Aktuelle Fragen des Luftverkehrs-, Fachplanungs- und Naturschutzrechts: Vorträge auf den Siebten Speyerer Planungsrechtstagen und dem Speyerer Luftverkehrsrechtstag vom 9. bis 11. März 2005 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428522439, 9783428122431

Der Band enthält die ausgearbeiteten Vorträge, die im Rahmen der 7. Speyerer Planungsrechtstage und des Speyerer Luftver

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German Pages 345 [346] Year 2006

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Aktuelle Fragen des Luftverkehrs-, Fachplanungs- und Naturschutzrechts: Vorträge auf den Siebten Speyerer Planungsrechtstagen und dem Speyerer Luftverkehrsrechtstag vom 9. bis 11. März 2005 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428522439, 9783428122431

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Aktuelle Fragen des Luftverkehrs-, Fachplanungs- und Naturschutzrechts

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 179

Aktuelle Fragen des Luftverkehrs-, Fachplanungs- und Naturschutzrechts Vorträge auf den Siebten Speyerer Planungsrechtstagen und dem Speyerer Luftverkehrsrechtstag vom 9. bis 11. März 2005 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Jan Ziekow

Duncker & Humblot • Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-12243-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 © Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der vorliegende Band fasst die Vorträge zusammen, die auf dem Speyerer Luftverkehrsrechtstag am 9. März 2005 und den Siebten Speyerer Planungsrechtstagen vom 9. bis 11. März 2005 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer stattfanden. Unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Veranstaltungen waren Vertreter aller Ebenen der Verwaltung, der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Rechtsanwaltschaft, von Planungsträgern und -büros, der Wirtschaft und der Wissenschaft. Meine Sekretärinnen, Frau Erika Kögel und Frau Ruth Nothnagel , haben sachkundig die Formatierung des Bandes übernommen; hierfür sei ihnen gedankt. Darüber hinaus gebührt Frau Privatdozentin Dr. Annette Guckelberger sowie den Herren Dr. Thorsten Siegel und Dr. Alexander Windoffer herzlicher Dank für die Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung.

Speyer, im März 2006

Jan Ziekow

Inhaltsverzeichnis

Das neue Luftsicherheitsgesetz - teilverfassungswidrig? Von Michael Ronellenfitsch,

Tübingen

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Rechtmäßige und rechtswidrige Vorratsplanung bei Flughafenneubauten Von Lutz Eiding, Hanau

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Behördliches Einschreiten und individuelle Schutzansprüche gegen zugelassenen Luftverkehr Von Peter Wysk, Münster

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Schließung von Flughäfen Von Norbert Kämper, Düsseldorf

81

Rechtsschutz in Umweltangelegenheiten - Der Entwurf des Umweltrechtsbehelfsgesetzes Von Volker Gronefeld, München

99

Rechtsschutz in Umweltangelegenheiten Von Jan Ziekow, Speyer

109

Die Rolle des Richterrechts im Planungsrecht, dargestellt an Beispielen der Rechtsprechung des Vierten Senats des BVerwG Von Wolfgang Durner, München/Berlin

117

Raten oder Rechnen: Planungsverfahren als methodische Herausforderung Von Ekkehard Hof mann, Hamburg

153

Veränderungssperre und Vorkaufsrecht in der Fachplanung Von Peter Schütz, Stuttgart

195

8

Inhaltsverzeichnis

Aktuelle Probleme der Verkehrswegeplanung in Korea Von Jong Hyun Seok, Seoul/Korea

221

Fachplanung und Enteignung Von Annette Guckelberger, Speyer

237

Typisierung und Unterstellung bei Abwägungsentscheidungen in der Regionalplanung Von Dieter R. Anders, Krefeld

269

Die grenzüberschreitende Raumplanung im Spannungsverhältnis zwischen nationalem und europäischem Recht Von José Martinez Soria

285

Flächen- und Maßnahmenpools im Fachplanungsrecht Von Axel Steffen, Potsdam

309

Errichtung von Windkraftanlagen in Vorranggebieten für die Windenergienutzung bei nachträglicher Ansiedlung von besonders und streng geschützten faunistischen Arten - Windkraft contra Artenschutz? Von Volker Kuhnert, Weimar

319

Alternativenprüfung aus fachplanungsrechtlicher und FFH-Sicht Von Nikolaus Herr mann, Frankfurt a. M Verzeichnis der Autoren

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Das neue Luftsicherheitsgesetz - teilverfassungswidrig? Von Michael Ronellenfitsch

I . Vorbemerkung Als Referent ist man mehr oder weniger an die Formulierung des vorgegebenen Themas gebunden. Danach müsste ich mich auf die Beantwortung der Frage beschränken, ob Teile des neuen Luftsicherheitsgesetzes verfassungswidrig sind oder nicht. Da der Speyerer Luftverkehrstag im Kontext mit den Speyerer Planungsrechtstagen stattfindet, erlaube ich mir - unter Berufung auf die planerische Gestaltungsfreiheit - mein Thema weitergreifend anzugehen. Um keine Spannung aufkommen zu lassen, nehme ich das Ergebnis vorweg: Ich halte das neue Luftsicherheitsgesetz nicht nur für teilverfassungswidrig. Vielmehr ist das Gesetz insgesamt verfassungswidrig. Da das Gesetz konzeptionell verfehlt ist, muss das nicht für jede einzelne Regelung nachgewiesen werden. Das Gesetz ist ohnehin eine Fundgrube für die Erstellung juristischer Übungsund Examensarbeiten bis hin zur Formulierung von Dissertationsthemen.

I I . Ausgangslage Als Reaktion auf die Ereignisse vom 11. September 2001 in New York und den Irak-Konflikt bemühten sich die politischen Verantwortlichen aller Ebenen, nicht nur etwaige erkennbare Sicherheitslücken im Luftverkehr zu schließen, sondern unter Würdigung sämtlicher hypothetischer Risken alles zu tun, um die Luftsicherheit zu verbessern.

1. Luftsicherheitsverordnung Die in ihren wesentlichen Teilen am 19. Januar 2003 in Kraft getretene Verordnung (EG) Nr. 2320 / 2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Sicher-

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Michael Ronellenfitsch

heit in der Zivilluftfahrt 1 betont in Erwägungsgrund (2), dass innerhalb der Europäischen Gemeinschaft der Schutz der Bürger in der Zivilluftfahrt jederzeit gewährleistet werden soll, indem unrechtmäßige Eingriffe verhindert werden. Zur Verfolgung dieses Schutzzwecks sind zum einen die Organe der EU aufgerufen. Zum anderen sollen die Mitgliedstaaten die Möglichkeit erhalten, strengere Maßnahmen anzuwenden. Hauptziel der VO 2320/2002 ist dabei die Festlegung und Durchfuhrung zweckdienlicher Vorschriften auf Gemeinschaftsebene zur Gewährleistung der Luftsicherheit. Dieses Ziel soll durch die Festlegung gemeinsamer grundlegender Normen für Maßnahmen im Bereich der Luftsicherheit und die Kontrolle der Einhaltung dieser Vorschriften erreicht werden. Unter „Luftsicherheit" wird verstanden „die Kombination von Maßnahmen sowie von personellen und materiellen Ressourcen, die dazu dienen, die Zivilluftfahrt vor unrechtmäßigen Eingriffen zu schützen" (Art. 2 Nr. 3 VO).

Wer diese Maßnahmen jeweils zu treffen und die personellen und materiellen Ressourcen zu stellen hat, ist in der VO 2320 / 2002 nicht generell geregelt. Aus Art. 5 der Verordnung folgt aber, dass die Verpflichtung, Sicherheitsprogramme aufzustellen, sowohl den Mitgliedstaaten wie auch den Flughäfen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten sowie den Luftverkehrsunternehmen, die das Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten als Ausgangspunkt für Flugverkehrsleistungen nutzen, obliegt. Die gemeinsamen grundlegenden Normen für die Sicherheitsmaßnahmen im Luftverkehr sind im Anhang zu der Verordnung niedergelegt. Der Anhang befasst sich u. a. mit der Flughafensicherheit, der Sicherheit von Luftfahrzeugen, Fluggästen, mit Handgepäck und aufgegebenem Gepäck, Fracht, Kurier- und Expresssendungen, Post sowie Post und Material von Luftfahrtunternehmen, Bordverpflegung und Bordvorräten von Luftfahrtunternehmen, Reinigungsdiensten und Reinigungsartikel für Luftfahrtunternehmen, allgemeiner Luftfahrt, Einstellung und Schulung von Personal sowie Leitlinien für die Ausbildung. Die einzelnen Abschnitte sind gegenständlich gefasst und zumeist nicht bestimmten Aufgabenträgern zugeordnet. Diese Zuordnung bleibt demzufolge den Mitgliedstaaten überlassen. Deren Gestaltungsspielraum wird im Rahmen des sonstigen Gemeinschaftsrechts nur durch nationales Verfassungsrecht begrenzt.

2. Problematik des Luftsicherheitsgesetzes Namentlich zur Durchführung der Luftsicherheitsverordnung dient das Luftsicherheitsgesetz.

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ABl. L 355 vom 30.12.2002, S. 1.

Das neue Luftsicherheitsgesetz - teilverfassungswidrig?

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a) Kontext Das Luftsicherheitsgesetz ist Teil eines Gesetzespaktes, nämlich des Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben vom 11. Januar 2005. Dieses Gesetz wurde im Bundesgesetzblatt vom 14. Januar 2005 bekannt gemacht2 und trat nach seinem Art. 9 am 15. Januar 2005 in Kraft. Die weiteren acht Artikel betreffen das Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) (Art. 1), Änderung des Luftverkehrsgesetzes (Art. 2), Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes (Art. 3), Änderung des AZR-Gesetzes (Art. 4), Änderung der AZR-Durchführungsverordnung (Art. 5), Änderung der Bundeszentralregisterverordnung (Art. 6), Änderung der Luftverkehrszulassungsverordnung (Art. 7) sowie Rückkehr zum einheitlichen Verordnungsrang (Art. 8). Bei der Ausfertigung des Gesetzes äußerte der Bundespräsident verfassungsrechtliche Bedenken gegen die „Abschussregelung" des Luftsicherheitsgesetzes. Er fertigte das Gesetz nur wegen der aus seiner Sicht nicht verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Teile aus und, um für den Rest eine Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht zu ermöglichen. Das ist auch eine Möglichkeit, das präsidiale materielle Prüfüngsrecht zu handhaben! Zumindest eine Evidenzkontrolle von Verfassungsverstößen hätte man wohl dem Bundespräsidenten zumuten dürfen 3. b) Regelungsinhalt Das Luftsicherheitsgesetz bezweckt den Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs, insbesondere vor Flugzeugentführungen, Sabotageakten und terroristischen Anschlägen (§ 1 LuftSiG). Daraus resultieren Aufgaben und Befugnisse der Luftsicherheitsbehörde. Die Luftsicherheitsbehörde hat nach § 2 Satz 1 LuftSiG die Aufgabe, Angriffe auf die Sicherheit des Luftverkehrs im Sinn des § 1 LuftSiG abzuwehren. Zu diesem Zweck nimmt sie Zuverlässigkeitsüberprüfungen vor, lässt nach § 8 Abs. 1 Satz 2 und § 9 Abs. 1 Satz 2 LuftSiG Luftsicherheitspläne zu, ordnet Sicherungsmaßnahmen der Flugplatzbetreiber nach § 8 LuftSiG und der Luftfahrtunternehmen nach § 9 LuftSiG an und überwacht deren Einhaltung. Nach § 8 Abs. 1 LuftSiG bestehen für den Unternehmer von Verkehrsflughäfen zum Schutz des Flughafenbetriebs vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs eine Reihe von Verpflichtungen. Neben baulichen und technischen Sicherungsmaßnahmen normiert § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 LuftSiG die

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BGBl I. S. 78. Vgl. Johannes Rau, Vom Gesetzesprüfungsrecht des Bundespräsidenten, DVB1. 2004, 1 ff.; Christoph Degenhart, Staatsrecht I Staatsorganisationsrecht, 20. Aufl., 2004, Rdnr. 566. 3

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Verpflichtung, eigene Mitarbeiter, Mitarbeiter anderer auf dem Flugplatz tätiger Unternehmer und andere Personen vor dem Zugang zu den sensiblen Teilen des nicht allgemein zugänglichen Bereichs zu durchsuchen oder in sonstiger Weise zu überprüfen sowie die mitgefühlten Gegenstände und Fahrzeuge zu durchsuchen, durchleuchten und in sonstiger Weise zu überprüfen. Für diese Aufgabe ist Sicherheitspersonal zu schulen. Die Sicherungsmaßnahmen sind in einem genehmigungspflichtigen Sicherheitsplan darzustellen. Im Mittelpunkt der politischen Diskussion stehen die §§ 13, 14 und 15 LufitSiG, die es ermöglichen, unmittelbaren Zwang gegen Nichtstörer bis hin zum finalen Befreiungsschuss auszuüben. Konkret: Ein von Terroristen als Waffe benutztes Flugzeug darf auch dann abgeschossen werden, wenn sich in ihm unschuldige Geiseln befinden. Die aktive Opferung (weniger) Menschen zur Rettung (einer Mehrheit) anderer Menschen ist ein verfassungsrechtliches und ethisches Problem ersten Ranges. Gegen die gesetzliche Regelung wurde bereits Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben4. Um die Entscheidung ist das Bundesverfassungsgericht nicht zu beneiden. Zur Erleichterung der Entscheidungsfindung sollten weitere Gesichtspunkte beitragen, die gegen die Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes sprechen. c) Abwägungsgesichtspunkte Die Inkaufnahme der Tötung von unschuldigen Flugzeuginsassen erfordert eine Abwägung auf Verfassungsebene. Der rationale Diskurs ist hier kaum möglich, zumal wir uns eingedenk der unseligen Vergangenheit etwa bei der Abtreibungs- und Stammzellendiskussion so festgefahren haben, dass kaum gesetzgeberische Gestaltungsspielräume verbleiben. Der Lebensschutz nach Art. 2 Abs. 2 GG ist zwar einschränkbar. Ob aber eine rein quantitative Abwägung des Lebens Unschuldiger zulässig ist, erscheint fraglich. Das Argument, Flugzeug und Passagiere müssten wegen der freiwilligen Benutzung eines für die Allgemeinheit riskanten Verkehrsmittels damit rechnen, in Gefahrenabwehrmaßnahmen einbezogen zu werden, würde bei seiner Verallgemeinerung zu abstrusen Ergebnissen führen. Der Gesichtspunkt, die in einem entführten Flugzeug befindlichen Geiseln seien ohnehin dem Tode geweiht, ist nicht nur zynisch, sondern außerdem nicht zwingend. Flugpassagiere sind keine Gladiatoren, die mit dem Gruß „morituri te salutant" das Flugzeug besteigen. Hinzu kommt, dass aus dem Zusammenhang gerissene Argumentationssplitter zu Art. 1 Abs. 1 GG, wie etwa die Aussage: „Wo menschliches Leben ist, da ist auch Menschenwürde", die Objektformen bei der inhaltlichen Bestimmung von Art. 4

Az. 1 BvR 357 / 05.

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1 Abs. 1 GG und die Gleichsetzung von „Unantastbarkeit" mit „Unbeschränkbarkeit" auch hier in ein auswegloses Dilemma fuhren. Geiseln, die hilflos in einem Flugzeug darauf warten müssen, bis dieses abgeschossen wird, sind ersichtlich Objekte der Staatsgewalt. Fällt es schon schwer, das Leben Unschuldiger gegen das Leben anderer Unschuldiger abzuwägen, besteht somit noch größere Begründungsnot, die zum Abschuss freigegebenen Besatzungen und Passagiere nicht in ihrer Menschenwürde beeinträchtigt zu sehen. Andererseits kann der Staat einer Katastrophe nicht ungehindert ihren Lauf lassen. Ich selbst neige zur Ansicht der alten Positivisten, dass im Falle eines derartigen Ausnahmezustands das Staats- bzw. Verfassungsrecht aufhört 5. Man mag das als verfassungsrechtliche Bankrotterklärung bezeichnen. Dennoch ist eben diese Aussage von verfassungsrechtlich fundamentaler Brisanz. Der Verfassungsstaat ist gehalten, nicht den Ausnahmezustand zu regeln, sondern alles zu tun, dass der Ausnahmezustand nicht Wirklichkeit wird. Auch die Rechtsordnung ist dem GAU-Konzept unterworfen. D.h. die Regelungen zur Gefahrenabwehr sind so zu treffen, dass der Super-GAU nicht eintreten kann. Das ist der Grundgedanke des Untermaßverbots. Jedenfalls ist die Abschussregelung nur dann vertretbar, wenn alles getan wurde, um den höchsten Sicherheitsstandard zu erreichen. Die Verfassungswidrigkeit der §§ 13 ff. und des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 LuftSiG bedingen sich somit wechselseitig.

I I I . Bedenken gegen § 8 Abs. 1 N r . 5 LuftSiG 1. Gemeinschaftsrechtswidrigkeit Das Luftsicherheitsgesetz überschreitet den durch die Luftsicherheitsverordnung eröffneten nationalen Gestaltungsspielraum. Die Durchfuhrungskonzeption der Bundesrepublik Deutschland fuhrt nämlich im praktischen Ergebnis zu einer Verschlechterung des Sicherheitsstandards, weil sich der Staat aus Kostengründen seiner originären Verantwortlichkeit für die Gefahrenabwehr entzieht. Durch das Luftsicherheitsgesetz wird die Durchsuchung von Personal, mitgeführten Gegenständen und Fahrzeugen den Flughafenbetreibern als Eigensicherungsmaßnahme auferlegt. Dies widerspricht dem staatlichen Schutzauftrag und verlangt von den Flughafenbetreibern eine Leistung, die diese im gebotenen Umfang nicht erbringen können.

5 Vgl. die Würdigung des berühmten Ausspruchs von Anschütz durch Forsthoff, Gerhard Anschütz, Der Staat 1967, 139 (149). Zu den Fällen, in denen die Regierung in die Lage kommt, nach der Regel „Not kennt kein Gebot" zu handeln, Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 3. Aufl. 1923, S. 11.

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2. Verfassungswidrigkeit a) Staats - und Polizeivorbehalt Regelungen, welche die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland aushöhlen, sind obendrein verfassungswidrig. Der Schutz der Zivilluftfahrt vor unrechtmäßigen Eingriffen stellt eine Aufgabe der Gefahrenabwehr dar. Seit dem Entstehen der modernen Staatlichkeit ist die Gefahrenabwehr eine unverzichtbare Staatsaufgabe, über die selbst der Gesetzgeber nicht disponieren kann. Auch der Verfassungsstaat ist gekennzeichnet durch Gewaltmonopol und Zwangsanwendung. Die Ausübung der Staatsgewalt zur Sicherung der Verkehrsinfrastruktur, zu der auch die Verkehrsflughäfen zählen, ist für die Legitimierung des Gewaltmonopols unerlässlich. Maßnahmen mit Sicherheitsfunktion und Sanktionscharakter unterliegen dem Staatsvorbehalt. Bei der Erfüllung einer Aufgabe der Sicherheitsgewährleistung folgt aus dem staatlichen Gewaltmonopol und dem damit verbundenen Verbot privater Gewalt die notwendige Wahrnehmung als Hoheitsaufgabe. Um mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts zu sprechen6: „Die Sicherheit des Staates als verfaßter Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm gewährleistete Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet."

Der Staatsvorbehalt schließt eine Übertragung der Erfüllung von Aufgaben der Gefahrenabwehr auf Private nicht aus. Bestimmte Aufgaben der Gefahrenabwehr erfordern jedoch eine hoheitliche Erledigung (z. B. durch unmittelbaren Zwang). Solche Aufgaben muss der Staat durch eigene Staatsorgane wahrnehmen (Polizeivorbehält). Dies gilt freilich nicht für alle Aufgaben der Gefahrenabwehr. Die den allgemeinen und besonderen Polizei- und Ordnungsbehörden obliegende Aufgabe, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schützen, lässt sich vielmehr auf zweifache Weise erfüllen: Entweder beseitigen die Polizeiund Ordnungsbehörden die Störung oder Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch den Einsatz eigener Dienstkräfte und Sachmittel oder sie greifen für die Beseitigung auf Private zu. Beim Zugriff auf Private im Zuge der Gefahrenabwehr ist die Übertragung polizeilicher Aufgaben auf Private als Hilfsorgane von der Inanspruchnahme privater Dritter zu unterscheiden.

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Beschl. vom 1.8.1978 - 2 BvR 1013, 1019, 1034/77 - , BVerfGE 49, 24 (56 f . ) Kontaktsperre.

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b) Inanspruchnahme Privater Die Übertragung der Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben auf Private erfolgt im Wege der Beleihung. Ausgeliehen werden bei der Beleihung Hoheitsbefugnisse. Beliehene sind natürliche oder juristische Personen außerhalb der Organisation eines Hoheitsträgers, denen die Befugnis eingeräumt ist, bestimmte Aufgaben des Hoheitsträgers unter seiner Aufsicht mit hoheitlichen Mitteln im eigenen Namen wahrzunehmen. Eine Beleihung kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Beliehenen staatliche Aufgaben besser oder zumindest ebenso effektiv erfüllen können wie die Staatsorgane selbst. Der Zugriff auf private Dritte im Rahmen der polizeilichen Aufgabenerfüllung knüpft an die Polizeipflicht an. Die materielle Polizeipflicht besagt, dass Personen ihr Verhalten und ihre Sachen so einzurichten haben, dass Gefahren nicht entstehen. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht nicht das Verhalten selbst, sondern der Erfolg, der dem Störer in spezifischer Weise zurechenbar sein muss. Beim Verhaltensstörer beruht die Erfolgszurechnung darauf, dass er für die Folgen von Verstößen gegen Verhaltens- und Bewertungsnormen und für gefahrträchtiges Verhalten in der eigenen Risikosphäre einzustehen hat. Größere Bedeutung erlangt das Element der Risikozuweisung beim Zustandsstörer: Geht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung von der Beschaffenheit einer Sache oder ihrer Lage im Raum aus, ist derjenige polizeipflichtig, der für diese Sache als Eigentümer bzw. Inhaber der tatsächlichen Gewalt verantwortlich ist. Legitimiert wird die Risikozuweisung durch den Gedanken des Lastenausgleichs: Dispositions- und Nutzungsbefugnis der potentiell gefährlichen Sache werden dadurch erkauft, dass dem Berechtigten die Risiken der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auferlegt werden. Zurechnungsprinzip ist bei der Verhaltens- und bei der Zustandsverantwortlichkeit die Verursachung der Gefahr. Dabei lösen behördlich genehmigte Verhaltsweisen keine Polizeipflicht aus, weil die Gefahrenabwehr im Wege der Präventivkontrolle erfolgt. Der Inhaber einer gefährlichen Anlage, der sich genehmigungskonform verhält, kann ?ur Gefahrenabwehr nicht wie ein Polizeipflichtiger herangezogen werden. Seinen Beitrag zur Gefahrenabwehr leistet er im Rahmen der Eigensicherung. Die Eigensicherung dient der Abwehr von Gefahren, die der eigenen Anlage drohen. Der Störer wird nicht in die Schranken seines Rechts verwiesen; vielmehr soll sich der Gestörte selbst zur Wehr setzen und auf diese Weise seinen Beitrag zur Gefahrenabwehr leisten. Da die Gefahrenabwehr primär eine polizeiliche Aufgabe ist, ist streitig, in welchem Umfang selbst auf gesetzlicher Grundlage Eigensicherungsaufgaben übertragen werden können7. So hat das Bundesverwaltungsgericht vor einiger Zeit den bewaffneten Werkschutz bei Kernkraftwerken für zulässig erklärt. Zur Abwehr von Ge-

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fahren, die ihre Ursache i n der allgemeinpolitischen Lage haben, äußerte sich das Bundesverwaltungsgericht wie folgt: „Die Abwehr solcher Gefahren ist typischerweise eine öffentliche Aufgabe der Polizei und nicht eine private Angelegenheit des Eigentümers oder Betreibers der Anlage. Das bedeutet indes nicht, daß zur Abwehr einer von Kriminellen ausgehenden Gefahr rechtlich nur der Polizeieinsatz und nicht auch - wie gegenüber sonstigen kriminellen Akten allgemein - Maßnahmen tauglich wären und in Betracht kämen, die von Privaten, insbesondere von potentiellen Opfern solcher Anschläge zu treffen sind. Überdies geht es hier auch nicht darum, daß der Schutz vor kriminellen Akten auf das Kernkraftwerk mit Hilfe des Werkschutzes gänzlich dem Betreiber überlassen, sozusagen privatisiert' werden soll, sondern nur darum, den Schutz der Anlage außer durch baulich-technische Vorkehrungen auch durch organisatorische Maßnahmen bis zum Eintreffen der Polizei zu gewährleisten. Die Alternative zur Verpflichtung des Betreibers zu derartiger ,Eigensicherung' wäre, Polizeibeamte auf dem Betriebsgelände in ständiger Bereitschaft zu halten.... Zwar wäre dies dem Staat nicht verwehrt. Er ist aber von Verfassungs wegen dazu nicht verpflichtet. Zutreffend weist der Oberbundesanwalt darauf hin, daß es neben Kernkraftwerken zahlreiche andere großtechnische Anlagen gibt (z.B. Raffinerien, chemische Fabriken, Lagerstätten für toxische, brennbare oder explosive Stoffe), die ebenso wie Kernkraftwerke durch Anschläge gefährdet sind und für die dann ebenso gefordert werden müßte, daß Polizei auf dem Betriebsgelände ständig einsatzbereit ist. Ob der Gesetzgeber die Objektsicherung auf dem Betriebsgelände gefährdeter oder gefährlicher Anlagen zu einer öffentlichen, durch die Polizei wahrzunehmenden Aufgabe macht oder sie für eine Übergangszeit bis zum Eintreffen der alarmierten Polizei dem ,Hausrecht' des Betreibers überlässt, ist eine Entscheidung, die in seinem - weiten - Ermessen steht. Er darf sie für die besagte Übergangszeit nicht nur dem ,Hausrecht' des Betreibers überlassen, er darf den Betreiber eines Kernkraftwerks sogar verpflichten, dieses ,Hausrecht' in Gestalt eines bewaffneten Werkschutzes zu organisieren, weil sonst der gebotene Schutz vor den Gefahren der Kernenergienutzung nicht zu gewährleisten wäre; § 7 Abs. 2 Nr. 5 AtG ist in diesem Sinne auszulegen". Es liegt auf der Hand, dass diese Ausführungen auf nicht öffentlich zugängliche gefährliche und gefährdete Betriebe zugeschnitten sind, die wie Kernkraftwerke gleichsam Festungscharakter

aufweisen. Für Verkehrsanlagen mit

unüberschaubarem Publikumsverkehr ist auch hinsichtlich der nicht allgemein zugänglichen Bereiche ein bewaffneter Werkschutz nicht geboten, w e i l keine Übergangszeit bis z u m Eingreifen der alarmierten Polizei überbrückt werden muss. I n den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgericht, welche die Eigensicherung i m Flugverkehr betreffen 8 , ist von einem betrieblichen Werkschutz zur Abwehr von Angriffen Dritter nicht die Rede. Die Summe aus dieser

7 Urteil vom 19.1.1989 - 7 C 3 1 . 8 7 N V w Z 1989, 864 = VB1BW 1989,371 unter Berufung auf BVerwG, Urteil vom 4.10.1985 - 4 C 76.82 Buchholz 442.40 § 29 LuftVG Nr. 3. 8 Urteil vom4.10.1985-4 C 76.82, DVB1 1986,360 m. Anm. Schenke = DÖV 1986, 287 = JuS 1986, 599 = JZ 1989, 896 m. Anm. Karpen = NJW 1986, 1626 = ZLW 1986, 63; hierzu Ronellenfitsch , Die Eigensicherung von Verkehrsflughäfen, VerwArch 1986, 435 ff.; Czaja, Eigensicherungspflichten von Verkehrsflughäfen, 1994.

