zu kurieren. Diese wissenschaftlichen „Leerzeiten“ führt Humboldt im Zeitraffer, in merklich zeitlich-textlicher Verkürzung im Verhältnis zur Realzeit vor, so wenn er lapidar einen ganzen Arbeitstag in einem Satz resümiert: „Endlich am 22. September brachen wir auf mit Maultieren, die unsere Instrumente und Pflanzen trugen“. (Äqu 115) Wissenschaftlich fündige Wegstrecken dehnt er dagegen in Zeitlupe: Von Sonnenaufgang bis Einbruch der Nacht streiften wir durch die benachbarten Wälder und Berge, um Pflanzen zu sammeln, deren wir nie genug beisammen haben konnten (...) nachdem wir fast den ganzen Tag im Freien zugebracht, schrieben wir abends im Kloster unsere Beobachtungen und Bemerkungen nieder, trockneten unsere Pflanzen und zeichneten die, welche nach unserer Ansicht neue Gattungen bildeten. (etc., etc, etc., 114 )

Humboldt nutzte für seine naturkundlichen Forschungen „auf dem Weg“ durchgängig das Augenmaß. Aus den je unterschiedlich positionierten wissenschaftlichen Objekten längs seines Weges zu Lande und zu Wasser von insgesamt mehr als 2.725 km folgt auch eine je verschiedene Wahrnehmungsperspektive des sich auf der horizontalen Ebene bewegenden Betrachters und Forschers Humboldt. Die erste Perspektive ist die bodennahe, aus der die sich bückenden oder niederknienden Fußgänger Humboldt und Bonpland die Böden, Minerale, Steine, Unterholz und Niederwild wahrnahmen. Diese Perspektive benötigten sie, weil sie „Pflanzen sammelten und die Gebirgsarten untersuchten“. (Äqu 116) Die zweite, ein wenig höhere, ist die des aufgerichteten, mit Fernrohr ausgestatteten Explorators, der auf mittlerer Distanz das Ineinander der Bäume, Schlingpflanzen und Baumschmarotzer entwirrt, wie in folgender Schilderung eines Durchwanderns der Dickichte: Ein ungeheurer Wald breitete sich zu unseren Füßen bis zum Ozean hinab; die Baumgipfel, mit Lianen behangen, mit langen Blütenbüscheln gekrönt, bildeten einen ungeheuren grünen Teppich, dessen tiefdunkle Färbung das Licht in der Luft noch glänzender erscheinen ließ.

23 Dieser Anblick ergriff uns um so mehr, da uns hier zum erstenmal die Vegetation der Tropen in ihrer Massenhaftigkeit entgegentrat. (...) Der Reisende behält die Orte lieb, wo er zuerst ein Pflanzengeschlecht angetroffen, das er bis dahin nie wild wachsend gesehen hatte (Äqu 89)

Er weiß nicht zu sagen, was mehr sein Staunen erregt, die feierliche Stille der Einsamkeit, die Schönheit der einzelnen Gestalten und ihrer Kontraste, oder die Kraft und Fülle des vegetabilischen Lebens. Es ist, als hätte der mit Gewächsen überladene Boden gar nicht Raum genug zu ihrer Entwicklung (welch treffende Hyperbolik!, HOD). Dieselben Lianen, die am Boden kriechen, klettern zu den Baumwipfeln empor und schwingen sich, mehr als 30 Meter hoch, von einem zum anderen. So kommt es, daß, da die Schmarotzergewächse sich überall durcheinander wirren, der Botaniker Gefahr läuft, Blüten, Früchte und Laub, die verschiedenen Arten angehören, zu verwechseln. Wir wanderten einige Stunden im Schatten dieser Wölbungen, durch die man kaum hin und wieder den blauen Himmel sieht. (ibd., 91)

Dritte Perspektive ist das Panorama von erklommenen Gebirgszügen herunter auf die vor den Reisenden liegende Landschaft. Im Unterschied zu den Nah- und Großaufnahmen handelt es sich hier, in filmische Termini übersetzt, um Totalen. Mit höchstem ästhetischen Genuss beschreibt er den Blick vom Gipfel auf das Landschaftspanorama: Auf einem Sandsteinhügel über der Quelle hatten wir eine prachtvolle Aussicht auf das Meer, das Vorgebirge Macanao und die Halbinsel Maniquarez (...) Wir erstiegen eine ziemlich hohe Berggruppe, welche die Küste von den großen Ebenen oder Savannen an den Ufern des Orinoko trennt. (...) Wir kamen kurz vor Sonnenuntergang auf dem Gipfel an, und ich konnte eben noch ein paar Stundenwinkel aufnehmen, um mittels des Chronometers die Länge des Ortes aufzunehmen (Äqu 88ff). Auf dem höchsten Punkt des Kammes angelangt, hatten wir eine interessante Fernsicht. Wir übersahen mit einem Blick die weiten Savannen von Maturin und am Rio Tigre, den Spitzberg Turimiquiri und zahllose parallel streichende Bergketten, die von weitem einer wogenden See gleichen. Gegen Nordosten öffnet sich das Tal, in dem das Kloster Caripe liegt. (ibd., 106)

Den Höhepunkt bildet seine Schilderung des nach langer Wanderung ersehnten erstmaligen Blicks von den Anden auf den Pazifik: Nachdem wir in 2¼ Stunden eine Felsmauer von fast 700 Toisen Höhe erstiegen hatten, sahen wir von der Höhe der Anden die Südsee. Es war das erste mal, daß sie sich klar unseren Blicken zeigte. Vom Páramo de Guamari an hatten wir sie nur vermutet. Oft glaubten wir seitdem, sie wahrzunehmen. Diese Hoffnung belebte uns bei dem mühsamen Aufstieg, den wir täglich bei dieser letzten Überquerung der Andenkordillere unternahmen. Bis zur Anhöhe von Huangamarca wurden wir immer getäuscht. Es fand sich irgendein Gebirge, das uns den Blick versperrte, obgleich wir alle Anstrengungen unternahmen, um höher zu kommen. So erhebt man sich in der moralischen oder geistigen Welt zu allgemeinem Ideen, zu Grundsätzen, von denen alles auszugehen scheint, aber wir finden immer etwas, was unseren Blick beschränkt. Glücklich der Mensch, der seine Grenzen erkennt und der nicht Wolken für den Horizont hält, den er sucht. In dieser Erkenntnis besteht unsere ganze Philosophie.(...) Die Südsee läßt mich erhebende Ideen entstehen. Auf dem Rücken der Anden, umgeben von den Überresten eines

24 klugen und fleißigen Volkes (der peruanischen Indios, HOD), suchten unsere Augen jene glücklichen (Südsee-) Inseln, wo noch diese Unschuld der Sitten besteht, diese Charakterstärke, die die Europäer hier zerstört haben. (Ma 162)

Diesen erstmaligen Höhenblick von der Cordillere auf den Stillen Ozean als krönenden Abschluss einer langen, mühsamen Wanderung durch Urwälder, Steppen und Gebirge hat er dem Conquistador Núñez de Balboa nachempfunden: Humboldt evoziert seine früheste Kindheitserinnerung an ihn (AdN 166): In die Sehnsucht nach dem Anblick der Südsee vom hohen Rücken der Andenkette mischte sich das Interesse, mit welchem der Knabe (A.v.H. selber, HOD) schon auf die Erzählung von der kühnen Expedition des Vasco Núñez de Balboa gelauscht, des glücklichen Mannes, der, (...) der erste unter den Europäern, von den Höhen von Querequa auf der Landenge von Panamá, den östlichen Teil der Südsee erblickte.

In einem eindrucksvollen, kurz hingeworfenen Satz erwähnt er im Kosmos, dass Balboa, „ein Schwert in der Hand, bis zum Knie in die Fluten tretend, für Kastilien Besitz von der Südsee zu nehmen glaubte“. (Ko II, 250) Es ist einer der großen unbemerkten Zufälle der deutschsprachigen Literatur, dass Stefan Zweig in der ersten Geschichte der „Sternstunden der Menschheit“: Flucht in die Unsterblichkeit. Die Entdeckung des Pazifischen Ozeans, 25. September 1513 ebenfalls diese erstmalige Begegnung Núñez de Balboas mit dem Stillen Ozean als Vedute von einer Berghöhe aus nachgestellt hat: (...) nun, da er am Gipfel angelangt ist, eröffnet sich vor ihm (vor Núñez de Balboa; HOD) ein ungeheurer Blick: Hinter den abfallenden Bergen, den waldig und grün niedersinkenden Hügeln liegt endlos eine riesige, metallen spiegelnde Scheibe, das Meer, das Meer, das neue, das unbekannte, das bisher nur geträumte und nie gesehene, das sagenhafte, seit Jahren von Kolumbus und allen seinen Nachfahren vergebens gesuchte Meer, dessen Wellen Amerika, Indien und China umspülen. (Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit, Aufbau Verlag Berlin 1987, S. 21)

Trotz Betonung des ästhetischen und Genussaspekts des visuellen Eindrucks spricht aus Humboldts landschaftsordnender Beschreibung – im Unterschied zum Impressionismus des Literaten Zweig – unmissverständlich der Geograph und Wissenschaftler. Humboldt hatte eine erzählstrategische Neigung zur Überschau der physischen Welt vom Gipfel eines Berges, die Scott Slovic in Alexander von Humboldt´s comparative method of landscape description eingehend untersucht. In Ansichten der Natur schreibt er „Die Aussicht auf die ferne Steppe ist um so auffallender, als man lange, im Dickicht der Wälder, an einen engen Gesichtskreis, und mit diesem an den Anblick einer reichgeschmückten Natur gewöhnt ist.“ (AdN 44, Anm. 16) Charakteristisch für ihn die Entgegensetzung der konträren horizontalen Perspektiven Ferne vs. Nähe, bzw. Weite (der leeren Steppe) und Enge (des Urwalddickichts).

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Man kann die epiphanische, fast exstatische Heraushebung des plötzlichen Auftauchens des langersehnten Meeres durch Humboldt als eines seltenen, „hohen“ Augenblicks – natürlich als Anspielung auf Fausts „höchsten Augenblick“ – hier „höchst“ in doppelter Bedeutung – oder als „Sternstunde“, wie es Zweig bezeichnet, deuten. Eine solche Poetik des “erfüllten Augenblicks“ hat Friedrich Wolfzettel (2001) nicht bei diesem Blickpanorama, sondern an anderen Passagen von Humboldts Tagebuch festgestellt: sie ist diesem Frankfurter Romanisten zufolge ein Gemeinplatz der Reiseberichte der „empfindsamen Aufklärung“. Dass Humboldt letzterer nahe stand, erweist seine und Bonplands von mir andernorts beschriebene mitten im gewitterkrachenden Urwald erfolgende tränenrührige Lektüre von Bernardin de Saint-Pierres im Geiste Rousseaus verfasster Tropenbeschreibung im Roman Paul et Virginie. Es ist der bei Humboldt häufige Zusammenfall von Raum und Zeit, von Höhenpanorama und höchstem Augenblick als subjektive durée (Dauer) und nicht als temps (Zeit) im Sinne Henri Bergsons. Doch über alle ästhetische Faszination hinaus, die wie stets bei Humboldt auch hier zur „physischen Weltbeschreibung“ gehört und das Weltbild in den verschiedensten landschaftlichen Facetten mitprägt, ist auch dieses Aufeinanderstoßen von Anden und Pazifik eine Inszenierung von Trennung und Verbindung, insofern der Stille Ozean Amerika von Asien trennt, aber auch beide Kontinente, die Neue Welt, die Kolumbus fälschlich für Indien hielt, mit dem wirklichen Indien und dem China des Marco Polo verbindet. Die ins Werk gesetzte optische Staffelung der Perspektiven auf horizontaler Ebene ist einer von Humboldts Vorgriffen auf moderne Filmtechnik, insofern er mittels zoom weiter entfernt Liegendes heranholt bzw. Nahes vergrößert, wozu er sich der damaligen technischen Instrumentarien Fernrohr, Lupe, Vergrößerungsglas bediente, deren Bedeutung für die Erforschung der Erde er im Kosmos hervorhebt. Er changiert ständig zwischen Panoramen und Totalen, zwischen Mikro-, Nah- und Großaufnahmen, beschreibt den Urwald aus wechselnden Perspektiven des Wanderers und beteiligt den europäischen Leser am Erlebnis dieser fremden amerikanischen Natur. Humboldt betrieb seine mikrostrukturelle Feldforschung stets als regionale Erkundung der Erdrinde und fügte das Teilstück Südamerika aus der Nah- und Fernperspektive in das Gesamtbild der Erde ein.

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Zweites Kapitel: Humboldts Personalbiographie und seine Welt- und Schreibstrukturen Die im vorigen Kapitel aufgelisteten Binomien scheinen als Hauptstrukturelemente seines Weltbildes, d. h, seiner physischen Weltbeschreibung und damit der Weltstrukturen, von früh an vorhanden zu sein. Sie lassen sich nicht schlüssig aus seiner empirischen Erlebens-Biographie entwickeln, dazu sind sie viel zu abstrakt. Humboldt war nicht nur ein vielgereister, sondern auch ein viel belesener Mann, und er bezog einen Großteil seiner im Wortsinn universalen Kenntnisse aus seinen umfangreichen und früh begonnenen Lektüren, die sein Weltbild im wesentlichen formierten, das durch seinen prinzipiellen Empirismus zwar wesentlich erweitert und differenziert, aber nicht begründet worden war. Seine ihn prägenden Lektüren bestanden nicht nur und nicht einmal in erster Linie aus sogenannter Fachliteratur der Naturwissenschaften, zu deren Hauptvertreter er von einem Teil der Humboldtliteratur immer wieder in einer Art permanenten Reduktionismus erklärt wird, sondern auch und sogar in erster Linie aus philosophischen, geowissenschaftlichen und kosmologischen Werken von den griechischen und römischen Klassikern über Albertus Magnus und Nikolaus von Cues, und Denkern und Dichtern der Renaissance wie Dante Aleghieri und Bembo und deren Nachfolger Kepler, Leibniz und Newton bis hin zu den französischen Aufklärern Rousseau und Voltaire und dem deutschen Idealismus von Kant und Schelling, bis zu Goethe und Schiller. Aus dieser Quelle speiste sich sein binäres, dialektisches und evolutives Denken, das er wohl als erster in dieser Breite und Tiefe in die Naturforschung einführte. Seine diesbezüglichen empirischen Forschungen führten ihn also keineswegs auf deduktivem Wege zu seinen wissenschaftlichen Fundamentalerkenntnissen, sondern bestätigten und bereicherten seine a priori angeeignete Metaphysik der Erde in allerdings umfassender Weise. Es ist deshalb ein Ding der Unmöglichkeit, seinen prinzipiell schon früh interiorisierten funktionalen Strukturalismus in seinem Werden anhand seiner Forscherbiographie zu verfolgen und zu belegen, die eher dessen permanentes a-priori-Vorhandensein bestätigt. Dennoch gibt es natürlich eine ganze Reihe biographischer Phänomene auch in seiner gewissermaßen vorwissenschaftlichen Lebensphase, in Kindheit und Jugend, die auf Humboldts wissenschaftsphilosophisches, strukturalistisch orientiertes Denken vorausweisen. Tegeler Natur vs. Berliner Kultur oder Land vs. Stadt Humboldt entwickelte früh eine intensive, sich lebenslang steigernde Affektion für die Wissenschaft, die nicht aus bloßem Zufall bei einem dem preußischen Beamtenadel entstammenden, jungen Mann entstanden ist, wie auch bei

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seinem Bruder Wilhelm nicht, der ebenfalls eine erfolgreiche Intellektuellenkarriere durchlief. Tegel war ein kleines Dorf in der Nähe von Berlin und nicht der heutige großstädtische, weltweit bekannte Flughafen mit seinem metropolitanen Flair, sondern eine verlassene Landgemeinde mit dem Schloss der Humboldts, ein Ambiente, das Alexander das ihn hauptsächlich prägende Grunderlebnis der Natur bot und damit seine Naturforscherkarriere vorprogrammierte. In vielen biographischen Abhandlungen wird die Naturliebe erwähnt, die ihn „in dürftige Sandnatur eingezwängt“ (Biermann 199) umfing, ihn, der gern draußen auf den Feldern herumtollte, wo er „die ersten Kindheitseindrücke von der großen Welt der Natur empfing, die ihm in Tegel so nahe war auf den Wiesen, in den Wäldern und am See.“ (16) In diesen von Langeweile und zeitaufwendigem Lerndrill durch die beiden Hauslehrer Campe und Kunth ausgefüllten Tegeler Jahren waren laut Wolfgang Hagen Hein (S. 16) die wenigen Freistunden außerhalb des harten Unterrichtsprogramms ein Geschenk, in welchen Alexander von Humboldt in der Natur das Glück suchte, das ihm die Mutter und sein Erzieher Kunth versagten. „Daraus erwuchs seine Liebe zu den Pflanzen, den Tieren, den Felsen und den Sternen“. Alexanders Liebe zur Natur erzeugte in ihm einen übermächtigen Hang zur Wissenschaft, eben den Naturwissenschaften, die vor allem der manifestesten Natur, dem Pflanzenwuchs, galt und damit seine stets bis ins hohe Alter anhaltende Liebe zur Botanik weckte, weshalb er, wegen seiner Herbarien, „der kleine Apotheker“ genannt wurde. Ohne Tegeler Kindheit kein Naturforscher Humboldt. Offen bleibt die damit korrespondierende Frage nach den ersten Anstößen für den Sozial- und Kulturwissenschaftler Alexander von Humboldt, eine Frage, die bei seinem Bruder Wilhelm für dessen mehr geisteswissenschaftliche Neigungen gar nicht erst gestellt wird. Die nach dem frühen Tod ihres Mannes 1779 für die Erziehung ihrer Söhne verantwortliche Mutter war eine geistig und musisch anspruchslose Frau von strengem Wesen, die alles tat, damit ihre Söhne gutdotierte Positionen in der preußischen Beamtenschaft übernahmen. Beider Entwicklung verlief von früh an in wissenschaftlichen Bahnen, einerseits durch die von der Mutter verordnete Erziehung durch wie Alexander später einmal betont „gediegene Berliner Wissenschaftler“, eben Campe und Kunth, entsprechend den bei den damaligen gehobenen Schichten üblichen Standards. Es heißt auch, dass sie dem Alltag auf „Schloss Langeweil“ zu entfliehen sich bemühten – auch durch Flucht in die Wissenschaften. Zur Tegeler Natur, die Alexander zur empirischen Naturwissenschaft prädestinierte, kontrastierte ein zweiter, gleichzeitig von den beiden Humboldts auszuhaltender Gegensatz: der zur Kultur im nahen Berlin. Die durch ihren Gegensatz zur ländlichen Tegeler Stille intellektuell-künstlerische Atmosphäre der nahen preußischen Residenzstadt Berlin war für seine geistige Entwicklung maßgebend. Es handelt sich bei diesem Gegensatz Tegel vs. Berlin um die

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Vorformen seiner Hauptoppositionen in seinen späteren Werken: Land vs. Stadt und, noch ausgeprägter und bedeutsamer, Natur vs. Kultur. Biographisch bewusst und für sein weiteres persönliches Leben wie seine wissenschaftliche Vita bedeutsam war auch der von ihm gefühlte und erlittene Gegensatz Heimat vs. Ferne, zwischen der von ihm nicht gerade innig geliebten, vielleicht sogar gehassten brandenburgischen Heimat und der lockenden Ferne des Auslands, vor allem der Tropen, der letztendlichen Ursache seines Ausbruchs nach Südamerika und seiner wissenschaftliche Karriere, wofür die Keime und Motive also von Kindheit an vorhanden waren. In Ich über mich selbst (Mein Weg zum Naturwissenschaftler und Forschungsreisenden 17691790) schrieb er von seinem nicht von Exotismus freien Widerwillen gegen seine Umgebung, seinem „unendlichen Hang nach dem Anschauen fremder Produkte“, seinem zunehmenden Hang „zum Reisen und Beschauen.“ „Ich träumte mich bisweilen nach beiden Indien“ (Hu 1887, 34f.) Ein handlungsstimulierendes, die Nähe meidendes Fernweh, das ihn früh zum „Reisenden“ par excellence vorherbestimmte. Er selber veranschlagte Berlins kulturellen Rang gering, der HumboldtBiograph Botting bezeichnet diese Stadt als geistige Wüste, und Biermann, Hein und Lionel Richard stimmen darin mehr oder weniger überein, wobei sie sich auf viele Berlins geistigen Habitus abwertende oder ironische Bemerkungen Humboldts stützen können. Aber seine subjektive Wertung des Kulturniveaus der preußischen Kapitale darf nicht, wie etwa Botting bedenkenlos und mit wenig historischer Sachkenntnis aus angelsächsischer Perspektive tut, mit der wirklichen Rolle Berlins gleichgesetzt werden, die vielmehr mit Paris und London während Humboldts langem Leben zum führenden geistig-kulturellen Dreigestirn Europas gehörte. Humboldts sprichwörtliche Abneigung gegen seine Geburtsstadt entspringt seiner Vorliebe für französisch-romanische Wesensart und Lebensweise, der führenden Rolle von Paris als damaliger Hauptstadt der Wissenschaften und seiner nicht zu unterschätzender Abscheu gegen Berlin als Hauptstadt des Militarismus und der Kasernenhofkultur, wozu Paris in allen Punkten für die damalige deutsche kritische Intelligenz, zu der man Humboldt unbedingt rechnen muss, die Berlin mit Schmähungen überhäufte, den Gegenpol eines Gelobten Landes spielte. (doch Humboldts Briefwechsel mit Gauß zeigt sogar gewisse Züge von preußischem Patriotismus). Schließlich sah der freiheitsliebende Humboldt in Berlin, dieser Welthauptstadt des Militarismus, ein Klischee- und Schreckensbild disziplinierter Enge, eine gigantische Kaserne, die ihn alle anderen Attraktionen dieser Stadt missachten ließ. Auch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sich Humboldt nie auf das ancien régime, sondern auf das postrevolutionäre Paris mit seinen Freiheiten bezieht, das vom von der Heiligen Allianz und der Demagogenverfolgung niedergedrückten Preußen wohltuend abstach. Mit allen diesen Implikationen war das von ihm stets thematisierte Verhältnis Preußen-Frankreich und Berlin-Paris auch eine Manifestation der histo-

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risch neuen nationalstaatlichen Strukturen des modernen Europa, deren Einführung in Amerika er am Beispiel Mexikos und Kubas in seinen Landeskunden beider Länder studierte. In seinen autobiographischen Äußerungen (25) kann man Wertschätzung für seine Privatlehrer als Berliner Wissenschaftler erkennen, so wenn er von seiner „sehr sorgfältigen Erziehung im väterlichen Haus und den Unterricht durch ausgezeichnete Berliner Gelehrte“ schreibt. Ich glaube, dass seine abwertenden Bemerkungen über das armselige intellektuelle Berliner Leben auch seinen französischen Freunden schmeicheln und vielleicht Einladungen oder gar eine bezahlte, ihm jedoch nie angebotene Anstellung im glänzenden wissenschaftlichen Leben von Paris erwirken sollten, weil es ihm an der Seine pekuniär außerordentlich schlecht erging, wo ihn die Verleger um die Honorare seiner teuren Werkeditionen prellten. Sein sprichwörtlicher abgetragener alter Anzug war wohl keine Demonstration von Bohèmetum, sondern Ausdruck von Armut, wie auch seine ständigen Auftritte bei unbedeutenden Empfängen dafür sprechen, dass er sie wegen des erlesenen Büfetts und der guten Weine besuchte. Wie wenig er in Frankreich geschätzt wurde, dem doch seine ganze Liebe galt, mag die Tatsache zeigen, dass an seinen langen Aufenthalt in Paris im Gegensatz zu den USA, die ihm schon kurz nach seinem Tode Denkmäler setzten, keinerlei Monument erinnert, dass die einzige rue Alexandre de Humboldt sofort nach Kriegsbeginn 1914 durch Umbenennung französiert wurde, und erst 1990 die BRD-Botschaft eine Erinnerungstafel an einem von ihm bewohnten Hause anbringen ließ. Trotz aller von Botting kritiklos nachvollzogenen Schmähungen Humboldts hatte Berlin viele Ähnlichkeiten mit dem von ihm hochgelobten Paris auf kulturellem Feld, wovon er geistig profitierte. So war eine große Zahl bedeutender Wissenschaftler, Künstler und Philosophen von Weltrang ständig oder zeitweilig zu Lebzeiten Humboldts in Berlin wohnhaft und hinterließen dort ihre Spuren, bildeten den Humus für seine Entwicklung als Universalist: Die Aufklärer Maupertuis, d´Alembert, Corneliusz de Pauw, Lessing, der Mathematiker Leonhard Euler, die Philosophen Moses Mendelssohn, Schleiermacher, Hegel, Fichte, Schelling, Kierkegaard und Schopenhauer, die Geographen Ritter und von Buch, der Chemiker Friedrich Wöhler und der Physiker Gustav Magnus, der Botaniker Adalbert von Chamisso, die Astronomen Foerster und Encke, der Bakteriologe Virchow, die Historiker Raumer, Niebuhr, Ranke, Julius Eduard Hitzig, die Naturwissenschaftler Poggendorf, du Bois-Reymond, Helmholtz, Albrecht von Thaer, Willdenow, Martin Heinrich Klaproth, Johann Georg Tralles, Karl Ludwig Willdenow, die Archäologen Lepsius und Brugsch, die Architekten Gilly, Langhans und Schinkel, die Komponisten Mendelssohn, Meyerbeer, Spontini, Fasch, Graun, Philipp Emanuel Bach und Johann Christoph Pepusch (Komponist der Beggar´s Opera), der Graphiker Chodowiecki, der Maler Blechen, der Bildhauer Rauch, die Schriftsteller Chateaubriand, Wackenroder, Tieck, Stendhal, Heinrich von Kleist, E. T. A. Hoffmann, Heine, de la Motte Fouqué, Achim von Arnim, Bettina von Arnim, Clemens Brentano, Karl Philipp Moritz, Eichendorf, Chamisso die Philologen Boeckh, Jakob und Wilhelm Grimm, die Sprachwissenschaftler Wilhelm von Humboldt und Franz Bopp, der Jurist Savigny, der Essayist Karl August Varnhagen von Ense usw. usf.

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Berlin besaß zudem als wohl einzige Stadt der Welt nach Paris ein nach französischem Modell etabliertes literarisch-intellektuelles, vor allem von jüdischen Berlinerinnen getragenes Salonleben, das bis heute durch ein berühmtes Gedicht Heines bekannt ist. Zu den Salons der Rahel Varnhagen, Henriette Herz, Bettina von Arnim und Frau von Friedländer kamen männlich beherrschte cercles wie die um den Buchhändler Nicolai und den jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn – Lessings „Nathan“ – oder um den Saint-Simonisten Varnhagen von Ense, nach Rahels Tod Haupt subversiver Diskussionsrunden. An vielen dieser Gesellschaften nahm Humboldt in seinem Berliner „Exil“ teil, nachdem ihm die Pariser Salons verschlossen waren, als ihn die Verhältnisse zwangen, in Berlin bis zu seinem Lebensende ständigen Aufenthalt zu nehmen. Hier in der preußischen Hauptstadt war er einstmals Schüler des aus Danzig stammenden polnischen Malers und Graphikers Daniel Chodowiecki gewesen, eine Lehre, deren Spuren sich in seinen Zeichnungen und Graphiken von südamerikanischen Landschaften, Pflanzen und Tieren, den Modellen für die Illustratoren seiner Werke, finden. Vor allem aber beeinflusste ihn in seiner weiteren Entwicklung, in seiner für sein Forscherleben entscheidenden Entscheidung, eine längere Reise nach Südamerika anzutreten, ohne jeden Zweifel auch Berlin als Ort der berühmten Berliner Debatte über die Neue Welt, die Ottmar Ette das Verdienst hat der Vergessenheit entrissen zu haben (Vgl. Ette 2009), die ihren Höhepunkt zu Zeiten von Humboldts Geburt erreichte und in seinem Werk ihren eigentlichen Abschluss fand. Durch diese Debatte lenkte Berlin erstmals seit der „Entdeckung“ die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit wieder auf Amerika. Diese Debatte wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Rahmen der europäischen Kolonialexpansion über die angebliche Superiorität der Europäer und die Inferiorität der Uramerikaner geführt. Ihre Akteure waren Europäer, zumeist Franzosen, die allesamt kürzer oder länger in Berlin/Potsdam residierten und ihre respektiven Werke hierorts publizierten, auf französisch natürlich. In dieser Polemik wurde von ihrem Urheber, dem aus Kleve stammenden Holländer Corneliusz de Pauw, Vorleser Friedrichs des Großen, in Recherches philosophiques sur les Américains (1768) die Eroberung und Kolonisierung Amerikas einerseits als schreiendes Unrecht und Gewaltanwendung, andererseits als legimites Recht des Stärkeren und zivilisatorisches Unternehmen bezeichnet, worauf ebenfalls in und aus Berlin Antoine-Joseph de Pernety, Bougainvilles Schiffskapitän bei dessen Reise um die Welt und Bibliothekar Friedrichs des Großen, mit seiner Dissertation sur l´ Amérique et les Américains, contre les Recherches Philosophiques de Mr. De P.*** (1770), ferner Zaccaria de Pazzi de Bonneville, Giovanni Rinaldo Carli, Francisco Javier Clavijero, (Ette, 69ff.) Drouin de Bercy mit L Europe et l Amérique comparées (1818), ferner der Encyclopedie-Mitarbeiter Guillaume-Thomas Raynal mit seiner Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des européens dans les deux Indes (1770), und der Schotte William

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Robertson mit The History of America (1777) in die Debatte eingriffen. Humboldt wurde wohl Amerikanist durch diese „Berliner Debatte“. War Tegel die Natur, so Berlin die Kultur. Die synergetische Berliner Luft lieferte den Humus, auf dem das spätere Universalgenie Humboldt wachsen konnte, zumal analog zu Humboldts später zu erörternder Theorie, dass isolierte Völker keine großen Kulturleistungen hervorbringen, große Geister trotz individueller Begabung selten aus dem intellektuellen Abseits kamen. Berlin war wider alle gegenteiligen Behauptungen vieler Humboldtologen und Humboldts selber – dessen Aversion gegen Berlin-Brandenburg wie gesagt persönliche und vor allem politisch-ideologische Gründe hatte – gerade zu Humboldts Zeiten ein gutes Adressbuch europäischer Intellektualität der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für die Herausbildung seiner intellektuellen wie sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten für alle Facetten des materiellen wie des geistigen Seins und seine daraus folgende Motivation für den Berufsstand des Natur- wie Geisteswissenschaftlers war Berlin wichtig, lieferte den lebensweltlichen Hintergrund für seine frühreife Entwicklung. Ansonsten war die Hauptstadt Preußens eine mittlere Provinzkapitale in dem dezentralen, politisch inexistenten Deutschland, vergleichbar mit Lyon, Bordeaux, Mailand oder Kiew und mit allen anderen größeren Städten Europas außer London, doch nie mit Paris, Hauptstadt Frankreichs und intellektuelle Hauptstadt Europas (Walter Benjamin), die Humboldt lebenslang bevorzugte. Nicht alle Brandenburger besaßen soviel Geld, Bildung und Unternehmergeist wie Humboldt zur individuellen Flucht nach Paris. Auch bei der für Humboldts Persönlichkeitsentwicklung entscheidenden Rolle von Paris sollte man nicht vorschnell aus kleinbürgerlicher deutscher Voyeurperspektive urteilen: Berlin war nicht nur Sitz des preußischen Offiziersund Verwaltungsklüngels, sondern auch eine Stadt der Intellektuellen, der Unternehmer und Fabrikanten, des Bildungsbürgertums, der Kleinbürger und Handwerker, und auf der Ebene der geistigen Eliten und materiellen Produzenten eine von Hugenotten und ihren Nachkommen dominierte Stadt: Französisch war hier fast erste Umgangssprache, Humboldt lernte sein blendendes Französisch hier und nicht erst in Frankreich. Berlin war durch die vielen Franzosen, Polen, Russen, Juden, Flamen und Deutschen von dem Polen Chodowiecki über den Juden Moses Mendelssohn bis zu den Franzosen Adelbert von Chamisso und Friedrich de la Motte Fouqué eine der ersten sowohl intellektuellen wie plebejischen multikulturellen und multilingualen Orte Europas, während in Paris exilierte Intellektuelle aller Länder und reiche Russen und Südamerikaner den hauptsächlichen Auslandsanteil der Bevölkerung bildeten. Berlin war unansehnlich, aber nicht so hässlich wie sein Ruf: Der weitgereiste Georg Forster, der als Weltumsegler viele Städte der Welt gesehen hatte, erklärte die preußische Residenz zu einer der schönsten Städte Europas. Voltaire empfand Berlin schon wegen seiner breiten Straßen als moderner und großzügiger denn Paris. Das damalige Paris bestand außerhalb des royalen

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Zentrums aus verwinkelten, schmutzigen, stinkenden und engen Straßen voller Kot. Laut Lion Feuchtwangers Roman Die Füchse im Weinberg nahm der deutsche Kaiser Joseph II., dem der Louvre zu schmutzig war, beim Besuch bei seiner Schwester Marie Antoinette in seinen Pariser Gasthof eine Badewanne aus Wien mit. Das moderne Paris der belle epoque dagegen kannte Humboldt überhaupt nicht: die großzügigen Boulevards und Parks der flâneurs wurden erst nach Abriss des mittelalterlichen Paris, dem Baudelaire melancholisch nachtrauerte - Le vieux Paris n´est plus forme d´une ville Change plus vite, hélas! Que le coeur d´un mortel - unter dem Präfekten Haussmann nach Humboldts Tod ab 1860 angelegt. Humboldt war kein Tourist. Er liebte Paris als Welthauptstadt der Wissenschaften, Künste und Literatur, war mit dortigen Geistesgrößen von Balzac bis Chateaubriand, von David d´Angers bis Delacroix befreundet. Frankreich dagegen kannte er nicht, weniger jedenfalls als Italien. Den langen Aufenthalten in diesem Paris verdankte Humboldt seine intellektuelle Weiterentwicklung. Die größten Naturwissenschaftler jener Epoche: Arago, Lamarck, Gay-Lussac, Laplace, Chaptal waren allesamt Pariser und nicht schlechthin Franzosen. Mit ihnen unterhielt er fruchtbare wissenschaftliche Arbeitskontakte, wie dies das von Wolfgang-Hagen Hein edierte Buch Alexander von Humboldt Leben und Werk auch optischlichtbildlich vor Augen führt. Ihm kam dort der Synergieeffekt der nirgends woanders in der Welt vorhandenen geballten Konzentration interdisziplinär verbundener Wissenschaftler zugute. Jedoch das Wichtigste: Paris gab ihm darüber hinaus etwas, was ihm das provinzielle, weltabgeschiedene Berlin nie geben konnte, aber für den wissenschaftlichen „Weltreisenden“ und Verfasser des Kosmos, dieses einmaligen Versuchs totaler Weltbeschreibung, unabdingbar war: Weitläufigkeit und Welthaltigkeit. Insgesamt zeigt diese Biographie Humboldts schon in ihrem ersten, vor seinem Aufstieg in die Berühmtheit liegenden Ansatz, dass seine wissenschaftliche Subjektivität eine relativ kurze empirische Wachstumsphase zurücklegte, bevor er zu einer der außerwissenschaftlichen Wirklichkeit adäquaten Höhe reifte, die ihn zu seinen herausragenden wissenschaftlichen Leistungen befähigte. Nur unter diesem Gesichtspunkt des Erwerbs der Voraussetzungen habe ich diese wenigen Bemerkungen über Humboldts Biographie in die nachfolgende Arbeit eingeschaltet, die nur die Präsentation der Resultate in Gestalt seiner hauptsächlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse, nicht aber deren Genesis zum Ziel hat.

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Drittes Kapitel: Die Kultur der Tiefebenen und Bergeshöhen Montanwissenschaft als unterirdisches Reisen Des Natur- und Geowissenschaftlers Humboldts terrestrisches Komplement zur Horizontale ist die Vertikale in den beiden aus menschlicher Perspektive möglichen Richtungen; nach unten ins Erdinnere, nach oben auf Bergeshöhen. Die seine Karriere als Erdwissenschaftler entscheidende Eroberung dieser Dimension hing mit seinem Studium der Montanwissenschaften an der Bergakademie Freiberg und seiner Praxis als Bergassessor in Bayreuth und Ansbach zusammen, die ihn in Plutos Region des Unterirdischen führten. Manche Biographen meinen entsprechend einem romantischen Klischee von der Unvereinbarkeit von Neigung und Beruf in der bürgerlichen Gesellschaft, er habe diese prosaische Aktivität nur mit Blick auf eine gutdotierte Verwaltungsfunktion aufgenommen. Doch noch der alte Humboldt erinnert sich gern der während seiner Freiberger Studentenzeit selbständig unternommenen Experimente und seiner aus freien Stücken, nicht von Amts wegen durchgesetzten Maßnahmen wie eine von ihm erfundene Schutzmaske für Bergleute und kostenlose berufliche Schulungen für letztere. Sein montanwissenschaftliches Studium und die Bergbeamtentätigkeit waren keineswegs von außen aufgezwungene Entscheidungen. Das schon als Kind in Tegel begonnene, sowohl unterirdische wie montan-alpestre „Botanisieren“ wurde zur Dauerbeschäftigung, während vom Erdengrund gelöste theoretische Gebiete wie Physik oder Chemie wenig Anziehungskraft auf ihn ausübten. Seine Vorliebe für das Wort „tellurisch“, griechisch „Scholle“, statt „Erde“, das in scheinbarer Tautologie sowohl „Erdreich“ wie Erdinneres“ meint, hat hier ihren Ursprung. Irgend existiert ein oszillierender ontischer Zusammenhang zwischen beiden Konnotationen von „Erde“. Seine Freiberger Studien galten nicht nur den mineralischen, metallischen, im „Erdreich“ verborgenen Substanzen, sondern brachten unterirdische Forschungen und Experimente mit sich. Montanwissenschaft und subterrane Botanik waren seine hauptsächlich betriebenen Wissenschaften. Er hatte den Zusammenhang zwischen Botanik und Bergwesen praktisch wie theoretisch studiert und 1792 über den Pflanzenwuchs in Bergstollen seine erste, lateinisch geschriebene Publikation, die Flora Subterranea Fribergensis, veröffentlicht. Sie stellte Beziehungen zwischen dem Anorganischen und dem Organischen, toter Materie und Lebewesen her. Diese Erforschung des „Einflusses der toten Natur auf die belebte Tier- und Pflanzenschöpfung“ wurde später Programm seiner Südamerikareise. Das Studium der Erde unter Tage erzeugte in ihm eine wahre Faszination. Von Unlust an Studium und praktischer Arbeit im Bergwerk kann keine Rede sein, eher von „Enthusiasmus“ - nach „Wissenschaft“ seine liebste Vokabel. Studium wie Bergratstätigkeit und täglicher Kontakt vor Ort mit dem Berg- und Weltinnern waren „dem inneren Wunsche meines Herzens angemessen.“ (Biermann 23)

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Er betrieb die Wissenschaften ab seinen Freiberger Anfängen nie unter Abtrennung von ihren räumlichen, „terrestrischen“ Kontexten. Das entsprach seiner Orientierung auf den „natürlichen“, symbiotischen Zusammenhang zwischen den im Erdreich steckenden Mineralien und den in und auf dieser Erde wachsenden Pflanzen. Er sah den Endzweck seiner Forschungen in der gedanklichen Rekonstruktion der terrestrischen Kontexte und damit in diesen Kontexten selbst. „Mein eigentlicher, einziger Zweck ist, das Zusammen- und Ineinanderwirken aller Naturkräfte zu untersuchen“, schrieb er am 11. April 1799 über seine bevorstehende Abreise nach Südamerika. – Dieser Anspruch bezeugt die für ihn typische Verbindung empirischer Kleinteiligkeit mit Metaphysik und Philosophie, von detaillistischer Sammlertätigkeit und Suche nach dem Gesamtzusammenhang5. Ein weiteres entscheidendes Urerlebnis vermittelten ihm die Mittelgebirge, die mit seiner gewohnten flachen norddeutschen Tiefebene kontrastierten. Die bipolare Opposition Ebene vs. Gebirge, Hoch vs. Tief, die Abraham Gottlob Werner in seinem Werk über Gebirgsarten beschrieben hatte, sollte sein Denken entscheidend prägen. Waren die vielen Reisen Humboldts ein Sichbewegen auf der zweidimensionalen horizontalen Ebene, so erforschte er mit noch größerer Intensität die vertikale Dimension sowohl nach unten, in die Unterwelt, als auch nach oben, in die Berge und Höhen, womit er die Dreidimensionalität der Welt gegenüber früherer Auffassung als Scheibe empirisch erfuhr und die Erdrinde als Objekt der Geographie um die unterirdische wie alpine Dimension definitiv erweiterte. Weltgeschichte ist für ihn eine Aufeinanderfolge von horizontalen wie vertikalen Okkupationen der Erdrinde durch Pflanzen, Tiere und Menschen. Nachdem die Geofaktoren sukzessiv in der Zeit entstanden, liegen sie simultan übereinandergeschichtet im Raum. Aus historischem Nacheinander wird geographisch-terrestrisches Über- und Nebeneinander. Auch das Gegeneinanderverrechnen von Zeit und Raum bestimmt sein strukturelles Denken. Wie für ihn alle definitive Struktur nichts weiter als gefrorene Geschichte war, so legen sich in seinen Schriften verschiedenen Wellen der Kolonisierung der Erde durch die Lebewesen sowohl horizontal nebeneinander als auch vertikal übereinander, wie Etagen eines Hauses – „Stockwerk“ ist eine von ihm geprägte geostrukturelle Metapher. Im Kosmos erbaut er in übereinander liegenden Stockwerken das „Haus Erde“, ein meist von der Forschung übersehener Zusammenhang. Hein (1987:58) nimmt Humboldts Hausetagen-Metapher für den Pic von Teneriffa (der auf der horizontalen Ebene „Zimmerfluchten“ entsprechen würden) als 5

Sicher nicht unbeeinflusst von Kants Theoretisierung des Zusammenhangs bzw. der scheinbaren Zusammenhanglosigkeit von „synthetischer Einheit“ der Ganzheit und empirischem Detailwissen in „Allgemeine Anmerkung zu den transzendentalen Ideen“ der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik.

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Vorstudie zum Chimborazo-Entwurf der Pflanzengeographie, doch nicht für sein Prinzip vertikaler Durchstrukturierung der Welt. Humboldt hat die Relation Horizontal-Vertikal als Leitstruktur seiner Forschungen vorprogrammiert durch seine beiden Hauptaktivitäten außerhalb von Schacht und Büro: Reisen in der Horizontale und Bergsteigen in der Vertikale. Von Mitteldeutschland aus bereiste er Deutschland, Österreich, die Schweiz, Italien, Frankreich, England und Schottland in einem monströsen, sich über Jahre erstreckenden Besuchsprogramm horizontal und, da viele Berge in den Alpenländern und Italien sowie Bergwerke zu bewältigen waren, vertikal. Er war sowohl wissenschaftlicher Reisender wie wissenschaftlicher Alpinist. Im Kosmos spielen die Gebirgszüge und Hochländer als naturhafte Geofaktoren eine Mensch und Kultur zutiefst beeinflussende Rolle: „Auch die Schicksale der Menschheit erkennen wir als teilweise abhängig von der Gestaltung der äußeren Erdrinde, von der Richtung der Gebirgszüge und der Hochländer, von der Gliederung der gehobenen Kontinente,“ schreibt er wörtlich. (Ko II, 390) Antikes und mittelalterliches Kartieren erfasste nur die Horizontale, ignorierte die Erhebungen, zumal man die Erde als plane Scheibe sah. Er dagegen bemerkte die „Verhältnisse der Erdoberfläche in horizontaler Ausdehnung und Höhe“ (Ko I, 140). In der Horizontale gelten nur Kontiguität, flächiges Nebeneinander, die – deiktisch auf den Menschen bezogenen – adverbialen Bestimmungen Fern und Nah sowie die zentralen Humboldtschen itinerarischen Kategorien „Reise“, „Weg“ und „Straße“. Schon in den Freiberger Minen riefen die vertikalen Gesteinsspalten seine Aufmerksamkeit hervor (Beck in Hein, 239). Später lobte er die Differenzierung des Südamerika-Malers Rugendas zwischen vertikaler und horizontaler Pinselbzw. Strichführung. (vgl. Löschner 1987b, 294) Die zweite Dimension, die Vertikale, beruht auf der Differenz Oben vs. Unten (Hoch vs. Tief, Ko I, 64). Dem Übereinander und Untereinander sind in Humboldts Werk alle irdischen Phänomene unterworfen, die nie flächig, sondern stets dreidimensional sind. Schöppner (13ff.) erfasste einen Zipfel der Bedeutung von Humboldts geowissenschaftlicher Grenzüberschreitung von der Horizontale in die Vertikale, ohne allerdings Humboldts ökonomisch-kulturhistorische Ableitung der Hochkulturen von der „Bergeshöhe“ zu bemerken. Diese bestehe laut Schöppner in der „Erfahrung der dritten Dimension“ der Höhen der Gebirge und Bergwerkstiefen, in seiner veränderten Raumwahrnehmung, seiner „Faszination der Tiefe in preußischen Bergwerken vergleichbar der auf der Höhe der Berge“ (!), und in seiner horizontalen und vertikalen Öffnung des Raumes. Beide adverbialen Bestimmungen des Ortes, oben und unten, sind deiktischer Selbstbezug des Menschen, existieren nur aus dessen Perspektive, sind Kultur. Aus objektiv-irdischer Perspektive müsste es statt „oben“ und „unten“ himmlisch vs. irdisch, statt nah und fern (bzw. vorn und hinten) nebeneinander und auseinander bzw. „Ost“, „West“, „Nord“, „Süd“ heißen. Die horizontale Oppositionsstruktur in Humboldts Geographie Südamerikas ist die

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zwischen den Regenwäldern und Pampas im Osten und den Agrargebieten und Bergwäldern im Westen. Die vertikale, Oben vs. Unten, ist mit dieser horizontalen nur scheinbar identisch, weil im Osten die Tiefebenen (Pampas und Regenwälder), also das „Unten“, und im Westen die Gebirge (Anden), also das „Oben“, liegen. Die Erfahrung Südamerikas mit seinen europäische Maßstäbe übersteigenden Gebirgsmonstern bestärkte Humboldt in seiner auffälligen Hochbewertung der Vertikalität entscheidend. Das Binom Horizontal vs. Vertikal ist Hauptordnungsprinzip seiner Weltbeschreibung. Laut Hanno Beck ging es Humboldt „um den großen Zug der horizontalen und vertikalen Gliederung der Erdoberfläche (...).“ (Ko II,403) Doch Humboldts Konzept übersteigt die von Beck genannten Bereiche der Klimatologie und Meteorologie, indem er von den geophysikalischen Phänomenen der Breite und Höhe wesentliche biologische Erscheinungen wie Pflanzenwachstum und Pflanzenverteilung abhängig macht. Die Naturbedingungen haben kulturelle Folgen: Pflanzenanbau als Vorfeld der Humankultur qua Produktion der Nahrung für Mensch und Tier (Landwirtschaft, Handel, Manufaktur-Produktion) sowie als Hauptfaktor der Entwicklung des Menschen. Horizontalität und Vertikalität potenzieren sich daher, wenn sie sich verschränken: Der Charakter der geographischen Individualität erreicht sozusagen da sein Maximum, wo die Verschiedenheiten der Bodengestaltung in vertikaler und horizontaler Richtung, im Relief und in der Gliederung der Kontinente die möglich größten sind. (Ko I, 298)

Aus der Konjunktion Horizontale-Vertikale folgt die Dreidimensionalität, der „Raum“, im Unterschied zur bloß horizontalen Zweidimensionalität der „Fläche“ traditioneller Kartographie. 1793 widmete der Geograph Johann Heinrich Zöllner in seinen Reise(!)memoiren über die Botanische Erkundung des Riesengebirges erstmals metageographisch der dreidimensionalen Kartierung mittels Reliefierung großen Raum. „Eine Schwierigkeit der Höhenkarten ist das zwischen Höhe und Entfernung einzuhaltende Maßverhältnis“ schreibt wenige Jahre später Humboldt in Geologische Pasigraphie (zit. nach Ordóñez, 26) in Bezug auf die majestätischen Höhen der Andengebirgsketten, mit deren Studium er die Reliefkunde als dreidimensionale Kartographie begründet. Humboldt wollte kartographisch so genau wie möglich die Gestalt des Tales von Anáhuac, der mexikanischen Hochebene, bestimmen, „um eine physikalische Karte von einem Lande zustande zu bringen, in welchem ich mit dem Barometer eine große Menge Höhen gemessen hatte.“ (Mex 66) Diese „große Menge Höhen“ erfordere dreidimensionale Darstellung auch, weil diese für die Menschen, welchen er seine Forschungen dedizierte – Praktiker: Bauern, Fuhrleute und Seemänner – außerordentlich nützlich sei. Sein Problem war die Übertragung der Dreidimensionalität auf die Simulation der zweidimensionalen Fläche des Landkartenpapiers. Horizontal meint die Waagerechte zwischen

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Äquator und beiden Polen, vertikal die Senkrechte von den unterirdischen Tiefen der Bergwerke bis zur Stratosphäre. Soweit Humboldt die horizontale Ausbreitung der Objekte in der Fläche als sein Arbeitsfeld betrachtete, war die „Vermessung der Welt“ keine Marotte, wie dies in belletristischer Manier Kehlmann darstellt, sondern Haupttätigkeit während seiner südamerikanischen Reise, auf der er ununterbrochen Wegstrecken, Flussläufe, Entfernungen, Temperaturen maß. Erst dadurch wurde der Subkontinent geistig für die Menschheit aneignenbar. Ohne Vermessung keine Landkarten, ohne diese kein Wege- und Straßenbau, kein Reisen, kein Verkehr, keine Kanäle, keine Vorstellung von den verschiedenen Erdteilen, Regionen und Ländern, keine Ahnung von der Zahl und Lage der Städte und Orte und der Straßenverbindungen zwischen ihnen, kein Kataster der Grundstücke, kein Landverkauf und -ankauf, keine Grenzen zwischen Ländern, Jurisdiktionen, keine Kriegsführung. Keine Kartierung ohne Vermessung als geistige Eroberung des Erdraums. Deshalb studierte Humboldt alte Kartenwerke in Archiven und Katasterämtern, korrigierte sie aufgrund seiner reisend vorgenommenen Messungen bzw. erstellte neue Karten, vom Ansbacher Land oder von Mexiko. Diese Messungen und Kartierungen Humboldts – astronomisch, trigonometrisch, triangulatorisch, mit dem Barometer oder per Augenmaß – wurden ernötigt durch den Zustand der noch nicht ge- und vermessenen, also noch nicht der Herrschaft des Menschen unterworfenen Flächen Amerikas - der Pampas, Llanos, Urwälder – mit ihren vielen großen vom Menschen unbetretenen Gebieten. Er korrigierte die im unbegangenen Amerika ungenauen, oft phantastischen alten Karten. Demgegenüber war in West- und Mitteleuropa so ziemlich alles vermessen und kartiert, in Brandenburg schon 1375 (!) in dem berühmten in Tangermünde hergestellten „Landbuch“ des römisch-deutschen Kaisers und Markgrafen Karl IV., in Frankreich durch Minister Colbert im 17. Jahrhundert, um die feudalen Ländereien der Grundbesitzer, Fürsten und souveränen Herrscher als Territorialmächte – im Wort Territorium steckt das Etymon terra katastermäßig abzugrenzen und Besitzstand und politische Macht zu verteilen. Südamerika empfand Humboldt nicht nur als unvermessen, sondern als maßlos. Fast könnte man von einem Gegensatz zwischen europäischem, von den Griechen übernommenem „rechten“ menschlichen Maß des Goldenen Schnittes zwischen den Dimensionen Horizontal und Vertikal, und der lateinamerikanischen „barocken“ bzw. „erhabenen“ Disproportion zwischen beiden Größen reden. Disproportion als Maßlosigkeit war Humboldts innerem Modell der lateinamerikanischen Landschaft im Unterschied zum europäischen Maßhalten eingeschrieben. Für ihn waren die Anden sowohl Anomalie als auch Monstrosität, da sie sich exorbitant vertikal nach oben in die Höhe und ungewöhnlich lang horizontal in die Weite erstrecken (Mex 76):

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Die Schwierigkeit bestünde für südamerikanische Atlanten sowohl in der extremen Länge als auch in der überdimensionalen Höhe der Anden; einer der beiden Werte muß immer unter proportionaler Verkleinerung leiden. Er müßte also eine neue Kartographie erfinden, wenn er seine Reisen darstellen wollte: (…) Sollte man die Gegenden, die ich bereist habe und deren Boden eine so sonderbare Gestalt hat, vollständig kennen, so mußte ich Mittel anwenden, welche noch kein Geograph versucht hat (...) hätte man) zwei gleiche Maßstäbe für Höhe und Entfernung, so müßten die Zeichnungen eine ungeheure Länge erhalten, oder man müßte sich für die Höhe mit einem so kleinen Maßstab begnügen, daß die auffallendsten Ungleichheiten des Bodens verschwänden.

Vertikalprojektionen seien von Bedeutung für Agronomie, Kommunikation und Transport: „Dem Landwirt ist es wichtig, sie zu kennen, noch nützlicher aber dem Ingenieur, der Straßen bauen oder Kanäle graben will.“ (ibd., 77) Dieser utilitäre Aspekt ist bei Humboldt stets präsent. Seine astronomischen Beobachtungen halfen beim Aufspannen eines großen Netzes von Messwerten zwecks globaler Kartierung der Erde, die realpolitischen Eroberungen den Weg bereitete. Als Mensch des 19. Jahrhunderts, der die materiell-physische Aneignung des gesamten Planeten durch den Menschen vorbereitenden Wissenschaftsphase, trug er durch systematische Vermessung dazu bei, den iberoamerikanischen Teil des Globus den Menschen verfügbar zu machen. Alpinist, Andinist, Entdecker der Bergkultur Zu Humboldts Vorbereitungen seiner Amerikareise gehörten auch Arbeiten, denen man es nicht auf den ersten Blick ansehen würde, die aber seinen Risikosportler-Gewohnheiten entsprachen, darunter seine bergsteigerischen Expeditionen in die Alpen, die auf andine Expeditionen vorausdeuten. Bei seinen Kletterpartien bemerkte er die Sonderart der Geologie, Mineralogie und Botanik der Gebirge gegenüber den Tälern, womit er sein Konzept des grundsätzlichen Unterschieds zwischen Bergen und Ebenen vorbereitete. Seine Bergtouren stimulierten seine montanwissenschaftlichen Forschungen. Hier zeigt sich Humboldts Singularität als Empiriker und Praktiker. Es gab damals wenig bergsteigende Feldforscher wie den Schweizer Alpinologen Horace-Bénédict de Saussure, der 1778 als Erster den Montblanc bestiegen hatte, den Humboldt übrigens im Genfer Zentrum für Hochgebirgsstudien besuchte. Den Vergleich zwischen Alpen und Anden zieht er als globaler Komparatist immer wieder, sowohl wegen der unverhältnismäßig die europäischen Berge übersteigenden amerikanischen Gebirgshöhen als auch wegen der Gleichartigkeit der mittleren Höhen Amerikas mit den europäischen Ebenen in Bezug auf Temperatur, Klima und agrikole Ergiebigkeit. Reisen in die Schweizer Alpen seien interessant für den Geognosten, welcher diese „in

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Verbindung mit der mexicanischen und peruanischen Andenkette studieren will“. (ibd., 83) Seine strapazen- und gefahrenreichen Klettereien haben für sein terrestrisches Denken kapitale Bedeutung. Der Geo-Forscher Humboldt rekognoszierte alles, was vertikal war, mit Berg und Bergwesen zu tun hatte. Er bestieg viele Berge, ließ keinen aus, in dessen Nähe ihn sein Weg führte. Auf Teneriffa überwog die bergsteigerische Exploration des gewaltigen Teide gegenüber der Beschreibung der Stadtvedute von Las Palmas. In Venezuela erstieg er den „Sattelberg“ (la silla) bei Caracas, während er der Stadt Caracas wenig Aufmerksamkeit widmete. In Reise auf dem Río Magdalena nehmen die beiden bergsteigerischen Forschungs-Exkursionen „auf den Guadalupe“ vom 25. 7. 1801 und „auf den Monserrate“ vom 15. 8. 1801 mehr Raum ein als die Beschreibung Bogotás, der Hauptstadt des Vizekönigreiches. Von Quito aus (Kap. 5: „In Quito“) unternahm er Bergbesteigungen, des Antisana im März 1802, erste Besteigung des Pichincha; Aufstieg auf den Gipfel Guaguapichincha am 1. April 1802, Besteigung des Cotopaxi am 28.April 1802, zweite Besteigung des Pichincha, Aufstieg auf den Gipfel Rucupichincha am 26. Mai 1802, dritte Besteigung des Pichincha -Rucupichincha am 28. Mai 1802. am 5, Juni 1802, sowie eine Exkursion zum Pichinchagipfel, wogegen die Schilderung der nahen und schönen Stadt Quito relativ kurz wegkommt. Von Riobamba aus, einem Ort, in dem er nur vom 17. bis 28. Juni 1802 weilt, besteigt er den Tungurahua am 19. Juni 1802 und den Chimborazo, der damals als höchster Berg der Erde galt, ab 23. Juni 1802, wobei es an Tragik grenzt, dass seine Expedition wegen einer für seine damalige technische Ausrüstung unüberwindlichen Erdspalte kurz vor dem Gipfel umkehren musste – nur Gipfelbesteigungen zählen bekanntlich in der Geschichte des Bergsteigens. In den Vues drückt er naiven Stolz aus, höher als je ein Mensch zuvor aufgestiegen zu sein: Es ist auf einem schmalen Grat der aus der Mitte des Schnees aufsteigt, am südlichen Abhang, dass wir nicht ohne Gefahr versuchten, die Herren Bonpland, Montufar und ich, zum Gipfel des Chimborazo zu gelangen. Wir haben Instrumente bis zu einer beachtlichen Höhe hinaufgeschleppt, obgleich wir von einem dichten Nebel umgeben waren und sehr stark beeinträchtigt waren durch den starken Luftmangel. Der Punkt an dem wir innehielten um die Abweichung der Magnetnadel zu beobachten scheint höher gelegen als alle diejenigen, auf welche Menschen auf dem Rücken von Bergen gelangt sind. (Vues 106)

In Chamaya erfolgt der Aufstieg auf die Anden bis Micuipampa am Fuße des Berges Hualgayoc. Im Kapitel 8 („In Mexiko“) registriert er unter „Exkursionen außerhalb der Stadt“ die Besteigung des Cerro de Chicle, wo er den Jorullo wegen seines Interesses für Vulkanismus zweimal visitiert – Humboldt gilt als Begründer der wissenschaftlichen Vulkanologie. Auch Mexiko erregte also unter anderem sein Gebirgsinteresse:

42 In dieser gebirgigen Gegend zwischen dem 19. und 20. Grad der Breite ist keine Spur eines eigentlichen Gebirgskammes. Hier findet man keine von den parallelen Gebirgsketten, welche die Geologen überall in ihren Werken annehmen und welche die Geographen in ihren Karten des Alten und Neuen Kontinents sehr willkürlich als Reihen hoher Dämme abbilden. (...) Der Gebirgsrücken von Anáhuac befindet sich mehr als 200 französische Meilen bzw. mehr als 400 Toisen über der Meeresfläche ( „Tal“ ist die Hochebene Mexikos. HOD). (Ma 80f.)

Seine Zeichnungen der Vulkane von México oder Puebla sollen die „Physiognomie der kolossalen Spitzen anschaulich machen, (...) welche den Rücken der Kordilleren krönen und gleichsam ihren Kamm bilden“ (ibd., 82-83, man beachte die anthropomorphisierende Physiognomisierung der Gebirge!). Hauptaktivitäten bei seinen Bergbesteigungen waren die Höhenmessungen. Er erwähnt viele vorgängige Messungen bei den Besteigungen des Mont Blanc durch Saussure (4.757 m), des Corazón durch Bouguier und Condamine (4.814 m), Humboldt/Bonplands eigene Besteigung des Chimborazo (5.909 m) sowie den Ballonaufstieg von Gay-Lussac (7.010 m). Karl Bruhns zählt 500 Höhenmessungen Humboldts. Laut Oskar Peschel waren 1807 nur 122 Höhenmessungen der höchsten Gipfel der Welt bekannt, 2 in Afrika, 8 in Frankreich, je 2 in Spanien und Island, eine auf Spitzbergen, aber 30 in Amerika, von denen 24 allein von Humboldt durchgeführt worden waren. Er setzt die wissenschaftliche Bedeutung der Gipfelstürmereien gleich Null, wohl auch wegen seiner misslungenen Chimborazogipfel-Ersteigung. Weitere Höhenvergleiche stellt er zwischen den amerikanischen und europäischen Gebirgen an: „Der Guadelupe ist (....) 46,5 Toisen höher als der Monserrate. Der Guadalupe ist fast so hoch wie der Ätna, der Monserrate fast so hoch wie der Sankt Gotthard.“ (ibd., 41) Er absolvierte eine beachtliche Serie von Bergbesteigungen, die viel Energie, Kraft, Anstrengung, Organisationsvermögen und Zeitaufwand erforderten, zumal gegenüber heutigen Sportalpinisten, die mit unverhältnismäßig besseren technischen Hilfsmitteln, u. a. Atemgeräten, vorgehen und bei denen die geographische, geodätische, klimatologische sowie trigonometrische Arbeit, die Mitnahme vieler Instrumente und wissenschaftliches Arbeiten während des Auf- und Abstiegs und des Gipfelaufenthalts fortfallen. Dazu schreibt Botting (1974, 185): Zu jener Zeit war Bergsteigen noch eine unerhörte Angelegenheit. Die physiologischen Auswirkungen der Höhe auf den Menschen waren noch völlig unbekannt; es gab keine Spezialausrüstungen, keine besondere Kleidung. Man zog einfach einen wollenen Poncho über die Alltagskleidung und stapfte bergauf. Humboldts Leistungen als Bergsteiger waren das Ergebnis langer Erfahrungen, errungen durch Versuch und Irrtum, einer beträchtlichen inneren Bereitschaft und einer langen Periode der Akklimation an Höhen von mehr als 3000 Meter.

Humboldts inbrünstiger Alpinismus bzw. Andinismus unterscheidet ihn vom passiven Gelehrtentyp seiner Zeit. Die Fläche war nicht sein geographisches Hauptelement, er bereiste kaum die Pampa, und die norddeutsche Tiefebene nur mit Widerstreben. Für sein vertikales Denken sind Berge und

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Hochebenen von höherem Rang als die „Unebenheiten“ der russischen Taiga und der „Straßen von Prag“. Die Anden sind für ihn trotz der riesigen, extrem flachen Pampas Hauptcharakteristikum Lateinamerikas als „hochgebirgiger“ Kontinent. Wäre die Erde wie in vorwissenschaftlichen Zeiten angenommen eine Scheibe, hätte die Flächigkeit der Horizontale vollauf für die wissenschaftliche Registratur der Welt genügt. Aber als Kugel ist ihr die räumliche Dimension mit Extensionen nach oben als Berge, Hochebenen und Höhen und nach unten als Meerestiefen, Täler, Höhlen und Bergwerke eingeschrieben. In der Berücksichtigung der Vertikale besteht Humboldts Innovation der Erdwahrnehmung, beginnend mit dem brodelnden Urschlamm der Vulkanunterböden, aufsteigend zur unterirdischen Mineralogie und oberirdischen Geologie und den Bergfelsen bis zum Sternenhimmel als Feld der Astronomie. Humboldt terrestrisches Binom Horizontalität vs. Vertikalität entsprang seinen Erfahrungen in Lateinamerika. Diese Strukturantinomie hob er in der bereits zitierten Vorrede zum Kosmos von 1844 hervor: Es ist mir ein Glück geworden, das nur wenige wissenschaftliche Reisende in gleichem Maß mit mir geteilt haben: das Glück, nicht bloß Küstenländer, wie auf den Erdumseglungen, sondern das Innere zweier Kontinente in weiten Räumen, und zwar da zu sehen, wo diese Räume die auffallendsten Kontraste der alpinen Tropenlandschaft von Südamerika mit der öden Steppennatur des nördlichen Asien darbieten. (Ko I,8)

Hier siedelt Humboldt sein auf bipolarem bzw. binominalem Strukturdenken beruhendes Weltbild sogar in zwei extrem gegensätzlichen Erdteilen an: Tropenlandschaft Südamerikas vs. Steppenlandschaft Nordasiens. Durch seine etwas sorglose Syntax und schlampige Verteilung der sinntragenden Vokabeln gerät in diesem Satz das Substantielle, der eigentlich wichtige formelle Gegensatz zwischen den Alpen (=Anden Südamerikas) und den Ebenen (=Steppen Nordasiens) in den Hintergrund, ganz abgesehen davon, daß er in diese Reminiszenz noch drei weitere binäre strukturelle Oppositionen verpackt, diejenige zwischen den heißen Tropen und der gemäßigt-kalten Zone, diejenige zwischen den Erdmassen Eurasiens und Spanisch-Amerikas, und die zwischen „Flüssig“ und „Trocken“ („Küstenländer“ vs. „Inneres zweier Kontinente“). Dieser eine Satz erfasst fürwahr die Hauptmenge der geographischen Binomien Humboldts. Amerikas Natur war ursprüngliches Chaos infolge urzeitlicher Katastrophen, deren Zeugnisse er in seiner zerklüfteten und gebirgigen Natur weit massiver und spektakulärer als in Europa zu erblicken vermeinte, in der er die Katastrophentheorie seines Freundes Cuvier in Gestalt indianischer Schöpfungsmythen widergespiegelt sieht. Zu diesen Katastrophen stehen in einer von ihm nicht wahrgenommenen Parallelbeziehung Überlieferungen der Azteken vom jährlichen Hautwechsel der Natur, und der Mayas von den beziehungslos aufeinanderfolgenden „Kattunen“, den nicht-evolutiven unendlichen Wechseln ständigen Weltendes und ständiger Neuschöpfung. Humboldt spricht von „wie in das Chaos der Schöpfung geschleuderten Felsen“. (Ma 84)

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Die Ebenen und Gebirge werden als die auf die Trennung von Land und Wasser folgenden terrestrischen Phänomene, als Großlandschaften zu Hauptgliedern der Opposition Hoch vs. Tief. Den Ebenen widmet er ein Kapitel in Bilder der Natur, sein Orinoko-Tagebuch porträtiert die Amazonas-OrinocoEbene, sein Cuba-Essay die insularen Ebenen. Er teilt sie in zwei Typen ein: Die forêt tropicale de plaine (tropischer Ebenenwald) im Orinokodelta, am Caisquiare und Río Negro in Venezuela und im mexikanischen Veracruz, und la forêt tropicale des versants (Abhänge – une de deux pentes qui encadrent une vallée), sowie den Bergwald in ziemlicher Höhenlage. Er überträgt die Differenz zwischen Höhenlage und Breitengrad auf die Baumvegetation. Der Wald der gebirgigen Hochebene liegt auf der Linie Maracaibo-See-Quito-Lima, erfaßt zunächst beide Bergseiten der Cordilleren, besetzt nach dem 10. Breitengrad westlicher Länge nur noch den Ostabhang bis zum Abfall des Chaco laut Minguet (III). Entsprechend der verbalen Identität von Berg und Wald im spanischen monte gesteht Humboldt den Berghängen nur Baumbewuchs im Unterschied zur Mischvegetation der Ebenen zu. Letztere bestehen aus (Regen)Wäldern, Ackerflächen, Wiesen (Prärien, pampas, llanos), Mooren, campos cerrados oder prairies brousailleuses = Heidekrautprärien) Venezuelas, Santa Martas, Cartagenas, les prairies nues (nackten Prärien) am Orinoko und am Fuß der Anden, den moorigen und Überschwemmungsprärien im Orinokodelta und am Magdalena, dem holzartigen Strauchbewuchs der Andenränder, den feuchten Ödflächen zwischen Bogotá und Quito, den interandinischen Agrikulturbecken, der Alpenlandschaft Mexikos, den Eichen- und Tannenwäldern zwischen Mexiko-Stadt und Veracruz und der mexikanischen Kakteen-Hochebene. Er entwirft damit eine differenzierte, wenngleich unvollständige Registratur der Kulturlandschaften der iberoamerikatypischen Ebenen, in denen die Pampa des Südostens, eine doch wesentliche Landschaftsformation, fehlt. Er legt den pflanzlichen Bewuchs als Ausdruck der differentia specifica der Natur quasi wie einen Flickenteppich über die Ebenen aus und stellt so der Kulturgeographie Lateinamerikas weitaus mehr als die bekannten Differenzierungen zwischen Urwäldern, Pampas, Llanos und Wüsten zur Verfügung. Vertikal vs. Horizontal – die fundamentale Entzweiung der Indios Humboldts wissenschaftlicher Andinismus erbrachte nicht allein geographische, meteorologische, vulkanologische und botanische Ergebnisse, sondern eine ganz neue Sicht der tropischen Gebirge als Natur-KulturÜbergangsfelder, ihrer Rolle für ihre Bewohner von der Landwirtschaft über Bauwesen bis zu Ernährungsweisen, Kleidermoden, Mythologien und Schönen Künsten. Botting schreibt dazu: Auf den Gebieten der Seismologie und der Pflanzengeographie hat er wesentliche Beobachtungen angestellt, und die verwitterten Lava- und Bimssteinströme verweisen ihm zufolge eindeutig auf den vulkanischen Ursprung der großen Andenkette. Die Ausrichtung der Vul-

45 kane brachte ihn allmählich zu der Erkenntnis, daß sich entlang der geologischen Verwerfungen Bergzüge gebildet hatten als Folge tiefer, unterirdischer Risse, zu denen sich die Erdkruste verformt hatte. Er ist nach Südamerika als überzeugter Anhänger seines Freiberger Lehrers Werner gekommen, des Begründers der Neptuntheorie, derzufolge sich alles Gestein aus flüssigen Ablagerungen gebildet habe. Jedoch seine vulkanologischen und Boden-Untersuchungen zwangen ihn zur Aufgabe des Neptunismus und zur Annahme des Plutonismus, der Theorie, die behauptet, daß sich die Berge durch gewaltsames Emporheben (d. h. Aufwölbung, HOD) gebildet haben. (Botting 190)

Hier ist von Tiefebenen nicht einmal die Rede, so wenig Bedeutung misst Humboldt ihnen bei. Seine Reisebewegungen verlagerten sich, als er das Orinoco-Amazonas-Tiefland gen westliche Anden verließ, von der Ebene auf die Berge, von der Horizontale in die Vertikale, von den Fußmärschen (und Kanufahrten) zu den Bergbesteigungen, womit bemerkenswerterweise die naturwissenschaftlichen Studien ab- und die sozial- und kulturwissenschaftlichen zunahmen. Auf die vordergründige Erforschung der Wildnis als unbelassener Natur und der Agrarregionen als natürlich-kultürlichen Übergangsfeldern folgte die Fokussierung auf Kultur, die urbanen oder im Umfeld der Städte befindlichen Populationen, das revirement von Erdball auf Menschheit. In diesem Zusammenhang setzen seine Reflektionen über die „moralische Rolle der Berge“ – seine äußerst merkwürdige, aber nur metonymisch Anthropomorphisierung der Natur – ein. Als Folgeerscheinung des physikalisch-geographischen und kulturgeographischen Gegensatzes Ebene-Hochland erkennt er den Unterschied zwischen der selbstbelassenen Naturlandschaft der Tiefebenen und der Kulturlandschaft der Hochebenen. Dabei entdeckt er das Vorrücken der Kultur und den Rückgang der Natur bis zur ökologischen Beschädigung der Erdrinde als unumkehrbaren global-terrestrischen und zivilisatorischen Vorgang. Es geht ihm weniger um das naturwissenschaftliche Problem der klimatischen Unterschiede zwischen Hochgebirge und Ebene als um das daraus folgende der anthropologisch-ethnologischen Zweiteilung der doch von einem gemeinsamen asiatischen Ur-Volk abstammenden südamerikanischen Indios in zwei Gruppen, in die Indios der Ebenen und die Indios der Hochebenen mit ihren je diametral entgegengesetzten Kulturen, eine von keinem Anderen so scharf formulierte Differenzierung der Sekundärfolgen des naturlandschaftlichen Gegensatzes. Humboldts Befassen mit der kulturellen Bipolarität der beiden großen Indianergruppierungen ging die Erkenntnis der „zivilisatorische Rolle der Gebirge“ – ein wahrhaftig provozierender Ausdruck - voraus: er spricht vom Einfluss der „Unebenheit der Erdfläche (...) auf Menschenglück und Menschenbildung“ (!): „dies ist der moralische Einfluss der Berge!“ (Ma 96f.) Es ist wohl der Gipfel des Idealismus oder vielmehr des Materialismus, Bergen Macht über die Moral der Menschen zuzuerkennen. Doch dem privilegierten Einfluss der Berge verdankten die Inkas und Azteken ihre Hochkultur.