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Rechtsprechung wird vielmehr gezogen in der Grundsatzentscheidung zur Flugsicherheitsgebühr vom 3. März 19949. Dort heißt es: „Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen auch insoweit nicht, als § 29 c Abs. 1 Satz 3 LuftVG die Luftfahrbehörden ermächtigt, die Durchsuchung geeigneten Zivilpersonen als Hilfsorganen zu übertragen, die ,unter ihrer Aufsicht tätig' werden. Der Staat ist nicht gehalten, jede von ihm als erforderlich angesehene Maßnahme durch eigene Dienstkräfte zu erledigen. Er kann sich - soweit dies zweckmäßig ist, eine staatliche Kontrolle gewährleistet bleibt und ein engerer Bereich grundrechtlicher Freiheit unberührt bleibt - zur Erfüllung seiner Aufgaben auch privater Personen bedienen und den Bürger hierauf verweisen ... Die in § 29 c Abs. 1 Satz 3 LuftVG geschaffene Regelung ermöglicht es auch, die Durchsuchungen durch geeignete Zivilpersonen als ,Amtshandlung' im Sinne des § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 13 LuftVG anzusehen."

c) Folgerung § 8 Abs. 1 Nr. 5 LuftSiG lässt sich nicht als Statuierung von Eigensicherungsmaßnahmen rechtfertigen. Die auferlegten Sicherungsmaßnahmen sollen zur aktiven Gefahrenabwehr dienen, sind aber dem Gefährdungspotential inadäquat. Eine adäquate Gefahrenabwehr (Terrorismusbekämpfung) würde den Einsatz des Bundesgrenzschutzes erfordern. Diesen können sich die Betreiber von Verkehrsflughäfen nicht „erkaufen". Das Prinzip „rent a cop" lässt sich schwerlich mit der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland vereinbaren, zumal eine originäre Staatsaufgabe nicht zur Disposition der Beteiligten stehen kann. Unmittelbarer Zwang ist den Betreibern von Verkehrsflughäfen jedenfalls verwehrt. Die bürgerlichen Notwehrrechte und Hausrechtsbefugnisse bleiben weit hinter den polizeilichen Eingriffsbefugnissen zurück. Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Gefahrenabwehr im Luftverkehr eine Staatsaufgabe darstellt, die der Staat mit eigenen Kräften zu erfüllen und gegenüber Dritten durchzusetzen hat. Die Eigensicherungspflicht der Flughafenbetreiber kann in vorläufigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr bestehen, die auf das Hausrecht gestützt sind. Umfassende Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ermöglicht das Hausrecht nicht. Das Hausrecht ändert daher nichts an der grundsätzlichen Geltung des Staats- und Polizeivorbehalts. Eine Übertragung der polizeilichen Aufgabe der Gefahrenwehr auf den Eigensicherungspflichtigen ohne Beleihung ist unzulässig. Ebenso ist es unzulässig, die Eigensicherungspflicht als Polizeipflicht auszugestalten, d. h. den Sicherungspflichtigen in die Rolle eines Störers abzudrängen.

9 4 C 1.93, BVerwGE 95, 188 = Buchholz 442.40 § 32 Nr. 7 = DVB1 1994, 1155 (Ls.)= NVwZ 1994, 1102 = NZV 1994, 378 = ZLW 1995, 232; hierzu Ronellenfitsch, Die Luftsicherheitsgebühr, VerwArch 1995, 307 ff.).

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I V . Ergebnis Durch die Ausgestaltung der Durchsuchung von Personal, mitgefühlten Gegenständen und Fahrzeugen als Eigensicherungsmaßnahme der Betreiber von Verkehrsflughäfen verfehlt das Luftsicherheitsgesetz nicht nur das Ziel der VO 2320 / 2002, die Zivilluftfahrt vor unrechtmäßigen Eingriffen effektiv zu schützen, sondern verstößt gegen das Verfassungsgebot einer effektiven Gefahrenabwehr. Dem Verfassungsrang des Staats- und Polizeivorbehalts wird das Luftsicherheitsgesetz nicht gerecht. Hat aber der Staat nicht alles getan, um Krisensituationen zu vermeiden, die Maßnahmen nach den §§ 13 ff. LuftSiG nötig machen, dann ist das gesamte Gesetz verfassungswidrig.

Rechtmäßige und rechtswidrige Vorratsplanung bei Flughafenneubauten Zugleich ein Beitrag zur Planrechtfertigung und deren Prüfung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren Von Lutz Eiding

I . Einleitende Informationen 1. Luftverkehrliche Rahmenbedingungen in Bezug auf Vorratsplanungen Flughafenausbaumaßnahmen oder die heute eher seltenen Neubauvorhaben gehören zu den umweltrechtlich bedeutsamen Großvorhaben. Auch die Änderung von Verkehrsflughäfen erfolgt regelmäßig auf der Grundlage eines Planfeststellungsverfahrens. Eine bloße Plangenehmigung ist in den meisten Fällen nicht ausreichend. Flughafenneu- oder -ausbauten betreffen regelmäßig eine Vielzahl von Personen im Einwirkungsbereich. Die Zulassungsverfahren sind entsprechend zeitund kostenaufwendig. So verkündete der Präsident des BVerwG in seiner Jahrespressekonferenz vom 10.2.2005, in den insgesamt 4.000 Klagen betreffend den Flughafen Berlin-Schönefeld umfassen alleine die beigezogenen Behördenakten 2.000 Ordner, was „alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt" 1 . Sie bergen erhebliches Konfliktpotential, weil die Zahl der von den negativen Umweltauswirkungen solcher Großprojekte Betroffenen stetig zunimmt. Dies findet seine Ursache in der immer dichteren Besiedlung gerade in den Ballungsräumen, die naturgemäß auch für die Ansiedlung bzw. den Ausbau von Flughäfen attraktiv erscheinen, und in der Zunahme der Umweltbelastungen, die den Flughafenanwohnern zugemutet werden. Dabei ist nicht zu verkennen, dass die technischen Möglichkeiten des aktiven und passiven Lärmschutzes, insbesondere die technische Entwicklung der Fluggeräte im Bereich der Lärmminderung, die Belastung durch einzelne Flugbewegungen deutlich zu reduzieren vermögen. 1

NJW, Heft 10 / 2005, S. XIV.

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„Kompensiert" wird dies allerdings dadurch, dass die Anzahl der Flugbewegungen - auch begünstigt durch die ständige Verbesserung der Verfahren zur Abwicklung des Flugverkehrs - enorm zunimmt. Im Ergebnis werden den Betroffenen also sehr viel mehr Einzelereignisse mit einem für sich genommen geringeren Belästigungsniveau zugemutet. Der Trend zur Zunahme des Luftverkehrs ist ungebrochen. Sowohl im Bereich der Personenbeförderung als auch bei der Luftfracht sind im Schnitt der letzten Jahre drei- bis funfprozentige Steigerungsraten zu verzeichnen. Nach wie vor „in" sind Angebote von Billigfliegern, die ihren Teil zur Steigerung des Verkehrsaufkommens beitragen. Die Werbung für Kurztrips zum Einkaufen in die Metropolen des europäischen Auslands ist allgegenwärtig: „Zum Shoppen nach London oder Paris", „Zum Schuhekaufen nach Mailand" usw. Die Nachfrage nach Flugdienstleistungen steigt. Bedeutet das aber auch, dass der Bedarf steigt? Zu beobachten ist gleichzeitig, dass viele Flughäfen nicht ausgelastet sind. Flughäfen wie Leipzig-Halle oder Augsburg operieren mit einem Auslastungsgrad von ca. 20 % derzeit. Festzustellen ist vielmehr ein Trend zur Konzentration an einigen wenigen Standorten, die dann mit Kapazitätsengpässen zu kämpfen haben, während demgegenüber andernorts - mangels Auslastung - die Grenze zur UnWirtschaftlichkeit gerade bei kleineren (Regional-) Flughäfen häufig bereits überschritten ist, wie deren Geschäftsergebnisse zeigen. Bereits das Flughafenkonzept der Bundesregierung regt deshalb Flughafenkooperationen an, um zu einer besseren Auslastung zu gelangen2. Die oben angerissenen Widerstände, die bei der Realisierung von Großprojekten unvermeidlich sind, lassen es verständlich erscheinen, dass die Projektträger lieber gleich „eine Nummer größer" planen, um sich die Verfahrensprozeduren beim nächsten Ausbau zu ersparen. Unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten erscheint eine solche Vorratshaltung zunächst wenig attraktiv. Andererseits kann auf diese Weise mit verhältnismäßig geringem ( M e h r a u f wand ein wesentlich längerer Zeitraum überbrückt werden als bei einer am tatsächlichen Bedarf orientierten Planung. Rechtlich zulässig ist eine solche echte Vorratsplanung indessen nicht. Dies fuhrt unmittelbar zu der Frage, welche Gründe einen Ausbau (und insbesondere dessen Umfang) zu rechtfertigen vermögen. Die Thematik der „Planrechtfertigung" war bereits Gegenstand eines Vortrags von Gerrit Manssen anlässlich der Dritten Speyerer Planungsrechtstage3 2001. Dort wurden die dogmatischen Grundlagen der Planrechtfertigung, deren Berücksichtigung in den 2

Flughafenkonzept vom 30.8.2000, S. 46. In: „Flughafenplanung, Planfeststellungsverfahren, Anforderungen an die Planungsentscheidung", in: Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 149, 2001, S. 307. 3

Rechtmäßige und rechtswidrige Vorratsplanung bei Flughafenneubauten

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Ausbaugesetzen4 und die dazu ergangene Rechtsprechung des BVerwG ausführlich vorgestellt. Die Frage nach der Zulässigkeit einer Angebotsplanung oder einer Bevorratungsplanung (bzw.: „Vorratsplanung") ist eng mit dem Gesichtspunkt der „Planrechtfertigung" verknüpft. Die Planrechtfertigung „legitimiert" ein Vorhaben im Hinblick auf die rechtlichen und tatsächlichen Beeinträchtigungen Dritter. Eine bei Flughafenausbauten häufig gestellte Frage lautet daher: Ist daher die Planrechtfertigung noch gegeben, wenn eine Vorrats- oder Angebotsplanung vorliegt ? Zunächst ist deshalb zu klären, was unter den Begriffen der Angebots- und Bevorratungsplanung zu verstehen ist, in welchem Zusammenhang sie zur Planrechtfertigung stehen und welche Bedeutung ihnen zukommt, wenn es um die Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit eines Planfeststellungsbeschlusses geht.

2. Problemaufriss Häufiger Streitpunkt bei Flughafenausbaumaßnahmen ist die Frage, ob ein Vorhaben nicht nur dem Grunde nach, sondern bezogen gerade auf seine konkrete Ausgestaltung, d. h. auch dem Umfang nach, erforderlich ist. Daraus ergeben sich folgende Fragen, denen mit diesem Beitrag nachgegangen werden soll: •

Welche Bedeutung hat es im Rahmen des materiell-rechtlichen Prüfprogramms, wie sich die technische Kapazität und der Bedarf zueinander verhalten ?



Ist die Frage nach dem konkreten Bedarf eines Vorhabens nicht nur dem Grunde, sondern auch dem Umfang nach richtigerweise eine Frage der Planrechtfertigung oder (lediglich) der Abwägung ?

Es gibt eine Reihe von Parallelen zwischen dem Luftverkehrsrecht und dem Verkehrswegerecht. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass auch wesentliche Unterschiede bestehen, die in Teilbereichen eine abweichende Beurteilung nahe legen. Der Verkehrswegebau ist nahezu ausschließlich im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge anzusiedeln; demgegenüber spielt dieser Gesichtspunkt zwar auch bei Flughäfen eine Rolle. Verkehrsflughäfen und -landeplätze sind nach der in § 38 Abs. 2 Nr. 1 und in § 49 Abs. 2 Nr. 1 LuftVZO enthaltenen Definition dazu bestimmt, dem allgemeinen Verkehr als Teil der Daseinsvorsorge zu dienen. Ganz maßgeblich kommt im Bereich des Luftverkehrs aber noch eine unternehmerische Komponente hinzu. Bei der Errichtung von Flughä-

4

Z.B. § 1 Abs. 2 FStrAbG.

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fen geht es nicht allein um die Bewältigung des Verkehrsbedarfs; häufig spielen auch regionalpolitische Aspekte eine Rolle. Flughafenbetreiber - auch bei i. d. R. einer Beteiligung der öffentlichen Hand - streiten um Marktanteile und konkurrieren um Passagiere und Fracht. Dabei greifen sie steuernd ein, um den „Bedarf 4 (eigentlich die Nachfrage) für „ihren" Flughafen zu steigern, d. h. ihren Marktanteil zu erhöhen. Hierzu gehört die Schaffung von Standortvorteilen, um die Attraktivität des Standorts zu erhöhen. Anders etwa als im Bereich des Straßen- oder Schienenverkehrs besteht zwischen den Flughafenbetreibern eine Wettbewerbsituation, d. h. sie konkurrieren um Marktanteile, indem sie versuchen, einen möglichst hohen Anteil am Gesamtpassagier- und Frachtaufkommen an sich zu binden. Dabei spielen selbstverständlich regionale Aspekte insoweit eine Rolle, als etwa ein Passagier aus dem Ruhrgebiet, der eine Fernreiseverbindung sucht, eher im näheren Umkreis startet, als etwa eine Flugverbindung im süddeutschen Raum auszuwählen, bei der er eine längere Anreisezeit in Kauf nehmen müsste. Angesichts eines Einzugsgebiets von 200-250 km, die ein Großflughafen hat, dürften aber ausgehend von nahezu allen Orten im Bundesgebiet jeweils mehrere Flughäfen als Startpunkt eines solchen fiktiven Passagiers in Betracht kommen; auch für den Passagier im Regionalverkehr dürfte nicht selten eine Wahlmöglichkeit zwischen mindestens zwei Flughäfen in Betracht kommen. Verschärft wird die Situation derzeit dadurch, dass Billiganbieter von Flugreisen mit ihren Angeboten große Passagiermengen „anlocken". Folge ist, dass Überkapazitäten entstehen, die den tatsächlichen Bedarf bei Weitem übersteigen. Dabei ist die Verwendung von „Dumping-Preisen" ein gängiges Mittel im Wettbewerb, um zunächst die Konkurrenten auszuschalten und im Ergebnis den eigenen Marktanteil zu steigern. Dies mag vorübergehend bei den jeweiligen Flughäfen zu einer wesentlich erhöhten Nachfrage fuhren, die jedoch gerade nicht bedarfsorientiert, sondern eher eine Nebenerscheinung des Wettbewerbs der Fluglinien / der Flughäfen ist. Im Ergebnis fuhrt dies im „bereinigten" Markt nach Wegfall des künstlich induzierten „Bedarfs" dazu, dass massiv Überkapazitäten bestehen, die unter Einsatz meist öffentlicher Mittel geschaffen wurden. Deutlich wird dies im Bereich der Luftfracht, wo wenige Anbieter mit jeweils hohen Anteilen den größten Teil des Marktes bedienen. Ein bundesweites Flughafenkonzept, das der skizzierten Entwicklung wirksam begegnen könnte, ist noch nicht in Sicht. Das bestehende Konzept der Bundesregierung vom 31.8.2000 enthält viel versprechende Ansätze, ermöglicht es aber - wie die Erfahrung zeigt - nur bedingt, steuernd einzugreifen. Es ist absehbar, dass im Verdrängungswettbewerb einige Flughäfen „auf der Strecke bleiben" werden, d. h. dort enorme Überkapazitäten bestehen, die im Vertrauen darauf, Marktanteile zu erringen, geschaffen wurden, während sich diese Hoffnung aber letztlich nicht erfüllt hat. Es stellt sich die Frage, welche

Rechtmäßige und rechtswidrige Vorratsplanung bei Flughafenneubauten

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Bedeutung dieser Gesichtspunkt bei der materiell-rechtlichen Prüfung von Planfeststellungsbeschlüssen hat.

3. Begriffsdefinition Zunächst sollen einige wichtige Begriffe, die in der Diskussion immer wieder auftauchen, vorgestellt werden. Dies erscheint notwendig, weil diese Begriffe nicht immer einheitlich verwendet werden und ihr Inhalt nicht klar definiert ist. Auch in der fachplanungsrechtlichen Literatur finden sich keine einheitlichen Definitionen. •

Angebotsplanung ,Angebotsplanung" ist eine Planung, die nur die Befugnis zur tatsächlichen Verwirklichung eröffnet, aber insoweit keine Verpflichtung begründet. Ein Bebauungsplan stellt eine klassische Angebotsplanung dar 5. Demgegenüber ist eine Planfeststellung (z. B. i. S. d. FStrG) Objektplanung und auf baldige Umsetzung angelegt. Dies ist nur einer von mehreren strukturellen Unterschieden zwischen Planfeststellungen und „echten" Planungen (z. B. der Bauleitplanung)6. Die Planfeststellung ist regelmäßig auf ein konkretes Vorhaben zugeschnitten und daher am ehesten mit einem vorhabenbezogenen Bebauungsplan vergleichbar.



Vorratsplanung Unter dem Begriff „Vorratsplanung" versteht das BVerwG eine Planung, die verfrüht ist, weil sie nicht innerhalb eines absehbaren Zeitrahmens realisiert werden kann oder soll 7 . Im Rahmen eines planfestgestellten Straßenbauprojekts wird regelmäßig eine 10-jährige Frist für die Realisierung zu Grunde gelegt; diese Frist kann in etwa auch herangezogen werden, wenn es um ein Straßenbauprojekt geht, das auf einem Bebauungsplan beruht 8. Besteht in angemessenem zeitlichen Horizont keine Aussicht auf Verwirklichung, liegt eine unzulässige Vorratsplanung vor. Charakteristisch für die Vorratsplanung ist, dass sie nicht am bestehenden oder in einem angemessenen zeitlichen Horizont erwarteten Bedarf orientiert ist.



Nachfrage und Bedarf Nachfrage und Bedarf sind - anders als in der betriebswirtschaftlichen Betrachtung üblich 9 - nicht gleichzusetzen. „Bedarf 4 kann als gedankliches

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BVerwG, Urt. vom 26.8.1993 - 4 C 24.91, BVerwGE 94, 100. Zu den strukturellen Unterschieden im Einzelnen: Jarass , DVB1 1998, 1202, 1203. Vgl. z.B. BVerwG, Urt. vom 24.11.1989 - 4 C 41.88, BVerwGE 84, 123, 128. BVerwG, Beschl. vom 18.3.2004 - 4 CN 4.03, NVwZ 2004, 856. Vgl. Bernsdorf Wörterbuch der Soziologie, S. 80 f.

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Zwischenglied zwischen dem Bedürfnis und der Nachfrage verstanden werden. Ist ein Individuum mit ausreichend Kaufkraft ausgestattet, wird ein Bedarf zur Nachfrage, sobald dieser über den Markt gedeckt werden soll. „Bedarf" soll hier aber in einem engeren Sinn verstanden werden, indem darin noch eine objektive Wertvorstellung enthalten ist. Bedarf ist nur derjenige Anteil der Nachfrage, der objektiv zur Erreichung eines bestimmten Ziels benötigt wird, hier der Erfüllung des öffentlichen Verkehrsbedürfnisses. Damit ist nicht allein das individuelle Mobilitätsbedürfnis gemeint, sondern das allgemeine Verkehrsbedürfnis, unter Berücksichtigung solcher Faktoren (Umweltbelastungen), die gerade gegen eine unbegrenzte Mobilität sprechen. Die Erfüllung des Mobilitätsbedürfnisses ist lediglich ein volkswirtschaftliches Ziel neben vielen anderen Zielen, die ebenso berechtigt sind, aber dem gerade entgegenwirken können (z. B. Schutz vor Lärmbelastungen, Minimierung der Umweltbeeinträchtigungen usw.). Mobilität ist demnach nur eines einer Vielzahl von Gütern, die erstrebt werden, also der objektive Bedarf gerade der Menge am Gut „Mobilität, die benötigt wird, das Maximum an Gesamtnutzen zu erreichen". Eine solche einschränkende Betrachtungsweise des Bedarfsbegriffs erscheint m. E. in diesem Zusammenhang angebracht und auch gerechtfertigt, weil Maßstab gerade (und nur) die Zielsetzungen des Fachplanungsrechts sind. •

Planrechtfertigung / Bedarf - Bedarfsprüfung Die Prüfung der Planrechtfertigung soll nach gängiger Meinung nur ein grobes Raster darstellen, das ein erstes Plausibilitätsurteil über die Zielkonformität eines Vorhabens beinhaltet10. Eine Planrechtfertigung ist dann gegeben, wenn für die Planung nach Maßgabe der Fachgesetze ein Bedürfnis besteht. Erforderlichkeit setzt nicht voraus, dass ein Vorhaben unausweichlich notwendig ist, sondern dass es „vernünftigerweise geboten ist". Eine Planung muss allgemein den Zielen des einschlägigen Fachplanungsrechts entsprechen und das konkrete Vorhaben dem Ziel mit hinreichender Plausibilität dienen11 (Zielkonformität). Lediglich grobe und einigermaßen offensichtliche Missgriffe stellen deshalb nach der Rechtsprechung des BVerwG die Planrechtfertigung in Frage 12. Im Fernstraßen- / Schienenverkehrsrecht ergibt sich dieses Bedürfnis aus der Aufnahme eines Vorhabens in den Bedarfsplan. Die gesetzliche Feststellung 10

Wolf /Bachof/ Stober, Verwaltungsrecht, § 62 V 1 Rn. 141 m. w. N. BVerwG, Urt. vom 7.7.1978 - 4 C 79.76, BVerwGE 56, 110 - Startbahn-West, Flughafen Frankfurt / Main; BVerwGE 71, 166, 168; Urt. vom 8.7.1998 - I I A 53.97, BVerwGE 107, 142 - Flughafen Erfurt. 12 BVerwG, Urt. vom 3.6.1971 - IV C 64.70, BVerwGE 38, 152, 157; OVG Koblenz, Urt. vom 5.8.2004 - 1 A 11787 / 03, NuR 2005, 53. 11

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der Zielkonformität bedeutet, dass allein mit der Aufnahme in den Bedarfsplan verbindlich festgelegt ist, dass ein Vorhaben im Sinne der Planrechtfertigung „erforderlich" ist. In Ermangelung eines bundeseinheitlichen Flughafenkonzeptes oder gar entsprechender gesetzlicher Regelungen ist die Planrechtfertigung im luftverkehrsrechtlichen Planfeststellungsverfahren zu prüfen. •

Kapazität (im Luftverkehrsrecht) 13 Es ist zu differenzieren zwischen der luftseitigen und der landseitigen Kapazität eines Flughafens. Die luftseitige Kapazität wird bestimmt durch das Start- und Landebahnsystem, die Rollbahnen und die Vorfelder. Die landseitige Kapazität umfasst die Anlagen zur Abfertigung des Passagier- bzw. Frachtverkehrs (z. B. Terminal, Frachtumschlaganlagen usw.). Wenn im Folgenden im Zusammenhang mit Flughäfen die Kapazität angesprochen wird, meint dies immer die luftseitige Kapazität. Diese bestimmt letztlich die Maximalauslastung einer Anlage 14 und ist stets Grundlage für die rechtliche Beurteilung der Betroffenheit.