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Die Verschiedenheit zwischen Pampa und Anden nimmt er als kulturstrukturelle und nicht nur erdmorphologische Differenz zwischen zwei Großlandschaften mit unterschiedlichen Bevölkerungen wahr. Der Geologe Alexander von Humboldt konstatiert das Entstehen dieser Gegensätzlichkeit in der Erd-Urgeschichte, woraus der Ökonom und Kulturologe Humboldt seine wirtschaftlich, kulturell, ethnologisch, linguistisch und humangenetisch zweigeteilte Geographie Alt-Südamerikas als Koppelung natürlicher und kultürlicher Geofaktoren entwickelt. Kultur der Höhen und Geographie der Pflanzen Die Berge/Hochebenen sind für Humboldt bedeutsamer als die Tiefebenen Lateinamerikas, weil sie den ihm wichtigen Begriff der Vertikalität am natürlichsten materialisieren, ihn zu seiner Geographie der Pflanzen anregten, das wichtige Nahrungsmittelversorgungsproblem der Menschen illustrieren und, worauf es ihm besonders ankommt, weil sie ein wichtiger Faktor der Hominisierung der Indios sind. Er verdeutlicht die Beziehung Mensch-Gebirge folgendermaßen: Auch die Schicksale der Menschheit erkennen wir als teilweise abhängig von der Gestaltung der äußeren Erdrinde, von der Richtung der Gebirgszüge und der Hochländer, von der Gliederung der gehobenen Kontinente (den Terminus „gehoben“ verwendet Humboldt entsprechend seiner plutonischen These, dass sich die Kontinente im Zuge der Erdentstehung über den Meeresspiegel hinaus „hoben“). (Ko II, 390)

Das Wichtige an diesem Ausspruch ist weniger das, worauf es ihm ankam, die letztinstanzliche, selbstverständliche Abhängigkeit der Menschen von der Erdrinde, sondern das, was er nebenbei sagt, ihre Abhängigkeit „von der Richtung der Gebirgszüge und der Hochländer“. Amerika ist für ihn der Kontinent mit der größtmöglichen Einheit von Horizontalität und Vertikalität. Er bescheinigt der Neuen Welt, einerseits die größte horizontale Erstreckung aller Erdteile in der Nord-Süd-Achse fast von Pol zu Pol aufzuweisen, andererseits mit den Cordilleren über das längste, vertikalste und nächst dem Himalaya höchste Gebirgsmassiv der Erde zu verfügen. Wo beide Extensionen, die horizontale und die vertikale, Berg und Ebene, aufeinanderstoßen, wohnen zwei an sich im weiten Erdenrund extrem auseinanderliegende Klimazonen Tür an Tür – les extrêmes se touchent –: die tropische und die gemäßigte, wie er anhand des gleichzeitigen heimischen Angebotes des Wochenmarktes von Bogotá von Früchten der gemäßigten Zone und tropikalem Obst feststellt. Für diese Neuverbindung geohistorischer „Trennungen“ erfindet er die Metapher der Nachbarschaft von Schweden und Afrika: Diese Gebirgskette ist also in jeder Beziehung interessant (...). Sie trennt diejenigen Völker, die in dem kalten Klima von 4-10 Grad (leben) von denjenigen, die eine Durchschnittstempe-

47 ratur ertragen. Völker, die einen steinigen Boden, besät mit europäischem Getreide, bebauen, von denen, die in den von wilden Rindern, Tigern und Riesenschlangen bewohnten Llanos leben. Schweden erscheint zwei Schritte entfernt von Afrika. - Welcher Gegensatz der Natur! (Ma 38)

Er vermerkt im (unredigierten) Tagebuch die Folgen des Gegensatzes warm vs. kalt für Pflanzen, Landwirtschaft und Ernährung: In S Fe de Bogotá so kalt, daß in allen Häusern immer Fußteppiche, doch nie braseros. Trauben reifen nicht. Aber 2 Stunden davon, wenn man den malerischen Salto de Tequendama herabsteigt, Fülle von Platanos, Ananas. Wegen dieser Nähe des heißesten und kältesten Klimas in keiner amerikanischen Stadt die Lebensmittel so wohlfeil, so aller Art, so vortreffliches Gemüse, so vortrefflichen Blumenkohl, Erbsen, Erdbeeren, Äpfel. (ibd., 94)

Aus dieser Beobachtung leitet er seine Erkenntnis der biologischen Kompatibilität von südamerikanischem Bergland und europäischer Tiefebene und damit die annähernde tellurisch-kulturelle Gleichheit zwischen Europäern aller Landstriche einerseits und andinischen Bergbewohnern andererseits ab – der Terminus „montagnard“ ist humantypologischer Schlüsselbegriff seiner amerikanischen Soziologie. Die Humboldtsche Vision der innerindianischen Divergenzen ist bedeutungsvoll als erste Formulierung und Begründung der Gegensätze zwischen dem „Westen“ und den Süden der Welt. Seine grundsätzliche Trennung der Kulturentwicklung zwischen den westlichen Hochebenen und den östlichen Tiefebenen des Subkontinents als Folge der geologischen, klimatischen, botanischen und im Endeffekt kulturellen Verschiedenheiten beider Landschaften ist keine regionale Geographierung, sondern seine kulturtheoretische, erd- und weltgeschichtlich relevante Zentralthese von der simultanen aber konträren Entwicklung von Okzident und Nichtokzident. Die andinen Bergvölker wiesen nach Humboldt tendenziell als vorkolumbische Hochkulturen nahezu identische Parameter mit den ostasiatischen Kulturen auf, doch sie wurden durch die Invasion der Europäer liquidiert bzw. auf das Niveau der meisten Drittweltpopulationen herabgedrückt, zu denen auch die amerikanischen Regenwald- und Savannenbewohner gehören. Humboldt geht davon aus, dass alle Indios, ob Hochländler oder Tiefländler, derselben einheitlichen kupferfarbenen Rasse angehören, die etwa gleichzeitig aus Asien kommend die ganze unbewohnte westliche Hemisphäre fast von Pol zu Pol besiedelte, besser gesagt bevölkerte, denn man kann eben nicht von „siedeln“ sprechen, noch besser betrat, denn von bevölkern kann wegen der geringen Zahl von „Volk“ auch keine Rede sein. Sie trennten sich in zwei Großpopulationen, die entweder in die Ebenen oder in die Berge gingen. Seine Hochschätzung der Anden beruht auf ihrem Bewuchs mit Pflanzen aller Klimazonen vom tropikalen Gebirgsfuß bis zur gemäßigten Höhenlage, den er in seiner in einer Art epiphanischer Eingebung verfassten Geographie der Pflanzen in den Tropen-Ländern, ein Naturgemälde der Anden als mit Legenden versehene Graphik des andinen Gebirgsprofils darstellt. Er trug in diese geniale

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Karte zwischen Bergfuß und Gipfel die Namen der Pflanzen auf der ihnen jeweils zukommenden Höhe ein, wozu Goethe eine europäische Replik zeichnete. Parallel zum Gegensatz zwischen Gebirgen und Ebenen Südamerikas verglich Humboldt implizit Europa mit Südamerika, woraus seine Erkenntnis resultierte, dass die mittlere Höhe der Gebirge/Hochebenen Lateinamerikas annähernd dasselbe Klima, dieselbe Temperatur und vergleichbare Vegetation aufweist wie die gemäßigte nördliche Region Europas in flacher Bodenhöhe. Das kulturtheoretische Wichtige ist, dass Humboldt die tropische Bergwelt mit der gemäßigten Zone Europas kulturell gleichsetzt, insofern hier wie dort statt Subsistenz Mehrarbeit und Mehrproduktion notwendig sind, die sowohl entwicklungsnotwendig sind als auch Entwicklung stimulieren. Im Kosmos (II,47) spricht er in dreifacher Stufung von der „Tropenwelt (Amerikas) mit der ganzen Üppigkeit ihrer Vegetation in der Ebene, mit allen Abstufungen des Organismus am Abhang der Cordilleren, mit allen Anklängen nördlicher Klimate in den bewohnten Hochebenen von Mexico, Neu-Granada und Quito“. Er stellt fest, dass die europäischen Pflanzen in diesen amerikanischen Höhen sehr gut gedeihen, wie umgekehrt Kartoffeln, Tomaten und andere amerikanische Gebirgsgewächse sich in den europäischen Ebenen gut akklimatisieren, im Gegensatz zu den nicht assimilierbaren Tropenpflanzen der Tiefebenen. Die Vegetation ist Humboldts Verbindungsstück zwischen der Geologie der andinischen Hochebene und der Demographie ihrer menschlichen Besiedelung. Die Erde als Haus: „Klimastockwerke“ Zur vertikalen Staffelung der Pflanzenwelt entsprechend unterschiedlicher Temperaturen, Klimate und Höhenlagen wurde Humboldt durch den italienischen Renaissance-Humanisten Pietro Bembo (1470-1547) angeregt, der in seiner Schrift Aetna dialogus, wie er schreibt, „ein lebendiges Bild der geographischen Verteilung der Gewächse am Abhang des Gebirges, von Siziliens kornreichen Fluren bis zum schneebedeckten Rand des Kraters lieferte.“ (Ko I,47) Bembo beschrieb verbal die vertikale Verteilung der Pflanzen entsprechend der terrassenartig-amphitheatralischen Grundstruktur der Gebirge, was Humboldt in anderem geographisch-klimatischen Ambiente als „TropenGemälde am Fuße des Chimborazo“ wiederholte. Daher seine anschauliche „Haus“-Metapher zur Kennzeichnung der Gebirge als Klimastockwerke. Er entdeckte ausgehend von Werners Kurze Klassifikation und Beschreibung der verschiedenen Gebirgsarten (Mex 520), dass die Gebirge wie mehretagige Häuser gegliedert sind: „In der Äquinoktialgegend Mexikos stehen die verschiedenen Klimate stockwerkweise übereinander.“ Die Vorstellung vom Berg als übereinander gebauten Pflanzen„Stockwerken“ bzw. von dessen amphitheatralischem Bau (AdN 145, Anm. 28) fand er auf Teneriffa bestätigt: „Der Boden der Insel steigt amphitheatralisch auf und zeigt in kleinem Maßstabe alle Klimate von afrikanischer Hitze bis zum

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Froste der Hochalpen.“ (Äqu 467). Vom Pic heißt es in der Perspektive nach oben: Bis zum Felsen Gayta, das heißt bis zum Anfang der großen Ebene des Ginsters ist der Pik von Teneriffa mit schönem Pflanzenwuchs überzogen (...) Kaum hat man die mit Bimsstein bedeckte (Hoch)Ebene betreten, so nimmt die Landschaft einen ganz anderen Charakter an; bei jedem Schritt stößt man auf ungeheure Obsidianblöcke, die der Vulkan ausgeworfen hat. Alles ringsum ist öd und still; ein paar Ziegen und Kaninchen sind die einzigen Bewohner dieser Hochebene. (ibd., 50)

Umgekehrt schreibt er unter Umdrehung seiner Beobachterperspektive – plötzliche Inversionen sind kennzeichnend für seinen deskriptiven Diskurs – statt vom Blickwinkel des am Bergfuß stehenden, nach oben Richtung Gipfel Schauenden, nunmehr der Blick vom Gipfel mit der Perspektive nach unten auf den Bergfuß: „wir sahen, wie sich die Gewächse nach der mit der Höhe abnehmenden Temperatur in Zonen einteilten“ (ibd., 54): Flechten auf Lava; Veilchen bis 3390 m Höhe, dann Retama (= Ginster)büsche, danach Region der Farne und baumartigen Heiden, dann weiter unten Obstbäume bis hin zu tropischer Vegetation: „Ein reicher grüner Teppich breitet sich von der Ebene der Ginster und der Zone der Alpenkräuter bis zu den Gruppen von Dattelpalmen und Musen, deren Fuß das Weltmeer zu bespülen scheint“. (ibd., 54) Seine Theorie der Bergpflanzen als „erhabenen Schauspiels“ des vegetabilischen Amphitheaters wiederholt er im Kosmos, nunmehr unter namentlicher Auf-zählung der Pflanzensorten und -standorte: In den heißen Ebenen, die sich wenig über die Meeresfläche der Südsee erheben, herrscht die Fülle der Pisanggewächse, der Cycadeen und Palmen; ihr folgen, von hohen Talwänden beschattet, baumartige Farnkräuter und, in üppiger Naturkraft, von kühlem Wolkennebel unaufhörlich getränkt und erfrischt, die Cinchoneen, welche die lange verkannte, wohltätige Fieberrinde ergeben. Wo der hohe Baumwuchs aufhört, blühen, gesellig aneinander gedrängt, Aralien, Thibaudien und myrthenblättrige Andromeden. Einen purpurroten Gürtel bildet die Alpenrose der Cordilleren, die harzreiche Befaria. Dann verschwinden allmählich, in der stürmischen Region der Páramos, die höheren Gesträuche und die großblütigen Kräuter. Rispentragende Monokotyledonen bedecken einförmig den Boden; eine unabsehbare Grasflur, gelb leuchtend in der Ferne; hier weiden einsam das Kamel-Schaf (Lama) und die von den Europäern eingeführten Rinder. Wo die nackten Felsklippen trachytartigen Gesteins sich aus der Rasendecke emporheben, da entwickeln sich bei mangelnder Dammerde nur noch Pflanzen niederer Organisation: die Schar der Flechten, welche der dünne, kohlenstoffarme Luftkreis dürftig ernährt; Parmelien, Lexideen und der vielfarbige Keimstaub der Leprarien. Inseln frischgefallenen Schnees verhüllen hier die letzten Regungen des Pflanzenlebens, bis scharf begrenzt die Zone des ewigen Eises beginnt. (Ko I, 24)

Er staffelt das Welt-Haus in sechs „Stockwerke“: 1. Kellergeschoss unterirdisch: Bergwerksstollen und Vulkankrater, mit Würmern, Mineralen, Flechten und anderer subterraner Vegetation, 2. Etage der Tiefebenen, 3. „Die Erdoberfläche mit den menschlichen Siedlungen“ 4. „die Hochebenen und Gebirge“ 5. „Luftozean, Wind, Wetter, Wolken, Regen, Licht, Isothermen“ und

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6. „Den sich über alles wölbende Sternenhimmel“ als Gegenstand der Astronomie. Mit Humboldt beginnt die wissenschaftliche Erfassung des vertikalen Profils der Erde. Demographie, Vegetation, Agrikultur und Ernährung Die eben skizzierte vertikale Pflanzengeographie spielt für Humboldt als andines Natur-Kultur-Übergangsfeld eine vitale Rolle für die Bergbewohner, insofern die Pflanzen deren Lebensmittel darstellen. Diese müssen dort infolge Kälte und Kargheit von den Menschen, und nicht wie in der Wildnis von der Natur produziert werden. Daraus entwickelt er seine demographisch-kulturelle Differenzierung zwischen den Bewohnern der Hoch- und denen der Tiefebenen, den „ackerbauenden Völkern von Mexiko und Michoacán und den wilden, nomadischen Horden der Otomi und Chichimeken“. (Vues 96) Erster Unterschied zwischen Berg und Tal ist ein demographischer: die Bevölkerungsdichte. Der Rücken der Kordillere sei „der bevölkertste Teil von Neu Spanien“. (Mex 68) Er begründet die stärkere Besiedlung der doch unwirtlichen Hochebenen gegenüber den fruchtbaren Regenwäldern damit, daß letztere dünn besiedelt seien infolge des Nomadenlebens, das wegen der geringen Ergiebigkeit der Naturpflanzen die Ausnutzung größerer Waldflächen durch kleine Menschengruppen erforderlich mache, während der Ackerbau auf gleicher Fläche mehr Arbeitskräfte brauche als Nomaden im Regenwald existieren könnten. Daher die größere Bevölkerungsdichte und Kinderzahl auf den Höhen. In Peru berechnet er das statistische demographische Verhältnis zwischen Berghöhe und Besiedelungsdichte im Unterschied zu Europa. Er zählt die höchsten bewohnten Höhen in Europa auf, das doch die größte Zivilisationshöhe der Welt erreicht habe: 1.600-1.900 Meter in den Alpen, der Schweiz und Savoy, während in den Anden die Orte Pasco, Huancavelica und Micuipampa fast auf der Höhe des Pic von Teneriffa liegen. „Die Métairie von Antisana im Königreich Quito, ist 4700 Meter hoch gelegen, und sie ist ohne Zweifel eines der höchstgelegenen Orte der Erde.“ (ibd., 140f.) Aus dieser demographischen Ähnlichkeit zwischen tropischem Bergland und europäischer Ebene und beider Gegensatz zu den Regenwäldern und Steppen Amerikas entwickelt er den kulturellen Unterschied zwischen beiden Populationstypen. In den Vues pittoresques des Cordillères et Monumens des Peuples indigènes de l´Amérique lokalisiert er amerikanische Hochkulturen nur im Hochland: „Die am meisten in der Kultur fortgeschrittenen amerikanischen Völker waren Bergvölker“ schon vor Ankunft der Spanier. (AdN 145, Anm. 28) Gegenüber der für Iberoamerika charakteristischen kulturellen Höherentwicklung in den höheren Lagen betont Humboldt, „dass in den volkreichsten Ländern Europas, in Frankreich, Deutschland und England, die Ebenen, auf welchen sich die meiste Kultur findet, gewöhnlich nur 50-100 Toisen

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übereinander liegen“, und konstatiert einen geringen Einfluss landschaftlicher Reliefunterschiede auf die Kultur. (Mex 75) In Amerika kommt er dagegen zur positiven Gewichtung der Rolle der Bergeshöhen für „die Kultur, welche die Einwohner pflegen“: Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte.

Hanno Beck (1986, 118) kommentiert diesen von Humboldt zitierten Zweizeiler aus Schillers Braut von Messina, der Stadt in Ätnanähe, nur als Ausdruck der Freiheitssehnsucht Humboldts und Schillers und übersieht die wesentlichen Bezüge zur Berghöhenkultur. Auch Pimentel verkennt die Umfunktionierung des Schillerverses vom Freiheitlichen ins Geographische. (ibd., 135) Doch Berg vs. Grabesgruft ist poetisches Symbol für die Kulturunterschiede zwischen Oben vs. Unten oder Berg vs. Ebene, daneben auch, durch das Grab-Motiv, für Tote Materie vs. Lebewesen – alles zentrale Binome in Humboldts Terrestrik. „Alle physikalischen Resultate dieser Arbeit sind mit der Idee der Höhe verbunden“, schreibt er. Daher die Höhenangaben: In ganz Mexiko und Peru findet man die Spuren einer großen Menschencultur nur auf der hohen Gebirgsebene. Wir haben auf dem Rücken der Andenkette Ruinen von Pallästen (sic, HOD) und Bädern in 1600 bis 1800 Toisen Höhe gesehen. Nur nordische Menschen, in dem Wanderungsstrome von Norden gegen den Äquator hin, konnten sich so eines Klima´s erfreuen. (AdN 145, Anm. 28)

Die Folge sei ihre kulturelle Hochblüte in extrem kurzer Zeit gewesen! Die beträchtlichen Kulturunterschiede zwischen Peruanern und Mexikanern und Prärie- und Regenwaldindianern sind wohl nur auf Humboldts Art zu erklären. Die Höhen der Berge sind ihm wichtig, weil von ihnen das Klima abhängt, das das Wachstum der Pflanzen beeinflusst, von denen wiederum die Ernährung von Mensch und Tier abhängt – eine für Humboldt typische dreigliedrige Argumentationskette: In den Äquatorialländern des Neuen Kontinents, besonders in den Reichen Neu-Granada, Quito und Mexico, hängen Temperatur der Atmospäre, ihre Trockenheit oder Feuchtigkeit, die Kultur, welche die Einwohner pflegen, von der ungeheuren Höhe der auf dem Rücken der Kordilleren hinlaufenden Ebenen ab. (ibd., 90)

Minguet fertigte eine exhaustive Auflistung der naturwissenschaftlichen Aktivitäten Humboldts zur Erfassung der Vegetationszonen an: Der preußische Reisende läßt dort die Vegetationszonen auftauchen entsprechend ihrer Höhe, erstellt eine Tenperaturskala, barometrische, hygrometrische, elektrometrische Skalen; studiert die Intensität der Himmelsbläue mittels des Cynometers, zeigt die Grade der Abnahme des Lichts, die horizontalen Brechungen der Sonnenstrahlen, die chemische Zusammensetzung der Luft, die Abnahme der Schwere, die Verdampfungstemperatur des Wassers, (…)

52 markiert die unteren Grenzen des ewigen Schnees, zählt die hauptsächlichen Spezies der Fauna und der Kulturpflanzen auf. (Minguet IIf.)

Die aus asiatischen Ebenen eingewanderten Ureinwohner fanden hier eine ihrer gemäßigten Urheimat ähnliche Temperatur und Vegetation: Sie als aus den (ostasiatischen) Tiefebenen mit gemäßigten Klimata stammende Menschen, waren den Bergrücken der Cordilleren gefolgt, die sich immer höher erhoben, je mehr sie sich dem Äquator näherten. Sie fanden in diesen hochgelegenen Regionen eine Temperatur und Pflanzen, die denen ihres Heimatlandes ähnelten. (Vues 113)

„Pflanzen“ verweisen auf Landwirtschaft und damit die Lebensmittelproduktion der montagnards. Humboldt stellt darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen der Natur der Berge und der Baukultur der Bewohner schon bei den ältesten Bauten Amerikas in Tiahuanaco fest: Der nördliche und cultivierte Theil der Provinz Caracas ist ein Gebirgsland, (…) welches das Zentrum einer alten Zivilisation in Südamerika war. Die Eingeborenen schreiben ihre Erbauung einer Rasse weißer und bärtiger Menschen zu, die den Rücken der Cordilleren vor der Gründung des Inkareiches bewohnten. (ibd., 199)

Diese Gebäude seien wegen des Gebirgscharakters in Baumaterial und Konstruktionsstil anders geartet als die der okzidentalen Antike: Die andinen montagnards verwendeten zum Gebäudebau die reichlich vorhandenen Steine statt der mittelmeerischen Palmen bzw. deren marmornen Imitationen in Säulenform: Die peruanische Architektur wurde nicht jenseits der Bedürfnisse eines Bergvolkes errichtet. Sie kannte weder Pfeiler, noch Säulen (wie die griechisch-römische Antike, die ja Palmstämme imitieren, HOD), noch hatte sie (gotische) Bögen mitten im Zentrum der Bauten: entstanden in einem von Felsen gespickten Land, auf fast baumlosen Hochplateaus, imitierte sie nicht wie die Architektur der Griechen und Römer die assamblage eines holzgezimmerten Baus: Einfachheit, Symmetrie und Solidität sind die drei Charakteristika, durch welche sich vorteilhaft alle peruanischen Gebäude auszeichnen. (ibd., 115)

Damit knüpft er eine enge Beziehung zwischen dem steingebirgigen Charakter Perus, massenhaft als Baumaterial verwendbaren Natursteinen der Anden und dem dadurch erzwungenen hohen handwerklichen Können der Steinmetze. Die Peruaner hätten das Geschick, die härtesten Steine zu bearbeiten, „mit der äußersten Schönheit ihres Schnitts: die meisten sind aneinandergefügt ohne irgendeine Spur von Mörtel.“ (ibd., 117) Dasselbe gilt für die ebenfalls hochebenenbewohnenden Altmexikaner. Der Calendrier Mexicain beweise, dass die Völker Mexikos bis zu einem gewissen Grad Zivilisation gelangt waren (...). Diese Art Monumente ist umso mehr wert, unsere Aufmerksamkeit zu erregen, weil sie Kenntnisse bezeugt, die wir nur mit Mühe als Resultat von Beobachtungen betrachten können, die von Bergvölkern in den unkultivierten Regionen des Neuen Kontinents gemacht wurden. (...) Die

53 Reliefskulptur hat dieselbe feine Ausführung, die man in allen mexikanischen Werken findet: die konzentrischen Kreise, die zahllosen Teilungen und Unterteilungen sind mit mathematischer Genauigkeit gezogen; je mehr man das Detail dieser Skulptur untersucht, desto mehr entdeckt man darin diesen Geschmack für die Wiederholung derselben Formen, diesen Ordnungsgeist, dieses Gefühl für Symmetrie, das bei den halbzivilisierten Völkern das Gefühl für Schönheit ersetzt. (Mex 189)

Von indianischem Geschirr sagt er, es habe die Feinheit von Meißner Porzellan! (Ma 15) Humboldt liefert reichhaltiges Material für eine indigene Baugeschichte der Anden und eine noch ungeschriebene Weltgeographie der Menschenbauten. Wichtig ist seine Erkenntnis des kausalen Zusammenhangs zwischen dem natürlichen Ambiente der andinen Natur und der Entwicklung des handwerklichen, bzw. kunsthandwerklichen Könnens der indigenen Gebirgler, das sich unter dem Zwangsdiktat ihrer Existenzbedürfnisse und der montanen Existenzbedingungen herausbildete, die in der Wildnis fehlen, weshalb die Regenwaldindios keine entsprechenden Bedürfnisse und Fähigkeiten entwickelten. Fleiß vs. Faulheit oder Reichtum vs. Armut der Bedürfnisse Humboldts Äußerungen über peruanische und mexikanische Architektur und Handwerk sowie Agrarökonomie kehren die inneramerikanische Differenz zwischen diesen Bergbewohnern und den Waldindianern der Ebene hervor. Letztere brachten nicht nur keine vergleichbare, sondern überhaupt keine Architektur hervor, nicht nur, weil ihnen das in den Anden reichlich vorhandene Baumaterial fehlte, sondern weil sie in der heißen Regenwaldtemperatur keine Bedürfnisse nach vor Kälte schützenden Baulichkeiten entwickeln mussten, was auch für textile Bekleidung und mutatis mutandis für die meisten Handwerke galt. Er hebt implizit die Errichtung der monumentalen vor Kälte schützenden Bauwerke der Bergindios als zivilisatorischen Fortschritt im Vergleich zu den bautenlosen Waldnomaden hervor, die nur transportable Fetische und Heiligtümer in Gestalt mobiler Palmblatthütten besaßen. Wie erklärt er die Wahl so verschiedener Habitate, des Regenwalds und der Savanne durch die „Wilden“, und des Hochlands durch die „Zivilisierten“, diese Differenzierung zwischen zwei Indiogruppen, die doch beide gleichermaßen aus Asien stammen? Die amerikanische Rasse (die Indianer, HOD) breitet sich über beide Hemisphären aus, vom 68. Grad nördlicher bis zum 55. Grad südlicher Breite: Sie ist die einzige von allen Rassen, die sich gleichermaßen in den heißen Ebenen nahe des Ozeans wie auf dem Rücken der Berge niedergelassen hat (...) . (Vues 9)

Seiner Hypothese zufolge zogen alle Indios, durch ihre lange Wanderung aus Sibirien ans Nomadisieren und Marodieren gewöhnt, gleichzeitig in die tropischen Regenwälder, deren Natur genügend Nahrung zum Leben bot. Zur Trennung kam es später: Einige Stämme blieben in den Urwäldern der

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Tiefebenen, andere stiegen, vielleicht auf der Flucht vor übermächtigen Feinden oder Naturkatastrophen, zu den Hochebenen hinauf, wo sie sich niederließen. Dort fehlte die Regenwaldnatur mit ihrem üppigen Angebot an Wildfrüchten und Wurzeln, weshalb sie sich in kargem Ambiente ihre Lebensmittel selber mittels Arbeit erzeugen mussten. Daher ihre Arbeitsamkeit: Alle Werke der Peruaner tragen den Charakter eines arbeitsamen Volkes, das gern den Felsen durchbohrt und die Schwierigkeiten sucht, um seine Geschicklichkeit beim Überwinden dieser zu zeigen, und das den armseligsten Gebäuden noch den Charakter der Solidität verleiht, aufgrund dessen man glauben könnte, daß sie zu einer anderen Zeit viel beträchtlichere Monumente errichtet hätten. (ibd., Hervorh. HOD)

Wegen des Fehlens tropischer Hochtemperaturen war die Produktion von vor Kälte schützenden Häusern und Kleidungsstücken notwendig, wurden die Einwanderer zu Spinnen, Weben und Häuserbau gezwungen, zu Arbeiten, die entsprechendes handwerkliches Können erforderten und erzeugten. Bei mittlerer Temperatur und dem Wechsel der Jahreszeiten war ferner für die neuen Bewohner der Hochebenen keine für ihre Ernährung ausreichende Wildpflanzenmenge wie im tropischen Urwald vorhanden. Um von Gebirgsvegetabilien leben zu können, mussten sie diese laut Humboldt zunächst produzieren lernen, den Ackerbau erlernen, um ihre Lebensmittel selber herzustellen. Die von den Hochlandindios gezüchteten, nicht als Wildform vorhandenen Gemüse- und Obstsorten: Kartoffel, Tomate, Kakao, Aguacate (avocado) und Chilepfeffer bestätigen seine Feststellung. Humboldt nimmt Toynbees Prinzip von Challenge and Response vorweg, wenn er die Entstehung von Hochkulturen auf den Hochebenen nicht trotz, sondern gerade wegen der Kargheit der Bodenverhältnisse konstatiert: Die Zivilisation der Völker steht fast ständig im umgekehrten Verhältnis zur Fruchtbarkeit des Bodens, den sie bewohnen. Je mehr einem die Natur zu überwindende Schwierigkeiten entgegenstellt, desto schneller entwickeln sich die moralischen Fähigkeiten. (Pflanzeng, 139) (....) Die Fähigkeiten entwickeln sich überall da leichter, wo der Mensch (...) gezwungen ist, gegen die Hindernisse zu kämpfen, welche die Natur ihm entgegensetzt. (Ma 13)

Die Andenbewohner mussten sogar Vorratswirtschaft betreiben, Überschuss erwirtschaften, um díe erntearme und kältere Perioden nahrungs- und kleidungsmässig ausreichend versorgt zu überstehen, was zur Habituierung von Mehrproduktion über das unmittelbare Subsistenzbedürfnis hinaus, zu Reichtumsentwicklung führte. Hohes Lob Humboldts gilt auch ihren intellektuellen, kalendarischen und mathematischen Fähigkeiten, die sie im Zusammenhang mit der Landwirtschaft entwickelten, um die günstigsten Aussaat- und Erntezeiten zu ermitteln, wie er anhand des sogenannten von den Spaniern ins Erdreich verbannten Aztekenkalenders, den er extra für sich ausgraben ließ, konstatiert. Er rühmt als große Kulturleistung den Kalender der Muyscas, „der alten Bewohner des Plateaus von Bogotá“, die man nicht verwechseln dürfe mit „den

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herumstreunenden Horden der Wilden Südamerikas.“ (Vues 244) Die Waldindianer als Nicht-Landwirte dagegen brauchten weder Kalender noch Meteorologie und entwickelten sie daher nicht. Sein Insistieren auf der Arbeitsamkeit der Hochlandbewohner statuiert einen konstitutiven Wesensunterschied zwischen ihrer Arbeitsgesellschaft und der Gesellschaft der „faulen“ Regenwaldbewohner, deren Nahrungsmittelüberfluss keine Arbeit erheische und motiviere und so jede soziale und kulturelle Weiterentwicklung verhindere, denn „bei einer üppigen Vegetation mit so unendlich mannigfaltigen Produkten bedarf es dringender Beweggründe, soll der Mensch sich der Arbeit ergeben, sich aus seinem Halbschlummer aufrütteln, seine Geistesfähigkeiten entwickeln.“ (Äqu 193) Im tropischen Wald werde die Nahrungsproduktion von der Natur übernommen, so dass sich die Einwohner ganz wie im Paradies nicht zu rühren brauchten, um, wie er schreibt, aus ihrer Hängematte heraus mit dem Zeh eine Banane zu angeln, wenn sie Hunger verspürten. Das führe zur tropischen Indolenz, zu Faulheit und Trägheit.6 Humboldt leitet also aus dem naturgegebenen Habitat psychomentale Habituationen ab, wehrt rassistischen Schlussfolgerungen. Waldindianer sind die indolentesten, faulsten Menschen in Bezug auf Arbeit (...). Aber diese Indolenz, von der wenig philosophische Personen so viel geschwatzt haben (...) kündet so wenig von Stupidität in ihnen wie der Müßiggang unserer großen Herren oder unserer Gelehrten, die nicht die Erde beackern, die niemals zu Fuß gehen und sich hinten und vorn bedienen lassen (...). Diese (Indios, HOD) bewegen sich nur dann, wenn Notwendigkeit und Bedürfnis sie dazu aufstachelt. Und welches Bedürfnis hat der Wilde im Urwald, wenn er von den Früchten der Bäume und den Bananen ernährt wird, die fast ohne sein Zutun wachsen? (Ma 256)

Diese Bemerkungen Humboldts fanden bis in die Wortwahl hinein große Resonanz in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Marx (1974) schrieb bei gleicher semantischer Verwendung der auffälligen Termini „Indolenz“ und „Faulheit“ in Bezug auf die schwarzen Karibikbewohner, die freien niggers von Jamaica „begnügen sich (damit), das für ihren eigenen Konsum strikt Notwendige zu produzieren und als den eigentlichen Luxusartikel (mit Schadenfreude und Indolenz) die Faulenzerei selbst betrachten.“ Auch Rousseau verbindet „Wildheit“ mit „Indolenz“. (Diese Passage illustriert die Fragwürdigkeit der „modernen“ Übersetzungen Humboldtscher Texte aus dem Französischen ins Deutsche. Margot Faak übersetzt das Syntagma „Aber diese Indolenz“ mit „Aber diese Gleichgültigkeit, von der einige wenig einsichtsvolle Personen soviel gesprochen haben“. Infolge des Ersatzes von „Indolenz“, eines im Wortgebrauch des 18. und frühen 19. Jahrhunderts üblichen, Humboldt wie Marx gemein6

Später relativiert Humboldt etwas seine den Regenwald betreffende Überflussthese, insofern er auch dort Armut an verzehrbereiten Nahrungsmitteln bis zur Hungergrenze feststellt, was bis zu den von ihm erwähnten Phänomenen des Erdessens (Geophagie) und Ameisenverzehrs führt.

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samen Terminus, durch „Gleichgültigkeit“, das im übrigen nicht die adäquate Vokabel für das Gemeinte ist, wird jede verbale und damit inhaltliche Beziehung zwischen beiden Texten ausgelöscht und damit auch ihr gemeinsamer Ursprung in der Feststellung Rousseaus von der „indolence de l´état primitif“ des Urmenschen. Dagegen mussten die Indios ihre Pflanzennahrung auf den Hochebenen ganz biblisch im Schweiße ihres Angesichts produzieren: Kälte zwang (die) Moscas zur Arbeit, zur Bekleidung. Äcker, Mays, (sic) Chenopodium Quinoa, Solanum tuberosum (hier turmas genannt) war(d) auf den Gebirgen sorgfältiger, als in der wärmeren Ebene bestellt, wo die Natur alles von selbst hervorbringt und man kaum die Erde umzuwühlen bedarf. (Ma 193, unredigiertes Manuskript)

Diese Feststellungen Humboldts stimmen mit der modernen Archäologie überein, die einen hohen Zivilisationsgrad der Altmexikaner, gemessen an Agrikultur, Lebensmittelproduktion, Sesshaftigkeit und demographischem Wachstum, bereits in frühgeschichtlicher Zeit bezeugt. Karl Lanius schreibt, hierdurch sei eine Überschussproduktion über die normale Reproduktion hinaus erzielt worden, was heißt, die Azteken erwirtschafteten große Reserven für schlechte Zeiten und Naturkatastrophen sowie für die erweiterte nachhaltige Bedürfnisreproduktion und -befriedigung: Systematische Ausgrabungen im Tehuacán-Tal im mexikanischen Hochland (Puebla) erlauben einen Überblick über den Wandel von Jagen und Sammeln zur sesshaften agrarischen Lebensweise. Erst vor 4.000-3.500 Jahren wurden beim Mais Hektarerträge von mehr als 250 Kilogramm erzielt. Sie sicherten eine Überschussproduktion, die lokal zur Sesshaftigkeit und zu raschem Bevölkerungswachstum führte. Um 1000 v. u. Z. erreichte der durch Agrarwirtschaft erzielte Nahrungsanteil 40 Prozent. Im Tehuacán-Tal fanden sich Spuren von drei ganzjährig bewohnten Weilern. Die Entwicklung des Gartenbaus wandelte sich deutlich von einer Kulturform mit zahlreichen domestizierten Pflanzen zum Anbau von wenigen ertragreichen Arten wie Mais, Bohnen und Kürbis. (nach Mac Neish, Man Settlement and Urbanism, Hertfordshire 1972, zit. nach Lanius 23)

Humboldt traf auf Ruinen mitten im Regenwald, die von hochentwickelten Erbauern zeugen, was gegen seine doch plausible These spräche, dass die Bedürfnislosigkeit der Waldindios bemerkenswerte Bauleistungen verhindert habe. Doch schreibt er die Felsenzeichnungen am Orinoko, „in großer Felshöhe eingeritzte colossale Figuren von Crocodilen, Tigern, Hausgeräth, Mond und Sonnenzeichen“, einem Stamm zu, der seine hohe Baukultur von der Hochebene herunter in den Regenwald mitbrachte, aber diese unter Hinterlassen seiner Bauten wieder fluchtartig verlassen musste, denn „die ganze Umgegend ist völlig menschenleer“, und „die angrenzenden Völkerstämme sind auf der untersten Stufe menschlicher Bildung, nackt umherziehendes Gesindel. Weit entfernt, Hyroglyphen (sic) in Steine zu graben.“ (AdN, Anm. 51, 162.) – Diese Felsenbilder nennt Schomburgk (165) „merkwürdige Reste untergegangener Cultur“.

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Auch die repräsentativen Bauten der Maya mitten in den tiefliegenden Regenwäldern Guatemalas und Yucatáns wären Gegenargumente gegen Humboldts These. Doch dieser hat eine einleuchtende Erklärung: Nachdem diese Stämme auf den kalten Hochebenen eine hohe Kultur erarbeitet hatten, konnten sie wieder „von der Höhe herabsteigend“ in ihre alte tiefliegende Tropenheimat zurückkehren (deren Ort durch das Mythengedächtnis aufbewahrt war, wie das Anna Seghers in ihrer Erzählung Die Rückkehr des Verlorenen Volkes nachempfunden hat) – um dort auf diesem höheren Niveau weiter zu wirtschaften wie bisher in der Höhe und die höhere Kultur an primitive Stämme weiterzugeben: (...) so haben diese Horden, im Norden gebildet (...), die Palmenwelt (...) wiederaufgefunden, und von der Höhe herabsteigend (...) haben sie ihre Kultur und Bedürfnisse den ärmeren, ursprünglich unthätigeren Nachbarn aufgedrängt. Solchen Einfluß auf Menschenglück und Menschenbildung hat die Unebenheit der Erdfläche, dies ist der moralische Einfluß der Berge (Ma 96f.).

Die Mayakultur wäre demzufolge auf den Bergplateaus entstanden und bei Rückkehr in die heimatlichen Urwaldungen verpflanzt worden, wo man die einst hohe Produktivität nicht mehr benötigte, die also unter günstigen, also widrigen Umständen verloren gehen konnte. Übrig bleibt die Erinnerung als Mythen und Ruinen, auf die Humboldts Dekadenzthese gründet: Rückkehr in die heißen Tropenwälder bedeutete Kulturverfall: „Einige Idiome, die heute nur barbarischen Völkern eignen, scheinen Überreste reicher und biegsamer Sprachen zu sein, die von einer fortgeschrittenen Kultur künden (...). “ (Vues 11) Diese These entspricht spiegelbildlich der umgekehrten Behauptung vom mangelnden Stimulus zu Arbeit und Agrikultur bei üppigen Naturbedingungen und nachfolgender Dekadenz durch Erschlaffung infolge Wohlleben, womit Montesquieu den Niedergang Roms und Rousseau den der westlichen Zivilisation erklärt. Die anthropologiehistorische Erkenntnis des widerständigen Naturzwangs zur Weiterentwicklung per Bedürfnisentwicklung hatte Humboldt bereits in Die Lebenskraft oder der rhodische Genius, eine Erzählung, verallgemeinernd ausgedrückt: „Wo durch Gestaltung des Bodens die Natur dem Menschen großartige Hindernisse zu überwinden darbietet, wächst bei unternehmenden Volksstämmen mit dem Muth auch die Kraft.“ (BdN 443) Die Fähigkeiten waren für Humboldt Resultat, nicht Ursache von Entwicklung unter Existenzumständen, „wo das Bedürfnis selbst aus Fleiß erwächst“. (Ma 355) Humboldt zitiert den schon vom Kolonisator Quesada festgestellten Widerspruch zwischen dem schlechten Boden der Hochebene und den dortigen guten Ernten: „Die Spanier waren überrascht, sich in ein Land versetzt zu sehen, wo auf einem wenig fruchtbaren Boden die Felder überall reiche Ernten von Mais, Xenopodium quinoa, Turmas oder Erdäpfel verhießen.“ (Vues 245) In Wirklichkeit war es, suggeriert Humboldt, die harte Arbeit der Landwirte gegen den Widerstand des schlechten Bodens, die hohe Erträge ermöglichte:

58 So wie einzelne Menschenhorden, ausgestoßen, gezwungen, die Tropenlande zu verlassen, in nördlicheren Gegenden zu einer Kultur gelangt sind, welche sie in der zu keiner Arbeit anreizenden, alles von selber darbietenden Tropenwelt nie gewonnen hätten. (…) (ibd., 96)

Er fasst diese strukturale Kulturdialektik in eine Sentenz, die auf die Bedeutung des Wechselklimas, von Warm vs. Kalt, für die menschliche Kultur, besonders die Bekleidungskultur hinweist, weil (...) vor der Conquista in den Ländern, wo kalte und heiße Erdstriche abwechseln (Neu Granada, Mexiko, Peru), die Einwohner zu höherer Geisteskultur gelangt waren als in den heißen, einförmigen Ebenen, (...) wo die Natur unerzwungen alles von selbst erzeugt, und wo die Gebirge nicht hoch genug (also nicht kalt genug, HOD) sind, um ihre Bewohner zu Arbeit und zur Bekleidung zu zwingen. (ibd., 97)

Der laut Humboldt zivilisierende Einfluss der Hochebene auf die eindringenden Indianerstämme infolge des durch Klima und niedrige Temperaturen bedingten Zwangs zu Acker- und Häuserbau und Textilherstellung trifft natürlich genauso auf europäische und überhaupt nördliche Verhältnisse unabhängig von den Höhenlagen zu.7 Er beweist damit die Relativität der nur für diese beiden Gebiete geltenden, auf Grund europäischer Befunde formulierten These von der Selbstschöpfung des Menschen durch Arbeit, die die gewissermaßen arbeitslosen außereuropäischen „Wilden“ aus der Menschheit ausklammert.8 Man müsste vielmehr den abstrakten Menschenbegriff durch den Zivilisationsbegriff ersetzen und in die Formel bringen: „Selbstschöpfung des zivilisierten Menschen durch die Arbeit“. Humboldt stellt die Gültigkeit der Rolle der Arbeit als Charakteristikum des Übergangs vom Naturmenschen zum Kulturwesen auch in Südamerika und damit die globale Tendenz zu solchem Gesellschaftstyp fest. Mit der Selbstzivilisierung des Menschen durch Arbeit erklärt die moderne Anthropologie die

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Seine kulturelle Differenzierung zwischen Höhen und Ebenen erstreckt sich selbst auf die Gesundheit der jeweiligen Bewohner. Der immer kerngesunde Humboldt, dem medizinische Kenntnisse abgingen, widmete sich aufgrund der vielen Erkrankungen seines Begleiters, des Arztes Bonpland, auch den Krankheitsstatistiken der bereisten Länder. In Kuba stellte er eine proportionale Abhängigkeit zwischen Gesundheit und Bergeshöhe einerseits und Krankheit und Niederung andererseits fest. In Mexiko konstatierte er eine Abnahme von ansteckenden Krankheiten in den kalten Höhen und eine Zunahme in den heißen Ebenen. (Kümmel 2o8) Epidemien seien mikroorganismische Globalisierungsphänomene sui generis, die außer vom Klima von der Höhe über dem Meeresspiegel abhängen. Er differenzierte also auch medizinisch zwischen „oben“ und „unten“. 8

Die Zwänge zur Arbeit, zur Agrikultur, zum Häuserbau und zur Kleiderfertigung, zum Schutz vor Kälte und zur Mehrproduktion existierten natürlich ebenso bei den Europäern, die in ihren Ebenen unter ähnlichen Naturbedingungen lebten wie die Indios in den Anden. Aber letztere wurden an ihrer Weiterentwicklung zur modernen alternativen Zivilisation durch die Vernichtung ihrer Kultur durch die Europäer gehindert.

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Entstehung des homo sapiens sapiens aus der Aufwölbung des äthiopischkenianischen Hochlandes in einer planen Landschaft, die eine Zweiteilung Schwarzafrikas in die tropischen Regenwälder im Westen und das gebirgige Wald-Savanne-Gemisch im Osten ganz wie in Iberoamerika zur Folge hatte. Diese Aufwölbung sei ein „wichtiger Faktor für die Entstehung der Hominiden, die sich durch Werkzeugproduktion (...) den veränderten Bedingungen und Klimasprüngen anpassen mussten.“ (Lanius 2009: 13f.) Aber ehe sie sich Werkzeuge schufen, die sie im tropischen westafrikanischen Regenwald genauso wenig wie die Indos in der amazonischen Wildnis brauchten, mussten die ersten homines sapientes sapientes Lebensmittel produzieren. Humboldt sagt zur zivilisierenden Rolle der Arbeit, zu der die Berge die Bewohner zwangen: Noth zwingt zur Arbeit, Kälte ist Noth, und die Untermischung kalter unfruchtbarer Erdstriche, (…) hoher Plateau´s mitten unter die fruchtbarsten Tropenländer hat gewiß den größten Einfluß auf (die) Menschenkultur in Amerika gehabt. (ibd., 96f.)

Humboldts Beschreibung der Kulturierung der Bergindios ist ein gewichtiger Beitrag zur Weltzivilisations- und Kulturgeographie. Seine Darstellung der indigenen Höhenkultur war eine damals woanders nicht nachlesbare Seite der altamerikanischen Kulturgeschichte. Seine Beschreibung der Verwandlung der amerikanischen Sammler und Jäger in Ackerbauern bedeutet Homologisierung des isolierten Amerika mit Europa, Asien und Teilen Afrikas, wo sich dieser Übergang bereits früher vollzogen hatte. Das macht diesen Vorgang zu einem anthropologischen, die ganze Menschheit betreffenden Geschehen. Kunst der Berge – Mythen der Ebene. Hochkultur vs. Stammeskulte Die von Humboldt entdeckten Differenzen zwischen den Stammeskulturen des Flachlandes und den Hochkulturen der Anden implizieren auch die zwischen diesen beiden Kulturtypen im engeren, traditionellen Wortsinn, nämlich zwischen ihren Mythologien, Künsten, Kunstgewerben, Folkloren, Assoziationsund Kommunikationsweisen: Im äquinoktialen Teil Amerikas, wo die immergrünen Savannen über der Wolkenregion aufgehängt schweben, hat man zivilisierte Völker nur inmitten der Cordilleren gefunden. Ihre ersten Fortschritte in den Künsten waren genauso alt wie die bizarre Form ihrer Regierungen. (Vues XII)

Die privilegierte Rolle, die Humboldt in Amerika den Bergen beimisst, erstreckt sich also auf immaterielle und materielle Hervorbringungen. Dies zeigt sein mit Illustrationen nach seinen Originalzeichnungen versehenes Opusculum Pittoreske Ansichten der Cordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas (Vues) über vorkolumbische Kunst und Kunsthandwerk der andinischen Völker. Die Heraushebung der Cordilleren bereits im Titel verweist auf die dem Bergland von Humboldt zugewiesene kunst- und kulturfördernde Rolle.

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Nur dort, nicht im Regenwald konnte er „Monumente der Indios Amerikas“ lokalisieren. Zeugnisse vorkolumbischer Dichtung waren Humboldt wenig zugänglich, nachdem die meisten indigenen Bilderschriften von den Spaniern den Scheiterhaufen übergeben worden waren. Die steinernen „monumens“ aber waren gegen Zerstörung resistenter. „Monumens“ (sic., HOD) meint wirklich und wörtlich die bauliche und skulptorische Monumentalität als Nachbild der zyklopischen Natur Iberoamerikas. Beeindruckt von der Naturgewalt und den Berggiganten hätten die Indios „la grandeur des masses“ in Stein oder Ton reproduziert. (Vues 4) Deshalb konfrontiert er im vergleichenden Wechsel seine eigenen Abbildungen von indianischen Bauten und Objekten, also Kulturprodukte, mit geologischen Formationen, Bergen und Felsensembles, also Naturprodukten. Man kann nicht von Vergleichen Humboldts zwischen den Hervorbringungen der Bergbewohner und denen des Flachlandes reden, da in den Ebenen brauchbare Materialien wie bereits erwähnt gar nicht verfügbar waren. Denn auch aus dem steinernen Material rührt die kulturelle Superiorität der Bergbewohner gegenüber den steinlosen Tiefländlern. Er bewundert die mörtellose Architektur der Inkas und das Geschick mexikanischer Steinmetze am „Aztekenkalender“, die Eleganz der Mäander- und Labyrinthmuster der Mauern des Palasts von Mitla (Mex 39) und der Inka-Festungen im gebirgigen Ecuador: Die Steine sind nach außen ein wenig konvex, und sie sind es auch dort, wo sie aufeinander ruhen. Kein Kalk, kein Mörtel! Was sie zusammenhält, ist die Genauigkeit, (79) mit der sie aufeinander gelegt sind, und nicht die Komvexitäten. (...) Man muß bewundern, daß diese Völker soviel Sinn für Maß und Symmetrie gehabt haben. Die Verteilung von vier großen äußeren Türen, von acht seitlichen Wohnräumen, von denen drei mit acht inneren Türen erhalten sind! (Ma 79f.)

Für seine Zeit ist geradezu avantgardistisch, dass er unter den indianischen Hervorbringungen auch Schmuck, Textilien, Posamente, Haartrachten und ähnliche Objekte, die man heute zum Kunstgewerbe oder zu modischen Accessoires zählt, kommentiert, sozusagen einen modernen „weiten“ Kunstbegriff vorwegnimmt. Sogar eine Haartracht oder Halskette sind „Monumente“, bizarre Bezeichnungen für derartige Objekte. Er stellt fest, dass die präkolumbischen Schöpfungen wenn auch zeitversetzt ähnliche Kunstwerke wie ihre euroasiatischen Pendants darstellen und genau wie jene zur Menschheitskulturentwicklung dazugehören. Er kreidet den Azteken die „Hässlichkeit“ mancher Figuren und häufige Darstellung von Menschenopferszenen als kunstwidrig an und empfindet ihre Skulpturen und Palastbauten als grobschlächtig. Er schlussfolgert aus den „halbzivilisatorischen Zuständen“ der Bergbewohner, dass sie in der Kindheitsphase ihrer Kunstentwicklung stecken. Von einem in Oaxaca gefundenen mexikanischen Relief (Mex 47) schreibt er, dass die schlanken Figurationen „ziemlich korrekt“ und die Hände gut getroffen seien, „was nicht die erste Kindheit der Kunst ankündigt“: soll heißen, der indigene Bildhauer sei über die Anfänge der

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Kunst hinaus, ohne die Reife des Erwachsenenalters erreicht zu haben. Was er hier präsentiere, sei „alles, was mit dem Ursprung und den ersten Fortschritten der Künste bei den eingeborenen Völkern Amerikas in Beziehung steht“ (ibd., 3), was sein Schwanken zwischen Anerkennung des Kunstcharakters einerseits und Subsumierung der präkolumbischen Produkte unter Vor- bzw. Nichtkunst andererseits deutlich macht. Kunstcharakter schreibt er dagegen griechischen Tempeln und Statuen zu, reserviert folglich den Kunstbegriff der von ihm oft beschworenen Antike, was kritische Autoren begierig als Eurozentrismus auslegten. Fälschlicherweise, denn Humboldt selber schließt Europeizität als Grund für die Überlegenheit griechischer Kunst explizit aus, wenn er schreibt, dass „der Keim der schönen Künste sich nur auf einem sehr kleinen Teil des Globus (nämlich nur in Griechenland, HOD) entfaltet hat“, während im selben Europa, in derselben Antike, gleich nebenan und unter denselben klimatischen Bedingungen, die nichtgriechischen europäischen Nationen nichts Vergleichbares hervorbrachten: Wie viele Nationen des alten Kontinents haben unter einem ähnlichen Klima wie dem Griechenlands gelebt, umgeben von allem, was die Einbildungskraft anzuregen vermag, ohne sich zu dem Gefühl für die Schönheit der Formen zu erheben, einem Gefühl, das die Künste nur dort geleitet hat, wo sie vom Genius der Griechen befruchtet wurden. (AdN, 19)

Die Griechen waren also, wie das Wörtchen „nur“ verrät, eine diesbezügliche Ausnahme, eine Anomalität unter den Europäern, während Marx sie fälschlich „normale“ Kinder nannte. Doch der eigentliche Kern seiner Argumentation ist viel interessanter, wenngleich von allen Humboldtforschern unbemerkt: den Kunstcharakter der griechischen Hervorbringungen knüpft er gar nicht an die Europäizität, sondern an die politische Demokratie der polis und die individuelle Freiheit der Polisbürger. Laut Schiller und Kant ist das Spielerische – Huizingas homo ludens – konstitutives Hauptmoment der Kunst als Ausdruck von Freiheit. Das zeigt sich auch darin, dass die griechischen Statuen Schauwert haben, für den Betrachter und dessen Genuss geschaffen wurden. Gerade das Spielbein, die ludische Körperhaltung, fehlt den Götterstatuen der Indios, die Humboldt vorführt, die vielmehr mit beiden Füßen in die Mutter Erde, die Pachamama, eingestemmt stehen und keinem Selbstzweck, keinem freien Spiel, sondern nur der Religion, dem Kultus, zweckordiniert dienen. Von „interessefreiem Wohlgefallen“, für Kant Wesensmerkmal von Kunst, kann bei den indianischen Skulpturen also nicht die Rede sein, denn Humboldt zufolge gab es weder bei Inkas noch bei Azteken persönliche Freiheit, folglich keine Interessefreiheit, keine freien Künstler und freien Kunstbetrachter, sondern Despotie: Die altperuanische Theokratie und die mexikanische Monarchie (…) haben dazu beigetragen, den Monumenten, dem Kultus und der Mythologie zweier Bergvölker (Inkas und Azteken, HOD) jenen trüben, dunklen Charakter zu verleihen, der im Gegensatz zu den Künsten und den süßen Fiktionen der Völker Griechenlands steht. (Vues 16).

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Auch fehlte dort infolge der Autokratie die für die Kunstentfaltung notwendige Individualität, die in der Polisdemokratie vorhanden war: Bei den Peruanern hat eine theokratische Regierung, die die Fortschritte der Industrie, die öffentlichen Arbeiten und alles das, was sozusagen eine Massenzivilisation ist, fördert, die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten verhindert. Das Imperium der Inkas ähnelte einer großen klosterähnlichen Einrichtung, in der jedem einzelnen Mitglied der Kongregation vorgeschrieben war, was er für das gemeinsame Wohl zu tun habe. Das Gesetzbuch von MancoCapac ist für das öffentliche Glück geschaffen worden. Nicht so oppressiv ist die Regierung der mexikanischen Könige gewesen. Paris, im Monat April 1813

Es liegt für Humboldt nicht am Wesen beider Völkergruppen, dass die einen, die Indios, unfähig zur Kunstproduktion waren, während die anderen, die Griechen bzw. Europäer, über diese essentialistisch verfügten: sein Kunstbegriff differenziert funktional und historisch die Hervorbringungen zweier verschiedener politischer Regime entsprechend ihrer unterschiedlichen historischen und kulturellen Entwicklungsniveaus. Humboldt begründet treffend den „Rückstand“ der Indios und den „Vorlauf“ der Griechen damit, dass sich die Indios in absoluter Isolierung (Trennung) von der (eurasischen) Weltkunst auf sich selbst gestellt entwickeln mussten, wogegen die Griechen auf Jahrtausende Kunstentwicklung der Assyrer, Ägypter usw. aufbauten: Ich glaube in der Mythologie der Amerikaner, im Stil ihrer Gemälde, in ihren Sprachen und vor allem in ihrer äußeren Gestalt die Ankömmlinge einer Menschenrasse zu erkennen, die frühzeitig getrennt vom Rest der menschlichen Spezies während einer langen Reihe von Jahrhunderten einen Sonderweg in der Entwicklung ihrer intellektuellen Fähigkeiten und ihrer Tendenz zur Zivilisation gegangen ist. (Vues 86)

Diese für sein Denken zentrale Isolierungsthese gestaltet er im Kosmos noch weiter und verblüffender aus. Seine Bemühungen um Verständnis für die Kunstentwicklung der Altamerikaner sind erster Versuch, diese in den bis dato nur Europa und Asien umfassenden, in Europa geprägten (Welt)Kunstbegriff zu integrieren, sie als regionales Fragment der Weltkunst gewissermaßen als Vorgriff auf die Anerkennung „primitiver“ Kunst durch Picasso oder die Dresdener Brücke-Maler anzusehen. Seine Ausführungen korrigieren Winkelmanns gräzisierenden Kunstbegriff.9

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Dem despotischen Charakter der vorkolumbischen Regimes der Inkas und Azteken konnte er kein gegenteiliges „demokratisches“ Analogon anderer indianischer Populationen entgegensetzen. Letzteres fand Carlos Lenkersdorf (2002) in der konsensuellen Basisdemokratie der mexikanischen Tojabales im Unterschied zur andinischen Despotie und zur westlichen Repräsentativdemokratie.