Die Begriffe ,Angebotsplanung" und „Vorratsplanung" werden nicht immer trennscharf verwendet. Unter den Begriff der Angebotsplanung fasst der VGH München auch eine Planung, welche eine noch nicht vorhandene Nachfrage durch das mit der Planung bezweckte Angebot erst hervorruft 15. Sieht man im Begriff der ,Angebotsplanung" in erster Linie den Gegensatz zur „Objektplanung", d. h. beide Begriffe somit als ein zusammenhängendes Begriffspaar, schließt dies nicht aus, auch eine Planung, die darauf abzielt, einen Bedarf erst zu induzieren, als Vorratsplanung in dem o. g. Sinne zu charakterisieren, was m. E. eher überzeugt, da eine Begriffsunschärfe zwischen Angebotsplanung und Objektplanung so vermieden wird. Im vorgenannten Fall kommt man zu praxisgerechten Lösungen, wenn zwischen rechtmäßiger und rechtswidriger Vorratsplanung unterschieden wird.

13 Hierzu eingehend: Wysk, , in: Aktuelle Rechtsfragen des Ausbaus von Verkehrsflughäfen, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 149, 2001, S. 28, 30 ff. 14 Die Schutzbedürftigkeit der Anlieger orientiert sich allerdings nicht an der technisch möglichen Gesamtkapazität, sondern in erster Linie an der künftig prognostisch ermittelten tatsächlichen Nutzung, VGH München, Urt. vom 20.5.2003 - 20 A 02.4001 m.w.N. Welche Bedeutung einer solchen Sichtweise in diesem Zusammenhang zukommt, wird unten näher erläutert. 15 VGH München, Beschl. vom 3.12.2002 - 20 A 01.40019 ua, NuR 2004, 175.

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4. Beispiele konkreter Ausbauplanungen und sich (dort wie anderswo) stellende Fragen Anhand von drei aktuellen Beispielen aus dem Luftverkehrsrecht soll die Problematik verdeutlicht werden. a) Berlin-Schönefeld Mit Planfeststellungsbeschluss vom 13.8. 2004 wurde der Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld zugelassen. Gegen diesen Planfeststellungsbeschluss sind ca. 4.000 Klagen anhängig. Auch um die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klagen wurde vor dem BVerwG gestritten und diese im April 2005 angeordnet. Gegenstand des PFB sind die Errichtung einer weiteren Start- / und Landebahn sowie umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen zur Erweiterung der landseitigen Kapazität und der Anbindung an das Schienen- und Straßennetz. Mit dem Ausbau soll das seitherige Berliner Flughafensystem bestehend aus den Flughäfen Berlin-Schönefeld, Berlin-Tempelhof und Berlin-Tegel durch den Internationalen Großflughafen Berlin-Schönefeld B B I als Single-Standort abgelöst werden. Das Vorhaben ist nach der Ansicht der Flughafengegner bei weitem überdimensioniert, da es nach der Ausgestaltung der luftseitigen Einrichtungen die Bewältigung eines Passagier- und Frachtaufkommens zulässt, das weit über dem für den Prognosehorizont Erwarteten liegt. Im Folgenden soll unterstellt werden, dass - was von der Planfeststellungsbehörde und der Betreibergesellschaft bestritten wird - tatsächlich eine wesentliche Überdimensionierung vorliegt. Daraus ergibt sich die Frage: Ist ein Vorhaben i. S. d. Rspr. „vernünftigerweise geboten", das Kapazitäten schafft, die in einem angemessenen Prognosehorizont gar nicht benötigt werden? b) Leipzig-Halle Gegenstand des am 4. 11. 2004 ergangenen PFB zum Ausbau des Flughafens Leipzig-Halle ist die Errichtung einer neuen Südpiste (einschließlich Änderung der Ausrichtung zur bestehenden zweiten SLB) als Ersatz für eine bestehende aber baufällige und daher nicht voll nutzbare Piste. Ziel des Ausbaus ist es, einen Fracht-HUB zu errichten und ein Luftfrachtdrehkreuz am Standort zu etablieren. Hintergrund der Ausbaupläne war die Absicht der DHL, ihr derzeitiges Frachtzentrum nahe Brüssel zu verlegen. Hinzu kam die seit langem anhaltende Diskussion um Nachtflugbeschränkungen am Rhein-Main-Flughafen in Frankfurt und eine damit einhergehende zukünftige Verlagerung des dort derzeit ab-

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gewickelten Frachtverkehrs zur Nachtzeit. Im Zeitpunkt der Antragstellung bestand allerdings keinerlei konkrete Zusage eines Frachtdienstleisters, das geplante Drehkreuz tatsächlich auch zu nutzen. Die DHL stand vielmehr nach eigener Aussage gleichzeitig in Verhandlungen mit zwei weiteren Flughäfen. Insgesamt konkurrierten damit drei Standorte gleichzeitig um den Zuschlag der DHL, ein neues Frachtzentrum zu errichten. Erst im weiteren Verlauf des Verfahrens, unmittelbar vor Ergehen des Planfeststellungsbeschlusses, hat sich die Auswahlentscheidung des Investors auf den Standort Leipzig-Halle verdichtet. Fragen: Kann das bloße Interesse eines Unternehmens an einem Ausbau, das im Falle einer späteren positiven Unternehmensentscheidung für einen Standort erst einen Ausbau erfordert, bereits eine Planrechtfertigung bilden? Dies hätte im Beispielsfall zur Konsequenz, dass allen drei Bewerbern (Flughäfen) ein und dasselbe Vorhaben als Rechtfertigung der Planungen dienen könnte, obwohl gleichzeitig aber klar ist, dass sich diese bei zwei Flughäfen nach der konkreten Standortentscheidung als bloße nicht erfüllte Erwartung erweist. Unter welchen Voraussetzungen erreicht die Absicht eines Investors ein solches Maß an Verbindlichkeit, dass vom Vorliegen eines tatsächlichen Bedarfs ausgegangen werden kann, der die Planrechtfertigung unter Berücksichtigung der fachplanerischen Zielsetzung bildet? c) Augsburg Gegenstand des PFB vom 15. 2. 2002 war der Ausbau des Verkehrslandeplatzes Augsburg 16 . Geplant war ursprünglich u. a. die Optimierung der bestehenden Start- und Landbahn durch den beidseitigen Anbau, die Anpassung und Erweiterung des Rollbahnsystems (Hinführung zu den neuen Bahnenden) sowie die Erweiterung / der Neubau von drei Vorfeldflächen. Der ursprüngliche Antrag wurde im Laufe des Gerichtsverfahrens eingeschränkt, so dass die ursprünglich vorgesehene Verlängerung der Start- und Landebahn im Hinblick auf das verbleibende Ziel des Umbaus nicht mehr zwingend erforderlich war. Frage: Ist ein beantragter Ausbau noch gerechtfertigt, wenn die ursprüngliche Zielsetzung durch eine spätere Antragsänderung (ein Minus gegenüber dem Erstantrag) entfällt und der ursprünglich vorgesehene Ausbau für die Erreichung des neuen (verbleibenden) Ziels nicht mehr (in vollem Umfang) erforderlich ist?

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VGH München, Urt. vom 20.5.2003 - 20 A 02.40015.

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I I . Fachplanungsrechtliche Rahmenbedingungen 1. Materiell-rechtliches Prüfprogramm bei Planfeststellungsbeschlüssen Planerische Gestaltungsfreiheit ist nicht gleichbedeutend mit Schrankenlosigkeit. Jede Planung ist rechtlichen Bindungen unterworfen. Materielle Schranken der Planungsbefugnis ergeben sich aus einer Vorabbindung durch vorgelagerte Planungsentscheidungen - soweit das Fachplanungsrecht solche vorsieht dem Erfordernis der Planrechtfertigung, zwingenden Rechtsvorschriften 17 des Fachplanungs- und des Verwaltungsverfahrensrechts sowie abwägungsleitenden Rechtsvorschriften 18 und dem Abwägungsgebot. Die verwaltungsgerichtliche Prüfung erfolgt - entsprechend der genannten bindenden Kriterien - stufenwei-

2. Angebots- / Vorratsplanung und Planrechtfertigung Liegt einem Vorhaben die Absicht zu Grunde, ein neues Angebot zu schaffen, liegt darin auch eine Art Vorratsplanung. Denn ein solches Vorhaben dient nicht der Bedarfsdeckung. Es bezweckt vielmehr, durch die Schaffung eines bestimmten Angebots die Nachfrage erst zu induzieren. Es werden Kapazitäten geschaffen und vorgehalten, um die dadurch erst später induzierte Nachfrage zu befriedigen. Wenn im Folgenden von „Vorratsplanung" die Rede ist, meint dies stets eine Planung, welche (in zulässiger oder unzulässiger Weise) über den konkreten Bedarf, wie er auf der Basis einer Prognose selbst bezogen auf einen künftigen Zeitpunkt dargelegt wurde, hinausgeht. Im Fall einer Planung, die darauf abzielt, einen seither nicht bestehenden Bedarf erst hervorzurufen, ist eine Prognose des erwarteten Bedarfs regelmäßig problembehaftet, weil sich eine solche Prognose naturgemäß nicht auf die seitherige Entwicklung am Standort etwa auch im Vergleich zur allgemeinen (Verkehrs- / Wirtschafts-)Entwicklung beziehen kann.

17 Der früher häufig verwendete Begriff der „Planungsleitsätze", der nur strikt zu beachtende Regelungen meinte, ließ es an der notwendigen Eindeutigkeit vermissen und wird heute in diesem Zusammenhang auch vom BVerwG nicht mehr verwendet, vgl. hierzu Wolf /Bachof /Stober, Verwaltungsrecht, § 62 V I Rn. 146 m.w.N.; Paetow, in: Kunig / Paetow / Versteyl, KrW- / AbfG, 2. Aufl. 2003, § 32 Rn. 59. 18 Z.B. Optimierungsgebote oder Grundsätze der Raumordnung. 19 BVerwG, Urt. vom 7.7.1978 - 4 C 79.76, BVerwGE 56, 110 - Startbahn-West, Flughafen Frankfurt / Main.

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Eine unzulässige Vorratsplanung ist daher z. B. im Bauplanungsrecht anzunehmen, wenn der Planungsträger - etwa um sich eine eigene Planung vorzubehalten - zur Verhinderung eines konkreten Vorhabens eine Veränderungssperre erlässt, ohne selbst hinreichend konkrete Planungsabsichten zu hegen. Eine planende Gemeinde kann sich durch einen Bebauungsplan die konkrete Entscheidung nicht für einen völlig unbestimmten Zeitraum offen halten; das wäre mit dem Sinn der Bauleitplanung unvereinbar 20. Einer Planung kommt erst dann rechtliche Bedeutung zu, wenn sie einen bestimmten Konkretisierungsgrad erreicht hat. Andernfalls ist sie nicht schutzwürdig, so dass sie nicht in der Lage ist, gegenteilige Planungen zu verhindern. Ebenso wenig kann eine solche Planung Eingriffe in Rechte Dritter - etwa betroffener Grundstückseigentümer rechtfertigen. Nichts anderes kann für Planungen gelten, die vollkommen losgelöst vom (prognostizierten) Bedarf sind. Dies mag für die Konversion bestehender Flughäfen nicht in gleicher Weise zu beurteilen sein, weil die Einrichtungen in diesem Fall schon bestehen, wenngleich mit ganz anderen Verkehren, als den geplanten zivilen. Soweit es den Neubau oder wesentlichen Ausbau von Flughäfen betrifft, ist eine vom Bedarf unabhängige Betrachtung jedenfalls nicht sachgerecht. Ist die Entstehung von „Investitionsruinen" oder eines „Planungstorsos" 21 zu befürchten, ist ein solches Vorhaben fachplanungsrechtlich nicht „vernünftigerweise geboten". Dies gilt für Vorhaben, die zu einer Überdeckung des Bedarfs fuhren ebenso wie für Planungen, die nicht ein Mindestmaß an realitätsnaher Konkretisierung aufweisen. Andererseits steckt in jeder Prognose ein Unsicherheitsfaktor, d. h. es kann keine Gewissheit hinsichtlich der Realisierung verlangt werden. Es stellt sich daher die Frage, wo im Einzelnen die Grenze der zulässigen Vorratsplanung überschritten ist, d. h. unter welchen Voraussetzungen ein etwaiger Mangel an Konkretisierung dazu führt, dass eine unzulässige Vorratsplanung anzunehmen ist. Meines Erachtens liegt immer dann eine (noch) zulässige Vorratsplanung vor, wenn das in der Verkehrsprognose dargestellte Wachstum an Flugbewegungen widerspruchsfrei abgeleitet werden kann, während eine (bereits) unzulässige Vorratsplanung anzunehmen ist, wenn die Annahmen und damit Ergebnisse der Prognose widersprüchlich sind und damit wegen Verstoßes gegen die Aufstellungsregeln letztlich wirklichkeitsfremde Erwartungen i. S. v. Hoffnungen darstellen. Das BVerwG hat zuletzt ausdrücklich festgestellt, dass ein Vorhaben im Fall einer Vorratsplanung bereits auf der Ebene der Planrechtfertigung scheitern

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OVG Lüneburg, Urt. vom 15.3.2001 - 1 K 2405 / 00, BauR 2002, 51. Teilabschnitt einer Straße, der „auf der grünen Wiese" endet: BVerwG, Urt. vom 25.1.1996 - 4 C 5.95, BVerwGE 100, 238. 21

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kann und es (zusätzlich) an einem nicht überwindbaren Abwägungsfehler leidet: „... In einem derartigen Fall fehlt es an der Planrechtfertigung. Jedenfalls hat eine solche Planung kein hinreichendes Gewicht, um sich gegen gegenläufige Belange durchzusetzen" 22. In älteren Entscheidungen des BVerwG war die Auffassung vertreten worden, dass die Dimensionierung keine Frage der Planrechtfertigung, sondern der Abwägung sei 23 . Allerdings ist auch seit langem anerkannt, dass die Entscheidung über die Dimensionierung einer Fernstraße Bestandteil der verbindlichen Bedarfsfeststellung ist 24 und insoweit unter dem Aspekt der Planrechtfertigung Einwände nur ausnahmsweise unter der Annahme einer gesetzgeberischen Fehlleistung geltend gemacht werden können, die mit dem Verfassungsrecht unvereinbar wäre.

3. Bedeutung der Planrechtfertigung im Prüfungsschema Planungsentscheidungen sind dadurch charakterisiert, dass den Behörden ein planerischer Entscheidungsspielraum eingeräumt ist, weil Planung ohne Gestaltungsspielraum 25 ein Widerspruch in sich wäre 26 . Ihrem Gegenstand nach erstreckt sich eine Planungsentscheidung umfassend auf alle planerischen Gesichtspunkte, die zur - möglichst optimalen - Verwirklichung der gesetzlich vorgegebenen Planungsaufgabe, aber auch zur Bewältigung der von dem Planvorhaben in seiner räumlichen Umgebung aufgeworfenen Probleme von Bedeutung sind 27 . Die praktische Bedeutung der Prüfung der Planrechtfertigung ist nur gering 28 , weil ihr eben nur die Funktion einer „ Grobprüfung " beigemessen wird. Kaum einem Vorhaben kann die Planrechtfertigung nach diesen Maßstäben ab-

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BVerwG, Urt. v. 24.9.2003 - 9 A 69 / 02, NVwZ 2004, 340 - Anhalter Bahn Ber-

lin. 23 BVerwG, Urt. vom 5.12.1986 - 4 C 13.85, BVerwGE 75, 214, 238 - Flughafen München II; vgl. auch: Steinberg/Berg/ Wickel, Fachplanung, 3. Aufl., S. 200 m.w.N. 24 BVerwG, Urt. vom 26.3.1998 - 4 A 7.97, NuR 1998, 605 - A 241 Schwerin; BVerwG, Urt. vom 20.5.1999 - 4 A 12.98, NVwZ 2000, 555 - A 93 Ostumgehung Hof. 25 Zum Wesen der planerischen Gestaltungsfreiheit: Sendler, in: Festschrift für Schlichter, 1995, S. 55 ff. 26 Grundlegend: BVerwG, Urt. vom 12.12.1969 - IV C 105.66, BVerwGE 34, 301; BVerwG, Urt. vom 14.2.1975 - IV C 21.74, BVerwGE 48, 56 - „ B 42-Entscheidung" 27 BVerwG, Urt. vom 7.7.1978 - 4 C 79.76, BVerwGE 56, 110 - Startbahn-West, Flughafen Frankfurt / Main; BVerwG, Urt. vom 29.1.1991 - 4 C 51.89, BVerwGE 87, 332. 28 Steinberg, Festschrift für Schlichter, 1995, 599, 605; Jarass, DVB1 1998, 1202, 1205.

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gesprochen werden; Beispiele in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung bilden daher die Ausnahme29.

4. Notwendigkeit der Differenzierung, auf welcher Verfahrensstufe die Planrechtfertigung geprüft wird Welche praktische Bedeutung hat es, ob die „Planrechtfertigung" auf einer gesonderten Prüfungsstufe, die der Abwägung vorgelagert ist, oder erst im Rahmen der Abwägung einer gerichtlichen Kontrolle unterzogen wird? In welchem Prüfungsschritt eine gerichtliche Prüfung erfolgt, hat praktische Bedeutung im Hinblick darauf, dass die Planrechtfertigung der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt , während die Abwägung lediglich daraufhin geprüft werden kann, ob der Behörde Abwägungsfehler unterlaufen sind. Bei einer der Abwägungskontrolle vorgelagerten Frage, ob ein Vorhaben eine Planrechtfertigung aufweist, handelt es sich nicht um eine Frage des zu beachtenden Planungsermessens, sondern um eine dem kontrollierenden Gericht umfassend zur Prüfung eröffnete Rechtsfrage. Praktisch beschränkt sich die Kontrollmöglichkeit allerdings darauf, ob der mit dem Vorhaben verfolgte Zweck im Rahmen der fachgesetzlichen Vorgaben liegt, d. h., ob im Hinblick auf die Zielsetzung ein Bedarf besteht. Im Bereich der Verkehrswegeplanung wird die gerichtliche Kontrollmöglichkeit dadurch eingeengt, dass der Bedarf durch den Bedarfsplan bereits verbindlich festgestellt worden ist. Hinzu kommt, dass Abwägungsfehler nach ständiger Rechtsprechung nur dann zur Aufhebung eines PFB führen, wenn sie offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind. Eine Abwägungsentscheidung kann nur im Hinblick daraufhin überprüft werden, ob Abwägungsfehler vorliegen. Die Kontrolle ist darauf beschränkt, ob das Abwägungsmaterial zutreffend und vollständig ermittelt wurde, ob die Belange angemessen gewichtet wurden und ob die Abwägung der Belange entsprechend ihrem Gewicht erfolgt ist. Auch erhebliche Fehler der Abwägung fuhren nur dann zur Aufhebung des PFB, wenn sie nicht durch Planergänzung oder ein ergänzendes Verfahren behoben werden können. D. h., auch erhebliche Abwägungsmängel haben nur dann die Aufhebung des PFB zur Folge, wenn sie den Kern der Planung berüh-

29 BVerwG, Urt. vom 7.7.1978 - 4 C 79.76, BVerwGE 56, 110 - Startbahn-West, Flughafen Frankfurt / Main: Zurückverweisung, weil die Prognose der Spitzenbelastung nicht den Anforderungen entsprach; an der Planrechtfertigung fehlt es auch, wenn die Finanzierbarkeit schlechthin unmöglich ist, BVerwG, Urt. vom 20.5.1999 - 4 A 12.98, NVwZ 2000, 555 - A 93 Ostumgehung Hof. 30 Z.B. § 10 Abs. 8 LuftVG; vergleichbare Regelungen enthalten u.a. auch das FStrG und das AEG.

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Unter Rechtsschutzgesichtspunkten spielt es somit eine Rolle, wo die Prüfung der Planrechtfertigung zu verorten ist. a) Literatur Die Planrechtfertigung als eigene Prüfungsstufe ist nicht unumstritten, denn sie stelle so geringe Anforderungen an die Erforderlichkeit, dass ein Vorhaben der öffentlichen Infrastruktur daran kaum scheitern könne. Die Zielkonformität könne daher auch im Rahmen der Abwägung geprüft werden. Ein Vorhaben, dem es an einer ausreichenden Planrechtfertigung fehle, stelle sich regelmäßig auch als abwägungsfehlerhaft dar 31 . Für eine gesonderte Beurteilung einer Planung im Hinblick auf seine Planrechtfertigung auf einer frühen Stufe der Prüfung werden demgegenüber vor allem prüfungsökonomische Gründe angeführt 32 , die m. E. nach dem bisher Gesagten die bessere Überzeugungskraft besitzen. Die Feststellung, die Planrechtfertigung könne als eigenständiger Prüfungsschritt aufgegeben und die Rechtfertigung stattdessen im Rahmen der Abwägung geprüft werden 33 , erscheint in Anbetracht des oben Gesagten daher nicht pauschal zutreffend 34. Auch nach dieser Meinung verbleiben jedenfalls erhebliche Unschärfen bei der Abgrenzung dessen, was noch unter dem Gesichtspunkt der Planrechtfertigung zu prüfen ist 35 . b) Rechtsprechung In der Rechtsprechung des BVerwG dagegen wird hervorgehoben, dass bei fachplanerischen Entscheidungen zwischen der Planrechtfertigung und der Abwägung zu unterscheiden ist und dies Auswirkungen gerade im Hinblick auf die jeweilige gerichtliche Kontrolle hat 36 . 31 Darstellung des Meinungsstandes bei Fouquet, VerwArch. 1996, 212, 221 f., 232; vgl. auch Kopp /Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl. 2005, § 74 Rn. 31. 32 Niehues, WiVerw. 1985, 250 f. 33 Jarass, DVB1 1998, 1202, 1205; Paetow, in: Kunig / Paetow / Versteyl, K r W - / AbfG, 2. Aufl. 2003, § 32 Rn. 58 zur abfallrechtlichen Planfeststellung. 34 Gegen die Annahme, dass das, was unter „Planrechtfertigung" geprüft wird, lediglich ein Abwägungsproblem ist: Manssen, in: Flughafenplanung, Planfeststellungsverfahren, Anforderungen an die Planungsentscheidung'4, 2001, Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 149, S. 307, 310. 35 Jarass, DVB1 1998, 1202, 1204. 36 BVerwG, Beschl. vom 5.10.1990 - 4 B 249.89, NVwZ-RR 1991, 118 - Flughafen Stuttgart; BVerwG, Urt. vom 11.7.2001 - H C 14.00, Buchholz 442.40 § 8 LuftVG Nr. 19 unter ausdrücklicher Kritik der Vermengung der Prüfung der Planrechtfertigung mit der Abwägungskontrolle der vorinstanzlichen Entscheidung des OVG Koblenz, Urt.

Rechtmäßige und rechtswidrige Vorratsplanung bei Flughafenneubauten

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5. Maßstab bei der Prüfung der Planrechtfertigung Ein Vorhaben ist dann nicht vernünftigerweise geboten, wenn es in absehbarer Zeit aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen keine Aussicht auf Verwirklichung bietet. Hiervon ist auszugehen, wenn es an der Finanzierbarkeit eines Projekts fehlt 37 . Die Behörde hat einen Gestaltungsspielraum, wenn es um Prognosen hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen geht. Eine Prognose ist nur daraufhin überprüfbar, ob sie in einer methodisch einwandfreien Art und Weise mit den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln unter Berücksichtigung aller für sie erheblichen Umstände aufgestellt wurde 38 . Eine nach diesen Kriterien einwandfreie Prognose wird nicht nachträglich dadurch fehlerhaft, dass die tatsächliche Entwicklung anders verläuft als prognostiziert. Allerdings kann ein wesentliches Abweichen der tatsächlichen Entwicklung von der Prognose Indiz für eine unsachgemäße Aufstellung der Prognose sein 39 . Die Verwaltungsgerichte haben für derartige Fälle die Rechtsfigur der sog. fehlgeschlagenen Prognose entwickelt, welche bei starkem Abweichen (ausnahmsweise) eine neue gerichtliche Prüfung als eröffnet ansieht - was in der Praxis allerdings kaum einmal zum Prozesserfolg führt. Es bietet sich ein kurzer fachplanungsrechtlicher Seitenblick an: Die Erforderlichkeit kann sich (regelmäßig im Eisenbahn- und Fernstraßenrecht) - wie bereits erwähnt - aus Bedarfsplänen ergeben, in welchen der Bedarf festgestellt ist 40 . Eine solchermaßen getroffene Feststellung, dass ein verkehrlicher Bedarf besteht, ist für die Planfeststellung und das gerichtliche Verfahren verbindlich 41 und dann lediglich ausnahmsweise, bei erheblichen Zwei-

vom 26.9.2000 - 7 C 10088/99, DVB1 2001, 408 (nur Leitsatz) - (Militär-)Flugplatz Bitburg. 37 BVerwG, Urt. vom 20.5.1999 - 4 A 12.98, NVwZ 2000, 555 - A 93 Ostumgehung Hof. 38 BVerwG, Urt. vom 7.7.1978 - 4 C 79.76, BVerwGE 56, 110, 121 f. - StartbahnWest, Flughafen Frankfurt / Main; BVerwG, Urt. vom 5.12.1986 - 4 C 13.85, BVerwGE 75, 214 - Flughafen München II. 39 BVerwG, Urt. vom 7.7.1978 - 4 C 79.76, BVerwGE 56, 110, 122 - StartbahnWest, Flughafen Frankfurt / Main. 40 Fernstraßen gem. § 1 Abs. 2 FStrAbG, BVerwG, Urt. vom 8.6.1995 - 4 C 4.94, BVerwGE 98, 339 oder Schienenwegen, § 1 Abs. 2 des Bundesschienenwegeausbaugesetzes vom 15.11.1993 BGBl I S. 1874, BVerwG, Beschl. vom 29.11.1995 - 11 VR 15.95, NVwZ 1997, 165. 41 BVerwG, Urt. vom 9.6.2004 - 9 A 11.03, NVwZ 2004, 1486 - B 2n Ortsumgehung Michendorf.