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Narrative der Höhen vs. Narrative der Ebenen Getreu seiner auf dem Antagonismus von Ebene und Höhe beruhenden terrestrischen Konzeption suchte Humboldt die Zweiteilung auch in den immaterialen, verbalen Monumenten der Indigenen, in den Unterschieden zwischen den Narrationen der Bergvölker und denen der Ebenenbewohner. Das kulturgeschichtliche Differentialbinom schriftlich vs. mündlich bezeichnet diesen erzählkünstlerischen Gegensatz. Von ersteren stellt Humboldt mehrere vor der Vernichtung durch die Europäer gerettete Bilderschriften (Piktografien) in den Monuments vor, während er orale Narrationen der Waldindianer in den Äquinoktialen Tagebüchern nacherzählt. Die Bilderschriften der Azteken (und Mayas, deren Codex Dresdeniensis er fälschlich unter aztekische Kultur subsumierte) beschreiben in den von ihm reproduzierten Abbildungen entsprechend der Gesellschaftsstruktur und dem Kulturniveau von Bergnationen bereits institutionalisierte Zustände: die Genealogien, kulturellen Taten und Kriege der Herrscherdynastien, ihre Rituale, Götter, Kostüme, Schmuckgegenstände und Kleidungen. Viele schriftsprachliche, in aztekischen Piktographien oder alphabetischer Umschrift bzw. spanischer Übersetzung vorliegende prähispanische Mythen und Chroniken wie das Popol Vuh oder Dramen wie das Rabinal Achi, beide aus Guatemala, sowie die elegische vorkolumbische Lyrik der Azteken wurden erst Mitte des 19. Jahrhunderts publiziert, waren also Humboldt unbekannt. Ihnen stehen die oralen Mythen und Sagen der Waldindios vom Orinoco, die er sich von den Indianern erzählen ließ und wie ein folkloristischer Feldforscher niederschrieb, gegenüber. Diese handeln entsprechend der „vorinstitutionellen“, naturhaften Lebensweise dieser „Naturvölker“ von ihren Naturgottheiten, ihrer natürlichen Umgebung, sind Entstehungs- und Ursprungsmythen der einzelnen Stämme, Kosmologien und Sintflutsagen. Humboldt behandelt sie als indigenen Teil der Landeskunden und Ausdruck des kollektiven Volksgedächtnisses. Die bodenständigen indianischen Sagen schweben in seiner Nacherzählung wie immaterielle Bestandteile als landeskundliche Ethnologica seltsam in der Atmosphäre. Humboldt wertete als erster Kulturhistoriker und Anthologist die orale indigene Literatur als literarische Dokumente, ordnete sie in die Geschichte der Weltliteratur ein, wozu lateinamerikanische Literaturwissenschaftler erst spät, deutsche erst nach Mitte des 20. Jahrhunderts imstande waren. Noch 1940 pries der Hamburger Hispanist Rudolf Grossmann in Die Dichtung im spanischen Amerika zwar die Literaturen der „hochzivilisierten Reiche der Inkas, Maya und Azteken“, doch schloss er explizit „ die Indianer der Llanos und Urwälder“ als „Literaturproduzenten“ aus. (Ibero-Amerikanische Rundschau 6, S. 70) Den von Humboldt festgestellten kulturellen Strukturzusammenhang zwischen Altamerikanern und Asiaten erwähnt auch Löschner (1987a, 249) in ihrer Arbeit zur Paleoamerikanistik Humboldts als dem Vorläufer der Archäologie Altamerikas. Humboldt bemerkte ihr zufolge das kulturelle Wiederanknüpfen einer einstmals getrennten transpazifischen Verbindung

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zwischen Westamerika und Ostasien. Er findet Beinahe-Identität der Tierkreiszeichen Kaninchen, Tiger und Hund (Zodiakus) bei Tibetanern, Tartaren, Japanern und Mexikanern, während er die Afrokultur Südamerikas mit Westafrika verknüpft. Warm vs. Kalt – Tropen und gemäßigte Zone Humboldt baut in seiner imaginären ewigen Weltwetterkarte eine weitere zweigliedrige Erdstruktur aus Klimaten und Temperaturen auf, ihre Aufteilung in Tropen und gemäßigte Zone: horizontal liegen die heiße der Tropen, die gemäßigte des europäischen Nordens und des australischen Südens sowie die kalte Zone des Ewigen Polareises nebeneinander. Auch die Hochebenen und Bergriesen der Tropen weisen diese Staffelung von „heiß“, „gemäßigt“ und „kalt“ auf, jedoch in vertikaler Ausrichtung, vom heißtemperierten Bergfuß über gemäßigte mittlere Höhenlagen bis zu den eisigen Gipfeln. Einen diesbezüglichen Vortrag Hauptsächliche Ursachen der Temperaturunterschiede auf der Erdkugel hielt Humboldt 1827 in der Berliner Akademie. Man könnte von einer Humboldtschen horizontalen wie vertikalen Dreischichten-Temperaturtriade sprechen. Die horizontalen und die vertikalen Temperaturzonen korrespondieren in seinem Erdmodell miteinander: bei der Reise vom Äquator zum Südpol wie Nordpol und zurück durchschreitet man nacheinander die gleichen drei Klimazonen heiß-gemäßigt-eisig wie über- oder untereinander beim Auf- bzw. Abstieg im tropischen Gebirge. Doch ist die Vertikale eine ungeheure Verkürzung im Verhältnis zur horizontalen Erstreckung: je näher sich die Gebirge vom Äquator weg den Polen in horizontaler Richtung nähern, schreibt er, desto tiefer sinken vertikale gemäßigte Zone und der Bereich Ewigen Schnees, bis beide in den borealen Gebieten verschmelzen. Diese klimatologische Homologisierung von Horizontale und Vertikale legt nahe, seine kulturhistorischen Ausführungen zu den amerikanischen Bergkulturen auch auf die Kulturen der gemäßigten Zone, vor allem auf Europa zu beziehen und zu deren Erklärung mit heran zu ziehen. Diese vertikale Stratifikation ist es, die ihn zur Metapher von den „Klimastockwerken“ greifen ließ, eine auf die Temperaturunterschiede hin erfolgte Erweiterung des nur auf Vegetationsunterschiede fixierten Bemboschen Terrassenmodells des Ätna. Der Erdball, dieses Zentrum Humboldtschen Denkens, war seiner uranologischen Beschreibung im Kosmos zufolge einst flüssig und heiß, während er heute an den Polen und auf den Hochgebirgsgipfel fest und kalt ist, jedoch in den Tropen beiderseits des Äquators Reste einstiger Hitze bewahrt. Im Prozess der Erkaltung entstanden die warmen und gemäßigten Zonen als Rückstand des Glutballs, während die Pole und Bergriesengipfel sich die ihnen nahe Weltraumkälte einverleibten. Doch wissenschaftlich interessierten ihn nicht die unbelebten Extremregionen der Polregionen und Hochgebirgsgipfel – für letztere hat er nur sportliches Interesse als Bergsteiger – sondern die zwei Klimaetagen mit organischem Le-

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ben: die heißen Tiefebenen der Tropen (samt der Bergsockel) und die gemäßigten, mit Europa vergleichbaren Höhenlagen. Diese Temperaturunterschiede und nicht die Höhenlagen an sich sind es, die zwei unterschiedliche Vegetationstypen mit entsprechend differenten mineralischen Lebensmitteln und Habitaten für die Pflanzen erzeugen. Als deren Sekundärfolgen leitet er die manifesten Kulturunterschiede zwischen den Bewohnern der gemäßigten Hochebenen und denen der heißen Tiefebenen ab. Also ist für ihn der letztinstanzliche kausale Unterschied zwischen tropischen Tief- und Hochebenen nicht der zwischen Tief und Hoch, auch nicht zwischen Fruchtbarkeit ersterer und Kargheit letzterer, sondern zwischen den Temperaturen, zwischen heißer Tiefe und gemäßigter Höhe; mit entsprechender Differenzierung der zwei Großgruppen von Menschheitskulturen. In der im uranologischen Kosmos-Teil skizzierten Naturgeschichte der Erde erzählt er das Ausfließen aus dem vulkanischen Erdinnern von Kohlenstoffen, Kohlensäure, alkalischen Erden, schwefelsauren Dämpfen, tropfbaren Flüssigkeiten, Wasser, Schlamm und geschmolzenen Erden bis zu den Temperaturen der Regentropfen in Abhängigkeit von der Lufttemperatur im venezolanischen Cumaná und den entsprechenden Isothermen. Aus dem Mittelwert aus der sich in das Erdinnere zurückziehenden Heißglut des Erdinnern und dem klirrend kalten Weltraum entstand nach Humboldt aus anorganischer Materie das ohne Wärme unmögliche Leben, der er die Hauptrolle bei dieser Geburt zugesteht: nur sie, die Wärme als Rückstand der Erdentstehung aus Gluthitze, mache das Leben der Pflanzen möglich: In den früheren Perioden, wo bei erhöhter Erdwärme und bei der Häufigkeit noch unausgefüllter Erdspalten, die Prozesse, welche wir hier beschreiben, mächtiger wirkten, wo Kohlensäure und heiße Wasserdämpfe in größeren Mengen sich der Atmosphäre beimischten, muß (...) die junge Pflanzenwelt fast überall und unabhängig von der geographischen Ortsbreite zu der üppigen Fülle und Entwicklung ihrer Organe gelangt sein. In den immer warmen, immer feuchten, mit Kohlensäure überschwängerten Luftschichten müssen die Gewächse in solchem Grade Lebenserregung und Überfluß an Nahrungsstoff gefunden haben, daß sie das Material zu den Steinkohlen– und Lignitenschichten hergeben konnten, welche in schwer zu erschöpfenden Massen die physischen Kräfte und den Wohlstand der Völker begründeten. (Ko I,195)

Ich glaube nicht, dass Humboldt ganz zufällig, außerhalb dieses Gegensatzes, den Titel Reise in die Äquinoktial-Gegenden des neuen Kontinents wählte, sondern phonetisch Äquinoktium mit Äquator und somit mit den heißen Tropen assoziieren wollte. Humboldt als einer der wenigen mit beiden Temperaturzonen vertrauten Wissenschaftler widmete von seiner Ankunft in Iberoamerika an seine Aufmerksamkeit der von der kalten Altwelt abweichenden heißen Neuwelt, woraus er die „Entzweiung“ der Weltkultur in zwei dementsprechende große Gruppen folgerte. Wenn er die vertikale Opposition Gebirge-Ebene auf den Gegensatz heiß vs. gemäßigt reduziert, so gilt das auch für die Opposition „Tropen vs. Nordwesten“. Durch die Entdeckung Amerikas und die wirtschaftliche und politische

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Macht Englands, Frankreichs und der USA verschiebt sich das Weltzentrum vom Mittelmeer zum Nordatlantik hin, sozusagen in Vorahnung der NATO. Sein Vorbild Buffon leitete daraus eine eurozentristisch-rassistische Werteskala ab: „(...) an der Spitze befinden sich die Nationen Nordeuropas, gleich darunter die anderen Europäer, danach kommen die Völkerschaften Asiens und Afrikas, und ganz am unteren Ende der Skala die amerikanischen Wilden“. (zit. nach Tzvetan Todorov 1989, 144) Eine solche Direktbeziehung Rasse-Zivilisation war für Humboldt unannehmbar, aber auf die unstreitige Überlegenheit des Nordwestens als zivilisatorischen Führungspols kommt er im Kosmos zu sprechen: Seitdem die Zivilisation ihre ältesten Ursitze innerhalb der Tropen oder in der subtropischen Zone verließ, hat sie sich bleibend in dem Weltteil angesiedelt, dessen nördlichste Regionen weniger kalt als unter gleicher Breite die von Asien und Amerika sind. (...) Die physische Beschaffenheit von Europa hat der Verbreitung der Kultur weniger Hindernisse entgegengestellt, als ihr in Asien und Afrika gesetzt waren (...) Wir beginnen demnach hier, bei der Aufzählung der Hauptmomente in der Geschichte der physischen Weltbetrachtung, mit einem Erdwinkel, der durch seine räumlichen Verhältnisse und durch seine Weltstellung den wechselnden Völkerverkehr und die Erweiterung kosmischer Ansichten, welche Folge dieses Verkehrs ist, am meisten begünstigt hat. (Ko II, 99f.)

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Exkurs 1: Die Humboldtschen Binomien nackt vs. bekleidet Die Humboldtschen Antinomien der anorganischen bzw. anteorganischen Natur haben Folgen für das organische Leben, die Pflanzenwelt, für die von dieser abhängige Agrikultur, Ernährung, Lebensweise und Geisteskultur der Menschen. Auf dieser „Natur“-Grundlage errichtet er das Gebäude seiner dritten Binomiengruppe, das der humanweltlichen Kultur. Das sei am Beispiel seiner vom Gegensatz warm vs. gemäßigt zehrenden Opposition nackt vs. bekleidet gezeigt. Die Indios liefen laut Kolumbusbericht über seine erste Begegnung mit ihnen allesamt „desnudos como su madre los parió“, nackt wie ihre Mutter sie geboren hatte herum, während diese ihrerseits über die Bekleidung der in eiserne Rüstungen verpackten Spanier staunten. Schon bei den ersten „Entdeckern“ und Konquistadoren erregte die ungenierte Nacktheit der Eingeborenen Aufmerksamkeit und Anstoß. Doch Humboldt bemerkt, dass dies nur für die Insulaner der heißen Karibik, auf welche sich Kolumbus´ Kenntnis von der Neuen Welt weitgehend beschränkte, sowie für die Regenwaldbewohner zwischen Orinoko und Chaco zutraf. Dieses Detail des Kolumbus-Berichts über die Nacktheit der Indianer hat neben der Erwähnung des Goldes und der Menschenfresserei den größten Eindruck auf die Europäer gemacht und wurde von ihnen als Mythos mit der „Neuen Welt“ identifiziert. Sie sahen die Nacktheit der indianischen Heiden als Ausdruck der Unsittlichkeit und Morallosigkeit im Sinne der Bibel an, der zufolge das nackte erste Menschenpaar Adam und Eva aus dem Irdischen Paradies wegen seiner Sündhaftigkeit vertrieben wurde (Indianische Nacktheit assoziiert andererseits das „Irdische Paradies“, das Kolumbus an der Orinokomündung zu entdecken geglaubt hatte). Humboldt selber badete mit Bonpland bei jeder Gelegenheit in freier Natur von Prüderie frei nackt in Fluss und Meer und teilte keines der diesbezüglichen christlich-abendländischen Vorurteile. Er traf nach Eintauchen in den Urwald ständig auf nackte Indios. Für ihn war klar, dass in der tropischen Hitze keine Kleidung zur Warmhaltung des Körpers nötig war und moralische Hemmungen in dieser Hinsicht bei den Eingeborenen nicht existieren konnten. So wunderte ihn nicht, dass die Indios, die von den padres zum Tragen von Kleidung gezwungen wurden, sich dieser laut Humboldt „schämten“ – das war Humboldts bewusst provokatorische Umdrehung der christlich-normativen Bedeutung von „Scham“ – genauso wie die Weißen sich umgekehrt der Nacktheit schämten: Die Chaymas haben wie alle halbwilden Völker in sehr heißen Ländern, eine entschiedene Abneigung gegen die Kleider. In der heißen Zone schämen sich die Eingeborenen, wie sie sagen, daß sie Kleider tragen sollen, und sie laufen in die Wälder, wenn man sie zu früh nötigt, ihr Nacktgehen aufzugeben. Bei den Chaymas bleiben, trotz des Eiferns der Mönche, Männer und Weiber im Innern der Häuser nackt. Wenn sie durch das Dorf gehen, tragen sie

68 eine Art Hemd aus Baumwollzeug, das kaum bis zum Knie reicht. Es kam vor, daß wir Eingeborenen außerhalb der Missionen begegneten, die namentlich bei Regenwetter ihr Hemd ausgezogen hatten und es aufgerollt unter dem Arm trugen. (Äqu 127f.)

Für Humboldt ist Nacktheit eine den Tropen angepasste „Kleidung“; dort gelten Körperbemalungen als Kleidermuster und sparsame Ornamentik als Zeichen von Armut und niedrigem gesellschaftlichen Rang: Wie man daher in gemäßigten Ländern von einem armen Menschen sagt, er habe nicht die Mittel, sich zu kleiden, so hört man die Indianer am Orinoco sagen: „Der Mensch ist so elend, daß er sich den Leib nicht einmal halb malen lassen kann.“ (ibd., 241)

Diese Bemerkungen Humboldts über die modische Identität der Bekleidung der Europäer mit der Körperbemalung der Indios stellen vordergründig die menschliche Gemeinsamkeit des ästhetischen ornamentalen Schmuckbedürfnisses von Europäern und Indios heraus. Diese Kommentare sind Korrekturen Humboldts an den frühen bildhaften europäischen Darstellungen der „Neuen Welt“, die die nur in den Tropen praktizierte Nacktheit fälschlich auf alle Indios verallgemeinerten, so Bernart Picart in seiner Allegorie der Erdteile Afrika, Asien und Amerika, in der, im Gegensatz zur griechisch gewandeten Europa und zur turbangeschmückten Asia, die Afrika und Amerika verkörpernden Personen kaum bekleidet sind. Auch in Matthias Merians d. Ä. Historia Antipodum oder Newe Welt und vielen Graphiken des 16. – 18. Jahrhunderts ist “America“ nackt. Humboldt (ibd.) erwähnt deshalb die Verblüffung der Entdecker und Conquistadoren, als diese von der von nackten Indiostämmen bewohnten tropischen Tiefebene zu den höheren Anden vorstießen und dort, im Gebirge, im Gegensatz zu dem von Kolumbus und den „Entdeckern“ verbreiteten Klischee des „nackten Indianers“, in prächtige Kleider gehüllte Eingeborene herumlaufen sahen: In baumwollene Zeuge gekleidet fanden (die) Conquistadoren die Nationen Mosca, Guane (um Vélez) Muzo und Colima, welche alle kalte Gebirgsländer bewohnten. (Sie) erstaunten nicht wenig, als sie aufs hohe Plateau der llanos von Bogotá kamen und statt der nackten Menschen, die sie um S(anta) Marta und an (der) Mündung des Rio Grande gefunden, die Indianer in feine, gewebte Zeuge gekleidet sahen.

Ursache des Bekleidungsbedürfnisses der Indios auf den Hochebenen war laut Humboldt natürlich die niedrigere Temperatur: „Kälte zwang (die) Moscas (...) zur Bekleidung“ schreibt er (Ma 193). Die Indios der „kalten Gebirgsländer“ waren genau so textil bekleidet wie die Europäer. – Der Gegensatz nackt vs. bekleidet bestand also nicht nur zwischen tropischen Indios und christlichen Abendländern, sondern auch innerhalb der Indios zwischen denen der Ebenen und des Hochlands: Auch bildeten die Gebirgsvölker von Anahuac, Cundinamarca und Antisuyu schon große, wohlorganisierte Gesellschaften; schon hatten sie eine intellektuelle Kultur, welche der von

69 China und Japan nahe kam, als in den fruchtbaren Ebenen, welche sich östlich von der Andenkette gegen das Meer hin erstrecken, die Menschen noch, zerstreut und nackt, ein tierisches Leben führten. (GPfl., 150)

Diese Unterscheidung ist mehr als geistreiches Aperçu, sie reicht in die Wirtschafts- und Zivilisationsentwicklung hinein, umspannt eine bedeutende Kulturetappe, die vom Anbau textiler Pflanzen über die Technologien des Spinnens und Webens bis zu Modefragen reicht. Humboldt führt in seinen Vues mehrere mit solchen Wirktechnologien erzeugte Schmuckgegenstände, Kleidungsstücke und Accessoires der Altmexikaner in von ihm selbst gefertigten Zeichnungen vor. Die so beginnende Textilherstellung gelangte infolge der Conquista nicht mehr zur Manufakturstufe. Andrea Komlosy stellt zur Entwicklung der englischen Industrie fest, dass die indische Baumwollherstellung „ausschlaggebend für die Innovationen in der englischen Baumwollindustrie war, die schließlich den Vorsprung Englands bei der industriellen Revolution begründeten“. ( 275) Das Wichtige an dieser Feststellung Komlosys ist der Zusammenhang zwischen Textilindustrie und avancierter Industrieentwicklung Englands, die die europäische Industrie herausforderte und damit den Hauptniveauunterschied zwischen dem fortgeschrittenen Okzident und den „Entwicklungsländern“ inaugurierte. Wenngleich es unbewiesen bleibt, ob die Indianer mit einer hochentwickelten Textilindustrie mit den Europäern hätten konkurrieren können, wie es heute zumindest ihre folklorischen Produktionen tun, so ist doch ohne diese der Eigenstart in eine Industriezivilisation schwer denkbar. Auf diesen kulturellen und ökonomischen Zusammenhang verweist auch die Propaganda von Daniel Defoe, Autor des Robinson, im 18. Jahrhundert für einen Krieg gegen Portugal, denn man könne dann die nackten Indios der damaligen lusitanischen Kolonie Brasilien mit englischer Baumwollwäsche bekleiden und so außer der mit militärischen Mitteln erfolgenden Verbreitung von Moral auch noch ganz schön an diesem Handel verdienen.10 Um es kurz zu machen: Humboldt sieht im Übergang von der Nacktheit zur Bekleidung einen Fortschritt, der jedoch nicht in der Bekleidung als solcher und schon gar nicht in einer höheren Moral gegenüber dem adamitischen Zustand, sondern im Zwang zur Produktion von Bekleidung besteht, im Verarbeiten von Lamahaaren und Baumwolle zu Garn, im Weben der Kleider 10

“The Portoguese have so civilized the natives and black habitants of the country, as to bring them, where they went even stark naked before, to clothe decently und modestly now. And all these nations are closed more or less with our English wollen Manufactures, and the same in proportion to their East India factories.”. (Humble Proposal), zit. nach Hans-Jörg Tidick (1983), Daniel Defoes kleinbürgerliche Gesellschafts- und Literaturkritik. Frankfurt am Main - Bern: 121f. :- Der Titel einer ins Deutsche übersetzten Kampfschrift Defoes lautet: „Die augenscheinlichen Vortheile, welche Großbritannien und dessen Alliierte von dem bevorstehenden Kriege (gegen Portual, HOD, insonderheit was die Handlung (den Handel, HOD) betrifft, zu erwarten habe.“

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und Hängematten, im Ornamentieren der Posamente, also im Beherrschen einer modernen Wirk-Technologie, die zur „Tuchfühlung“ mit Westeuropa hätte führen können, also mithin in einer höheren Produktivität und Produktionsfähigkeit als einer Vorstufe einer Industrialisierung. Die Sitte des Sich-Bekleidens trifft also sowohl auf Europa als auch auf die Andenhöhen zu, da beide die gleichen meteorologischen Bedingungen aufweisen, während die Indios und Schwarzafrikaner der Tropen das Adamskostüm bevorzugten.

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Viertes Kapitel: Organisches vs. Anorganisches Mit heiß vs. kalt endet in Humboldts Erdgeschichte und Erdphänomenologie, die für ihn fast identisch sind, die Liste der Natur-Binomien. In der Struktur seines Denkens trennt sich entsprechend der Erdgenesis und Erdstruktur die Verbindung zwischen dem bloßen Dasein der Materie des Erdballs einerseits, dem Anorganischen, und den Organismen, welch letztere auf der leeren Erdkugel ein eigenes Leben zu führen beginnen, andererseits. Beschränkte sich meine bisherige Darlegung der Metaphysik Humboldts auf die anorganische Natur, behandelte ich organische und humane Bezüge nur, soweit sie deren kulturelle Folgen im Natur-Kultur Übergangsfeld waren, so folgt nun der Übergang zu den das Organische bezeichnenden Binomen. Bereits seine erste wissenschaftliche Publikation, die Flora Subterranea Fribergensi, untersuchte Beziehungen zwischen Anorganischem und Organischem, Pflanzen und Mineralen, in erzgebirgischen Bergstollen, also im Übergangsfeld zwischen toter Materie und Lebewesen, deren Studium, nämlich des „Einflusses der toten Natur auf die belebte Tier- und Pflanzenschöpfung“, Programm seiner Südamerikareise wurde. Die Trennung der Erde vom übrigen Kosmos bildet den Untergrund seiner Unterscheidung zwischen uranologischem und tellurischem Reich. Die Erde ist sowohl anorganische Materie, als auch, als „Scholle“, organischer Lebensquell. Humboldt schildert die Hervorwölbung der Kontinente aus dem Urmeer, die Verteilung der Landmassen auf beide Hemisphären, die Meere, Gebirge, Vulkane, Ströme, Landschaften, Lichtverhältnisse, den „Luftozean“, Winde, Gravitation, Magnetismus, Klimate, Ebbe und Flut und die folgenreiche Trennung zwischen der östlich-eurafrikasiatischen und der westlich-amerikanischen Hemisphäre. Es folgen die Fossilien, animalische: Ammoniten, Muscheln, Fische, Reptilien, Saurier, Säuger, und florale: Kohle, Farne, Palmen, Koniferen, als ertotete Zeugnisse des Lebens, und schließlich die Lebewesen: Pflanzen, Tiere, Menschen. Humboldt listet diese Geoelemente weder als Addition unverbundener, getrennter Elemente einfach auf, noch akzeptiert er ihre mythologische, vorwissenschaftliche, phantastische Verbindung à la Athanasius Kircher, sondern sieht sie als Glieder eines wechselseitigen Zusammenhanges entsprechend seiner Programmatik, „das Zusammen- und Ineinanderwirken aller Naturkräfte zu untersuchen“. (Äqu 33) Alexander von Humboldt fasst Evolution als Eigenschaft alles irdischen Seins. „Das Seiende ist aber im Begreifen der Natur nicht vom Werden absolut zu unterscheiden. (Ko I, 56) (...) Erkenntnis des Werdens ist fesselnder als die des Seins.“ (Ko I, 66) Selbst betreffs anorganischer Geologica betont er ihr Gewordensein und ihren Status steten Werdens: Sogar die Minerale haben laut Humboldt ihre „Geschichte“, ihr Werden als Trennung in Eruptions-, Sediments- und Metamorphosierungsgesteine. Er nimmt in ihnen Veränderung als „Metamorph(osie- rung)en“ wahr, spricht sogar leicht ironisch von der

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„Lebensart“ der Steine, als handele es sich um Lebewesen – und meint damit Verkiesung, Körnigwerden, „Dolomitisierung“, Umwandlung von Kalk in Gips, von Granit und Gneis in Quarz, von Kohle in Diamant. Er suggeriert somit in der Anorganik „Lebenskraft“, potentielle Disposition zu „Leben“. Wichtiger noch als diese zeitlichen Veränderungen sind ihm räumliche, durch natürliche „Kontaktphänomene“ (Ko I, 240) – ein wissenschaftsmoderner Ausdruck Humboldts – erzeugte Innovationen, also „Verbindungen“: die Granitbildung im Tonschiefer bei Kontakt mit Basalt und Dolorit, die „Schlackenselbsterzeugung“ (!!) als Lava, „künstliche“ Mineralbildungen – welch treffende, Formulierung – also „natürliche“ Synthesen, sowie materialgenetische „Verwandtschaften“ zwischen verschiedenen Stoffen. (Ko I, 242; s. Goethes Begriff der „Wahlverwandtschaften“) Mehr als die „Trennung“ in reine „Substanzen“ hebt er „Bindungen“, Mischungen, Versinterungen, Amalgamierungen, Verkiesungen und Verschmelzungen der Minerale und Metalle analog zur „Mestizierung“ (Ko I, 243), Kreuzung, Bastardisierung der Lebewesen und zur Mulattisierung und Hybridisierung der Menschen hervor. Er bevorzugt jedwede Mischung statt „reiner“ Substanzen, sieht Kontamination als bereichernde Vervielfältigung der Welt: Humboldt erklärt die Entstehung der Gebirgsarten und Bodenschätze aus Eruptionsgesteinen: Granit, Kalkstein, Grauwacke, Schiefer, Marmor; Jaspis, Kieselsäure. Sie erzeugen die „lebendige Welt“ der Pflanzen und Tiere, die Laubpflanzen, Gefäßpflanzen, Farne, Koniferen, Palmen, Ahorne, Muscheln, Fische, Vertebraten, Saurier, Säuger, deren Auftreten er anhand der Fossilien verfolgt. Er untersuchte lebenslang den „Einfluss, den die unbelebte Welt auf die der Tiere und der mit Leben begabten Pflanzen ausübt“, schrieb er an Moll. (Hein 1, 36)

„Tote“ Materie vs. „Leben“ – Lebensmittel und Lebewesen Das Studium der Beziehungen und Mischungen zwischen Anorganischem und Organischem, toter Materie und Lebewesen war sein Beitrag zur Erforschung des Rätsels des Lebens. Den Lebewesen schreibt er die Lebensnotwendigkeit des Lebensmittels in des Wortes wahrer Bedeutung zu, als Nahrung: Mineralien als Nahrung der Pflanzen, Pflanzen als Lebensmittel der Menschen und Tiere. „Leben“ trennt sich von der „toten“, „unbelebten“ Materie, aus der es entsteht. Schon als junger Montanwissenschaftler und Botaniker hatte er in Freiberg die heterogene Gemengelage von subterranen Pilzen, Flechten und Höhlentieren mit Mineralen und Gesteinen beschrieben. Die Todesmetapher und verwandte Bilder geistern immer wieder durch seine Schriften: die Fossilien sind verstorbene Lebewesen, liegen unbeweglich in ihren Gräbern auf unterirdischen „Friedhöfen“. Im Kosmos stellt er das uranologische Sonnensystem einschließlich des anorganischen Teils der Erde als Ansammlung toter Materialien mit bekannter Mechanik und unbekannter Chemie dar. Die Unikalität der Erde bestehe darin, Heimat und Wohnsitz des „Lebens“ zu sein. Humboldt setzt heuristisch das Unbewachsene mit dem Unbewohnten, das Be-

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wachsene mit dem Bewohnten gleich, fasst die Pflanzen, Tiere und Menschen als „Lebewesen“ im Unterschied zu den toten Materieklumpen zusammen. Aus „Entzweiung“ zwischen Anorganischem und Organischem folgt so das Humboldtsche Binom tote Materien vs. Lebewesen. Die Opposition tot vs. lebendig samt seinem Konzept der „Vitalkraft“ tauchte schon in seiner frühen, in Schillers Horen publizierten Erzählung Der Genius von Rhodos auf. Die ursprüngliche, in grauer Vorzeit erfolgte Trennung der toten Materien und der Lebewesen, von Leben und Tod ist für Humboldt gleich der Entstehung der Lebewesen aus der primären toten Materie. Fossilien sind „totes Leben“ und „Unterlagen für die Geschichte des Lebens auf der Erde“. (Gerlach 265) Die primigene Trennung zwischen Totem und Lebendigem erfordert deren ständige Neuverbindung durch Nahrungsaufnahme, also Inkorporierung von Lebensmitteln: für Humboldt existiert ein selbstverständlicher Zusammenhang zwischen Lebewesen und Lebensmittel. Lebewesen bedürfen der Lebensmittel als Mittel zum Leben. Sind die Mineralien die Lebensmittel der Pflanzen, so die Pflanzen die Lebensmittel der Tiere und Menschen. Seiner Suche nach Entstehung, Struktur und Funktionieren von Leben galten seine in Freiberg anhand von Extremsituationen gemachten, nicht ungefährlichen Selbstversuche als Nachvollzug berühmter Experimente, so der Froschschenkelversuche Galvanis. Er brachte mittels anorganischer (chemischer) Substanzen unter der Einwirkung elektrischer Funken ein totes Organ wieder zum Leben, zum Aufzucken als organischer Muskelbewegung. Sein Bericht über eigene Experimente zum Reiz-Reaktionsschema erschien 1797 als Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser. In diesem Zusammenhang betrieb er auch Forschungen zur Bauchspeicheldrüse und zur chemischen Ernährung, untersuchte südamerikanische Elektroaale und die Geophagie des Otomaken-Stammes. Er mutmaßte bei letzteren einen muskularen bzw, nervlichen bedingten Reflex, der als eine Art Placebo-Kost in Mangelsituationen Erdessen als Nahrungsaufnahme simuliert und ein Sättigungsgefühl erzeugt. Humboldt nahm statt der von Aristoteles vorausgesetzten Existenz einer Lebenssubstanz in der Seele als Aufklärer und Kantianer eine Lebenskraft an. Er kannte die mechanistische Auffassung des Begründers der empirischen Medizin La Mettrie vom Menschen als l`homme machine. Auch von Schelling, den er in Jena im Umgang mit Schiller kennen lernte, ist er beeinflusst, wenngleich er dessen Rückbesinnung auf den Mystizismus Jakob Böhmes und die Rückverfügung des Menschen in die von ihm entzweite Natur, die übrigens auch LéviStrauss anstrebte, ablehnte, denn er sah in der Naturunabhängigkeit des Menschen den ersten Grad von Freiheit und den essentiellen Unterschied zu den übrigen Lebewesen. Er stand, wie Dettelbach (2001) betont, nicht voll gegen Schellings Naturphilosophie, den er als Urheber des Kampfes und Sieges gegen die Atomistik schätzte, weil er die Möglichkeit demonstrierte, “alle Naturerscheinungen auf den nie beendeten Streit entgegengesetzter Grundkräfte der Materie“ (= Entzweyung, HOD) zurückzuführen. Jedenfalls ist die Darstellung

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des Ursprungs der „Entzweyung“ in tote Minerale und Lebewesen und die nachfolgende definitive Trennung von Biologie und Mineralogie eine wissenschaftliche Leistung Humboldts. Erstaunlich wenig Humboldtologen haben sich explizit mit seiner Auffassung des doch eminent wichtigen Problem des Lebens und der Entstehung von Leben als Voraussetzung seiner Biologie befasst, mit Ausnahme von Schöppner (2010), der in seiner Problemgeschichte der Frage „Was ist Leben“ Humboldt mit den Vitalismusansätzen von Aristoteles, Paracelsus, Georg Ernst Stahl, Albrecht von Haller und mit literarischen zeitgenössischen Gestaltungen des künstlichen Menschen durch Goethe, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann und Mary W. Shelley als „Vorstufe(n) eines biochemischen Verständnisses des Organischen“ verbindet. „Leben“ ist für Humboldt eine hierarchisch höhere Struktur über das Anorganische hinaus und führt an die Schwelle menschlicher Kultur. Lebewesen und Lebensmittel – Ernährung und Agrikultur Humboldt widmete sich ausführlich dem lebenswichtigen Ernährungsproblem als Natur-Kultur-Übergangsphänomen in seinen vergleichenden Studien über den Gegensatz zwischen der Subsistenzkultur der Waldindios und der Agrikultur der andinen Höhenbewohner. Ihm, der sich häufig mit linguistischen Fragen befasste und über ein hohes Sprachbewusstsein verfügte, war der semantische Zusammenhang zwischen Leben, Lebewesen und Lebensmittel (fr. vie, vivre, le(s) vivre(s)) stets präsent. Ohne Lebensmittel kein Leben. Beim Ausbleiben der Lebensmittelzufuhr lauert hintergründig immer der Tod. „Sobald eine Gemeinschaft Nahrung vorausschauend produziert“, nahm die Bevölkerungsdichte deutlich zu, schreibt Lanius (25) verallgemeinernd unter Bezug auf neuere statistische Angaben zur Hominisierung, womit er eine Korrelation zwischen Ernährung und Demographie, zwischen erweiterter Produktion von Lebensmitteln, erweiterten Lebensbedürfnissen und erweiterter personaler Reproduktion menschlichen Lebens ganz im Geiste Humboldts und unter ausdrücklichem Bezug auf die altmexikanische Geschichte herstellt. Der Zusammenhang zwischen der Pflanze als Hauptlebensmittel der übrigen Lebewesen und zumal der Menschheit, und der Pflanzengeographie durchzieht Humboldts gesamtes Werk, verbindet die Botanik interdisziplinär mit der auf seine Anregung hin sich konstituierenden Ernährungswissenschaft und der Demographie. Er begründete so die Ernährungsgeschichte, -geographie und -wirtschaft als Teil der Erdgeschichte, Erdgeographie und Erdwirtschaft. Wesentlich für seine Einheit von wirtschafts- und naturgeographischer Betrachtungsweise ist seine extensive Problematisierung der die innerindianische „Entzweiung“ zwischen Regenwald und Bergindios begleitenden „Trennung“ zwischen den beiden Ernährungskulturen, der Hochlande und der Ebenen, sowie zwischen den originären ureinwohnenden Indios und den (west)europäischen Eindringlingen. Erstere ist laut Humboldt eine genuin vegetative bzw.

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vegetarische, die zweite eine dominant auf Fleischverzehr gegründete Ernährungsweise. Diese von Humboldt konstatierte Trennung der Lebensmittel und Esskulturen der Bewohner beider Kontinente, die später von Lévi-Strauss strukturalistisch weiter theoretisiert wird – le cru et le cuit - stellt eine weitere Beziehung zwischen Natur und Kultur her, führt auf die urgeschichtliche Trennung beider Landmassen in einen amerikanischen und einen euroasiatischen Kontinentblock zurück, deren Folge die Trennung der Lebewesen als Konsumenten wie als Lieferanten der Lebensmittel war. Dabei kam es laut Humboldt zur Teilung der Welt in einen dominant mit Großtieren bevölkerten eurasischen und einen ebenso dominant mit Pflanzen aller Art ausgestatteten amerikanischen Kontinent, auf dem Großtiere fehlten oder ausgestorben waren. Die Abwesenheit von Pferd und Rind und auch von Groß-Schlachtvieh hatten de Pauw und Hegel zu Humboldts Unmut als Argument für den inferioren Charakter der Natur und Menschen Lateinamerikas hingestellt. Die nordamerikanischen Bisone waren laut Humboldt im Süden unbekannt, sekundäre Fleischkost seien nur Truthahn und Kaninchen gewesen. Er wunderte sich, fand es aber in Einklang mit ihrer habituierten Ernährungskultur, dass die Indios die Lamas und Alpakas weder als Fleisch- und Milchversorger noch als Zug- und Reittiere benutzten und daher die Reiterheere der Conquistadoren für Zentaurentrupps hielten. Aus seiner ernährungswissenschaftlichen und pflanzenhistorischen Sicht sieht er das Fehlen von mehlhaltigem Grassamen in Amerika im Unterschied zum damit reichhaltig versehenen Eurasien als Hauptursache für den Mangel an spezifischem Großvieh-„Lebensmitteln“ in Südamerika und für das Aussterben solcher Tiere in freier Wildbahn an. Mit der Abwesenheit von Groß- und Schlachtvieh erklärt er das Fehlen der für Eurasien grundlegenden historischen Arbeitsteilung zwischen Hirtenwesen und Ackerbau und die Umkehrung von deren historischer Reihenfolge bei den Amerikanern. Viehzucht stellt für ihn das kulturhistorisch bedeutsame verbindende Mittelglied zwischen dem frühhistorischen Jagen/Sammeln und der Ackerbau-Kultur im europäischen bzw. mediterranen Altertum dar. Er erinnert an den Unterschied zwischen Osiris und Typhon, göttliche Verkörperungen der Hirtenvölker in Unterägypten und der ackerbauenden Stämme in Oberägypten, wofür ihm Pendants in der indianischen Mythologie logischerweise fehlen. Er hätte auch den biblischen Zwiespalt zwischen Kain und Abel nennen können (vgl. Ko. I, 155, Anm. 124). Das Hirtenwesen sei in Amerika erst in dritter Instanz, mit dem Import von Großvieh durch die Europäer, nach dem Übergang zum Ackerbau, also in Umdrehung der eurasischen Reihenfolge eingeführt worden. Damit revidiert Humboldt das für Europa, den Orient, den Fernen Osten und Teile Afrikas geltende, eurozentristische Schema der obligaten Kulturepochenaufeinanderfolge vom Jäger und Sammler über den Viehzüchter zum Ackerbauer, dreht es um. Sein Interesse für Ernährungsfragen und -physiologie und Lebensmittelproduktion war, wie Kümmel (206f.) belegt, sehr groß, veranlasste ihn zu Expe-

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rimenten über die Funktion der Bauchspeicheldrüse und der Magensäfte, über Hungerstillstand und Habituierung der Speiseaufnahme. Sehr modern klingen seine Überlegungen zur chemischen Ernährung: Mittels der Chemie könne man sehr viel Lebensmittel erzeugen – notabene um den Hunger zu besiegen, was jedoch – hier zeigt sich sein interdisziplinäres Zusammenhangsdenken – unerwünschte „große soziale und ökonomische Umwandlungen in der Gesellschaftsstruktur, in den Löhnen und der Verteilung der Menschen auf Erden“ mit sich brächte. Die Menschen würden so zwar sowohl von der Natur als auch untereinander unabhängiger, was jedoch gesellschaftsdestruktiv sei, da Industrie (Landwirtschaft und Handel) und Kultur wegbrächen, (207) womit er Malthus´ Theorie der relativen Abnahme der Lebensmittelreserven bei wachsender Bevölkerung entgegenarbeitete. Die Wasserstraßen sieht er als billige Transportmittel für Massengüter, weshalb er den Bau vieler Kanäle zwecks wohlfeiler Lebensmittelversorgung fordert. In seinen Reiseberichten und Wirtschaftsübersichten widmet er den örtlichen Marktangeboten an Lebensmitteln große Aufmerksamkeit. So ließ er Justus von Liebig Förderung angedeihen, dessen Kunstdüngerlehre durch Steigerung der Bodenfruchtbarkeit eine wesentliche Verbesserung der Ernährung der Menschen mit sich brachte. Diese interdisziplinäre Verknüpfung der Botanik und Zoologie mit ökonomischen, ernährungswissenschaftlichen und demographischen Geofaktoren durch Humboldt wird in den einschlägigen Untersuchungen nicht gewürdigt. Meist werden die von ihm betriebenen Wissenschaften benannt, ohne sie querzuverbinden, womit sie Humboldts auf reale Sachverhalte beruhenden Universalismus in einen bloßen Reflexionszusammenhang auflösen. Die Lebensmittelerzeugung und -versorgung war von Beginn seines wissenschaftlichen Denkens an sein Kernproblem seiner Forschungen und Überlegungen. Als Zwanzigjähriger, am 25. Februar 1789, fünf Monate vor Ausbruch der Französischen Revolution, stellte er es in den Zusammenhang mit Wirtschaftswachstum und Finanzkrise: Je mehr die Menschenzahl und mit ihr der Preis der Lebensmittel steigen, je mehr die Völker die Last zerrütteter Finanzen fühlen müssen, desto mehr sollte man darauf sinnen, neue Nahrungsquellen gegen den von allen Seiten einreißenden Mangel zu eröffnen. Wie viele, unübersehbar viele Kräfte liegen in der Natur ungenutzt, deren Entwicklung Tausenden von Menschen Nahrung oder Beschäftigung geben könnte. (zit. nach Biermann 17)

Fast könnte man annehmen, dass er nach dem Vorspiel des Law-Krachs 1720, benannt nach dem aus Schottland stammenden Bankchef Frankreichs, der das Papiergeld erfand und den Staatsbankrott infolge realwirtschaftlichen Substanzverlusts auslöste, das Ausbrechen der Französischen Revolution voraussah, die ja aus Protesten gegen die Verteuerung der Lebensmittel und den üppigen Luxuskonsum der Herrschenden und weniger aus politisch-ideologischen Gründen erfolgte. Zehn Jahre später, in Südamerika, sieht er aus ähnlichen Motiven, in der Unzufriedenheit der Lateinamerikaner mit kolonialer Misswirtschaft, die Unabhängigkeitsrevolution von 1810 nahen.

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Humboldts halbmalthusianische Befürchtung des numerischen Anwachsens der Population bei nicht schritthaltender Lebensmittelerzeugung, ein demographischer Fakt, forderte ihm zufolge Wirtschaftspolitik, proportionales Anwachsen der Weltlebensmittelvorräte und globale Erweiterung der landwirtschaftlichen Produktion. Da dafür Subsistenzwirtschaft nicht ausreicht, begrüßt er das Wachsen der Agrarwirtschaft und das Eindringen von produktionsfördernden Geldverhältnissen in Lateinamerika auch unter den Indigenen. Er registriert deshalb mit großer Aufmerksamkeit die Fabrikation von tierischem Fett aus dem Guácharo, eines in großen Schwärmen in einer einzigen riesigen Felsenhöhle lebenden Nachtvogels. Er beschreibt, wie die in der Umgebung wohnenden Indios in einer alljährlichen Kampagne diese Vögel in großen Mengen schlachten bzw. totschlagen, um aus ihnen an Ort und Stelle das Fett – das er auch selber schmeckte und für gut befand – für ihre Ernährung zu bereiten, wobei er eingehend die Technologie der Indios schildert. Dieser eigentlich interessante ernährungswissenschaftliche und technologische Hintergrund des Guácharo-Berichts wird von der Sekundärliteratur nicht erwähnt, die sich sensationalistisch am eher unwichtigen ornithologischen Fakt der absonderlichen Lebensweise dieses Vogels festhält. Humboldts Technologie-Interesse erweist sich auch in seinem genauen Beschreiben der komplizierten Bereitung des Pfeilgifts Curare, wobei er den indigenen Giftfabrikanten durch die Kraft seiner Evokation mit einem modernen Chemiker im Laboratorium assoziiert, aber auch Erinnerungen an mittelalterliche alchimistische Goldmacherei hervorruft. Diese beiden Exkurse Humboldts zeigen sein bei den Wissenschaftlern seiner Zeit seltenes Interesse für Verfahrenstechnologie, deren langsames Vordringen in Amerika einen globalen Weltprozess der Technologisierung markiert. Mobil vs. Immobil Ein weiteres zum Natur-Kultur-Übergangsfeld gehörendes HumboldtBinom ist die Entgegensetzung Mobil-Immobil. Leben heißt Bewegung, Bewegung heißt Freiheit. Marie Claire Godlewska (192) schreibt: „Unzufrieden mit dem Studium des Unveränderlichen und des Bewegungslosen, wandte sich seine Wissbegierde der Bewegung, Änderung und Verteilung zu“. Laut Humboldt unterscheiden sich die Lebewesen durch ihre Mobilität von der mineralischen Materie, die tot, unbelebt und unbeweglich ist. Doch trifft er innerhalb der Lebewesen eine weitere Trennung: die Mobilität der Pflanzen sei beschränkt: Ortsveränderungen könnten sie nur als Samen und dieser jene nur durch Fremdbewegung – Wind, Vogelflug, Meeresströmung und Eingriff des Menschen – vollziehen. Die meisten Tiere seien dagegen ohne fremde Hilfe der Fortbewegung fähig und nur von lokalen Umweltbedingungen abhängig. Im Unterschied zu den anderen Lebewesen könne der Mensch sich infolge seiner fast unbegrenzten Mobilität von den lokalen Naturbedingungen verselbständigen. Die „relative numerische Verbreitung der Menschenstämme über den

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Erdkörper“ (Ko I, 141) sei nur möglich durch große Anpassungsfähigkeit des Menschen. Zur Mobilität gehört die Migration, deren archaische Vorform Humboldt studierte. Die Besiedelung der Neuen Welt war Einwanderung, Migration fremder Populationen aus Asien, Europa und Afrika. Für Humboldt setzten migratorische Globalisierungen bereits lange vor Beginn menschlicher, nämlich in der Natur-Geschichte ein. Er war eben doch Naturwissenschaftler, der als solcher natürliche Globalisierungen früher als heutige Globalisatoren wahrnahm. Welche Ursachen Humboldt für die Migrationen annimmt, geht aus der Bezeichnung „Lebewesen“ selbst hervor: die migratorische Suche nach Lebensmitteln wird durch das Anwachsen der Population erzwungen, wodurch die lokalen Nahrungsmittel nicht mehr ausreichen. Quantitatives Anwachsen des Nahrungsbedürfnisses ist für ihn Folge der quantitativen Vermehrung der Populationen, des „seid fruchtbar und mehret euch“. Erinnert sei an die etymologische Verwandtschaft Pflanze-Fortpflanzung im Deutschen. Für Humboldt ist Mobilität, nicht Ruhe das eigentliche Lebenselement. Er ist der ewige Reisende, der permanente voyageur scientifique, immer „unterwegs“, Länder Europas, Amerikas, Asiens durchwandernd, oder er schifft in mittels Lektüre erborgter rein geistiger Präsenz durch von ihm nicht bereiste Gebiete Asiens, Afrikas und Nordamerikas. Für diese Mobilität sollte man den von Ette frei nach Calder geprägten Ausdruck Mobile verwenden. Die Erdbewohner rotieren nicht nur mit der Erde, sondern auch um die Erde, doch anders als flüchtige Kometen und Satelliten verbleiben sie als ständige Populationen in den mit jeder Erdumrundung eroberten neuen Lebensräumen und schreiben so ihre bleibenden Spuren als verändernde Instanzen in die Erdrinde ein. Auf Humboldts Beschreibung des Entstehens der Minerale, Pflanzen, Tiere und Menschen folgt die ihrer fixen Standorte, ihrer ursprünglichen Distribution auf der Erde, und danach ihre allmähliche Verbreitung über die Erde, ihre Migrationen. Insofern bedeuten wie gesagt die heutigen Debatten über die sogenannte Globalisierung als Humanmigration einen Rückschritt gegenüber Humboldt, der die vorangehenden naturhistorischen Globalisierungen mitdachte. Die Migrationen der Pflanzen und Tiere Die Globalisierung wurde Ende des 20. Jahrhunderts öffentliches Diskussionsthema, als alle bislang regionalen Vorgänge weltweiten Charakter und menschheitliche Dimensionen annahmen. Doch Humboldt nahm dieses Problem schon zweihundert Jahre zuvor wahr. Er antizipierte mit seinem auf die ganze Erde über den Lokalfall Lateinamerika hinaus zielenden Konzept einer sich globalisierenden Welt die kommende totale Identität von Erdkugel und Menschheit.

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Andererseits ist für Humboldt „Trennung“ als Entzweiung Ausdruck des Existenzkampfes gegen seinesgleichen, ist im fast sozialdarwinschen Sinn ewiges Erbteil der tierischen Herkunft der Menschen, das sich in den bis heute andauernden Kriegen zeigt: Wenn aber in der Steppe Tiger und Crocodile mit Pferden und Rindern kämpfen, so sehen wir an ihrem waldigen Ufer, in den Wildnissen der Guyana, ewig den Menschen gegen den Menschen gerüstet. Mit unnatürlicher Begier trinken hier einzelne Völkerstämme das ausgesogene Blut ihrer Feinde, andere würgen, scheinbar waffenlos und doch zum Morden vorbereitet, mit vergiftetem Daumen-Nagel (mit Curare, HOD). So bereitet der Mensch auf der untersten Stufe thierischer Roheit, so im Scheinglanze seiner höheren Bildung, sich stets ein mühevolles Leben. So verfolgt den Wanderer über den weiten Erdenkreis, über Meer und Land, wie den Geschichtsforscher durch alle Jahrhunderte, das einförmige, trostlose Bild des entzweyten Geschlechts. (AdN 36f.)

Diejenigen Geschöpfe, die laut Humboldt die erste Runde der Globalisierung der Erdrinde einleiteten, waren die unschuldigen Pflanzen. Der „Ausbreitung der Gewächse über den Erdboden“ hatte er schon während seiner in Freiberg nebenbei betriebenen Botanikstudien 1794 ein Publikationsprojekt über die „innere vegetabile Decke, die mit mehr oder weniger Dichte die lebendige Natur über die nackte Erdkugel gezogen hat“, gewidmet. In seiner Geographie der Pflanzen benennt er ihre Standorte differenziert nach Temperaturen, Klimaten und Höhenlagen. Und er gibt ihrer Ausbreitung auf der Erde eine Geschichte, die er in verschiedene sukzessive Pflanzenzeitalter unterteilt: „Wo heute Bäume (sind, (...) waren) einst nur Flechten (...) die Geschichte der Pflanzendecke und ihre allmähliche Ausbreitung über die öde Erdrinde hat ihre Epochen“ (Pflanzeng, 243) Unter Geographie der Pflanzen erfasst er weniger deren Standorte als vielmehr die Geschichte ihrer Wanderung über den Erdball. Dabei geht er von einer sowohl morphologischen als auch gattungsmäßigen Schrumpfung der frühen üppigen – „jungen“ – Vegetation im Verlauf der allmählichen Erkaltung der Erde aus. Die übriggebliebene Pflanzenwelt erweiterte sich in Abhängigkeit von ihrem Lebensmittel, dem mineralhaltigen Boden, sowie der Klimate und Temperaturen laut Humboldt allmählich bis an die Grenze des Ewigen Schnees, sowohl horizontal in Richtung auf beide Pole der Erde, als auch vertikal die Bergwände hinauf. Er konstatiert die Verbreitung der Vegetation auch im Erdinnern, „wo ihre Exemplare in dunklen Grotten als Cryptogamen vegetieren, die so wenig bekannt sind wie die Insekten, die sie ernähren.“ (in anderer Übers. in Pflgeo 48f.) Bei dieser nur durch die ewige Kälte gebremsten vegetabilen Inbesitznahme der Erde kam es laut Humboldt zur Anpassung an erkaltete Gebiete. Die Temperaturunterschiede zwischen kalt (gemäßigt) und heiß (tropikal) bestimmen ihm zufolge die Variationsbreite der Arten, deren Grenze scharf zwischen tropischer und gemäßigter Zone verläuft. Dies globalisierende geobotanische Konzept hatte Humboldt von seinem Mentor Willdenow übernommen, der in seinem Grundriß der Kräuterkunde

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(1792) „die Wanderungen der Gewächse und endlich ihre Verbreitung über den Erdball“ sowohl die Mobilität der Pflanzen überhaupt als auch ihre extensive Ausbreitung über die ganze Erde beschrieb. Mehrere von Humboldt angekündigte Publikationen behandeln die vegetabile Tendenz zum Bewachsen des ganzen Erdballs: „Nachricht von der allmäligen (sic!) Ausbreitung der Gewächse über den Erdboden“, ein Buch über die „innere vegetabile Decke, die mit mehr oder weniger Dichte die lebendige Natur über die nackte Erdkugel gezogen hat“, oder „Ideen einer zukünftigen Geschichte der Pflanzen oder historischer Bericht über allmählichen Ausbreitung der Gewächse über den Erdboden (...)“ (Pflanzeng, 36), ein Vorgang, den er zum „bisher ungekannten Teil der allgemeinen Weltgeschichte“ deklarierte, ihm also globalen, ja universalhistorischen Wert beimaß. Selbstverständlich gab es für Humboldt keine Pflanze an sich, sondern diese entwickelt sich in vielen verschiedenen Spezies und Familien entsprechend Temperaturen und Klimaten per differenzierter Anpassung auf ihren Wanderungen auf Flächen, Bergen und in der Unterwelt. Seine Botanik ist keine Morphologie der Pflanzen, sondern Geographie der Pflanzen-Migration, „Einsicht in die örtliche und klimatische Verteilung der Vegetation über den ganzen Erdkörper“. (Ko II, 89) Da die naturwüchsige Pflanzengeographie die Vorleistungen für die menschliche Besiedlung als Schaffung der Ernährungsgrundlage der Menschen erbringt, ist die Pflanze auch Vorreiterin der Humanglobalisierung. Im Umkehrschluss sieht er auch die in die Vegetation eingreifende und verwandelnde Hand des Menschen, die die starre vegetabile Prädeterminiertheit und Standortimmobilität aufhebt. Hier stellt er ironisch eine weitere Verbreitung der Pflanzen über dieses ursprüngliche Habitat hinaus entgegen allen Dogmen der Botanik fest: sie seien so beweglich, dass „die menschliche Sorgfalt sie häufig über die Grenzen hinaustreibt, die der Naturforscher ihnen zu bestimmen geruht hat“: die Pflanze modifiziere ihr unabänderlich scheinendes Schicksal, das variabler sei als alle menschliche Vorbestimmungen. (ibd., 345) Während er assertorisch behauptet, die Geographie der Pflanzen sei letztlich gebunden an Klima, Boden, Meer- und Landverteilung sowie Oberflächengestaltung, lehnt er diese direkte Abhängigkeit in schroffer Kehrtwendung gegen jeden Geodeterminismus in Bezug auf die Animalen ab, denn es gäbe „für die menschliche Gattung und die meisten Tiere eine bestimmte Stufe des organischen Lebens, von der ab der Einfluss des Klimas und der Nahrung nahezu nichtig ist.“ (Vues 9) Aus diesem Schluss ergibt sich für ihn die Ergänzung des Natur-Binoms Hoch vs. Tief etc. durch sozial und kulturell indizierte Paarbegriffe, die sich von den naturhaften in dem Maße verselbständigen, wie der Mensch auf den von ihm okkupierten Territorien durch Agrikultur, Urbanisierung, Bauten, Institutionen und Städtegründungen Oberhand über die Natur gewinnt, denn

81 die charakteristischen Unterschiede der Menschenstämme und ihre relative numerische Verbreitung über den Erdkörper (sind) der letzte und edelste Gegenstand einer physischen Weltbeschreibung nicht durch jene Naturverhältnisse allein, sondern zugleich und vorzüglich durch die Fortschritte der Gesittung, der geistigen Ausbildung, der die politische Übermacht begründenden Nationalkultur bedingt. (Ko I,141, Hervorh. HOD)

Humboldt prägte als erster den Terminus „Nationalkultur“ in Erkenntnis des Zusammenhangs von Nation und Kultur. Die zweite Okkupationswelle der Erde durch die Lebewesen erfolgt laut Humboldt durch die Tiere, durch ihre verschiedenen Rassen und Familien, die sich weltweit terrestrisch wie maritim nach Gattungen spezifiziert ausbreiteten, weil sie durch ihre Gliedmaßen: Beine, Flügel, Schlangenleib, Flossen mobil und insoweit unabhängig von lokalen Naturbedingungen sind. Widmet er der Botanik großen Raum, sagt er über die Zoologie trotz seiner Einzeluntersuchungen zu fluvialen Elektroaalen, Süßwasser-Seekühen Südamerikas und dem Nachtgetier in Ansichten der Natur relativ wenig. Als Paläontologe entdeckte und untersuchte er in Südamerika viele, sowohl terrestrische als auch maritime Tier-Fossilien und stellte ihre Abkommenschaft wie die ihrer europäischen Verwandten von gemeinsamen (und nicht von wie es meist heißt „europäischen“ Urahnen, dieser Unterschied in Humboldts Denken und Diktion ist wichtig) fest, eine Verwandtschaft aufgrund der später gekappten Verbindung zwischen Ostsüdamerika und Westafrika. Die frühe Trennung Amerikas von Eurasika hat seiner Ansicht nach wie erwähnt die Ansiedlung und endogene Entwicklung von nicht über längere Strecken schwimm- bzw. flugfähigen Großtieren verunmöglicht. Zwar habe die Geschichte der „Pflanzendecke“ und ihrer „allmählichen Ausbreitung über die öde Erdrinde“ (...) „ihre Epochen wie die Geschichte der wandernden Tierwelt“ (AdN, 243), aber diese Geschichte der Tierwelt hat er aus Desinteresse oder Zeitmangel nicht geschrieben. Doch Entstehen und Präsenz der Animalen haben für Humboldts Geogenese eine ungeheure Bedeutung: diese konstituieren keine bloße „Trennung“, sondern die gewissermaßen postparadiesische, exterminatorische „Entzweyung“ von Gattung gegen Gattung, Individuum gegen Individuum, den bellum ómnium contra omnes, den wölfischen Charakter animalischer Lebewesen im Hobbeschen Sinn. Der Mensch erobert die Welt Die allmähliche finale Besiedlung des Erdballs durch die Menschheit endlich stellt für Humboldt die massivste, folgenreichste und rezenteste Etappe der Globalisierung dar. Der weltweiten Verbreitung der race humaine widmete er viele Seiten der Äquinoktialen Tagebücher, der Politischen Essays und des Kosmos, ohne dass diese jedoch von Lesern wie Fachkritikern als erste Chroniken dieser ursprünglichen Migration wahrgenommen wurden. Erst der Potsdamer Romanist Ottmar Ette entdeckte Humboldt als den „Entdecker“ der

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Globalisierung im Zusammenhang mit ihrer zweiten, zu seinen Lebzeiten vor sich gehenden Beschleunigungsphase vornehmlich mittels Kolonisierung. Wenn von Beschleunigung der Globalisierung die Rede ist, so muss es auch Globalisierung im normalen Tempo gegeben haben, und das ist die oben beschriebene „allmähliche“ biologische – vegetabile, animale und menschliche Ausbreitung der Lebewesen über den Erdball. Normalität ist für Humboldt Stetigkeit: „Allmählich“ meint Evolution, „Beschleunigung“ meint Revolution. Evolution war für ihn, Goethes Metamorphose der Pflanzen folgend, die “allmähliche Entfaltung“ (das „Sichauseinanderfalten von Blatt und Kelch“ (Ko II, 47). Die Eroberung des Erdballs durch den Menschen ist laut Humboldt vor allem möglich durch seine maximale Mobilität und durch seine Freiheit, ein Begriff, der von Rousseau in die Anthropologie eingeführt wurde und den der preußische Reisende auf die Handlungs- und Willensfreiheit nicht nur der Individuen, sondern auch auf die Freiheit des Menschen überhaupt von unmittelbarer Naturnotwendigkeit bezogen hatte. Darauf bezieht sich sein Zitat aus Schillers Braut von Messina, insofern er den Bergen deshalb Freiheitscharakter beimisst, weil sich der Mensch dort durch Arbeit von eben dieser Unterstellung unter die Allmacht der Natur befreit. Diese Befreiung bedeutet aber für Humboldt auch die definitive „Entzweiung“ und Entfremdung zwischen Mensch und Natur, Kultur und Natur, état naturel und étal civil. Ette begreift den mit dem modischen Neologismus „Globalisierung“ gemeinten Vorgang als Manifestation des weit zurückreichenden Prozesses der Humanisierung des Erdballs. Humboldt hebt mehrere Gattungseigenschaften des Menschen heraus, die diesem die Okkupation des Erdballs ermöglichen: unbegrenzte Mobilität, maximale Anpassungsfähigkeit, arbeitsteilige Kooperativität sowie Universalität der Anlagen und Fähigkeiten. Er verfüge über maximale Mobilität, insofern er nicht nur wie die Tiere eigene Fortbewegungsorgane besitze, sondern sich auch künstliche schaffe wie Wasserfahrzeuge, sowie technische Hilfsmittel wie Magnet, Kompass, Fernrohr, Sextant. Doch Humboldt legt eine Schneise in die Humangenese: er trennt Stadien, die von allen Populationen aus eigener Kraft erreicht werden (können), weil sie im Zugriff der Gattung Mensch liegen, so die Übergänge von Nomadentum zu Sesshaftigkeit, Ackerbau, Handel und Geldökonomie, von solchen, die der Fremdhilfe bedürfen durch Spenderpopulationen wie die Mittelmeeranrainer und Europäer, die die von der Natur geschenkt bekommenen Privilegien an ihre Nachbarn weiterreichten.

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Fünftes Kapitel: Natur vs. Kultur Zu den gewissermaßen gattungsmäßig, von der Natur nicht vorprogrammierten Evolutionen gehört der komplizierte, nach dem Prinzip von trial and error zufällig, punktuell, nur in (West)Europa, und dort mit Hilfe des Anschubs durch Kolonialbesitz gelungene, zufällige Übergang von kommerziellem Geld in industrielles Kapital. Zu den nichtprivilegierten, auf Fremdhilfe angewiesenen nicht-okzidentalen Regionen rechnet Humboldt Iberoamerika, wo alle Modernisierung von außen, von Europa kam, wie seine Ausführungen zu Mexiko und Kubas zeigen, wo er – gegenüber dem einheimischen mentalen Traditionalismus, der jede Dynamik, dieses Grundgesetz der Moderne, abbremst – aus Europa kommende kapitalistische Elemente wahrnahm, die Übergänge zur dynamischen Gesellschaft bedeuten. Die erste Phase globaler Beschleunigung war für Humboldt die Renaissance, das Zeitalter der Erfindungen und der Entdeckung Amerikas mit seinen unerhörten Fortschritten. Er nennt die Anthropoglobalisierung die „relative numerische Verbreitung der Menschenstämme über den Erdkörper“. (Hervorh. HOD, Ko I, 141) Doch seine eigentliche wissenschaftliche Innovation ist sein auf seiner Personalunion von Natur- und Kulturwissenschaftler beruhendes Zusammenhangsdenken von Natur und Kultur, so wenn er das Luftmeer als Träger des physikalischen Phänomens des Schalls, diesen als Träger der kulturellen Erscheinung der gesprochenen Sprache, und letztere als Medium des sozialen Phänomens menschlicher Kommunikation identifiziert, oder wenn er Klima, Höhenlage, Landwirtschaft, Lebensmittelaufkommen, Ernährung und Marktpreise mittels statistikgestützter (agrar-, wirtschafts- und anthropologiehistorischer) Feststellungen korreliert. Sein holistisches Zusammenhangsdenken besteht vor allem darin, dass er wegen der Konnexionen zwischen Natur und Kultur Wechselbezüge zwischen Natur- und Kulturwissenschaften qua Wissenschaften herstellte. Biermann, dieser vorzügliche DDR- Humboldtspezialist, betitelt sein Resümee von Alexander von Humboldts Wirken mit „Naturforscher und Humanist“, akzeptierte also als Wissenschaftler nur den Naturwissenschaftler, während er Humboldt in Bezug auf Gesellschaft und Kultur lediglich „humanistische“, also moralische und politische Meinungsäußerungen unterstellt, als wären seine Studien zur Wirtschaft, zur Eroberungsgeschichte, zur Sklaverei auf Kuba und zur indigenen Ethnologie nur Äußerungen eines sittlich indignierten Dilettanten. Auch in den meisten Nachschlagewerken des In- und Auslands wird Alexander von Humboldt nur als „Naturforscher“ dargestellt. Doch Humboldt selber erachtete seine eigenen Arbeiten zu Kultur und Gesellschaft explizit für genauso „wissenschaftlich“ wie die über die Natur, so wenn er nach dem Nutzen

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seiner Äquinoktialreisen „für die Natur- und Geisteswissenschaften“ fragt. (1989a, 167) Mit seinem Holismus löst er sich vom Aufklärungsdenken des 18. Jahrhunderts, das den schroffen Gegensatz Natur-Kultur als Folge der Abkehr des Menschen von seinem vorgängigen „Naturwesen“ als überbrückbar nur durch dessen von Rousseau geforderte Rückkehr in die Natürlichkeit ansah, während er trotz Kritik an der Zivilisation und Wertschätzung der moralischen Integrität der „Wilden“ mit Kant und Hegel die Geschichte als unumkehrbaren Fortschrittsprozess sah. Humboldts lateinamerikanische Human- und Geschichtsgeographie Auf die uranologische Welt der Materien und das tellurische Übergangsfeld zwischen Natur und Kultur folgt für Humboldt sowohl historisch als auch systematisch das Reich des Menschen. Er hatte in seinem programmatischen oben zitierten Brief für seine Lateinamerikareise ein ausschließlich naturwissenschaftliches Forschungsprogramm umrissen (s. S. 21). Doch wurde er in Lateinamerika, und erst dort, zum Anthropologen, zum Sozial- und Kulturwissenschaftler: in seinen amerikanischen Schriften halten sich humanwissenschaftliche, anthropologische, folkloristische, philologische, ethnographische etc. Erkenntnisse mit seinen naturwissenschaftlichen und geowissenschaftlichen Forschungsergebnissen die Waage. Er wurde vom ersten Augenblick seiner Ankunft in Südamerika an von der totalen Andersartigkeit des Subkontinents im Vergleich zu Europa überrascht, aber nicht nur von seiner Natur – Klima, Berge, Minerale, Flora – sondern ebenso von seinen Menschen, den verschiedenen Rassen, von Sklaverei, Kolonialherrschaft, fremdartigen Sitten und Künsten, kurz von Kultur und Gesellschaft. Er fragte sich nach den Ursachen der Differenz, was ihn zu sozialund kulturwissenschaftlichen Pionierleistungen in der Lateinamerikanistik spornte. Der Naturforscher Humboldt schlüpfte in den Sozial- und Kulturwissenschaftler Humboldt. Darin, nicht in der Addition von Einzelwissenschaften liegt seine Einmaligkeit als Universalist. Mit Forster „begann eine neue Ära wissenschaftlicher Reisen, deren Zweck vergleichende Völker- und Länderkunde ist,“ (Ko II,62) schreibt er, denn dieser schilderte „die wechselnden Vegetationsstufen, die klimatischen Verhältnisse, die Nahrungsstoffe in Beziehung auf die Gesittung der Menschen nach der Verschiedenheit ihrer ursprünglichen Wohnsitze und ihrer Abstammung“. (ibd.) Dieses sowohl kultur- als auch naturwissenschaftliche Programm – Vegetations-, Klima- und Nährstoffforschung sind Naturwissenschaften, Völker-, Länder- und Gesittungsforschung sind Sozial- und Kulturwissenschaften – machte Humboldt sich zu eigen. Zu seiner Reisevorbereitung gehörte die Lektüre einer Unmenge geographischer, demographischer, historischer und ethnologischer Schriften über Iberoamerika zu den disparatesten Themen: Juristerei, Militärwesen, Verwaltungsfragen, Geschichte.

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Das funktional notwendige Verweilen in Städten, Dörfern und Missionen und sonstige Begegnungen unterwegs nutzte er zum Kennenlernen der Einwohner, der Kultur, wobei ihn mehr als die spanisch-kreolischen Missionare und Beamten die Indianer interessierten, die er in Vorwegnahme später moderner Enquêtemethoden in Bezug auf ihre Lebensweise und -ansichten, Religion, Mythologien, Geschichtskenntnis und Künste regelrecht „ausholte“, um die amerikanische Seite der Menschheitsentwicklung auf dem Planeten – nicht nur als Opferperspektive! – aus amerikanischer Sicht zu registrieren. War der „Weg“ das „Ziel“ der Forschungen des Naturwissenschaftlers Humboldt, so dienten die „Aufenthalte“ in Ansiedlungen, Ortschaften, Klöstern und Städten dieser sozial- und kulturwissenschaftlichen und demographischlinguistischen Forschung. Diese unterschiedliche Schwerpunktsetzung akzentuiert sich auf der Reise vom atlantischen Orinoko mit Omnipräsenz von Fläche, Urwald und Savanne, in denen die Städte nur punktuellen Inselstatus haben, zum pazifischen Andenraum, wo seine Städtebeschreibungen infolge stärkerer Urbanisierung und Institutionalisierung zu dominieren beginnen. Multikulturelles Lateinamerika Manche Forscher unterstellen Humboldt die Rolle des „Geschichtsschreibers Amerikas“. (Konetzke in: Historische Zeitschrift, München 188, 1959, 526-563) Doch abgesehen davon, dass er keine zusammenhängende Geschichte des Subkontinents geschrieben hat, entsprangen seine Kenntnisse der Kompilation und kritischer Quellenlektüre: Minguet (1992, 115) zählt alle von ihm gelesenen Lateinamerikachroniken auf: Kolumbus, Vespucci, Cortés, Carvajal, Díaz del Castillo, Las Casas, El Inca Garcilaso de la Vega, Sahagún, Motolínea, Olmos, Andrea de Pimentel Ixtilxochitl, Antonio Montezuma, Antonio Pimentel Ixtilxochitl, Taddeo de Niza, Gabriel d´Ayala, Zurita, Joseph Tobar, Fernando Zapata, Christoph de Castello, Fernando Alba Ixtiklxochitl Pomar, Chimalpain, Tezozomoc und Gutiérrez, 25 dickleibige Folianten! Er macht die unsichtbare Geschichte der Ureinwohner Lateinamerikas, ihrer Herkunft, ihres Einwanderns in die westliche Hemisphäre anhand des überlebenden Zeugnisses der Sprache sichtbar. Seine fachmännisch-wissenschaftlichen Vergleiche der indianischen mit den asiatischen Sprachen weisen die Herkunft der Indianer aus Asien und ihre Verwandtschaft mit asiatischen Völkern nach. Ein Hauptgebiet seiner Vergangenheitsschau ist die indigene Erinnerung an die Conquista. Er kopierte „sowohl die piktographischen Manuskripte der mexikanischen Indios, als auch die in Náhuatl verfassten, ins Lateinische übertragenen Manuskripte von Einheimischen.“ (Minguet 115) Humboldt zitiert auch orale Legenden der Indios und Conquistadoren von einer Amazonenrepublik, von vergrabenen Schätzen der Jesuiten, vom sagenhaften Eldorado, vom Welser Generalkapitän Venezuelas Felipe de Urre (= Philipp von Hutten), und die Sage von der Goldenen Stadt der Cäsaren. Ich würde ihn in erster Linie

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als einen Chronisten der Kolonie betrachten, deren es weniger gab, während sich der Entdeckung und Conquista eine Legion von Schriftstellern gewidmet hat. Nur er gelangte mit seiner Darstellung der Kolonie auch zu einer wissenschaftlich-kritischen Analyse des Kolonialismus, für mich eine seiner sozialwissenschaftlichen Hauptleistungen. Dazu gehört, dass er der erste Humangeograph und Ethnologe war, der das südliche Amerika als einzigen genuin multiethnischen Kontinent der Erde entdeckte. Er schildert die ihm aus Europa unbekannte massive Präsenz verschiedener Menschenrassen, mit denen er erstmals konfrontiert wurde, bewusst in ihrem Unterschied zum rassisch relativ homogenen Europa. Seine Untersuchungen sind eine frühe Kulturgeographie und -ethnologie der Erde, amerikanisches Segment eines künftigen Weltatlasses ethnischer Alteritäten. Er präsentiert die drei regional dominant auf verschiedene Regionen verteilten Hauptrassen der Lateinamerikaner, in den Andenregionen, Urwäldern und Steppen die eingeborenen Indios, in der Karibik, in der die Spanier sehr schnell die indigenen Ureinwohner ausgerottet hatten, die ersatzweise importierten Schwarzafrikaner, und auf dem ganzen Subkontinent die Omnipräsenz der eurostämmigen Kreolen. Er konstatierte diese Präsenz dreier Rassen und Kulturen als Besonderheit Lateinamerikas. Europa und auch die USA und Australien waren mehrheitlich von Kaukasiern bevölkert, während in Afrika und Asien wiederum keine numerisch nennenswerten Kontingente okzidentaler Weißer existierten. Die Präsenz von Nichtkaukasiern in Amerika wurde auch von anderen Reiseschriftstellern registriert, aber meist als Staffage, als sachlicher Bestandteil, als fast dingliches Zubehör zur exotischen Landschaft oder als chimärische Inkarnation des bon sauvage Rousseaus, aber nicht als mit den Weißen gleichwertige, diese zahlenmäßig bald übersteigende Bevölkerung des Subkontinents. In seinen Tagebüchern und Politischen Essays beschreibt er die drei lateinamerikanischen Hauptrassen unter historischem, demographischem, geographischem und ethnischem Aspekt als blutsmäßige und kulturelle Wiedervereinigung dreier territorial durch die Erdgeschichte getrennter Kontinente, Amerikas, Europas und Afrikas. Er signalisiert, dass im Unterschied zu anderen Kontinenten in Lateinamerika diese Menschengruppen nicht nur koexistieren, sondern sich mischen, und zählt ironisch die vielen Mischformen, Mulatten, Mestizen, Zambos, Quarterones auf, die nirgends woanders vorkommen. „Niemals machte Humboldt einen Hehl aus seiner Sympathie für Mestizen, Indianer, Schwarze und Zambos“, so Jesús Diaz (75). In den angloamerikanischen Besitzungen kam es dagegen zu keiner bedeutenden Mischung zwischen Aborigines und Weißen infolge der Rassentrennung, so in Nordamerika, wo es wenig Kreolisierungen gab: woanders zogen sich die Fremdlinge mit der Dekolonisierungswelle der 1960er Jahre zurück und ließen die „Eingeborenen“ unter sich. Nirgends woanders in der Welt sonst erfolgte ein so nennenswerter Import schwarzer Sklaven wie in Lateinamerika, während in Europa und Asien der

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Anteil von Afro-Elementen gering blieb. Wurden die indianischen Ureinwohner in den USA stark dezimiert und marginalisiert, bilden deren Nachkommen hier – mit Ausnahme des Südkegels und der Karibik – die Bevölkerungsmehrheit. Humboldt beschreibt erstmals in der Anthropologie und Ethnologie die vielfältige Rassenpräsenz als menschlichen Reichtum Iberoamerikas und damit auch der Erde. In seinem Amerika-Atlas sind alle Bewohner, Indios, Euro- und Afroamerikaner, von Haus aus Immigranten. Diese Rassenbuntheit wurde dagegen von vielen lateinamerikanischen Positivisten seines Jahrhunderts wie dem Argentinier Domingo Faustino Sarmiento und dem Kubaner Domingo del Monte sowie vom US-Politiker Benjamin Franklin als schädlich angesehen: ersterer propagierte und realisierte die Vernichtung der Indios manu militari, der zweite die Beseitigung der Sklaverei mittels Aussiedlung bzw. allmählichen Aussterbens der Afrokubaner. Franklin tötete massenweise Indianer durch hochprozentigen Alkohol, um in den Besitz von deren ungenutzten Ländereien zu gelangen, und empfahl in seinen Memoiren diese Methode der Ausmerzung der Ureinwohner den weißen Bewohnern der USA-Ostküsten. (The writings (Autobiography), Vol. 1, o. O. 1905, 376). Charles Darwin berichtet empört in seinem Reisejournal von der systematischen Tötung aller Indianerinnen über 20 Jahre auf Befehl der weißen Regierung Argentiniens, um die Fortpflanzung der „minderwertigen“ Indios zu limitieren. „Indianistische“ oder „indigenistische“ Romanschriftsteller wie die Peruanerin Clorinda Matto de Turner in Aves sin nido und der Bolivianer Alcides Arguedas in Raza de bronce empfahlen die gewaltfreie Ausmerzung der „raza de bronce“ durch allmähliche kulturelle „Verweißung“ (blanquear) mittels Erziehung, kubanische Liberale die progressiv-europäisierende Mestizierung der Schwarzen (adelantarse), ein Rezept, das viele aufstiegsbesessene „Farbige“ verinnerlichten. Erst der Kubaner José Martí Ende des 19. Jahrhunderts und andinische und karibische Anthropologen des 20. Jahrhunderts wie der Peruaner José Carlos Mariátegui, der Kubaner Fernando Ortiz und der Brasilianer Darcy Ribeiro forderten wie Humboldt die Emanzipation der „Farbigen“. Herkunft und Wesen der Indios Im Mittelpunkt von Humboldts amerikanischem Werk stehen die „barbarischen“ oder „wilden“ Ureinwohner mit ihrer für ihn als Europäer anderen Lebensweise. Er unterstellt ihre Herkunft aus Asien aufgrund ihrer Physiognomie, ihrer Verwandtschaft mit Tibetanern und Ungarn anhand von lexikalischen Sprachvergleichen sowie religionsgeschichtlichen Ähnlichkeiten zwischen den Mythen der Mongolen und der Azteken. Er betrachtete ihre Einwanderung über die Behringstraße und die Aleuten und ihre Besiedelung der von der „alten“ Welt urgeschichtlich abgetrennten, „leeren“ westlichen Hemisphäre als Rückführung Amerikas in das Weltganze, zu dem es einst tellurisch gehörte. Er verfolgt polyglott den „Weg“ der Urindianer anhand sprachlicher Befunde auf der „Straße“ von Tibet nach Amerika und stellt sodann

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die bereits beschriebene sekundäre Grob-Zweiteilung der Altamerikaner in andinische Bergvölker und Regenwald- und Savannenbewohner samt nachfolgender kultureller „Entzweiung“ fest, deren Differenzierungen er entgegen eurozentristischen Vorstellungen einer einheitlichen Indiomasse an vielen Beispielen klarmacht, unter anderem in der Hygiene, einem für Foucault zentralen Bereich der Kulturarchäologie. Es finden sich bei ihm sich widersprechende diesbezügliche Aussagen nicht über die Indios, sondern über Indios, über deren nach einzelnen Stämmen variierende Stufen und Ausprägungen von Körperpflege: Zwischen dem vierten und achten Breitengrad bildet der Orinoko nicht nur die Grenze zwischen dem großen Walde der Parime und den kahlen Savannen am Apure, Meta und Guaviare, er scheidet auch Horden von sehr verschiedener Lebensweise. Im Westen ziehen auf den baumlosen Ebenen die Guahibos, Chiricoas und Guamos herum, ekelhaft schmutzige Völker. ( Äqu 254)

Von den Otomaken schreibt er, sie seien Nomaden, „dem Ackerbau fremd, Ameisen, Gummi und Erde genießend, ein Auswurf der Menschheit (...) Wir haben (...) am 6. Junius 1800 einen Tag in der Mission zugebracht, die von den erdefressenden Otomaken bewohnt wird. (...) Es ist ein Sprichwort am Orinoco, von etwas recht Unreinlichem zu sagen; es sei so schmutzig, dass es der Otomake frißt.“ (ibd., 158) Diese „ekelhaft schmutzigen Otomaken“ würden im Urwald als Jäger und Sammler nomadisieren. Die sesshaften Maypures aber seien ein sanftmütiges, mäßiges Volk, das sich durch große Reinlichkeit auszeichet. (...) In Maypures fanden wir in den Hütten der Eingeborenen eine Ordnung und eine Reinlichkeit, wie man denselben in den Häusern der Missionare selten begegnet. (...) Die Unordnung (Schweinerei, Parenthese von Humboldt!, HOD) im Hause des Mönchs sticht gegen die Ordnung und Reinlichkeit der Indianer sonderbar ab (...). (ibd., 275)

Damit korrigiert er Vorurteile in Bezug auf die angeblich höhere Hygiene der Europäer ins Gegenteil, erwähnt die Reinlichkeitsmanie der „wilden“ Indios mit Nacktgehen und häufigem Baden, womit er eine mindere Körperpflege der stets bekleideten und selten oder nie badenden Weißen suggeriert, ihren „hygienischen“ Rassismus konterkariert. Die Indios als solche können nicht zugleich schmutzig und reinlich sein. Er beschreibt also nicht „die“ Indios, sondern indigene Populationen mit unterschiedlichen Hygienegebräuchen. Er lobt weder bequem und mainstreamkonform die von den Europäern „zivilisierten“ Indios der Missionen, noch verdammt er einseitig die „barbarischen Wilden“ des Urwalds, sondern entdeckt ihre sehr differenten Züge. Zuweilen wird seine kritisch-aufklärerische Position gegenüber Lateinamerikanern als Eurozentrismus bezeichnet, so Jürgen Starbatty (358): Auch Humboldt war bei seiner Ankunft auf dem amerikanischen Kontinent nicht frei von eurozentrischen Vorurteilen betreffs der Ureinwohner des Subkontinents. In seiner Beschrei-

89 bung (...) finden sich einige Male Unmutsäußerungen über die „Dummheit“, die „Gleichgültigkeit“ und „Trägheit“ der ihn begleitenden Indios. (...) Im weiteren Verlauf seiner Reise begann Humboldt die Bedeutung von Umweltbedingungen bei der Entwicklung psychosozialer Eigenschaften zu erkennen.

Abgesehen davon, dass derlei Unmutsäußerungen ebenso auf Weiße gemünzt sein können, verleugnet Humboldt natürlich nicht, damit hat Stary Recht, seine okzidentale Kultur, die jedoch auch distanzierende Verfremdung garantiert und ihn vor vorschneller, blind machender Idealisierung der Indianer als bons sauvages schützt. Überhaupt zeichnet er ein kritisches Bild der indianischen Vergangenheit, besonders der andinischen Hochkulturen der Inkas und Azteken, was mit dem Aufklärungs-Mythos vom „Guten Wilden“ und späteren indigenistischen Idealisierungen kontrastiert. So verweist er auf die vor der „Entdeckung“ betriebene Unterdrückung anderer Indiovölker durch die Inkas und Azteken, beschreibt die Verwüstungen von Gebäuden, Landschaften und andere kulturfeindliche Folgen der Unterwerfung der ekuadorianischen Chipchas durch die peruanischen Inka. Er denunziert die Praxis der Azteken, ihren Göttern Menschenopfer zu bringen, und die despotischen Regimes der Inka und Azteken. Auch ist er weit davon entfernt, die angeblich ausschließlich „natürliche“ Ökologiewirtschaft der Indios, der er ausdrücklich Anerkennung zollt, wie heute vielfach üblich als positiven Kontrast zu den Umweltsünden der Industrieländer zu idealisieren, und meint, daß die Bergsavannen des Cocollar und Turimiquiri ihre Entstehung nur der verderblichen Sitte der Eingeborenen verdanken, die Wälder anzuzünden, die sie in Weideland verwandeln wollen. Jetzt, da die Gräser und Alpenpflanzen seit dreihundert Jahren den Boden mit einem dichten Filz überzogen haben, können die Baumsamen sich nicht mehr im Boden befestigen und keimen. (Äqu 102)

Für ihn ist die selbstkritische Korrektur zunächst übernommener europäischer Vorurteile betreffs der Indigenen Amerikas aufgrund eigener empirischer Erfahrungen charakteristisch. Anfangs wiederholte er eine Reihe von Negativurteilen seines Vorgängers als wissenschaftlichen Reisenden in den heutigen Ländern Ecuador, Kolumbien und Venezuela, des Franzosen La Condamine, über die Eingeborenen. So hatte dieser geschrieben – und meinte dies wörtlich, nicht nur metaphorisch! – die Indios könnten nicht bis drei zählen aufgrund ihrer Stupidität, die sich aus der geringen Zahl von Ideen erkläre, die sich nicht über ihre spärlichen Bedürfnisse hinaus bewegten. (ibd., 62) Sie seien Zukunftsdenken und gedanklicher Reflektion unfähig, hätten keine Spur von Bildung und unterschieden sich kaum vom Tier. Alle Indianersprachen, “von denen ich einige Ahnung habe, sind sehr arm und ohne Keime zum Ausdruck abstrakter und universeller Vorstellungen“ (Zeit, Raum, Tugend etc.).

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Humboldt übernahm anfangs diese Klischees, so wenn er zu Beginn seines Amerika-Aufenthalts über einen Besuch bei den Chaymas die diesbezüglichen Behauptungen La Condamines wiederholt: Man macht sich keinen Begriff davon, wie schwer die Indianer Spanisch lernen. Was mir aber nicht allein bei den Chaymas, sondern in allen sehr entlegenen Missionen am meisten auffiel, das ist, daß es den Indianern so ungemein schwer wird, die einfachsten Gedanken zusammenzubringen und auf spanisch auszudrücken, selbst wenn sie die Bedeutung der Worte und den Satzbau kennen. (...) In der Chaymassprache zählen dieselben Menschen nicht über fünf oder sechs. (Äqu 129)

In späteren Niederschriften gibt er eine positive, verstehende Darstellung des Sprachvermögens der „wilden“ Indios: „Welche Rage beim Lernenwollen der spanischen Sprache und beim Sichgehörverschaffen in der eigenen“, schreibt er, der ihre Sprachen, anders als La Condamine, ziemlich gut verstand. Er bescheinigt ihnen jetzt „eine so große geistige Beweglichkeit und so viel intellektuelle Fähigkeiten“. Gegen La Condamine gerichtet ist folgende Diatribe: Was einige Gelehrte, abstrakten Theorien folgend, über die angebliche Armut aller amerikanischen Sprachen und die äußerste Unvollkommenheit ihres Zahlensystems vorgebracht haben, ist ebenso unbegründet wie die Behauptungen über die Schwäche und die Beschränktheit der menschlichen Gattung auf dem neuen Kontinent. (teilw. and. Übers. Ma dtsch. 256-156-57)

Die Immigrantenrassen: Afroamerikaner und Kreolen Die zweite Gruppe in seinem imaginären Ethnoatlas der Neuen und der ganzen Welt sind die zwangsimportierten „Neger“sklaven, deren Lage er bei seinem zweimaligen Besuch auf Kuba studierte. Bei der soziostatistischen Auflistung der Rassen der Insel fällt ihm sogleich der hohe Anteil an Farbigen auf: 290.000 Weiße stehen 115.000 freien Farbigen und 225.268 Negersklaven gegenüber. Er berechnet die prozentuale Verteilung freier Farbiger und Sklaven auf verschiedene Gebiete Kubas im Jahre 1811 (109). Demographie reduziert sich für Humboldt in den südamerikanischen Kolonien auf das Verhältnis von Weißen zu Nichtweißen. In seinen Informationen nimmt die Rassensituation genau so viel Raum ein wie Ökonomie oder Politik. Betrifft dies in Mexiko die Relation zwischen Kreolen und Indios, so in Kuba die zwischen Weißen und Schwarzen. Er macht den europäischen Lesern die ihnen ungewohnte polyrassische Zusammensetzung der Bevölkerung Lateinamerikas bewusst. (Weiteres im Abschnitt über Humboldts Politischer Essay über die Insel Kuba.) Die dritte iberoamerikanische Ethnie sind die Nachkommen der europäischen Siedler, die durch Ausrottung der Kariben und Import von schwarzen Afrikanern auch die Urheber des Erscheinens dieser ursprünglich nichtamerikanischen Population in der Neuen Welt sind. Die iberoamerikanische Besonderheit der Kreolisierung, die definitive Niederlassung der Nachkommen der Eroberer in den überseeischen Besitzungen, äußert sich darin, dass diese die

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beiden anderen Rassen beherrschten, sich jedoch auch mit diesen mischten, im Unterschied zu den angelsächsischen Kolonen in Nordamerika und der Karibik, wo Mulattisierungen bzw. Mestizierungen selten waren. Die hispanostämmigen Kreolen sind überall auf dem Subkontinent vertreten und werden von Humboldt vorgeführt als führende, herrschende und vor allem reiche Klasse, deren Vertreter die Besitzer der Hazienden und Bergwerke und die maßgebenden Funktionäre in Regierung, Verwaltung, Rechtswesen, Militär und Kirche sind, bei denen (weiße) Rasse mit (herrschender) Klasse zusammenfallen, wenngleich peninsulare Vizekönige und Kolonialbeamten sie oft, wie Humboldt zeigt, auf den subalternen zweiten Platz verdrängen. Humboldt belustigt sich über die Akribie des Ethnorassismus auf Kuba, die mathematische Zuschreibung der negroiden und weißen Blutanteile der Menschen. Die Mulattisierung bzw. Mestizierung in den iberischen Kolonien lag nicht am geringeren Rassismus der Iberier, obgleich die Abkunft der Spanier und Portugiesen von Germanen, Romanen, Phöniziern, Juden und Arabern ohne Zweifel die Rassenmischung begünstigte, sondern – worauf Humboldt nicht eingeht – an den unterschiedlichen Siedlern: der angelsächsische Norden wurde von landsuchenden Immigranten mit ihren Familien bevölkert, während den iberischen Süden ledige Soldaten eroberten, die sich mit den indias mischten. Rasse vs. Klasse? Humboldt stellt die Ethnien Amerikas nicht als gleichberechtigte Populationen dar, sondern beschreibt die Beinahe-Identität von rassischer und sozialer Unterdrückung der „Farbigen“ durch die Weißen infolge historisch bedingter Fast-Gleichheit von Rasse und Klasse. Zu seiner kolonialen Sozialund Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas gehört die Darstellung der Enteignung der Indios von ihren Äckern und ihre Verbannung auf unfruchtbare Ländereien: Die arbeitenden Klassen waren fast ausschließlich Nichtweiße, wie er mehrfach ausdrücklich feststellt. So schreibt er über einen Ort in Kolumbien: Hier sind die einzigen Faulpelze die Weißen.(...) Überall Arbeit, auch spinnende und strickende Indianerinnen. Wie sehr würde diese Industrie doch zunehmen, wenn die Indios dadurch stimuliert werden würden, daß sie die Früchte ihrer Arbeit genießen könnten. Aber ach! Sie sind Sklaven, ohne Freiheit, ohne Eigentum und ohne Produktionsinstrumente. (Ma 217)

Diese Quasi-Identität von Rasse und Klasse hat sich in den Grundstrukturen bis weit ins 20. Jahrhundert erhalten, was sich in den indigenen Emanzipationsbewegungen der Andenrepubliken darin niederschlägt, dass sie sowohl sozialen wie bürgerrechtlichen Charakter tragen. Er nahm es für eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit, dass fast alle höheren Beamten, Kleriker, Wissenschaftler und Grundbesitzer Weiße, dagegen die Arbeitenden in Fabriken und auf Gütern indigene Peone oder schwarze Sklaven waren. In einer

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Reportage über eine mexikanische Textilfabrik spricht er von den Arbeitern als Indios „und anderen Farbigen“: Man (...) behandelt die unglücklichen Indianer und andere Farbige, die dort arbeiten, schrecklich. Die Fabriken scheinen Gefängnisse. Der Torwächter, der an einen Gefängnisschließer erinnert, öffnet uns das Tor, das immer mit Schlüssel verschlossen bleibt. Es gibt nichts Schmutzigeres, Stinkenderes, Finstereres, Ungesunderes als die Werkhallen. Grosse Haufen menschlicher Exkremente mitten auf dem Hof. Die Männer sind alle nackt und mager, niedergedrückt. Man sperrt sie die ganze Woche über ein, und trennt sie von ihren Frauen. Die Peitsche tanzt auf ihrem Rücken. (Mex 361)

Ähnlich beschreibt er eine Gruppe schwarzer Ruderer auf Transportschiffen auf dem Magdalena als Schwerstarbeiter (Ma 256) und indianische Häuer mit ihrer Knochenarbeit in einem Bergwerk, deren halbwüchsige Kinder als Erzschlepper arbeiten. Besonders erwähnt er die caballos (Pferde) genannten Indianer die, oft auf allen vieren, den Steiger auf ihrem Rücken durch die Stollen tragen. Er schildert als erster europäischer Reisender das in Lateinamerika verbreitete System der Schuldknechtschaft, eine Mischung von freier Lohnarbeit und persönlicher, halbfeudaler Abhängigkeit, die für den Übergangscharakter Lateinamerikas zwischen archaischem Traditionalismus und heraufdämmernder Moderne typisch war. Die juristisch freien Arbeiter seien realiter Sklaven, schreibt er, weil sie nie den ihnen zwangsweise gewährten rechnerisch überhöhten Lohnvorschuss abarbeiten könnten und so stets Schuldner der Fabrikanten ohne Kündigungsrecht und mit dem Risiko gerichtlicher Verfolgung blieben. Dieses Schuldnerrechtsverhältnis wurde erstmals in den Bergarbeitererzählungen des Chilenen Baldomero Lillo (Sub terra) 1904, also hundert Jahre später, thematisiert und hielt sich noch bis in die 1950er Jahre in den Andenländern. Es spricht für seine soziale Wahrnehmungsfähigkeit und seine ökonomische Fachkenntnis, dass er dieses diffizile sozialökonomische Problem bemerkte und analysierte. Humboldt registriert die Einheit von indianischer Rasse und arbeitender Klasse und die Identität von Weiß = Reichtum und Farbig = Armut: Je größer die Kolonien, (umso) erheblicher die Mißstände (...) Warum sieht man so wenig mit Bananen, Kartoffeln und Yukka bestellte Ländereien, die ausreichen, damit ein Indianer leben und glücklich leben kann? Die wahre Ursache ist, dass eine schlechte Regierung am meisten auf den unvermögenden Klassen lastet, die sich am wenigsten zur Wehr setzen können. (Die Gouverneure haben die Indianer dort wie Sklaven behandelt, die weißen Menschen sind geflohen) Die Ärgernisse in diesen Küstenregionen sind derart groß, dass in den Anden die wenigen noch von Indios vollen Dörfer morgen fliehen würden, obwohl sie doch Steuern zahlen und dabei von der Frucht ihrer Arbeit leben könnten. Aber in einem Lande, das 250 Jahre tyrannisiert wurde, bedarf es nicht erst des Auswanderns, um seine Bevölkerung zu verlieren. (Ma dtsch., 140)

Humboldt, der kein explizit sozial engagierter Schriftsteller war, begründete die Forschung zur Lage der arbeitenden Klasse in Lateinamerika, die Sozialgeographie, durch die Darstellung der Kondition der Indios und

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Afroamerikaner. Mir ist kein die soziale Lage des Subkontinents mit solcher Stringenz und Definitionshoheit beschreibender Autor vor Humboldt bekannt. Manchmal lässt er den rassischen Status der Arbeiter undefiniert, was Verselbstständigung des sozialen vom rassischen Aspekt und die Ablösung von Peonage und Sklaverei durch Lohnarbeit markiert. Die Notwendigkeit der Emanzipation der Indigenen (und Schwarzen) war für Humboldt eine Selbstverständlichkeit. Er meinte, (...) daß das Glück der Weißen aufs Innigste mit dem der kupferfarbigen Rasse verbunden ist, und daß es in beiden Amerikas überhaupt kein dauerndes Glück geben wird, als bis diese, durch lange Unterdrückung zwar gedemütigte, aber nicht erniedrigte Rasse alle Vorteile teilt, welche aus den Fortschritten der Zivilisation und der Vervollkommnung der gesellschaftlichen Ordnung hervorgehen. (Mex 59)

Seine Darstellung der Negersklaverei auf Kuba ist eine Auflistung der Unmenschlichkeiten von europäischem Sklavenhandel und südamerikanischer Sklavenarbeit, der Disziplinierung des Familien- und Sexuallebens der Schwarzen, ihrer mangelnden gesundheitlichen Betreuung, ihrer untermenschlichen Unterbringung und ihrer Unbildung als Analphabeten. Im Mittelpunkt seiner iberoamerikanischen Sozialgeschichte steht also die prekäre und subalterne soziale Lage und chronische Armut der arbeitenden, nicht-weißen Bevölkerung in Analogie zu Engels´ Lage der arbeitenden Klassen in England. Das alles hat keine vergleichswürdige Beziehung zur Arbeiterbewegung, wie dies manche DDR-Humboldtologen, wenigstens unterstellt dies der Holländer Rupke (2005), vermeinten. Aber man könnte in Humboldts Südamerikabildern eine Beziehung zu den zeitgenössischen Phänomenen des Vormärz, zu Büchners Woyzek und Hessischem Landboten und Heines Die schlesischen Weber sehen, denn seine Kritik an der sozialen Realität erfolgte keineswegs spontan: er hatte sich seine diesbezügliche Sensibilität durch seine empirische Kenntnis der Lage der Bergarbeiter in Franken und im Erzgebirge erworben, die denen der Weber in Schlesien aufs Haar glich. Gayet (61) schreibt vom Bergrat Humboldt: „Er interessiert sich auch näher für die soziale Lage der Bergarbeiter (...) Sein soziales Gewissen ließ ihn nie ruhen.“ Er habe sich mit „unvorstellbarer Arbeitsenergie“ für die Verbesserung ihres Loses eingesetzt, denn ihre Arbeit sei sehr gefahrvoll und ihre Gesundheit wegen der Verhältnisse in den Minen schlecht gewesen. Krütz nennt (46) Humboldt dieserhalb einen „Revolutionär“. Ohne diese vorherige Sensibilisierung wäre Humboldt an den Sozialverhältnissen in der Neuen Welt wohl so achtlos vorübergegangen wie La Condamine, Chateaubriand, Darwin (Vgl. Darwin 2004, Engel 2007), Schomburgk (2006) oder Graf Hermann Keyserling (1951) in ihren südamerikanischen Tagebüchern, die, wenn überhaupt, die rassische, nicht die soziale Diskriminierung in der Neuen Welt bemerkten. Den polykulturellen, multirassischen Charakter Iberoamerikas demonstrierte Humboldt sowohl an der infolge der sozialen und Rassentrennung

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unabhängig nebeneinander existierenden Existenz von von mir bereits beschriebener Oralliteratur der Indios und der Schriftliteratur der Kreolen, sondern auch an der punktuellen Überschneidung und Mischung beider Kulturen besonders im oralen und musikalischen Bereich. So erklärt er die Sagen der Orinoko-Wildnis zum gemeinsamen Gut der Indios, Conquistadoren und Missionare, der Kreolen, Mestizen und schwarzen Sklaven, also zu einem identitätsstiftendes Element der mestizischen iberoamerikanischen Kulturen mit Phantastik als gemeinsamem Merkmal. Als geistige Atmosphäre über der ganzen Region mit allen verschiedenen Ethnien schwebt laut Humboldt die Sage vom Eldorado, dem Häuptling, der mit Gold bestäubt regelmäßig ein Ritualbad nimmt, sowie von den Amazonen, diesen kriegerischen Frauen, die diesem großen Strom ihren Namen liehen, und von vergrabenen Schätzen der Jesuiten, was alles gute 150 Jahre später der Kolumbianer García Márquez in seiner phantastischen Erzählprosa sublimierte. Humboldt schreibt dazu: Jenseits der großen Katarakte beginnt ein unbekanntes Land. (...) Es ist nicht zu verwundern, daß ein so ödes Land von jeher der klassische Boden für Sagen und Wundergeschichten war. Hierher versetzten ernste Missionare die Völker, die ein Auge auf der Stirn, einen Hundskopf oder den Mund unter dem Magen haben; hier fanden sie alles wieder, was die Alten von den Garamanten, den Arimaspen und den Hyperboräern erzählen. Man täte den schlichten Missionaren unrecht, wenn man glaubte, sie selbst haben diese übertriebenen Mären erfunden; sie haben sie vielmehr großenteils den Indianergeschichten entnommen. (Äqu 252f.)

Diese Überlieferungen sind Ausdruck von typisch lateinamerikanischer Polykulturalität, rassischer mestizaje, religiösem Synkretismus und kultureller Hybridisierung, die Resultat des zwangsweisen Zusammentreffens dreier Hauptrassen der Erde und ein einzigartiges Modell weltweiter Kohabitation und kultureller Mischung der Rassen und Ethnien ist. Als Kulturologe hat Humboldt mehr oder weniger unbewusst der einmaligen multikulturellen Identität Lateinamerikas vorgegriffen, so durch – bei ihm, dem Musikfeind, seltene – ausführliche und damals wohl absolut einmalige Beschreibungen der Folkloremusiken von Afroamerikanern, womit er auf deren Beitrag zur popularen Tanzmusik des Subkontinents vorausweist: Es war Sonntagnacht, und die Sklaven tanzten zur rauschenden, eintönigen Musik einer Guitarre. Der Grundzug im Charakter des afrikanischen Volkes von schwarzer Rasse ist ein unerschöpfliches Maß von Beweglichkeit und Frohsinn. Nachdem er die Woche über hart gearbeitet, tanzt und musiziert der Sklave am Feiertage dennoch lieber, als daß er ausschläft. Hüten wir uns, über diese Sorglosigkeit, diesen Leichtsinn hart zu urteilen; wird ja doch dadurch ein Leben voll Entbehrung und Schmerz versüßt. (Äqu 80)

Doch am interessantesten ist ein für seinen vorurteilsfreien Blick zeugendes Dokument einer euro-indianischen musikalisch-tänzerisch-religiösen Kulturenmischung, die er als wohl erster westlicher Reisender beschrieb: nach einem Messebesuch in einer Dorfkirche protokolliert er mit Genauigkeit nach

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dem Gedächtnis ein für das multikulturelle Lateinamerika nicht ungewöhnliches Ineinander von katholischer und heidnischer Liturgie: Der Capitán de los Yndios war harlekinartig ausgeputzt, ein Helm von Linnen mit 17 Pasten an Fäden behangen und einem Schweif von Bändern. Sein schlichtes, fliegendes Haar medusenartig um die Schultern. Zahllose Rosenkränze um den Hals. Ein kurzer Weiberrock bis ans Knie, barfuß, aber um die Waden Leder, mit zahllosen Schellen behangen. Einen Stab in der Hand. Zwei Gefährten mit ähnlichen Schellen, aber aus Dürftigkeit im Putz weit ärmlicher. Der Cura empfing die Indianer an der Kirchenthür, sie schwungen (sic, HOD) die Stäbe vor dem Geistlichen und tanzten eine Art Ballet vor dem Altar, nach dem Takt einer Trommel und Pfeife (derselbe Indianer spielte beide Instrumente zugleich). Die Bewegung der Füße war sehr einfach, ein Auftreten nach dem Takt, um die Schellen klingen zu lassen, woraus ein Geräusch fast wie ein bolero mit Castañetas entstand. Desto zusammengesetzter war die Bewegung der Arme, das Schwingen der Stäbe und das Durcheinanderlaufen, alles mit unendlicher Gravität und prätentiöser Miene. Mit angehender Messe hörte der Tanz auf, aber wie erstaunten wir, als bei der Consecración, als der Priester eben den Kelch und die Hostie emporhielt, die indianische Musik erscholl. Die masquierten Herren tanzten ba(c)cantenartig um den Priester über 1/4 Stunde lang – Tanz in der ernsthaftesten Epoche des christ(lichen) Blutopfers. – Nach geendigtem Ballett vollendete der Priester das Opfer, forderte zuecos (Bastschuhe, HOD), und nun begann die Prozession. Wie rasend tanzten die Indianer eine Art chaîne durch den Zug der Prozession, schwungen (sic!) die Stäbe vor den christ(lichen) Götzenbildern (...) Ich habe das gezeichnet. (Ma 154 -Von Bogotá nach Quito)

Humboldt nimmt diese Kultursynthese mit Erstaunen zur Kenntnis. Er erlebte etwas Besonderes, etwas besonders Lateinamerikanisches, eine indianischkreolische mestizaje, Identitäts-Syndrom des polykulturellen Subkontinents. Es ist die erste nicht-denunziatorische Beschreibung dieses für die Kultur und Kunst Iberoamerikas so wesentlichen Phänomens. Ich kenne keine ähnlich starke und intensive zeitgenössische Darstellung religiöser und künstlerischer Hybridität. Diese Mischung überbrückt die Spannung zwischen beiden Kulturen und verwebt sie zu südamerikanischer Identität. Humboldts Entdeckung Lateinamerikas als polykultureller Kontinent und der für diesen Erdteil grundlegenden Bedeutung ethnisch-kultureller Faktoren kontrastieren mit der sich zu seiner Zeit in der französischen positivistischen Soziologie, im deutschen marxistischen Materialismus sowie im angelsächsischen Pragmatismus und Behaviourismus durchsetzenden Dominanz sozialökonomischer Betrachtungsweise. Letztere bestand in der primären, nahezu ausschließlichen Berücksichtigung der sozialen Verhältnisse, in der die Individuen leben, für deren So-Sein, wogegen die Rolle kultureller Faktoren für das Leben der Menschen lange Zeit als sekundär betrachtet wurde. Humboldt negierte keineswegs die Bedeutung des Sozialökonomischen für die Bewohner Lateinamerikas, sondern sah eine enge Beziehung zwischen rassisch-ethnischen und sozialökonomischen Momenten, ja eine Identität zwischen ihnen. Er stellte fest, dass die Arbeitenden und die Ärmsten Farbige, Indios oder „Neger“, die Weißen die Besitzenden und „Faulpelze“ waren. Diese Situation war für ihn nicht Ergebnis von Rassenzugehörigkeit der Individuen, sondern lediglich das Resultat des historischen Phänomens der Eroberung und

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Kolonisierung, durch welches die Weißen zu Kolonialherren, die „Farbigen“ zu Kolonisierten gemacht wurden. Dadurch fielen Rasse und Klasse zusammen, was zu der Äquivokation führte, die sozialen Verhältnisse aus Rassenverhältnissen zu erklären. Humboldt lehrt, dass in der Kolonie alle sozialen Phänomene eine ethnisch-rassische, und alle ethnisch-rassischen Erscheinungen stets auch eine sozialökonomische Komponente haben.

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Sechstes Kapitel: Kolonialisten vs. Kolonisierte – Europäer vs. Lateinamerikaner Alexander von Humboldt revolutionierte die Weltgeschichtsschreibung und -demographie durch seine konsequent regionale Aufteilung der verschiedenen menschlichen Populationen und Kulturen auf die Erde. Dabei nahm er die existierende Menschheit als ganze in den Blick und stellte anders als alle zeitgenössischen und viele heutige Historiker zunächst einmal fest, dass der Erdball als Landmasse weitgehend nicht der Menschheit, sondern den Westeuropäern gehörte, und dass ferner die ihn bewohnende Menschheit in die zwei großen Blöcke der kolonialistischen Europäer und der außereuropäischen Kolonialvölker, unter welche tendenziell auch die asiatischen Hochkulturen fallen, geteilt, getrennt, entzweit war. Er liefert somit die erste wissenschaftliche Darstellung des modernen Kolonialismus als einer politisch-sozialen Formation sui generis der Menschheitsgeschichte, behandelt erstmals die Kolonialvölker als solche als Teil der Weltbevölkerung und nicht nur als dinglichen Annex des Abendlandes. Er führt die meisten damaligen sozialen, ökonomischen, kulturellen und ethnisch-rassischen Probleme Amerikas ursächlich auf den Kolonialismus zurück. Er verschmäht daher die übliche Aufteilung des Erdreichs auf die fünf Kontinente Europa. Asien, Afrika, Amerika und Australien. Stattdessen teilt er den Erdball in die taxonomisch weit wichtigeren klimatisch-geographischen Zonen: in die gemäßigten nordatlantischen Gebiete einerseits und die heißen tropischen, politisch und wirtschaftlich zunehmend vom Nordatlantik aus beherrschten Regionen andererseits. Daher beginnt für ihn die auf Grund des falschen Scheins der „Entdeckung“ und Kolonisierung Amerikas bislang hypertrophierte Ost-West-Ausrichtung eine geringere Rolle als die machtpolitische Nord-Süd-Linie zu spielen. Deshalb gebraucht er zwar aus Verständigungsgründen mit dem Leser für die Ost-West-Aufteilung der Welt das Binom „Alte vs. Neue Welt“, das er aber wegen seines eurozentristischen Beigeschmacks meist meidet. Seine „Trennung“ zwischen Landmassen und Populationen erfolgt nicht in der Ost-West-Richtung, sondern verquer in der Nord-Süd-Flankierung, in der die extremen Klimaunterschiede zwischen Heiß und Gemäßigt gegenüber der relativ klimaneutralen Ost-West-Achse dominieren. Darüber erhebt sich die weltpolitisch dominierende Trennung zwischen kolonialen und kolonisierten Gebieten und Völkern, wogegen die seinerzeitige europäische Historiographie von Voltaire und Montesquieu bis Guizot, Mommsen und Winkler die weltgeschichtsbewegenden Kräfte allein in den rivalisierenden Dynastien, Völkern und Staaten Europas sieht. Die politische Bevormundung der Kolonialvölker hatte er am eigenen Leib erfahren, als er erst durch persönliche Audienz beim spanischen König die Kolonien besuchen durfte: Nicht die Inder, sondern die British East Indian

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Company und das Londoner Kolonialministerium verweigerten ihm die Einreise in das Himalaya-Gebiet. Spanischer und britisch-französischer Kolonialismus Es fällt auf, dass er in Bezug auf Südamerika selten von den herrschenden Spaniern, sondern meist von den „Europäern“ spricht, womit er die signifikanten Unterschiede zwischen dem iberischen und den französisch-britischen Kolonialsystemen ignoriert, die auf politischen, ökonomischen, kulturellen und mentalen Verschiedenheiten der „Mutterländer“ beruhten. Er stellt die gemeinsame Europeizität des Kolonialismus geradezu tendenziös heraus. Die Conquista nennt er ein grausames Abschlachten renitenter Einheimischer durch die europäischen Invasoren. Die ausgerotteten Ureinwohner der Karibik bezeichnet er als Opfer „europäischer Grausamkeit“. Umweltzerstörung ist für ihn ein spezifisch „europäisches“ Delikt. Sinistres Ergebnis europäischen Wirtschaftens sei die Abholzung des Regenwaldes: Zerstört man die Wälder; wie die europäischen Siedler aller Orten in Amerika mit unvorsichtiger Hast tun, so versiegen die Quellen oder nehmen doch stark ab. Die Flußbetten liegen einen Teil des Jahres über trocken und werden zu Strömen, sooft im Gebirge starker Regen fällt. Da mit dem Holzwuchs auch Rasen und Moos auf den Bergkuppen verschwinden, wird das Regenwasser in seinem Ablauf nicht mehr aufgehalten, statt langsam durch allmähliches Versickern die Bäche zu speisen, zerfurcht es in der Jahreszeit der starken Regenniederschläge die Berghänge, schwemmt das losgerissene Erdreich fort und verursacht plötzliche Hochwässer, welche nun die Felder verwüsten. (zit. nach Osten 79, Hervorh. HOD)

Er konstatiert: „Die Europäer sind außerhalb ihrer Länder so barbarisch wie die Türken und schlimmer, weil fanatischer.“ (Ma 272) „Außerhalb ihrer Länder“ meint das arrogante und brutale Auftreten der Europäer in den Kolonien. Mit dem Fanatismus der Europäer meint er die okzidentale religiöse Intoleranz gegenüber Andersgläubigen und Andersrassigen. Humboldt registrierte natürlich den Handelsaustausch zwischen den Exkolonien und Westeuropa als zivilisatorischen Fortschritt gegenüber der puren und primitiven Ausplünderung der Kolonien durch Spanien. Doch nahm er gleichzeitig als einer der ersten objektiven und sachkompetenten Beobachter der Szene die Verhinderung der Eigenentwicklung der Kolonien durch die Kolonialmächte wahr. Als Ökonom wusste er, dass der aufscheinende Kapitalismus ein System der freien Konkurrenz war, das sich ja auch in seiner Eigenpropaganda als solches darstellte. Er sah, dass dieser mit allen Kräften jedwede Konkurrenz, und damit eine eigenständige Entwicklung Lateinamerikas als potentiellen Konkurrenten verhinderte und die Rückständigkeit konservierte, wenn nicht gar produzierte: (...) die Idee der Kolonie selbst (ist) eine unmoralische Idee (…), eines Landes, in welchem der Gewerbefleiß, die Aufklärung sich nur bis zu einem bestimmten Punkt entwickeln dürfen, jenseits dieser Grenze würde sich eine zu starke, wirtschaftlich zu selbständige Kolonie unabhängig machen. (zit. nach Osten 121)

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Historisch, aus seinen einschlägigen Chronistenlektüren, kannte er den spanischen Kolonialismus, dessen extreme Grausamkeit. Die aus dem Präkariat stammenden, mit mittelalterlicher Mentalität ausgestatteten, von ungezügelter Bereicherungsgier beherrschten kulturell wie psychisch bereits in aggressiver Rohheit vom Kampf gegen die Mauren geprägten Conquistadoren begingen mit der Primitivität von Lumpen jedes denkbare Verbrechen für Gold oder Landbesitz. Das kann man nicht so unbedingt von den englischen, französischen, holländischen Kolonisten sagen. Humboldt hatte keinen Anlass, diese spezifisch iberische Grausamkeit den anderen Europäern pauschal zu unterstellen. Er wusste aber, dass im Prinzip alle kolonienbesitzenden Europäer wenig zimperlich mit ihren Opfern umgingen. Er hatte in London dem Prozess gegen Hastings beigewohnt, dem als obersten Kolonialbeamten in Indien ungeheuerliche Grausamkeiten gegen die Bevölkerung zur Last gelegt wurden. Er wusste von den Brutalitäten und Massakern der französischen Soldateska in Algerien, über die während seines Paris-Aufenthalts die Abgeordnetenkammer öffentlich diskutierte, und von den Gemetzeln der französischen Truppen auf Haiti, die Napoleon in Marsch gesetzt hatte, um die von der Revolution befreiten Schwarzen in die Sklaverei zurück zu kartätschen,11 ganz zu schweigen von den Exzessen der französischen Invasionstruppen in Spanien, den desatres de la guerra, die Goya so eindringlich geschildert hat. Auch die späteren Ethnozide der Europäer an nichteuropäischen Völkern, so die der Briten und Belgier im Kongo, die Joseph Conrad in The heart of darkness entlarvte, und die Massaker in „Deutsch-Südwest“, mit denen das wilhelminische Deutschland sich in seinen wenigen und armseligen Kolonien hervortat, rechtfertigen nachträglich Humboldts Pauschalierungen. Er macht nämlich, wie ich mich überzeugen musste, tatsächlich bewusst kaum oder keine Unterschiede zwischen Spaniern, Franzosen und Engländern. In einer in manchen Ausgaben von der Selbstzensur der Herausgeber unterdrückten Passage steht: Sich darüber streiten, welche Nation die Schwarzen mit mehr Humanität behandelt, heißt sich über das Wort Humanität lustig machen und fragen, ob es angenehmer sei, sich den Bauch aufschlitzen zu lassen oder geschunden zu werden, heißt fragen, ob die Spanier mehr Grausamkeiten in Peru als in Venezuela verübt haben, ob die Spanier mehr Grausamkeiten in Amerika als die Engländer und die Franzosen in Ostindien verübt haben. (Februar 1804)

Ähnlich pauschalierend klagte der christlich-konservative Amerikareisende Chateaubriand (421) die Westeuropäer an:

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Laut Mireille Gayet (37) flaute Humboldts Begeisterung für die Revolution von 1789 mit dem terreur der Jakobiner ab, die „dann, als er später sah, wie Napoleon die Sklaverei wiedereinführte“, vollends niedersank. (37)

100 Die Engländer, die Franzosen, die Dänen und Holländer eilten los, um sich die Beute zu teilen (...) ohne zu fragen, ob sie die legitimen Herren jener Besitztümer waren. (...) Sie erstreckten sich mit den europäischen Kolonien über die ganze Oberfläche des Globus, wobei sie in ihre Schrecken die Völker hineinrissen, die selbst nicht einmal die Namen der Länder und Könige wußten, für welche sie aufgeopfert wurden.

Der Ploetz betont rechtens den kausalen Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Moderne, denn Europa verdankte seinen Progress größtenteils der Ausbeutung der außereuropäischen Welt. Erst im 19. Jahrhundert, zeitgleich und also im Zusammenhang mit dem großen Kolonisierungsschub, trat laut Hobsbawn12 eine Vervielfachung des Produktionsausstoßes der europäischen Industrieländer gegenüber den vormals gleichauf liegenden Hochkulturen China, Japan, Ägypten ein. Die österreichische Globalisierungsforscherin Andrea Komlosy (275) belegt wie schon erwähnt den großen Beitrag der sogenannten Entwicklungsländer zur Entwicklung der europäischen Industrie, namentlich Englands. Die Baumwolle für die europäischen Manufakturen des 18. Jahrhunderts wurde aus dem Osmanischen Reich und der Kronkolonie Indien importiert, deren „führende Stellung bei der Herstellung bedruckter Baumwollstoffe ausschlaggebend für die Innovationen in der englischen Baumwollindustrie war, die schließlich den Vorsprung Englands in der Industriellen Revolution begründeten“. Die kolonialismuskritische Sprengkraft von Humboldts LateinamerikaReport verbirgt sich allerdings oft dem Leser, weil er ihn in Aperçus stückelt, nie zusammenhängend darstellt. Holl und Schwarz haben eingehend Humboldts zusammenhängende und prinzipielle Kolonialismuskritik dargelegt. (2001) Doch es fehlt seine Würdigung als Begründer der lateinamerikanistischen Sozial- und Kulturwissenschaften, der als erster jenseits aller Ideologeme die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen Iberoamerika und Westeuropa in ihrer kausalen kolonialen Bedingtheit, als Überlagerung von lateinamerikanischer Rückständigkeit und europäischem Kolonialismus dargestellt hat. Letzterer spielte für ihn eine zweischneidige Rolle, als Konservator archaisch-statischer Verhältnisse, aber auch als Vermittler und Einpeitscher moderner Dynamik. Er registrierte den Gegensatz zwischen der zukunftsträchtigen kosmopolitischen Tendenz des Westens und den archaischen Gesellschaftsverhältnissen Lateinamerikas und beklagte die daraus resultierende Gleichgültigkeit der Ureinwohner gegenüber Geld und Kapital, dieser Markenzeichen und Instrumentarien der Moderne. Ihre moralisch schätzenswerte Aversion gegen das Geld stellte sich für ihn auch als Hindernis für die Durchsetzung moderner Austauschverhältnissen dar, weil sie Streben nach Gewinn und individuelle Lebensqualitätsverbesserung und damit jede Weiterentwicklung ausschloss. 12

(…) between 1750 and 1800 (also vor dem industriellen Beschleunigungsschub des 19. Jahrhunderts und den großen kolonialen Eroberungen, HOD) the per capita gross product in what are today known as the “developped countries” was substantially the same as in what is now known as the “Third World” (. E. J. Hobsbawn (1987): History of the Civilization The Age of Empire. New York: Pantheon Books, S. 15)

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Insofern begrüßte er es, dass die Kreolen das spanische Joch, um freien Zugang zum Weltmarkt und zur weltweiten Kommunikation zu erhalten, abwerfen wollten, und registrierte aufmerksam das Anwachsen der antikolonialistischen Stimmung. Durch die Repression Madrids wurde seiner Meinung nach die antikoloniale Opposition noch radikaler zu politischen und wirtschaftspolitischen Reformen getrieben. Er registrierte das Zusammenfallen von Kolonialismus und Despotie und von Antikolonialismus und Demokratismus, aber auch den globalisierenden Charakter der abendländischen Wirtschafts- und Sozialordnung, der vor Lateinamerika nicht halt machte. Wissenschaft vs. Emotion in Humboldts Antikolonialismus-Diskurs Humboldt pochte wegen des aufgrund seines immer wieder durchscheinenden human-sozialen Engagements nicht unberechtigten Verdachts, parteilicher Pamphletist zu sein, nachdrücklich auf der wissenschaftlichen Objektivität seiner Publikationen. Damit meint er Rationalismus, Beweisbarkeit, multikausales Denken, Empirismus, Experiment, logische Widerspruchsfreiheit, Methoden- und Theoriebewusstsein, Kenntnis und kritische Verwendung einschlägiger Sekundärliteratur. Diese unbedingte Objektivität und ergo Wissenschaftlichkeit seines Diskurses war jedoch, wie Humboldt sehr wohl wusste, gebunden an seine wirtschaftliche Unabhängigkeit dank seines großen ererbten Vermögens, das ihn freimachte von aller sonst üblichen Zensur und Selbstzensur, die den Buchmarkt aus finanziellen wie politischen und ideologischen Gründen beherrschte – heute betrifft dies auch die mehr oder weniger starke Abhängigkeit von Drittmittelgebern. Daher seine absolut ideologiefreie, nichts als die reine, unverstellte wissenschaftliche Wahrheit darbietende Darstellung des europäischen Kolonialismus, die man sonst bei kanonisierten Autoren nicht findet. Allein deshalb, wegen der damit zusammenhängenden Garantie seiner Wissenschaftlichkeit und nicht aus Gründen positiver Bewertung seiner zumeist moralisch lupenreinen Persönlichkeit, hebe ich seine verbale Beteuerung seiner finanziellen Unabhängigkeit hervor. Trotzdem unterläuft ihm häufig ein Ausrutscher, ein plötzliches Aufflammen seiner Subjektivität, die aus den Tiefen seiner Seele oder seines Unterbewusstseins an die Textoberfläche quillt und einen unübersehbaren Stilbruch in seinem objektiv-wissenschaftlichen Diskurs erzeugt. Was sind die Inhalte dieser Abstürze ins Unterbewusste, ins rein Emotionale, wo sind die Bruchstellen im objektiven Wissenschaftsdiskurs? Es sind Auswüchse des hispano-europäischen Kolonialregimes, eklatante Widersprüche zwischen Moral und Realpolitik, Humanität und Menschenrecht, die ihn seine Contenance verlieren lassen, sich oft nur in einem einzigen Wort oder einer halben Phrase verraten. Spektakulär zeigte sich dies in seinem öffentlichen Protest gegen die Nicht-Publikation des „schwarzen“ Kapitels über die Sklaverei in der anglo-

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amerikanischen Übersetzung seines Kuba-Essays in der New York Daily Times vom 12. August 1857: „Diesem Teil meines Werkes messe ich mehr Bedeutung bei als irgendeiner meiner astronomischen Beobachtungen, Experimente über die magnetische Intensität oder Statistiken“. (Kub 268) Dies darf nicht verdecken, dass seine moralisch-humanitäre Empörung über die Sklaverei nicht der eigentliche Inhalt seiner kubanischen Forschungen war, sondern im Sinne von Max Weber eher das Motiv, sich mit dem Kolonialismus wissenschaftlich zu befassen. In sein Bild der zeitgenössischen Kolonialgesellschaft montiert er die Geldgier als Hauptfaktor der Sklaverei: „So kalkuliert die Habsucht, wenn der Mensch sich des Menschen als Lasttier bedient“, (Kub 129) schreibt er. „Lasttier“ ist seine Allegorie für „Ausbeutungsobjekt“. Die auri sacra fames fand er nur bei Europäern und Kreolen, bei den Indios dagegen stellt er mit Kolumbus und Las Casas wie bereits erwähnt die bedauerliche Abwesenheit von Geld- und Bereicherungsdenken fest. Im Zusammenhang mit der Sklaverei gebraucht er den stark emotionalen Ausdruck „Empörung“. Ihr Anblick sei es, der „einen in beiden Indien so tief empört, wie überall, wohin europäische Kolonisten ihre sogenannte Aufklärung und ihre Industrie getragen haben“. (Äqu 47, Hervorh., HOD) Diese Bemerkung schrieb er post festum bei der Redaktion seines Tagebuchs nieder, als er sich an seinen Aufenthalt in Teneriffa rückerinnerte und proleptisch die dortige Abwesenheit der Sklaverei rühmt, die er bei Antritt seiner Amerikareise doch dort noch gar nicht gekannt haben konnte und erst später im venezolanischen Cumaná kennen lernte! Ihn empörte, dass der Mensch zur Ware „vermarktet“ wurde – dem Sklavenmarkt von Cumaná weist er eine wahrhaft hintergründige Bedeutung als frühe „Marktwirtschaft“ zu. „Empörung“ taucht nochmals in ähnlichem Zusammenhang auf: Es ist ein empörender Gedanke, daß es noch heutigentags auf den Antillen spanische Ansiedler gibt, die ihre Sklaven mit dem Glüheisen zeichnen, um sie wieder zu erkennen, wenn sie entlaufen. So behandelt man Menschen, die anderen Menschen die Mühe des Säens, Ackerns und Erntens ersparen. (Äqu 80)

Schämen ist eine zweite emotionale Vokabel, mit der er sich als Subjekt im Unterschied zur distanzierenden „Empörung“, das ein anderes Subjekt unterstellt – d.h. als Europäer, Mitverantwortlicher und Nutznießer der Sklaverei in einer Art Selbstkritik selber denunziert. Die Sklaverei ist ein Anlass, über den sich „der Europäer am meisten schämen muss“. (Kub 126) Das besagt, dass schon der gewöhnliche Kolonialismus dem Europäer zur Schande gereicht. Bis in die Wortwahl hinein, bis in die Übernahme des Scham-Motivs, ist diese Passage Widerhall der Herderschen Europaschelte wegen der von diesem Erdteil revitalisierten Sklaverei: Europa halte zwar selber keine Sklaven, weil diese teurer seien als Freie, hatte Herder geschrieben, „nur einen Luxus gestattet sich das gesittete Europa noch, nämlich drei Weltteile (Afrika, Asien, Lateinamerika; es ist eine Vorprägung des heutigen Begriffs „Dritte Welt“,

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HOD), als Sklaven zu gebrauchen (...). Drei Weltteile durch uns (d.h. die Europäer, HOD) verwüstet und polizieret (...). Eigentlich müßte sich der Europäer wegen des Verbrechens beleidigter Menschheit fast vor allen Völkern schämen.“ (Herder 1994: 672; Hervorh. HOD) Dritter emotional geladener Terminus ist Trauer, Trauer über den den Tod der Sklaven durch Arbeit einkalkulierenden Rentabilitätsrationalismus: Aber dennoch ist es ein trauriger Anblick, wie die christlichen, zivilisierten Völker darüber diskutieren, wer unter ihnen innerhalb von drei Jahren weniger Afrikaner durch Sklaverei umgebracht habe (...). Ich habe kaltblütigen Erörterungen beigewöhnt, in denen diskutiert wurde, ob es für den Besitzer rentabler sei, die Sklaven nicht übermäßig mit Arbeit zu strapazieren und sie aus diesem Grund weniger oft zu ersetzen, oder in wenigen Jahren den größten Nutzen aus ihnen zu ziehen, und sie darum öfter durch neu importierte Neger zu ersetzen. (Cub 129)

Er notiert: „Traurig die Reste von Menschensiedlungen, Obstbäume etc. (...) schöne ausgegrabene Statuen; so hat man die Indianer ausgerottet, in Minen, als Lasttiere und als ärmste Klasse.“ (Ma 143)

Das Adjektiv schrecklich assoziiert er mit der Conquista: „Man sieht Bischöfe, die frommen Kreuze und viele erhängte Indios; denn das ist schrecklich, daß man bei der Durchsicht der mexikanischen chronologischen Bilderschriften sicher ist, Spanier anzutreffen, sobald man erhängte Indios sieht.“ (Ma 222,) Er schreibt vom Codex Vaticanus: Dieses Manuskript enthält Kopien von hyroglyphischen (sic!) (Gemälden, die nach der Conquista ausgeführt wurden, erhängte Eingeborene an den Bäumen mit Kreuzen in den Händen, berittene Soldaten des Cortes, die Feuer an ein Dorf legen, Mönche, die unglückliche Indios in dem Augenblick taufen, in dem man sie in das Wasser wirft um sie umzubringen. An diesen Zügen erkennt man die Ankunft der Europäer in der Neuen Welt. (Vues 211).

Humboldts in diesen Extemporés ausgedrückte Europa-Kritik wird in vielen Publikationen leider schamhaft (?) verschwiegen. Meyer-Abich schreibt ohne auf sie einzugehen, ohne Beweis und Beleg noch 1995 folgenden Satz über Humboldts Verhältnis zu Europa: „Als Preuße hatte er Europa verlassen, in Amerika wuchs er zum echten Amerikaner heran, um alsdann als der erste wirkliche Europäer nach Paris und Berlin zurückzukehren.“ (28) Humboldts Kritik galt auch den europäischen Vorurteilen gegenüber der Neuen Welt, ein von der Aufklärung seit Holbach/Dumarsais´ Essai sur les préjugés vielstrapaziertes Thema. Er polemisierte gegen die inferiorisierenden Amerika-Klischees berühmter Autoren wie Pauw, Raynal, Robertson und Hegel. Auf der Fahrt nach Potsdam ärgerte er sich in einem Brief an Varnhagen von Ense über Hegels Phantastereien über Südamerika in dessen Philosophie der Geschichte:

104 Sophie Charlotte (die preußische Königin, HOD) und Hegel´s Philosophie der Geschichte werden mich begleiten und mir beide ein großer Genuß sein. Aber für einen Menschen, der, wie ich, an den Boden und seine Naturverschiedenheit gebannt ist, wirkt ein abstraktes Behaupten rein falscher Tatsachen und Ansichten über Amerika und die (west)indische Welt freiheitsraubend und beängstigend.

Diese Interjektionen, Inkrustationen und Sentenzen in seinem wissenschaftlichen Diskurs sind spontane Ausbrüche emotionaler Empörung im Rahmen der gewöhnlich objektiven Darlegungsweise des Wissenschaftlers Alexander von Humboldt. Sie verraten seine humanitären, politischen und moralischen Motivationen, doch sind sie auch wissenschaftliche, faktengegründete Feststellung realer Menschenrechtsverletzungen, Korrektur falscher Kolonialismusapologie und objektive Darstellung der ausbeuterischen und exterminatorischen Herrschaftsmethoden des Kolonialismus Westeuropas, denn die skandinavischen, balkanischen und mitteleuropäischen Länder hatten außer Dänemark und Russland keine Kolonien und waren am Sklavenhandel nicht beteiligt. Humboldts Emotionalien, seine Empörung, Scham, Trauer und Erschrecken galten den Defiziten des westeuropäischen Kolonialismus in Sachen Menschenrechte nach dessen eigenen Maßstäben, den Erklärungen der Menschenrechte von 1776 und von 1789/91. Auch die heutige Europaeuphorie und -mythologie betont am Kolonialismus nur das „zivilisatorische“ Werk, nicht dessen moralische Dubiosität. Doch nur eine offizielle Entschuldigung, wie sie einst die Schröder-Fischer-BRD-Regierung für das kaiserliche Massaker anlässlich eines Ministerbesuches in Namibia aussprach, also Selbstkritik und Wiedergutmachung wie sie Herder verlangte, eröffnen einen Neuanfang in den Beziehungen Europas zu seinen Ex-Kolonien. Opfer- vs. Täter-Diskurs Humboldts objektivistischer antikolonialistischer Diskurs wehrt dem peinlich einseitigen, von Subjektivität und Selbstgerechtigkeit erfüllten europäischen Selbstbild. Er berücksichtigt erstmals die Befindlichkeit der Opfer, konterkariert den kolonialen Sieger-Diskurs. Der Große Ploetz (Freiburg i. Breisgau: Herder, 33. Aufl. 1998) stellt unter der Rubrik „Entdeckungen und frühe Eroberungen“ den Zusammenhang zwischen (west)europäischem Kolonialismus und Wirtschaftsaufschwung fest: Für die Entstehung des modernen Weltsystems, der europäischen Expansion und der Europäisierung der Welt sind die großen Entdeckungen des 15./16. Jahrhunderts und die daraus erwachsenen Eroberungen und Kolonialreiche überseeischer Gebiete von entscheidender Bedeutung.

Dieser realitätsadäquate, von europäischer Expansion und Europäisierung der Welt sprechende Text verrät jedoch trotz Gegenscheins auch die Täter-Per-

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spektive. Die Vokabel „Entdeckung“ drückt grammatisch die Subjekt-Perspektive des „Entdeckers“, des Kolonialismus durch den aktiven Modus aus; die Opferperspektive des Objekts, des „Entdecktwerdens“, das Passiv kommt gar nicht vor. Humboldt berücksichtigt dagegen die dem Siegerdiskurs entgegengesetzte Opferperspektive der „Entdeckten“, lehnt nicht nur den Inhalt, sondern auch das Vokabular der europa-apologetischen Phrase ab. „Während der Entdeckung der Neuen Welt oder, besser gesagt, während der ersten Invasion der Spanier“ („Lors de la découverte du nouveau monde, ou, pour mieux dire, lors de la première invasion des Espagnols…»)13 so beginnt er einen Satz, den er bei diesem Syntagma abbricht, sich selbst korrigierend, sich vom Siegerdiskurs distanzierend, die Entdeckung als Überfall beim Namen nennend. Diese sprachliche Korrektheit in seiner Reproduktion des ungehört verhallten Diskurses der Kolonisierten hält er allerdings nicht durch, da er sich wegen der Kommunikation mit dem europäischen Leser, dem er sonst ständig seine ungeläufige Begrifflichkeit erklären müsste, der allgemeinen eurozentristischen Terminologie mit ihren falschen Onomastica „Indianer“, „Amerika“,„Lateinamerika“ usw. bedienen muss. Seine Lateinamerikadarstellung hinterfragt die Kolonialismusapologie, zerrt die vom offiziellen Siegerdiskurs verschwiegenen Tatsachen ans Licht. Aus letzterer Perspektive hätte man im Ploetz zumindest darstellen müssen, dass die „großen Entdeckungen“ höchst einseitig den Europäern Vorteile brachten, während die Nichteuropäer größten Schaden erlitten: Ethnozide von den Kanarischen Inseln bis zu den Antillen; gewaltsame Verwandlung von Millionen freier Afrikaner, die im Alter zwischen 15 und 20 Jahren in ihren Dörfern aufgegriffen und gewaltsam deportiert wurden, durch westeuropäische Sklavenhändler und willfährige Stammeshäuptlinge in Arbeitssklaven, die für die Reichtumsschöpfung der Europäer auf den Plantagen bei schwerer körperlicher Arbeit unter man kann ruhig sagen KZ-ähnlichen Bedingungen schuften mussten; Totalverlust der Monumentalbauten in Peru, Mexiko und Nordafrika, Zerstörung blühender Kulturen in Afrika, Süd- und Mesoamerika, Raub der Ländereien und Goldschätze der Kolonisierten. Alles dies verbirgt das Wort „Entdeckung“, wie auch die Tatsache, dass das Entsetzen über die Gräuel der Conquista ganze Indiogruppen in den kollektiven Selbstmord trieb, was der suizidfeindliche Klerus als Sünde verdammte, ohne ihre Verursachung, Trauer über die Vernichtung ihrer Kulturen und Eliten, mitzubedenken. Humboldt machte eine Gewinn-Verlust-Rechnung auf, brachte die Interessen der Verlierer in die Bilanz des Kolonialismus ein, obwohl dieser noch längst nicht sein Apogäum erreicht hatte, noch im Aufbau begriffen war, weshalb seine kognitive Leistung um so höher zu veranschlagen ist. Der europäische Täter-Diskurs begann in Inhalt wie Diktion mit dem „Bordbuch“ des sogenannten Entdeckers Amerikas. Kolumbus, der lebendige, 13

in den Vues pittoresques des cordillères et monumens des peuples indigènes de l´Amérique (XII)

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von ihm wie wilde Tiere gefangene und gehaltene Indios als „Ansichtsexemplare“ wie in einem modernen Warenprospekt mit nach Barcelona verschleppte, eine Kampagne blutiger Goldsucherei in der Neuen Welt inszenierte und die Sklaverei einführte. Den Diskurs kolonialer Inbesitznahme eröffnete sein Brief an das spanische Königspaar, dass die entdeckten Eingeborenen auf den von ihm vorgeschlagenen Tauschhandel eingingen und alles was sie besitzen, für die mitgebrachten Glasperlen, Glöckchen, roten Kappen und andere Dinge von geringem Wert hergeben; worüber sie sich sehr freuten und wodurch wir sie uns zu vortrefflichen Freunden machten. Es wäre ein Leichtes für den spanischen König, „sie alle nach Kastilien zu bringen oder auf den Inseln gefangen zu halten, denn mit 50 Mann werdet Ihr sie alle unterwerfen und zwingen zu tun, was Euch beliebt.“ (in: Gewecke, 32)

Die Inauguration des nichtäquivalenten Handels Europa-Dritte Welt mit diesem Austausch von Blechglöckchen für Gold findet in der Ausbeutung der Kolonien durch die Westeuropäer nicht ihre Fortsetzung, sondern Steigerung. In Humboldts emotionalen Ausbrüchen ist aufbewahrt der ungeschriebene Gegendiskurs der Besiegten zur Triumphrhetorik der Sieger. Für die Artikulierung der Erfahrung der „Entdeckung“ durch die „Entdeckten“ gibt es wenig Schriftzeugnisse, zumal die indigenen Bilderschriften auf Scheiterhaufen verbrannt wurden und die oralen Aussagen Betroffener von spanischen Chronisten wie Díaz del Castillo, die angeblich lo visto y lo vivido (das Gesehene und Erlebte) dokumentarisch bezeugen wollten, ungehört und unaufgeschrieben blieben. Der Eroberer-Diskurs könnte perfekt als Material für einen Gegendiskurs genutzt werden, da sich die Täter stolz ihrer Untaten rühmten und diese en détail beschrieben, so dass sie mehr Stoff für eine Kolonialismus-Kritik als ihre spärlichen Anprangerer liefern. Übereinstimmungen zwischen den Sichten Humboldts und der Opfer gehen auf sein genaues Studium der geschichtlichen Quellen zurück, besonders derjenigen Autoren, die selber Opfer waren oder Solidarisierung mit den Opfern erkennen lassen. Diese Visión de los vencidos, die Perspektive der „Besiegten“, wie Miguel León-Portillas Anthologie indigener Zeugnisse der Conquista aus der Opferperspektive heißt, war klagender, das Verhängnis nicht begreifen könnender Ausdruck kompletter Rat-, Fassungs- und Machtlosigkeit angesichts des wie vom Himmel fallenden europäischen Unheils im Zeichen von Kreuz und Schwert. Der peruanische Mestize Poma de Ayala /1526-1613), Chronist und Dolmetscher, drückt elegische Trauer in Primer nueva crónica y buen gobierno (etwa 1584) aus, einem langen Beschwerdebrief an König Philipp über den Überfall durch die Europäer und die Todmarterung des Inca Atahualpa durch Pizarro. Dieses Schreiben könnte das Modell für Humboldts ähnliche, Empörung artikulierende Beschreibung der grausamen Exekution Atahualpas sein. Poma de Ayalas wahrhaft fürchterliches Motto lautet: „Escribir es llorar“, Schreiben ist Weinen. „Weinen“ meint Schreiben über Entdeckung und Conquista.