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fein an der Prognose des Gesetzgebers, noch überprüfbar 42, nämlich wenn es der Bedarfsfestlegung an jeglicher Notwendigkeit im Hinblick auf die bestehende oder künftig zu erwartende Verkehrsbelastung fehlt 43 . Zweifel daran, ob die gesetzliche Regelung weiterhin Geltung beansprucht, sind allenfalls dann angebracht, wenn sich die Verhältnisse in der Zwischenzeit so grundlegend gewandelt haben, dass sich die ursprüngliche Bedarfsentscheidung nicht mehr rechtfertigen lässt44. Mit der Bedarfsfestlegung ist über das Vorhaben dem Grunde nach entschieden; dort können aber auch bereits Festlegungen zur Dimensionierung getroffen werden. Die konkrete Ausgestaltung, insbesondere die Trassenwahl erfolgt erst im nachfolgenden Planfeststellungsverfahren. Mit der Aufnahme von Straßenbauprojekten in den Plan, für die es im Hinblick auf eine bestehende oder künftig zu erwartende Verkehrsbelastung oder auf die verkehrliche Erschließung eines zu entwickelnden Raumes an jeglicher Notwendigkeit fehlt, würde der Gesetzgeber die Grenzen seines Ermessens überschreiten. Eine derartige Bedarfsfeststellung ließe sich als - partielle Konkretisierung des Allgemeinwohlerfordernisses für die Enteignung (Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG) nicht rechtfertigen und wäre verfassungswidrig. Ein Gericht, das bei der Überprüfung einer Planfeststellung Anhaltspunkte für eine solche gesetzgeberische Fehlentscheidung sieht, hätte diesen nachzugehen und - im Falle ihrer Bestätigung - die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Aufnahme des Vorhabens in den Bedarfsplan dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen 45. Im Luftverkehrsrecht dagegen fehlt es an einer solchen gesetzlichen Vorgabe. Eine Planrechtfertigung kann sich aus einem gesteigerten Verkehrsaufkommen, zur Vermeidung andernfalls zu erwartender untragbarer Immissionsbelastungen oder zur Verbesserung der Sicherheitsstandards ergeben 46. Bemerkenswert ist diesbezüglich die Entwicklung im Planfeststellungsverfahren des Jahres 2004 bei der eingangs vorgestellten Flughafenerweiterung in Leipzig: In drei Planfeststellungsverfahren zwischen 1991 und 2003 wurde das Bahnensystem des Flughafens kontinuierlich weiterentwickelt, während aktuell die letzten beiden Aspekte Minderung von Immissionsbelastungen und Verbesserung der Sicherheitsstandards neben dem Ausbau für einen Fracht-Hub von DHL als weitere Planrechtfertigungs-Argumente im Verfahren vorgetragen wurden, die die 42

Es erfolgt dann mittels Vorlage an das BVerfG eine Überprüfung der gesetzlichen Grundlage, BVerwG, Urt. vom 8.6.1995 - 4 C 4.94, BVerwGE 98,339. 43 BVerwG, Beschl. vom 17.2.1997 - 4 VR 17.96, NuR 1998,305. 44 BVerwG, Urt. vom 27.10. 2000 - 4 A 18.99, BVerwGE 112, 140 - A 71, Abschnitt Pfersdorf-Münnerstadt; Urt. vom 15.1.2004 - 4 A 11.02, BVerwGE 120, 1 A 73, Suhl-Lichtenfels; Urt. vom 22.1.2004 - 4 A 32.02, NVwZ 2004, 722 - A 83, Südharz-Autobahn. 45 BVerwG, Urt. vom 8.6.1995 - 4 C 4.94, BVerwGE 98, 339. 46 BVerwG, Urt. vom 5.12.1986 - 4 C 13.85, BVerwGE 75, 214 - Flughafen München II.

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Drehung der bisherigen Südbahn rechtfertigen sollten. Streng genommen müsste es den vorherigen Planfeststellungen daher an einer Planrechtfertigung gemangelt haben, da vorgenannte Argumente auch damals bereits Gültigkeit besaßen. Eine Flughafenplanung ist gerechtfertigt, wenn für das beabsichtigte Vorhaben nach Maßgabe der vom Luftverkehrsgesetz verfolgten Ziele einschließlich sonstiger gesetzlicher Entscheidungen ein Bedürfnis besteht, die geplante Maßnahme unter diesem Blickwinkel also objektiv erforderlich ist. Das ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht erst bei Unausweichlichkeit des Vorhabens der Fall, sondern bereits dann, wenn es vernünftigerweise geboten ist 47 . Bei der Heranziehung mittelbar gemeinnütziger Zwecke bei einer Planfeststellung - z. B. strukturpolitischen Aspekten - wird in Erwägung gezogen, deren Berechtigung dem Grunde nach schon im Rahmen der Planrechtfertigung zu überprüfen 48. Es ist Aufgabe der Planfeststellungsbehörde, den erforderlichen Ausbaubedarf prognostisch zu bestimmen. Sie muss in dieser Prognose nicht nur die reinen Zahlen des zukünftig erwarteten Passagier- und Frachtaufkommens, sondern auch den , Jandseitigen" Bedarf zur Abwicklung des prognostizierten Flugverkehrs berücksichtigen. Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich darauf, ob die Prognose mit den zu jener Zeit verfügbaren Erkenntnismitteln unter Beachtung der für sie erheblichen Umstände sachgerecht erarbeitet worden ist 49 . Gegenstand der Überprüfung ist, ob die Prognose auf einer geeigneten fachspezifischen Methode beruht, ob der der Prognose zu Grunde liegende Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt wurde und ob das Ergebnis plausibel begründet worden ist. Ferner ist zu fragen, ob die mit jeder Prognose verbundene Ungewissheit künftiger Entwicklungen in einem angemessenen Verhältnis zu den Eingriffen steht, die mit ihr gerechtfertigt werden sollen. Es ist hingegen nicht Aufgabe der Gerichte, das Ergebnis einer auf diese Weise sachgerecht erarbeiteten Prognose darauf zu überprüfen, ob die prognostizierte Entwicklung mit Sicherheit bzw. größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit eintreten wird oder kann, ferner nicht darauf, ob die Prognose durch die spätere tatsächliche Entwicklung mehr oder weniger bestätigt oder widerlegt ist 50 . Hier liegt in der

47 BVerwG, Urt. vom 7.7.1978 - 4 C 79.76, BVerwGE 56, 110 - Startbahn-West, Flughafen Frankfurt / Main; BVerwG, Urt. vom 8.7.1998 - I I A 53.97, BVerwGE 107, 142-Flughafen Erfurt. 48 OVG Hamburg, Beschl. vom 9.8.2004 - 2 Bs 300/04, NordÖR 2004, 354 Hamburg-Finkenwerder. 49 BVerwG, Urt. vom 6.12.1985 - 4 C 59.82, BVerwGE 72, 282, 286; BVerwG, Urt. vom 29.1.1991 - 4 C 51.89, BVerwGE 87, 332, 355. 50 BVerwG, Urt. vom 8.7.1998 - I I A 53.97, BVerwGE 107, 142 - Flughafen Erfurt.

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Praxis häufig das Problem, weil für spätere Fehlentwicklungen sowohl in Richtung viel stärkerer Belastungen als prognostiziert als auch in Richtung ausbleibender Verkehre und damit im Ergebnis Investitionsruinen ersichtlich niemand die Verantwortung zu übernehmen braucht. Im Bauplanungsrecht, das dem Planungsträger in der Frage der Erforderlichkeit grundsätzlich einen größeren Spielraum einräumt als in den Fällen „unechter" Planung, gilt: Scheitert die festgesetzte Nutzung auf Dauer an ihrer unzureichenden Wirtschaftlichkeit, ist eine solche Planung ebenfalls nicht erforderlieh 5 '. Eine Prüfung des Vorhabens bezüglich seiner Zielvorstellungen schließt es allerdings nicht aus bzw. macht es nicht entbehrlich, diesen Gesichtspunkt auch im Rahmen der Abwägung in die Betrachtung mit einzubeziehen. Die Dringlichkeit der auf der Ebene der Planrechtfertigung zu Grunde gelegten Zielsetzungen kann gleichzeitig auch das Gewicht der in die Abwägung einzustellenden öffentlichen Belange bestimmen52. Ist im Rahmen der Planrechtfertigung ein Verkehrsbedarf bejaht worden, kann dieser im Rahmen der Abwägung nicht mehr in Abrede gestellt werden. Damit ist aber noch nicht abschließend über die Zulässigkeit des Vorhabens entschieden. Es sind vielmehr alle für bzw. gegen das Vorhaben sprechenden Punkte gegeneinander abzuwägen53. Im Ergebnis kann auch der Fall eintreten, dass von einem Vorhaben, welches die Anforderungen an die Planrechtfertigung erfüllt, wegen in der Abwägung unüberwindlicher Belange abzusehen ist (sog. „Null-Variante") 54 . Erweist sich ein Vorhaben aber bereits nach der Prüfung auf einer anfänglichen Prüfungsstufe als untragbar, bedarf es keiner weiteren Prüfung mehr.

I I I . Wertung und Bedeutung für die Ausgangsfälle 1. Wertung Eine Angebotsplanung ist auch für Flughäfen nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Ein Vorhabenträger kann daher eine Zielvorstellung entwickeln, die qualitativ und quantitativ wesentlich von dem seitherigen Bestand abweicht,

51

VGH Mannheim, Urt. vom 15.7.2002 - 5 S 1601 / Ol, NuR 2002, 750 - KKW Philipsburg - m.w.N. 52 BVerwG, Beschl. vom 5.10.1990 - 4 B 249.89, NVwZ-RR 1991, 118 - Flughafen Stuttgart. 53 BVerwG, Urt. vom 25.1.1996 - 4 C 5.95, BVerwGE 100, 238. 54 BVerwG, Urt. vom 10.4.1997 - 4 C 5.96, BVerwGE 104, 236; BVerwG, Urt. vom 15.1.2004-4 A 11.02, BVerwGE 120, 1 - A 73, Suhl-Lichtenfels.

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z. B. Abkehr von der allgemeinen Luftfahrt und Hinwendung zum Linien- und Charterverkehr: Beispielsfall 3 5 5 . Soweit in der obergerichtlichen Rechtsprechung eine Angebotsplanung im Bereich des Luftverkehrsrechts für zulässig erachtet worden ist, dürfen nicht die Besonderheiten des Einzelfalls außer acht gelassen werden 56. Es mag im Einzelfall noch zielkonform sein, in Bezug auf die Erforderlichkeit geringere Anforderungen genügen zu lassen; hieraus aber die generelle Zulässigkeit einer Angebotsplanung zu schlussfolgern, hieße, das Gebot der Planrechtfertigung vollkommen aufzugeben. Bezeichnenderweise hat das OVG Koblenz seine Überlegungen zur Erforderlichkeit des Konversionsprojektes Bitburg in die Abwägungsprüfung „verschoben": „Im Rahmen der planerischen Abwägung sind zugunsten eines Konversionsprojekts wegen der Standortgebundenheit geringere Anforderungen zu stellen, was die Erforderlichkeit und Dringlichkeit angeht, dem Verkehrsbedürfnis gerade dort Rechung zu tragen." Mindestvoraussetzung dafür, dass das Projekt als „vernünftigerweise geboten" erscheine, sei lediglich, dass die Marktverhältnisse der Ausschöpfung eines solchen Angebots nicht von vorneherein entgegenstehen. Mit dieser Auffassung löst sich das OVG aber vom Erfordernis der Planrechtfertigung. Denn damit wird nicht mehr länger eine positive Zielausrichtung gefordert, sondern die Planrechtfertigung auf das Argument reduziert, eine Umsetzung des Vorhabens dürfe nur nicht gänzlich unrealistisch sein. Dann könnte letztlich jegliches Argument zugunsten einer Planung berücksichtigt werden, ohne dass es auf eine fachplanerische Zielsetzung überhaupt ankäme. Die richtige Stelle, auch nicht direkt zielbezogene Argumente in die Betrachtung einzubeziehen, ist die Abwägung. Im Rahmen der Prüfung der Planrechtfertigung geht es jedoch gerade um solche Aspekte, die einen besonderen Bezug zum Fachplanungsrecht und der damit verbundenen Zielsetzung haben. Daher erscheint die Auffassung des OVG Koblenz und des OVG Lüneburg zu weitgehend, zumindest aber als nicht verallgemeinerungsfähig. Die Rechtsprechung des BVerwG scheint in Bezug auf die Frage, welche Bedeutung ein deutlicher Kapazitätsüberhang für die Planrechtfertigung hat, keineswegs so eindeutig zu sein, wie es gerne dargestellt wird. Denn nach der Rechtsprechung des BVerwG kann es einem Vorhaben durchaus (bereits) an der Planrechtfertigung fehlen, wenn ein (zu umfangreicher) Ausbau für die Bewältigung des prognostizierten Verkehrsaufkommens nicht benötigt wird. In einem solchen Fall prüft das Gericht aber auch, ob sich die Erforderlichkeit aus 55

VGH München, Urt. vom 20.5.2003 - 20 A 02.40015; ebenso bereits: VGH München, Beschl. vom 3.12.2002 - 20 A 01.40019 u.a., UPR 2003, 235 - Flughafen München, Änderung der Nachtflugregelung. 56 OVG Koblenz, Urt. vom 1.7.1997 - 7 C 11843 /93, NVwZ-RR 1998, 225 (nur Leitsatz); OVG Lüneburg, Urt. vom 17.10.2000 - 12 K 2117 / 99.

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anderen Gründen ergeben kann. Maßgebend ist nicht, wie die Planfeststellungsbehörde die Frage der Planrechtfertigung bewertet hat, sondern ob sich nach der objektiven Rechtslage vernünftige Gründe für das Vorhaben ergeben 57. Gerade im Fall von Großprojekten, zu denen Flughafenausbaumaßnahmen gehören, wie sie Gegenstand der drei eingangs genannten Beispiele sind, erscheint es angemessen, diese bereits auf der Ebene der Planrechtfertigung scheitern zu lassen, wenn ein Bedarf in einem angemessenen Prognosehorizont nicht hinreichend sicher belegt ist. Gleiches gilt, wenn anhand einer Kapazitätsanalyse der Nachweis gefuhrt wird, dass ein Vorhaben an einer massiven Überdimensionierung „leidet". Denn es ist - auch mit Blick auf die Zielsetzung des einschlägigen Fachplanungsrechts - nicht einsichtig, solchen Vorhaben das Prädikat „vernünftigerweise geboten" zuzuerkennen. 2. Thesenanwendung auf die Ausgangsfälle Im Beispielsfall 1 fehlt es dem Vorhaben insoweit an einer Planrechtfertigung wie der Ausbau für eine Kapazität zugelassen ist, die weit über den prognostizierten Bedarf hinaus geht. Auch im Beispielsfall 2 des Flughafens Leipzig-Halle liegt eine Angebotsplanung vor, allerdings - im Vergleich zu Bebauungsplänen als klassischem Beispiel einer Angebotsplanung untypisch - reduziert auf einen Interessenten. Soweit im Beispielsfall 2 im Zeitpunkt der Antragstellung vollkommen offen war, ob sich der Investor, auf den das Vorhaben allein zugeschnitten war, tatsächlich am Standort niederlässt, fehlt es nach der hier vertretenen Auffassung ebenfalls an einer Planrechtfertigung. Eine solche Planung kann sich nicht auf einen vermeintlichen Bedarf stützen, sie stellt eine reine Angebotsplanung dar. Im Ergebnis zu Recht (allerdings unter dem Gesichtspunkt der Abwägung) hat im Beispielsfall 3 der VGH München den Planfeststellungsbeschluss beanstandet, weil ein wesentlicher Teil des Ausbaus (großzügig bemessene Vorfelder und Rollbahnen zu den ursprünglich geplanten Enden der ausgebauten SLB) unter Berücksichtigung der (nachträglichen) Beschränkung des ursprünglich gestellten Antrags gar nicht mehr erforderlich war. Unausgesprochen blieb, ob daraus auch ein Mangel der Planrechtfertigung resultierte. Dies ist mit der hier vertretenen Ansicht zu bejahen. Ein Ausbau, der über das Erforderliche hinausgeht, ist auch nicht „vernünftigerweise geboten" i. S. einer Planrechtfertigung. Dies ist bereits bei einer Grobprüfung bzw. einer ersten Plausibilitätskontrolle zu erkennen. Für ein solches Vorhaben besteht nach Maßgabe der vom Luftver-

57 BVerwG, Urt. vom 24.11.1989 - 4 C 41.88, BVerwGE 84, 123; OVG Koblenz, Urt. vom 5.8.2004 - 1 A 11787 / 03, NuR 2005, 53 m.w.N.

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kehrsgesetz verfolgten Ziele kein Bedürfnis, es entbehrt daher einer Planrechtfertigung.

3. Zusammenfassung Es ist daher zusammenfassend festzustellen: Mit der Rechtsprechung des BVerwG ist zwischen Planrechtfertigung und Abwägung zu unterscheiden. Es ist nicht „überflüssig", die Planrechtfertigung außerhalb der Abwägungsentscheidung zu überprüfen. Die Frage der Dimensionierung kann auch bereits auf der Ebene der Planrechtfertigung eine Rolle spielen. Einem Vorhaben, das weit über Bedarf dimensioniert ist, fehlt es bereits an der Planrechtfertigung. Ein fehlender Bedarf kann nicht im Wege der Abwägung, etwa aus strukturpolitischen Gründen, kompensiert werden. Ein solches Vorhaben ist von vorneherein unzulässig. -

Wird die Zulassung für einen Flughafen begehrt, dessen Kapazität weit über dem prognostizierten Bedarf liegt, scheitert diese an der fehlenden Planrechtfertigung.

-

Ausbaumaßnahmen, die im Hinblick auf das beabsichtigte Ziel nicht erforderlich sind, stellen die Planrechtfertigung ebenfalls in Frage. Denn einer solchen Planung fehlt es an der sog. Zielkonformität.

Liegt einer Planung die Absicht zu Grunde, ein bestimmtes Projekt „zu bedienen", ist für die Planrechtfertigung nicht lediglich eine plausible Bedarfsprognose notwendig. Es bedarf darüber hinaus verbindlicher Zusagen, das in Aussicht genommene Projekt auch tatsächlich zu realisieren. Es ist nicht möglich, dass ein und dasselbe Projekt als Rechtfertigung von Planungen an verschiedenen Standorten fungiert. Eine Vorratsplanung, d. h. die Schaffung von offensichtlichen Überkapazitäten, ist nicht zulässig. Solche Vorhaben können bereits auf der Ebene der Planrechtfertigung scheitern, wenn nämlich die Errichtung / der Ausbau ausschließlich auf ein gesteigertes Verkehrsaufkommen gestützt wurde oder auch andere sich aus dem jeweiligen Fachplanungsrecht ergebende - legitime Planungsziele ein Vorhaben dieses Umfangs nicht rechtfertigen. Regionale Wirtschaftsforderung kann im Rahmen der Abwägung ein für eine Planung sprechendes Argument sein. Alleiniger Zweck einer Flughafenplanung und damit Planrechtfertigung kann dieser Gesichtspunkt aber nicht sein.

Behördliches Einschreiten und individuelle Schutzansprüche gegen zugelassenen Luftverkehr Von Peter Wysk

I . Einleitung Wie wir alle wissen, lebt Planung von Prognosen - jenen zerbrechlichen Gewächsen menschlicher Unzulänglichkeit, denen der Keim des Scheiterns schon in die Wiege gelegt ist. Dementsprechend groß ist das Misstrauen der Bevölkerung gegen die planerischen Vorhersagen von Genehmigungsbehörden. Wenn nun aber Nachbarn in Prozessen um Anlegung oder Ausbau von Verkehrsanlagen die verständliche Sorge vorbringen, dass es beim Lärm letztlich doch schlimmer kommen werde als von der Behörde angenommen, dann verweisen die Gerichte gern darauf, dass unvorhergesehenen Verschärfungen des Lärmkonflikts jederzeit effektiv begegnet werden könne.1 Ihre praktische Tauglichkeit musste diese These allerdings im Luftverkehrsrecht jahrzehntelang nicht unter Beweis stellen; denn gerichtliche Verfahren mit dem Ziel, einen Flugplatz aus Gründen des Lärmschutzes nachträglich in seinem Bestand oder seinen Möglichkeiten zu schmälern, gab es nur vereinzelt. 2 Das hat sich gründlich geändert. Seit 2002 sind hierzu eine ganze Reihe von Judikaten erstritten worden (etwa des Hessischen VGH, des OVG Berlin und des OVG NRW). Diese haben zwar wesentliche Beiträge zur Rechtserkenntnis geleistet; man kann aber nicht sagen, dass sie den Flugplatznachbarn geholfen hätten. Das provoziert, die These von der Effektivität nachträglicher Schutzgewährung auf den Prüfstand zu stellen. Denn von ihrer Belastbarkeit hängt viel ab - nicht nur für den Schutz des Einzelnen, sondern für die Verantwortbarkeit der behördlichen Anlagenzulassung überhaupt, so wie sie seit gut 50 Jahren - nicht nur im Luftverkehrsrecht - praktiziert wird.

1

Vgl. z.B. BVerwG, Urt. vom 15.9.1999- 11 A 22.98-, UPR 2000, 116, 117; Urt. vom 28.6.2000- 11 C 13.99-, BVerwGE 111, 276. 2 BayVGH, Urt. vom 22.7.1983 - 20 B 82 A.2693 - , ZLW 1984, 65; OVG Schleswig-Holstein, Urt. vom 28.10.1996 - 4 L 1 5 4 / 9 5 - , Juris (Verkehrslandeplatz); OVG Lüneburg, Urt. vom 9.6.1997 - 12 K 325 / 96 Juris (Verkehrsflughafen Hannover).

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Diese Praxis der Zulassung geht regelmäßig dahin, (a) das Verkehrsgeschehen zu prognostizieren, das sich infolge des beantragten Vorhabens in überschaubarer Zeit (dem Prognosehorizont) einstellen wird, (b) die dadurch hervorgerufenen Immissionen und ihre räumliche Verteilung zu berechnen, (c) die Zumutbarkeit der Immissionsbelastung für die Umgebung auf dieser - prognostischen - Grundlage zu beurteilen und (d) die erforderlichen Schutzvorkehrungen danach auszulegen, (e) ohne aber die vorhergesehene Verkehrsentwicklung genehmigungsrechtlich festzuschreiben. Die Behörde findet sich also auf der Erkenntnis- und Bewertungsseite (a-c) mit erheblichen Unsicherheiten ab und setzt abweichenden Entwicklungen auch auf der Reaktionsseite (d) regelmäßig keine regulative Grenze. Mehr noch: Sie setzt solchen Entwicklungen auch keine technische Grenze, weil die Dimensionierung der zugelassenen Anlage meist deutlich mehr als den prognostizierten Verkehr erlaubt, und sie legt ihren Prognosen und Bewertungen nicht einmal das technisch machbare Maximum (den Worst-Case-Fall) zugrunde, sondern ein für realistisch gehaltenes Szenarium. Wohl gemerkt: Dieses Vorgehen ist nicht aus sich heraus zu kritisieren. Es ist zwar keinem rechtlichen oder sachlichen Zwang geschuldet, hat aber doch als regelmäßig angewandtes System - gute Gründe für sich und findet daher die ausdrückliche Billigung der Rechtsprechung. Dies wurzelt vor allem darin, dass das hohe Ziel bedarfsgerechter Verkehrsabwicklung angetastet würde, falls Betriebsbedingungen genehmigungsrechtlich eng an die Prognosen gebunden würden. Auch hier schimmert deutlich vernehmbar die Furcht vor dem Fehlgehen von Prognosen durch - wenn auch vor einem Fehlgehen in die Gegenrichtung. Die Gerichte akzeptieren die Sorge der Luftfahrtbehörden, weil sie anerkennen, dass sich allgemein zugängliche Flugplätze - wie öffentliche Verkehrsanlagen generell - durch einen Angebotscharakter auszeichnen: Was auf Flugplätzen oder bei der Bahn tatsächlich an Verkehr abgewickelt wird, soll sich im Rahmen der zugewiesenen Funktion im Wettbewerb an den Erfordernissen des Marktes ausrichten können und nicht planwirtschaftsähnlich „gegängelt" werden. Dabei ist klar, dass kurzfristig erforderliche Anpassungen des Verkehrsangebots im geltenden System der Anlagenzulassung meist nicht zeitnah realisiert werden können. Eine gewisse Großzügigkeit und Flexibilität muss also in die Genehmigungslage unabdingbar von vornherein eingebaut sein. Deshalb scheitern Flugplatznachbarn vor Gericht regelmäßig, wenn sie aus Sorge vor „falschen" Prognosen von der Luftfahrtbehörde die Festschreibung des Flugbetriebs auf das vorhergesagte Maximum einklagen (vgl. dazu noch unten II. 3. a). Aber man darf die Augen vor den Risiken nicht vorzeitig verschließen. Letztlich verantwortbar ist die großzügige Praxis, Prognoseelemente eben nicht als Obergrenzen des Zulässigen zu fixieren, nur unter der Prämisse eines funktionierenden nachträglichen Schutzregimes, das bei wesentlich abweichenden Entwicklungen eine qualitative Neubewertung und effektive Anpassung erlaubt. Es wäre unerträglich, wenn bei der Zulassung von Flugplätzen (oder anderen Verkehrsanlagen) Unzulänglichkeiten und Risiken in Kauf genommen würden, denen die

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Bevölkerung schutzlos ausgeliefert ist. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte betont auch das immer wieder - aber frei von Irrtum? Betreten wir also dieses weitläufige Grenzland zwischen Ordnungsrecht und Planungsrecht, das sich im Luftverkehrsrecht durch die Doppelspurigkeit des Zulassungsrechts3 wie üblich wenig gastlich präsentiert und noch längst nicht vollständig vermessen ist.