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Mit ähnlichem Entsetzen beschreibt Titu Yupanqui (1529-70) die Entdeckung in seiner Relación de la Conquista del Peru (1568). Die cantares de la Conquista, verfasst von Nahua-Poeten, den cuicapicques, sind lakonische Deskriptionen vandalischer Kultur- und Daseinszerstörung durch die europäischen Barbaren. In einem anonymen, aus dem Aztekischen ins Spanische übersetzten Gedicht ertönen folgende Entsetzensschreie der Opfer: Auf den Wegen liegen zerbrochene Dolche, die Haare sind zerwühlt. Dachlos stehen die Häuser, gerötet sind ihre Mauern. Gewürm wimmelt in Straßen und Plätzen, und hirnbespritzt sind die Wände. Rot sind die Wasser, wie eingefärbt, und wenn wir sie trinken, Ist´s als tränken wir Salpeterwasser. (aus Visión de los vencidos, Hrsg. Miguel León –Postilla, Übers. HOD)

Im Libro de Chilam Balam de Chumayel steht: Wehe uns, schwer zu ertragen ist die Versklavung, die mit dem Christentum verquickt ankommt! Es ist ja bereits im Kommen! Mit seiner Ankunft werden Sklaven die Worte, Sklaven die Bäume, Sklaven die Steine, Sklaven die Menschen, wenn es kommt! (Libro 161)

Solche authentischen Zeugnisse der indianischen Opferklage enthält der im Großen Ploetz propagierte Sieger-Diskurs der „Entdecker“ nicht, stattdessen die Apologie der kolonialen Geschichte von Versklavung und Raub. Humboldt dagegen vergleicht die Enteignung der Indios mit der der Bauern Ostelbiens: So haben die vornehmen Familien in Popayán und vorher die Jesuiten durch tausenderlei Ränke die Indianer (…) um ihre Äcker bringen können, und diese unglücklichen Indianer, die alten, rechtmäßigen Herren des Landes, sind auf die höchsten und kältesten Bergrücken verwiesen, wo der Reif ihre Kartoffeln und Kohl und Zwiebeln tötet, während sie auf ihren ehemaligen Gütern im milderen Klima die schönsten Weizenähren blühen sehen. Aber so in allen Weltteilen: Unser deutscher Adel sind die Barbaren, welche in der Völkerwanderung vom Schwarzen Meer eindrangen, und die ehemaligen rechtmäßigen Besitzer sind unsere unglücklichen Bauern, welche man in Mecklenburg von ihren Gütern vertreibt. (Ma 143)

Zur welteinmaligen Enteignung der Indios schreibt er:„Unglückliche Abkömmlinge eines Geschlechts; das man seines Eigenthums beraubte. Wo hat man Beispiele, daß eine ganze Nation alles Eigenthum verlor.“ (Ma 368, In Mexiko). Ein Welt-Diskurs über die indigene Opfer- und europäische Täterkultur kann dereinst nur von Vertretern der nicht-okzidentalen Kulturen und des Okzidents, von den Nachkommen der Opfer und der Täter, unter hauptsächlicher Berücksichtigung der bis heute verschwiegenen Erfahrungen der

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ersteren, gemeinsam geschrieben werden. Hierbei ist die Zeugenschaft Humboldts in die Waagschale zu werfen, des wohl einzigen kolonialismuskritischen amerikareisenden Wissenschaftlers. Seine Schriften sind Rückgewinnung der wahren Geschichte Amerikas, Beitrag zu ihrer Reintegration in die Menschheitsgeschichte, so wie die Kolonisierung eine von den Opfern teuer bezahlte subalterne Integration in die Menschheit war. Humboldt führte als erster Historiker und Geograph den modernen Kolonialismus als Entzweiung zwischen Europa und Außereuropa, Kolonisierten und Kolonisatoren, als internen und nicht nur externen Teil der okzidentalen und Weltgeschichte und Weltgesellschaft, in den wissenschaftlichen Diskurs ein, eine Tatsache, der sich bis heute viele, wenn nicht die meisten renommierten Historiker verweigern, insofern sie es immer noch fertig bringen, die okzidentale Geschichte quasi autonom vom Rest der Welt zu denken. Humboldts Werk wird von der Wissenschaft oft wegen seiner Europakritik links liegengelassen oder um diese amputiert. In eklatantem Widerspruch zu Humboldts kompakter und kausaler Verbindung zwischen dem Aufschwung Europas und seiner imperial-kolonialistischen Herrschaftsübung in der übrigen Welt stellt Heinrich August Winkler, der an der Berliner Universität, die nach Humboldt benannt wurde, Geschichte lehrt, die „Geschichte des Westens“ in seinem flott geschriebenen gleichnamigen zweibändigen Buch (erschienen 2009 bei Beck in München) als eine Art Parthenogenese dar. Kolonialgeschichte erscheint als rein innereuropäisches bzw. innerdeutsches politisches Konfliktpotential im Rahmen einer Kabinetts- und politischen Institutionshistorie mit etwas angehängter Ideologie- und Kulturgeschichte. Die Annexionen von ehemaligen hispano-amerikanischen und französischen Kolonialterritorien, die immerhin die Hälfte des heutigen USA-Territoriums umfassen, durch die USA werden von ihm völkerrechtlich als Sühne dafür gerechtfertigt, dass bei mexikanischen Revolutionen auch USA-Bürger den Tod fanden. Winkler hätte nur die ständige, die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ausfüllende Kampagne von Interventionsdrohungen und Ankaufsprojekten von USA-Präsident Grant und seiner Außen- und Kriegsminister in Bezug auf mesoamerikanische und karibische Nationen zu zitieren brauchen, die die von ihm genannten mexikanischen Gräueltaten als erfundene Vorwände für endliches Losschlagen enthüllen. Von der Übernahme von Erdöllagerstätten, anderen Bodenschätzen und Ländereien außereuropäischer Völker, ohne welche die Geschichte des Westens undenkbar wäre, ist nirgends die Rede. Auch die geschichtsbildende Kraft der Wirtschaft, die letztlich den phänomenalen politik- und militärgestützten Aufschwung des Westens in der Moderne überhaupt erst erklärt, steht völlig außerhalb seines Weltbildes. Im kategorialen Unterschied zu Humboldt, der die schuldhafte Verstrickung Europas in den Kolonialismus beklagte, und dem es stets um die „ganze Erdkugel“ ging, diskutieren die Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte (1/232013) „ein attraktiveres Europa“ nur unter dem natürlich berechtigten binnenpolitischen europäischen Gesichtspunkt der Attraktivität des

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Alten Kontinents für seine Bewohner, die privilegierten Europäer, aber verschwenden keinen einzigen Gedanken auf die Frage, ob und inwieweit der egoistische Okzident im Rahmen des Kantschen „Weltbürgerrechts“ auch für den Rest der Welt attraktiv ist durch Solidarität, umfassende Hilfe und Bereitschaft zum Abgeben vom eigenen nicht immer lauter erworbenen Reichtum an die einstigen Opfer okzidentalen Bereicherungsbestrebens, wie es im Sinne der großen Europäer Montaigne, Herder, Kant und Humboldt wäre. Zur biographischen Genesis von Humboldts Kolonialismuskritik Die von Humboldt kritisierten Zustände haben alle Amerika-Reisenden gesehen, aber – nicht wahrgenommen oder für so natürlich gehalten wie Mückenplagen und andere Naturkatastrophen, sie daher nie in Frage gestellt, ganz abgesehen davon, dass die Frage nach den Ursachen ungestellt blieb, wie auch die nach den Urhebern, um nicht zu sagen: nach den Schuldigen. Die von größter Sachkenntnis gespeiste Realitätssicht des Humboldtschen Diskurses kann keine bloß empirische gewesen sein, die ihm jedes Mal dann spontan einfiel, wenn er kritikwürdige Phänomene vor Ort bemerkte. Die Nichtwahrnehmung dieser Phänomene durch andere Reisende unterstellt seelische Prädisposition und referentielles Vorwissen. Seine Sensibilisierung begann meiner Meinung nach in der Schule, die bekanntlich oft von großem Einfluss auf die Alumnen ist, meist durch Prägung durch Lehrerpersönlichkeiten. Bolling, Beck, Meyer-Abich und andere weisen darauf hin, dass die Brüder Humboldt in Tegel „von Privatlehrern“ erzogen wurden. Meyer-Abich nennt nicht einmal ihre Namen, vermerkt aber Humboldts dankbare Erinnerung an seinen Mentor Georg Forster, allerdings nicht als Initiator der republikanischen Entwicklung Humboldts, sondern als Modellgeber für dessen Studie über das Hochland von Cajamarca. (in Äqu 25) Laut britischem Humboldt-Biographen Douglas Botting, der oft oberflächliche bzw. sogar direkt falsche Behauptungen aufstellt, war Joachim Heinrich Campe, einer der beiden Privatlehrer der Humboldts, ein „pedantischer junger Mann, Autor von Jugendbüchern (der) ihnen (Wilhelm und Alexander) Lesen, Schreiben und Rechnen bei(brachte).“ (8) Doch war Campe eine in ganz Europa bekannte Intellektuellenpersönlichkeit der Aufklärung, die man unmöglich übersehen konnte, so dass das Übergehen seiner Rolle als einer der Lehrer Humboldts – auch weitgehend durch Humboldt selbst! – mir unverständlich bleibt. Dieser Rousseau-Anhänger war immerhin zusammen mit Schiller, Klopstock und George Washington einer der wenigen Ehrenbürger der Französischen Revolution. Auch war er Verfasser einer in zahllosen Auflagen verbreiteten Übersetzung des Robinson Crusoe. In die originale Romanhandlung Daniel Defoes montierte er im Sinne des Dessauer schulreformerischen Philantropicums in erstaunlicher Modernität fiktive Diskussionen eines Lehrers mit Kindern, die nach je kapitelweiser Lektüre des Buches die dubiose Verhaltensweise Robinsons diskutierten und in Frage stellen, so das Nieder-

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machen wehrlos auf dem Erdboden liegender Eingeborener usw. Campe äußert hier einen verhaltenen, vernunftgeprägten, auf Ausgleich und Mäßigung bedachten Antikolonialismus, der sich auch in dieser milden Form in seinen Schriften äußert. Alexander las Campes Bücher laut Gayet (31f.) nachweislich in der Tegeler Schlossbibliothek. Es ist also nicht völlig abwegig, anzunehmen, dass Campe dasselbe Experiment einer kolonialismuskritischen – nicht kolonialismusfeindlichen – Robinson-Crusoe-Lektüre anhand seiner eigenen Übersetzung mitsamt nachfolgender Diskussion mit Kindern auch an Wilhelm und Alexander von Humboldt erprobte. Aber auch so musste Alexander sich bei seiner Lektüre der Campe-Übersetzung des Robinson ähnliche Fragen stellen wie die von Campe erfundenen Kinder. Es wäre zudem unwahrscheinlich, anzunehmen, dass Campe gegenüber Alexander – beide blieben in brieflichem Kontakt, und Campe verlegte in seinem Braunschweiger Verlag ein Werk Humboldts – aus seiner dezidiert aufklärerischen Meinung ein Hehl machte. Er verfasste außerdem ein in vielen Auflagen und Sprachen erschienenes Kinderbuch über die Entdeckungsreise des Kolumbus, das seinen Schüler Alexander erstmals mit der Persönlichkeit des „Ersten Entdeckers“ bekannt gemacht und ihm Motivationen für seine spätere eigene Amerikareise vermittelt haben muss. Humboldt schrieb immerhin in Mein Lebenslauf (25), dass er „eine sehr sorgfältige Erziehung im väterlichen Haus und den Unterricht durch ausgezeichnetste Berliner Gelehrte genossen“ habe. Die lakonische Erwähnung Campes durch Hanno Beck (1993, 132f.), demzufolge ihn dessen Werke lediglich „in die Welt der Tropen einführten“, greift ebenfalls zu kurz. Sein fast völliges Ignorieren durch die HumboldtLiteratur – begünstigt durch den Umstand, dass Alexander nur als ständiger Zaungast dem Unterricht Campes für den älteren Wilhelm beiwohnte – bleibt unerklärlich. Nur der „Ausländer“ Ortiz (1969, 13), notabler kubanischer Ethnologe, erwog den Einfluss Campes auf ihn. Campe wie der andere Lehrer Kunth waren Aufklärer, die sich auf Herder und Kant beriefen, deren begeisterter Leser auch Humboldt war. Herder verurteilte, dass die Europäer alle Völker nach ihren eigenen Maßstäben messen. (...) Wo ist das Mittel der Vergleichung? Jene Nation, die Ihr wild oder barbarisch nennt, ist im Wesentlichen viel menschlicher als Ihr. (...) Der Neger hat soviel Recht, den Weissen für (...) einen gebohrenen Kackerlaken (sic, HOD) zu halten, als wenn der Weiße ihn für eine Bestie, ein schwarzes Tier hält. (1991: 699) (Europa) müßte nicht der weise, sondern der anmaßende, zudringliche, übervortheilende Theil der Erde heissen; er hat nicht cultiviert, sondern die Keime eigener Kultur der Völker, wo und wie er nur konnte, zerstört. (Herder 1994: 672) Europa müsse materiell ersetzen, was es verschuldet, gutmachen, was es verbrochen hat. (ibd.)

Es spricht für eine intensive Herder-Lektüre Humboldts, wenn er die seltene Phrase des Weimaraner Superintendenten, die Europäer müssten sich vor den Nichteuropäern „schämen“, wörtlich, mit gleichem Vokabular wiederholt.

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Kant, Humboldts großer Ideengeber, konzipierte ein zu schaffendes, für alle Weltbewohner geltendes Weltbürgerrecht. Die Besuchserlaubnis hänge von den zu besuchenden Einheimischen ab, was die Europäer leider ignorierten, „da für sie Besuch gleich Eroberung ist.“ Welch treffende Formulierung! Weiter heißt es: Vergleicht man (mit dem Weltbürgerrecht) das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich Handel treibenden Staaten unseres Weltteils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt – auch so eine tiefe Erkenntnis und Definition, HOD) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap etc. waren bei ihrer Entdeckung für sie Länder, die keinem angehörten: denn die Eingeborenen rechneten sie für nichts. In Ostindien (Hindustan) brachten sie unter dem Vorwande bloß beabsichtiger Handelsniederlagen fremde Kriegsvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingeborenen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag. (Immanuel Kant (1984): Zum ewigen Frieden. Leipzig: Reclam, 24f.)

Es ist schwer vorstellbar, dass der bekennende Kantianer Humboldt nicht von diesen schwergewichtigen Argumentationen in den Paralipomena beeindruckt wurde, die sich auf tropische Länder bezogen, die er besuchen wollte. Humboldt stand auch stark unter dem Einfluss seines oftmaligen Reisegefährten Georg Forster, der in Mainz, als diese Stadt kurze Zeit von französischen Revolutionstruppen besetzt war, eine ephemere Jakobinerrepublik gegründet hatte. An Forsters Seite karrte Humboldt 1791, wie er in einem Brief aus Paris in die Heimat schrieb, Sand zur Errichtung des Tempels der Göttin der Vernunft auf die Baustelle. Seine ersten, nach der Revolution verfassten Texte datierte er nach dem Französischen Revolutionskalender mit dessen Monatsund Jahresbezeichnungen, die bis zur Napoleon-Epoche offiziell in Frankreich galten: sein Essai sur la géographie des plantes trägt den Vermerk: „Lu à la Classe des sciences physiques et mathématiques de l´Institut national, le 17 Nivôse de l´an 13“. Nivose ist der republikanische „Schneemonat“. In seinen Briefen nennt er die Adressaten „citoyens“, in den Tagebüchern erscheint sein Gefährte Bonpland als citoyen Bonpland („Bürger“ Bonpland), also mit dem von der Französischen Revolution statt der Bezeichnung „Monsieur“ = Herr eingeführten Anredeprädikat vor dem Familiennamen. Auch drei Franzosen, auf die er während seiner Expedition in Südamerika zufällig traf, werden von ihm als „citoyens“ bezeichnet, was für eine längere Bindung an das Jakobinertum spricht, als in der Humboldt-Literatur, wenn überhaupt kommentiert, gemeinhin zugegeben wird. Später stand Humboldt unter dem nach seinem eigenen Zeugnis „unbedingten“ Einfluss des Saint-Simonisten und Kritikers der preußischen Szene Karl Varnhagen von Ense. Alexander von Humboldt war ein königlich-preußischer Querdenker. Seine kritischen Aperçus belegen seine Opposition gegenüber der von seinem

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Göttinger Studienfreund Metternich kommandierten Heiligen Allianz. Ihn ekelte die Konversion der Revolutionäre von 1789: Empörend schien es mir, wie der unmoralische Derieux (derselbe, den man revolutionärer Gesinnungen wegen jahrelang eingekerkert, derselbe, der damals von Sklavenbefreiung sprach, und so lange es ihm nützlich war, den franz(ösischen) Bürger spielte, die Neger der Aegyptiaca kaltblütig auf das Knie vor sich niederfallen ließ. Elendes Menschengesindel, die ihr in Europa die Philosophen spielt. (Ma 84)

Allerdings ersetzte Humboldt in den während der Restauration publizierten Texten zeitgeistkonform den „citoyen“ (= Bürger) Bonpland durch M(onsieur), „Herrn“ Bonpland, wie er auch von den Monatsbezeichnungen der Revolution zum üblichen christlichen Kalender zurückkehrte. Er nahm einen hohen Orden von Napoleon III. an, was Beck als Opportunismus bezeichnet, doch betrachtete er dies als Auszeichnung des französischen Volkes oder als Wiedergutmachung für den Tort, den ihm dessen Onkel Napoleon I. angetan hatte, als dieser ihn herablassend „Botanisierer“ nannte. Doch wurde die einzige nach ihm in Frankreich benannte Straße, die rue Alexandre de Humboldt, 1914, laut Richard nach Kriegsausbruch mit Deutschland, übrigens bis heute, durch Umbenennung refranzösisiert. Hein (109) würdigt den liberalen Revolutionär Humboldt von 1789, doch wirft er ihm fehlenden Protest gegen den terreur und zweideutige Haltung gegenüber Heine vor, was dessen Rückkehr nach Deutschland verhinderte. Außerdem habe Humboldt einen beschämenden Panegyricus auf die Soldaten des Kartätschenprinzen Wilhelm geschrieben, denen er bescheinigte, gegen die 48-er Revolutionäre die „Zivilisation“ zu verteidigen. Diese Flecken auf dem Bild Alexander von Humboldts führe ich auf seine Eitelkeit, sein Bestreben, es allen recht zu machen und mit keinem zu verderben, zurück. Außerdem teilte er die kritiklose Verehrung aller deutschen Revolutionäre für Frankreich, abgesehen von seltenen Bemerkungen wie dass die „politischen Machthaber Frankreichs (...) stets Schufte waren“. Es fällt auf, dass er, der notorische Antikolonialist, als der moderne brutale Kolonialismus mit der französischen Invasion in Algerien erst so richtig losging, permanent schwieg, so zu den grausigen Massenvernichtungsaktionen französischer Kolonialtruppen 1831 gegen algerische Widerständler, über die während seines Paris-Aufenthalts in der Presse und der Nationalversammlung in aller Öffentlichkeit akklamierend berichtet wurde, auch darüber, dass der die Massaker kommandierende General Bugeaud, der Tausende maghrebinische Männer, Frauen und Kinder als „Fanatiker“ in Felsenhöhlen mit Rauch vergasen, die Rebellendörfer anstecken und deren Lebensmittelvorräte vernichten ließ, für diesen „Dienst an der Zivilisation“, wie das Alexis de Tocqueville nannte, zum Marschall von Frankreich befördert wurde. Humboldts Kritik dazu: Der Zwang, der das Nationalehrgefühl an den Besitz des elenden, doch nur Korn und Öl produzierenden Algier knüpft, gibt den Militärpersonen oft einen verderblichen Einfluß. Algier

113 macht die Nation unmoralischer durch Administratoren, die dort betrogen, erpreßt und geprügelt haben. (zit. nach Biermann 82)

Das ist immerhin Kritik, aber eine klägliche, verharmlosende. Humboldt war keineswegs nur getreuer „Geschichtsschreiber“, Archivar und Archäologe seiner Zeit, sondern auch Selbstbild der opportunistischen europäischen Intellektualität der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hier fehlt in Humboldts Archiv des Weltkolonialismus das wichtige Kapitel der brutalen zeitgenössischen Kolonisierung Afrikas und der Wiedereinführung der Sklaverei in den französischen Kolonien Westindiens durch das von ihm so heißgeliebte Frankreich. Wie ging er mit seinen Kompromissen um? Ein Schlüssel ist seine Äußerung über den ultrakonservativen französischen Schriftsteller Joseph de Maîstre, von dem er voller Empörung schreibt, dieser habe in den Soirées de Saint Petersbourg Tome II, S. 121 die Inquisition mit den Worten verteidigt, dass durch diese « nur einige Tropfen von verbrecherischem Blut (der Ketzer) vergossen worden sind.“ Dazu sein kritischer Kommentar: Zu was für Sophismen muß man nicht Zuflucht nehmen, wenn man um die Religion, die Nationalehre oder die Stabilität der Regierungen zu verteidigen, auch alles dasjenige zu verteidigen unternimmt, was die Geistlichkeit, die Völker und die Könige sich in ihren Handlungen die Menschlichkeit Höhnendes und Beleidigendes haben zuschulden kommen lassen! (zit. nach Osten 108)

Also Herrschende wie auch Beherrschte handeln laut Humboldt immer wieder gegen die Menschlichkeit. Nach seinem Credo sind die sogenannten Unmenschlichkeiten menschlich, denn wozu der Mensch fähig ist, das ist er. Zahlreiche Textfragmente, die in Form abrupter Einblendungen und Stilbrüche ins Allgemein-Philosopische hinübergleiten, drücken seine kritisch-pessimistische Meinung vom homo sapiens aus, dass sich stets das Schlechte durchsetze, oder dass sich nichts Gutes durchsetzt, ohne dass es von Verschlechterungen auf anderen Gebieten begleitet wäre. In seinen Äußerungen schwingt seine Ansicht mit, dass Grausamkeit, Krieg und Repression Attribute des Menschen als eines egoistischen, herrschsüchtigen und zur Repression Anderer neigenden Tieres sind. „Der Mensch führt überall Krieg gegen seinesgleichen“, schreibt er in Anspielung auf Hobbes´ Homo homini lupus bzw. des bellum omnium contra omnes. (Ma 145) Für ihn waren Massaker, Kriege, Aggressionen, Ethnozide und sonstige globalen Katastrophen unvermeidliche Charakteristika der menschlichen Spezies und keine Kollateralphänomene. Was ihn jedoch auszeichnet, ist sein Bewusstsein der Existenz dieser Aporien, der Zweischneidigkeit von „Progress“: Es ist aber eine unverständig vermessene Kühnheit, in der ununterbrochenen Entwicklungsgeschichte der Menschheit über das Abwägen von Glück und Unglück dogmatisch zu entscheiden. Es ziemt dem Menschen nicht, Weltbegebenheiten zu richten, welche, im Schoß der Zeit

114 langsam vorbereitet, nur teilweise dem Jahrhundert zugehören, in das wir sie versetzen. (Ko II, 276)

Humboldt tendierte dahin, alle Weltphänomene kosmopolitisch, ohne Rücksicht auf die Opfer, nur auf die Erdkugel als Ganzes und auf die Menschheit als Weltbevölkerung zu projizieren. Er sah den Kolonialismus als übliches Schicksal jeglicher Eingeborenen, das ihnen von außen geschieht, wie die Geschichte der Weltpopulationen stets ein Aufzwingen der Gesetze der fremden Mächtigen war. Er hielt aber stets am laut Habermas-Ette unvollendeten Projekt der Aufklärung fest, das für alle Erdenbewohner gedacht war. Vielleicht ist es nicht unerheblich, dass Humboldts Mentoren Deutsche waren, Vertreter einer europäischen Nation, die (noch) keine Kolonien besaß, der deshalb noch frei, ungeniert und kritisch über den Kolonialismus herziehen konnte, im Unterschied zur Masse der dessen Apologie betreibenden Spanier, Franzosen und Briten. Als einziger Referent der Berliner Humboldtkonferenz anlässlich des 200. Jahrestages von Humboldts Aufbruch nach Südamerika bezog sich der exilierte kubanische Dissident Jesús Díaz (73) auf diese Herkunft als Erklärung für seinen für Europa atypischen Antikolonialismus: „Die frühzeitige Wahrnehmung einer in bezug auf die Verteilung des Reichtum relativ ausgewogenen Gesellschaft, die anders als England, Frankreich oder Spanien nicht über ein Kolonialreich verfügte, verlieh Humboldt einen beneidenswerten Ausgangspunkt für die Beurteilung der außereuropäischen Welt.“ Díaz konstatiert angesichts des Einflusses französischen Denkens auf Humboldt, dieser sei nicht in die Falle gegangen, „den scholastischen spanischen Blick (...) durch die rationalistische Weltsicht der Franzosen zu ersetzen“ (75), bzw. „lateinamerikanische Probleme verstehen zu wollen, indem man ausschließlich, messianisch und mechanisch, europäische Rezepte anwendet“: Noch heute, an der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert, betrachten zahlreiche Philosophen, Literaten und Wissenschaftler aus Frankreich, England, Deutschland, Spanien ihre eigenen Herkunftsländer oder auch Westeuropa, diese kleine asiatische Halbinsel, als Zentrum der Welt. Für Humboldt traf dies nicht zu, und dieser Tugend ist es zu verdanken, dass er zum wahren Entdecker Amerikas wurde. (ibd., 74)

Heutige Europaeuphorie und -mythologie betont am Kolonialismus nur das „zivilisatorische“ Werk Europas, tut Humboldts Europaschelte als Marotte ab oder verschweigt sie. Doch nur Selbstkritik in seinem Geist garantiert die Vollendung des Projekts der Aufklärung. Ein Gegensatz Schriftlichkeit-Mündlichkeit: Kreolisch-indigene Literatur In den Rahmen Humboldtscher Kolonialismusdarstellung gehört auch sein Bild von der Literatur und Kunst der spanischen Kolonien. Infolge der Vernichtung ihrer Bilderschriftliteratur durch die Inquisition war auch die altmexi-

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kanische Kultur auf den Status der Oralität herabgezwungen, so dass sich Humboldt mit dem neuen Gegensatz zwischen indigener oraler Poesie und kreolischer Schriftliteratur ohne jede intertextuelle Verbindung zwischen ihnen konfrontiert sah. Neben seinen verstehenden Interpretationen der indianischen oralen Mythologien kommt die skripturale kreolisch-hispanische Literatur, dieses okzidentale, der indianischen Welt fremd gegenüberstehende koloniale Schrifttum, schlecht bei ihm weg. Er rezipierte mehrere ihrer Werke aus dem Frühstadium der iberoamerikanischen Kolonialliteratur. Das von ihm mehrmals (!) wegen des historischen Hintergrunds gelesene Renaissance-Versepos des Hispano-Chilenen Alonso de Ercilla y Zúñiga La Araucana (1569-89) über die Eroberung Chiles und den Widerstand der Mapuches gegen die Conquistadoren, das immerhin von Voltaire und von Pablo Neruda gelobt wurde, auch deswegen, weil es den Mut und die Charakterfestigkeit der gegnerischen Indios rühmte, findet er schlecht gebaut, ohne dessen doch für einen spanischen Kolonialoffizier immerhin ungewöhnliche Anerkennung der Größe und Tapferkeit des indianischen Gegners zu würdigen. Noch schlechter beurteilt er dessen Fortsetzung in dem Epos El Arauco domado (1596) des Peruaners Pedro de Oña (1570-1643). Doch las er mit Gewinn die Comentarios reales (1609) des Inca Garcilaso de la Vega (15391616), weniger als Kunst- denn Geschichtswerk, in dem dieser Mestize Kultur und Geschichte seiner Inka-Vorfahren rekonstruierte und dabei deren Tahuantinsuyo mit dem imperium romanum verglich. Humboldt motiviert seine Ablehnung der hispanoamerikanischen Literatur auch mit der üppigen Verwendung von „Antithesen, witzigen Gleichnissen und Künsteleien aus Góngoras Schule“ (55). Ihm missfällt das Barock des siglo de oro, dessen Haupt Góngora war, immerhin identitätsstiftendes Markenzeichen sowohl der spanischen als auch der lateinamerikanischen Literatur. Góngoras manieristischer, metaphorischer, hermetischer, „kulteraner“ Stil musste ihm als an die edle Einfalt und stille Größe der neogriechischen Fassaden Spreeathens gewöhnten preußischen Klassizisten und als Anhänger der rationalistischen französischen Aufklärung missfallen. Der Klassizist Boileau hatte in seiner Dichtkunst (L´Art poétique)1674 seinen Bannstrahl auf die hispanischen Barockdichter geschleudert. Doch zu Góngoras Erbe bekannten sich immerhin die bedeutendsten hispanischen Autoren des 20. Jahrhunderts: Pablo Neruda, García Lorca, García Márquez, Lezama Lima, Cabrera Infante, Fuentes, Cortázar, die Maler Picasso und Dali und der Cineast Buñuel. Humboldt lehnte folglich auch den hispanoamerikanischen Architekturbarock ab, missachtete, banalen Klischees folgend, dessen „Überladenheit“ im Namen des Klassizismus, obwohl er die exuberante tropische Natur bewunderte, deren artifizielles Pendant doch dieser Stil ist! Er bemerkte nicht den Parallelismus der Verschlingungen der tropischen Vegetation und der verbalen Wucherungen der barocken Dichtungen: Sinn für ethnisch-künstlerische Alterität hatte er, trotz aller Anerkennung kulturhistorischer Differenzen, wenig.

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Für ihn war iberoamerikanische Kunst diejenige, die in oder über Lateinamerika produziert wird und den von der Antike tradierten Normen und unerreichten Mustern entspricht, nicht die, die iberoamerikanische Gesinnung und Stilwillen ausdrückt. Das galt auch für die nach der Unabhängigkeit zu schaffende Kunst der Südamerikaner: „Wie viel ist nicht von malerischen Studien der Natur zu erwarten, wenn nach geendigtem Bürgerzwist und hergestellten freien Verfassungen endlich einmal Kunstsinn in jenen Hochländern erwacht“. (Ko 2, 76). Also Kunstsinn besaßen demnach die kolonialen Latinoamerikaner nicht! Den Lateinamerikanern der Kolonie sprach er aus ästhetischem Eurozentrismus Kunstsinn ab. Die zeitgenössische Kreolenliteratur, die im Umbruch zwischen kolonialem Barock und neoklassizistischer Aufklärung das Unabhängigkeitsstreben von Spanien artikulierte, blieb ihm unbekannt. Dagegen lobt er die Darstellung der lateinamerikanischen Natur, allerdings weder die der Indios noch die der Kreolen. Sie hat als exotisches Objekt der Darstellung für den „Naturforscher“ wie für den Kunstfreund Humboldt besondere Bedeutung, der dermaleinst von den Künstlern des unabhängigen Kontinents hervorragende „malerische Studien der Natur“ erwartete. Doch in Unkenntnis autochthoner lateinamerikanischer Künstler würdigt er ihre Darstellung durch europäische Verfasser, die eben diese Natur oberflächlich oder gar nicht kannten: Kolumbus, Camöes, Shakespeare. Immerhin hätte sein Zeitgenosse, der venezolanische Klassizist Andrés Bello (1781-1865), mit seinen Gesängen auf die tropische lateinamerikanische Natur (Aloccución a la poesía, 1823) und Agrikultur (Oda a la agricultura de la zona tórrida (Ode auf die Landwirtschaft der heißen Zone, 1826) Verkünder der literarischen Unabhängigkeit des Subkontinents, seinem neoklassizistischen Geschmack für Schinkel, Thorwaldsen, Canova und David d´Angers entsprochen. In Bezug auf Kolumbus begeht er ein krasses Fehlurteil, denn dieser sah überhaupt nicht die üppig-tropische Eigenart lateinamerikanischer Natur, sondern setzte sie wortwörtlich, unter Verwendung des abendländischen locus amoenus und mit trivialen tradierten Gleichnissen bis hin zum Nachtigallengesang, mit dem andalusischen Ambiente gleich. Ähnlich lobt er als literarischen Maler lateinamerikanischer Natur Camöes, Autor der Lusiades und Sänger der portugiesischen Entdeckungen und Kolonisationen, und Shakespeare, dessen The Tempest in den Tropen spielt, die der „Schwan aus Avon“ nie gesehen hat, der Amerika nur aus Montaignes Kannibalismus-Essay kannte. Höchstes Lob erteilt er der auf eigener Erfahrung beruhenden Tropendarstellung in dem im tränenreichen Stil der empfindsamen rousseauanischen Aufklärung geschriebenen Roman Paul et Virginie des Franzosen Bernardin de Saint-Pierre, Naturforscher und Chef der Kolonisierungsbehörde auf Mauritius: (Das Buch) hat mich in die Zone begleitet, der es seine Entstehung verdankt. Viele Jahre ist es von mir und meinem teuren Begleiter und Freund Bonpland gelesen, dort nun (man verzeihe den Auruf an das eigene Gefühl), im stillen Glanz des südlichen Himmels, oder wenn in der

117 Regenzeit am Ufer des Orinoco der Blitz krachend den Wald erleuchtet, wurden wir beide von der bewunderungswürdigen Wahrheit durchdrungen, mit der in jener kleinen Schrift die mächtige Tropennatur in ihrer ganzen Eigentümlichkeit dargestellt ist. (Ko II, 58f.)

Die von ihm zur Charakterisierung der Farben und Formen der lateinamerikanischen Natur herangezogenen Gemälde sind ausschließlich Darstellungen europäischer Natur durch westeuropäische Künstler – da Vinci, Raffael, Ruysdeel, Poussin, Dürer. Sein Geschmack blieb trotz mancher anerkennender Äußerungen über Kirchenarchitektur und -malerei unberührt von seinem langen Aufenthalt in der Neuen Welt, europäisch, ohne Sinn für das reizvolle ornamentale Kolonialbarock: Ein europäischer Schriftsteller kann sich nicht mit der Beschreibung der Bürgerhäuser aufhalten. Sie sind in Quito wie in Bogotá, Caracas (Ma, 50), Cartagena und Havanna. Sie bieten nichts besonderes, alle mit zwei Stockwerken und verunstaltet (!!) durch die Menge von Holzgalerien (die hübschen, typisch andalusisch-arabischen, loggiaartigen Umläufe um die oberen Stockwerke der Häuser, HOD), welche überdies weniger häßlich (! HOD) wären, wenn die Anlage (...) Eisenstäbe (also die in Europa gewohnten schmiedeeisernen Gitter, HOD) imitierte (...) Der größte Teil dieser Kirchen würde sich auch in Madrid oder Cadiz gut ausnehmen. (…) wenn die Fassade nicht mit Ornamenten überladen, durch spiralförmige Säulen (also den spanisch-portugiesischen Churriguerismo-Barock, HOD) verunstaltet wäre. (Ma 172)

Mehr Kunstvermögen als den weißen Kreolen gesteht er den Azteken zu, deren Baumkultur in den Gärten von Iztapalapan noch heute „den Geschmack, den die Völker, die wir Wilde und Barbaren nennen, für die Kultur und für die Schönheiten des Pflanzenreiches hatten“, zeigen. (Pflanzeng 68) Er kannte noch nicht die elegische Lyrik der vorkolumbischen Azteken, die in spanischen Übersetzungen im 20. Jahrhundert das Publikum begeisterte, sonst wäre sein Urteil über altamerikanische Kunst noch positiver ausgefallen. Einen Abglanz erfuhr er durch den Blumenkult mexikanischer Floristen auf dem Markt: Man verkauft kein Obst, Gemüse, keinen Pulque auf dem großen Markt ohne dass der Indianer nicht um seine Bude eine Verschanzung aus Blumen errichtet, die jeden Tag erneuert wird. Es ist dies eine Blumenetagere oder eine zwischen drei und vier Fuß hohe Rundmauer, die die Früchte umgibt und aus Frischobst besteht, vor allem aus Gramineen. Dieser grüne Untergrund rührt von den Blumengewinden her, die Girlanden von 8-10 Zoll Abstand bilden. Zwischen diesen parallelen Bändern placiert der Indio kleine Sträuße, so dass alles wie ein blumenbesetzter Stoff aussieht. Die Mexikaner verkaufen auch auf der Straße kleine, sehr leichte, aus Holz gefertigte Käfige. Die Pfirsiche, die Birnen, die Achras liegen mitten in diesem Käfig, dessen Deckel mit Blumen übersät ist. Man wundert sich, dass eine mit ihren Menschenopfern so unmenschliche Nation diesen unschuldigen Apparat von Blumen und Girlanden bewahrt hat. (Mex 323)

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Siebentes Kapitel: Koloniales und multikulturelles Lateinamerika Mit dieser Marktbegehung kam er der altmexikanischen Kunst und Poesie mit ihren Blumen-, Vogel- und Schmetterlings-Metaphern auf die Spur. Wie sehr diese zarten und bunten Wesen die Kunst inspirieren konnten, zeigen die Aquarelle der Frankfurterin Sybille Merian (1647-1717), die sie in Guayana (Surinam) fertigte, die Humboldt bekannt gewesen sein müssen, zumal seine eigenen Zeichnungen lateinamerikanischer Pflanzen ganz in dem antimetaphorischen, antiexotistischen Stil der Merian gehalten sind. Humboldt unterzog in den Vues erstmals nach Albrecht Dürers bewundernden Worten die indigene Kunst einer Würdigung und nahm damit zugleich einen weiten Kulturbegriff über die nach europäischen Begriffen „eigentliche“ Kunst hinaus vorweg. Humboldt registrierte eine mit zunehmender Beschleunigung vor sich gehende gewaltige Evolution im beginnenden 19. Jahrhundert. Dabei entdeckte er die allmählich sich ausdehnende militärische, politische, wirtschaftliche und kulturelle Weltherrschaft des europäischen Westens als Vorstufe der drittmaligen Eroberung der Welt durch die angloamerikanische Leitkultur, die der francophile Humboldt erahnte, wenn nicht gar befürchtete. Humboldt registriert als „Halbcultur“ das Eindringen europäischer Zivilisation, also die Globalisierung, bei gleichzeitigem Verharren in archaischen Verhältnissen, Sesshaftigkeit neben Nomadentum, Subsistenz neben Gewerbe, Jagen und Sammeln neben Viehzucht, Mythos neben Wissenschaft, Kapitalismus neben Stammesgesellschaft, Moderne neben Tradition: Auch die südamerikanischen Ebenen begrenzen das Gebiet europäischer Halbcultur. Nördlich, zwischen der Gebirgskette von Venezuela und dem antillischen Meere, liegen gewerbsame Städte, reinliche Dörfer und sorgsam bebaute Fluren an einander gedrängt. Selbst Kunstsinn, wissenschaftliche Bildung und die edle Liebe zu Bürgerfreiheit sind längst darinnen erwacht. (AdN, 35)

Zwischen Gebirge und Meer, in einer nach seinen Begriffen kulturförderlichen Landschaftsformation, findet er, im Unterschied zum archaischen Landesinnern, Modernisierung qua Europäisierung in der Urbanisierung, in Gewerbe, Landwirtschaft, Kunst, Wissenschaft und freiheitlichem Denken vor. Moderne „Cultur“ sieht er dagegen im Osten nur an der Küste, und in Mexiko nur auf Bergeshöhen: Wie in dem ganzen östlichen Theile von Amerika ist die durch Europäer eingeführte Cultur auf den schmalen Landstrich längs der Küste eingeschränkt. In Mexico, Neu-Granada und Quito dagegen dringt europäische Gesittung tief in das Innere des Landes, bis zu dem Rücken der Cordilleren, ein. (Ma 156)

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Die Binome „Fortschritt vs. Zurückgebliebenheit“ und „entwickelt vs. unentwickelt“ bezeichnen am lateinamerikanischen Beispiel die Geschichte der Trennung der Erde und Menschheit in Industrie- und Entwicklungsländer oder in Erste und Dritte Welt. Hauptsächliche differentia specifica ist ihm der Mangel Iberoamerikas und der Überschuss Europas an kulturell-gesellschaftlicher Dynamik, und das zu einer Zeit akzelerierten Wachstums- und Entwicklungsrhythmus im Weltmaßstab, der „zweiten Beschleunigungsphase der Modernisierung“. Humboldt las die kulturelle wie soziale Immobilität an der Mentalität der Indios ab, die er als Produkt und nicht wie manche Drittwelttheoretiker heute als Ursache kolonialer Zurückgebliebenheit ansah. Er verweist mehrfach auf deren fehlende Motivation, den Sprung vom Nomadisieren zur Sesshaftigkeit, vom Sammeln von Wildfrüchten zur Agrikultur, von Subsistenz zum Kommerz zu vollziehen, beobachtet ihre Aversion gegen Ackerbau und „Pflanzung“: Sie seien „dem Ackerbau fremd (...) größtentheils wilde, Pflanzenbau verabscheuende Menschen.“ (AdN 158) Die Waldindios würden die Bemühungen der Missionare, sie zur Agrikultur zu erziehen, konterkarieren. Er erkennt in ihrer Resistenz gegen den Ackerbau deren Regenwaldmentalität. Gegenüber kurzschlüssiger positivistischer Direktbeziehung BasisÜberbau schaltet er ihre Besitzlosen-Mentalität, die fehlende Bindung an den Boden zur Erklärung dazwischen: Man wundert sich, mit welcher Leichtigkeit man die Wohnsitze der Indios verlegt. Es gibt in Südamerika Dörfer, die in weniger als einem halben Jahrhundert dreimal den Ort gewechselt haben. Den Eingeborenen knüpfen so schwache Bande an den Boden, auf dem er wohnt, daß er den Befehl, sein Haus abzureißen und es anderswo wiederaufzubauen, gleichgültig aufnimmt. Ein Dorf wechselt seinen Platz wie ein Lager. Wo es nur Ton, Rohr, Palmenblätter und Helikonenblätter gibt, ist die Hütte in wenigen Tagen wieder fertig. (Äqu 104)

Er mischt politische, ökonomische und demographische Ursachen: Kein Interesse an Ackerbau, an Behausung, an Produktion, an Mehrarbeit, an Geld, an Wohlstand, an „Vorwärtskommen“, statt dessen Faulheit, Arbeit für die Subsistenz und für den Tag, bald wieder aufgegebene Kleinfeldwirtschaft, Gewöhnung an arbeitslose Ernährung: Aber hier wie überall, wo der Segen der Natur die Entwicklung der Industrie hemmt, macht man nur ganz wenige Morgen Landes urbar, und kein Mensch denkt daran, mit dem Anbau der Nahrungspflanzen (zur Mehrfelderwirtschaft, HOD) zu wechseln. (Äqu 104)

Er konstatiert als professioneller Ökonom sehr schnell und für lange Zeit als einziger die aus Regenwaldexistenz herrührende Resistenz der Indios gegen die von den Kreolen implantierte Marktproduktion, Warenwirtschaft und Geldverhältnisse, von für sie absolut unverstehbaren Kapitalverhältnissen ganz zu schweigen:

121 Der kupferfarbige Eingeborene, der besser als der reisende Europäer an die glühende Hitze des Himmelsstrichs gewöhnt ist, beklagt sich nur deshalb mehr darüber, weil ihn kein Reiz antreibt. Geld ist keine Lockung für ihn, und hat er sich je einmal durch Gewinnsucht verführen lassen, so reut ihn sein Entschluß, sobald er auf dem Wege ist. (Äqu 84)

Humboldt registriert den gewaltigen kulturhistorischen und MentalitätsUnterschied zwischen europäischem Gelddenken und indigenem Vormonetarismus und bringt damit den lateinamerikanischen Mangel an Dynamik in Verbindung. Er insistiert auf dem fundamentalen Unverständnis der damaligen Indios für die Kategorien Zins, Geldanlage und Kredit, die doch erst eine Dynamisierung der Investitionen und des Warenaustausches und damit den Fortschritt mit sich bringen. Dass er dieses Denken nicht wie oberflächlich und rassistisch urteilende Europäer ontologisch-ahistorisch gleichsam als biologische Genmerkmale in der geistigen Ausstattung der Indios verankert sieht, zeigen seine Gegenbeispiele, so der autochthone indianische Ackerbau mitten im Regenwald oder die Habituierung der Indios an Bodenständigkeit durch die Erziehungsarbeit der Missionare: Ungern gebrauche ich das Wort wild, weil es zwischen dem unterworfenen, in den Missionen lebenden, und dem freien oder unabhängigen Indianer einen Unterschied in der Kultur voraussetzt, dem die Erfahrung häufig widerspricht. In den Wäldern Südamerikas gibt es Stämme Eingeborener, die unter Häuptlingen friedlich in Dörfern leben, auf ziemlich ausgedehntem Gebiet Pisang, Maniok und Baumwolle bauen und aus letzterer ihre Hängematten weben. Sie sind um nichts barbarischer als die nackten Indianer in den Missionen, die man das Kreuz hat schlagen lehren. Die irrige Meinung, als wären sämtliche nicht unterworfene Eingeborene umherziehende Jägervölker, ist in Europa ziemlich verbreitet. In Terra Firme bestand der Ackerbau lange vor der Ankunft der Europäer; er besteht noch jetzt zwischen dem Orinoko und dem Amazonenstrom in den Lichtungen der Wälder, wohin noch nie ein Missionar den Fuß gesetzt hat. (Äqu 124f.)

Humboldt war überzeugt, dass die produktionserweiternden und wirtschaftsdynamisierenden kapitalistischen Usancen in Hispanoamerika nicht organisch aus der eigenen Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung erwuchsen, sondern von den Kreolen aus Westeuropa importiert wurden, dass sich der mental indigen dominierte Kontinent von sich aus ohne Dazwischenkunft des Okzidents und des Kolonialismus nie in Richtung Moderne bewegt, statt Entwicklung Transformation nötig sei. Der indigene mentale und ökonomische Widerstand gegen die dynamische okzidentale Wirtschaft und Gesellschaft veranlasst ihn zum Vergleich mit asiatischen Verhältnissen, wodurch er sich als ferner Vorläufer der These von der „asiatischen Produktionsweise“ erweist: Alle Häuser gleichen sich in Los paredones und Callo. Man kann an dieser Gleichförmigkeit der Architektur den asiatischen und ägyptischen Hang der Peruaner erkennen, in ihren Ge-

122 bräuchen nichts zu verändern, immer den gleichen Typ der Sitten, der Regierungsform, der Bauweise beizubehalten. (Ma 116)14

Progress, Mobilität und Dynamik registriert er daher als alleinige Folge der Infiltration kapitalistischer Denk- und Wirtschaftsweise, so auf Kuba, dessen koloniale Sklavenhalterwirtschaft er als wohl erster in Übereinstimmung mit modernen Ökonomen und gegen die hausbackene Meinung der Unvereinbarkeit von Sklaverei und Kapitalismus als genuin kapitalistisch erkannte, so wenn er die profitmindernden Kosten der Zuckerproduktion berechnet, die auf Ochsenmühlen und Feuerholz entfallen, die er auf das für 1825 aufgewendete Gesamtkapital für Boden, Negersklaven, Gebäude, Mühle, Maschinerie und Vieh ansetzt. Ein Kapitalist, der eine jährlich 2.000 Kisten Zucker liefernde Zuckersiederei einrichten möchte, zahle ihm zufolge 6 1/6 Prozent Zinsen an die Kapitalleiher. Seines Ermessens benötigt der Rohrzucker sehr viel Kapital (ibd., 146) für technische Ausrüstungen, Zuckerextraktionsverfahren, für Maultierund Ochsengöpel, hydraulische Räder und Dampfpumpen. Neben der Zuckerindustrie gründe sich der Reichtum Havannas auf Kaffeeplantagen, Viehzuchtgüter, Viehhaziendas, Tabakplantagen, Grundstücksverpachtung, Kirchen als Immobilien (!!!, ibd., 150) und auf Export von Rum, Melasse und raffiniertem Zucker - laut Zollregister von Havanna des Jahrzehnts 1814-1824. Er stellt eine riesige Gewinnmarge aus dem Sklavenhandel bei hohem Zinsfuß fest, da viele Spekulanten Geld zu 18 und 20 Prozent leihen, „um diesen schändlichen Handel zu beleben“. (ibd., 151) Derartige finanzwirtschaftliche Begrifflichkeiten der spanischen und kreolischen Zuckermagnaten waren für die analphabetischen und vormonetarischen Bauernmassen sternenfern, zeigen den Abstand der lateinamerikanischen Masse zur okzidentalen Moderne. Der „Naturforscher“ Humboldt hatte dies begriffen. Der Übergang von den Äquinoktialen Tagebüchern zu den Landeskunden Mexikos und Kubas widerspiegelt den Wechsel von der weitgehend unbelassenen Natur, der Wildnis der Tiefebenen, zur Kultur auf den andinischen Hochebenen im dichter besiedelten, teilweise urbanisierten, agrikulturellen Mesoamerika bzw. in der Karibik. Stehen in den ersteren das Erdprofil bzw. der Erdboden sowie die üppige, den Menschen überwältigende und an seiner Evolution hindernde Vegetation im

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Marx hat diesen Vergleich der Immobilität Altlateinamerikas mit Asien, den lange vor ihm schon Athanasius Kircher zog, vielleicht T. H. Stanfort Raffles: The History of Java (1917) entnommen. Er repetiert dessen Feststellung, dass in den altjavanischen Dörfern nach Kriegen, Hungersnöten, Seuchen und Verwüstungen unbeirrt dieselben Namen, dieselben Grenzen, Interessen und Familien durch Generationen unverändert sich erhalten. Auf diesen Autor stützt sich Marx fast mit denselben Worten wie Humboldt (MEW 23, 379) bei seiner Definition der sogen. asiatischen Produktionsweise: « Der einfache produktive Mechanismus dieser selbstgenügenden Gemeinwesen, die sich beständig in derselben Form reproduzieren und, wenn zufällig zerstört an demselben Ort, mit demselben Namen, wieder aufbauen, liefert den Schlüssel zum Geheimnis der Unveränderlichkeit asiatischer Gesellschaften.“

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Mittelpunkt, von der die Menschen lediglich als Anhängsel erscheinen, dreht sich dieses Verhältnis im letzteren Fall um, insofern in den Landeskunden die Menschen und mit ihnen Kultur und Sozietät ins Zentrum rücken, denen gegenüber er die mineralische und vegetative Natur in einer mehr dienenden und instrumentellen Rolle als Rohstoff, Nahrungsmittel und Lebensambiente vorstellt. Humboldt demonstriert den historischen Prozess der sukzessiven qualitativen wie quantitativen Eroberung der Erdkugel durch die amerikanische Abteilung der Menschheit, ein Vorgang, der in anderen außereuropäischen Ländern teils noch nicht begonnen, teils weiter fortgeschritten war, während Westeuropa bereits den Übergang zur technischen und wirtschaftlichen Zivilisation vollzog. Die Anfänge bürgerlicher Verhältnisse, kapitalmotivierter Wirtschaft und damit der Moderne in Iberoamerika spiegelt Humboldt in seiner Beschreibung der Nationenwerdungen und Staatengründungen Mexikos und Kubas sowie in der Urbanisierung, die er im schnellen Wachstum der beiden Kapitalen Havanna und Mexiko-Stadt beobachtete, wider. Hier befinden wir uns schon überwiegend im Raum der Kultur. „Land“ sah er als historisch neue, weltweit sich verbreitende und somit globalisierende Agglomerationsform der Menschheit, die in Eurasien auf verschiedenen Niveaus bereits vorhanden war und nunmehr Iberoamerika in Gestalt von „Nationen“ erfaßte. Diese mikrostrukturellen amerikanischen Urbanisierungsphänomene verband Humboldt gedanklich mit den globalen Makromodellen, wachsendem Überseehandel, Export mineralischer und agrikoler Rohstoffe für die britische Industrie und dem Anschluss an den Weltmarkt. Die Reise vom Atlantik zum Pazifik beschrieb er in den Äquinoktialen Tagebüchern und Reise auf dem Magdalena, die Besuche Mexikos und Kubas in den „Politischen Essays“. Beim Übergang von ersteren südamerikanischen zu letzteren mesoamerikanisch-karibischen Gebieten fällt sogleich der Wechsel der schriftlichen Diskursarten auf, die von der Chaotik, Strukturlosigkeit und Heterogenität der Äquinoktialen Tagebücher zur Systematik und Ordnung der Politischen Essays übergehen. Im Alterswerk Kosmos, der Humboldts empirische Reiseerfahrungen aus Amerika, Europa und Asien und sein Lektürewissen aus der Weltgeschichte auf kosmischer Abstraktionshöhe verarbeitet, greift er schließlich zu einer sowohl historischen wie systemischen, entregionalisierten, von ihm „physische Weltbeschreibung“ genannten, ganzheitlichen Darstellung des Planeten Erde aus menschheitlicher Sicht. Es fehlt bisher an einer genaueren Untersuchung dieser literarischen Genre- bzw. Diskurswechsel. Hanno Beck machte erstmals darauf aufmerksam, spricht vom Genre „Landeskunde“, ohne dies jedoch mit dem semasiologisch naheliegenden Begriff „Land“ zu verbinden, durch den sich Mexiko und Kuba von anderen, weniger durchstrukturierten Gebieten des Subkontinents, die (noch) nicht den Status von Ländern erreichten, unterschieden. Humboldt selber nennt seinen Mexiko-Essay „allgemeine Länderkunde“. (AdN 21) Herbert Wilhelmy (189) schreibt dazu: „Die beiden Essays über Neu-

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Spanien und Cuba sind die ersten modernen Länderkunden. Humboldt war nicht der letzte Enzyklopädist, wie manche meinen, sondern der erste große Länderkundler, freilich mit dem Rüstzeug eines Universalgelehrten.“ Humboldt selbst betrachtete den Übergang Lateinamerikas von unstrukturierten Landmassen zu Ländern – in letzterem Substantiv steckt noch die verbale Erinnerung an erstere! – als strukturelle Angleichung an den Westen und an die laufende Parzellierung der Welt in Nationen und Staaten als eine Etappe der Vereinigung der Erdenbewohner zur Menschheit. Zwischen den literarisch-diskursiven und den demographisch-gesellschaftlichen Strukturen der in ihnen dargestellten Wirklichkeiten bestehen Form-Inhalt-Beziehungen. Die in den Äquinoktialen Tagebüchern beschriebenen südamerikanischen Regionen waren noch gar keine „Länder“. Waren hier überhaupt Landeskunden möglich ohne eindeutig fixierbare Grenzen mitten durch die Urwälder hindurch und über die schroffen Felsgrate und Eiskappen der Gletscher hinweg? Die Flächen der Ländereien, Wälder und Steppen waren nicht vermessen und kartiert. Es fehlte die Omnipräsenz der Institutionen: Administration, Justiz, Polizei, Post, Volksbildung, Gesundheitswesen, Verkehrswesen, Kataster, und vor allem das nationale Identitäts- und Zusammengehörigkeitsgefühl der multiethnischen Bevölkerungen. Die Chaotik und Zusammenhanglosigkeit der „Tagebücher“ reflektiert die naturbelassene Heterogenität der „unentwickelten“, vorzivilisierten Gebiete zwischen Atlantik und Pazifik, während die politischen Essays stärker durchorganisierte und durchinstitutionalisierte mesoamerikanische Länder bzw. Nationen systematisierend abbilden. Die Tagebücher waren verschriftete Empirie, das Herumziehen Humboldts und Bonplands war planlos und zufällig, weil sie überall ihre Ziele fanden, während die Politischen Essays auf jedes Itinerar als Strukturierungsprinzip verzichten, da nicht die räumliche Lokomotion des Verfassers noch überhaupt dessen Subjektivität die Texte organisiert, sondern diese vom Prinzip des örtlichen, objektiven Zusammenhangs des Heterogenen regiert werden, das Humboldt schon 1790 in Mineralogische Beobachtungen über einige Basalte am Rhein verfolgte, in denen er dies Mineral, seinen Pflanzenbewuchs, die umliegende Rheinlandschaft und die Sprachgeschichte des Wortes „Basalt“ zu einem wahrhaft heterogenen Komplex bündelte. In den Äquinoktialen Tagebüchern zeigt er die naturbelassene Wildnis als heterogenes, chaotisches Durch- und Nebeneinander von Nichtzusammengehörigem im impliziten Unterschied zu den vom Menschen bereits geordneten Kulturlandschaften Europas, Mexikos und Kubas mit ihren Symmetrien und Regularitäten. Er betont gegenüber der „Geselligkeit“ des europäischen Waldes mit seinen wenigen Baumspezies und seiner daraus resultierenden Homogenität die „Individualität“ der lateinamerikanischen Wildnis mit ihren vielen verschiedenen Gattungen angehörenden Pflanzenindividuen, was auch heißt: regellos-chaotische Versammlung der disparatesten pflanzlichen (und mineralischen) Individuen auf engem Raum. Auch erschien ihm der europäische Forst auf wenige

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gleichartige Sorten beschränkt und infolge seiner Auspflanzung in regelmäßigen Reihen monoton. Jeden naturbelassenen Flecken in der Wildnis stellt er als Agglomeration natürlich-ambientaler und soziokultureller Objekte dar. Er bemüht sich nicht, dieses Chaos durch Systematisierung zu reglementieren, sondern präsentiert es in seinem So-Sein. Der Sinn der Tagebücher ist nicht Ordnen der Natur, sondern Vorführen ihrer Unordnung. Dieses Chaos wurde noch größer, als er kulturelle Sachverhalte zwischen die naturwissenschaftlichen mischte. Folgende Kurzliste zeigt die Heterogenität seines Vorgehens anhand der riesigen Menge von 50 Positionen, die er hin- und herspringend auf zwanzig Seiten bewältigte: Erdgeschichte: Kalkalpen; Ost-West. Mineralogie: Salzton à la Berchtesgaden-Zipaquira-Steinsalz Technik: veraltete mauelle Salinentechnik Symbiose von Geologie u. Botanik: Der Hügel aus Kalkstein, den wir ...als eine Insel im ehemaligen Golf betrachten“ Geologie: überschwemmtes Land im Manizares-Tal Ethnologie: Indios und Folkore, Kunst, Musik der Schwarzen. Frohsinn und Tanz Erdgeschichte: Meerbusen von Xariaco entstanden durch Meereseinbruch Ethnologie: Zivilisierter Indiostamm der Guaykeri vs.Wilde Botanik: dreißig neue Arten von Avicennia tomentosa Viehzucht, Landwirtschaft: Meierei, Fettgehalt der Milch Geologie, Montanwiss.: Beschreibung der Bergkette Brigantín Sozialwesen: Kapuziner-Altenheim für nicht mehr dienstfähige Ordensbrüder Zoologie: Getön, Aussehen, Körperbau,Wesen der Heulaffen Botanik: Bromeliengehölz Zoologie: Klapperschlange Chemie: Wasser des Manizare Botanik: Mimosen, Ceibas Klimatologie: Lufttemperatur 30-33 Grad, starker Badetrieb wegen Hitze Ethnologie: Alle Einwohner, auch die Frauen der Reichen, können schwimmen Zoologie: Krokodile und Delphine Technik: Zustand der Reede bzw. Hafen von Cumaná Urbanistik: Schloß über der Stadt, Rassentrennung in den Stadtvierteln Geologie: Kalkalpen Ornithologie: Fischreiher, Alcatraz (Pelikan), Gallinazogeier Seismologie: Erdbeben gleichzeitig in Cumaná und Per Entomologie: Termiten zerstören Akten der Archive Seismologie: Erdbeben als Tradition der Stadt; Cumaná mehrere Einträge Wirtschaft: Sklavenhandel, Sklavenmarkt in Cumaná Ethnologie: Indianische Gastfreundschaft

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Wirtschafts-Ethnologie: Vormonetarisches Verhalten und ein geringes Geldbedürfnis der Indios Wirtschaft: Handwerk, Indianische Volksphysik und Töpferei Geodäsie: Mineralogie: Glimmerschiefer und Naphta (Erdölquelle) Ethnologie der Waldindios: ihre Unwissenheit Ethnologie: Indios der Missionen: ihre Reinlichkeit, soziale Organisation als Gemeinde Klerus/Soziales: Über die spanischen Missionare Klimatologie: Regenzeit vs. Trockenzeit Klimatologie: Isothermen Urbanistik: schlechte Anlage der Hafenstadt Cumaná Wirtschaft: Tabakpacht durch Spanier gegen wirtschaftl. Interessen der Kreolen Kolonialpolitik: wegen Tabakmonopolverpachtung Haß zwischen Kolonien und Mutterland Landwirtschaft: Indigoanbau vs. Tabakanbau, Rentabilität der Agrikultur Archäologie: Fossilien von Elefanten etc. wiss. Arbeitsprobleme: „und wir hatten vollauf zu tun, um die gesammelten Pflanzen zu trocknen und aufzubewahren“ Zooologie: Maultiere als Reit- und Lasttiere Reisetechnik: Auf dem höchsten Punkt angelangt, hatten wir eine interessante Fernsicht Agrikultur vs. Urwald: Bananen, Melonen und Baumfarn: „Dieses Durcheinander von kultivierten und wilden Gewächsen“ Soziales: Mönche und Missionare vs. Indios Soziales: Behandlung der Indios durch Klerus und indianische Alcaldes Wirtschaftsrecht: Kollektivregime u. Eigentumsfragen Zoologie: Geschicklichkeit und Gangsicherheit der klugen Maultiere bei steilen Bergpartien Die Reduktion auf die nackten Wissenschaftsnamen verdeutlicht die chaotische Enumeration von Elementen der Natur- und Technikwissenschaften: Geologie, Botanik, Seismologie, Technik, Entomologie, Zoologie, Klimatologie, und der Sozial- und Kulturwissenschaften: Ethnologie, Kolonialpolitik, Urbanistik, Landwirtschaft, Wirtschaftsrecht, Soziales. So ein chaotisches Diarium gab es nie vor Humboldt und wird es nach ihm nicht geben. Botting (244) schreibt dazu: „Die Reise in die Äquinoktialgegenden war enzyklopädisch, ungeordnet, faszinierend und langweilig zugleich“. Humboldts Freund, der Astronom Arago sagte ihm: „Humboldt, du versteht es wirklich nicht, ein Buch zu schreiben. Du schreibst endlos, doch was dabei herauskommt, ist kein Buch. Es ist ein Porträt ohne Rahmen.“ (ibd., 260f.) Arago berücksichtigte weder den Chaoscharakter der iberoamerikanischen Wildnis, die Humboldts Tagebuch abbildet, noch seinen Universalismus, der zur Heterogenität verführt.

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Mit dem „Essay“, dem von Montaigne und Locke gegründeten diskursiven Genre – löst sich Humboldt, umgekehrt zu dessen von Theodor W. Adorno und Hans Mayer behaupteter Subjektzentriertheit – vom nach Tagesverläufen aufreihenden Diarium wie auch von narrativer Darstellung und geht zu einer objektzentrierten, den Inhalt systematisch nach Sachgebieten ordnenden Darstellung über. Die narrativ-konsekutive Struktur der Erzählung sukzessiver Vorgänge und empirischer Erlebnisse des Subjekts weicht einer Gliederung nach objektiven Sachgebieten. Dieser Diskurswechsel ist keine willkürliche Umstellung der Darstellungsweise, sondern objektbedingte Notwendigkeit der Anpassung an die andere und neue Realität, die sich im Epitheton „politisch“ der Gattungsbezeichnung Essay statt „natürlich“ ausdrückt. Bei der Ankunft in Amerika hatte er sich an der Tropennatur berauscht: Seit unserem Eintritt in die heiße Zone wurden wir nicht müde, in jeder Nacht die Schönheit des südlichen Himmels zu bewundern. (Äqu 60). (...) Hat (der Reisende) Sinn für landschaftliche Schönheit, so weiß er sich von seinen mannigfaltigen Empfindungen kaum Rechenschaft zu geben. Er weiß nicht zu sagen, was mehr sein Staunen erregt, die feierliche Stille der Einsamkeit oder die Schönheit der einzelnen Gestalten und ihre Kontraste oder die Kraft und Fülle des vegetabilischen Lebens. (ibd., 91)

Diese Bewunderung für die südamerikanische Natur in den äquinoktialen Tagebüchern weicht im folgenden Mexiko-Essay heller Bewunderung für den Aufschwung von Wirtschaft und Kultur: Mexiko hat unter allen spanischen Kolonien den ersten Rang sowohl wegen der Schätze des Bodens als wegen seiner für den Handel mit Europa und Asien so wichtigen Lage. Wir sprechen hier bloß von dem politischen Wert des Landes, von dem gegenwärtigen Zustand seiner Kultur, in dem es unbezweifelt alle übrigen spanischen Besitzungen übertrifft. Erwägt man aber die beträchtliche Bevölkerung von Neu-Spanien, die große Anzahl bedeutender Städte (...) Erwägt man aber den ungeheuren Wert der metallischen Ausbeuten und den Einfluß dieser Schätze auf den Handel mit Europa, betrachtet man den Zustand der Wildheit und Unkultur, in dem sich Spaniens übrige Besitzungen in Amerika befinden, so versteht man die Vorliebe des spanischen Königs für Mexiko. (Mex 94f.)

Mexiko wie auch Kuba waren Kolonien mit wesentlich höherer politischadministrativer Organisation, Institutionalisierung und Strukturiertheit gegenüber den in Neu-Andalusien und Amazonien dominierenden strukturlosen (heterogenen) Naturgegebenheiten mit ihrer „Halbcultur“. Humboldt ist in Mesoamerika in fortgeschrittene Regionen geraten, sieht Mexiko und Kuba, anders als das traditionalistische Südamerika, auf dem Weg in die Moderne. Er zählt die vielen Errungenschaften Mexikos auf, markiert „die Fortschritte der Gesittung, der geistigen Ausbildung, der die politische Übermacht begründenden Nationalkultur“. (Ko I, 141) Insofern erkennt er hier bereits Charakterzüge von Nationalkultur – ein Terminus, den er als erster in der Lateinamerikanistik verwendet – und damit von Nationen als ihren Trägern, wie

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sie sich im damaligen Europa herausbildeten, von denen er Deutschland, Frankreich und Spanien als Beispiele nennt, und dies trotz der implizit demographischen Zweiteilung in indigene und kreolische Kulturen, die es so im europäischen Modell der Nation gar nicht gab. Wenn Nationalgefühl sich als Identität, als Empfindung der eigenen Sonderart in Differenz zu anderen Völkern definiert, so stellt Humboldt in Lateinamerika eher das für Kolonialvölker charakteristische Alteritätsgefühl, das Streben nach Befreiung und damit Absonderung und Trennung vom europäischen Mutterland fest. Er sieht, dass sich die Mexikaner ihres Andersseins als Nation gegenüber den Spaniern bewusst werden und sich selber regieren wollen, dass Spanier und Mexikaner verschiedene Nationen sind, so wie dies fast hundert Jahre später José Martí für das Verhältnis der Kubaner zu den Spaniern konstatieren wird. Alterität im Unterschied zu Homogenität ist Humboldts demopolitisches Credo. Er hatte ein feines Gespür für die auf nationale Unabhängigkeit drängenden Stimmungen in beiden Regionen. Er redigierte seine beiden politischen Essays gerade für den Druck, als die Lateinamerikaner sich bereits erhoben. Seine Essays sind insofern wissenschaftliche Unabhängigkeitserklärungen beider Länder avant la lettre. Die Befreiungskriege der Kubaner begannen sogar erst 1868, ein Jahrzehnt nach Humboldts Tod, und endeten 1898 bzw. 1902 mit der Konstitution als unabhängiger Nation. Humboldt antizipierte die nationale Eigenständigkeit Kubas also fast genau um ein Jahrhundert. Bedeutsam ist, dass er erstmals Mexiko und Kuba als Nationen und nicht nur als Territorien, als menschliche Agglomerationen und nicht nur als Landmassen beschrieb und damit auf die Nationenbildung als ein auch lateinamerikanisches Phänomen nach der Herausbildung der europäischen Nationen hinwies. Humboldt kannte als damalige „Nationen“ – noch nicht Staaten – des Subkontinents nur das Vizekönigtum Neu-Spanien und die Generalshauptmannschaft Kuba. Nach der Unabhängigkeit Mexikos hatte er nicht viel zu korrigieren. Die Entdeckung der Nation als weltweites Phänomen der Distribution der Flächen der Welt auf Nationalstaaten und damit der Nationalstaatlichkeit gegenüber früherer feudaler Territorialität ist das Werk Humboldts, wobei er die Spezifik Lateinamerikas in der Existenz dreier von Grund auf kulturell verschiedener Ethnien sah, als scheinbare Deformation des europäischen Modells, vielleicht jedoch umgekehrt als Verhinderung der Deformation der polykulturellen lateinamerikanischen Nation durch das monokulturelle europäische Nationen-Modell. Humboldt war der frühe Prophet einer die Nationalstaatlichkeit überwindenden Moderne in Gestalt der Globalisierung im 21. Jahrhundert. Aber vorderhand sah er als Nahperspektive die Trennung der amerikanischen Völker von der Union der europäischen Kolonialmächte und die weltweite Konstitution von Nationen und nicht deren Abschaffung im Rahmen antikolonialer und nationaler Befreiung – Befreiung ist immer Trennung von etwas. Der

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Zusammenschluss von Stämmen zu Nationen war für ihn Vorstufe weltweiter Verbindung zur „Menschheit“. Er tat konzeptionell nicht den zweiten Schritt vor dem ersten. Die Nationenbildung in Südamerika – im Gegensatz zu den utopischen Panamerika-Projekten Bolívars – war für ihn keine Überraschung. Als Landeskunde erfolgt die Darstellung des „Landes“ als textliche Aufeinanderfolge der landeskonstitutiven Elemente: Demographie, Geographie, Ackerbau, Fauna, Flora, Bergbau, Mineralogie, Klimatologie, Finanzwirtschaft, Außenhandel, Bildung, Militärwesen. Humboldt bringt sie in textuelle Nachbarschaften entsprechend ihrer von ihm erforschten Zusammenhänge. Seine Konzeption von Landeskunde spiegelt sich in den Inhaltsverzeichnissen, die die Abschnitte nicht nach Orts- und Datumsangaben der Notate wie in den Tagebüchern, sondern nach Wissenschaftsthemen bzw. -disziplinen gliedern: Gestaltung des Bodens - geologische (physische) Konstitution - Temperatur und Klima - Vegetation (Bis hierher handelt es sich um die von der Natur vorgegebenen und weitgehend unveränderlichen, vom Menschen meist unbeeinflussbaren Bedingungen: sodann folgt der Mensch selbst, also „Kultur und Soziales“, HOD): Bevölkerung - Sitten - Wirtschaft (in folgender hierarchisierender Reihenfolge:) - Ackerbau - Bergbau - Fabrikwesen - Handel Staatseinkünfte - Verteidigung. (Mex 520)

Im Mexiko-Essay schildert er die künstlich von den Regierenden gezogenen, selten natürlichen, doch für die Erdparzellierung im bürgerlichen 19. Jahrhundert typischen, landesbeschränkenden, den äußeren Feind militärisch abschrecken sollenden und fremde Konkurrenzwaren mit Zöllen verteuernden Staatsgrenzen; es folgen die genaue geographische Lage des Landes, seine Flächenausdehnung, demographische Angaben betreffs Einwohnerzahl, Bevölkerungsdichte usw. – Daten, die mangels territorialer Flächengrenzen, statistischer Erhebungen und zuverlässiger Kartierungen in den „halbcultvierten“ Gebieten nicht existierten: Geographien gab es dort nur als fadendünne Reiserouten. Das Kapitel Über die politische Einteilung des mexikanischen Territoriums bestimmt Lage und Umfang dieses Landes und seine politisch-staatlichen Grenzen, beschreibt das Verhältnis Bevölkerung-Territorialumfang, Regierung, Administration, politische Untergliederungen und Städte und Jurisdiktionen der „Audiencias“. Die beiden Politischen Essays spielten eine doppelte Rolle: sie waren von großer Bedeutung für die Mexikaner und Kubaner selbst, für die sie die Funktion einer Selbstentdeckung und Selbstfindung hatten. Humboldt lieferte ihnen ein Fremdselbstbild, das ihr Selbstbild ergänzte und korrigierte. Gleichzeitig waren sie Präsentation Mexikos und Kubas für die Welt, besonders für die europäischen Leser in der Hauptweltsprache Französisch. Sie bedeuteten ihre geistige Eingliederung in die bislang nur Europa, dem Orient, dem Fernen Osten und Nordafrika reservierte Erde. Andere Landeskunden folgten nach der Unabhängigkeit. Humboldts Fortsetzer auf diesem Gebiet sind der argentinische Pädagoge und Staatsmann

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Domingo Faustino Sarmiento mit Facundo. Civilización y barbarie en la República Argentina (1845), in dem sich dieser beiläufig auf Alexander von Humboldt beruft, ferner der Peruaner José Carlos Mariátegui mit den Siete ensayos de intepretación de la realidad peruana (1928, Sieben Essays zur Interpretation der peruanischen Wirklichkeit), und der Kubaner Fernando Ortíz mit Los factores humanos de la cubanidad (1940, Die menschlichen Faktoren der Kubanität) und Contrapunteo cubano del tabaco y del azúcar (Kubanischer Kontrapunkt des Tabaks und des Zuckers, 1950). Damit wurde die lateinamerikanische Staatenwelt vollständig und rund. Andere Länder der sogenannten Dritten Welt würden folgen, die letzten mit den Befreiungsrevolutionen Afrikas ab der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Erst von da an existiert eine Weltkarte Vereinter „Nationen“. Tagebücher vs. Politische Essays – Stile und Diskurse als Realitätsspiegelungen Die äquinoktialen Tagebucheintragungen Humboldts sind im Berichtsstil, im Präteritum geschrieben, zeitliche post-festum-Erinnerungen an den je verbrachten Tag, zuweilen auch mehrerer, wenn die Redaktion am Vortag nicht erfolgen konnte. Gleichzeitig sind sie geographische Protokolle über räumliche Aufenthalte im Tagesrhythmus und wahren so die Einheit von Raum und Zeit. Sie berichten sowohl über die technischen Probleme von Humboldts Wanderungen und Flussfahrten als auch die Auffindung und Bergung der Minerale, Gesteine, Bodenproben, Pflanzen, Tiere und Skelette, die Messresultate von Temperaturen, Höhen, Luftfeuchtigkeiten, Winden, Regenmengen, Vulkanaktivitäten, und astronomische Konstellationen und Daten. Auch notiert er Beobachtungen über Menschen und Gesellschaften, ihre Lebens- und Produktionsweise, Ernährung, Epidemien, Handel, Außenhandel, Sprachen, Sitten, Religion, Bildungswesen, Familien- und Geschlechterbeziehungen, oft im Dialog oder als direkte oder indirekte Rede der Bewohner, wodurch sich eine literarisch-narrative Lebendigkeit der Darstellung ergibt. Humboldt schaltet Spannungselemente ein wie in einem Fortsetzungsroman: „Wir behalten uns vor, von dieser Grotte (die er als Rätsel, als jeu de l´Inca, dargestellt hatte) in dem Bericht über unsere Reise nach Peru zu sprechen“, verspricht er einmal dem neugierig gemachten Leser. Diese Realienkunde in Tagebuchform ist Zeugenaussage, will erlebte Authentizität widerspiegeln. Häufig wird das berichtende Präteritum durch die Präsenz direkter Rede, die direkte Beschreibung zugunsten lebendiger und dramatischer Rede unterbrochen. Noch eine andere Zeitform benutzt Humboldt anstelle des Imperfekts, ein Präsenz, das keinen berichtenden, sondern statuierenden Charakter hat, um allgemeingültige oder allgemeingültig sein sollende Feststellungen zu treffen. Das grammatische Subjekt Ich, womit Humboldt, oder Wir, womit Humboldt und Bonpland gemeint sind – oft heißt es kollektivistisch „wir, Bonpland und

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ich“ – wird dann durch „man“ ersetzt. Nur gelegentlich erscheint ein AutorenIch (s. Ettes Bemerkungen über die sich im viewpoint Humboldts äußernden Wechselbeziehungen zwischen erzählendem und erzähltem Ich und die „wissenschaftliche Erzähldistanz“. In: Ette 2001, 34 ff.) Vom historischen Präteritum des Berichtgenres geht Humboldt auch in das ewige, zeitlose Präsenz der Verallgemeinerung in seinen Ansichten der Natur über, in denen er seine Erfahrungen und Ansichten persönlich, mit Verlassen der Chaos-Struktur und Übergang zu Systematik, darbietet. In den Landeskunden und Abhandlungen dagegen erfolgt die Redaktion nicht mehr, wie in den Tagebüchern, „auf Reise“, „auf dem Weg“ oder „unterwegs“, sondern retrospektiv und nach Wissenschaftsdisziplinen unterteilt. Statt Datums- und Ortsangaben erscheinen sachorientierte Titel: „Über die Steppen und Wüsten der Erde“, „Über einen Versuch zur Besteigung des Chimborazo“. Diese Systematisierung erfolgt als Hierarchisierung im Sinne einer Höherwertigkeit des Späteren. Das Binom Fortschritt vs. Traditionalismus bzw. Zivilisation vs. Barbarei setzt sich in seiner Terminologie, bei aller Kritik an der brutalen Art und Weise der Durchsetzung von Fortschritt und Zivilisation insofern stärker fest, als er diese als Höherentwicklung der Naturbeherrschung, der Wirtschaft, der Technik, der Bildung und Kulturentwicklung allgemein unter weitgehendem Absehen von den sonstigen Folgen für die Bewohner beschreibt. Die Hauptschriften Humboldts unterscheiden sich natürlich durch ihre Thematik, aber mehr noch durch ihre Strukturen, die einen im Laufe der Zeit immer größeren Allgemeinheitsgrad aufweisen, der mit stärkerer Systematisierung und umfassenderer Delokalisierung zusammenfällt. Auf die punktuell-itinerarisch aufgebauten narrativ-berichtenden, aus subjektiver Erlebnis- und Beobachter-Perspektive des Reisenden geschriebenen „chaotischen“ Äquinoktialen Tagebücher sowie die unredigierten Diarien Reise auf dem Magdalena, durch die Anden und Mexico mit ihren wechselnden, kleinteiligen Lokalen folgen die großflächigen Politischen Essays, die Landeskunden von Mexiko und Cuba mit ihrer systemischen Struktur und objektiv beschreibenden und aufzählenden wissenschaftlichen Darstellungsweise, in der nur selten ein erzählendes Ich aufscheint und weder eine Datierung noch eine Verortung der Abfassung oder ein lokaler Standort des Verfassers auszumachen ist. Demgegenüber nimmt die abschließende „Erdenkunde“ des Kosmos die gesamte Erdkugel mitsamt der sie bewohnenden Menschheit und ihrer kosmischen Umgebung im Wechsel narrativ-historiographischer und verallgemeinernd-resümierender Segmente aus kosmischer Perspektive in den Blick. Mexiko: geordnete Nation vs. heterogene Wildnis Von den überwiegenden Naturbeschreibungen des kulturell wie wirtschaftlich unentwickelten Amazonas-Gebietes der Äquinoktialen Tagebücher geht Humboldt in Reise auf dem Magdalena, durch die Anden und Mexico zu

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der besser entwickelten Andenregion über, in der er – neben vielen Bergbesteigungen, die vor allem geologischer und vulkanologischer Forschung dienen – eine stärkere Urbanisierung, Entwicklung von Landwirtschaft, Gewerbe, Bergbau und Verkehrswesen, der Wissenschaften und Künste – mit deren Vertretern er Arbeitskontakte herstellt – und des Bildungswesens sowie einen höheren Grad der Institutionalisierung konstatiert. Daher sein deutlicher Wechsel von überwiegender Naturbeschreibung zu Sozialforschung. Es ist für den Leser geradezu mit Händen zu greifen, wie Humboldt hier in Iberoamerika anhand der regional unterschiedlichen Entwicklungsniveaus die einzelnen Etappen der Menschheitsentwicklung, in welch kolonial deformierter Weise auch immer, gewissermaßen an lebenden Modellen, in vivo vorführt, und zwar durch genaue Beobachtung, Analyse und vor allem Vergleich zwischen den einzelnen Regionen und implizit mit Westeuropa. Das Vergleichen wird in der Humboldtliteratur immer als seine wissenschaftliche Hauptmethode genannt. Dadurch gelangt er zu einer von keinem anderen Wissenschaftler vor ihm und nach ihm erreichten intensiven empirisch-sinnlichen Erfahrung der Geschichte der menschlichen Eroberung der Erde in ihren verschiedenen Etappen und Orten. Er gewinnt hier anhand der lokalen, regionalen, örtlichen Unterschiede zwischen Amazonas, Magdalenagebiet und Kolumbien und später Mexiko und Kuba eine räumliche Erfahrung der Menschheitsgeschichte als Zeitlichkeit. Raum ist hier Zeit: ein je anderes Gebiet repräsentiert eine je andere Zeitepoche. Nur diese besondere iberoamerikanische Erfahrung wird ihn zum Projekt des Kosmos ermächtigen, dieses einmaligen Versuchs einer Geschichte der Eroberung der Erde durch den Menschen. Hier in den kolumbischen Anden und an den Ufern des Magdalena zeigt sich der wissenschaftlich notwendige Übergang vom Reisetagebuch zu den Landeskunden Mexikos und Kubas. Ins Zentrum seiner Betrachtung rückt jetzt die Ökonomie als Schlüssel jeder Kulturentwicklung, speziell der modernen Zivilisation. Es ist kaum vorstellbar, dass dieser Entwicklungssprung im Denken des „Naturforschers“ Humboldt von der Fachliteratur nicht in seiner Relevanz betont wurde, ja dass er sogar kaum bemerkt wurde. Humboldt kalkuliert mit der professionellen Sachkenntnis des Ökonomen das Verhältnis zwischen volkswirtschaftlichen Nebenkosten und Betriebskosten. Er notiert: Die Einkünfte der Provinz Guayaquil belaufen sich 1802 auf 212 000 Pesos, Zoll davon 110 000 Pesos, Indiosteuern 18 000 Pesos, Branntweinsteuer 40 000 Pesos, wovon ein jährlicher Überschuss von 70 000 Pesos in Friedens- und unter 20 000 in Kriegszeiten bleibt. (Ma 155f.)

Beim Schiffsbau berechnet er die Kosten von zwei für den spanischen Staat auf kolumbischer Werft gebaute Schoner mit Takelage auf zusammen 48 000 Pesos mit Kosten für verarbeitetes Eisen in Höhe von 5 000 Pesos. In den Gebieten am Magdalena stellt er eine noch geringe Industrialisierung fest: In der Tuchmanufaktur von San Juan verarbeitet man 1 500 Arroben Wolle.

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„Man verkauft eine Arrobe ungewaschene zu 2 Pesos, gewaschene zu 4 Pesos. Man stellt dort sehr hübschen, gestreiften Flanell her“. (ibd., 105) Charakteristisch für ihn ist sein Blick nicht nur auf den sachlich-wirtschaftlichen Progress, sondern auch und vor allem auf die subjektive, mentale Entwicklung wirtschaftlichen und kommerziellen Denkens. Die gewerbliche Betriebsamkeit der Einwohner empfindet er aus europäischer Sicht als mäßig: „Man webt einige grobe Baumwolltücher, Tocuyos, und man strickt Strümpfe, aber mit außerordentlicher Langsamkeit.“ Vorteilhafter wäre es, Strumpfwirkereien einzuführen, den wirtschaftshistorischen Schritt von Heimarbeit zur Manufaktur zu gehen, schreibt er, womit er den vormanufakturellen Entwicklungsstand kennzeichnet. In Humboldts mexikanischer Landeskunde hingegen finden sich angesichts des höheren zivilisatorischen Entwicklungsgrades keine ungebahnten Wege mehr, an deren Rändern er herborisiert oder Insekten und Steine sammelt: Botanik und Mineralogie treten mit Verlassen der naturbelassenen Regionen in den Hintergrund gegenüber landeskulturellen Wissenschaften, Sozial- und Kulturwissenschaft gewinnen die Oberhand über „Naturforschung“. Die Bezeichnung „Politischer Essay“ assoziiert noch die frühere Bezeichnung „Polizierung“ für „Zivilisation“. Er beschreibt, wie in Mexiko die industriellen und kommerziellen Phänomene in den Vordergrund drängen, und untersucht die Hauptzweige der mexikanischen Manufakturproduktion: Baum- und Schafwollverarbeitung, Fabrikation von Zigarren, Soda, Seife, Schießpulver, Münzprägung, Binnen- und Außenhandel, Erweiterung der Infrastrukturen, Straßen- und Kanalbauten, Ausbau der Überseehäfen Veracruz und Acapulco. Die Entwicklung der Agrikultur schätzt er sehr hoch wegen ihrer Bedeutung für die menschliche Ernährung. Er lobt die Banane wegen ihrer hohen Nährwertes und geringen Arbeits- und Pflegeaufwands, hebt den Mais als bodenständiges Cereal, Volksnahrungsmittel und Maultierfutter sowie Preisgeber für andere Produkte, die Nahrhaftigkeit und den geringen Arbeitsaufwand von Maniok, Yucca und Cassave und die Wirtschaftlichkeit akklimatisierter Saaten aus Europa hervor. Bei der Hauptsäule der mexikanischen Wirtschaft, dem Bergbau, moniert er den im Vergleich zu Europa schlechten technischen Zustand der Bergwerke und unsachgemäßen Abbau, die Unrentabilität der Schwefelproduktion und die von der Conquista ererbte Goldgräbermentalität der in Pachtgruben nach Gold schürfenden „verkommensten Klasse der Bergleute“. Die Investitionen im Bergbau seien wegen der benötigten Maschinerie und der hohen Transportkosten (hohe Maultiermieten) ungeheuer groß. Deshalb zögen es die Minenbesitzer vor, ihr akkumuliertes Kapital in die Landwirtschaft zu investieren, womit er die Dominanz des regressiven Agrarsektors begründet. Mit diesen Berechungen charakterisiert er die beginnende Kapitalisierung der Wirtschaft, aber auch Rückstände und Rückschläge. Der wichtigste Erkenntnisgewinn Humboldts ist seine Feststellung des Verdrängens vormonetari-

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schen durch betriebs- und volkswirtschaftliches Denken, was zum Aufschwung des Landes beitrage und seinen Stellenwert in der Weltwirtschaft erhöhe. Er vergisst nicht die sozialökonomische Seite der sich transformierenden mexikanischen Wirtschaft und kritisiert als hinderliches Erbe des Kolonialfeudalismus die ungeheure Konzentration des Großgrundbesitzes. Die riesigen Wertmengen in den Händen der klerikalen Grundeigentümer nennt er ungerecht und unproduktiv, votiert für die Übertragung der Äcker in „freie Hände“ und bemängelt den unproduktiven Umgang mit Kapital in Mexiko, wo „totes Kapital für Kirchenbau für 120 000 Pesos,“ und fast alle „privaten Fonds als tote Kapitalien in festen Koffern aufbewahrt würden“. (ibd., 121) Auf diese Begeisterung folgt bald Enttäuschung über die negativen Folgen dieses zivilisatorischen Fortschritts sowohl für die Natur als auch die Menschen, insbesondere für die Ureinwohner, auf dem Fuße. Er stellt kritisch die schreienden sozialen Ungleichheiten in Bezug auf Lebensstandard, juristische und staatsbürgerliche Diskriminierung der Indios, den Luxuskonsum der besitzenden Kolonialfeudalität und die extreme Ausbeutung der unteren Rassen qua ärmste Klassen sowie den augenfälligen starken Kontrast zwischen arm und reich dar: „(...) welcher Gegensatz, (...) inmitten dieser Hütten, die das Aussehen von Hausruinen haben, Gebäude von größter Pracht zu finden, die in Paris oder London Staat machen würden.“ (ibd., 263) Er schildert das Elendsleben und die infrahumanen Arbeitsbedingungen der indianischen Textil- und Landarbeiter: Man zahlt dem Peon für eine Arrobe 20 Reale, „was sehr wenig ist für soviel Arbeit“. (ibd., 127) Die Peone würden statt mit Geld mit Gebrüll und Gebetbüchern gelöhnt. (ibd., 141) Gleiches gilt für Afromexikaner: „Diese Ebenen benetzt der Schweiß afrikanischer Sklaven, und das Landleben verliert allen Reiz, wenn es vom Anblick menschlichen Elends unzertrennlich ist.“ (ibd., 341) Mexikos Ureinwohner seien „durch den Despotismus der alten aztekischen Herrscher und durch die Bedrückungen der Conquistadoren allmählich in den Zustand tierischer Rohheit herabgesunken“, schreibt er, eine rückwirkende Angleichung der zivilisierten Hochebenenindios an die „Wilden“ der Ebenen, eine „Deformation“ lateinamerikanischer Originalität durch das europäische Modell feststellend. Seine Aktualisierung der aztekischen Despotie als Begründung für die heutige Dekadenz dieses Volkes wurde vom bereits erwähnten Octavio Paz übernommen, der dieses indigene Mentalitätserbe für die jahrzehntelange autokratische Herrschaft der PRI-Partei verantwortlich macht eine Verzerrung der wahren Verhältnisse, da diese Parteidiktatur nicht die Mentalität der einstmals Unterdrückten, sondern die der kreolischen Militärcaudillos übernahm, während die von der Aztekendespotie ererbte indigene Mentalität eher in der allzu großen Passivität und widerspruchslosen Übernahme der Dulderrolle bestand. Humboldt kommt zu einem überraschenden Schluss: „Aber die Indios sind frei und ohne Fron und Leibeigenschaft, arm aber frei, und immer noch dem (Leben) von Bauern des nördlichen Europa (Skandinavien, Baltikum und Mecklenburg-Pommern) vorzuziehen“. (Mex 341)

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Mit dieser Mexiko-Beschreibung gelang Humboldt „die erste moderne regionale Wirtschaftsgeographie, in der sie die größten praktischen Wirkungen zeitigte“, schreibt Botting (242) zu Recht, der auf das durch Humboldt hervorgerufene Investitionsinteresse englischer Firmen in mexikanische Bergwerke verweist. Laut diesem britischen Humboldtbiographen sah Humboldt im hohen Produktionsvolumen der extraktiven Industrie und der Belieferung der britischen Metallurgie mit Rohstoffen und damit in seinem Außenhandel und seiner Integration in die Weltwirtschaft die Hauptursache des mexikanischen Aufschwungs. In die gleiche Richtung der Zurechnung des Wirtschaftsaufschwungs Mexikos zu seinen auswärtigen Handel zielt Walther L. Bernecker (2001), der Humboldts mexikanische Landeskunde sowohl als wirtschaftswissenschaftliche Analyse als auch als Werbeschrift für britische Investoren und Informationsmaterial für die USA im Zusammenhang mit deren Annexionsgelüsten und wirtschaftlichen Begehrlichkeiten interpretiert. Doch eine Bewertung von Humboldts Haltung darf nicht von den Erfahrungen mit dem späteren nichtäquivalenten Austausch des okzidentalen Kolonialismus mit außereuropäischen Ländern ausgehen: Er schätzte die produktiven und intellektuellen Fähigkeiten der Lateinamerikaner genau so hoch wie die der Westeuropäer ein, unterstützte aber angesichts der Mentalität der „asiatischen Produktionsweise“ und der daraus resultierenden Reserve gegen kapitalistische Methoden und angesichts des enormen Vorsprungs Europas eine von eben diesem Okzident erborgte Modernisierung als zukunftsträchtig. Er vertrat im übrigen unter Hinweis auf viele historische Beispiele die Meinung, dass Isolierung große Kulturleistungen verhindert, wie auch die isolationistische Politik des paraguayischen Diktators Dr. Francia zeigt, der nicht zufällig Humboldts Gefährten Bonpland für lange Jahre hinter Gitter brachte. Bis heute hat sich an der Wahrheit dieser Doktrin, wie das Scheitern der isolierten kreolischen Nachholeprojekte während der Herrschaft der Positivisten in Mexiko und Brasilien im 19. Jahrhundert und der mexikanischen Revolution von 1910 zeigt, nichts geändert. Auch die kubanische Revolution und Allendes Unidad popular-Regime demonstrieren 200 Jahre nach Humboldt, dass es aus eigener Kraft nicht oder nur sehr schwer geht, eine so avancierte alte, erfahrene und raffinierte Wirtschaftskultur wie die okzidentale als Konkurrenzmacht einzuholen. Man kann von Humboldt keine utopistische Lösung verlangen, die man ihm post festum im Gegenteil vorwerfen müsste. Zusammen mit dem von Bernecker konstatierten retardierenden Physiokratismus, den die Lateinamerikaner jedoch direkt aus Frankreich und nicht von Humboldt bezogen, würde ich dessen avancierte, von der Humboldtologie weitgehend ignorierte Technikphilosophie hervorheben, die ihm infrastrukturelle Projekte wie den Bau eines Panamakanals vorschlagen ließ, die Modernisierung und Ausweg aus der Rückständigkeit und Isolierung bedeutet hätten.

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Ingo Schwarz (110f.) hat sehr schön über die mexikanische Fallstudie hinausgreifend Humboldts Entwicklungsstrategie für Lateinamerika und darüber hinaus für die Länder der nicht-okzidentalen, später „Dritten Welt“ als eine damals denkbare und heute wieder auf der Tagesordnung stehende solidarische Aktion des allein über die entsprechenden Mittel verfügenden Okzidents, besonders der USA gesehen, die der moderne Kolonialismus freilich durchkreuzte, indem er Entwicklung nicht förderte, sondern bremste. 15 Laut Axel Borsdorf (2001, 139) fehlte Humboldt aufgrund seines Humanismus „der Blick für die Gefahren, die der Grundlagenforschung durch die Anwendung gewissenloser Politiker und Technikraten drohen.“ Doch diese Gefahren waren – abgesehen, dass über solche Anwendung eher Industrie und Kommerz als Politik und Technokratie entschieden - zu seiner Zeit noch nicht sichtbar. Kuba im Umbruch – Inselkunde als Landeskunde Humboldts Politischer Essay über die Insel Cuba ist die erste und historisch bedeutendste Landeskunde der Insel und konstituiert Kuba wie Mexiko gleichsam als selbständiges und für sich seiendes „Land“, und das in wahrhaft genialer, wissenschaftlich gestützter Prophetie rund hundert Jahre vor seiner wirklichen, 1902 erfolgenden Unabhängigkeit, avant la lettre. Fernando Ortiz (1969) weist durch Vergleich mit anderen Publikationen nach, dass es erst Humboldt gelang, Kuba wirtschaftlich, politisch wie kulturell als ein einheitliches Gemeinwesen und nicht als bloße dépendance Spaniens oder insulare Landmasse im Antillenmeer darzustellen. Ortiz belegt, wie die das 19. Jahrhundert durchziehenden Diskussionen über die Zukunft der Insel, die in Martís Kampf für ein unabhängiges Kuba gipfelten, von Humboldt-Lektüren ausgelöst wurden und den preußischen Gelehrten somit zu einem der Vorväter dieser Nation machten. Eben wegen dieser Landeskunde wurde Humboldt wie erwähnt vom kubanischen Historiker Luz y Caballero der Segundo Descubridor de Cuba, der zweite Entdecker Kubas genannt, ein Ehrentitel, der später auf den ganzen Kontinent ausgedehnt wurde. Merkwürdigerweise ist die Mutter der Brüder Humboldt eine geborene von Colomb, ihr Familienname also eine Französierung des genuesischen Namens Colombo, latinisiert Columbus: die Colombs, vertriebene Hugenotten, kamen über Frankreich aus Italien. Mit Kolumbus´ Bordbuch beginnt laut Ette die erste, und mit Humboldts Tagebuch- und Essaywerk die zweite Beschleunigungsphase der (kapitalistischen) Globalisierung, zumal dieser im Kosmos (Ko I, 141) darauf setzte, dass sein mangelhafter Versuch der Welterklärung „bei der beschleunigten (!) 15

He hoped that the US would offer an example to other peoples in terms of personal freedom, „gregoriousness” of its citizens, and moderation of its rulers. This and his global perspektive on the human race which one day could be united in peacefull competition (…) usw.

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Zunahme des Wissens (...) vielleicht in naher Zukunft berichtigt und vervollkommnet“ werde. Humboldts Darstellung verfolgt zwei gegensätzliche Linien: einerseits die spanische Politik der Isolierung der Kolonien von der übrigen Welt zu denunzieren, andererseits die Vorreiterrolle der Insel bei der Inkorporation Lateinamerikas in das okzidentale Welthandelssystem durch Schmuggel, Handel und Besucherreisen zu demonstrieren: Kuba als Fallbeispiel künftiger Mundialisierung des Subkontinents. Bei einer Analyse des Kuba-Essays ist der Unterschied zum MexikoEssay zu bedenken. Im Gegensatz zu Mexiko als tierra firme, als Festland, also Festes, ist Kuba eine Insel innerhalb des Flüssigen, um bei Humboldts Binom Festes vs. Flüssiges zu bleiben – der Karibischen See. Humboldt konstatiert die Koinzidenz natürlicher und politischer Grenzen, von Natur und Kultur als Insularität und kubanische Partikularität, nennt in Übereinstimmung mit seinem erdgeschichtlichen Ansatz die Karibische See ein „Mittelmeer“ und Kuba ein „Mittelmeerland“: es „liegt der schöne Hafen von Havanna (Kub 57) im mexikanischen Mittelmeer“, schreibt er, damit Ähnlichkeit mit wie Unterschied zur europäisch-mediterranen Landmorphologie andeutend. In Kuba geht es, anders als in Mexiko mit seinen maritimen wie terrestren Grenzen, die er auch als Problem der Kartierung sieht, statt politischer um natürliche Grenzen, um die Küsten als Umrandungen des festen Insellandes in Abgrenzung nicht von Nachbarn, sondern vom Meer. Der Unterschied zum Mittelmeer erweist sich quasi als Umkehrung, insofern hier das Meer nicht wie jenes, schreibt er, von Landmassen eingeschlossen sei, sondern es vielmehr umgekehrt die karibische See sei, die das Land, den Inselarchipel mit Kuba als größter Erdmasse, von allen Seiten umschließe. Schon aus dieser vertrackten Land-Wasser- bzw. Festes-Flüssiges-Relation hätten keine indianischen Hochseeexpeditionen und „Entdeckungen“ Europas in Umdrehung der realen Weltgeschichte erfolgen können. Humboldt verweist in seiner geokulturellen Sichtweise auf die zivilisierende, Handel begünstigende Rolle der Karibischen See als mare nostrum americanum, wenn er von der besonderen Lage Havannas spricht, „wo mehrere große (maritime) Handelsstraßen der Völker aufeinandertreffen“. Er meint die Nähe zu den höher entwickelten europäischen und nordamerikanischen Weltregionen als geographisches Privileg Kubas gegenüber anderen lateinamerikanischen Ländern. Das erweise sich im Außenhandel der Insel, in ihrer außenwirtschaftlich überdeterminierten Ökonomie und der einseitigen Handelsorientierung auf den westlichen Kapitalismus (ein Terminus, den er kaum je benutzt). Diese Handelsbeziehungen würden durch geistige Verbindungen und politische wie kommerzielle Information ergänzt: Die Reichen besuchen Spanien, Frankreich und Italien, nutzen die kürzeren Reisemöglichkeiten nach Europa, die Kuba bietet. (Kub 132) In Bezug auf die geologischen Verhältnisse geht er auf den erdgeschichtlichen Untergrund der Insel, die inseltypischen maritimen Gesteins- und

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Fossilienbildungen des Erdmittelalters, des Tertiär, auf Gips, Muschelkalk und Korallenbänke des Jura ein. Diese spezifisch insularen Gesteinsbildungen korreliert er mit dem Klima und den Temperaturen Kubas zwischen tropisch und gemäßigt und den Ernährungschancen für eine zahlreiche Bevölkerung. Sein Ergebnis ist lokal wie global positiv: „Cuba eröffnet der menschlichen Zivilisation ein weites Feld“, meint er (ibd., 105) und prophezeit der Insel – er schreibt „Antillenland“, erkennt ihr den Status eines Nationalstaates zu – eine große politische Zukunft, womit wirtschaftliche Prosperität gemeint ist: Um dem Gewicht gerecht zu werden, das das reichste der Antillenländer unter dem Einfluß so kraftvoller Naturgegebenheiten eines Tages in die politische Waagschale des Inselreichs Amerikas legen wird, wollen wir seine derzeitige Bevölkerung mit derjenigen vergleichen, die ein größtenteils noch unberührter und dank der tropischen Niederschläge sehr fruchtbarer Boden von 3.6000 Quadratmeilen ernähren kann. (ibd., 105)

Das zielt auf künftige Unabhängigkeit. Kuba inmitten des fischreichen karibischen Meeres und mit seinen fruchtbaren Böden könnte viele Millionen „Vegetarier“ ernähren, meint er in Verfolg seiner ernährungspolitischen Argumentationslinien, es müsste aber ein höheres Produktionsniveau als die von Kolumbus beschriebene Insel haben. (ibd., 119) Von Boden- und Meereskunde über Temperatur und Klima kommt er zur Demographie: Er registriert ein schnelles Wachstum der Bevölkerung von 1791 = 272.140 auf 1817 = 630.980 Personen. Wie üblich waren auch in Kuba laut Humboldt die Westeuropäer – Franzosen, Engländer und Dänen – die Akteure und Hauptprofiteure des Sklavenhandels, wobei nach seiner Statistik zwischen 1763 und 1790, nach Freigabe des Negerhandels, mehr Sklaven importiert wurden als in 2 ½ Jahrhunderten zuvor, also die Sklaverei gewaltig wuchs als Folge von zunehmendem Kolonialhandel einschließlich des Sklavenhandels, für welchen ein Sklave lebende Ware, kommerzielles Gut war, wie er vermerkt. Nach 1800, also mit dem Aufschwung des kapitalistischen Welthandels, wuchs mit dem Import von Sklavinnen, die in Stadtresidenzen und Krankenhäusern arbeiteten, laut Humboldt mit den „schwarzen“ Eheschließungen die Zahl genuiner Afrokubaner. Humboldt hat als erster eine demographische Bilanz der Kolonie Kuba gezogen unter gleichberechtigtem Einschluss der „farbigen“ Sklavenbewohnerschaft, die kaum in offiziellen Einwohnerstatistiken auftauchte, weil Sklaven als Produktionsmittel und nicht als Personen galten und als Waren vom Einfuhrzoll versteuert wurden, weshalb der findige Humboldt seine Statistik den Listen der Zollbehörden entnahm. Seinem interdisziplinären Zusammenhangsdenken betreffs der Interrelation zwischen Wirtschaftspolitik und Sozialstruktur entsprechend sah er eine feste Beziehung zwischen dem ökonomischen Phänomen der Zuckerrohrplantagenwirtschaft und dem sozial-politischen der Negersklaverei, weshalb er bei Aufhebung letzterer mit dem Fortfall von Plantagenwirtschaft und monokultivem Zuckerrohranbau rechnete, was ein Irrtum war, denn die exzellenten klima-

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tischen Bedingungen und der Weltmarktbedarf hielten die Zuckerrohrmonokultur bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts in Schwung, unter massivem Einsatz, anstelle der einstigen Sklaven, von freien Saisonarbeitskräften aus Haiti, Jamaika und anderen Inseln sowie aus Kuba selber. Die übrige Jahreszeit war tiempo muerto. Demographisch registriert Humboldt auf Grund der von ihm ausgewerteten Volkszählungen von 1774 und 1791 einen Anstieg der Stadtbevölkerung auch auf Grund des Luxuskonsums der sich herausbildenden Zuckerbourgeoisie mit ihren prunkvollen Stadtpalais in Havanna, alles konsumtive, aber entwicklungsstimulierende Ausgaben. (ibd., 109) Sklaven erfasst er als Arbeitskräfte in Pflanzungen und auf Pachthöfen sowie als Hausknechte, Handwerker und Tagelöhner. Die Bevölkerungsdichte errechnet er mit 197 Einwohnern pro Quadratmeile. Bei voller Nutzung des Bodens angesichts guter landwirtschaftlicher Produktionsbedingungen sieht er eine zukünftige Bevölkerung von 3 Millionen Kubanern vor. (ibd., 110; 2012 leben auf Kuba 10 Millionen Einwohner unter nicht guten Ernährungsbedingungen). Die Unterprivilegierung der farbigen Bevölkerung zeigt Humboldt im Bildungswesen und in der Kultur, denen er nächst der Wirtschaft großen Raum widmet. Die Geisteskultur sei fast ausschließlich auf die Weißen beschränkt. Die gehobene Kreolengesellschaft von Havanna lebe im gleichen glänzenden Stil wie die von Cadiz und der reichsten Handelsstädte Europas, was angesichts des niedrigen Lebensniveaus der Schwarzen unangemessen sei. Die Sklaverei, der er das berühmte „schwarze“ Schlusskapitel des Essays mit vielen statistischen Angaben widmete, ist zweifelsohne das größte aller von den Europäern begangenen Verbrechen an der Menschheit, schreibt er (ibd., 180). Deshalb wendet er sich gegen verniedlichende, den politischen und sozialökonomischen Hintergrund der Sklaverei wegeskamotierende Wortschöpfungen „gewitzter Autoren“ wie: „Neger-Bauern der Antillen“, „schwarze Lehnpflichtigkeit“, „patriarchalische Protektion“, denn diese verhüllten die „Barbarei der Institutionen und verklärten die schlimmsten Auswüchse durch gewandte Sophismen.“ (ibd., 179) Damit macht er insulare Ideologie und Sprache zu einem Teil der Landeskunde Kubas, registriert und denunziert das auf der Insel aufgrund des besonderen landesspezifischen Gewichts der Sklaverei von der herrschenden Zuckerbourgeoisie entwickelte Rechtfertigungs- und Abwiegelungsvokabular, das heute leider oft für bare Münze genommen wird. Der Wirtschaft Kubas, die er als auf Zuckerproduktion und Sklaverei gegründet charakterisiert, widmet er nächst der Rassenproblematik den Hauptteil seines Essays, und dabei, entsprechend der monokultiven, die Subsistenz übersteigenden Wirtschaftsstruktur, dem Export nach Europa. Als Hauptzweige der Landwirtschaft sieht er neben der Rinderzucht Zucker und Kaffee. Diese zwei Kulturen gedeihen am besten auf den beiden ihnen laut Humboldt entsprechenden Hauptbodensorten, die sich wie Schachbretter ausdehnen: Rote Erde für Kaffee, schwarze für Zuckerrohr. Der Ethnologe Ortiz schrieb über

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diese historisch tradierte Hauptanbaustruktur sein berühmtes kulturhistorisches Standardwerk Kubanischer Kontrapunkt des Zuckers und des Kaffees (1940). Zur Wirtschaftsgeschichte der Insel schreibt er, man habe anfangs nur Häute, Tabak und Wachs exportiert. Diese Produkte wurden abgelöst von Zuckerrohr und Kaffee. Humboldts Statistik- dieses moderne stochastische Instrument wendet er zuerst in diesen beiden Landeskunden systematisch an – demonstriert das Zuckerexportwachstum proportional zur Monokultur: von 1760 13.000 Kisten 1760 auf 300.211 Kisten 1823. Er verbindet wie im Falle Mexikos den zur Nationenbildung führenden Wirtschaftsaufschwung mit dem Außenhandel, genauer: dem hypertrophierten Zuckerexport nach Europa, vor allem nach England, wenn er darauf verweist, „dass allein Großbritannien mit einer Bevölkerung von 14.400.000 mehr als ein Drittel der 460.000.000 kg Zucker verbraucht, den der Neue Kontinent (?...) aus Ländern bezieht, wo durch Menschenhandel ein Kontingent von 3.314.000 unglücklichen Sklaven entstand“. (ibd., 141) Er demonstriert dem biederen britischen Normalverbraucher die unsichtbare anstößige Herkunft seines geliebten Konsumprodukts aus der Negersklaverei. Die respektive Preis- und Kostenberechnung ist für ihn ein ökonomisches Problem, das er in Bezug setzt sowohl zur Entwicklung der Produktivität wie zur Konsumtionsfähigkeit der Bevölkerung. Neben den Hauptexportprodukten zählt er die Marktproduktion an Fleisch, Mais, Maniok, Gemüse, Milch, Eier, Viehfutter und Tabak auf, deren jährlichen Gesamtwert er auf 4.480 000 Piaster berechnet: die Berechnung der inländischen Produktpreise gehört seit seinen Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Pflanzengeographie und Nahrungsmittelproduktion zu seinen wirtschaftlichen Standardangaben, womit er die Konsumtionsfähigkeit der Bevölkerung für Grundnahrungsmittel – eines seiner ständigen Hauptthemen – gemessen am Durchschnittseinkommen als Wohlstands- und Armutsindizes demonstriert. Neben menschenrechtlichen Bedenken gegen die Sklaverei macht er ökonomische geltend: der Sklavenhandel sei unrationell (ibd., 155). Der ab 1797 von Immigranten betriebene Kaffeeanbau mache weniger Sklavenarbeit nötig, desgleichen der Havanna-Tabak, jedoch fehle es an Kapital zum Ausbau dieser Pflanzungen. Baumwolle, Indigo, Weizen, der schlechte kubanische Wein sowie das Wachs von %ienen, die durch Melassezuckerübersättigung stürben, seien unrentable Produktíonen. Zum Kommerz schreibt er, Kubas Ausfuhr werde jährlich von 1000 bis 2000 Handelsschiffen bewältigt. Den Nettowert der ausgeführten Waren berechnet er auf 15 –126 Millionen Piaster. Der „Naturforscher“ Alexander von Humboldt erweist sich so als sattelfester Ökonom und gründlicher Kenner von Smith und Ricardo. Bei der Distribution der Lebensmittel konstatiert er eine soziale Zweiteilung in zwei verschiedene Rassen/Klassen: bedeutend sei der Import von Weinen, Likören und Mehl für die gehobenen Schichten, die sich europäischen Luxus inmitten wachsenden Wohlstands in Havanna leisteten. Pökelfleisch, Reis und Hülsenfrüchte, billige Massennahrungsprodukte also, würden dagegen für

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die Sklaven importiert. Der Mangel an Nahrungsmitteln charakterisiere jenen Teil der Tropen, „wo Europäer unvorsichtig und negativ in die Ordnung der Natur eingegriffen haben“ (Ökonomie vs. Ökologie ist ein beliebtes HumboldtThema). Er hofft, dass die Einwohner bewusster werdend die Anbautechniken ändern. Leider würde die Wirtschaft von Leuten (Halbinselspaniern, HOD) beherrscht, die das Land alsbald wieder verlassen, nachdem sie sich genügend bereichert haben (ibd., 167), woraus ihr Desinteresse an nachhaltiger Entwicklung resultiere. Die Hälfte der Bevölkerung Kubas lebe in schrecklicher Armut, verbrauche somit wenig, was geringes Steueraufkommen bedeute. Die Haupteinnahmen der kubanischen Administration durch Zölle gingen leider für Bürokratie und Militär drauf, was die Inselfinanzen ruiniere: Von 1789 bis 1824 erhöhten sich die Staatseinnahmen Kubas um das Siebenfache, doch die meisten Staatsausgaben gelten dem Militär. (...) Wie sehr werden Kultur und Wohlstand dieses Landes gewinnen, wenn diese Ausgaben zum öffentlichen Nutzen und zum Freikauf von arbeitsamen Sklaven verwendet würden. (ibd., 177)

Er stellt explizit den kapitalistischen Charakter des Sklavenhandels der Westeuropäer sowie der von den einheimischen Kreolen betriebenen Sklaverei fest, eine damals neuartige Erkenntnis, zu der er gelangte, indem er wie erwähnt den fiskalischen Status der Sklaven als „Importware“ bei den Zollbehörden mit entsprechenden Zollgebühren wie für jede andere eingeführte Ware herausfand. Er beschreibt in handelswirtschaftlichen Termini das in Kuba aufkommende Kapitalverhältnis: der Zuckerpreis setze sich, schreibt er, zur Hälfte aus den Ausgaben für den Zuckerrohranbau, zur anderen aus denen für Futter, Viehweide, akklimatisierte und nicht akklimatisierte schwarze Sklaven sowie dem Bodenpreis und den Hafen (= Verschiffungs)gebühren zu zahlenden Summen zusammen. Doch diese Kosten-Preis-Berechung genügt dem Wirtschaftswissenschaftler Humboldt nicht, der den Umschlag von Gebrauchs- nicht nur in Geld, sondern in Kapitalwert mit Kosten, Zins und Dividenden berechnet: Ein Negersklave kostet vermutlich mit Nahrung, Kleidung und Arzneimitteln 45 bis 50 Piaster, d. h. mit Kapitalzinsen und nach Abzug der Festtage über 22 Sol pro Tag, wobei die extra für Sklaven ausgegebenen Lebensmittel: Dörrfleisch (tasajo), Salzkabeljau, Bataten und Mais, als zu minimierende Produktionskosten aus Buenos Aires importiert werden. (...) ein Kapitalist, der gegenwärtig eine jährlich 2 000 Kisten Zucker liefernde Zuckersiederei einrichten möchte, würde nach der alten spanischern Methode und bei den gegenwärtigen Zuckerpreisen 6 ½ % Zinsen erlangen. (ibd., 94)

Wie er im Falle der Unzufriedenheit aller Stände in Neu-Andalusien und Mexiko angesichts der Unfähigkeit und Korruption der spanischen Administration eine revolutionäre Erhebung und den Umsturz der bestehenden Kolonialverhältnisse voraussagt, so prophezeit er auch für Kuba, falls die Regierenden nicht bald auf Reformkurs gehen, einen Aufstand der unterprivilegierten Farbigen zum Umsturz der auf Sklaverei beruhenden spanischen

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Herrschaft, wobei er, an der späteren Wirklichkeit vorbeigehend bzw. sie parabolisch überholend, angesichts der starken Präsenz des afroamerikanischen Elements in der Karibik eine Afrorepublik als möglich und wünschenswert erachtet: Wenn sich Gesetzgebung der Antillen und Rechtsstand der Farbigen nicht bald verbessern, (...) wird das politische Schwergewicht denen zufallen, die Kraft zur Arbeit besitzen, Willen sich zu befreien und Mut, anhaltende Entbehrungen zu erdulden. Wer würde es wagen, den Einfluß der „Afrikanischen Föderation der Freien Antillenstaaten“ auf die Politik der Neuen Welt vorauszusagen. (ibd., 107)

So weit, von einer afrokaribischen Republik zu träumen, ist meines Erachtens kein Politiker und Schriftsteller vor ihm und kaum einer nach ihm gegangen, zumal es bei Humboldt affirmativ klingt – es sei denn – im krassen Unterschied zu Humboldt - als Schreckensbild der kubanischen Autonomisten, der Anhänger einer Überseeprovinz Cuba im spanischen Staatsverbund, die dringend vor der staatlichen Unabhängigkeit der Insel warnten, indem sie einen „Negerkrieg“ und eine „Negerherrschaft“ nach haitianischem Muster an die Wand malten, was Humboldt zum Vergleich mit den Warnungen der preußischen Junker vor der Aufhebung der Leibeigenschaft animierte. Humboldts waghalsige Prognose der Schaffung eines afrokaribischen Staatenbundes gründete sich auf die Vorbildwirkung der Sklavenrevolution auf Haiti: Die Furcht vor einem derartigen Ereignis (eine Schwarze Antillenrepublik; HOD) hat ohne Zweifel stärkeren Einfluß auf die Gemüter als menschenrechtliche Prinzipien. Aber auf jeder Insel halten die Weißen ihre Macht für „unantastbar“, wie die unfähigen weißen Machthaber in Santo Domingo, deren Politik zur „Befreiung Haitis“ führte. (ibd., 107)

Diese Voraussage hat sich nicht erfüllt, weil es in den britischen und übrigen französischen antillischen Kolonien zu keiner nennenswerten Revolution der schwarzen Sklaven kam, während in Kuba die von Weißen geführte Unabhängigkeitsrevolution unter der Leitung von Martí Ende des 19. Jahrhunderts die Schwarzen und Mulatten in die aufständischen MambisesTruppen integrierte – einer der drei militärischen Führer der Revolution, General Antonio Maceo, der „héroe de bronce“, war Mulatte. Doch wurde die faktische Diskriminierung im Grunde erst mit der Revolution von 1959 beseitigt. Der Naturforscher Humboldt hat die erste solide Untersuchung der Inselwirtschaft als Teil der Landeskunde Kubas vorgelegt, so wie seine vorhergehende Darstellung der Wirtschaft Mexikos Pioniercharakter hatte. Das wurde ihm möglich durch seine interdisziplinäre Verbindung von Ökonomie, Demographie, Gesellschaftsgeschichte, Kultur und Ideologie im Rahmen von Landeskunde als sozialwissenschaftlichen Neulands, wofür er die nötigen Universalkenntnisse parat hatte. Seine Summierung aller für die Zuckerinsel typischen Geofaktoren berechtigte ihn nicht nur zur Abfassung einer kubanischen Landeskunde, sondern

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auch zur faktischen Vor-Anerkennung der Kolonie als Staat. Er schreibt in Bezug auf Kuba generalisierend: „Völker wie Individuen durchlaufen die gesamte Stufenleiter ihres Nationalcharakters und den physischen Verhältnissen entsprechende Zivilisation“. (ibd., 173) Mit solchen geschichtsphilosophischen Betrachtungen, die sich in dieser Fülle auch in seinen anderen Werken finden, endet der Politische Essay über die Insel Kuba. Diese Abstraktionshöhe ist gewissermaßen das Komplement zu den vielen Details und Daten, die er zusammentrug, um Kuba in seinen Geofaktoren vorzustellen. Es ist bemerkenswert, wie Humboldt vom Muschelkalk des untergründigen Erdbodens über Klima und Temperaturen bis hin zu Demographie, Rassenkohabitation, Ökonomie, Hauptanbauprodukten, Binnen- und Außenhandel, Finanzwesen sowie Militäretat alle wesentlichen Geofaktoren der Insel in ihrem wechselseitigen Zusammenhang systematisierend und transdisziplinär verknüpft. Seine Zukunftsvision: Errichtung einer eigenen Industrie für den Binnenbedarf, freie Bürger, Abschaffung von Monokultur und Großgrundbesitz, legale Alkoholeinfuhr, Handelsfreiheit für Havanna-Hafen und Realisierung großer Infrastruktur-Projekte wie der Bau eines Kanals Havanna-Batanabó. Der Kuba-Essay ist Muster wissenschaftlicher Landeskunde, deren Methodik zum Ausgangspunkt der Weltkunde des Kosmos wird. Es spricht für Humboldts Scharfsinn als Ökonom, dass er das Eindringen des Kapitalismus in Lateinamerika am Beispiel der kubanischen Sklavenökonomie beschrieb, die man gemeinhin, in Erinnerung an die Antike und den Orient, eher mit Regression als mit Progress assoziierte, als archaisches Gegenteil des Kapitalismus ansah. Doch manche heutigen Wirtschaftshistoriker sehen die Sklaverei in der Karibik und Brasilien als protokapitalistisches Phänomen, weil die monokultive Plantage ein moderneres Wirtschaften als die kolonialfeudale Hacienda erforderte. Die Sklaven waren keine Lohnarbeiter, sondern Produktionsmittel wie andere dingliche Gerätschaften und Maschinen auch, während die kapitalismustypischen Lohnarbeiter die von Humboldt nicht weiter beachteten Facharbeiter für Zuckersiederei, Göpel, Rumdestillation usw. waren.16

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Das wichtigste Erzeugnis ist der Tabak, und nur diesem verdankt es die kleine, schlecht gebaute Stadt, wenn sie einen gewissen Ruf hat. Seit der Einführung der Pacht (Estanco real de Tabaco) im Jahre 1799 ist der Tabaksbau in der Provinz Cumana fast ganz auf Cumanacoa beschränkt. Dieses Pachtsystem ist ein beim Volke äußerst verhaßtes Monopol. Die ganze Tabakernte muß an die Regierung verkauft werden, und um den Schmuggel zu steuern oder vielmehr nur ihn einzuschränken, ließ man geradezu nur an einem Punkte Tabak bauen. Aufseher streifen durch das Land: sie zerstören jede Anpflanzung, die sie außerhalb der zum Bau angewiesenen Distrikte finden, und geben die Unglücklichen an, die es wagen, selbstgemachte Zigarren zu rauchen. Dies hat nicht wenig dazu beigetragen, den Haß zwischen den Kolonien und dem Mutterlande zu schüren. (Äqu 95)

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Hauptstadt vs. Provinz: Mexiko-Stadt, Havanna und die Urbanisierung Jedem Leser fällt auf, wie ostentativ Humboldt die beiden Haupt- und Großstädte Mexiko-Stadt und Havanna hervorhebt, sie aus ihren landeskundlichen Zusammenhängen reißt und asystematisch an den Anfang seiner Essays stellt. Warum? Für Humboldt ist die Agglomeration von Menschen, sei es die flächige in Form von Nationen oder die punktuelle in Gestalt von Städten, wesentliches Merkmal der Moderne. Mit der Bildung von Nationalstaaten fällt zeitlich zusammen die erste Urbanisierungswelle, die zur Gründung von Landeshauptstädten als Regierungs-, Verwaltungs- und Hochkulturzentren bzw. zu entsprechender Umwidmung der Residenzstädte der Vizekönige und Generalkapitäne führte, was er auch in Mexiko und Kuba konstatierte. Humboldt reist mehr von Stadt zu Stadt als zuvor durch die agrarischen oder naturbelassenen Landschaften zwischen Amazonas und Pazifik, besichtigt die Städte und die in ihnen angesiedelten Industrien, Institutionen und Verwaltungen, die er in Mexiko bereits als zahlreich und mächtig demonstriert. Städte werden aus den funktionalen Relaisstationen der Tagebücher, die das Landleben widerspiegeln, zu Objekten seiner geo-soziologischen Feldforschung. Er hatte die Urbanisierung Westeuropas, etwa in Gestalt von Paris und London, als durchgängigen Zug der Weltzivilisation erkannt und sah in Mexiko-Stadt und La Habana deren ersten Vorreiter in Iberoamerika. Humboldt ist der erste Geourbanist der westlichen Hemisphäre (die erste Soziologie der lateinamerikanischen Stadt schrieb 1984 der Uruguayer Angel Rama in La Ciudad ilustrada). Seine beiden triumphalen Hauptstadtbilder ersetzen die üblichen Reisechronologien beginnend mit Einreise und Beschreibung der Ankunftshäfen bis zur Ausreise per Schiff, obwohl Humboldts Besichtigung beider Kapitalen chronologisch erst nach seinen Einreisen erfolgte. Bei seiner Markierung des Welttrends der Verstädterung, das beide Länder erreicht hat, beschuldigt er allerdings die Spanier, die Urbanisierung zurückzuschrauben. Im Rahmen seines außergewöhnlichen Interesses für das Phänomen „moderne Stadt“ nörgelt er wiederholt an den spanischen Kolonialstadtgründungen, denen er vorwirft, unzweckmäßig stets genau an der Stelle indigener Städte erfolgt zu sein, was einerseits zur Zerstörung letzterer führte, andererseits überhaupt nicht der ganz anderen Verwaltungs- und Wirtschaftsform der Kolonien entsprach. Der Aufschwung von Kultur im engeren Sinn, von Volksbildung, Hochschulwesen, Wissenschaft und Künsten und des geistig-intellektuellen Lebens, was alles vor allem in den Haupt- und Großstädten gepflegt wurde, findet bevorzugten Eingang in Humboldts Stadtkunden von Mexiko und Havanna, den beiden von ihm längere Zeit studierten Kapitalen, an denen er die Urbanisierung im Gefolge der stärkerer Integration dieser Regionen Amerikas in den Welthandel konstatierte. Er feierte in der demographischen, ökonomischen, besonders kommerziellen und kulturellen Entwicklung der Haupt- und Großstädte trotz aller kritischen Untertöne die Ankunft von „Zivilisation, Fortschritt der Kenntnisse und Entwicklung des öffentlichen Verstandes“.

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Deshalb zählt er die kulturellen Einrichtungen, die unter dem liberalen Generalkapitän Las Casas in Havanna entstanden: die Sociedad patriótica, die Junta de Agricultura y Comercio, La casa de beneficiencia de niñas indigentes, den Botanischen Garten, die Escuelas de Primeras Letras und literarische Zeitschriften. La Habana habe bedeutende Einrichtungen wie die 1728 gegründete Universität mit den wichtigen Lehrstühlen für Mathematik, Theologie, Rechtswesen, Medizin, Naturwissenschaft, Staatswissenschaften, Botanik, das Museum und die Schule für Anatomie, die Zeichenschule und eine öffentliche Gratisbibliothek. Er würdigt als Fortschritt die Zahl von 500 Ärzten, Apothekern, Chirurgen und Advokaten. Er lobt im Mexiko-Essay über die Maßen Pracht und Reichtum der Hauptstadt des Landes, die er als urbanes Gebilde höherrangiger einschätzt als Philadelphia, Berlin, Petersburg und Westminster. Natürlich findet er ihre meist klassizistische, weil nicht mehr barocke, sondern ihn wohl an Berlin und Paris erinnernde Architektur als schön: „Das Äußere der Häuser ist nicht mit Ornamenten überladen; von den Balkonen und Galerien, durch welche alle europäischen (sic, HOD, gemeint ist kreolischen) Städte beider Indien so sehr entstellt (sic!) werden, weiß man hier nichts.“ Er bewundert die Kathedrale, die Anordnung ihrer Bauelemente, führt auch das Gefängnisgebäude und Sitze kultureller und wissenschaftliche Institutionen als bemerkenswert auf: die Bergmännische Hochschule, den Botanischen Garten, die Universität, die Öffentliche Bibliothek, die Akademie der Schönen Künste und viele Denkmäler für Kolumbus und Cortés. (Mex 26) Wissenschaft, Theater und Musik, „westliche“ Organisationsformen geistiger Kultur, stehen im Zentrum seiner „Stadtkunden“. In den „politischen Essays“ rücken erstmals Land und Bevölkerung, Gea und Menschheit, Erd- mit Kultur- und Sozialwissenschaft zusammen. Aus den Beschreibungen Humboldts beider Hauptstädte, vor allem ihren Vergleichen mit denen Europas, und aus seinen Feststellungen vom Aufholcharakter der lateinamerikanischen Großstädte wird deutlich, dass er sich der modernen Urbanisierung genauso wie der vom ihm registrierten Nationen- und Staatenbildung als kollateralen Phänomens weltzivilisatorischer Prozesse bewusst wurde. Seine lateinamerikanischen Städte und Länder zeigen einen Einholvorgang in actu, ihre wenn auch zögerliche und subalterne Integration in die altweltliche Menschheitsmajorität, die den Eintritt in die zweite Phase der Globalisierung markiert.

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Exkurs 2: Poesie vs. Meteorologie: Licht und Luft in Mexiko und Kuba Die beiden Politischen Essays über Mexiko bzw. Kuba behandeln zwei auf den gleichen Breitengraden gelegene mesoamerikanische bzw. karibische Territorien mit ähnlichen klimatischen und meteorologischen Bedingungen, deren Differenzierungen durch Humboldt auf der Ebene der Nanophänomene liegen. Der Mexiko-Essay sticht durch die Darstellung der Natur der Morphologie des Terrains, der Böden, Gebirge und Wüsten sowie der Kakteen, Agaven und sonstigen Pflanzen und ihre Einfügung in die Landeskunde hervor. Darüber hinaus widmet er einem für diese Landschaft charakteristischen Naturphänomen, dem der normale Besucher und auch der Durchschnittsbewohner des Landes kaum Beachtung schenkt, große Aufmerksamkeit: den je besonderen Luft- und Lichtverhältnissen und den davon abhängigen Entfernungs- und Farbwahrnehmungen in Mexiko und Kuba, mikroskopische Phänomene, die man in gewöhnlichen Landeskunden nicht vorfindet. Doch Humboldts fast zwanghaftes Wahrnehmungsvermögen kannte weder Grenzen noch Hierarchien, wurde auch von Kleinphänomenen wie Luft, Licht, Entfernung, Farbe und Gerüche affiziert. Im Kosmos, in dem er die Bedeutung der Sinneswahrnehmung neben dem physisch-realen In-der-WeltSein und der geistig-philosophischen Weltaneignung in je besonderen Kapiteln hervorhebt, widmet er ein ganzes Kapitel einer ganz bestimmten Form sinnlicher Weltwahrnehmung: der Visualisierung. Er beschrieb aufmerksam selbst chemosomatische Reizreaktionen wie das ständige Schwitzen im feuchtheißen Tropenklima und das Leiden unter Mückenstichen. Die von ihm beschriebenen optischen und olfaktorischen Mikrophänomene sind für die grobe Sightseeing-Mentalität heutiger Mexikound Kuba-Touristen allerdings nur noch kleinformatige Reize. Diesen Erscheinungen begegnete er mit seiner außerordentlich feinen, doppelten sinnlichen Sensibilität einerseits als Wissenschaftler, speziell als Meteorologe, Klimatologe und Optiker, und andererseits als Poet, Maler, Zeichner und Kunstkenner. Die Distribution von Licht und Schatten und die luminischen Effekte der Luft, die nach seiner Erfahrung die Entfernungen in Mexiko verkürzen und in Kuba verlängern, kannte er aus der Landschaftsmalerei. Eine echt Humboldtsche Beschreibung tropikalen Lichts in Kombination mit olfaktorischen und koloristischen Elementen, die die Synästhesien der französischen Symbolisten des fin de siècle des 19. Jahrhunderts antizipiert und außerdem den humboldttypischen Vergleich mit Landschaftsmalerei aufnimmt, findet sich im Äquinoktialen Tagebuch, das den „leisen (!) Duft“ einer Bergkette in der Mittagssonne erwähnt, der weit satter blau ist als der niedrige Strich des Himmelsgewölbes. In diesem um den Felskamm schwebenden Duft verschwimmen halb die Umrisse, werden die Lichteffekte

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Auge und Bild dominieren auch in seinen Ideen zu einer Physiognomie der Gewächse, seiner Antrittsrede in der Berliner Akademie, in der der Terminus „Physiognomie“ die Visualität betont. Der nachfolgende HumboldtText bezieht sich auf das mexikanische Hochland: Die Stadt Mexico ist von den beiden Nevado de La Puebla um die Hälfte weniger entfernt als Bern und Mailand von der Zentralkette der Alpen. Diese Nähe trägt viel dazu bei, dass sie (...) einen so großen und majestätischen Anblick ergeben. Die Umrisse (...) sind desto bestimmter, als die Luft, durch welche man sie sieht, dünner und durchsichtiger ist. Der Schnee (am Popocatepetl) wirft einen außerordentlichen Glanz von sich, besonders, da der Himmel dunkelblauer als in Europa. In der Stadt Mexiko befindet sich der Beobachter in einer Luftschicht, deren Barometerdruck 21 Zoll 7 Linien beträgt. Man begreift leicht, daß die Schwächung des Lichts in einer so dünnen Atmosphäre sehr gering ist und daß die Spitze des Chimborazo oder Popocátepetl von der Höhe von Riobamba oder Mexico gesehen, bestimmtere Umrisse haben muß, als sie wäre, wenn man sie in derselben Distanz von der Luft des Ozeans aus erblickte. (Mex 8)

Diese Bemerkungen zu den atmosphärischen Phänomenen von Licht und Luft als Elemente der Meteorologie und Naturästhetik Mexikos und Kubas beeinflussten die Freiluftmalerei der vom ihm in die Neue Welt dirigierten deutschen Tropikalisten Rugendas, Bellermann und Hildebrandt in ihren fauvistischen, frühimpressionistischen, an Delacroix gemahnenden Amerikadarstellungen. Vor allem aber fanden sie bei Literaten beider Länder, den Mexikanern Alfonso Reyes und Carlos Fuentes und den Kubanern Alejo Carpentier und José Lezama Lima, begeisterte Aufnahme, so dass man sagen kann, Humboldt ist einer der Vorväter moderner lateinamerikanischer Literatur. Es handelt sich um die Geofaktoren Licht, Luft und Farbe des Himmels, wie er sie in seinen Landeskunde(n) Mexikos und Kubas beschreibt. Er mag sich der Besonderheit des überhellen und gleißenden südamerikanischen Lichts auch durch den grellen Kontrast zum trüben mitteleuropäischen Himmel bewusst geworden sein. Besonders seine Bemerkung von der „Klarheit der Luft Mexikos“ – die dem heutigen Touristen angesichts der horrenden Umweltverschmutzung im Tal von Anáhuac unglaublich erscheint – fand in Mexiko starkes Echo. Der Titel des Romans La región más transparente (1958, wörtlich „Die durchsichtigste Region“, von Carlos Fuentes ist wörtliches Zitat eines Humboldt-Ausspruchs, der die Luft um und über Mexiko als „durchsichtig“ charakterisierte. Der früher sehr bekannte mexikanische Schriftsteller Alfonso Reyes (1978, 5f.) hatte seinem Essay Visión de Anahúac – Anahúac ist der aztekische Name des Tals von Mexiko – das Motto „Reisender, du kommst in die Region mit der durchsichtigsten Luft“ vorangestellt und gefragt: “Ist dies die durchsichtigste Luftregion der Welt?“ Die rhetorische Frage nach dem Entdecker des „éter

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luminoso“ Mexikos beantwortete Reyes selber folgendermaßen: „Dort ist die Atmosphäre von äußerster Trennschärfe, dass selbst die Farben in ihr ertrinken (...) Das hat schon ein großer Reisender behauptet, nämlich in seinem Politischen Essay der Baron von Humboldt.“ Der Kubaner Carpentier wiederholt Humboldts Beobachtungen der unterschiedlichen Tageslichteinfälle in Mexiko und Havanna: „Das Licht von Havanna ist nicht das Licht von Mexiko (zwischen beiden besteht ein enormer Unterschied: in Mexiko rückt das Licht die Ferne in die Nähe, während es in Havanna die Nähe verschwimmen läßt),“ (Carpentier 1985: 121) und schreibt: In Havanna gibt es eine Winter- und eine Sommerbeleuchtung, und das Erstaunlichste ist, dass der Lichtwechsel innerhalb eines Tages stattfindet. Und wenn das Winterlicht herrscht, sehen alle Gebäude neu, knapp umrissen, geometrisch exakt aus. Die Entfernungswerte haben sich verändert. (...) die Perspektiven, das Nähere und das Fernere, unterliegen der gleichen Beleuchtung innerhalb einer anscheinend luftlosen Atmosphäre, die an den Hintergrund auf manchen Bildern von Balthus oder an deutsche Expressionisten erinnert. (ibd.) .

Carpentier, der wie Humboldt häufig visuelle Natureindrücke mit Bildern von Landschaftsmalern vergleicht, hat in Anlehnung an Jean-Paul Sartre eine „Theorie der Kontexte“ entwickelt, in der er den Humboldtschen „Kontexten des Lichts und der Entfernung“ ein besonderes Kapitel widmet. In seinem Roman El siglo de las luces (1958), der etwa zur Zeit des Besuches Humboldts auf Kuba spielt, erscheinen Licht und Luft, deren damaligen Zustand er aus keinerlei zeitgenössischen Quellen außer bei Humboldt hätte erschließen können, als bezeichnende Elemente des Ambientes des historischen Havanna: Es war eine Stadt, ausgeliefert der in sie eindringenden Luft. (Nach frischem Seewind) rührten die Leute die leblose Luft wieder auf, die abermals erstarrt zwischen den hohen Wänden der Gemächer stand. Hier gerann das Licht zu Farben, vom schnellen Morgengrauen an, das es in die abgeschirmtesten Schlafzimmer einließ und Vorhänge und Fliegenschleier durchstieß (...) (Carpentier 1964: 9f.)