I I . Ausgangspunkte 1. Bestandskraft der Zulassungsgrundlage Zu einem Thema wird das nachträgliche Schutzregime erst, wenn Luftverkehr „unangreifbar" zugelassen ist. Dieser Zustand tritt ein mit der so genannten Bestandskraft der Zulassungsgrundlage eines Flugplatzes, also jener Verwaltungsakte, die Anlagen und Betrieb des Platzes legalisieren. Dazu ist bekanntermaßen die Genehmigung nach § 6 Abs. 1 LuftVG erforderlich bzw. für größere Flugplätze Genehmigung und Planfeststellung (oder deren Fiktion, § 71 LuftVG) gemeinsam (vgl. §§8 Abs. 1, § 10 LuftVG). Bestandskraft, besser: Unanfechtbarkeit 4, bewirkt zweierlei: (1) dass Verwaltungsakte von keinem Gericht auf Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1,1. Fall, § 113 Abs. 1 VwGO) eines Dritten hin aufgehoben werden dürfen, etwaige Rechtswidrigkeitsgründe also auf sich beruhen müssen, und (2) dass die Legalisierungswirkung der Erlaubnisse von jedermann (auch von Behörden und jedem Gericht in einem nachfolgenden Rechtsstreit) zu respektieren ist. Andererseits bedeutet Bestandskraft selbst in der erhöhten Form, die von Planfeststellungsbeschlüssen ausgeht (dazu unten III. 2. b aa) - nicht, dass der Bestand des Flugplatzes überhaupt nicht mehr in Frage gestellt und gegebenenfalls zurückgeschnitten werden könnte. Aber: Befugt dazu ist nur noch die Luftfahrtbehörde, die Eingriffe mit einem neuen Verwaltungsakt an den Flugplatzbetreiber verfügen müsste. Prozessual sind Betroffene durch diese Konstruktion auf den steinigen Weg verwiesen, den Erlass eines solchen Verwaltungsaktes im Wege der Verpflichtungsklage erstreiten zu müssen (§ 42 Abs. 1, 2. Fall, § 113 Abs. 5 VwGO).

3 Vgl. dazu Wysk, Ein Lob der Doppelspurigkeit, ZLW 2001, 173 ff. Angesichts der sich hier auftuenden Schwierigkeiten bin ich allerdings geneigt, dieses Lob nachträglich zu relativieren. 4 Bestandskraft tritt vor allem ein mit dem Verstreichen der jeweiligen Anfechtungsfrist und selbstverständlich mit der Rechtskraft eines klageabweisenden Urteils, vgl. die hier nicht zu erörternden Einzelheiten in den Kommentaren zu § 121 VwGO.

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2. Zur Überwachungsverantwortung der Luftfahrtbehörde a) Herleitung und Inhalt der staatlichen Überwachungsverantwortung Ob die Situation eines Flugplatzes Anlass zum nachträglichen Einschreiten gibt, darf die zuständige Luftfahrtbehörde allerdings auch aus eigener Kompetenz heraus jederzeit prüfen und entscheiden (womit noch nichts darüber gesagt ist, welche Maßnahmen sie ergreifen darf). Diese Kompetenz gründet in einer fortlaufenden Verantwortung dafür, dass sich der Flugplatz gemeinverträglich in seine Umgebung einordnet. Eine solch weitgehende staatliche Verantwortung ist nicht ganz einfach herzuleiten, eine ausdrückliche Vorschrift darüber gibt es nicht. Einen hinreichend klaren Anhalt bieten aber schon die fachplanungsrechtlichen Zulassungsvorschriften selbst. Wie bei der behördlichen Beseitigung eines präventiven Verbots allgemein, übernimmt auch die Luftfahrtbehörde mit ihrer Genehmigung oder Planfeststellung die rechtliche Mitverantwortung für das Vorhaben und steht dafür ein, dass die Verkehrsanlage ihre Aufgaben auf Dauer gemeinverträglich erfüllt. 5 Diese Mitverantwortung ist unabhängig davon, dass die Behörde nicht selbst plant, sondern die Vorstellungen des Vorhabenträgers lediglich abwägend nachvollzieht. Diese Grundaussage belegen auch die zahlreichen gesetzlichen Befugnisse, die der Behörde erlauben, nachträglich auch von Amts wegen einzuschreiten. Sie geben ihr die Mittel in die Hand, um ihrer Verantwortung nachkommen zu können. Denn Verantwortung ohne Reaktions- und Abhilfemöglichkeiten wäre ein Widerspruch in sich. Von diesem Verständnis her sind alle Eingriffsbefugnisse zu betrachten. Letztlich gründet diese Verantwortlichkeit im staatlichen Gestaltungsauftrag aus dem Sozialstaatsprinzip, das die Wahrung der Gemeinverträglichkeit öffentlicher Verkehrswege als Gegenstück zur staatlichen Gewährleistungsverantwortung für eine bedarfsgerechte Verkehrsinfrastruktur erscheinen lässt. b) Überwachungsverantwortung

und Luftaufsicht

Diese Überwachungsverantwortung geht über Luftaufsicht weit hinaus. Letztere beschränkt sich darauf, soweit es um Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung durch die Luftfahrt geht (§ 29 Abs. 1 Satz 1, 2. Fall LuftVG), die Übereinstimmung des tatsächlichen Flugbetriebs mit der behördlichen Zulassungsgrundlage zu sichern. Hingegen richtet sich die Überwachungsverantwortung, die im Kompetenzbereich der für die Zulassung zuständigen Luftfahrtbehörde verortet ist, auf die Rechtsgrundlage der Zulassung 5 Vgl. BVerwG, Urt. vom 24.11.1994 - 7 C 25.93-, NVwZ 1995, 598; Urt. vom 17.1.1986 - 4 C 6 und 7.84-, BVerwGE 72, 365, 367; BayVGH, Urt. vom 22.7.1983 (Fn. 2), Leitsatz 3 sowie Kühling, Fachplanungsrecht, 1988, Rn. 13.

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selbst und thematisiert die Verträglichkeit des Zugelassenen mit der Umgebung unter aktuellen Erkenntnissen und Umständen. Pointiert gesagt: Luftaufsicht richtet sich gegen illegalen, Überwachung auf legalen Flugbetrieb. Dementsprechend ist geklärt, dass dauerhafte Betriebsbeschränkungen, die also nicht punktuell auf eine besondere Situation abstellen, nicht durch Maßnahmen der Luftaufsicht verfugt werden dürfen; sie sind nur als nachträgliche Modifizierungen der luftrechtlichen Zulassungsgrundlage selbst zulässig. Weitergehenden betriebsbeschränkenden Maßnahmen der Luftaufsicht steht die Legalisierungswirkung der Zulassung entgegen.6

3. Instrumente der Überwachung a) Exkurs: Vorsorge durch Gestaltung der Zulassungsgrundlage Im Rahmen der Zulassungsentscheidung stehen der Luftfahrtbehörde Möglichkeiten zu Gebote, die Anfälligkeit eines Flugplatzes für nachträgliche Fehlentwicklungen zu reduzieren. Sie kann schon durch die Gestaltung der Anlage und des Betriebes denkbare Ursachen für problematische Entwicklungen ausschalten, die nachträgliche Korrekturen des Verkehrsgeschehens im Wege der Überwachung notwendig machen. Insofern soll hier nur, weil eigentlich jenseits des Themas liegend, an drei Mittel erinnert werden: (1) Befristung: Die Luftfahrtbehörde kann den Betrieb eines genehmigungsbedürftigen Flugplatzes insgesamt oder einzelne begünstigende 1 Betriebselemente befristen (§6 Abs. 1 Satz 3 LuftVG). Das ist zweifellos eine drastische Maßnahme, es finden sich aber eine ganze Reihe realer Beispiele für sie.8

6 So schon BayVGH, Urt. vom 22.7.1983 (Fn. 2), Leitsatz 2; Wysk, Ausgewählte Probleme zum Rechtsschutz gegen Fluglärm I, ZLW 1998, 18, 26 f. 7 Die Befristung von Betriebseinschränkungen läuft, was keiner Erklärung bedarf, auf eine automatische Ausweitung des Betriebs hinaus. 8 Vgl. BayVGH, Urt. vom 25.2.1998 - 20 A 97.40017-, NVwZ-RR 1998, 490 (betr. den Flughafen Nürnberg), nachfolgend Beschlüsse des BVerwG vom 7.4.1998 11 VR 3.98 NVwZ-RR 1998, 489 und vom 12.6.1998 - 11 B 19.98 - , DVB1. 1998, 1184 sowie BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22.2.1999 - 1 BvR 1 3 9 6 / 9 8 (n.v.); OVG NRW, Urt. vom 2.2.1995 - 20 A 3485 / 9 1 - (Verkehrslandeplatz Dortmund-Wickede) und Urt. vom 15.8.1996 - 20 A 2 7 7 7 / 9 4 - , ZLW 1997, 518 (Verkehrslandeplatz Porta Westfalica), auch zu den Folgen des Fristablaufs; nachfolgend BVerwG, Beschl. vom 27.12.1996 - 4 B 241.96 - (n.v.); Beschlüsse vom 5.5.2000 - 20 B 2149 / 99. AK - u.a. („Interimsgenehmigung" des Flughafens Düsseldorf); siehe auch HessVGH, Beschl. vom 14.10.2003 - 2 A 2796/01 - , ZLW 2004, 482 (Flughafen Frankfurt am Main). In Nordrhein-Westfalen hat auch der Gesetzgeber das Instrument der Befristung von Gesetzen entdeckt.

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(2) Prüf- und Entscheidungsvorbehalte: Ebenfalls verbreitete Praxis der Luftfahrtbehörden ist die Ausbringung von Vorbehalten erneuter Überprüfung und Entscheidung beim Eintritt vorab definierter Tatsachen. Leider scheint die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Zulässigkeit solcher Vorbehalte auf Fälle zu beschränken, in denen sich die konkrete Möglichkeit nachteiliger Wirkungen des Vorhabens in absehbarer Zeit abzeichnet, sich deren Ausmaß aber noch nicht abschätzen lässt.9 Allerdings: Weitergehende Vorbehalte mögen rechtswidrig sein, nichtig (vgl. § 44 VwVfG) sind sie nicht. Unterlässt es der durch sie allenfalls beschwerte Flugplatzbetreiber, einen solchen Vorbehalt gerichtlich aufheben zu lassen, so erwächst er mit der Genehmigung bzw. Planfeststellung in Bestandskraft, so dass die Behörde später von ihm Gebrauch machen kann. (3) Kontingentierung: Konfliktmindernd zugunsten der Umgebung wirkt jede Festlegung des Flugbetriebs in zeitlicher oder sachlicher Hinsicht. Das gilt auch, wenn Betriebsregelungen aus dem Horizont der Zulassungsentscheidung bereits an das Maximum der Anlagenkapazität anknüpfen. Denn jede ausdrückliche Festlegung nimmt (vorbehaltlich einer Neuregelung) im Sinne einer Obergrenze abweichenden Entwicklungen den Raum. Die Behörde kann auf diese Weise Kontingentierungen der Flugbewegungszahl (auch etwa durch Stundeneckwerte) oder des Fluglärms 10 verfugen. Sie machen im Luftverkehr eine Art Schallschutzgarantie möglich, der die Rechtsprechung sonst eher ablehnend gegenübersteht.11 Die Praxis zeigt allerdings - wie schon eingangs angesprochen - , dass Luftfahrtbehörden von diesen Möglichkeiten nur sehr zurückhaltend Gebrauch machen, weil diese erhebliche Einengungen für den Flugplatzbetrieb mit sich bringen und nachträglich schwer aufzuweichen sind. 12 9

BVerwG, Urt. vom 22.11.2000 - 11 C 2.00 BVerwGE 112, 221. Meine grundsätzliche Skepsis gegen Lärmkontingentierungen halte ich aufrecht (vgl. nur ZLW 2003, 602, 614 f.), anerkenne aber, dass einige Flughäfen mit ihnen zurecht zu kommen scheinen. Zu Modellen der Lärmkontingentierung sehr instruktiv und fundiert: Christian Piehler, Erarbeitung eines Handlungsrahmens für die Entwicklung von Fluglärmkontingentierungen, Schriftenreihe des Verkehrswissenschaftlichen Instituts der RWTH Aachen, Band 62, Aachen 2003, S. 52 ff. 10

11 Vgl. BVerwG, Urt. vom 22.11.2000 (Fn. 9), wo eine „Schallschutzgarantie 44 durch einen Auflagenvorbehalt abgelehnt worden ist, der dem Unternehmer Nachbesserungen beim Lärmschutz auferlegte, wenn eine wegen berechtigter Zweifel erfolgende Nachberechnung solche „Nachbesserungen44 erforderlich macht. 12 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür ist der Flughafen Düsseldorf, d e r aus einer verfehlten (d.h. in diesem Falle stark überzogenen) Prognose der Verkehrsbelastung heraus - gleichzeitig vertraglichen und genehmigungsrechtlichen Beschränkungen aus den 60er Jahren unterliegt, deren Aufweichung kaum zu lösende rechtliche und tatsächliche Probleme mit sich gebracht hat, vgl. Wysk, Konsensuale Konfliktbewältigung in der luftrechtlichen Projektplanung, ZLW 2003, 602 ff; OVG NRW, Urt. vom 10.12.2004 - 20 D 134 / 00.AK IR 2005, 66 (Ls.) und Juris (zur so genannten Ein-

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b) Exkurs: Verschärfung

der Anforderungen

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durch Rechtssatz

Neben behördlichen Instrumenten des nachträglichen Eingreifens bestehen Eingriffsmöglichkeiten des Gesetz- oder Verordnungsgebers. Die Legalisierungswirkung behördlicher Zulassungsakte schließt es nicht aus, dass nachträglich erhöhte (Vorsorge-)Anforderungen unmittelbar durch Gesetz oder Verordnung gestellt und damit die Betreiberpflichten neu gestaltet werden. Im Luftverkehrsrecht gibt es (ebenso wie im Immissionsschutz- oder Abfallrecht) keinen Grundsatz, dass dem Unternehmer die durch Verwaltungsakt eingeräumten Rechtspositionen belassen werden müssen bzw. allein durch Widerruf und nur gegen Entschädigung entzogen werden dürfen. 13 Es ist jeweils Sache des Normgebers zu bestimmen, durch welches Mittel eine Zulassungsentscheidung nachträglich modifiziert werden kann; hinsichtlich des Mittels verfugt er dabei über einen weiten Gestaltungsspielraum. Mit einem Gesetz oder einer Verordnung entscheidet sich der Normgeber für die unmittelbare Wirkung seiner Neuregelung (eventuell mit Übergangsregelungen) und also dafür, das neue Recht möglichst zügig und umfassend wirksam werden zu lassen. Ein naheliegender Anwendungsfall wäre die Verschärfung des Fluglärmgesetzes, soweit dies über genehmigungsrechtlich festgelegte Betreiberpflichten hinausginge. Ob und inwiefern dabei Regelungen mit dem Inhalt unechter Rückwirkungen getroffen werden dürfen bzw. durch Überleitungsvorschriften ein „schonender Übergang" ermöglicht werden muss, ist eine Frage des verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutzes.14 c) Informelle Maßnahmen aa) Informationsquellen Im Vorfeld eingreifender Maßnahmen stehen der Luftfahrtbehörde die „weichen" Mittel der Information und des Gesprächs zu Gebote. Um sich jederzeit ein genaues Bild von der Lage machen zu können, hat sie Zugriff auf alle beim Flughafenunternehmer vorgehaltenen Informationen über den Flugbetrieb. bahnkapazitäts-Genehmigung 2000); Urt. vom 5.9.2002 - 20 D 53 /99.A - (zum Angerland-Vergleich 1965) und - 20 D 145 / 97.AK (zur Heraufstufung des Allwetterflugbetriebs); Beschlüsse vom 5.5.2000 - 20 B 2104 / 99.AK - u.a. (n.v., zur so genannten Interimsgenehmigung 1999); Beschl. vom 17.5.1999 - 20 B 2493 / 98.AK - (n.v., Betriebsänderungsgenehmigung 1997). 13 Vgl. BVerwG, Beschl. vom 3.6.2004 - 7 B 14.04 - , Beschlussabdruck S. 5 (zum Abfallrecht); Urt. vom 18.5.1982 - 7 C 42.80 BVerwGE 65, 313, 317; vgl. auch BTDrucks. 14 / 4599, S. 151 und BR-Drucks. 95 / 83, S. 36. 14 Dazu etwa BayVGH, Urt. vom 25.2.1998 - 20 A 97.40017 und 97.40018NVwZ-RR 1998,490 m.w.N.

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Schon kraft Gesetzes obligatorisch mitzuteilen sind ihr die Daten der Fluglärmmessanlage (§ 19a Satz 2 LuftVG 15 ). Daneben darf sie im Rahmen der allgemeinen Aufsicht vom Unternehmer Auskünfte einholen und Nachprüfungen auf dem Flughafengelände durchfuhren (§ 47 Abs. 3 LuftVZO), in ihrer Eigenschaft als Luftaufsichtsbehörde auch gemäß § 29 Abs. 1 LuftVG. Leitet sie gegen den Flugplatzbetreiber ein Verwaltungsverfahren ein (etwa auf Widerruf der Flugplatzgenehmigung), so wird Art und Umfang des Informationsflusses grundsätzlich durch die Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes überlagert. Um den Flughafenunternehmer zur Vorlage neuer Gutachten zu verpflichten, dürfte es hingegen an einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage fehlen, sofern in der Genehmigung / Planfeststellung keine entsprechende Auflage enthalten ist. Ohne eine besondere Rechtsgrundlage bleibt die Aufklärung des Sachverhalts Sache der zuständigen Behörde. Es ist aber nicht zu verkennen, dass Flughafenunternehmer an der Aufklärung und einer guten Zusammenarbeit mit der Behörde regelmäßig ein starkes Eigeninteresse haben und daher zu überobligatorischer Mitarbeit bereit sind. Die Erkenntnisse anderer Luftfahrtbehörden (z. B. des Luftfahrt-Bundesamtes über aktuelle Flugrouten) und der Beliehenen (der DFS und des Flughafenkoordinators) kann die Landes-Luftfahrtbehörde im Rahmen der Luftverkehrsverwaltung abfragen, notfalls durch Einschaltung der obersten Luftfahrtbehörde des Bundes, in dessen Auftrag sie tätig ist (Art. 87d GG, § 31 Abs. 2 LuftVG). Auskünfte sonstiger Behörden sind ihr im Wege der Amtshilfe (Art. 35 Abs. 1 GG) zugänglich zu machen. Nützlich werden kann dies hinsichtlich der Aufklärung von Einwohnermeldedaten oder der Bebauungssituation in den Gemeinden. Daneben gibt die Beschwerdesituation eine nicht gering zu schätzende Basis für Erkenntnisse ab. Sie erlaubt in gewissem Rahmen, objektive Belastungsdaten in Beziehung zu setzen zur Befindlichkeit der betroffenen Bevölkerung. Ein gutes Beschwerdemanagement (etwa nach DIN EN ISO 9001) und eine verständige Ausweitung des sachlichen Gehalts der Beschwerden kann durchaus Problem(schwer)punkte und Handlungsnotwendigkeiten aufdecken, die sich aus einer Betrachtung von Rechen- und Messwerten allein nicht ohne weiteres erschließen. Die intensive Abfrage und Betrachtung der Belastungssituation lässt die Luftfahrtbehörde nicht nur stets gut informiert sein, sondern erlaubt es auch, dem Flughafenunternehmer beständig dazu anzuhalten, Fluglärm und seine Minderungsmöglichkeiten in seine unternehmerischen Dispositionen einzubinden. Diese Präsenz des Fluglärms in unternehmerischen Entscheidungen wird durch Dialoge mit dem Flughafenunternehmer noch verstärkt.

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„Die Mess- und Auswertungsergebnisse [seil, der Anlagen zur fortlaufend registrierenden Messung der durch die an- und abfliegenden Luftfahrzeuge entstehenden Geräusche] sind der Genehmigungsbehörde ... mitzuteilen.44

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bb) Dialoge Das Gespräch mit dem Flughafenunternehmer kann die Luftfahrtbehörde jederzeit suchen. Das Luftverkehrsgesetz kennt aber wichtige institutionalisierte bzw. formalisierte Gesprächsrunden, insbesondere die so genannte Fluglärmkommission nach § 32b LuftVG oder einen bei Bedarf an kleineren Flugplätzen einzurichtenden Flughafenbeirat (§ 32b Abs. 7 LuftVG). Auch im Koordinierungsausschuss (§ 2 FHKV) ist eine Erörterung der Lärmproblematik möglich, soweit diese in einem Zusammenhang mit der Kapazität des Flugplatzes steht. d) Formelle Maßnahmen aa) Vorgehensarten und Zielrichtungen Ist durch informelle Maßnahmen Abhilfe nicht zu schaffen, so hat die Luftfahrtbehörde den gebotenen Schutz zugunsten benachbarter Grundstücke formell zu verfügen. Dabei kann sie stets in zwei Richtungen vorgehen: Sie kann die Zulassungsgrundlage einschränken oder sie kann sie um Pflichten des Flugplatzbetreibers ergänzen. Der Unterschied ist beträchtlich, vor allem für den Betreiber: Im ersten Falle beseitigt die Behörde (teilweise) das betriebliche Dürfen. Hierzu zählen Betriebsbeschränkungen (so genannte „aktive" Maßnahmen) und die Verschärfung bzw. Neuformulierung von Schallschutzauflagen zugunsten der betroffenen Bevölkerung. Die zweite Maßnahmenart lässt dagegen den Umfang des Erlaubten unangetastet und gesteht einzelnen Nachbarn des Flughafens punktuell und individuell passiven Lärmschutz zu. In jedem Falle bedarf es eines neuen Verwaltungsaktes, der auf die vorhandene Zulassungsgrundlage einwirkt. bb) Anlässe und Befugnisse zum und Ansprüche auf Einschreiten Anlässe für nachträgliches Einschreiten können sich ergeben aus: (1) nachträglichen Entwicklungen in nachteiliger Abweichung von den prognostizierten Verhältnissen (Fehlgehen von Prognosen) oder jenseits des Prognosehorizonts; (2) nachträglichen Erkenntnissen. Das kommt etwa in Betracht, wenn eine früher als akzeptabel angesehene Lärmbelastung sich nachträglich als gesundheitsgefährdend herausstellt. Dazu muss aber ein gesicherter Stand der Forschung vorliegen (siehe unten IV. 1. b) aa). Wann genau die Luftfahrtbehörde einen Anlass zu Maßnahmen sehen darf, ist nur schwer in eine allgemeingültige Fassung zu bringen. Fest steht, dass sie

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nicht nach Belieben, sondern rechtlich gebunden vorzugehen hat. Denn sie muss die rechtlich gesicherte Position des Flughafenunternehmers beachten, bedarf also einer Ermächtigungsgrundlage mit definierten Anforderungen. Tätigwerden darf die Luftfahrtbehörde auf Hinweis und Anforderung Dritter, aber auch aus eigenen Erkenntnissen und eigenem Antrieb. Es ist aber eine Eigenart des deutschen Rechts, dass strikt unterschieden werden muss zwischen den Befugnissen der (Luftfahrt-)Behörde und Ansprüchen Dritter, von diesen in einem bestimmten Sinne Gebrauch zu machen. Der Luftfahrtbehörde steht gegenüber jedem Flugplatzbetreiber fortwährend das gesamte Tableau von Eingriffsbefugnissen zur Verfügung. Diese Befugnisse bilden das Gegenstück zu ihrer permanenten Überwachungsverantwortung. Eine Beschränkung ist ihr nur auferlegt, soweit es um nachträgliche Schutzmaßnahmen zugunsten Einzelner geht (§ 75 Abs. 3 Satz 1 VwVfG, vgl. unten IV. 1 b) bb). Ansprüche Dritter auf Einschreiten, also darauf, dass die Luftfahrtbehörde von bestehenden Befugnissen in einem bestimmten Sinne Gebrauch macht, erfordern nach der herrschenden Schutznormtheorie zusätzlich, dass die Befugnisnorm zumindest auch den in Rede stehenden Interessen gerade des Anspruchsstellers zu dienen bestimmt ist und dass diese Interessen nachteilig berührt sind.

I I I . W i d e r r u f und Teilwiderruf 1. Planfestgestellte Flugplätze a) Behördliche Befugnisse zum Widerruf Sind nachträgliche Maßnahmen zum Schutz vor Fluglärm geboten, so bringen Einschränkungen des erlaubten Flugbetriebs („aktive14 Maßnahmen) die größte Verbesserung der Lebenssituation, gerade auch im Wohnumfeld, nötigen aber auch zu den stärksten Eingriffen in die Rechtsposition des Flugplatzbetreibers. Denn Betriebsbeschränkungen erfordern eine Beseitigung der bestandskräftigen Gestattungen, die nur durch (Teil-)Widerruf der Genehmigung oder Planfeststellung bewirkt werden kann. Ist bei Flugplätzen, die allein durch eine Genehmigung zugelassen sind (im Wesentlichen nur kleine Landeplätze ohne Bauschutzbereich), klar, dass die luftrechtliche Genehmigung Gegenstand eines Widerrufs zu sein hätte, so werfen planfestgestellte (oder als solche fingierte) Flugplätze zunächst die Frage auf, bei welchem Teil der Zulassungsgrundlage die Luftfahrtbehörde ansetzen darf oder muss; denn diese Flugplätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch Genehmigung und Planfeststellung gemeinsam - in ihrer Verzahnung - legalisiert werden.

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aa) Prinzipiell: kein Widerruf der Flughafengenehmigung Ein Widerruf nur der luftrechtlichen Genehmigung ist bei planfestgestellten Flugplätzen nicht möglich. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, weil doch § 6 Abs. 2 Satz 4 LuftVG den Widerruf jeder Genehmigung zu erlauben scheint und § 48 Abs. 1 LuftVZO sogar den Widerruf speziell der Flug/ia/e/igenehmigung regelt. Dennoch kommen diese Ermächtigungen nicht zum Zuge, wenn eine Genehmigung und eine Planfeststellung erteilt sind. Das ergibt sich, sofern Dritte den Widerruf einfordern, aus dem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Dogma von der Konzentration des Rechtsschutzes auf die Planfeststellung. 16 Diese Konzentration schließt es aus, zur Begründung eines auf die Reduzierung des Flugbetriebs beschränkten Klagebegehrens auf die Vorschriften über den Widerruf der luftrechtlichen Genehmigung zurückzugreifen. 17 Nichts anderes gilt m.E. aber dann, wenn die Luftfahrtbehörde von sich aus einen Widerruf aussprechen will. Auch dann darf sie - m i t der Folge der Rechtswidrigkeit der Entscheidung - nicht allein auf die Genehmigung zugreifen. Es handelt sich weniger um ein Rechtsschutzproblem als um die Frage, wie die umfassende Gestaltungs- bzw. Erlaubniswirkung der Planfeststellung (§ 75 Abs. 1 VwVfG) eingeschränkt werden kann. Man muss sich dabei wieder die dogmatischen Eckpunkte des luftrechtlichen Zulassungsrechts vergegenwärtigen: Während die Genehmigung ihre Erlaubniswirkung ausschließlich im bipolaren Verhältnis zwischen Flughafenunternehmer und Luftfahrtbehörde entfaltet, wird die umfassende Gestaltungs- bzw. Erlaubniswirkung gegenüber Dritten durch die Planfeststellung vermittelt, die sich wiederum mit den Inhalten der Genehmigung verzahnt. Die so „aufgefüllte" Planfeststellung verschafft in Verbindung mit der Betriebspflicht (§ 45 Abs. 1 Satz 1 LuftVZO) im Außenverhältnis zu den Flughafenbenutzern Ansprüche auf Nutzung entsprechend dem Inhalt der Planfeststellung. Will man also nicht annehmen, dass ein Widerruf der luftrechtlichen Genehmigung zugleich die Planfeststellung im selben Umfang erledigt (§ 43 Abs. 2 VwVfG) - was systemwidrig wäre und zu einem Unterlaufen der Vorschriften in §§48 ff. VwVfG führte-, dann verletzte es die Rechtsstellung des Flughafenunternehmers in eklatanter Weise, wenn man ihm durch Widerruf der Genehmigung das rechtliche Dürfen nähme, die durch die Planfeststellung verschafften Nutzungsansprüche Dritter (der Fluggesellschaf-

16 BVerwG, Urt. vom 7.7.1978 - 4 C 79.76-, BVerwGE 56, 110, 135; Beschl. vom 18.11.2004 - 4 B 37.04-, Beschlussabdruck S. 4 f.; Beschl. vom 16.12.2003 - 4 B 75.03 - , Buchholz 442.40 § 9 Nr. 14; Beschl. vom 19.8.1997 - I I B 2.97 - , Buchholz 442.40 § 9 LuftVG Nr. 8; Urt. vom 29.1.1991 - 4 C 51.89 - , BVerwGE 87, 332, 348 f. 17 Beschl. vom 19.8.1997 - I I B 2.97 - , Buchholz 442.40 § 9 LuftVG Nr. 8.

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ten) aber bestehen ließe. Die Behörde muss deshalb in jedem Fall beim Planfeststellungsbeschluss ansetzen. bb) Widerruf des luftrechtlichen Planfeststellungsbeschlusses (1) Widerrufbarkeit

von Planfeststellungsbeschlüssen

Luftrechtliche Planfeststellungsbeschlüsse können nach § 49 VwVfG widerrufen werden. Die früher umstrittene Anwendbarkeit der §§ 48, 49 VwVfG auf Planfeststellungsbeschlüsse, 18 hat das Bundesverwaltungsgericht mittlerweile bestätigt: § 72 Abs. 1 VwVfG macht, soweit er keine ausdrücklichen Vorbehalte enthält, den Weg frei zu den übrigen Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes. § 49 VwVfG wird auch nicht durch die planfeststellungsrechtlichen Spezialregelungen in §§ 73 ff. VwVfG verdrängt. 19 (2) Widerrufbarkeit

bei fingierter Planfeststellung

Das Bundesverwaltungsgericht hat ferner für das Luftverkehrsrecht geklärt (wie zuvor für das Atomrecht), dass ein (Teil-)Widerruf auch dann in Betracht kommt, wenn die Planfeststellungsfiktion nach § 71 Abs. 1 Satz 1 LuftVG eingreift und der Rückgriff auf die Widerrufsvorschrift für die Genehmigung in § 6 Abs. 2 Satz 4 LuftVG hierdurch ausgeschlossen ist. 20 Sinn einer gesetzlichen

18

Darstellung des Streitstandes in OVG Berlin, Urt. vom 2.5.1996 - 2 A 5.92-, DVB1. 1997, 73,77. 19 Allgemein geklärt in BVerwG, Urt. vom 21.5.1997 - 11 C 1.96 BVerwGE 105, 6 (Endlager Morsleben); offengelassen noch in BVerwG, Urt. vom 14.9.1992-4 C 3438.89-, BVerwGE 91, 17, 22. 20 BVerwG, Beschl. vom 19.8.1997 - I I B 2.97-, Buchholz 442.40 § 9 LuftVG Nr. 8 (zu den Berliner Flughäfen und der Fiktion nach dem 6. Überleitungsgesetz); Urt. vom 28.6.2000 - H C 13.99-, BVerwGE I I I , 276. Die interessante Frage, welchen Inhalt die fingierte Planfeststellung hat - worauf sich der Widerruf also richten kann - , scheint einer Andeutung in diesem Urteil zufolge durch den Inhalt der als Planfeststellung fingierten Flughafengenehmigung beantwortet werden zu können. Das hilft in jenen Fällen nicht weiter, in denen überhaupt kein Rechtsakt für die Anlegung eines Flugplatzes identifizierbar ist. Richtigerweise ist maßgeblich der Bestand an Flughafenanlagen bei In-Kraft-Treten der Planfeststellungspflicht am 10. Januar 1959 (vgl. Art. 1 Nr. 10, Art. 7 des Gesetzes vom 5.12.1958, BGBl. I S. 899, sowie § 8 Abs. 1 der Neufassung des Luftverkehrsgesetzes vom 10.11.1959, BGBl. I S. 9), gleichgültig, ob dieser Bestand legal hergestellt worden ist. Nicht abzustellen ist auf den Bestand bei Eingreifen der Planfeststellungsfiktion am 1.3.1999 (vgl. Art. 12 Abs. 1 des 11. LuftVGÄndG vom 25.8.1998, BGBl. I S. 2432); denn dies würde zu einer durch nichts zu rechtfertigenden Absolution aller Verstöße gegen die Planfeststellungspflicht führen, vgl. OVG NRW, Teilurt. vom 10.7.2003 - 20 D 78 / 0 0 . A K - ; nachfolgend: BVerwG, Beschl.

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Fiktion ist es, dass für unterschiedliche Tatbestände dieselben Rechtsfolgen gelten sollen. 21 Der Widerruf beseitigt einen Teil des (fingierten) Tatbestandes, an den das Gesetz die Rechtsfolgen knüpft. (3) Voraussetzungen eines Widerrufs

von Amts wegen

Ergeben sich die Maßstäbe (Voraussetzungen) für den Widerruf nicht aus einem Widerrufsvorbehalt, so kommen unter den Tatbeständen des § 49 Abs. 2 VwVfG nur die Nummern 3 und 5 in Betracht. Sie setzen eine wahrlich hohe Eingriffsschwelle, wonach ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt (hier die luftrechtliche Planfeststellung) nur widerrufen werden darf, •

Nr. 3: beim Vorliegen eines Versagungsgrundes (der hier in § 6 Abs. 2 Satz 3 LuftVG niedergelegt ist) und einer Gefährdung der öffentlichen Interessen. Die Vorschrift lehnt sich damit an § 6 Abs. 2 Satz 4 LuftVG an, geht aber über diesen hinaus;



Nr. 5: um „schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen", womit etwa Grundrechtsverletzungen (auch Einzelner) angesprochen sind.

Für die Anwendung dieser Vorschriften im Luftverkehrsrecht gibt es bislang kaum Anschauungsmaterial. Aber ein grundsätzliches Problem zeichnet sich aus dem Zusammenhang mit § 75 Abs. 2 VwVfG ab, der eine weitreichende Duldungspflicht der Nachbarschaft planfestgestellter Flughäfen statuiert (dazu unten III. 1. b) aa). Es drängt sich die Frage auf, ob die Luftfahrtbehörde einen Widerruf aus eigenem Antrieb überhaupt auf eine unzumutbare Lärmbelastung stützen dürfte, wenn die durch den Lärm Betroffenen den Widerruf ihrerseits nicht erfolgreich einfordern könnten. So zugespitzt spricht alles für eine Verneinung. Es muss also wohl schon mehr vorliegen als unzumutbarer Lärm, dem durch passive Maßnahmen abgeholfen werden könnte. Ich würde allerdings nicht ausschließen, dass die Luftfahrtbehörde etwa die Verkehrsbedeutung des laufenden Flugbetriebs generell neu bewerten darf und auf der Grundlage einer Aussage, bestimmte Elemente des Flugbetriebs lägen nicht mehr im öffentlichen Interesse, einen Widerruf verfügen dürfte.

vom 26.2.2004 - 4 B 95.03 - , NVwZ 2004, 869. A.A. aber Hess.VGH, Urt. vom 2.4.2003 - 2 A 2646 / 01 - , Urteilsabdruck S. 22 m.w.N. 21 BVerwG, Beschl. vom 10.10.2003 - 4 B 83.03 - , NVwZ 2004, 97 unter Hinweis auf Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., S. 262.

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b) Ansprüche auf Widerruf aa) Grundsätzlich: kein Anspruch auf (Teil-) Widerruf der Planfeststellung (1) Duldungswirkung

der Planfeststellung

Klarer liegen die Dinge, wenn die Perspektive von den Befugnissen der Luftfahrtbehörde zu den Ansprüchen Betroffener wechselt. Dann kommt die erhöhte Bestandskraft der Planfeststellung ins Spiel, die als so genannte Duldungspflicht - bis auf Ausnahmefälle - Ansprüche Dritter auf Einschränkung des Erlaubten ausschließt. Diese Duldungspflicht ist für planfestgestellte Flugplätze in § 9 Abs. 3 LuftVG niedergelegt. Dort ist zwar nur von den „Anlagen" des Flugplatzes die Rede; die Norm wird nach allgemeiner Meinung aber ergänzt und konkretisiert durch § 75 Abs. 2 Satz 1 VwVfG. 2 2 Ist ein Flugplatz unanfechtbar planfestgestellt, so sind danach „Ansprüche" ausgeschlossen u. a. auf „Unterlassung der Benutzung" von planfestgestellten Anlagen, was bei Flugplätzen deren Betrieb meint. Das Bundesverwaltungsgericht entnimmt dieser Duldungswirkung eine Modifikation der allgemeinen Widerrufsregeln in § 49 VwVfG dahin, dass der Widerruf von Dritten nur verlangt werden kann, wenn Schutzauflagen nach § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG als Abhilfe nicht ausreichen. In dieser aus Verhältnismäßigkeitsgründen gebotenen Einschränkung der Widerrufsermächtigung - nicht hingegen in ihrem Ausschluss - zeigt sich die erhöhte Bestandskraft des Planfeststellungsbeschlusses. Eine Auslegung im Sinne des vollständigen Ausschlusses des Widerrufs wäre mit den Grundrechten der Betroffenen nicht vereinbar, weil sie dazu führte, dass diesen der Rechtsschutz gerade dann versagt wird, wenn sie im besonderen Maß in eigenen Rechtspositionen nachteilig betroffen sind und andere Schutzmöglichkeiten nicht ausreichen. Für einen strikten Vorrang der Betreiberinteressen ist eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung - zumal im Hinblick auf die mildernde Wirkung der Entschädigungsregelung des § 49 Abs. 6 VwVfG - nicht erkennbar. 23 In der Konsequenz dieser Argumentation sind Lärmbetroffene allerdings zumeist auf individuellen baulichen Schallschutz und Entschädigung nach § 75 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 VwVfG verwiesen (dazu unten IV.).

22 Grundsätzlich wird das Verhältnis zwischen den Vorschriften des Luftverkehrsgesetzes und den allgemeinen Vorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze als Idealkonkurrenz aufgefasst, oft sogar dann, wenn enger formulierte Sonderregeln im Luftverkehrsgesetz bestehen. Das wird bislang weitgehend unreflektiert hingenommen. Hier besteht aber noch ein erheblicher Klärungsbedarf. 23 So wörtlich BVerwGE 105, 6, 15 (oben Fn. 19).

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(2) Reichweite der Duldungspflicht (a) Planfestgestellte Anlagen eines Flugplatzes Beseitigungs- und Änderungsansprüche gegenüber planfestgestellten Anlagen (angesprochen sind vor allem die Flugbetriebsflächen) sind unmittelbar nach § 9 Abs. 3 LuftVG ausgeschlossen. Der Ausschluss erfasst nicht zugleich die Nutzung der Anlagen (den Flugbetrieb). Ohnehin wäre die Beseitigung der Anlagen zum Zwecke des Fluglärmschutzes unverhältnismäßig, weil die Lärmbelastung vom Betrieb ausgeht, der luftverkehrsrechtlich gesondert zuzulassen ist und unabhängig von den Anlagen behandelt werden kann. Der Fall der Anlagenbeseitigung wird daher für die Lärmproblematik kaum praktisch. (b) Umfang der tatsächlichen Planfeststellung Die Duldungspflicht reicht soweit, wie der Flugplatz tatsächlich planfestgestellt ist. Verfugt er über Anlagen, die zwar planfeststellungs£erfwr/h'g sind, für die aber die erforderliche Planfeststellung nicht vorliegt (sondern nur etwa eine Genehmigung), dann greift der erhöhte Schutz insoweit nicht ein. 24 Mit anderen Worten: Einem Verstoß gegen die Planfeststellungspflicht wird rechtlich keine Absolution erteilt, übrigens auch nicht, wenn eine Planfeststellungsfiktion eingreift. Das Bundesverwaltungsgericht hat das angedeutet, musste es allerdings noch nicht ausdrücklich entscheiden.25 (c) Rechtswidriger Flugbetrieb Die Anlagen eines Flugplatzes spielen, wie schon gesagt, in den nachbarlichen Beziehungen eine untergeordnete Rolle. Nicht sie belasten Anwohner mit Lärm, sondern ihre Nutzung durch Flugplatzbetrieb. Dieser wiederum ist durch eigenständige behördliche Betriebsregelungen legalisiert. Ist das nicht der Fall, der Flugbetrieb also rechtswidrig, so ist die Unterbindung bloße Sache der Luftaufsicht (§ 29 Abs. 1 LuftVG), die mit Untersagungsverfligungen gegen den Flugplatzbetreiber oder gegen die Piloten bzw. Fluggesellschaften vorgehen kann (schon oben II. 2. b). Anwohner können entweder zivilrechtlich unmittelbar gegen den Flugplatzbetreiber auf Unterlassung klagen (§ 1004, § 906 BGB) 24 In diese Richtung BVerwG, Beschl. vom 26.2.2004 - 4 B 95.03 - , NVwZ 2004, 869 für als planfestgestellt fingierte Flugplätze. Ebenso (nicht tragend) OVG NRW, Teilurteil vom 10.7.2003 (siehe oben Fn. 20). 25 BVerwG, Beschl. vom 26.2.2004 (Fn. 24.) unter Hinweis auf die weitergehende Auffassung des HessVGH, z.B. im Urt. vom 2.4.2003 - 2 A 2646/01 NVwZ-RR 2003, 729.

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oder die Luftaufsicht auf Einschreiten angehen. Umfasst die Duldungswirkung der Planfeststellung aber nun auch zugelassenen Flugbetrieb? (d) Betriebsregelungen? Ob Betriebsregelungen eines planfestgestellten Flugplatzes von der Duldungspflicht umfasst sind, kann im Einzelfall gleichwohl fraglich sein, und zwar aus zwei Gründen: (1.) Der Betrieb ist in § 9 Abs. 3 LuftVG nicht genannt26 und (2.) sind die Betriebsregelungen eines Flugplatzes nicht zwangsläufig in einem Planfeststellungsbeschluss enthalten, was die Frage nach ihrer Ausklammerung aus der besonderen Schutzwirkung der Planfeststellung provoziert; denn auch § 75 Abs. 2 Satz 1 VwVfG erfasst den Betrieb ausdrücklich nur mit Blick darauf, was planfestgestellt ist. Wegen der Doppelspurigkeit von Genehmigung und Planfeststellung im Luftverkehrsrecht sind folgende vier Fallgestaltungen möglich und unter Umständen unterschiedlich zu behandeln: •

Betriebsregelungen sind in einer vorgängigen Betriebs- und Anlegungsgenehmigung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 LuftVG getroffen worden und werden in dem nachfolgenden Planfeststellungsbeschluss nicht mehr behandelt;



sie werden in einem Planfeststellungs- oder Planfeststellungsänderungsbeschluss getroffen oder geändert;



die in einem Planfeststellungsbeschluss getroffenen Betriebsregelungen werden später durch Genehmigung erweitert oder geändert (Fall des § 8 IV 2 LuftVG);



erweiternde Betriebsregelungen, die bisher noch nicht Gegenstand einer Genehmigung oder Planfeststellung waren, werden nach der Planfeststellung erstmals durch Genehmigung getroffen.

Die Duldungspflicht hinsichtlich der ersten beiden Konstellationen ist vom Bundesverwaltungsgericht herausgearbeitet worden und versteht sich im Grunde von selbst, nämlich aus zwei Überlegungen: der schon erwähnten Konzentration des Rechtsschutzes auf den Planfeststellungsbeschluss (A) und der Verzahnung der Regelungen von luftrechtlicher Genehmigung mit der Planfeststellung (B), die m. E. stets und ohne weiteres eintritt, in welchem zeitlichen Verhältnis die Zulassungsakte auch immer zueinander stehen.

26 Der Gesetzgeber meinte, den Schutz der Anlagen eines planfestgestellten Flugplatzes in § 9 Abs. 3 LuftVG zu gewährleisten, den Betrieb für alle Flugplätze über die Verweisung in § 11 LuftVG generell in § 14 BImSchG erfasst zu haben. Das trifft wegen des mittlerweile entwickelten Dogmas von der Konzentration auf den Planfeststellungsbeschluss nicht zu.

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(A) Bei genehmigten und planfestgestellten Flughäfen ist allein die Planfeststellung der für den Rechtsschutz Dritter maßgebliche Verwaltungsakt, 27 und zwar auch hinsichtlich betrieblicher Regelungen. Das gilt unabhängig davon, ob diese Regelungen schon in der luftverkehrsrechtlichen Genehmigung enthalten waren oder erst mit der Planfeststellung getroffen wurden. 28 (B) Die Rechtsprechung betrachtet Betriebsregelungen vorwiegend als Mittel der Problembewältigung, eben als „Lärmschutzregelungen" - ganz anders als Betroffene, die sie als Instrument der Problemerzeugung empfinden. Hinzu kommt, dass Genehmigung und Planfeststellung (bei planfeststellungsbedürftigen Flugplätzen) in jedem Falle als planerische Entscheidungen mit der Pflicht zur eigenständigen Problembewältigung gesehen werden. Dabei haben beide zwar einen jeweils eigenen Regelungsbereich, sind aber sachlich und verfahrensmäßig miteinander verzahnt. Diese Vorstellung ist unverbrüchlich mit der Gestaltungswirkung der Planfeststellung verbunden. Erst sie verschafft auch den Betriebsregelungen der Genehmigung Außenwirkung im Verhältnis zu den Flughafennutzern. Die Planfeststellungsbehörde ist deshalb nicht gehalten, Lärmschutzregelungen, die bereits mit der Genehmigung getroffen wurden, ausdrücklich in den Planfeststellungsbeschluss mit aufzunehmen. Soweit Lärmschutz bereits durch die Betriebsregelungen der luftverkehrsrechtlichen Genehmigung bewirkt wird, darf die Planfeststellungsbehörde hiervon ausgehen. Es kommt dann für die Rechtmäßigkeit des Planfeststellungsbeschlusses nur darauf an, ob damit eine abschließende planerische Bewältigung der Lärmproblematik gegeben ist oder ob zusätzliche Schutzmaßnahmen aktiver oder passiver Art erforderlich sind. Die inhaltliche Überprüfung durch das Gericht (bei Anfechtungsklagen) bezieht sich auf die Gesamtregelung, die in den beiden miteinander verzahnten Verwaltungsentscheidungen (Genehmigung und Planfeststellungsbeschluss) liegt. Gegenstand des prozessualen Aufhebungsanspruchs ist allein der Planfeststellungsbeschluss als abschließende Verwaltungsentscheidung (Konzentrationswirkung). 29 Nimmt man die Verschmelzung der Regelungen ernst - und das muss man - , so sind die Fälle (c) und (d) ebenfalls nahezu zwingend zu bejahen, obwohl das Bundesverwaltungsgericht sie noch nicht entschieden hat und jüngst sogar Raum für weitere Klärungen angedeutet zu haben scheint.30 Anderenfalls müss27

BVerwG, Urt. vom 7.7.1978 - 4 C 79.76 - , BVerwGE 56, 110, 135. BVerwG, Beschl. vom 18.11.2004 - 4 B 37.04-, Beschlussabdruck S. 4 f.; Beschl. vom 16.12.2003 - 4 B 75.03 - , Buchholz 442.40 § 9 LuftVG Nr. 14; Beschl. vom 19.8.1997 - 11 B 2.97 - , Buchholz 442.40 § 9 LuftVG Nr. 8; Urt. vom 29.1.1991 - 4 C 51.89 - , BVerwGE 87, 332, 348 f. 29 BVerwG, Urt. vom 7.7.1978 - 4 C 79.76-, BVerwGE 56, 110, 135, ferner Urt. vom 20.11.1987 - 4 C 39.84-, Buchholz 442.40 § 6 LuftVG Nr. 17; Urt. vom 29.1.1991 - 4 C 51.89 - , BVerwGE 87, 332 (Leitsatz 5). 30 BVerwG, Beschl. vom 18.11. 2004 - 4 B 37.04 - , Beschlussabdruck S. 4 f. 28

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te man die These von der Konzentration des Rechtsschutzes auf den Planfeststellungsbeschluss zugunsten eines „gespaltenen" Rechtsschutzes aufgeben. 31 bb) Ausnahmsweise: Zurücktreten der Duldungspflicht (1) Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Widerrufs Ausnahmsweise kann ein Widerruf der Planfeststellung - in Durchbrechung der Sperrwirkung ihrer Duldungswirkung - verlangt werden, nämlich aus verfassungsrechtlichen Gründen unter zwei Voraussetzungen: (a) Grundrechtsverletzende Immissionsbelastung: Die Duldungspflicht hat zurückzutreten, wenn die mit dem Anlagenbetrieb verbundenen Fluglärmimmissionen ein Ausmaß erreichen, durch das der Gewährleistungsgehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG oder des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG angetastet wird. Die staatlichen Organe sind verpflichtet, sich schützend und fördernd vor Rechtsgüter zu stellen, die Verfassungsrang genießen. An der Entstehung oder der Aufrechterhaltung verfassungswidriger Zustände dürfen sie nicht mitwirken. 32 (b) Keine ausreichende Abhilfe durch passiven Schallschutz gemäß § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG: 3 3 Vom Widerruf als für den Flughafenunternehmer einschneidende Möglichkeit darf die Luftfahrtbehörde mit Rücksicht auf die Anforderungen, die sich aus dem - ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, nur Gebrauch machen, wenn sich Grundrechtsverstöße (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) nicht unter Einsatz schonenderer Mittel beseitigen lassen. Als solches Mittel kommen nachträgliche Schutzvorkehrungen in Anwendung von § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG in Betracht. Erst wenn sie nicht ausreichen, um Gefahren für grundrechtlich geschützte Rechtsgüter zu begegnen, darf sich die Luftfahrtbehörde als letzten Mittels des (Teil-)Widerrufs bedienen.34

31 OVG NRW, Teilurteil vom 10. Juli 2003 (Fn. 20); nachfolgend: BVerwG, Beschl. vom 26.2.2004 - 4 B 95.03 - , zu Betriebsregelungen, die von einer Planfeststellungsfiktion erfasst werden; zurückhaltend neuerdings: BVerwG, Beschl. vom 18.11.2004 - 4 B 37.04-, Beschlussabdruck S. 4 f. (zu HessVGH, Urt. vom 23.12.2003 - 2 A 2815/01 u.a.). 32 Vgl. BVerwG, Beschl. vom 26.2.2004 - 4 B 95.03 - , NVwZ 2004, 869; Urt. vom 28.10.1998 - I I A 3.98-, BVerwGE 107, 350 und vom 15.9.1999 - I I A 22.98-, Buchholz 442.40 § 8 LuftVG Nr. 17. 33 BVerwG, Beschl. vom 6.4.2004 - 4 B 2.04 - , Buchholz 310 § 137 Abs. 2 VwGO Nr. 12 m.w.N. 34 Vgl. BVerwG, Urt. vom 21.5.1997 (Fn. 19); Beschl. vom 19.8.1997- 11 B 2 . 9 7 - , Buchholz 442.40 § 9 LuftVG Nr. 8, vom 10.10.2003 - 4 B 83.03 - , NVwZ 2004, 97, vom 16.12.2003 - 4 B 75.03 - , und vom 26.2.2004 - 4 B 95.03 - , NVwZ 2004, 869.