Nun wieder Humboldt, der allerdings schon Verbesserungen durch die Stadtverwaltung Havannas sah: „Die Häuser haben mehr Licht und Luft“, stellt er fest, was auf ein vorheriges „weniger“ schließen lässt. Die Beispiele demonstrieren, was die genannten mexikanischen und kubanischen Autoren am Humboldtschen Text faszinierte und inspirierte: dessen zu seltenen Einheit verschmolzene Wahrnehmungsfähigkeiten des Klimatologen, Meterologen, Optikers und Geographen, der die Lufteigenschaften und räumlichen Nähen und Entfernungen professionell als Naturforscher wahrnimmt, bis hin zu dem Blau des Himmels, dessen Nuancen er mit dem Cynometer maß, mit denen des sensiblen Künstlers und seinen geschärften visuellen Sinnen für Farben und Formen. Ein anderer großer kubanischer Autor, der Lyriker und Romancier Lezama Lima, hebt in seiner Anthologie der kubanischen Poesie (1963) Humboldts Politischen Essay über die Insel Kuba „wegen der wertvollen

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Beobachtungen“ hervor, „die er über unsere Natur fällt, allesamt von poetischer Wurzel“. (Lezama Lima 1988: 114) Er verweist auf die bemerkenswert raffinierte Sensualität Humboldts unter Bezug auf eine Äußerung des preußischen Reisenden, die dieser im Zusammenhang mit seiner Überfahrt von Venezuela nach Kuba in den kubanischen Gewässern zwischen der Isla de Pinos und der Südküste der Hauptinsel in sein Tagebuch eintrug: Von zehn Uhr morgens, stellt Humboldt fest, bis vier Uhr abends stellen sich die unterschiedlichsten Erscheinungen des Luftstillstands und der Blendung durch Rückspiegelung ein, es beginnt sich das Licht zwischen die Gegenstände zu setzen, die Spiele der Ferne beim heftigen Eintritt des Lichts. Er (Humboldt) präzisiert auch, dass unsere Sandfelder wie Flüssigkeiten glühen, und dass viele dieser Sanddünen aus zerriebenen Korallen gebildet wurden. Die Reinheit unserer Luft, konstatiert Humboldt, nimmt eine mattblaue Tönung an (...). Und aus diesem Blau, schließt Humboldt, heben sich die fernen Gegenstände mit einem fernen Relief ab. Das poetische Bild bei uns, und das ist seine (Humboldts, HOD) häufigste Charakteristik, ruht nicht nur in diesem Luftstillstand und in dieser Lichtrückspiegelung, sondern bekommt so etwas wie einen Vordergrund, der sich wie eine Zunge vom Blau der Luft abhebt. Die spiegelnde Atmosphäre gestattet uns, das Ferne mit taktiler Wollust zu sehen. (ibd., 114-115)

„Mit taktiler Wollust“: diese Metonymie charakterisiert treffend Humboldts geradezu körperlich-dreidimensionale Wahrnehmung der Luft und des Lichts. Lezama Lima bewundert in Humboldts Kuba-Essay jene Passagen, in denen dieser von den „unsichtbaren Gärten“ der submarinen Vegetation spricht, die sich zwischen der Isla de Pinos und der Hauptinsel Kubas erstreckt, in der der Reisende aus Preußen die Phänomene der „stillstehenden Luftmassen und des Glanzes der Sonnenstrahlen, die den von ihnen verletzten Gegenständen Bewegung verleihen“, beschreibt. (ibd., 305) Diesem esoterischsten Dichter der ersten Jahrzehnte der ersten Castro-Zeit zufolge bestätigt diese Beobachtung Humboldts, dass „unsere Dichtung eine natürliche Wurzel hat, dass die Natur Poesie ist, Schöpfung durch das Bild.“ (ibd.,114-115) Wie aus der Bezeichnung „unsere Dichtung“ erkenntlich, behandelt Lezama Lima Humboldt fast wie einen kubanischen Dichter, dem er auch entsprechend großen Raum in seinem historischen Abriss der Inselliteratur gewährt. Verfolgen wir noch Humboldts Spur im Hauptwerk des schon mehrfach erwähnten Carpentier, dem Roman Explosion in der Kathedrale (1959, El siglo de las luces). Darin entlehnt der Autor bei der Beschreibung des Hafens von Havanna den ständig über der Bucht schwebenden Geruch nach Rauschfleisch – hier tritt die „Luft“ als Träger und Überträger des Geruches auf - dem olfaktorisch besonders sensiblen Humboldt: Aber das Rauchfleisch (tasajo=Dörr- oder Pökelfleisch, HOD) roch ganz zweifellos nach Rauchfleisch; allgegenwärtiges Rauchfleisch (...), dessen scharfer Geruch in der ganzen Stadt herrschte, in alle Paläste, durch alle Vorhänge und sogar in die Opernvorstellungen eindrang und dem Weihrauch der Kirchen trotzte. (S. 13)

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Bei Humboldt stand dasselbe etwas lapidarer und prosaischer: „Der Geruch des Tasajo oder des schlecht gedörrten Fleisches verpestete oft die Häuser und die gewundenen Straßen“. (Kub 10)

Auch die noch unvollkommene Urbanisierung der noch kolonialen Stadt Havanna findet sich bei Carpentier widergespiegelt: Wohl mochten sich die Paläste ihrer herrschaftlichen Säulen und in Stein gehauenen Wappen rühmen – in diesen Monaten standen sie in einem Schlamm, der ihnen am Leib klebte wie ein hoffnungsloses Übel. Fuhr ein Wagen vorüber, spritzte Dreck bündeldick gegen Türeingänge und Fenstergitter aus den Pfützen, die sich überall bildeten, die Bürgersteige unterhöhlten, ineinander flossen und Seuchen heraufbeschworen (S. 10) (in dieser Stadt,) in der sich nur die Statuen auf ihren mit roter Erde befleckten Sockeln wohl fühlen konnten. (S. 13)

Dies ist eine getreue „Vergrößerung“ von Humboldts Beschreibung des halbfertigen, halb urbanisierten Havannas aus dem Jahre 1800: Die Mehrzahl der Straßen ist eng und noch nicht gepflastert (...) Man watete im Schmutz bis zu den Knien, die Menge der Fuhrwerke oder Volantes (,..) die mit Zuckerkisten beladenen Karren, die den Fußgänger drängenden und stoßenden Lastträger machten diesem seine Lage ebenso ärgerlich wie demütigend. (ibd., 9f.)

Neu im Text Carpentiers gegenüber der von ihm übernommenen Humboldtschen Impression von 1800 sind die damals noch nicht vorhandenen schlammbespritzten Statuen. Sie sind dennoch Humboldtsche Reminiszenzen, nämlich aus dessen Postscriptum von 1826: „Nach meiner Rückkehr nach Europa hat man auf der extra muros befindlichen Promenade eine Marmorstatue von Karl III. aufgestellt.“ Humboldt (ibd., 57) hatte seinem Kuba-Essay als Ouvertüre die Beschreibung des naturprivilegierten Hafens von Havanna vorangestellt: “Da, wo sich sozusagen eine Vielzahl großer Wasserstraßen kreuzen, die dem Handel zwischen den Völkern dienen, liegt der schöne Hafen von Havanna (...) Die Flotten, die aus diesem Hafen auslaufen (...,) (etc.). “ Carpentier (64: 12) seinerseits beginnt seinen Roman, Humboldt folgend, aber mit Inversion des regierenden Verbes – aus Auslaufen der Schiffe aus dem Hafen wird Anlaufen des Hafens - mit dem Satz: „Das Dörrfleisch, der Schlamm und die Mücken waren der Fluch dieses Handelsplatzes, den alle Schiffe der Welt anliefen.“ (Hervorh. HOD) In beiden Fällen wird hintergründig auf die günstige verkehrstechnische Lage des Hafens von Havanna und die Handelsverbindungen des Landes, auf dessen Kommunikation mit der ganzen Welt, auf die Einbindung der Insel und darüber hinaus Lateinamerikas in den allgemeinen und globalen Weltverkehr angespielt, wobei der durchdringende Geruch nach Rauchfleisch in beiden Fällen auf ein bevorzugtes Importgut und beliebtes Lebensmittel hinweist.

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Diese Exkursionen betreffend Luft und Licht liegen im Zwischenreich zwischen Wissenschaft, vorzüglich Naturwissenschaft, von regionaler Meteorologie und klimatischer Nanophänomenologie einerseits und deren ästhetischer Betrachtung und wortkünstlerischer Beschreibung andererseits. Auch Humboldts Naturbeschreibungen überhaupt, der Waldungen, Bäume und Pflanzen der Tropen, der geologischen Formationen und Kulturlandschaften Lateinamerikas, belegen seinen Anspruch, mit den Tagebüchern nicht nur einen Beitrag zur Natur- und Sozialwissenschaft, sondern auch der Schönen Künste geleistet zu haben. Für ihn waren diese verbalen künstlerisch-ästhetischen Partien keineswegs bloße subjektive Zutat, wie man sie heute betrachten könnte, sondern Teile der Landeskunde, auf die er jeden womöglich unsensiblen Besucher bzw. Leser nachdrücklich aufmerksam machen wollte. Es ging nicht nur um Ästhetisierung, sondern um Registrierung der natürlichen wie kultürlichen Eigenheiten der Neuen Welt, die sie von denen des Alten Kontinents unterscheiden.

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Achtes Kapitel: Lateinamerika vs. Weltkapitalismus Erst lange nach der „Entdeckung“, und zwar zu Zeiten von Humboldts Lateinamerika-Besuch, begann die Integration des Subkontinents in die Weltwirtschaft und damit in die Welt, überwand Südamerika seine lange durch die spanische Kolonialmacht verfügte Isolierung, die von García Márquez im gleichnamigen Roman als Hundert Jahre Einsamkeit deklariert wurde, als der Subkontinent noch isolationalistisch seinen gesamten Außenhandel fast ausschließlich über Spanien abwickelte. Humboldt bewies statistisch sowohl in Menge wie Spezies des Außenhandels Kubas und Mexikos, dass und wie viele Güter aus allen Ländern der Welt auf die lateinamerikanischen Märkte kamen, und registrierte den ansteigenden Agrargüter-Export nach Europa: Kartoffeln, Tomaten, Kakao, „Kolonialwaren“ wie Tabak und Rohrzucker und Guano, der aufgrund seiner Empfehlung als Dünger bald zum wichtigen Exportprodukt Perus avancierte. Umgekehrt konstatiert er die Etablierung von Textilfabriken, Manufakturen und Werften europäischer Provenienz in Mexiko und dem heutigen Kolumbien. Er vermerkt die Ausweitung und Vervielfachung der Bergwerke in Kolumbien und Mexiko und das schnelle Anwachsen des iberoamerikanischen Exporthandels nach Europa mit Nutz- statt wie früher Edelmetallen, und den Wandel des zunächst binationalen, auf Spanien fokussierten interkontinentalen Außenhandels zum Welthandel und die Verwandlung Havannas in einen Welthafenplatz. Zum zweiten konstatierte er als Modernisierungsmoment lateinamerikanischer Wirtschaftsverhältnisse in Folge des Einschlusses in den Welthandel das Wachsen des Geld- und Zahlungsverkehrs und damit zusammenhängender Währungsfragen, in denen er sich bereits in seinen fränkischen Tagen als Hardenbergs Berater als Experte ausgewiesen hatte. In Iberoamerika bemerkte er den Widerstand der nichtmonetären Indianer gegen die eindringende Geldwirtschaft, ohne welche für ihn weltweiter Austausch und Arbeitsteilung unmöglich waren. Die Azteken hatten zur Zeit der Entdeckung gerade erst begonnen, vom Naturaltausch zum Zahlungsverkehr mittels Goldstaub und Kakaobohnen überzugehen. Die Zunahme der Monetarisierung demonstriert Humboldt als Experte für Finanzwirtschaft anhand der Zuwächse der Umsätze und Preise in Binnenhandel und grenzüberschreitendem Kommerz, der Umläufe der Geldmengen, der Neuprägungen und Kursnotierungen. Humboldt hatte zumindest bei der indigenen Bevölkerung wie auch, wenngleich in minderem Grad, in der kreolischen Gesellschaft die Tendenz zur Stagnation statt zur Dynamik, zur „asiatischen Produktionsweise“ (Vgl. S. 121) konstatiert, so dass kein innerer Evolutionsschwung vorhanden war, jede Entwicklung also von außen kommen musste. Mit der Ausdehnung des auswärtigen Handels und Zahlungsverkehrs mit Europa registriert Humboldt die Ankunft des Kapitalismus auf dem Subkonti-

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nent als beträchtlichen Modernisierungsschub im Vergleich zu Subsistenz, kleiner Warenwirtschaft und kolonialfeudalem Haciendabetrieb. Zum Zeitpunkt seiner Amerika-Reise waren die bedeutendsten Handels- und Industrieländer Westeuropas, England, Frankreich und die Niederlande, auf dem Sprung zur durchgängigen Entwicklung der industriellen Produktionsweise, die dabei auswärtige Rohstoffe, vor allem aus dem sowohl an mineralischen wie an agrarischen Rohstoffen reichen Iberoamerika, in wachsendem Maße benötigte. Diese drei Länder hatte er eingehend bereist und sich mit ihrer expandierenden Ökonomie befasst, die er in den Kolonien als Reflex des Warenaustauschs mit Westeuropa entstehen sah. Für Humboldt machte das Eindringen des Kapitalismus in Lateinamerika den Subkontinent zum Vorläufer und ersten Durchgangspunkt dieser Wirtschafts- und Sozialordnung in der späteren Dritten Welt, zur ersten Station der eigentlichen Globalisierung. Dies wurde gefördert durch die nirgends woanders außerhalb Europas gegebene Existenz der halbokzidentalen Kreolen, der Kompradorenbourgeoisie mit ihren Handelsverbindungen zur westlichen Welt und ihrer familiären Dauerbindung an Europa und an die okzidentale Kultur auch durch ihre europäischen Sprachen Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Englisch. Dieser Naturforscher ging souverän und professionell mit so naturfernen, „unnatürlichen“ Kategorien wie Kapital, Zins, Investition, Betriebskosten um, beherrschte diese wirtschaftlichen Kategorien wie ein geübter Börsianer. Dazu hatten ihn sein Kameralistik-Studium und seine finanz- und währungstechnischen Verwaltungspraxis im fränkischen Ansbach als Adlatus Hardenbergs wie erwähnt qualifiziert. Er bemerkte die Einbürgerung kapitalistischer Usancen auf dem Subkontinent zu einer Zeit, da für die meisten Zeitgenossen besonders in Südamerika Geld und Kapital, Warenverkehr und Kapitalienhandel noch identisch waren. Er beschreibt die iberoamerikanischen Nationen- und Staatenbildungen und Urbanisierungen nicht als eigenständige endogene Entwicklungen, sondern als Transformationen infolge des aus Europa kommenden externen Evolutionsschubs. Er zeigt perspektivisch den Ausbruch aus dem spanischen Kolonialsystem und den Rückanschluss Amerikas per kommerzieller und politischer Agglomeration an das europäisch-asiatisch-afrikanische Gros der Menschheit und an das Gesamtterritorium des Erdglobus, und insofern den ersten Schritt zur Inklusion in die Welt der Moderne. Aber diese Anschlussverbindung erfolgte unter anderen Bedingungen als die einstige vorzeitliche Trennung, nämlich denen der Subalternität und Unterordnung unter die sich etablierende Weltherrschaft Westeuropas, das mittels des Kolonialismus Lateinamerika entsprechend seinen eigenen Entwicklungsbedürfnissen wirtschaftlich, kulturell und politisch formierte.

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Lateinamerika und die Erde – Demokratisierung als globaler Trend Für Humboldt waren Kuba und Mexiko avancierte Beispiele für den wachsenden Handel der Lateinamerikaner mit Europa und den USA und für den eigentlichen Beginn des Welthandels, die kommerzielle Globalisierung. Ein weiteres, mit der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung über den Globus und Iberoamerika aus dem Okzident sich verbreitendes Phänomen sah Humboldt in der Demokratisierung. Er spürte bei den Bewohnern aller Hautfarbe und sozialer und politischer Couleurs eine politische Stimmung, die ihn an das vorrevolutionäre Frankreich erinnerte. Aus ihr fühlte er die nahende Revolution voraus. In der Tat übte die Französische Revolution, die zur Zeit seiner Amerikareise knapp ein Jahrzehnt zurücklag, Beispieleffekt auf die Kreolen zusammen mit dem ideologischen Einfluss der Aufklärung, deren lateinamerikanische Vertreter bzw. Anhänger er in Mexiko, Peru, Kolumbien und Kuba persönlich kennen lernte. Noch direkter, weil geographisch näher war der Einfluss der Revolution in den nordamerikanischen Kolonien Englands 1776 und in den französischen auf Haiti 1791, deren entscheidende ideologische Rolle für die revolutionäre Erhebung von 1810 und damit den erfolgreichen Unabhängigkeitskampf der Lateinamerikaner Humboldt betont. Er und Bonpland hätten viele Leute kennen gelernt, schreibt er, die eine „entschiedene Vorliebe für die Regierungsform der Vereinigten Staaten“, für die parlamentarische, republikanische und freiheitliche Demokratie im Unterschied zur feudalabsolutistischen Monarchie Spaniens hatten: Hier hörten wir zum erstenmal in diesem Himmelsstrich die Namen Franklin und Washington mit Begeisterung aussprechen. Neben dem Ausdruck dieser Begeisterung bekamen wir Klagen zu hören über den gegenwärtigen Zustand von Neu-Andalusien und leidenschaftliche, ungeduldige Wünsche für eine bessere Zukunft. Diese Stimmung mußte einem Reisenden auffallen der Zeuge der großen politischen Erschütterungen in Europa (d. h. der französischen Revolution von 1789, die Humboldt in Paris 1791 erlebte, HOD) war. Noch gab sich darin nichts Feindseliges, Gewaltsames, keine bestimmte Richtung zu erkennen. Seit dem Jahre 1797 ist eine geistige Umwälzung eingetreten, die in ihren Folgen dem Mutterland noch lange nicht verderblich geworden wäre, hätte nicht das (spanische Kolonial-)Ministerium fort und fort alle Interessen gekränkt, alle Wünsche mißachtet. Es gibt in den Streitigkeiten der Kolonien mit dem Mutterland wie in fast allen Volksbewegungen einen Moment, wo die Regierungen, wenn sie nicht über den Gang der menschlichen Dinge völlig verblendet sind, durch kluge fürsichtige Mäßigung das Gleichgewicht herstellen und den Sturm beschwören können. Lassen sie diesen Zeitpunkt vorübergehen, glauben sie durch physische Gewalt eine moralische Bewegung niederschlagen zu können, so gehen die Ereignisse unaufhaltsam ihren Gang, und die Trennung der Kolonien erfolgt mit desto verderblicherer Gewaltsamkeit, wenn das Mutterland während des Streites seine Monopole und seine frühere Gewalt wieder eine Zeitlang hatte aufrechterhalten können. (Äqu 121f.)

Daraus folgt Humboldts Voraussage revolutionärer Erhebungen zur Befreiung von der spanischen Herrschaft, da sie jedwede ökonomischen, politischen und sozialen Neuerungen verhinderte, eine Prophetie, die sich ab dem

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Jahre 1810 erfüllte. So wie er für Neu-Andalusien und Neu-Spanien den Umsturz der bestehenden Verhältnisse voraussagte, so prophezeite er auch für Kuba, falls die in Madrid Regierenden nicht bald auf Reformkurs gingen, wie erwähnt eine Erhebung nicht der besitzenden Kreolen, sondern der Farbigen gegen die Kolonialherrschaft. Dies waren äußerst kühne Voraussagen, die Humboldt schon nach nur knapp einem meist im Urwald verbrachten Vierteljahr auf amerikanischem Boden in sein Tagebuch schrieb! Man kann anhand seiner Situationsanalysen der spanisch verwalteten Territorien sagen, dass er den lateinamerikanischen Trend zur verfassungsmäßigen und parlamentarischen Demokratie nach dem Muster de USA und Frankreichs als Teil eines globalen Prozesses registrierte, auch den Trend zu Menschen- und Bürgerrechten nach französischem und USA-Vorbild, vor allem in Gestalt der überall einsetzenden Kampagne zur Aufhebung von Sklavenhandel und Sklaverei. Daher seine Forderung, das in Lateinamerika noch übliche „schändliche Tragen von Menschen durch Menschen als Lasttiere zu verbieten, außer bei Kranken und Frauen“. (Biermann 47) In diesem Sinne verlangte er Bürgerrechte für die Bauern, wobei er die als Argumente gegen die Bauernbefreiung beschworene Gefahr eines Rassenkrieges mit den in Deutschland gegen die Aufhebung der Leibeigenschaft von Seiten der Junker erhobenen gleichsetzt. (ibd., 51) Seine Prophetie, die Schaffung freier Republiken in Lateinamerika, wurde durch die Unabhängigkeitsrevolution Wirklichkeit. Unabhängig von Schönheitsflecken wie der von ihm bekämpften Negersklaverei oder den von ihm kritisierten Annexionen großer Teile Mexikos spielten die USA vor dem Hintergrund eines absolutistischen monarchischen Europa für Humboldt wegen ihrer politischen Strukturen, ihrer Menschenrechte, ihres Republikanertums, Liberalismus und Demokratismus eine Vorbildrolle. Auf seiner nie zustande gekommenen Karte der politischen Weltgeographie hätten die USA sicher den Ehrenplatz unter den republikanischen, demokratischen und liberalen Regionen des Erdballs eingenommen. Er hoffte, dass diese wie die dreizehn englischen Kolonien an der neuen globalen Zivilisation aktiv partizipieren und mitwirken würden. Iberoamerika war für ihn der erste „DrittWelt-Kontinent“, den die Demokratie auf ihrem Weg zur Globalisierung passierte. Er sah die Entwicklungen in Kuba und Mexiko als Teilstrecken der Umlaufbahn des neuen Gesellschaftssystems um die Welt im Zusammenhang mit dem Heraufkommen der globalen Menschengesellschaft als humanes Korrelat zur per Handelsaustausch und internationale Arbeitsteilung sich vollziehenden territorialen Vereinigung. Lateinamerika wurde jedoch zwar ein Kontinent der Republiken, aber nicht der Demokratien, wie die Hunderte von sich auf dem Subkontinent sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts etablierenden Diktaturen beweisen, vielleicht auch deshalb, weil die USA nicht die Hoffnungen der Lateinamerikaner in Bezug auf Solidarität erfüllten, sogar im eigenen wirtschaftlichen und

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politischen Interesse bis weit ins 20. Jahrhundert eher Autokratien als Demokratien unterstützten. Transformation vs. Entwicklung Globalisierung bedeutete für Humboldt nicht nur wie heute weltweite Verbreitung von Waren, Dienstleistungen, Kapitalien und Medienprodukten, sondern die vorausgesetzte Besetzung des Erdballs durch Pflanzen. Tiere und die „relative numerische Verbreitung“ der Menschenstämme über den Erdkörper (Ko I,141), ihre allmähliche Vereinigung von isolierten Populationen, wie er sie in den Äquinoktialen Tagebüchern beschrieb, über die in den Landeskunden und Städteporträts dargestellten Bündelungen von Menschenmengen in Städten, Nationen, Regionen und Ländern bis hin zur höchsten Einheit, der „Menschheit“, als subjektivem Pendant zum Erdglobus, als endlicher Beseitigung ihrer „Entzweiungen“, wie er dies im Kosmos literarisch als Vereinigung von Erde und Menschheit beschreibt. Alle obengenannten Veränderungen von der Wirtschaft bis zur politischen Ideologie lagen prinzipiell auch im Interesse der Lateinamerikaner, doch waren sie induziert vom Druck weltmarktlicher Zwänge, in die sie mit dem Kolonialismus und dem Aufkommen des Kapitalismus gerieten, und somit doch fremddeterminiert und deformiert. Die von Humboldt beobachteten lateinamerikanischen Integrationsprozesse in eine vom Okzident geführte Welt sah er nicht als Entwicklungen, sondern als Transformationen, als assimilatorische Anpassungen an okzidentale, und nicht als Ausdruck eigener Bedürfnisse. Die frappierenden formalen Diskurs- und Genre-Unterschiede zwischen den Tagebüchern und den Landeskunden widerspiegeln nicht nur wesentliche Unterschiede dieser Gesellschaften und Kulturen zu den (mittelwest)europäischen Ländern, und damit grosso modo solche zwischen traditionellen und modernen Gesellschaften bzw. zwischen „entwickelten“ und „Entwicklungsländern“, sondern zwischen dem in Entwicklung befindlichen expandierenden Okzident und den in Transformation befindlichen, als Zulieferer fungierenden außereuropäischen Gebieten, die den Progress des Westens durch ihre Waren und Dienstleistungen beförderten und beschleunigten. Lateinamerika stellt einen Sonderfall der menschlichen Kultur- und Wirtschaftsevolution dar. „Entwicklung“ dar, bedeutet keine Umwandlung eines Gesellschaftszustandes in einen je anderen, höheren oder für höher gehaltenen Zustand, etwa nach dem bequemen europäischen Evolutionsschema Urgesellschaft-Antike-Feudalismus-bürgerliche Gesellschaft. Unter den Bedingungen der spanischen Kolonialherrschaft und einer von außen durchgesetzten Zivilisation fand anstelle einer autochthon-endogenen Eigen-Evolution nur eine heteronome, fremddeterminierte Transformation statt, eine Adaptation Iberoamerikas an seine subalterne Rolle in der weltweiten Arbeitsteilung als Lieferant agrarischer und mineralischer Rohstoffe für die westeuropäischen und USA-Industrien und als Konsument und Abnehmer von deren Industrie- und

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Konsumprodukten, wie es Humboldt en détail beschreibt. In diesem Sinne werteten Briten und US-Amerikaner Humboldts mexikanische Wirtschaftsreports laut Bernecker und Richard aus. Humboldt hat sich nie verallgemeinernd zu diesem Phänomen der Transformation geäußert, ich zweifle sogar, ob er, bzw. ob man zu seiner Zeit überhaupt imstande war, einen solchen spezifischen Tatbestand als Sonderfall einer damals als Fortschritt theoretisierten „Entwicklung“ zu denken. Was er jedoch beschrieb an ökonomischen, kulturellen und politischen neuen Entwicklungen in Mexiko, Kuba sowie punktuell in Neu-Andalusien und NeuGranada, entsprach dem von außen, oft hinter dem Rücken der Kolonialmacht forcierten Hineinwachsen Iberoamerikas in diese neue Rolle, die es übrigens, man denke an das bolivianische Potosí als einwohnerstärkste Bergbaustadt der Welt, als Gold- und Silberlieferant auch in früher Kolonialzeit spielte. Humboldt traf in seinen Beschreibungen genau die strategisch wichtigen Problemfelder dieser Umwandlung: die Urbanisierungen, die einseitige Ausweitung des Außenhandels zuungunsten des Binnenhandels, die Monokultur, die Monetarisierung der Wirtschaft, die tendenzielle Aufhebung der Subsistenzproduktion, die partielle Industrialisierung und Gewerbeentwicklung, den forcierten Bergbau zwecks Extraktion von Nutz- statt Edelmineralen für den Export zur Deckung des immer größeren Rohstoffbedarfs der europäischen Wirtschaften, die Tendenz zu demokratischen Regierungsformen und Institutionen, und last but not least die Kapitalisierung, alles Phänomene, die bessere Adäquanz an und Integration in die neuen Weltverhältnisse bedeuteten. Was nicht dieser Transformation diente, wurde vernachlässigt oder dem Selbstlauf überlassen, jede darüber hinaus gehende Entwicklung gebremst. Dies war ein die „Zurückgebliebenheit“, „Unterentwicklung“ und den künftigen „Drittwelt“-Charakter vorwegnehmendes und konservierendes Phänomen, das Humboldt antizipierend registrierte und auf den den westlichen Nationen immanenten Konkurrenzcharakter zurückführte, wenn er wie bereits zitiert schrieb: „die Idee der Kolonie selbst ist eine unmoralische Idee (…), eines Landes, in welchem der Gewerbefleiß, die Aufklärung sich nur bis zu einem bestimmten Punkt entwickeln dürfen, jenseits dieser Grenze würde sich eine zu starke, wirtschaftlich zu selbständige Kolonie unabhängig machen.“ Wirtschaftliche Eigenentwicklung des Subkontinents würde ihm zufolge von der weltmarktlich dominierenden europäischen Konkurrenz verunmöglicht. Erde vs. Lateinamerika Das in Humboldts Werk immanent wie explizit stets präsente Verhältnis zwischen Iberoamerika und Erdkugel bzw. Iberoamerikanern und Menschheit betrifft zwei intentional wie extensional logisch ungleiche, asymmetrische, schon vom Raumumfang her extrem unterschiedliche Entitäten. Sie stehen in Humboldts Werk nur aufgrund seiner biographisch-wissenschaftlichen Ent-

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wicklung in einem spezifischen, sonst bei keinem anderen Forscher anzutreffenden engen Beziehungsverhältnis zueinander. Ihres hintergründigen Zusammenhangs wird in der Humboldtforschung nicht weiter gedacht, doch besteht ein objektiver kausaler, wenn auch biographisch zufälliger Zusammenhang zwischen ihnen. Eine Reise Humboldts nach Asien oder Afrika hätte nicht annähernd vergleichbare Ergebnisse für die Erdwissenschaft erbracht und wäre unter „Regionalkunde“ oder „Entwicklungsforschung“ verbucht worden. Deshalb ist die Frage nach dem inneren Zusammenhang zwischen Lateinamerika und Humboldts Metaphysik der Erde relevant. Humboldt war von Haus aus studierter Geograph und Kameralist und wurde erst a posteriori zum ersten Lateinamerikanisten der Welt. Der Subkontinent, in den er bei allen Affinitäten doch mehr oder weniger zufällig verschlagen war, wurde durch und für ihn zu etwas mehr als einer beliebigen Region der Erde, nämlich zum Modellfall der Welt deklariert, auf den er im Kosmos immer wieder, manchmal auch zu Unrecht, als Exempel für weltweite Prozesse zurückgreift, während er andere Weltteile außerordentlich stiefmütterlich behandelt. Keinesfalls sieht er die Relation Iberoamerika-Erdglobus bzw. Lateinamerika-Menschheit einfach als ein Verhältnis des „Besonderen“ zum „Allgemeinen“. Ette spricht zu Recht von der „fraktalen“ Rolle Lateinamerikas, seiner Funktion als mise en abîme. Für Humboldt ist das ungleiche und unproportionale Verhältnis zwischen beiden Territorialmassen und Populationen, Erdball und Subkontinent, Menschheit und Iberoamerikanern, in der besonderen natürlich-ambientalen wie auch gesellschaftlich-kulturellen Strukturiertheit Lateinamerikas begründet: er nahm dort empirisch als Natur- wie als Kulturwissenschaftler zwei Phänomene wahr, die Iberoamerika für seine Rolle als gedachten Stellvertreter der Welt prädestinieren: die reichhaltige, vielfältige, artenreiche, universale Ausstattung seiner üppigen Natur als lebendes Weltnaturkundemuseum; und die typenreiche, aus Vertretern aller Rassen, Geschichtsepochen, Wirtschaftsweisen und Kulturen des Erdballs bestehenden Bevölkerung als reduziertes Modell der Menschheit, als „Menschheit im Kleinen“, un pequeño género humano laut Bolívar. Lateinamerika war sein Weltmodell im sozusagen kybernetischen, nicht im Alltagswortsinn, und nicht trotz, sondern gerade wegen der Konservierung archaischer Zustände, und nicht wegen, sondern trotz partieller Modernisierung: Dieser Gedoppeltheit wurde Humboldt als lateinamerikareisender Natur- und Kulturwissenschaftler gewahr. Die meisten Humboldtologen mit Ausnahme Ettes haben dieser Disparatheit und Asymmetrie zwischen der Welt und Iberoamerika keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, sondern als bloße biographische Koinzidenz registriert. Dennoch ergab dieses zufällige Zusammentreffen von gesamtterrestrischem Interesse und besonderem biographischen Schicksal a posteriori einen relevanten Zusammenhang.

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Humboldt stand in der Neuen Welt einer Universalität von natürlichen und kultürlichen, mineralischen, vegetabilischen, animalischen, anthropologischen und linguistischen Objekten gegenüber, die nur er wissenschaftlich zusammenhänglich dank seiner multidisziplinären Kenntnisse und universalen Apperzeptionsfähigkeit im sowohl sozial-kulturellen als auch natürlichterrestrischen Bereich wahrnehmen konnte. Ohne diese wäre er achtlos an der bunten Realität Südamerikas vorübergegangen, weil sie keinen Zeichencharakter für ihn gehabt hätte, so wie viele ungeschulte Touristen und Forschungsreisende wie erwähnt nur wenige Wirklichkeitssegmente des Kontinents wahrnehmen. Amerikas biologisch-natürliche Universalität Die Universalität und damit Weltrepräsentanz Lateinamerikas erwies sich für Humboldt zunächst im Naturreich: Dies (Amazonien, HOD) ist die Partie der Oberfläche unseres Planeten wo auf der geringsten Ausdehnung die Natur die größte Vielfalt an Eindrücken hervorbringt. In den kolossalen, von tiefen Tälern durchfurchten Gebirgen von Cundinamarca, von Quito oder von Peru ist es dem Menschen vergönnt, zur gleichen Zeit alle Pflanzenfamilien und alle Sterne des Firmaments zu betrachten. Dort ist es, wo man mit einem einzigen Blick majestätische Palmen, feuchte Bambuswälder, die Familie der Musaceen und oberhalb dieser Formen der tropischen Welt Eichen, Mispeln, Heckenrosen und Doldenblütler umfasst. Mit einem einzigen Blick umfasst man die Sternbilder des Kreuzes des Südens, die Magellan-Wolken und die Leitwolken des Großen Bären die um den Südpol zirkulieren. Dort ist es auch, dass der Schoß der Erde und die zwei Hemisphären des Himmels den ganzen Reichtum ihrer Formen und die Vielfalt ihrer Erscheinungen darbieten, dort ist es, wo die Klimate gleich wie die Pflanzenzonen, deren Abfolge sie bestimmen, auf Etagen übereinandergelegt sind, wo die Gesetze der Abnahme der Wärme, die für den intelligenten Beobachter leicht zu erfassen sind, mit unauslöschlichen Buchstaben der Felsen in den schnellen Abhang der Cordilleren eingeschrieben sind. (zit. nach Minguet 89, VIII)

Neu-Andalusien, das von ihm zuerst studierte Gebiet, „das zu jener Zeit in Europa kaum dem Namen nach bekannt war“, bot nach seinen Worten „in seinen Gebirgen und an den Ufern seiner zahlreichen Ströme der Naturforschung das reichste Feld der Beobachtung.“ (Äqu 69) Das reichste Feld der Beobachtung in allen Natur- und Erdwissenschaften! Er spricht von einer „üppigen Vegetation mit so unendlich mannigfaltigen Produkten.“ (ibd., 193) Ihm zufolge gibt es hier viel mehr Pflanzensorten als in Europa: er betont den gegenüber der „geselligen“ Vegetation Europas „individualistischen“ Charakter des Pflanzenreichs der Tropen Amerikas: letztere sei auf jedem Raumquadrat artenreicher, bunter und vielfältiger als die monotonen europäischen Biotope. In einem europäischen Forst war in der Tat eine Botanisierung bzw. Herbarisierung einfacher zu machen, da viele zur gleichen Spezies und Art gehörende Pflanzenindividuen symbiotisch-biotopisch in vergleichsweiser Einhelligkeit zusammengezwungen worden sind.

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Die heterogene Üppigkeit des Tropenwaldes dagegen ergab eine fast unendliche Zahl pflanzlicher Individuen pro Quadratmeter, die sich in die Höhe erstrecken und ineinander verfilzen. Renate Löschner (24) schreibt zu Humboldts „Pflanzenphysiognomik“, dass die südamerikanischen Tropenwälder „aufgrund ihres Artenreichtums einen weitgehenden Überblick über die Vegetation der (ganzen) Erde vermitteln“. Also Repräsentanz Iberoamerikas für den gesamten Erdball! Noch heute existiert, bedroht, diese Vielfalt: Amazonien verfügt über die weltgrößte Biodiversität. Wie dies in wissenschaftliche Begriffe fassen? Es gibt Ausdrücke der Ratlosigkeit Humboldts. Das Messen des Maßlosen war eine fast unlösbare Aufgabe für ihn als Geometer. Wegen seiner diffusen Aufmerksamkeit als Universalist vermochte er an keinem Objekt, das am Wege war, vorbeizugehen. Es gab insofern für ihn wenig Selektionsmöglichkeiten. Alles war Gegenstand von Wissenschaft, so dass der Weg durch die Natur zu einem Hin und Her wurde, zum regellosen, chaotischen Springen von einer Aufmerksamkeit zur anderen. Daraus resultiert die Heterogenität seines Tagebuchs als Spiegel der Natur-Vielfalt. Lo real maravilloso Gleichheitssyndrom des Davor und Danach Als eine mit der Vielfalt und Heterogenität der Natur vergleichbare universelle Diversität zeigte sich ihm auch die Gesellschaft und Kultur Iberoamerikas, wie das literarische Phänomen des Real-Wunderbaren (lo real maravilloso) – ein Mitte des 20. Jahrhunderts durch den kubanischen Romancier und Humboldt-Bewunderer Alejo Carpentier geprägter Terminus – belegt: dass Iberoamerika der einzige Kontinent ist, auf dem die Hauptrassen der menschlichen Spezies in allen ihren Mischungen vorkommen, dessen Großlandschaften von welteinmaliger Vielfalt sind, und deren Wirtschafts-, Gesellschafts- und Kulturformen den verschiedensten Epochen der Menschheitsgeschichte angehören. Humboldt hatte sie durchreist. Die in Iberoamerika erfahrene universalische Zusammenschau alles Seienden brachte ihn auf die Idee des Kosmos. Nicht nur die Natur, auch die Kultur der Menschen der Neuen Welt hatte Humboldt als universell erfahren. Er konnte alle Epochen der Welt-, Erd- und Menschheitsgeschichte von der Genesis über die Gentilgesellschaft bis zur industriellen Revolution am verkleinerten südamerikanischen Modell durchspielen. Das war möglich, weil dort alle Gesellschafts- und Kulturformen infolge Rückstand und gleichzeitiger Partizipation am Fortschritt koexistierten und nicht wie in Westeuropa aufeinander folgten, wo das Vergangene rest- und oft spurlos im Gegenwärtigen aufging: Zeitsegmente und Geschichtsepochen existierten hier statt im zeitlichen Nacheinander im räumlichen Nebeneinander, ein Abbild aller Zeiten der Welt en miniature. Schon die hochentwickelten Inkas und Azteken waren zwar, wie er erinnert, keine kulturellen, aber trotz Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturepochen chronologische Zeitgenossen der „primitiven“ Waldindianer. Dass

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diese Kontemporaneität spezifisch lateinamerikanisch war, bemerkt Humboldt zu wiederholten Malen. Er findet diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen schon in vorkolumbischer Zeit: Die Bewohner von Anahuac (oder Mexikos), die von Cundimarca (oder vom Königreich Santa Fe) und die von Peru bildeten bereits große politische Vereinigungen, da gab es Menschen (die Waldindios, HOD), die noch nackt und verstreut in den Wäldern herumstreunten, die die Ebenen im Osten der Anden bedecken. Sie erfreuten sich einer Kultur, die der Chinas oder Japans ähnlich war, während diese Indios noch nackt und verstreut über die Ebenen östlich der Anden streunten. (Mex 139)

Er notiert und kopiert diesbezügliche Passagen in Texten von Chronisten und Reiseschriftstellern. So zitiert er den adelantado (den Quartiermacher für die neusiedelnden Kolonisten) Gonzalo Ximénez de Quesada, der 1557 von der tropischen Tiefebene in die gemäßigt temperierten Hochebenen zog und frappiert war vom Gegensatz zwischen dem hohen Zivilisationsgrad der %ergvölker und der Wildheit der verstreuten Horden in den tropenwarmen Gegenden: Quesada findet die Maycas, Guanes, Muzos und Xolima-Indios, die auf verschiedene Kommunen verteilt waren, mit dem Ackerbau beschäftigt und in Baumwollkleider gehüllt, während die Stämme, die in den nahen, nur wenig über dem Meeresspiegel erhöhten Ebenen umherschweiften, verdummt, nackt, ohne Gewerke und Künste waren. (Vues 245)

Ihm fiel die räumliche Kontiguität statt des üblichen zeitlichen Nacheinanders der Epochen in Südamerika auf. Natürlich existierte diese ungleiche Zeitgenossenschaft noch auffälliger zwischen Indios und Kreolen. Alexander von Humboldt betrachtete Iberoamerika als Kontinent, auf dem die Kreolen mit ihrer 19.-Jahrhundert-Kultur mit Indios koexistieren, die kulturhistorisch in archaischen Menschheits-Epochen leben. Schon bei Kolumbus, Oviedo, Geraldini, Pedro Mártyr und anderen Chronisten der Entdeckung und Conquista stellt er die Tendenz fest, in den kürzlich „entdeckten“ amerikanischen Indios dieselben Charakterzüge zu „entdecken“, die die zivilisierten Griechen den „barbarischen“ Skythen und Afrikanern, ihren Zeitgenossen, zugeschrieben hatten: An der Hand dieser Reisenden, die uns in eine andere Hemisphäre entführen, glauben wir durch die Zeiten zu gehen, die seit langem vergangen sind, denn die amerikanischen Horden sind in ihrer primitiven Einfachheit für Europa eine Art Altertum, der wir fast als Zeitgenossen gegenübertreten. (1975, 373, Hervorh. HOD).

In Iberoamerika konstatiert er eine reale, nicht nur metaphorische „Zeitgenossenschaft“ zwischen weit auseinanderliegenden Epochen vom indianischen „Altertum“ zum beginnenden 19. Jahrhundert. Diese Kontemporaneität entdeckt er als konträres Verhältnis von naiver indianischer

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Naturbeherrschung und westlicher Technik und Naturwissenschaft, zwischen Reibungselektrizität und Voltaischer Säule: Welche Kluft trennt nicht das elektrische Spiel jener Wilden (Indios, die sich, wie Humboldt beobachtete, an der durch Reibung erzeugten elektrischen Anziehungskraft ergötzten) von der Erfindung eines gewitterentladenden, metallischen Leiters, einer viele chemische Stoffe chemisch zersetzenden Säule, eines lichterzeugenden magnetischen Apparats. In solcher Kluft liegen Jahrtausende der geistigen Entwicklungsgeschichte der Menschheit vergraben. (Ko I, 168)

Diese raum-zeitliche Spannung zwischen kulturgeschichtlich höchst unterschiedlichen, aber zeitgenössischen Populationen Amerikas auf gleichem Raum wurde durch die spanische Kolonisierung vom 16. – 18. Jahrhundert, das kreolische Nachholeprojekt des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und durch die wirtschaftlich-politische Integration in den Westen in modernen Zeiten nicht aufgehoben. In Europa dagegen fehlte die zeitgenössische „Barbarei“, in Afrika und weiten Teilen Asiens die sogenannte Zivilisation; nur in Lateinamerika koexistierte letztere mit vorzivilisatorischer „Barbarei“ und „Wildheit“. Das erklärt das Einschwenken des kultur- und geschichtsphilosophischen Denkens Iberoamerikas auf das vereinfachende Binom Zivilisation vs. Barbarei. Auch Humboldt benutzt den linguistischen Usancen folgend dieses die außerokzidentale Welt als barbarisch diskriminierende Begriffspaar. Aber seine reservatio mentalis belegt, dass er sich dieser Anmaßung bewusst war. Das Aztekenvolk habe das Recht, (...) daß man es für fortgeschrittener einschätzt als Pauw, Raynal und selbst Robertson (...), (drei bereits erwähnte Aufklärer, HOD), denn sie nennen barbarisch jedes Stadium des Menschen, das sich vom Kulturtyp entfernt, den sie sich nach ihren eigenen System-Ideen gebildet haben; für uns aber können solche tiefen Unterscheidungen zwischen barbarischen und zivilisierten Völkern nicht existieren. (zit. nach Labastida 1999, XII)

Die die Indios kulturell diskriminierenden Schriften dieser drei von ihm genannten Autoren, Teilnehmer der „Berliner Debatte über die Neue Welt“, sowie des hier ungenannten Hegel formten das Amerikabild der Europäer. Humboldt wandte sich direkt gegen Hegels eurozentristische Behauptung, die Menschen, Pflanzen und Tiere (Krokodile) des „geschichtslosen“ Amerika seien rachitisch, da dort kein Großgetier, weder Pferde noch Rinder mit schmackhaftem Fleisch existieren. Gegen Hegel, der die Krokodile bildlich zu Eidechsen kleinschrumpfte, richtet sich die gallige Passage in einem Brief an Varnhagen, in dem er ironisch die Riesenhaftigkeit der Echsen der Neuen Welt überbetont: Ich thäte gern „Verzicht auf das europäische Rindfleisch“, das Hegel S. 77 so viel besser als das amerikanische fabelt, und lebte neben den schwachen kraftlosen (leider 25 Fuß langen) Krokodilen. (Humboldt 1999, 180)

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Doch ist die Reduktion auf das antonyme Binom Zivilisation vs. Barbarei semantische Täuschung: Humboldt ging es um die Kontemporaneität nicht nur der beiden Extremformen Zivilisation und Barbarei, sondern der verschiedenen graduellen Zwischenstufen der Evolution der Menschheit, um anderswo schon verschwundene oder noch nicht vorhandene Epochen. Humboldt erkannte dies Phänomen als Spezifikum Südamerikas aufgrund kolonialer Rückständigkeit: Der beobachtende Reisende muß der spanischen Indolenz es Dank wissen, den Indianer in diesem alten Naturzustande zu finden. Man reist nicht bloß in einem neuen Lande, sondern man versetzt sich auch in vorige Jahrhunderte, man lernt in Südamerika, wie die Indianer zur Zeit der Conquista und wie die Spanier zur Zeit des großen Kaisers (Karl V, HOD) lebten; man glaubt im (Vize)kön(igreich (Neu)Granada das unbezwungene Cundinamarca und das alte Spanien zu sehen. (Ma 155 - Bogotá-Quito)

Für ihn ist Iberoamerika also auch lebendes Museum der Weltkulturgeschichte. In dieses Museum gehöre das spanische Kolonialregime wegen seiner anachronistischen „Zeitgenossenschaft“ mit dem Mittelalter: „die spanischen Kolonien ähnelten in allem der Ignoranz und Finsternis des XVI. Jahrhunderts“ (nach Schwarzhaupt 1984: 242). Doch der Kosmologe Humboldt historisiert diese Differenzen, sieht die Indios raum- und zeitversetzt als Ahnen der heutigen Europäer und die heutigen Europäer als Nachkommen heutiger Indios. Er kämpft gegen sein Widerstreben, sich zum gemeinsamen Stammbaum zu bekennen: Beim Anblick zerlumpter Indios ist unsereins versucht, die Vorstellung zu leugnen, dass man in diesem Haufen trister, schweigender und gleichgültiger Indios das primigene Wesen unserer Spezies vor seinen Augen hat. Die menschliche Natur präsentiert sich hier nicht mit der liebenswürdigen Einfachheit, so wie sie von der Poesie in allen Sprachen beschrieben wird. Der Wilde vom Orinoco schien uns so verabscheuenswert wie der Wilde des Mississippi. Mit höchstem Vergnügen würde man sich davon überzeugen, dass diese Eingeborenen, den Körper mit Erde und Fettschmiere bedeckt, niedergekniet um das Feuer herum oder breit niedergesetzt auf den Panzern von Schildkröten, wenn sie stundenlang mit idiotischen Gesichtern das Gebräu anstieren, das sie gerade bereiten: man würde sich also überzeugen, dass sie auf keine Weise der Ursprungstyp unserer Spezies sind, sondern eher ein degeneriertes Geschlecht, die schwächlichen Reste von Völkern, die in der weiten Diaspora der Wälder gelebt haben und schließlich in der Barbarei untergegangen sind. (Humboldt 1975, 275)

Er unterteilt gemäß tradiertem antikem Schema die Zeitalter der Menschheit nach den Lebensaltern des Individuums. Zur Behauptung Gumillas, des schriftstellernden Missionars vom Orinoko, der Brauch der Indios, große Steine als ihre Vorfahren anzubeten, sei barbarisch, schreibt er generalisierend: „Die Menschheit in ihrer Kindheit empfindet sich immer noch als Teil der Erde“, ein Phänomen, das er bei den Völkern beider Welten (Europas und Amerikas, HOD) „auf der ersten Stufe der entstehenden Kultur“ als erwiesen gefunden habe (ibd., 372). Er interpretiert die Tradition der Waldindios, die Knochen ihrer Vorfahren in ihrem Wohnhaus aufzubewahren, als normale

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„Gewohnheit der alten Völker“ wie z. B. der Chinesen, die, wie er schreibt, die Sarkophage ihrer Altvorderen als Möbelstücke benutzten (ibd., 420). Wegen der Riesenhaftigkeit, Undurchdringlichkeit und Unwegsamkeit der Urwälder, Ströme, Hochgebirge, Steppen und Sümpfe vermochte keine der aufeinander folgenden Gesellschaftssysteme dem ganzen Subkontinent seine Produktionsweise und Kultur aufzuzwingen. Daher nahmen randständige Populationen wenig an der Entwicklung teil, weder an der der Inkas und Azteken, noch an der von den spanischen Conquistadoren aufgezwungenen, noch am kreolischen Nachholeprojekt des bürgerlich-liberalen 19. Jahrhunderts, noch an heutiger Globalisierung. Die jeweils neuen Regimes beschränkten sich auf Besiedelung und Transformation der ihrer Kultur affinen, ökonomisch lukrativen, mit agrarischem Reichtum oder wertvollen Bodenschätzen bestückten Gebiete, beließen unzugängliche und unrentable marginale Territorien jedoch so wie sie waren, wodurch Restbestände aller archaischen sowie Vorläufer moderner Gesellschaften sich nebeneinander schichteten: steinzeitliche Waldindios, kooperativistische Dorfindianer, feudalkoloniale Spanier, liberale Bourgeois. Humboldt empfand seine Reise sowohl als räumlich-geographische Expedition vom modernen Paris in die Orinoko-Wildnis, als auch als Zeitreise aus der Moderne in die Urzeit. Lateinamerikas Sonderrolle bestand darin, dass es erster obligatorischer Durchgangspunkt aller aus Europa kommenden, sukzessiv die ganze Welt erfassenden Neuerungen war, somit eine vermittelnde Stellung zwischen dem Okzident und dem „Rest der Welt“ (Huntington) einnimmt: Es war durch die iberostämmigen Kreolen wie erwähnt stets sprachlich, mental, religiös, rassisch, künstlerisch, literarisch und familiär mit Europa verbunden, während in anderen Kolonien die Beziehungen zwischen Einheimischen und Europäern unvermittelt waren, von „fremd“ bis „feindlich“ oszillierten. Humboldt stellte als erster die privilegierte Rolle Iberoamerikas bei der Weiterverbreitung der Zivilisation, also der Globalisierung fest. Mehr als in Südostasien oder Schwarzafrika wurden hier die jeweils neuesten politischen und ökonomischen Strukturen, philosophischen Lehren, Technologien, Familiennormen, Romantechniken und Kleidermoden von Westeuropa übernommen, noch bevor sie, wenn überhaupt, in Afrika, den Orient und Asien eindrangen. In diesen Übernahmen bestand der Genuss der Teilhabe Lateinamerikas an der Modernisierung. Jedes Eintreffen der jeweiligen Globalisierungsrunde in Südamerika war Bugwelle einer den außereuropäischen Teil des Planeten von Europa her überrollenden Modernisierungsflut. Zugleich blieb Lateinamerika geographisch und kulturell ein partiell nicht-europäischer Subkontinent wegen seiner vorindustriellen ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen, seiner „Rückständigkeit“, „Unterentwicklung“, und wegen seiner nichteuropäischen Ethnien und seiner vorkapitalistischen Mentalitäten. Es pendelte in seinem transitorischen Status der Transformation zwischen beiden Weltsystemen, blieb mit beiden auf Tuchfühlung. Von den etappen-

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weisen Durchzügen der Moderne durch Lateinamerika blieb immer etwas haften, von monetarischen Verhältnissen und kapitalistischer Betriebswirtschaft bis zu republikanischen Regierungsformen, die sich allerdings nie vollkommen durchsetzten, und wo andererseits Subsistenzwirtschaft, kollektive Lebensformen, orale Volkskulturen und eine archaische Caudillo-Fauna überlebten. Mit eben dieser Erkenntnis wurde Humboldt wenn nicht zum Begründer, so doch zum geistigen Ahnherrn der modernen lateinamerikanischen Literatur, die eben dieses Spezifikum des Neuen Kontinents, so ziemlich alle Kulturepochen der Menschheit in Gleichzeitigkeit und Zeitgenossenschaft (Contemporaneität) aufzuweisen, als „magischen Realismus“ und Poetik des Real Wunderbaren, des „real maravilloso americano“, im Roman der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit überwältigendem weltliterarischen Erfolg gestaltete, wie später kurz gezeigt werden soll. Das terrestrische Grundanliegen Humboldts, eine Erde-Menschheit-Metaphysik zu schreiben, materialisiert sich am deutlichsten und konsequentesten im Kosmos. Mit diesem torsohaften Alterswerk wollte er zeigen, wie Erde und Menschheit asymptotisch ihre Entzweiung überwinden und deckungsgleich werden, indem er auf die Entstehung, Ur- und Frühgeschichte des Erdkörpers sowie seine Besiedlung durch Flora und Fauna die Geschichte seiner Eroberung durch die Menschen folgen lässt. Er beschränkt sich auf drei Momente: – Die faktisch-physische Eroberung des Erdglobus durch den Menschen und die Agglomeration der Erdbevölkerung – Die sinnliche Eroberung des Erdkörpers durch Naturdarstellung in der Malerei – Die geistige, wissenschaftliche und philosophische Aneignung der Erde Die Sekundärliteratur hat diese auffälligen, anf den ersten falschen Blick unzusammenhänglichen drei Exkurse nicht als solche problematisiert. Die „allmähliche Ausbreitung der Menschen über den Erdball“ bis hin zur letztlichen Gesamtbesiedelung des Planeten beschreibt Humboldt im tellurischen Teil relativ kurz. Die Verteilung der Menschen auf die riesigen durch große Wassermassen getrennten Territorien der Erde war nur möglich durch Auflösung ihrer primigenen Einheit in einzelne Rassen, Stämme, Nationen, Staaten und sonstige Kollektive zwecks notwendiger Anpassung an territorial-natürliche Unterschiede. Diese Trennung bzw. Entzweiung wurde durch eine Reihe gegenläufiger Vereinigungs-Tendenzen, die Humboldt im Kosmos auflistet, sukzessive konterkariert und gemindert. Er erzählt den Prozess des Knüpfens von Verbindungen als Geschichte von Eroberungen von Territorien und Machtausübung über Bevölkerungen vermittels Kriegszügen einzelner Populationen gegen andere.

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Neuntes Kapitel: Mensch und Erde – Humboldts Universalien Unter der Erderoberung versteht Humboldt nicht die bloße Besetzung von Territorien, wie etwa Clausewitz in seinem Buch Vom Kriege, auch nicht die Inbesitznahme von unbewohntem und nun von und für Menschen zur Eroberung freigegebenen Neulands wie bei der von ihm öfters erwähnten Erstbesiedlung der leeren westlichen Hemisphäre durch die „Rothäute“, sondern meist die neuerliche Eroberung von bereits von je anderen Populationen besetzten Territorien. Wo ist da der Gewinn für die Menschheit bei diesem Nullspiel lediglich intertribaler Eroberungen, bei denen die eine Population nur gewinnt, was die andere verlor? Dieser Gewinn besteht für Humboldt meiner Meinung nach, und das ist bei den vielen Interpretationen des Kosmos eigentlich nie herausgekommen, schon allein in der bloßen Agglomeration, in der zusammenschließenden Verbindung von kleineren zu immer größeren Populationen, in der Überwindung vorgängiger Trennungen. Humboldt erzählt in langen Partien des tellurischen Teils des Kosmos nichts weiter als die Geschichte dieser Agglomerationen. Die je größere Quantität der Menschenmengen erbringt für ihn schon per se eine höhere Qualität des Menschseins. Die Assoziierung menschlicher Populationen erhält relativen Selbstwert. Anders wäre nicht zu erklären, warum er eine Reihe „Vereinigungen“ ohne jedes manifeste Folgeergebnis aufzählt. Meist genügt ihm als Resultat die bloße Nennung des Assoziationsmodus – gewaltsame Eroberung oder friedlicher „Anschluss“. Agglomeration und Menschheit Diese Agglomerationen sind Ergebnisse von Kriegszügen, Annexionen und Kolonisationen, wie sie Humboldt in Kosmologien, Mythologien und Chroniken beschrieben fand. Seine Weltchronik setzt mit der legendären Kolchisfahrt der griechischen Argonauten und dem Zug Alexanders des Großen von Mazedonien zum Hindukusch und Indus sowie mit den hellenischen Koloniegründungen im Mittelmeerraum, in Unteritalien, Spanien und Nordafrika, ein; es folgen viele weitere Annexionen und Kolonisierungen, wobei er auch die von der europäischen Historiographie verpönten Heerzüge der Nichteuropäer, der Inder, Hunnen und Mongolen, als Agenten der Assoziierung von Populationen registriert. Er nennt das imperium romanum mit seinen vielen Provinzerwerbungen in Nordafrika, im Orient, in Germanien, Britannien und Gallien. Es folgen die osmanisch-arabischen und türkischen Eroberungen der Mittelmeerhalbinseln und inseln, des Balkans, Siziliens, der Pyrenäen, der Balearen, und die Kolonisierung manu militari beider Amerika, vor allem des iberischen Südamerika. Er entnimmt diese Ereignisse vielen authentischen Quellen, sein Buch ist kompilierte Quellengeschichte zu frühen Etappen ursprünglicher Globalisierung

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anhand von Epen, Mythen und Chroniken von Altindien bis zur Renaissance. Es geht ihm nicht wie dem Literarhistoriker um diese Narrationen als solche, sondern um sie als Metadeskriptionen der Humanisierung der Erde, als Revue literarischer „Weltbilder“, als Widerspiegelung praktisch-militärischer Erdaneignung durch Menschen und damit als Etappen der Konstituierung von „Menschheit“. Also keine Weltgeschichte der Literatur, keine Geschichtschronikensammlung, sondern eine Anthologie von Eroberungs- und Expeditionsberichten als Zeugnisse der Kenntnis- und Inbesitznahme fremder Länder und Völker und Dokumentation der Geschichte der Eroberungen nicht nur auf der Erde, sondern der Erde. Es geht ihm nicht darum, die erpressten Zusammenschlüsse von Territorien und Völkern als Heldentaten zu rühmen oder als Untaten zu denunzieren, sondern um die positive Tatsache der Assoziation per se, als Agglomeration, um das Entstehen immer größerer Menschenkollektive als Zwangsunionen zwischen Tributeinnehmern und Tributpflichtigen, Siegern und Verlierern, Unterdrückern und Unterdrückten, um Kriege, die Hunderte Millionen von Menschenleben kosteten. Doch Humboldt würdigt in seiner Umwertung aller Werte unter der Macht des Faktischen nur die Resultate dieser Unternehmungen als gegenseitige Kenntnisnahme und als Miteinanderlebenmüssen der Menschen, demgegenüber die Unkosten für die jeweils betroffenen Unterabteilungen der Menschheit, die die beherrschten Völker, Stämme, Rassen und Nationen zahlen, nicht zählen können. Er beschrieb keine Ereignisgeschichte, sondern die „allmähliche“ Herstellung des Gesamtzusammenhangs der Menschheit durch die Menschen, durch „Verbindungen“, nicht durch „Trennungen“. Deshalb stellt er die Eroberungszüge gerade nicht in ihren machtpolitischen und ökonomischen Zielsetzungen dar. Deren eigentlicher Zweck war natürlich Bereicherung, Besitz- und Machterweiterung, also Entzweiung, aber auch, wie Humboldt polemisch gegen einseitige ökonomistische Erklärung feststellt, Befriedigung von Neugier, Genuss am Abenteuer, Entdeckerfreude: Weltbewusstsein war zufälliges, nicht gewolltes Nebenprodukt: War die Sphäre der Entwicklung fast maßlos dem Raum nach, so gewann sie dazu noch an intensiver moralischer Größe durch das unablässige Streben des Eroberers (Alexander d. Gr,) nach Vermischung aller Stämme, nach einer Welteinheit unter dem vergeistigenden Einfluss des Hellenismus. (Ko II, 134, Hervorh. HOD; „Welteinheit“ meint die ganze Erde und die ganze Menschheit)

Wichtiges Ergebnis der Feldzüge Alexander des Großen gen Osten sei „die Mischung von Hellenen mit Arabern, Neupersern und Indern“ (ibd., 135), die Herstellung des „Einflusses, des Kontakts mit dem Orient“ (ibd., 131), die vom Griechentum betriebene „Völkervermischung vom Nil-Euphrat, SyfrDsaxa bis zum Indus“, „die Verschmelzung des Westens mit dem Osten“, (ibd., 134) womit er unter Assoziation gleich Goethe im West-Östlichen Divan den West-Ost-Kontakt als Hauptagglomerationsachse der frühen Geschichte

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herausstellt. Beispiel einer Agglomerationskette ist die dreifache stufenweise „Einverleibung des phrygischen Reichs durch das indische und dieses durch das Perserreich.“ (ibd., 123) Entdeckung, Conquista und Kolonisierung Amerikas sind Wiedervereinigung der getrennten, auf zwei verschiedene Erdmassen verteilten Hälften der Menschheit. Zu realer Agglomeration der Menschheit und Menschheitsbewusstsein trugen in seiner Vision „friedliche“ Assoziierungen wie Christentum und Buddhismus bei. Das aus Rom hervorgegangene Christentum habe „das Gefühl von der Einheit des Menschengeschlechts“ erzeugt (Ko II, 160), sein Einfluss sei „wohltätig für die Vermenschlichung der Völker“ gewesen. Er nennt auch die historisch einmalige friedliche Koexistenz von Juden, Christen und Moslems unter der toleranten Herrschaft der Osmanen und Fanarioten auf dem Balkan, in den Pyrenäen und in Nordafrika. Er übergeht jedoch auch nicht die Trennungen der Menschen durch Kriege, Rassismen und Nationalismen, die Spaltung in Religionen und Konfessionen. Die Verbindungen bzw. Agglomerationen, die in seiner Vision nach dem Schneeballprinzip zu immer größeren zusammenhängenden Menschen- und Landmassen führen, haben für Humboldt einen höheren Selbstzweck: den der physischen Zusammenführung der Menschheits- und Erdballpartikel zu einem zusammenhängenden Cluster. Doch auch die Inhalte, die pragmatischen Resultate der Eroberungen fehlen nicht mit ihren nützlichen, lebenserleichternden, menschenverbindenden Resultaten: Die griechischen Söldner hätten im Ausland fremde Sitten kennen gelernt und die Mehrfelderwirtschaft sowie die Kultur des Weines nach Hause gebracht. Er erwähnt den Import der Kartoffel und anderer Früchte sowie des Guano-Düngers aus Südamerika. Für Humboldt war Agglomeration von Menschen und Völkerschaften auch Mittel der friedlichen oder gewaltsamen Aneignung von nützlichen Kenntnissen, Wissen, Erfahrungen, Techniken und Kulturgütern, zum Kennenlernen unbekannter Territorien, Geographien und Völker, von deren Natur und Kultur, Geschichte, politischer Organisation, Wirtschaftsweise, Religion, Sprache, kurz der zivilisatorischen Errungenschaften der Anderen. Auf diese wirkliche Welteroberung folgt in Humboldts Kosmos die sinnliche und sodann die intellektuelle als eine Art Physiologie und Psychologie der Kognition. Der Zusammenhalt dieser Trinität ergibt sich für Humboldt aus dem Zusammenhang von sinnlichem Kontakt mit der Außenwelt, ihrer sinnlichen Wahrnehmung (Perzeption) als Quelle und Grundlage der intellektuellen Verarbeitung der Welt mittels menschlichen Denkvermögens und Wissens. So schreibt er: Nur auf unserem Erdkörper setzt uns die unmittelbare Nähe in Kontakt mit allen Elementen der organischen und anorganischen Schöpfung. (...) Die ganze Fülle der verschiedenartigsten Stoffe bietet in ihrer Mischung (...) dem Geist die Nahrung, die Freuden der Erforschung, das unermeßliche Feld der Beobachtung dar, welche der intellektuellen Sphäre der Menschheit durch Ausbildung und Erstarkung des Denkvermögens einen Teil ihrer erhabenen Größe ver-

170 leiht. Die Welt sinnlicher Erscheinungen reflektiert sich in den Tiefen der Ideenwelt; der Reichtum der Natur, die Masse des Unterscheidbaren gehen allmählich in eine Vernunfterkenntnis über. (...) Hier berühre ich wieder einen Vorzug, (...) den Vorzug des Wissens, das einen heimatlichen Ursprung hat, dessen Möglichkeit recht eigentlich an unsere irdische Existenz geknüpft ist. (ibd., 135) Diesen „unermeßlichen, die Weltanschauung erhöhenden Schatz physischer Erkenntnis verdanken wir der Oberfläche des Planeten, den wir bewohnen (...).“ (ibd., 136)

Landschaftsmalerei als Schule sinnlicher Weltwahrnehmung Zu dieser physischen, politischen und ökonomischen Eroberung der Erde durch die Menschen legt sich Humboldts Geschichte des menschlichen Malens und Sehens auf den ersten hundert Seiten des zweiten Bandes des Kosmos quer, was zu problematisieren ist. Was hat Malerei mit Eroberung, terrestrischer Philosophie und Metaphysik gemein? Humboldts diesbezüglicher Abschnitt im Kosmos ist weiter nichts als erster Entwurf einer Weltgeschichte der obenerwähnten sinnlichen LandschaftsNatur- und Weltaneignung durch den Menschen, die im Zusammenhang mit Eroberungen, Entdeckungen und Reisen erfolgt, ist eine Geschichte der menschlichen Sinneswahrnehmung. Die Rolle der Sinnlichkeit, der sinnlichen Stufe der Erkenntnis als wie er schreibt „empirischer Grundlage der Erkenntnis“ (Ko 2, 223), d. h. jedweder Kognition, anders gesagt als „Substrat der Verallgemeinerung der Ideen“ (ibd.) betonte er mehreren Orts: „Eine Geistesarbeit beginnt, sobald (…) das Denken den Stoff sinnlicher Wahrnehmungen aufnimmt“. (Ko 1, 60) Malerei betrachtet er hier primär weder als Kunst noch als Bilddokument, sondern als „Anregungsmittel zum Naturstudium“. Es geht um „die Landschaftsmalerei und ihren Einfluss auf das Naturstudium“, weil für ihn, wie man in seinen Texten an allen Ecken und Enden merkt, die exemplarischste visuelle Weltwahrnehmung noch immer die professionelle der Maler mit ihrer geschärften Apperzeptionsfähigkeit ist: „Die Landschaftsmalerei hat ein mehr materielles Substratum, ein mehr irdisches Treiben. Sie bedarf einer großen Masse und einer Mannigfaltigkeit unmittelbar sinnlicher Anschauung.“ (AdN 383) Ohne visuelle Sensibilität für Mannigfalt und Masse also keine Weltaneignung. Für ihn als Biologen und Anatomen ist das Auge Hauptinstrument sinnlicher Wahrnehmung und „Organ der Weltanschauung“ (!Ko I,65), ist konkret-sinnliche Perzeption der Welt und ihre genussvolle Betrachtung als Augenweide. Der „Reflex der Außenwelt auf die Einbildungskraft“ drücke sich in „dichterischer Naturbeschreibung“ und Landschaftsmalerei, in den unterschiedlichen Natursichten der verschiedenen Epochen, Populationen und Kulturen aus. Aus seiner Priorisierung visueller Wahrnehmung folgt seine hohe Wertschätzung der Erfindung von Instrumenten und Werkzeugen, die die optische Perzeptionsfähigkeit verbessern, „neuer Mittel sinnlicher Wahrnehmung, welche den Menschen mit den irdischen Gegenständen wie mit den fernsten

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Welträumen in näheren Verkehr bringen, welche die Beobachtung schärfen und vervielfältigen“. (Ko II,90) Er nennt Fernrohr, Mikroskop, Barometer, Astrolab und Sextant, die Namen Huygens, Behaim und Galilei. Laut Schöppner (68) schätzte Humboldt diese technischen Erfindungen als Mittel moderner Forschung sehr, im Unterschied zu den konservativen Technik- und Teleskopgegnern Goethe, Buffon, Cuvier und Ernst Jünger. Bei seiner wiederholten Verwendung des von Lavater entlehnten Terminus „Physiognomie“ – der ja stets aufs Visuelle zielt – fällt auf, dass er ihn nicht nur wie üblich auf Personen, sondern auf Pflanzen anwendet, so wenn er über die „graphische Darstellung der Physiognomik der Gewächse in verschiedenen Zonen“ spricht. Er insistiert ständig auf dem „Anblick“ der Naturobjekte. Seine Bücher sind voller „Physignomien“ von Affen, Jaguaren, Seekühen, tropischen Pflanzen, sogar, wörtlich (!), von Bergen, sind montane Physiognomik. Humboldts Landschaftsmalereikapitel als Geschichte der sinnlichen Eroberung der Erde ist sowohl Ergänzung als auch Vorstufe intellektuellwissenschaftlicher bzw. philosophischer Eroberung der Welt. Seine Hervorhebung der Malerei als visueller Sensibilität resultiert auch aus seiner engen persönlichen Beziehung an sie: er war Schüler Chodowieckis, selber passabler Zeichner und lieferte den Graphikern von eigener Hand die Modellansichten für die Illustrationen seiner Werke. Auch trug er Wesentliches, ja Revolutionäres zur graphischen Gestaltung wissenschaftlicher Werke bei, worauf ich zurückkommen werde. Seine Geschichte der menschlichen Visualität geht im Gewand einer Weltgeschichte der Bildenden Künste, vorzugsweise der Malerei, speziell der Landschaftsmalerei einher. Er erörtert kenntnisreich die wechselnden Landschaften und ihre Beschreibungstechniken in der abendländischen Malerei: „War die große Epoche der Historienmalerei das cinquecento, so der Landschaftsmalerei das 17. Jahrhundert“. (Ko II,70) Er macht pertinente Bemerkungen über die unterschiedliche Landschaftsstaffage der Theaterdekorationen ab Kaiser Augustus (ibd., 66), über die „sorgfältige Ausbildung des Landschaftlichen bei den Gebrüdern Eyck“ (ibd., 69) und den sinnlichen Reichtum der Landschaften da Vincis, Dürers, Poussins, Ruysdeels. Seine Revue der Maler umfasst fast nur Europäer, doch er verweist auch auf nichteuropäische ältere bzw. antike Malschulen Indiens und Ägyptens, was mit seinen Ausführungen über den Einfluss von Denken und Wissenschaft des Orients auf das Abendland korrespondiert. Es fehlt nicht die besondere Berücksichtigung der malerischen Eroberung der tropischen Landschaften Südamerikas als eines visuell lange Zeit exotisierend-verfälschend dargestellten, aber sinnlich, durch seine Farben und Formen äußerst attraktiven Teils der Welt. Er nennt den Niederländer Franz Post aus Harlem, vom holländischen Statthalter in Brasilien Moritz von SiegenNassau offiziell bestallter Kolonialmaler. In dessen Residenzstadt Bahia konnten laut Humboldt „begabte Künstler sich in tropischen Zonen tummeln.“ (Ko II,75)

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Eckhout, ebenfalls aus der entourage des Statthalters, malte ihm zufolge exotisch-tropische Früchte und Pflanzen: Palmen, Melonenbäume, Bananen und Helikonien samt „gutgelungenen Gestalten von Eingeborenen, buntgefiederten Vögeln und kleinen Quadrupeden“. Ähnlich rühmt er James Cooks Begleiter, die die Südsee lange vor Gauguin malerisch eroberten: den Engländer Hodges, dessen Ganges-Darstellungen ihn in London enthusiasmierten, und Ferdinand Bauer, der Australien in Bilder fasste. Doch mit perfekterem Stil und höherer Meisterschaft bei der Gestaltung der Tropenwelt malten laut Humboldt seine Protegés Johann Moritz Rugendas, Graf Xafra, Ferdinand Bellermann und Eduard Hildebrandt, die er zu studienund malpraktischen Reisen nach Südamerika delegiert hatte. Diese hatten die sensationellen Farben und Formen der tropischen Natur in frühimpressionistischer, fast fauvistischer Manier „entdeckt“ und als sinnlich-visuelle Weltaneignung dieser fremden, bislang unbekannten Natur dem europäischen Betrachter dargeboten. Man denke an Delacroix als Kolonialmaler in Algerien. Humboldt hätte auch Sybille Merian mit ihren Blumenmalereien aus Niederländisch-Guayana nennen können. Mit dieser Revue europäischer Eroberung Südamerikas durch die Malerei bringt Humboldt zweifellos die ganz andere sinnliche Realität Amerikas in die Weltkunstgeschichte ein, wozu seine erstmalige Präsentation von indigener Kunst und Kunsthandwerk als Selbstbild und Eigenausdruck indianischer Sensibilität in den von ihm edierten Pittoresken Ansichten der Cordilleren und Monumente der Eingeborenen Völker Amerikas kommt, amerikanisches Pendant zu den seit dem 18. Jahrhundert in Europa verbreiteten Chinoiserien und japanischen Tuschzeichnungen. Doch erst mit der weit späteren politisch-kulturellen Subjektwerdung der Kolonisierten wurden letztere auch Subjekte eigener, nichteuropäischer Kunstproduktion, mit der authentischen und autochthonen lateinamerikanischen Malerei des 20. Jahrhunderts, dem afrochinesischen kubanischen Avantgardisten Wifredo Lam, den Indigenisten Sabal und Eladio Ruiz aus Peru, dem Abstraktionisten Roberto Matta aus Chile, dem kolumbianischen Populisten Fernando Botero. Die geistig-wissenschaftliche Eroberung der Erde Parallel zu beiden oben dargelegten Weltaneignungen, der realen, militärisch-politischen und der sinnlichen, und aufbauend auf ihnen verfolgt Humboldt die wissenschaftlich-kognitive Weltaneignung durch den Menschen durch die Jahrtausende als kumulativen Entwicklungsprozess. Diesen koppelt er einerseits an die militärischen Eroberungen: die meisten und produktivsten von ihm erwähnten Forschungsreisenden folgten den Eroberern auf dem Fuße. Auch die Eroberungen selbst erbrachten stets Wissens- und Erkenntnisschübe, die von den Philosophen ausgewertet und zu ihren Welt- und Kosmos-Systemen ausgebaut oder in diese integriert wurden, einen Erkenntnisweg, den Humboldt im Kosmos nachverfolgt – eine bedeutende erkenntnishistorische Leistung Humboldts.

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Seine zweite Leistung auf diesem Gebiet ist die enge, also kausale Korrelierung von materiell-wirtschaftlicher und geistig-intellektueller Blüte weniger bei Griechen als vielmehr bei Ptolemäern und Römern, wozu er nur dank seiner ausgezeichneten und in Iberoamerika geschulten Kenntnisse der Ökonomie imstande war. Er verbindet die Höhepunkte wissenschaftlicher Welteroberung mit der ökonomischen Weltentwicklung, ein Gesichtspunkt, den man bei den meisten Kulturhistorikern seiner Zeit vermisst. Doch sieht er statt einseitiger Determination intellektueller Welteroberung durch die „Basis“ auch Rückwirkung ersterer auf letztere, Wechselwirkung von Kultur und Ökonomie. „Weltbewusstsein“ als Ergebnis des Bestrebens nach „Welteinheit“ und Erweiterung der „Weltsicht“ infolge der „Vermischung aller Stämme“ taucht immer wieder auf: das Präfix Welt- erscheint in seinen Werken zunehmend in vielen Variationen: Weltsicht, Welteinheit, Weltbewusstsein, Weltbegebenheiten, Weltbild. Wichtig seien „die Weltbegebenheiten, welche plötzlich den Horizont der Beobachtung erweitert haben.“ (Ko II ,90) „Horizonterweiternde“, „plötzliche“, epiphanische Weltbegebenheiten sind revolutionäre Geschehen, die sich aus der langsamen Evolution herausheben, „Beschleunigungen“ des „Mobile“ des Globalisierungsprozesses sind. Das „Menschheitsbewusstsein“ entwickelt sich Humboldt zufolge parallel, wenngleich verzögert, zum „Erdbewusstsein“. Isoliert lebende Stämme südamerikanischer „Wilder“ hätten demzufolge wegen ihres Kontaktmangels zu anderen menschlichen Populationen kein Bewusstsein und keinen Bezug zur übrigen Menschheit, keinen Humanitas-Begriff, hielten sich daher für „die“ einzigen Menschen, was meist auch ihr Stammesname besage, würden daher Angehörige anderer Stämme wie Tiere betrachten und wie Wildbret jagen und verspeisen: er verweist auf die kannibalismusfördernde „physiognomische“ Ähnlichkeit zwischen essbaren Affen und Menschen, die für „Tierähnlichkeit“ von Menschen genommen werden könne. (Äqu 324) Immer wieder betont er Entzweiung, Isolation und Kontaktmangel als Hindernisse für die Humanisierung und die Agglomeration, während der Okzident gerade davon, von Verbindung und Zusammenschluss meist unter seiner Ägide, profitierte. Humboldt abstrahiert in diesen globalen Zusammenhängen, wenngleich nicht aus emotioneller Gleichgültigkeit, stets von politischen und moralischen Kriterien. Was ihn interessiert ist der Kontakt, ein heute Mode gewordener wissenschaftlicher Terminus, den er als erster in den Wissenschaftsdiskurs einführt. Doch suspendiert er den Modus der Kontaktnahme in seinen Betrachtungen meist, weil das Erinnern der mit ihm ja meist verbundenen Leiden der Opfer, politische Knechtung, nationale Unterdrückung, ökonomische Ausraubung, rassische Diskriminierung und kulturelle Überfremdung, seine Argumentation in Seiten- und Sackgassen ablenken, die Gradlinigkeit, Logik und Nachvollziehbarkeit seines Diskurses zugunsten moralischer Bedenken und Gegenbedenken stören würde. Finales Resultat der Globalisierung ist laut Humboldt eine schneeballartig proliferierende Assoziation der Menschen, ihr immer engmaschigerer Zu-

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sammenschluss per wuchernde Kontaktnahmen, seien diese Kriege, Reisen, Forschungsexpeditionen oder schlicht Kommerz. Aus eben diesem Grund hebt er die Bedeutsamkeit des Entwickelns der Handelsbeziehungen zwischen Völkern, Nationen und Kontinenten hervor, sieht Geld als Mittler zwischen den Menschen, Währungen als solche zwischen den Völkern und verfolgt genauestens die Geschichte der die gegenseitigen Verbindungen der Menschen vorantreibenden Verkehrs- und Transportmittel, von Schifffahrt, Hafenanlagen, Kanälen, Straßennetzen. Die allumfassende finale menschliche Agglomeration erreicht ihre Kulmination erst lange nach Humboldts Tod dank der neuen Verkehrsmittel, der elektronischen Kommunikationsmedien, des Welthandels, der internationalen Organisationen, des umfassenden Netzwerks der Wissenschaftler und Nationen in der UNO und ihrer Organisationen. Diese Weltkenntnisse und dieses Weltbewusstsein waren ohne Kriege, Eroberungen und Reisen laut Humboldt nicht zu haben. Er zitiert aus den Chroniken der Conquista eine Fülle wissenschaftlicher und landeskundlicher Entdeckungen. Deshalb gehören die Forschungsreisenden – von Cook und den beiden Forster bis last but not least Humboldt selber- in denselben Kontext der großen Kampagne der Kenntnis- und Wissensgewinnung über die Welt, von mythischen „Ahnungen“ bis zu seriöser Wissenschaft. Auch Humboldt schrieb an der Geschichte des Werdens des Weltbewusstseins. Nur über diese mehr oder weniger friedlichen Kontaktnahmen kam es seiner Meinung nach zum weltweiten Wissens-Transfer, zur Kumulation von Kenntnissen aller Bevölkerungen, zu einer Art Weltweisheit. Erst im Zusammenhang mit Kontakten und wechselseitigen praktischen Beziehungen zwischen den menschlichen Populationen erklärt sich die von Humboldt im 1. Teil des zweiten Bandes des Kosmos geschriebene Geschichte der terrestrischen Vorstellungen der Philosophen und Denker, der geistigen Eroberung der Erde. Er beschreibt die Gedanken der Naturphilosophen über Kausalitäten und Zusammenhänge in Bezug auf All, Erde und ihre Kugelgestalt, registriert in chronologischer Reihenfolge die diesbezüglichen Betrachtungen und Erkenntnisse der Philosophen des Fernen Ostens, des Orients, des Mittelmeerraums, des griechischen Altertums, des Hellenismus, Roms, der Spätantike bis zu Renaissance und Aufklärung. Durch den Wissenstransfer wurden in seiner Sicht Wissenschaft und Philosophie zu globalen Kollektivphänomen: die Weitergabe und Weiterverarbeitung von Kenntnissen, Theorien und Lehren erfolgte ihm zufolge einerseits als zeitlicher Transfer von der älteren zur jüngeren Generation, andererseits als räumlicher Wissensaustausch zwischen den Nachbarn über die Grenzen hinweg. Die Erkenntnisgewinne heimsten in erster Linie die Eroberer, Entdecker und Kolonisatoren ein, jedoch auch, wenngleich in minderem Grad, die Eroberten, Entdeckten und Kolonisierten, die zumindest ihre neuen Herrscher in ihrem Anderssein, ihrer Technik der Machtausübung, Kultur, Sprache, Wirtschaftsweise, politischen Organisation, Religion und Unterdrückungsmechanismen etc. kennen lernten, meist als Negativ-Erfahrung. Beider sich

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komplementierendes Wissen ist Teil des auf der höheren Ebene der Menschheit liegenden Weltbewusstseins, das sich um mitunterlaufendes partikuläres Leid, um heute sogenannte Kollateralschäden nicht schert. Humboldt verweist nicht nur auf die wechselseitige Aneignung der Kulturgüter der je Anderen, sondern auch auf alles das, was jene bereits von anderen, früheren oder benachbarten Kulturen und Völkern per Kontakt, Raub oder Krieg übernommen und per Transfer weiter- und umverteilt haben, eine wissensvermittelnde Tätigkeit, die er beispielsweise den Azteken in ihrem Verhältnis zu den tributpflichtigen Nachbarvölkern wie den Tolteken zuerkennt. Nur durch ganze Völkerkollektive seien Hochkulturen entstanden: isolierten Populationen traut er keine bedeutenden Kulturleistungen zu. Herausragendes Weltwissen – er nennt es „allgemeine Ansichten“ – war für ihn kumulierte Weisheit vieler Völker. Während die Hochkultur der Griechen auf den jahrtausendealten Kulturen der Assyrer, Babylonier, Ägypter usw. aufbaute, waren, wie er schreibt, die isolierten Indios nur auf sich selbst gestellt: Ich glaube in der Mythologie der Amerikaner, im Stil ihrer Gemälde, in ihren Sprachen und vor allem in ihrer äußeren Gestalt die Ankömmlinge einer Menschenrasse zu erkennen, die frühzeitig getrennt vom Rest der menschlichen Spezies während einer langen Reihe von Jahrhunderten einen Sonderweg in der Entwicklung ihrer intellektuellen Fähigkeiten und ihrer Tendenz zur Zivilisation gegangen ist. (Vues 86)

Ein weiteres Beispiel Humboldts für den Zusammenhang von Isolation und geringer Wissensproduktion: der Anteil der Chinesen am Fortschritt der Wissenschaft und „gewerblichen Kunstfertigkeiten“ sei gering infolge ihres spärlichen Anteils am „Weltverkehr gewesen, ohne den allgemeine Ansichten sich nicht bilden können“. Europäische Kulturvölker seien dagegen „durch eine riesenmäßige Erweiterung ihrer Schifffahrt in den fernsten Meeren, an den fernsten Küsten gleichsam allgegenwärtig geworden. Was sie nicht besitzen, können sie bedrohen“. (!, Ko II, 99, ein laut Beck kapitaler Satz) Allein Europa sei das Privileg zugefallen, alle von anderen Völkern und in anderen Breiten entwickelten Kenntnisse und Techniken zu verwerten: „Als das phrygische Reich dem indischen und dieses dem Perserreich einverleibt wurde, erweiterte der Kontakt den Ideenkreis der asiatischen und europäischen Griechen“. Wichtig ist ihm die einmalige, scheinbar in alle Ewigkeit stabilisierte, ständige Wissensakkumulation sichernde Kontinuität der abendländischen Kultur, „die einzige fast ununterbrochen fortgeschrittene.17 (s. S. 12) Er sieht sogar in der Vielzahl griechischer Stämme und folglich europäischer Völker – trotz dadurch möglicher Konflikte – ein wissensförderndes Element gegenüber homogenen Populationen. So konsequent tiefgründig wie er hat niemand über die positive Konsequenz abscheulicher Kriegs- und Ausbeutungspraktiken öffentlich nachzudenken gewagt.

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Diese wichtige Parenthese stammt von Humboldt, nicht von mir! HOD)

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Die heutige westliche Zivilisation baut also, so Humboldt, auf weltweit verstreuten Vorgängerkulturen von den Indern über Chaldäer, Phönizier und Ägypter bis zu den Griechen auf, die auch ihrerseits bereits ein universales Kultur- und Wissensarchiv durch Lernen von Anderen angelegt hatten. Dieses vererbten sie dem Okzident, der aus dieser Quelle die größte Wissens- und Erfahrungskonzentration machte, die es je gab: „Weltwissen“ war für Humboldt stets Frucht gemeinsamer Arbeit aller Fraktionen der Menschheit. Sein Resümee: „Wahrhaft kosmische Einsichten sind (...) nicht das Werk eines einzigen Volkes, sie sind die Frucht eines, wo nicht allgemeinen, so doch großen Völkerverkehrs.“ (Ko II, 98) Mit der Ausbreitung seiner Herrschaft über den restlichen Globus fiel auch die Humanglobalisierung endgültig an Europa. Humboldt bemerkt, dass nicht-europäische Globalisierungsansätze wie die des Osmanischen Reiches oder Russlands scheitern mussten, weil sie nicht über das von Europa monopolisierte Gesamtwissen der Gattung Mensch verfügten. Er nennt folglich für die Neuzeit nur okzidentale Denker: Albertus Magnus, Raimund Llull, Nicolaus Cusanus, Kopernikus, Tycho Brahe, Galilei, Kepler, Leibniz, Newton. Kosmos als Kulturgeschichte und Kulturgeographie des Wissens Der Kosmos ist die Vereinigung der beiden Hauptlinien von Humboldts terrestrischem Denken, zum einen der Kosmologie des Sonnensystems mit der Erdkugel mittendrin, samt ihren anorganischen und organischen Supplementen: den Mineralen, Pflanzen und Tieren; und zum andern der Tellurik der Menschheit, die sich allmählich, nachdem sich bereits die Pflanzen und Tiere auf der leeren Erdkugel ausgebreitet hatten, ebenfalls die Erde in verschiedenen Etappen erobert, sich auf ihr einrichtet, zu ihrer Hauptbewohnerin wird und sie zu ihrem Besitz macht. Dieser Prozess ist zugleich ein subjektiver der Bewusstwerdung und „Eutdeckung“ des Planeten durch den wissenschaftlichen Reisenden Humboldt, der sich in verschiedenen Etappen vollzieht, auf verschiedene Erkenntnisobjekte, die noch dazu verschieden kalibriert sind, erstreckt und sich in verschiedenen Diskursarten manifestiert. Sein Ausgangspunkt ist die Kleinteiligkeit der ebenerdigen, menschenleeren, aber vegetationsreichen Anazonas-Wildnis wie er sie in den Äquinoktialen Tagebüchern beschreibt. Auf diese folgt in panoramischer Überschau die stärker vom Menschen in Besitz genommene mineralreiche Anden-Gebirgsregion; beides Regionen, die Vergleiche mit einer Reihe afrikanischer und asiatischer Länder jenseits der orientalischen und fernöstlichen Hochkulturen erlauben; danach kommen die partiell zu Nationen agglomerierten, urbanisierten und institutionalisierten, in seinen Landeskunden porträtierten Länder Kuba und Mexiko. Diese bilden den Übergang zu den hochzivilisierten urbanisierten und heute zu einer Union sich zusammenschließender Nationen Westeuropas- von Humboldt nur kursorisch behandelt. Der Kosmos schließlich ist eine Weltkunde, die die

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Humanisierung bzw. Kulturisierung der terrrestrischen Natur durch den Menschen und die subsequente Agglomeration der Menschheit in einem Großverband darstellt. Die Wissensakkumulation führte so laut Humboldt zur asymptotisch immer stärkeren Beherrschung der Erdkugel durch die Menschheit. Wenn er von „Erweiterung der Weltsicht durch Verkehr (= Kontakt, HOD) mit altkultivierten gewerbetreibenden Völkern“ (Ko II, 134) schreibt, liegt der Fokus auf „altkultiviert“, auf Übernahme des über Jahrhunderte und Jahrtausende akkumulierten Wissensfonds eben der alten Hochkulturen. Sein Hinweis auf „Gewerbe“ verrät dabei seine stetige Verbindung geistiger mit materieller Blüte, seine Betrachtung materiellen Reichtums als Basis bzw. Kondition des geistigen. Große Teile des zweiten Bandes des Kosmos beschreiben die Geschichte des kognitiven Strebens der Menschheit nach Erkenntnis des Weltganzen (ibd., 88) und die (Haupt)epochen geistiger Inbesitznahme der Welt analog zur physisch-politischen und sinnlichen als Übergabe des Staffelstabes von einer Generation zur anderen. Auf die griechisch-antike Hochkultur folgte die hohe Wissenskultur der ägyptischen Ptolemäer mit ihrer „enzyklopädischen Gelehrsamkeit“. Er kennzeichnet Alexandria als damals weltgrößtes Wissenschaftszentrum, Sitz vieler Bibliotheken und Gelehrtenvereinigungen, Sammelplatz alter Wissenschaftserkenntnisse der Astronomie, Geographie und Geometrie und Schauplatz der ersten Vermessung der Erde. Sein riesiger intellektuelle Reichtum hängt für Humboldt mit seiner Rolle als größter materiellen Reichtum kumulierender Handelsplatz der Welt zusammen, dessen Nil- und Hafenausbauten große Geldmengen einbrachten und Produktion und Handel wie den lukrativen Seidenhandel zur Befriedigung gutzahlender römischer Luxusbedürfnisse förderten. Als die ptolemäische Wissenschaftskultur per Transfer an Rom überging, erfuhr laut Humboldt die schon an sich hohe Mittelmeerzivilisation weiteren großartigen Aufschwung unter dem Einfluss eines „so großen Staatsverbandes“ wie des imperium romanum mit besonderes großen Einfluss auf die „kosmischen Ansichten“: Fortschritt der Erdkunde durch Landhandel, Mannigfaltigkeit der Böden und Agrikulturen, Statistiken, Messungen, weites Straßennetz, Strabo als erster Chronist dieser Ganzheit, Plinius als Verfasser des ersten Entwurfs einer physischen Weltbeschreibung und damit Vorläufer Humboldts - ein Plinius-Zitat ziert als Motto den Kosmos. Für Humboldts unbestechliche Würdigung zivilisatorischer, wissenschaftlicher und die Menschen agglomerierender Bewegungen zeugt seine positive Bewertung des Einfalls der hochzivilisierten Araber in Europa und des damit verbundenen Transfers ihrer hohen Wissenschaftskultur mit ihrem „befruchtenden Einfluss“ eines „fremdartigen“ Elements auf den „Entwicklungsgang europäischer Kultur“. Er würdigt den entscheidenden arabischen Beitrag zur Entwicklung von Medizin, Pharmazie, Astronomie, Algebra und Chemie und damit zur Kenntnis der Heterogenität und Mischung der Stoffe als

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enorm: „Die Araber sind als die eigentlichen Gründer der physischen Wissenschaften zu betrachten“, (Ko II, 189 f.) da Meister und Erfinder des Experiments. Er empfindet als ihre (völker- und rassenverbindende) Haupttugend die bei Siegervölkern seltene „Neigung der Araber, sich mit den unterworfenen besiegten Völkern zu mischen“ – Mischung bzw. Vereinigung war für ihm immer ein die Kultur potenzierendes Phänomen – und ihre Reiselust, die nicht nur Handel, sondern auch das Sammeln von Kenntnissen zum Ziel hatte. (ibd., 192) Ibn Sina, Avicenna, Averroes überbrachten asiatisches Wissen aus dem Sanskrit nach Europa; die Söhne des letzteren wirkten laut Humboldt segensreich als Kulturbringer und Wissenschaftsvermittler in Palermo am Hof des römisch-deutschen Kaisers Friedrich II. von Hohenstaufen, dieses Förderers modernen Denkens, mit dessen Erwähnung Humboldt das Verdienst der Araber am Entstehen der Renaissance in Italien andeuten will, die seiner Meinung nach die empirismusfeindliche Scholastik „im glücklichen Kampf“ gegen die „alles absorbierende Theologie“ „verscheuchten“ und zu den griechischen Quellen zurückführten, wobei der Islam weniger forschungshemmend bei Arabern als bei Türken gewesen sei. Auf Araber und Rabbiner hätten William Ochham, Nicolaus von Cues, Descartes und die Nominalisten mit ihrer Abneigung gegen leere Abstraktionen und ihrem Kampf für die Mehrung der von ihm hochgeschätzten „sinnlichen Grundlage der Erkenntnis“ aufgebaut. Die Kulmination der kumulativen Entwicklung physischer Weltanschauung qua Weltkenntnis bilden für Humboldt die ozeanischen Streifzüge von Cabbot und Vasco da Gama mit dem absoluten Höhepunkt der „Entdeckung“ Amerikas durch Columbus. In dieser Epoche wurden, hebt er hervor, „dem menschlichen Geist im kürzesten Zeitraum die größte Fülle neuer physischer Wahrnehmungen (ibd., 180), (und die) reichste Fülle des Materials zur Begründung der physischen Erdbeschreibung den westlichen Völkern dargeboten.“ (ibd., 208) Kolumbus´ Amerika-Drift sei eine in Stil und Methode wissenschaftliche Unternehmung (ibd., 230) mit verbesserter nautischer und Schiffsbautechnik und Verwendung des chinesisch-arabischen Kompasses gewesen, die sich auf neueste arabische Kenntnisse der Geographie und Astronomie, der Erde und des Himmels stützte und philosophisch von den modernen Lehren von Albertus Magnus, Roger Bacon und Vincent von Beauvais (ibd., 222) angefeuert wurde. Marco Polo, größter Landreisender aller Jahrhunderte (ibd., 230), habe mit seinem Navigationsjournal den „großen Weltverkehr“ als Vorstufe des Weltbewusstseins initiiert.

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Zehntes Kapitel: Globalisierung der Wissenschaft – Wissenschaft der Globalisierung – Globalisierung als Wissenschaft Die „Entdeckung“ Amerikas verstärkte laut Humboldt das Streben nach Naturbeobachtung wegen der Fülle und Andersartigkeit der Vegetation, sowie nach Kenntnis der Südsee und der Westküsten Amerikas und Ostküsten Eurasiens, der Größenverhältnisse der Landmassen und der Meere des Planeten. Die von den Hellenen übermittelte Erdkenntnis habe sich in wenigen Jahren um das zweifache vermehrt (ibd., 138) – eine echte Beschleunigungsphase der Menschheitskultur also. Humboldt stellt den Kulturtransfer als historischen Prozess dar, der alles menschheitlich Substantielle von Generation zu Generation, von Jahrhundert zu Jahrhundert vermehrt und verbessert weitergibt. Die Jetztzeit ist für ihn dessen alleiniger Nutznießer, nicht aber sein alleiniger Produzent. Humboldts Kosmos ist nicht nur Kulturgeschichte, sondern auch Kulturgeographie. Genau so wichtig wie seine historisch-chronologische Darstellung des Weltwissens im Wandel der Zeiten ist seine Untersuchung und Präsentation des Wissenstransfers durch den Raum, die Migration der Weltkulturgüter von einem Kulturraum zum anderen. Daraus folgt seine Betonung der Bedeutung der Kommunikation, der Sprachen, der Verkehrsmittel, des internationalen und interkulturellen Kontakts, der Information und Medien als räumliche Distanzen überbrückende Instanzen, durch welche die Menschheit ihren Planeten Erde als Ganzheit in Besitz nimmt - ein Vorgriff auf die Moderne! Letztes aber nicht unwichtigstes Glied der zu Humboldts Zeiten laufenden und von ihm aktiv in Reisen und Schriften mitbetriebenen Erderoberung durch den Menschen ist für ihn sowohl der beachtliche Beitrag der Wissenschaft zur Globalisierung als auch die fortschreitende Globalisierung der Wissenschaft selbst, ihre Verbreitung über Erdball, Länder und Kontinente. Damit ist ihre Verwandlung aus einer lokalen in eine sich „allmählich“ in der ganzen Welt verbreitende, „globalisierende“ geistig-praktische Tätigkeit gemeint, der sich immer mehr Menschen in immer mehr Ländern mit wachsendem Einfluss auf das Leben der Menschen widmen. Humboldt half in Kolumbien und Mexiko bei der Besetzung naturwissenschaftlicher Lehrstühle, ein bedeutendes Novum, denn wissenschaftliches Denken wurde lange Zeit sogar von vielen Lateinamerikanern als genetisch einprogrammierte Tätigkeit und Eigenschaft des okzidentalen Menschen angesehen, ja ontologisiert. Der Europäer wurde als geborener Rationalist nach cartesianischem Vorbild gegenüber dem Nichteuropäer als Träger irrationalen bzw. vorwissenschaftlichen Denkens angesehen. Demgegenüber sah er den jeder Wissenschaft zu Grunde liegenden Rationalismus als prinzipiell menschlichanthropologische Fähigkeit an, die lediglich vom Westen monopolisiert und instrumentalisiert wurde. Humboldt war, wie sein Umgang und seine Kooperation

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auf dem Fuße der Gleichberechtigung mit kolumbianischen, kubanischen und mexikanischen Wissenschaftlern zeigt, auch auf dem ureigenen Feld der Wissenschaft Gegner jeden Eurozentrismus. Er ist der eigentliche Globalisierer der Wissenschaft, sein Kosmos als erste Inventarisierung und Archivierung des Erdwissens die Gründungsakte der Globalisierungswissenschaft. Deshalb war er, wie Ette nachweist, der Inspirator der ersten weltweiten Vernetzung der Wissenschaften bzw., noch wichtiger, der Wissenschaftler. Das Werk der personalen Wissenschaftsglobalisierung leistete er durch seine Dauerkontakte mit Wissenschaftlern aller Welt, mit französischen, englischen und russischen Kollegen, in England mit der Royal Society, in Frankreich mit der Pariser Akademie der Wissenschaften und in Russland mit der Petersburger Wissenschaftskommunität, sowie mit Kubanern, Mexikanern und Kolumbianern, mit allen denen er ein gemeinsames terrestrisches Beobachtungsnetz und ein entsprechendes Korrespondenzsystem aufbaute zwecks Austausch von Informationen über Wetterverläufe, Temperaturen, Klimate usw. Die Zahl der von ihm in dieser Angelegenheit versandten und empfangenen Briefe ging in die Zehntausende. Auf seine Veranlassung wurden in England und Russland sowie den USA Observatoriennetze installiert, untersuchten bald zwischen St. Petersburg, Peking und Alaska auf seinen Vorschlag hin eingerichtete Stationen Magnetismus, Luftdruck, Temperatur, Windrichtung und Niederschlagsmengen. Eine andere von Humboldt angeregte Kette von Observatorien, der Göttinger Verband, durchquerte Westeuropa von Irland bis Deutschland. Ebenfalls auf Humboldts in einem Brief an seinen Göttinger Kommilitonen Duke of Sussex, Präsident der Royal Society, gerichteten Vorschlag hin ließ die britische Regierung in ihren Überseegebieten (= Kolonien) an den von Humboldt bezeichneten Orten weitere Stationen errichten, in Kanada, St. Helena, am Kap der Guten Hoffnung, auf Jamaica, Ceylon und in Australien. Dies waren laut Botting Vorstufen zu den großen internationalen Projekten 1882-83 und 1932/33 und zum Internationalen Geophysischen Jahr 1957-58. Man kann also mit Fug und Recht sagen, dass Humboldt der Ahnherr sowohl einer globalisierten Wissenschaft als auch einer Globalisierung der Wissenschaft und der Globalisierungswissenschaft ist. Er befasste sich wissenschaftshistorisch mit dem von der französischen Akademie der Wissenschaften geleiteten ersten Großprojekt der Wissenschaftsgeschichte, das zu einem Hauptteil in derselben Gegend abgewickelt wurde, die er bereist hatte. Es bestand darin, dass eine Teilgruppe unter der Leitung von Maupertuis, dazumal Präsident der Berliner Akademie der Wissenschaften, in einer polarnahen Zone, Lappland, und eine andere unter CharlesMarie de La Condamine (1701-74) in der südamerikanischen Äquatorgegend, die Kugelgestalt der Erde, besonders die Erdkrümmung, untersuchte, wobei die lappländische Gruppe die Newtonsche These bestätigte, dass die Erde über

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keine ideale Kugelgestalt verfügte, sondern an den Polen abgeplattet sei, also elliptoide Form hat.18 Humboldt stellte am Schluss des Kosmos die allmähliche Verschmelzung der „Geschichte der physischen Wissenschaften (...) mit der „Geschichte des Kosmos“ (Ko II, 334f.) fest, was heißen soll, dass das menschliche Wissen von der Erde mit dem irdischen Sein gleichzieht, dass es den Komplex „ErdeMenschheit“ als seinen Hauptwissenschaftsgegenstand erfasst hat. Europäisierung – Globalisierung – Modernisierung Dem von Humboldt anvisierten Globalisierungsprojekt, die ganze Menschheit statt bisher nur den Okzident an der Nutzung der Erde zu beteiligen und dadurch das unvollendete Projekt der Aufklärung, wie dies Ette, Habermas folgend, beschrieb, zu vollenden, ist die Modernisierung inhärent. Globalisieren geht nur mit Modernisieren, mit weltweiter Nutzung weitreichender Transportmittel und Medien zu bewerkstelligen. Doch zweischneidig und strittig ist die Modernisierung qua Europäisierung. In Lateinamerika sind alle kreolischen, peronistischen und fidelistischen „autozentrierten“ (Lühring in Sedlacek, 178), d. h. Selbstentwicklungsprojekte gescheitert, die im Eigenlauf den technologischen, ökonomischen und bildungskulturellen Rückstand aufholen wollten. Nötig war für Humboldt ohne Wenn und Aber die Okzidentalisierung der Welt aufgrund der zivilisatorischen Überlegenheit des Westens infolge der Verwaltung des gesamten Weltwissens durch diesen. Angesichts des immerwährenden Zurückbleibens der übrigen Welt. bedeutete Globalisierung qua Modernisierung für ihn Aufhebung von Rückständigkeit mit Hilfe des Westens, deren Möglichkeit er am seinerzeitigen kubanischen Warenaustausch mit England exemplifizierte, was ihn auch zur Übergabe wichtiger mexikanischer und lateinamerikanischer Kennziffern an den USA-Präsidenten Jefferson bewegte. Diese ausstehende „Hilfe“ des Westens war für ihn weder Solidaritätsakt noch Almosen oder Entschädigungszahlung an die Opfer des explotativen Kolonialismus, sondern anteilige Restituierung der von der ganzen Menschheit geschaffenen, jedoch von Europa allein genutzten Weltgüter an die anderen Mitschöpfer dieses Reichtums. So schreibt er: In seinem (Europas, HOD) fast ununterbrochen vererbten Wissen, in seiner lang vererbten wissenschaftlichen Nomenklatur liegen wie Marksteine der Geschichte der Menschheit Erinnerungen an die mannigfaltigen Wege, auf denen wichtige Erfindungen oder wenigstens der 18

„Die Reise von La Condamine in Amerika eröffnet eine neue Periode in der Geschichte der Entdeckungen auf diesem Kontinent; das sind nicht mehr die Konquistadoren, die Missionare oder die Abenteurer, die den Vordergrund der Szene einnehmen. Das XVIII. Jahrhundert sieht sich ein wahrhaft wissenschaftliches Interesse für die Neue Welt entwickeln, wie übrigens auch für die anderen noch unbekannten oder wenig bekannten Teile des Globus, besonders für den Pazifischen Ozean.“ (Minguet 12)

182 Keim zu denselben den Völkern Europas zugeströmt sind: aus dem östlichsten Asien die Kenntnis von der Richtkraft und Abweichung eines sich frei bewegenden Magnetstabs, aus Phönizien und Ägypten chemische Bereitungen (Glas, tierische und vegetabile Färbestoffe; Metalloxyde), aus Indien allgemeiner Gebrauch der Position zur Bestimmung des erhöhten Wertes weniger Zahlzeichen (Die Null und der Stellenwert der Zahl, HOD). (Ko II, 99)

Ähnlich schreibt Ronald Daus in Die Erfindung des Kolonialismus, die Europäer hätten sich durch Kolonialismus und daraus herrührender Kenntnis der ganzen Welt einen zur zweiten Natur gewordenen „Trend zum Universalismus“ angeeignet, der den Kolonisierten verwehrt blieb: „Die Europäer glauben, stellvertretend für alle Menschen zu denken, da sie, als Folge des weltweiten Kolonialismus, die einzige Kultur besitzen, die in der Tat weltweit mit allen anderen Kulturen Beziehungen aufgenommen hat.“ (Daus 1983, 471 f.) Humboldt leitet die Erfolgsgeschichte des Westens aus der privilegierten Disposition über das Weltherrschaftswissen ab: Die „reichste Fülle des Materials zur Begründung der physischen Erdbeschreibung wird den westlichen Völkern dargeboten“, schreibt er. (Ko 2, 208, Hervorh. HOD) Dadurch, dass die anderen Völker den Europäern die eher unkreativen, existenz- und entwicklungsnotwendigen Arbeiten vom Halse schafften, konnten diese ihre Energie auf die Hochkultur konzentrieren, denn: (Der Mensch) eignet sich zu, was die Kühnheit des Naturforschers, Meer und Luft durchschiffend, auf dem Gipfel beeister Berge oder im Inneren unterirdischer Höhlen entdeckt hat. Hier sind wir auf dem Punkt angelangt, wo Kultur der Völker und Wissenschaft am unbestrittensten auf das individuelle Glück wirken. Durch sie leben wir zugleich in dem verflossenen und in dem gegenwärtigen Jahrhundert. Um uns versammelnd, was menschlicher Fleiß in den fernsten Erdstrichen aufgefunden, bleiben wir allen gleich nahe. (...) So schafft Einsicht in den Weltorganismus einen geistigen Genuß und eine innere Freiheit (...). (Geopfl 66)

„Wir“ meint hier in eindeutiger Deixis die Bewohner des Okzidents. Humboldts Begriff der Modernität und die Moderne Humboldt hatte einen spezifischen Begriff von Moderne, heute verstanden als weltweite elektronische Kommunikation, Verschnellung von Transport und Verkehr, Entwicklung menschenverbindender Institutionen und Zusammenwachsen der Völker. Er wurde deshalb auf der Berliner Konferenz Humboldts Aufbruch in die Moderne als deren Vordenker bezeichnet. Moderne-Merkmale waren für ihn als Naturwissenschaftler und Ökonom zuallererst materiell-ökonomische Geofaktoren, die er in seinen Iberoamerikaanalysen in den Vordergrund stellte: Wirtschaft, Handel, Außenhandel, Manufakturen, Arbeitsteilung, Monetarismus, Geldumlauf, Kapitalismus – Phänomene, die in der heute oft materieenthobenen Moderne-Debatte, auch auf der genannten Konferenz war das zum großen Teil der Fall, eine geringe Rolle spielen, aber für Humboldt zentrale Geofaktoren waren.

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Seine Wahrnehmung der permanenten Modernität, also der eigentlichen Moderne kennzeichnet sich durch Fokussierung auf alle technischen Novitäten, die mit Kommunikation und Information zusammenhängen und die „Verbindungen“ zwischen Nationen, Völkern und Menschen revolutionieren, neben Schifffahrt, Straßen, Kanälen auch die Sprache, die die Kommunikation zwischen „durch große Länderstrecken getrennte Völkerstämme“ realisiert. (Ko II,93) Als zweites Moment von Humboldts Konzept der Moderne hebt Ette die gleichberechtigte Einbeziehung der außereuropäischen Wissenschaftler in dieses Nutzwerk hervor. Laut diesem Potsdamer Romanisten sei Globalisierung als Projekt der Modernisierung und Zusammenführung des ganzen Globus infolge des Fehlens des Hereinholens der „Dritten Welt“ bislang gescheitert (denn nur auf diese periphere Dritte Welt bezieht sich Globalisierung, nicht so sehr auf den die Globalisierung selber exekutierenden Westen, wenn man von der nötigen Transformation der ost- und südeuropäischen Länder absieht). Ette schreibt unter Berufung auf Habermas´ Die Moderne. Ein unvollendetes Projekt (1980), Humboldt habe dagegen protestiert, dass „das Gesamtvermögen, und damit das gemeinschaftliche Erbgut der Zivilisation unter die Völker beider Welten ungleich verteilt sei“, und wirft den heutigen Moderne-Theoretikern in treffender Formulierung vor, die universalistische Dimension des Projekts der Moderne nur behauptet, in Wirklichkeit aber gerade diese Dimension wieder vergessen und mehr oder minder unbewußt auf ein Problem Europas und der USA und damit bestenfalls auf ein G-7-Problem reduziert (zu) haben. (Aufbr 11)

In falscher Gleichsetzung des Zeitsegments „Moderne“ mit dem Raumsegment „Europa“ identifiziert Hartmut Böhme (Aufbr 20) die Moderne als „Typ europäischer Kultur“, indem er Moderne quasi zu einer in europäischem Besitz befindlichen Dingeigenschaft ontologisiert. Der Moderne-Begriff – als substantiviertes Adjektiv ohne Substantiv! – ist zum Mythos des 21. Jahrhunderts geworden. Wegen der drohendenden Enthebung dieses Begriffes von aller realen Bodenständigkeit hat Michael Zeuske (Aufbr 190) diesen Trend als Mode demaskiert, wenn er moniert, es sei nach den Regeln der postmodernen Geschichtstheorie nicht mehr modern, „das Agieren von Menschen, etwa in der Politik, aus wirtschaftlichen und sozialen oder überhaupt irgendwelchen Strukturen zu erklären.“ Doch die eigentlichen von Humboldt registrierten Modernisierungsschübe in der lateinamerikanischen Geschichte waren ökonomischer Natur. „Moderne“ ist die auf dem Kapitalismus basierende okzidentale Zivilisation samt allen formationsspezifischen kollateralen Phänomenen von Kultur über Moral und Politik bis zu Literatur und Kunst, wobei den beiden letztgenannten Phänomenen etymologisch-onomastisch die „Moderne“ ihren Namen verdankt.

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Johannes Götschl (in Aufbr 111-136) sieht, ähnlich wie Ette, Humboldt als Vorläufer einer evolutiven Modellierung der Wissenschaftsentwicklung mit der „bisher noch nicht gekannten Vereinigungs- und Vernetzungstendenz“ der kognitiven und technischen Wissenschaften zu größeren Theoriekomplexen. Humboldt habe durch seine Vorträge und Bücher zur „Informations- und Wissensgesellschaft der Zukunft“ und zur „demokratischen Globalisierung der Weltwirtschaft“ beigetragen. Der Kosmopolit Alexander von Humboldt wurde in der Tat durch Beobachtung globaler Prozesse zur Universalisierung auf seinem ureigensten Gebiet, den Wissenschaften, gespornt. Eine besondere Rolle spielt als Metapher dafür das Flusssystem Orinoko-Amazonas mit der Casiquare-Gabelteilung des Orinoco, dieser Verbindung zwischen zwei gegenläufigen gleichberechtigten Wassersystemen, dem Atlantik und dem Pazifik, die von der einseitigen QuelleMündung-Ausrichtung der europäischen Flusssysteme stark abweicht. Diese Bifurkation ist für Ette Ausdruck der Gleichberechtigung zweier zusammenfließender Flussläufe und damit Metapher für die Struktur Humboldtschen Denkens, das konträr zum hierarchisierenden europäischen Denken nach dem Baum-Modell stehe, wo es stets einen Hauptstamm gibt, von dem subalterne dependente Äste ausgehen. Humboldt selber lehnte übrigens die Metapher „Verzweigung“ ab, weil sie die „Vielheit“ der Phänomene beschneide. (Vues 11) Der schwächste Teil von Humboldts Beziehung zur Moderne ist scheinbar seine Haltung zur damals entstehenden modernen Kunst, der der Terminus „Moderne“ wie erwähnt seinen Ursprung verdankt (Baudelaire: il faut être absolument moderne). Er war hierin so altmodisch und abgetragen wie seine Kleidung, blieb bei Goethes und Schillers Klassizismus, bei seiner antiken Bildung, erkannte nicht die Modernität der Berliner Romantik, Chamissos, E. T. A. Hoffmanns, Kleists oder zeitgenössischer Weltautoren wie Hölderlin und Novalis, die die Initiatoren der Moderne als einer der modernen bürgerlichen Gesellschaft adäquaten Kunst waren, eine Linie, die weiterführt zu den Franzosen, zu Baudelaire als Wortführer der modernen Zerrissenheit, den Symbolisten, zurr Proklamation der Unabhängigkeit des Individuums und der Entthronung der Rhetorik, die den Bildungshumanismus à la Humboldt als defensiv und reaktionär, als geistiges ancien régime denuncierte. (vgl. Gauger 93) Vergleicht man Humboldts biedere Ausführungen zu Literatur und Kunst mit Hugo Friedrichs Moderne Lyrik, mit Martin Gaugers Sprache in der modernen Dichtung, Victor Klemperers Die moderne französische Lyrik, Bücher, die den Beginn der Moderne bereits zu seinen Lebzeiten ansetzen, wird sein geradezu provinzieller Antimodernismus deutlich. Der romantischen und postromantischen Avantgarde, diesem aus der Urbanisierung und Metropolisierung erwachsenen Sonderbereich einer marginalisierten Bohème, stand er fern bzw. nahm ihn überhaupt nicht wahr, was ihm sogar der nicht gerade avantgardistische Theodor Fontane bescheinigte.

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Doch es existiert eine gewichtige Differenz zwischen Humboldts Ansichten zu Literatur und Kunst, seinem manifesten literarisch-künstlerischen Geschmack einerseits, und seinen eigenen Texten als literarische Hervorbringungen andererseits, was sich an der fortuna seines eigenen Werkes in Südamerika zeigt. Humboldt empfand seine Reise in die Äquinoktialgegenden des Neuen Continents sowohl als eine räumlich-geographische Expedition vom modernen Paris in die Orinoko-Wildnis, als auch als Zeitreise aus der Moderne zurück in die Urzeit. Er setzte sich in eine Zeitmaschine, deren Flug hundert Jahre später H. G. Wells (Die Zeitmaschine) und Virginia Woolf (Orlando) in ihren „utopischen“ (science fiction-) Romanen neu inszenierten. Die lateinamerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts thematisierte die auf ihrem Kontinent vorhandene Koexistenz verschiedener Zeitalter mit vielen Anleihen bei Humboldt. Die novela de la selva der 20er bis 40er Jahre des 20. Jahrhunderts hat dieselbe Orinoko-Amazonas-Magdalena-Route zum Schauplatz, die Humboldt einst bereist hatte. In diesen Romanen wies jüngst die USAmerikanerin Lesley Wylle ( in: Colonial Tropes and Postcolonial Tricks. Rewriting the Tropic in the novela de la selva. Liverpool: Liverpool University Presse 2009) den profunden thematischen und strukturellen Einfluss Humboldts nach, wobei sie dessen Äquinoktiales Tagebuch faktisch wie einen Wildnisroman behandelt und den Berliner Naturforscher damit quasi zu einem lateinamerikanischen Schriftsteller erklärt. Alle Protagonisten dieser Romane reisen wie einst Humboldt mehr als ein Jahrhundert zuvor von einer okzidentalen Hauptstadt – Paris oder New York – über eine lateinamerikanische Kapitale wie Bogotá oder Caracas durch die Agrargegenden in die Regenwälder. Am Anfang dieser Epik steht der Kolumbianer José Eustasio Rivera mit seinem Roman La Vorágine (1924, Der Strudel), Darstellung der Flucht seines Protagonisten mit seiner Geliebten durch die verschiedenen Kulturregionen seines Landes, der dem Itinerar Humboldts folgend die verschiedenen Landschafts- und Wirtschaftsformen von der europäisierten Hauptstadt über das Ackerbaugebiet und die Viehzuchtregion bis in den Urwald mit seinen Indios und Kautschuksammlern durchreist. Alejo Carpentier erzählt ein Vierteljahrhundert später in Los pasos perdidos (1953, Die verlorenen Spuren, Insel Verlag Frankfurt am Main 1971) eine „Reise“ von New York über Caracas in die Region der Landwirtschaft, danach in die der Viehzucht und schließlich in die Wildnis am Orinoco. Diese Reise des letzteren, wird – was bei Rivera nicht der Fall war – obzwar räumliche Lokomotion, vom Protagonisten als Zeit-Reise, als Reise rückwärts durch die Zeit wahrgenommen, von der Moderne über liberales 19. Jahrhundert, Aufklärung, Renaissance, Entdeckung, Conquista, Mittelalter und die Epoche des Jägers und Sammlers bis zur Genesis. Der Protagonist wird sich der Identität von Zeit- und Ortsveränderung bewusst; “ (...) hier wurde nun unversehens die Vergangenheit Gegenwart. (...) Ich sah die verblüffende Möglichkeit, durch die Zeit zu reisen wie andere durch den Raum.“ (S. 116) Bei

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der Ankunft in einer neuen Region heißt es: „Und ich werde mir jetzt dieser erstaunlichen Wahrheit bewußt: seit dem Fronleichnamstag von Santiago de los Aguinaldos lebe ich im frühen Mittelalter“. (ibd.) An der Entstehung dieses Romans 1956 während einer Reise Carpentiers von Caracas an den Orinoco war Alexander von Humboldt wesentlich indirekt beteiligt. Carpentier (1985: 484) bekannte: „Ich machte die Reise mit einer einzigen Lektüre: der Reise Gumillas und der Reise Humboldts“. Der Protagonist bemerkt, dass „alle Stadien der Zivilisation, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte durchgemacht hat, auf der Ebene der Zeitgenossenschaft (Hervorh., HOD) auf dem amerikanischen Kontinent betrachtet werden können.“ (Carpentier 1976, 67) Sowohl die geistig-philosophische als die strukturellintertextuelle Beziehung zu Humboldts Äquinoktialen Tagebüchern ist offensichtlich. Carpentiers Romanheld, ein Musikologe, unternimmt seine Reise im Auftrag eines USA-Museums, um in der Wildnis ein botuto, ein seltenes archaisches Musikinstrument der Waldindianer, ausfindig zu machen. Dieses selbe botuto hatte bereits Humboldt im Äquatorialen Tagebuch beschrieben, das (...) unter den Palmen geblasen wird, damit sie reichlich Früchte tragen (..). An den Ufern des Orinoko gibt es kein Götzenbild (ganz) wie bei allen Völkern, die beim ursprünglichen Naturgottesdienst stehengeblieben sind; aber der Botuto, die heilige Trompete, ist zum Gegenstand der Verehrung geworden (...) Dieser heiligen Trompeten gibt es nur ganz wenige, und die allerberühmteste befindet sich auf einem Hügel beim Zusammenfluß des Tomo mit dem Rio Negro. Sie soll 45 Kilometer weit gehört werden. Man stellt Früchte und berauschende Getränke neben die heilige Trompete. Bald bläst der große Geist selbst die Trompete, bald läßt er nur seinen Willen kundtun durch den, der das heilige Werkzeug in Verwahrung hat. (Äqu 293f.)

Carpentier theoretisierte das von Humboldt in Südamerika konstatierte Nebeneinander des Nacheinanders aller Erd- und Weltgeschichte in seiner Theorie des real maravilloso, des „Wirklich-Wunderbaren“, die am Anfang der modernen lateinamerikanischen Literatur steht und im „magischen Realismus“ von Asturias und García Márquez Weltbedeutung erlangte. Wirklich, aber einem Wunder gleich ist die gleichzeitige Präsenz von Flugzeug und Pfeil und Bogen, von magischem Glauben und wissenschaftlicher Forschung, von westlichem Rationalismus und indigener Mythologie, von Zauberei und Technik, Gegensätze, mit denen die Romanfiguren konfrontiert werden, und die sie problematisieren. Humboldts Einfluss auf die kulturelle Selbstfindung jener lateinamerikanischen Schriftsteller, die die Frage nach der Identität des Subkontinents stellten, war also enorm. Der Europäer Humboldt hatte einen ausgesprochen amerikanischen Blick, sogar im Unterschied zu vielen europäisierten lateinamerikanischen Intellektuellen wie Sarmiento, der die Barbarei der Indios und Gauchos mit militärischen Mitteln in Zivilisation umwandeln wollte, weil

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Progress für sie nur vorstellbar war als radikale Aufhebung indigener Amerikanizität zugunsten neo-europäischer Identität. Hingegen fehlte den Autoren, die im Gegensatz zu diesen liberalen weißen Positivisten an der indo-amerikanischen Identität festhielten, diese bewahren wollten, wiederum der rationalistische Verfremdungseffekt, mit dem der Wissenschaftler Humboldt die Neue Welt mittels seiner okzidentalen „imperial eyes“ (Pratts) im Sinne Max Webers „entzauberte.“ Zu Humboldts Zeiten erblühte in Berlin und Paris der Beginn der künstlerisch-literarischen Moderne mit der Romantik und dem kritisch-bürgerlichen Realismus, mit dessen französischen Hauptvertretern Chateaubriand, Balzac und Stendhal er persönlich bekannt war. Seine spontan geschriebenen, wenngleich überarbeiteten Äquinoktialen Tagebücher sind eine von ihm gewollte literarisch-künstlerische Leistung. Er selber behauptete nicht nur den natur- und geisteswissenschaftlichen Wert dieses seinen Werkes, sondern insistierte ganz explizit auf dessen Beitrag zu den Schönen Künsten. (1989a, 167) Den Beitrag der Tagebücher zur modernen Literatur qua moderner Gestaltung und Strukturierung des Diskurses muss man als außerordentlich innovativ einschätzen sowohl für die deutsche und europäische wie besonders für die lateinamerikanische Literatur, wenn man etwa seine Tagebücher mit den aufgrund des gleichen Schauplatzes, der Wildnis, absolut vergleichsfähigen spätaufklärerisch-frühromantischen Werken vom Typ Paul und Virginie von Bernardin de Saint Pierre oder mit den Voltaireschen und Chateaubriandschen Darstellungen gleichen Sujets (L´ingénu, Atala) sowie den „indianistischen“ peruanischen, bolivianischen und ecuadorianischen Romanen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergleicht. Humboldts Neuheit gründet sich auf die genaue empirische, naturwissenschaftlich gestützte, unverblümte, realistische, auf exakter Milieukenntnis beruhende und der traditionellen abenteuerlichen oder romantisierenden Reiseromandarstellung abholden Schilderung der Menschen der Wildnis, der Indigenen wie der Kreolen, einer wilden, nicht oder noch nicht Kultur gewordenen Natur und einer unterhalb der oder vorgängig vor der gewohnten europäischen Zivilisation existierenden „barbarischen“ oder erst halbkultivierten Menschenwelt. So etwas dezidiert Anderes hatte man in der europäisierenden Literatur mit ihrer penetrant okzidentalen Perspektive noch nicht gelesen, diesen von Humboldt beschworenen Gegensatz Zivilisation-Barbarei, Europa-Amerika, Tropen-gemäßigte Zone, Urwald-Gebirge. Damit hat er der lateinamerikanischen Literatur auf den Weg zur literarischen Selbst- und kulturellen Identitätsfindung und zur Einnahme eines ihr gemäßen Platzes in der Weltliteratur verholfen, was allerdings erst ein Jahrhundert nach ihm literaturgeschichtliche Realität wurde, nämlich als mit dem obengenannten kreolistisch-nativistischen Roman der Amazonas-Wildnis der 1920er Jahre überhaupt erst eine weltliterarisch ernstzunehmende lateinamerikanische Prosa auf den Plan trat, die das sensationelle Zusammentreffen von

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Zivilisation und Barbarei, mit deren Bewusstwerdung die Moderne ihren Anfang nahm, thematisierte und gestaltete. Humboldt leistete so ohne es zu wollen einen beachtlichen praktischen Beitrag zur literarischen Emanzipation Amerikas auf dem Gebiet vor allem der Romanprosa und zum Einschreiben moderner lateinamerikanischer Literatur in die Weltliteratur, die noch für Goethe, der diesen Begriff prägte, lediglich aus antiker, europäischer und orientalisch-asiatischer Literatur bestand, noch kein literarisches Pendant zum Menschheitsbegriff war. Die Tagebücher waren den Zeitgenossen Stendhals und Balzacs zu avantgardistisch, weshalb sie Humboldts in litteris klassizistisch empfindender Freund und Kollege Arago konsequenterweise wie bereits zitiert schriftstellerisch abqualifizierte. Gerade die von diesem bemängelte inhaltliche Inkohärenz und stilistische Zerrissenheit, die schweifende und impressionistische, nicht mehr auf einen Punkt zuschreibende, eben antilineare Darstellung Humboldts, der Charakter eines opera aperta, wie es Umberto Eco definierte, auf die Konfrontation mit der andersartigen, heterogenen lateinamerikanischen Realität und die darauf zurückzuführende Perplexität macht die Modernität der Texte Humboldts aus. Diese Art inkohärenten Schreibens eines Tagebuches fand in Lateinamerika ihre Fortsetzung erst hundert Jahre später, im Feldtagebuch („Diario de campaña“, 1894) des kubanischen „Modernisten“ José Martí, des Führers der Unabhängigkeitsrevolution Kubas, der auf andere Art perplex war angesichts seiner abrupten Konfrontation mit der üppigen tropischen Natur Kubas nach fast lebenslangem Exil in den kulturell und landschaftlich anderen USA. Oliver Lubrich hat in Verschwinden der Differenz (2004: 42) etwas wagemutig Humboldt zum Dekonstruktivisten des (kolonialistischen) Reiseberichts und weltweit ersten Vertreter des modernen literarischen Diskurses deklariert, zum Vorgänger von Bram Strokers Dracula-Roman, von Ernst Jüngers Unter Stahlgewittern und Jean Genets gegen die bürgerliche Elite-Ideologie anschreibender Prosa. Denn Humboldts Text sei „in hohem Maße selbstreflexiv“ und stelle dezidiert antiideologisch „die eigenen Prämissen und das eigene Funktionieren“ in Frage, wobei Lubrich mit Recht die moderne Heterogenität des Humboldtschen Tagebuchtextes hervorhebt, die den klassischen Reisebericht dekonstruiert: „Allein die (vorwiegend hybride) Textstruktur verunmöglicht eine lineare Lektüre.“ (ibd., 82) Allerdings wird in dieser modernen Interpretation nicht nach den Motiven für Humboldts Erzählstrategie gefragt, die mehr auf die Verunsicherung des europäischen Lesers als auf dessen Belehrung zu zielen scheint. Humboldts Credo ist die Welt als Verbund von Alteritäten. Er schreibt: Nichts ist schwieriger als Nationen zu vergleichen, die in ihrer gesellschaftlichen Vervollkommnung verschiedenen Wegen gefolgt sind. Die Mexikaner und die Peruaner dürfen keinesfalls nach Prinzipien aus der Geschichte der Völker beurteilt werden, die unsere Bildung unablässig in uns wachruft. Sie sind ebenso sehr von den Griechen und Römern entfernt, wie sie den Etruskern und Tibetanern nahestehen. (AdN 15)

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Gleichzeitig, bei aller kulturellen Hybridisierungseuphorie und Betonung der Notwendigkeit, die ökonomischen Unterschiede zwischen beiden Weltteilen zu beseitigen, widerstrebte ihm die kulturelle Gleichmacherei und Homogenisierung, schätzte und würdigte er die Heterogenität des Menschengeschlechts, das ethnische Anderssein, das Alteritätsverhältnis. Er sieht prinzipiell in der kulturellen Alterität beginnend bei den Griechen der Antike den Reichtum der Weltkultur. Als er 1797 von Napoleons Besetzung Ägyptens im Auftrage des Direktoriums, der damaligen postrevolutionären Regierung Frankreichs, hörte, befürchtete er die weltweite einseitige Durchsetzung französischer Regierungsund Kulturformen und die Vernichtung von Alterität: Eine traurige, der Menschenbildung nachteilige Einförmigkeit wird über den ganzen Erdboden verbreitet. Völker, deren physische und moralische Lage gewiß ein Bedürfnis nach sehr verschiedenartigen Regierungsformen erregen sollte, müssen von einem Direktorium und zwei Räten beherrscht werden, und die republikanischen Drakonaden sind ebenso empörend als die religiösen. (Humboldt 1999a, 13)

Wenn Lubrich (38) unter Bezug auf Humboldt fragt: „Wie begegnen wir anderen Kulturen? Wie setzen wir uns mit fremden Menschen auseinander“, so hätte Humboldt zuerst nach dem historischen Entstehen von Alterität, nach der „Alteration“, nach dem Andersgewordensein als ein dem Anderssein vorhergehender Vorgang gefragt, den er mit den frühen Völkerwanderungen und den Ansiedlungen unter unterschiedlichen Natur- und Lebensbedingungen als primären Alteritätsfaktoren in Verbindung gebracht hätte. Hauptursache des modernen Alteritätsverständnisses Humboldts war meiner Ansicht nach, dass er sich auch als Soziologe und Kulturologe genauso vorurteilslos und wissenschaftlich gegenüber diesem Phänomen wie als Naturwissenschaftler, also als eigentlicher Wissenschaftler, gegenüber Naturphänomenen verhielt. Seine Entdeckung und Beschreibung von kulturellem Anderssein ist potentiell eine große heuristisch-methodische Hilfe zur Erklärung heutiger Fremdheitssyndrome im Ergebnis individueller Migrationen von Drittweltvertretern in den Westen. Für ihn war kollektive Migration als geschichtliches Phänomen stets Suche nach Lebensmitteln, was heute sowohl im wortwörtlichen Sinn als auch in der Bedeutung von Arbeitsplatzsuche gilt. Er vermittelt das Wissen, dass alle Menschen Migranten oder deren Abkömmlinge sind, und liefert so ein Lehrstück für die Weltdemographie. Humboldts Moderne-Antizipationen Aus dem kognitiven wissenschaftlichen Vorlauf Humboldts in Bezug auf den Zusammenhangskomplex Erde-Menschheit ergeben sich seine weiteren Vorleistungen weniger auf faktologischem als auf hermeneutischem Feld. Dies steht im Zusammenhang mit seinem pädagogisch-aufklärerischen Anliegen einer publikumswirksamen Veröffentlichung wissenschaftlicher Texte als uner-

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setzlichen Beitrags der Wissenschaft zum Zusammenwachsen der Menschheit zu einer wissens- und informationskompetenten Erdbevölkerung. Zu diesen populär- und parawissenschaftlichen, von der Forschung bisher nur punktuell gewürdigten Anregungen Humboldts gehören zwei heute alltäglich gewordene Leistungen: die wissenschaftliche Untersuchung und technische Förderung der Optimierung der Verbindungskanäle zwischen den Individuen und Völkern, insbesondere der Medien, im Zuge ihrer geistigen Agglomeration, und die exemplarische Visualisierung seiner Werke im Interesse der besseren und leichteren Rezeption wissenschaftlicher Information. Weil er die Agglomeration der Individuen und Populationen als eine kardinale Aufgabe von Zivilisation und Modernisierung ansah, so folgte daraus seine Fokussierung auf die technischen Novitäten und Erfindungen, die die „Verbindung“ zwischen den Individuen und Populationen sichern, fördern und erweitern, „Trennungen“ beseitigen und räumliche Distanzen überbrücken. Er hob in erster Linie auf Medien des Verkehrs, der Kommunikation und der Information ab. Er nennt unter den immateriellen Mitteln der Agglomeration und Kommunikation zuvörderst die Sprache, die die Kommunikation über weite Strecken ermöglicht und infolge ihrer Funktion als „Objekt der Naturkunde des Geistes“ (Ko II, 92) die Menschen „verbrüdert“. Sein avantgardistisches Medienkonzept beruht auf der Erkenntnis der besonderes intensiven hermeneutischen und propagandistischen Wirkung der visuellen Darstellung im Kontext der sich weltweit im öffentlichen Leben ausbreitenden visuellen Medien sowohl zwecks Unterstützung der tradierten verbalen Information und Aufklärung als auch als eigenständige Informationsvermittler, als Vorläufer von Photographie, Film und Reklame als Zeitalter der Visualität äußert, wie dies Walter Benjamin später theoretisierte. Laut Marie Claire Godlewska (163 passim) war er derjenige, der die wissenschaftliche Illustration, sowohl die abbildende wie die schematische, in die Editionspraxis auf voller Front einführte, darunter die Verwendung farbiger Diagramme und Symbole. In seine Epoche fiel laut Foucault – in Les mots et les choses – so schreibt Godlewska, die beginnende Verbindung von Wissenschaft und Bild. Er führte ikonische Experimente mit multidimensionalen bebilderten und farbigen Diagrammen durch (ibd., 182). In der Kartierung machte er derselben Autorin zufolge die Landkarte zu einem Instrument wissenschaftlicher Analyse und Beweisführung, aber auch, wie ich hinzufüge, zu einem pädagogischen Hilfsinstrument zum Begreifen seiner nicht immer leichten intellektuellen Konstrukte durch ein breites Publikum. Diese ikonographische Innovation der wissenschaftlichen Textpublikation durch Humboldt kulminiert in seiner erwähnten am Fuß des Chimborazo angefertigten Zeichnung zur Pflanzengeographie, seinem „Naturgemälde der Tropen“, dessen Titel bereits auf Visualität und Malerei verweist, und das die stockwerkweise Distribution der verschiedenen tropischen Pflanzensorten und -familien auf die unterschiedlichen Höhenlagen der Abhänge südamerikanischer

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Hochgebirge optisch demonstriert. Von Humboldt führt der Weg zur elektronischen wissenschaftlichen Medialität, zur power-point-Darstellung usw. Duviol (69) schreibt von den ungewöhnlich zahlreichen, von Humboldt gezeichneten Illustrationen (planches) in den Vues pittoresques, sie seien keine simplen Bilder zum Zweck angenehmer Lektüre, sondern wissenschaftliche „Memoranden“ und Bilderrettung einer verlorenen Kultur, ein ikonisches Gedächtnis, das das Amerika-„Bild“ gegen den vorherigen phantastischen Exotismus der Amerika-Illustrationen von Dilettanten und Ignoranten korrigierte. Kosmos ist Humboldts Landeskunde der Erde, die Erde als ein einziges Land betrachtet. Globalisierung und Modernisierung betrachtete er aus seiner kosmopolitischen Warte, sah alle Verkehrsformen als notwendige Durchgangsstadien bei der Vernetzung der Menschheit an. Seine Werke sind utopische Anweisung auf die Zukunft einer global vereinten Menschheit, die sich durch Weltverkehr und Agglomeration neben der sozialökonomischen auch der kulturellen Entzweiungen nach dem Vorbild des polykulturellen Lateinamerika entledigt.

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Erklärung des Autors in eigener Sache Vorstehende Untersuchung ist lediglich ein Register der binären mentalen und narrativen Strukturen Humboldts ohne jeden Versuch, deren Wirklichkeitsadäquatheit zu überprüfen, was auch angesichts der Vielzahl von im Werk Humboldts involvierten Wissenschaften ein unmögliches Unternehmen wäre. Ich schrieb keine wissenschaftsgeschichtliche, sondern eine literaturwissenschaftliche Abhandlung. Ich habe weitgehend die besonders in geographischer und kulturhistorischer Hinsicht übliche falsche Terminologie, also semantisch inadäquate Bezeichnungen wie Amerika, Lateinamerika, Indianer usw. verwendet, um ein Minimum an Verständnis mit dem Leser zu erreichen. Auch benutze ich wie Humboldt das Wort „Neger“ in historischen Zusammenhängen, zumal die heutige Bezeichnung „afrolateinamerikanisch“, einen leicht diskriminierenden bzw. Ausschlusscharakter hat. Fidel Castro wird nie als „Eurokubaner“, sondern als Kubaner, der schwarze kubanische Lyiker Nicolás Guillén dagegen permanent von europäischen Literaturwissenschaftlern als „Afrokubaner“ tituliert. Auch behalte ich die historische Bezeichnung „Negersklaverei“ bei, obwohl es politisch korrekt Schwarzensklaverei heißen müsste. Zudem musste ich mich angesichts der Tatsache, dass die meisten der heutigen Übersetzungen wichtige etymologische und damit auch intertextuelle Sachbezüge zu anderen Autoren eliminieren, für die jeweils am meisten sinnund etymongetreu erscheinenden Textvarianten entscheiden bzw. im Ausnahmefall unautorisierte eigene Übertragungen verwenden. Ich zitiere daher aus mehreren statt wie sonst allgemein üblich aus einer einzigen Quelle. Der Autorentext berücksichtigt die heutigen Rechtschreibungsvorschriften, behält aber in den zitierten Fremdtexten die jeweilige originale historische Orthographie bei. Sigelverzeichnis Aufbr = Alexander von Humboldt: Aufbruch in die Moderne AdN = Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur HOD = Hans-Otto Dill Ko = Alexander von Humboldt: Kosmos oder physische Weltbeschreibung Kub = Politischer Essay über die Insel Cuba Ma = Alexander von Humboldt: Reise auf dem Magdalena Mex = Politischer Essay über das Königreich Neu-Spanien Mo = Monuments des peuples indigènes Pflanzeng = (1989b): Schriften zur Geographie der Pflanzen Vues = Vues Pittoresques des Cordillères et Monumens des Peuples Indigènes de l´Amérique

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