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Bemerkenswert ist hier, dass es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts offenbar nicht mehr darauf ankommt, dass einer fachplanerischen Unzumutbarkeit nicht begegnet werden kann, sondern dass eine Belastung erforderlich ist, die unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zum staatlichen Eingreifen zwingt und von den Betroffenen stets auch eingefordert werden kann. Sollte das bedeuten, dass eine „nur" fachplanerisch unzumutbare Situation hinzunehmen ist, wenn ihr durch individuelle Schutzauflagen nicht begegnet werden kann? Glücklicherweise scheint dies ein recht theoretischer Fall zu sein, ebenso wie die Notwendigkeit zum Widerruf aus verfassungsrechtlichen Gründen überhaupt. Eine weitere ungeklärte Frage in diesem Zusammenhang ist, ob Betroffene anstelle (prämissengemäß: unmöglicher) baulicher Schallschutzmaßnahmen auf eine Surrogat-Entschädigung (§ 75 Abs. 2 Satz 4 VwVfG) verwiesen werden können. Das erscheint problematisch, wenn die grundrechtsverletzende Situation nach der Entschädigung fortbesteht, ist aber jedenfalls fur den Übernahmeanspruch zu bejahen, der eine spezielle Form der Entschädigung ist. Der Unterschied zur „einfachen" Geld-Entschädigung, die gerade keine Enteignungsentschädigung ist, dürfte aber nur ein gradueller sein. Auch sie gleicht den Nachteil der Grundstücksbeeinträchtigung aus und gibt dem Eigentümer eine finanzielle Möglichkeit an die Hand, etwa durch Verkauf des Grundstücks, seinerseits geeignete Abhilfe zu schaffen. (2) Voraussetzungen nach § 49 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG Der in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bisher meist behandelte Widerrufsgrund nach § 49 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG entfaltet subjektivrechtliche Wirkung. Mit dem Merkmal der „schweren Nachteile für das Gemeinwohl" ist nicht ausschließlich das Interesse der Allgemeinheit angesprochen; der Schutz bezieht die individuellen Träger dieser Rechtsgüter ein - jedenfalls soweit es um die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter Leben und Gesundheit geht. 35 (3) Verhältnis zwischen passivem und aktivem Lärmschutz Durch die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze ist zugleich das Verhältnis zwischen „aktivem" und „passivem" Lärmschutz bei planfestgestellten Flughäfen entschieden: Anders als bei Ausbaumaßnahmen sind hier die aktiven Maßnahmen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gegenüber passiven

35

Vgl. BVerwG, Urt. vom 21.5.1997 - 11 C 1.96-, BVerwGE 105,6, 12 ff., 15.

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Maßnahmen grundsätzlich nachrangig und dürfen nur ausnahmsweise ergriffen werden. 36

2. Genehmigte Flugplätze a) Handlungsoptionen Man könnte annehmen, dass bei planfeststellungs„freien" Flugplätzen und Flugplatzteilen die Dinge für die Nachbarschaft günstiger liegen, was Einschreitensansprüche angeht, die eines (Teil-)Widerrufs der Genehmigung bedürfen. Denn eine gesetzlich errichtete Duldungspflicht gegenüber dem Flugbetrieb, die aktive Lärmschutzmaßnahmen grundsätzlich ausschließt, besteht hier nicht. Daher ist es auch nicht geboten, prinzipiell zwischen behördlichen Befugnissen und Drittansprüchen auf Einschreiten zu unterscheiden. Dritte können sich jede luftfahrtbehördliche Befugnis zum Einschreiten zunutze machen - mit Erfolg jedoch nur, wenn die oben (II. 3. d) bb) angesprochenen weiteren Voraussetzungen in ihrer Person erfüllt sind. Gleichwohl darf man es durchaus für fraglich halten, ob allein wegen des breiteren Spektrums an behördlichen Maßnahmen der Flugbetrieb selbst leichter einzuschränken ist. b) Widerrufstatbestände

des Luftverkehrsrechts

aa) Spezielle luftverkehrsrechtliche Widerrufsregeln Die speziellen luftverkehrsrechtlichen Regelungen über den Widerruf sind seit je bei der luftrechtlichen Genehmigung verortet (§ 6 Abs. 2 Satz 4 LuftVG), in der Luftverkehr-Zulassungs-Ordnung noch dazu bei der Flugha^«genehmigung (§ 48 LuftVZO). Historisch erklärt sich das ohne weiteres daraus, dass Flugplätze aller Art ursprünglich ausschließlich durch Genehmigung zugelassen wurden. Das war in § 7 LuftVG in der Fassung von 1922 37 bis zur Einführung der Planfeststellung in das Luftrecht 38 ganz allgemein so vorgesehen. Dass es mit diesen Bestimmungen bis heute sein Bewenden hat, kann Erstaunen auslösen, weil nach d^m erreichten Stand der Dogmatik gerade bei Flughäfen - dem klassischen Fall des planfeststellungsbedürftigen Flugplatzes 36 BVerwG, Beschl. vom 6.4.2004 - 4 B 2.04-, Buchholz 310 § 137 Abs. 2 VwGO Nr. 12. 37 § 7 Abs. 1 LuftVG lautete in der Ursprungsfassung: „Flughäfen dürfen nur mit gemeinsamer Genehmigung der Reichsregierung und der Landeszentralbehörde ... beibehalten oder angelegt werden." Die Fassung vom 21.8.1936 vereinfachte: „Die Anlegung und der Betrieb eines Flughafens bedürfen der Genehmigung." 38 5. LuftVG-ÄndG vom 5. Dezember 1958, BGBl. I S. 899, vgl. Fn. 20.

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ein Widerruf der Genehmigung rechtlich ausgeschlossen ist (oben III. 1. a) aa). Der zweite Blick offenbart aber gute Gründe für Fortexistenz der Widerrufsvorschriften bei den Flughafen-Vorschriften: (1)

Bei der (Flughafen-)Genehmigung ist immer dann anzusetzen, wenn es an einer Planfeststellung oder Planfeststellungsfiktion fehlt. Dazu gehören: (a)

all jene Flugplätze der alten Bundesländer, die vor der Einfuhrung der Planfeststellung in das Luftverkehrsgesetz angelegt worden waren und nicht unter die Planfeststellungsfiktion des § 71 LuftVG fallen;

(b)

bis zur Einfügung der Planfeststellungsfiktion auch die - nach dem Maßstab des § 8 LuftVG der Sache nach planfeststellungsbedürftigen - Flugplätze der DDR;

(c)

Militärflugplätze, für die eine Planfeststellung gesetzlich ausgeschlossen ist, § 30 Abs. 1 Satz 2 LuftVG, sofern für sie eine Genehmigung nach § 6 LuftVG vorliegt;

(d)

planfeststellungswidrig angelegte Flughäfen und Flughafenteile, weil richtiger (wenn auch umstrittener) Ansicht nach diese auch durch die Planfeststellungsfiktion nicht legalisiert werden.

(2)

Anwendbar sind die genehmigungsrechtlichen Vorschriften weiter dann, wenn die Flughafengenehmigung „nur" in ihrem personenbezogenen Teil als Unternehmergenehmigung widerrufen werden soll.

(3)

Schließlich bilden die Flughafen-Vorschriften die notwendige Verweisquelle für den Widerruf der Genehmigungen von Landeplätzen (§53 Abs. 1 Satz 1 LuftVZO) und Segelfluggeländen (§ 60 Satz 1 LuftVZO). bb) Anwendungsbereiche

Mit § 48 LuftVZO will ich mich hier nicht vertieft beschäftigen. Er verhilft in den praktisch interessierenden Fällen nicht zu nachträglichem Lärmschutz. § 48 LuftVZO regelt in seiner heutigen Fassung (die seit 1979 gilt, also schon dem Sprachgebrauch des Verwaltungsverfahrensgesetzes angepasst ist) drei Fälle: (1)

die Rücknahme der Flughafengenehmigung bei materiell rechtswidriger Erteilung (das entspricht § 48 VwVfG, ist also eigentlich kein Fall des Widerrufs wegen nachträglicher Veränderungen);

(2)

den Widerruf wegen dauerhafter und nicht behebbarer Unmöglichkeit des Betriebs sowie

(3)

den Widerruf wegen groben Fehlverhaltens des Flughafenunternehmers in Form der Auflagenmissachtung .

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c) (Teil-) Widerruf

nach der Generalklausel

aa) Versagungsgrund als Widerrufsvoraussetzung Die Rechtsprechung greift wegen der lärmschutzrechtlichen Unzulänglichkeit des § 48 LuftVZO seit je zurück auf die Generalklausel in § 6 Abs. 2 Satz 4 LufitVG. Danach erfordert der Widerruf das nachträgliche Eintreten eines Versagungsgrundes im Sinne des Satzes 3. Bei Fluglärm wird nur der Tatbestand der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit einschlägig sein können. Darunter kann auch eine Lärmbelastung Einzelner fallen, denn der Schutz von Individualrechten gehört zur öffentlichen Sicherheit jedenfalls dann, wenn das Verhältnis zwischen Flugplatzbetreiber und seinen Nachbarn in Bezug auf Lärm öffentlich-rechtlich überformt und verselbständig ist. Und das ist infolge der planungsrechtlichen Auflagenvorschriften der Fall. Diese drücken eben die eingangs angesprochene ÜberwachungsVerantwortung der Luftfahrtbehörde aus. Der Einzelne erscheint dabei gewissermaßen als „Repräsentant der Allgemeinheit". bb) Gefahrenschwelle Fraglich ist nur der notwendige Beeinträchtigungsgrad , also die Gefahrenschwelle. Die Rechtsprechung der Obergerichte geht hier m.E. zu rabiat vor. Sie verlangt nämlich vorschnell eine Grundrechtsgefährdung, meist gesundheitsgefährdenden Fluglärm. Das ist in dieser Allgemeinheit schlicht unzutreffend: Eine Gefahr entsteht bereits mit dem Überschreiten der fachplanerischen Zumutbarkeitsschwelle. Bereits diese ergibt - und das ist völlig unstreitig 39 - im Rahmen der Zulassung einen zwingenden Versagungsgrund im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 3 LuftVG, sofern es nicht gelingt, die Lärmbelastung durch flankierende Maßnahmen auf ein fachplanerisch zumutbares Maß zu senken. Die verfassungsrechtliche Zumutbarkeitsgrenze, die durch die Grundrechte gebildet wird, stellt lediglich die theoretisch oberste, absolute Grenze des noch Hinnehmbaren, eben „Zumutbaren" dar. Voreilig ist es daher auch, die grundrechtliche Zumutbarkeitsgrenze im Rahmen der so genannten Lärmsanierung als anspruchsbegründend zu betrachten. Rechtsansprüche auf eine Situationsverbesserung sind nicht erst in den Grundrechten verankert, 40 sondern zunächst und vorrangig in den fachplanerischen Vorschriften.

39 40

BVerwG, jedenfalls seit Urt. vom 7.7.1978 - 4 C 79.76 - , BVerwGE 56, 110. Vgl. z.B. Steinberg/Berg/Wickel, Fachplanung, 3. Aufl. 2000, § 4 Rn. 68-71.

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cc) Nachträgliche Konkretisierung der Zumutbarkeitsgrenze Damit bleibt als praktisches Problem mit Gewicht, wie die fachplanerische Zumutbarkeit im Einzelfall bestimmt werden kann. Von der Struktur her erfolgt die Konkretisierung zwar - ebenso wie bei der Zulassung - durch eine Güterabwägung;41 da gesetzliche Vorgaben aber fehlen, kann es erhebliche Schwierigkeiten bereiten, die im Einzelfall maßgeblichen Gesichtspunkte und Wertungskriterien zusammenzustellen. Auf welche Weise und nach welchen juristisch handhabbaren Regeln ist im Einzelfall genau und in rechtsstaatlicher Weise vorhersehbar zu bestimmen, was zugunsten eines langjährig laufenden Flugbetriebs und einer sich parallel entwickelnden Umgebungsbebauung wechselseitig in die Waagschalen der Güterabwägung fällt? Völlig ungeklärt ist die Frage, ob entsprechend § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG zwischen voraussehbaren Wirkungen des Vorhabens, die durch die Zulassungsentscheidung bis zur verfassungsrechtlichen Zumutbarkeitsgrenze gedeckt sind, und nicht voraussehbaren Wirkungen zu unterscheiden ist. Die Beantwortung dieser Fragen (dazu noch unten IV 1 c) und d) bereitet regelmäßig Schwierigkeiten von solchen Dimensionen, dass es für Gerichte verführerisch ist, auf die vermeintlich einfacher zu handhabende (ohnehin meist zu verneinende) Gesundheitsgefährdung nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG abzustellen. d) Widerrufsermessen Wird eine „unzumutbare" Lärmbelastung festgestellt, so muss die Luftfahrtbehörde im nächsten Schritt das Ermessen nach § 6 Abs. 2 Satz 4 LuftVG ausüben, und zwar in zwei Richtungen: Sie muss entscheiden, ob sie widerrufen will (Entschließungs- oder Einschreitensermessen) und - bejahendenfalls - in welchem Umfang (Auswahlermessen). Auf beiden Ebenen greift eine starke Relativierung durch den ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestatteten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der die Behörde zwingt, bei gleichermaßen effektiver Zielerreichung dasjenige Mittel zu ergreifen, das den Flugplatzbetreiber am wenigsten belastet. aa) Entschließungsermessen Das Entschließungsermessen bezieht sich nicht ganz allgemein darauf, ob die Luftfahrtbehörde überhaupt tätig werden will, sondern ob die konkrete Rechts-

41

Dazu Wysk, in: Ziekow, Praxis des Fachplanungsrechts, 2004, Rn. 1697 ff; ders Ausgewählte Probleme zum Rechtsschutz gegen Fluglärm III, ZLW 1998, 456, 483 f.; Steinberg / Berg / Wickel, Fachplanung (Fn. 40), § 4 Rn. 1 ff.

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folge, der Widerruf, ausgesprochen werden soll. Dies kann sie vornehmlich unter zwei Gesichtspunkten ablehnen: (1) Sie kann den betroffenen Nachbarn auf den Zivilrechtsweg verweisen, wenn er sich gegen den Fluglärm privatrechtlich ausreichend selbst schützen kann (Anspruchsgrundlagen sind §§ 906, 1004 BGB; § 11 LuftVG i. V. m. § 14 BImSchG) 42 . Das ist z. B. erwägenswert, wenn ein freiwilliges Schallschutzangebot des Flugplatzbetreibers vorliegt. Die Ablehnung behördlichen Einschreitens ist Ausdruck der Subsidiarität des Ordnungsrechts, die aber nur unter zwei Bedingungen durchschlägt: (a) Es muss die Prognose gerechtfertigt sein, dass die Lärmwirkungen auf privatrechtlichem Wege effektiv auf ein zumutbares Maß reduziert werden können.43 Bei Schallschutzangeboten setzt das voraus, dass die Behörde das Angebot aufgrund eigener Würdigung für ausreichend hält. Unzumutbaren Situationen mit Blick auf spekulative Abhilfemöglichkeiten tatenlos zuzusehen liegt jedenfalls nicht im behördlichen Entscheidungsspielraum. (ß) Die Luftfahrtbehörde hat die Wirkungsbreite der Lärmbelastung einzustellen und muss bedenken, ob ein Absehen von behördlichen Maßnahmen den mitberührten öffentlichen Interessen gerecht wird. Sie ist z.B. befugt, die Wertigkeit des störenden Flugbetriebes zu ermitteln und kraft ihrer originären Überwachungsverantwortlichkeit einen Widerruf auch dann zu verfügen, wenn sich nur einzelne Betroffene an sie wenden. (2) Das Einschreiten durch Widerruf kann zum anderen deshalb abzulehnen sein, weil individueller baulicher Schallschutz einen ausreichenden Schutz bietet, den Flugplatzbetreiber aber weniger belastet. Zur behördlichen Verschaffung eines Anspruchs auf individuellen Schallschutz bedarf es keines Widerrufs, sondern einer bloßen Genehmigungsergänzung (dazu unten IV.). bb) Auswahlermessen: Schallschutzauflagen und Schutzgebiete Die Auswahl zwischen den durch Widerruf zu bewirkenden Maßnahmen wird nicht vom Abwägungsgebot gesteuert, sondern vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Auch wenn die Abwägung eine spezielle Ausprägung der Verhältnismäßigkeit ist, so sind eingreifende Entscheidungen durchweg keine planeri-

42 Zum Bau- und Immissionsschutzrecht: BVerwG, Beschl. vom 10.12.1997 - 4 B 204.97 - , UPR 1998, 117; Beschl. vom 21.10.1988 - 7 B 154 / 88 - , UPR 1989, 224. 43 Auch wenn die Zivilgerichte durch § 14 BImSchG in der Lage versetzt sind, ähnlich wie die Luftfahrtbehörden betriebsbeschränkende Maßnahmen auszuurteilen, ist der Unterschied zu einer behördlichen verfügten Betriebsbeschränkungen durch Teilwiderruf doch eklatant. Er ergibt sich aus der bloßen Inter-partes-Rechtskraftwirkung eines stattgebenden Zivilurteils, die der Flugplatzbetreiber dem erfolgreichen Kläger etwa „abkaufen" kann.

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sehen Entscheidungen mit planerischen Spielräumen, sondern Ermessensentscheidungen.44 Bei der Mittelauswahl neben Betriebsbeschränkungen stets zu erwägen ist die Reformulierung bzw. Verschärfung von Schallschutzauflagen zur Betriebsgenehmigung. Im Verhältnis zu Betriebsbeschränkungen erscheinen Flugplatzbetreibern passive Schallschutzauflagen zwar regelmäßig als milderes Mittel; bei Licht betrachtet ist es indes zunächst eine Frage betriebswirtschaftlicher Grenzkostenberechnung im Einzelfall ist, ob die Finanzierung von weiträumigem passivem Schallschutz leichter zu schultern ist als die in Rede stehenden Betriebsbeschränkungen. Veränderungen von Schallschutzauflagen erfolgen, ebenso wie ihre nachträgliche Beifügung, im Wege des Widerrufs bzw. nach Widerrufsgrundsätzen. Denn Schallschutzauflagen erfolgen (wie auch Betriebsbeschränkungen) nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch so genannte „allgemeingültige" Auflagen. 45 Mangels besonderer gesetzlicher Grundlage ergibt sich die Rechtsgrundlage aus den luftrechtlichen Auflagenvorschriften in Verbindung mit den verwaltungsverfahrensrechtlichen Widerrufsbestimmungen. 46 Hier trifft man nun wiederum auf eine feinsinnige Unterscheidung, nämlich zwischen der Änderung der materiell-rechtlichen Kriterien, nach denen Schallschutz zu gewähren ist, und der zeichnerischen Verdeutlichung des durch sie erfassten Gebietes mit Hilfe von Schutzgebieten. Beides kann im Laufe der Zeit auseinanderfallen, wenn sich die äußeren Verhältnisse (z. B. wegen der Verlegung von Flugrouten) so ändern, dass nach den „alten" Kriterien in bisher unbelasteten Bereichen Schallschutzansprüche entstehen. Vordergründig scheint es keiner Änderung der bestehenden Genehmigung zu bedürfen, sondern lediglich ihrer Anwendung auf neue Umstände. Das ist aber nicht richtig: Bei der Festlegung eines genehmigungsrechtlichen Schutzgebietes durch Isophone geht es nicht nur um die deklaratorische Darstellung unabhängig davon bestehender individueller Schutzansprüche, wie das Bundesverwaltungsgericht anzunehmen scheint.47 Wenngleich die Festlegung Ansprüche außerhalb des Schutzgebietes nicht abschneidet, so ist sie nicht nur faktisch von beträchtlicher Bedeutung, sondern hinsichtlich der erfassten Grundstücke auch sehr wohl anspruchsbegründend, nimmt dem Flughafenunternehmer insbesondere bestimmte Einwen-

44 Zum Unterschied zwischen Planungs- und Ermessensentscheidung vgl. Wysk, Konsensuale Konfliktbewältigung in der luftrechtlichen Projektplanung, ZLW 2003, 602, 617 f. 45 Grundlegend BVerwG, Urt. vom 29.1.1991 - 4 C 51.89 - , BVerwGE 87, 332 (Juris Rn. 191, 210); ebenso BVerwG, Beschl. vom 6.4.2004-4 B 2.04-, Buchholz 310 § 137 Abs. 2 VwGONr. 12. 46 Kopp /Ramsauer, VwVfG, 8. Aufl. 2003, § 36 Rn. 56 ff. 47 BVerwG, Urt. vom 27.10.1998 - 11 A 1.97-, BVerwGE 107,313.

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düngen (z.B. die Schallbelastung sei im Einzelfall nicht hoch genug). Die Veränderung von Schutzgebieten belastet den Flughafenunternehmer daher und muss durch Widerruf vorgenommen werden. Das gilt selbstverständlich erst recht, wenn die materiellen Kriterien für Schutzansprüche geändert werden. cc) Bewertung Im Ergebnis ist die Luftfahrtbehörde also freier als bei planfestgestellten Flugplätzen, zwischen aktiven und passiven Maßnahmen zu wählen. Das gilt aber nur für die formale Struktur der Eingriffsgrundlage, die eine Duldungswirkung mit einer Festlegung auf passive Schutzvorkehrungen wie in der Planfeststellung (oben III. 1. b) aa) nicht kennt. Praktisch aber wirkt das Verhältnismäßigkeitsgebot in dieselbe Richtung wie die Duldungspflicht. Der entscheidende Unterschied liegt in der Begründungslast der Behörde für die Wahl der Maßnahme. Denn eine Belastung ist mit der Entscheidung stets verbunden, sei es für die Betroffenen, denen eine Verbesserung in der gewünschten Art oder Umfang vorenthalten wird, sei es für den Flugplatzbetreiber, dem auf die eine oder andere Art ein Stück seiner bisherigen Rechtsposition genommen wird.

I V . Nachträgliche individuelle Schutzansprüche 1. Ergänzung von Plan und Genehmigung a) Abgrenzungen Sind die Betroffenen bei planfestgestellten Flugplätzen infolge der Duldungspflicht von vornherein auf individuelle Schutzvorkehrungen verwiesen (oben III. 1. b), so hat die Luftfahrtbehörde bei genehmigten Flugplätzen ermessensfehlerfrei zu entscheiden, ob eine Einschränkung der Genehmigung angezeigt ist oder eine Verpflichtung des Flugplatzbetreibers zur Gewährung punktuellen Schallschutzes ausreicht (oben III. 2. d). Eine dahingehende Ergänzung der Zulassungsgrundlage - mit nicht nur erlaubendem, sondern verpflichtendem Charakter - zugunsten unzumutbar betroffener Nachbarn ist bei jeder Art Flugplatz möglich. Das Luftverkehrsgesetz enthält zwar keine eigenständige Regelung hierüber; eine verallgemeinerungsfähige Grundlage bietet aber die Regelung für Planfeststellungsbeschlüsse im Verwaltungsverfahrensgesetz (§ 75 Abs. 2 VwVfG i. V. m. § 9 Abs. 2 LuftVG); sie ist für Genehmigungen entsprechend anzuwenden. Eine „nachträgliche" Plan- bzw. Genehmigungsergänzung ist in eine Trias ähnlicher Phänomene einzuordnen und abzugrenzen. Zu unterscheiden sind:

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(a) behördliche Ergänzungen bis zur Bestandskraft; (b) behördliche Planergänzung und ergänzendes Verfahren kraft Urteils; (c) behördliche Ergänzung nach Bestandskraft. Zu (a): Nach einem anerkannten Grundsatz des Verfahrensrechts, der unabhängig von den Vorschriften der Planfeststellung gilt, darf die Behörde bis zur Bestandskraft ihrer Entscheidung jederzeit - gegebenenfalls unter Wiederholung früherer Verfahrensabschnitte - einen von ihr erkannten oder auch nur als möglich unterstellten formellen wie auch materiellen Mangel beseitigen. Sie ist insbesondere befugt, das Verfahren wieder aufzunehmen und es (erneut) zu Ende zu führen. 48 Ein solches „ergänzendes Verfahren" und / oder eine Planergänzung ist bei richtiger Betrachtung lediglich ein (weiterer) unselbständiger Abschnitt des (fortgeführten) Ausgangsverfahrens. Als Rechtsgrundlage erschließen sich von daher ohne weiteres diejenigen Vorschriften, die für die geänderte Entscheidung selbst gelten (die jeweilige Planungsermächtigung). 49 Für eine entsprechende Anwendung des § 10 Abs. 8 Satz 2 LuftVG besteht weder Raum noch Notwendigkeit. Soll nicht nur der Planfeststellungsbeschluss geändert werden, sondern der damit festgestellte Plan selbst, so gelten die Sonderregeln des § 76 VwVfG. Zu (b): Planergänzung und ergänzendes Verfahren im Sinne des § 10 Abs. 8 Satz 2 LuftVG kommen als Mittel der Planerhaltung erst dann zum Zuge, wenn ein Gericht bei der Prüfung eines Planfeststellungsbeschlusses zu dem Ergebnis kommt, dass ein Fehler vorliegt, der im Urteil zur Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses fuhren würde. In diesen Fällen bewirkt die Vorschrift im Rahmen der gerichtlichen Entscheidung aus Verhältnismäßigkeitsgründen eine Modifizierung des prozessualen Aufhebungsanspruchs aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO zugunsten abändernden Maßnahmen. Sie setzt dabei die Möglichkeit eines ergänzenden behördlichen Verfahrens bzw. einer Planergänzung voraus, betrachtet also eine entsprechende Befugnis der Behörde als anderweitig begründet. Zu (c): Von beidem Vorstehenden wiederum zu unterscheiden ist die Planergänzung eines bestandskräftigen Planfeststellungsbeschlusses gemäß § 75 Abs. 2 Sätze 2-4, Abs. 3 VwVfG, die als Mittel nachträglicher Problembewältigung - nämlich bei Eintritt unvorhergesehener unzuträglicher Entwicklungen betrachtet werden kann. Nur um sie geht es im Folgenden. 48

Vgl. BVerwG, Urt. vom 14.11.2002 - 4 A 15.02-, NVwZ 2003, 485, 486; Urt. vom 12.12.1996 - 4 C 19.95 - BVerwGE 102, 358, 360 f.; Urt. vom 31.3.1995 - 4 A 1.93 - , BVerwGE 98, 126, Leitsatz 3 und S. 129 f. 49 Vgl. OVG NRW, Urt. vom 2.9.2004 - 2 0 D 13 / 9 8 . A K - , (n.v.) Urteilsabdruck S. 19 unter Bezug auf Urt. vom 30.10.1996 - 21 D 2 / 89.AK - (n.v.) zum Atomrecht; ebenso 10.12.2004 - 20 D 134 / 00.AK.

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b) Struktur der nachträglichen Planergänzung aa) Nicht voraussehbare nachteilige Wirkungen Die nachträgliche Schutzgewährung gemäß § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG (anwendbar sind im Luftverkehrsrecht auch hier die Landes-Verwaltungsverfahrensgesetze) dient der Bewältigung atypischer Planungsfolgen, und das heißt Wirkungen, die im Zeitpunkt der Planungsentscheidung nicht voraussehbar waren. Das sind solche nachträglichen tatsächlichen Entwicklungen, die ihre Ursache in dem Vorhaben oder in den planfestgestellten Anlagen haben und mit denen der Betroffene im Zeitpunkt des Erlasses des Planfeststellungsbeschlusses verständigerweise nicht zu rechnen brauchte. Insoweit gilt - nach umstrittener Auffassung der Rechtsprechung ein objektiver Maßstab. Tragender Grund ist die Überlegung, dass die Betroffenen nicht schlechter dastehen sollen, als sie stünden, wenn die eingetretene nachteilige Wirkung bereits im Zeitpunkt der Planfeststellung vorausgesehen worden wäre. 50 Nicht voraussehbar im Sinne dieser Vorschrift kann eine Verschlechterung der tatsächlichen Verhältnisse sein, aber auch eine Änderung der Erkenntnislage hinsichtlich prognostizierter Auswirkungen, deren Schädlichkeit oder, Gefährlichkeit sich aufgrund gesicherter neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und des technischen Fortschritts erst nachträglich herausstellt. Insoweit trägt § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG tatsächlichen Entwicklungen Rechnung, die einen neuen Stand von Wissenschaft und Technik begründen. 51 Bei der Handhabung des Merkmals der Vorhersehbarkeit bestehen unzweifelhaft Spielräume. Will man den Betroffenen nicht weitgehend das Prognoserisiko aufbürden - was systemwidrig und wegen der geübten Planungspraxis (eingangs I.) völlig inakzeptabel wäre - , so ist ein äußerst vorsichtiger Umgang geboten. Im Nachhinein lässt sich bekanntlich immer leicht sagen, was im Einzelnen hätte vorhergesehen werden können. Richtschnur hat aber grundsätzlich zu sein: Nachteile, die der Träger der Planfeststellung selbst nicht vorhergesehen hat, sind bei objektiver Betrachtung auch für den Betroffenen nicht voraussehbar. 52 Was im Planfeststellungsbeschluss nicht erkennbar berücksichtigt worden ist, ist grundsätzlich auch für jeden betroffenen Dritten nicht voraussehbar. Irrtümer - d.h. Planungsrisiken - treffen den Planungsträger. Diesem ist 50

BVerwG, Beschl. vom 21.1.2004 - 4 B 82.03 NVwZ 2004, 618 (Leitsatz 1). Vgl. BVerwG, Beschl. vom 21.1.2004 - 4 B 82.03 - , NVwZ 2004, 618; Urt. vom 19.12.1985 - 7 C 65.82 - , BVerwGE 72, 300, 312. 52 So BVerwG, Urt. vom 23.4.1997 - 11 A 17.96-, NVwZ 1998, 846; Urt. vom 1.7.1988 - 4 C 49.86-, BVerwGE 80, 7, 13; Kopp / Ramsauer, VwVfG (Fn. 46), § 75 Rn. 25; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. vom 28.4.2004 - 8 C 10879/03 - , NVwZ-RR 2005, 168; zum Streitstand (subjektiver- objektiver Maßstab) und seinen Konsequenzen: Steinberg/Berg/Wickel, Fachplanung (Fn. 40), § 4 Rn. 130. 51

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damit auch die fehlgeschlagene Prognose der Verkehrsentwicklung anzulasten, genauer: Immissionszunahmen über das prognostizierte Ausmaß hinaus. Dasselbe gilt grundsätzlich, wenn sich Schutzvorkehrungen als unzureichend erweisen.53 Im Zweifel ist das Merkmal der Vorhersehbarkeit zu verneinen. 54 Die Schaltstelle ist von Bedeutung: Vorhersehbare Wirkungen werden von § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG nicht erfasst. Sie sind zu dulden - bis zur verfassungsrechtlich gezogenen Grenze, deren Überschreitung keinesfalls hinzunehmen ist und gegenüber dem staatlichen Organen Einschreitensansprüche unmittelbar aus den Grundrechten entstehen lässt. bb) Antrag Die Bewältigung nachträglicher unzumutbarer Entwicklungen der genannten Art verweist § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG in ein gesondertes Antragsverfahren. Die „Initiative" geht also nicht von der Behörde aus und ebenso wenig von einer gerichtlichen Anordnung, sondern liegt ausschließlich in Händen des einzelnen betroffenen Nachbarn: Er kann Planergänzung verlangen (§ 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG), muss dies aber fristgerecht beantragen (§ 75 Abs. 3 VwVfG). 5 5 Freilich: Die Befugnis der Luftfahrtbehörde, aus eigenem Antrieb (auch neben einem Antragsverfahren) Maßnahmen im Wege des (Teil-)Widerrufs zu treffen, wird hierdurch nicht angetastet. Die Duldungswirkung (§75 Abs. 2 Satz 1 VwVfG) steht lediglich Ansprüchen Betroffener entgegen, hindert diese also, Betriebsbeschränkungen gegen den Willen der Behörde mit gerichtlicher Hilfe durchzusetzen. cc) Verfahren Das erfolgreiche Verfahren nach § 75 Abs. 2 Sätze 2 und 3 VwVfG fuhrt zu einer Planergänzung um Schutzauflagen. Sie entspricht wohl der Sache nach demjenigen, was in § 10 Abs. 8 LuftVG - dort zur Abwendung bestimmter Rechtsfehler - vorausgesetzt ist; um die Behebung von Fehlern des Planfeststellungsbeschlusses geht es freilich nicht, ebenso wenig um eine Änderung des Vorhabens (das ja gerade durch die Duldungswirkung geschützt bleibt). Daher

53

BVerwG, Urt. vom 22.11.2000 (Fn. 9); Stelkens /Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 75 Rn. 52b. 54 Ebenso Kopp /Ramsauer, VwVfG (Fn. 46), §75 Rn. 25; Dürr in: Knack, VwVfG, 8. Aufl. 2004, § 75 Rn. 87; Steinberg/Berg/ Wickel, Fachplanung (Fn. 40), § 4 Rn. 130 unter Hinweis auf BVerwG, Urt. vom 1.7.1988 - 4 C 49.86-, BVerwGE 80, 7, 13. 55 Zur Fristberechnung BVerwG, Beschl. vom 10.10.2003 - 4 B 83.03 - , NVwZ 2004, 97.

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findet auch keine Planänderung und kein Änderungs-Planfeststellungsverfahren statt, sondern ein besonderes Antragsverfahren (Verwaltungsverfahren im Sinne des § 9 VwVfG). Endet es antragsgemäß, so erlässt die Behörde einen neuen Verwaltungsakt, der den ursprünglichen Planfeststellungsbeschluss ergänzt und mit ihm zu einer neuen rechtlichen Einheit verschmilzt; der Verwaltungsakt verschafft dem einzelnen Betroffenen einen Anspruch gegen den Flughafenunternehmer. 56 dd) Anspruchsinhalt Der Anspruch geht auf Schutzeinrichtungen" (vgl. § 75 Abs. 3 Satz 1 VwVfG 5 7 ) oder - ersatzweise - auf angemessene Entschädigung (§ 75 Abs. 2 Satz 4 VwVfG). Sie „sind" dem Flughafenunternehmer durch Beschluss (Verwaltungsakt) der Planfeststellungsbehörde aufzuerlegen (§ 75 Abs. 2 Satz 3 VwVfG). Ein Entschließungsermessen besteht hier also nicht - das ist nur konsequent, weil der individuelle Schutz als Gegenstück zur Duldungswirkung zu verstehen ist. Die Behörde stellt eine Anspruchsbeziehung her zwischen zwei Privaten - Flughafenunternehmer und Grundeigentümer. Daher kann Anspruchsinhalt nur dasjenige sein, was der Flughafenunternehmer erfüllen kann. Im Ergebnis muss es daher bei passivem Schallschutz bleiben, was sich aus zwei Gründen versteht: Zum einen will die Duldungswirkung nach § 75 Abs. 2 Satz 1 VwVfG betriebliche Beschränkungen im Sinne von „aktivem" Schallschutz gerade verhindern; zum anderen bleibt der festgestellte Plan unangetastet, der über den Hebel des § 45 Abs. 1 Satz 1 LuftVZO die Betriebspflichten des Unternehmers gegenüber Interessenten begründet. Der Unternehmer könnte Betriebseinschränkungen den Flugplatznutzern daher gar nicht durchsetzen. 58 c) Das anspruchsbegründende Belastungsniveau Für die Ausgangsfrage (oben I.) wichtig ist es, das Belastungsniveau zu bestimmen, das den Anspruch auf Schutzeinrichtungen begründet. Diese Belastungsobergrenze wird auch bei § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG (wie bei § 6 Abs. 2

56 Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG (Fn. 53), § 75 Rn. 52b; Steinberg /Berg / Wickel, Fachplanung (Fn. 40), § 4 Rn. 128 m.w.N. 57 Man spricht meist von Schutz,,Vorkehrungen" bzw. „-anlagen", was die physische Seite anspricht, oder von Schutzauflagen oder Schutzanordnungen, was die regelnde Seite meint. 58 Dazu schon Wysk, Ausgewählte Probleme zum Rechtsschutz gegen Fluglärm III, ZLW 1998, 456, 463 f. mit Nachw.; zustimmend HessVGH, Urt. vom 2.4.2003 - 2 A 2646 / 01 - , NVwZ-RR 2003, 729.

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Satz 4 LuftVG) durch die fachplanerische Zumutbarkeit definiert, 59 die in § 9 Abs. 2 LuftVG als strikte Grenze (im Sinne eines Versagungsgrundes) für das ausgleichslose Hinnehmen von Wirkungen eines luftrechtlichen Vorhabens gezogen ist. Das drückt sich in der Wendung „nachteilige Wirkungen" in der Rechtsfolgenanordnung des § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG aus. Damit korrespondiert die Norm unmittelbar mit § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG und mit dem Wort „Nachteile" in § 9 Abs. 2 LuftVG, aber auch ganz allgemein mit einem immissionsschutzrechtlichen Sprachgebrauch (vgl. § 3 Abs. 1 BImSchG: „erhebliche Nachteile"). Von daher ist das Tatbestandsmerkmal zu lesen, dass die nachteiligen Wirkungen ein „Recht" betreffen müssen, unter dem jede Rechtsposition eines Planbetroffenen zu verstehen ist, welche diesem bei Vorhersehbarkeit der nachteiligen Wirkungen des Vorhabens (im Zeitpunkt der Planfeststellung) einen Anspruch auf Vorkehrungen nach § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG vermittelt hätte. Es handelt sich nicht um den Anspruch auf gerechte Abwägung, sondern auf Bewahrung vor unzumutbaren Auswirkungen. Zu fragen ist, ob bei unterstellter Voraussehbarkeit der Wirkungen im Zeitpunkt der Planfeststellung begründeter Anlass bestanden hätte, zugunsten der nachteilig Betroffenen im Planfeststellungsbeschluss Schutzauflagen anzuordnen. Damit sind unzumutbare Folgen im Sinne der planungsrechtlichen Auflagenvorschriften angesprochen, Beeinträchtigungen bloß abwägungserheblicher (stets zumutbarer) Belange bleiben überhaupt außer Betracht. Das ergibt sich schließlich aus dem Zweck der nachträglichen Planergänzung, nämlich Betroffene nicht schlechter zu stellen, als sie stünden, wenn die eingetretenen nachteiligen Wirkungen im Zeitpunkt der Planfeststellung bereits vorhergesehen worden wären. Die Identität des nachträglichen und des ursprünglichen Belastungsniveaus, jedenfalls vom theoretischen Ansatz her, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wiederholt herausgearbeitet worden - in Fachplanungsbereichen außerhalb des Luftverkehrsrechts und wenn es nicht um Lärm ging. 60 Im Luftverkehrsrecht hingegen lesen sich manche Entscheidungen anders, nämlich so, als würde die Rechtsfolge erst durch das Erreichen der so genannten Verfassungsgrenze ausgelöst: Schutzmaßnahmen seien geboten, so ist zu lesen, wenn die betriebsbedingten Lärmeinwirkungen die Grenze einer Grundrechtsverletzung oder eines sonstigen Verfassungsverstoßes erreichten, also die mit dem Anlagenbetrieb verbundenen Immissionen ein Ausmaß annähmen, durch das der Gewährleistungsgehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG oder des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG angetastet wird. 61 Das ist - wäre es in vollem Ernst gemeint - äußerst 59

Steinberg / Berg / Wickel, Fachplanung (Fn. 40), § 4 Rn. 129. Z.B. BVerwG, Urt. vom 12.8.1999 - 4 C 3.98 - , NVwZ 2000, 675 (Trinkwasserversorgungsanlage). 61 BVerwG, Beschl. vom 26.2.2004 - 4 B 95.03 - unter Bezugnahme auf Urt. vom 15.9.1999 - 11 A 22.98-, UPR 2000, 116; Beschl. vom 16.12.2003 - 4 B 75.03-, NVwZ 2004, 865 (Leitsatz 2). 60

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problematisch, ist aber wohl nur missverständlich formuliert. Sicher: Voraussehbare Wirkungen unterliegen nachträglich keiner Bewertung nach Zumutbarkeitsregeln; sie sind hinzunehmen bis zur Grenze des Verfassungsverstoßes (oben IV. 1. b) aa). Und ebenso richtig: Fluglärm als solcher gehört stets zu den vorhersehbaren Wirkungen eines Flugplatzbetriebs. Darauf kommt es aber im Zusammenhang mit § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG nicht an. Zu fragen ist in jedem einzelnen Fall, ob die vorausgesehenen Lärmbeeinträchtigungen gerade für den Betroffenen und überdies im konkreten physikalischen Ausmaß voraussehbar waren. Daher darf die Aussage des Bundesverwaltungsgerichts allenfalls so verstanden werden, dass der Verfassungsverstoß in der Bandbreite des Zumutbaren wiederum nur die Obergrenze dessen darstellt, was behördlicherseits überhaupt reaktionslos hingenommen werden dürfte. Es fehlt jeder sachliche Grund dafür, die Duldungspflicht (Flug-)Lärmbetroffener erst bei den Grundrechten enden zu lassen, die aus sich heraus - ohne dass es der fachplanerischen Auflagenvorschriften bedürfte- staatlichen Schutz erzwingen. Schutz durch bauliche Schallschutzmaßnahmen ist bereits dann zu gewähren, wenn dies bei unvorhersehbaren Lärmwirkungen im Sinne des § 9 Abs. 2 LuftVG zur Sicherung der Benutzung der benachbarten Grundstücke gegen Gefahren oder Nachteile notwendig ist. 62 Die Wirkungen auf das Recht eines anderen im Sinne des § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG sind also mitnichten generell gleichzusetzen mit der verfassungsrechtlichen Zumutbarkeitsgrenze. Diese absolute Obergrenze zu aktivieren, kann heute im Übrigen kein begründeter Anlass bestehen: Ein Flughafen, der sich ein „anständiges" fachplanerisches Schutzniveau nicht zu jeder Zeit erlauben könnte, hat keine Daseinsberechtigung. d) Konkretisierung

der Zumutbarkeitsschwelle

im Einzelfall

Der entscheidende praktische Punkt ist auch hier die konkrete nachträgliche Bestimmung der fachplanerischen Unzumutbarkeit der Lärmbelastung. Sie ist auch im Rahmen des § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG mit Hilfe einer - gerichtlich voll überprüfbaren - Güterabwägung zwischen den Belangen des Betroffenen und den Belangen des Flugplatzbetreibers vorzunehmen (dazu schon oben III. 2. c) cc). 63 Diese Abwägung ist individuell vorzunehmen - d.h. für jedes einzelne betroffene Grundstück - und relativ - d. h. ins Verhältnis zu setzen mit den Belangen des Flughafenunternehmers und der Allgemeinheit. Diese Abwägung kann zu dem Schluss kommen, dass die Bewältigung der Lärmfolgen vom jeweiligen Nachbarn zu leisten ist. Um es deutlich zu sagen: Mit dieser Wertung wird niemand zu untätiger Hinnahme der (subjektiv möglicherweise als uner62 So OVG NRW, Schlussurt. vom 29.7.2004 - 2 0 D 78 / 0 0 . A K - (n.v, nicht rechtskräftig). 63 Vgl. Stelkens / Bonk /Sachs, VwVfG (Fn. 53), § 75 Rn. 53.

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träglich empfundenen) Situation verpflichtet. Denn unter dem Begriff der Zumutbarkeit ist allein die Frage zu beantworten, wem im Interessenausgleich zwischen dem Flugplatzbetreiber, seinen Nachbarn und der Allgemeinheit die Verantwortung fur die Herbeiführung der gewünschten Verhältnisse zufällt. Trifft diese im Einzelfall den Nachbarn - im Sinne einer Last zur Eigenbewältigung der Lärmfolgen - , so ist es an ihm, für Abhilfemaßnahmen zu sorgen, sei es, dass er sich dafür entscheidet, Benutzungseinschränkungen zu ertragen oder Schallschutz auf eigene Kosten vorzunehmen, sei es, dass er das Grundstück (u. U. mit finanziellen Einbußen) aufgibt. aa) Vorliegen eines Planfeststellungsbeschlusses Liegt ein auf konkreter Abwägung beruhender Planfeststellungsbeschluss vor, so ist das Ergebnis der Güterabwägung einigermaßen vorhersehbar. Der Planfeststellungsbeschluss bildet - in einem ersten Schritt - den aussagekräftigen Bezugspunkt für die Beurteilung nachträglicher Entwicklungen. § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG ist dann der rechtliche Hebel, um die ursprünglichen Zumutbarkeitserwägungen auf spätere (atypische) Planungsfolgen zu übertragen. So gesehen könnten Betroffene immer unter Berufung auf den Planfeststellungsbeschluss den dort für notwendig erachteten Schutz verlangen, wenn sie wider Erwarten stärker oder anders belastet werden. Sodann kann es aber - in einem zweiten Schritt - geboten sein, die seinerzeitigen Erwägungen zu aktualisieren. Dabei sind einzubeziehen: (a) das Verhalten des Betroffenen (inwiefern etwa musste er sich auf Belastungen und Entwicklungen einstellen?) und (b) aktuelle Erkenntnisse der Lärmwirkungsforschung (ist das seinerzeit für zumutbar Gehaltene auch nach heutigem Wissen noch zumutbar?). bb) Fingierte Planfeststellung Problematisch wird die Güterabwägung in allen Fällen, in denen eine aussagekräftige Planungsentscheidung als Bezugspunkt für die Beurteilung ausfällt, wie das häufig bei fingierter Planfeststellung der Fall ist. Zunächst auch hier: Die Anwendbarkeit der nachträglichen Planergänzung gemäß § 75 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 VwVfG auf fingierte luftrechtliche Planfeststellungen ist geklärt 64 (wie deren Widerrufsmöglichkeit). Dann aber wird günstigstenfalls eine kaum aussagekräftige Alt-Genehmigung vorliegen. In diesem Fall muss die Luftfahrtbehörde - wie später das Gericht - das volle Spektrum der Wertungsgesichtspunkte im Interessengeflecht Flughafen - Nachbar - Allgemeinheit erarbeiten. Die the-

64 BVerwG, Beschl. vom 21.1.2004-4 B 82.03 26.2.2004 - 4 B 95.03 - , NVwZ 2004, 869.

NVwZ 2004, 618; Beschl. vom

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oretische Struktur unterscheidet sich nicht von Zumutbarkeitserwägungen in Planungsfällen; die Erörterungslast ist aber unvergleichlich viel höher, vor allem was die Bestimmung der Wertigkeit des laufenden Flugbetriebs, die an die Betroffenen gestellten Anforderungen und die ihnen zuzugestehenden Nutzungsmöglichkeiten angeht. Praktisch wird der laufende Flugbetrieb meist von vornherein ein größeres Gewicht haben als bei der Errichtung und Ausbau und man wird bei Betroffenen stärker die Notwendigkeit betonen, sich auf den Flugbetrieb einzustellen. So können Grundstückseigentümern etwa Verstöße gegen baurechtliche Lärmschutz- und Wärmedämmungs-Vorschriften vorgehalten werden, die eine unzumutbare Innenraumbelastung mitverursacht haben und es kann vorkommen, dass ihnen angesonnen wird, die Fenster geschlossen zu halten, sie in Lärmpausen zum Lüften zu öffnen oder (auch nachts) bei einsetzendem Fluglärm zu schließen.

2. Genehmigungsergänzung Eine nachträgliche Genehmigungsergänzung ist ebenso möglich, wenn Flugplätze allein durch eine Genehmigung legalisiert werden. 65 Auch hier sind dieselben Unterscheidungen zu treffen wie bei der Ergänzung von Planfeststellungsbeschlüssen (oben IV. 1. a), nämlich die behördliche Ergänzung der Genehmigung bis zur Bestandskraft (die nach allgemeinen Grundsätzen stets möglich ist), Ergänzungen und ergänzendes Verfahren kraft Urteils und schließlich die Genehmigungsergänzung nach Bestandskraft. Fraglich kann nur die Zulässigkeit der Genehmigungsergänzung als Mittel der Fehlerbehebung in einem Urteilstenor sein. Sie ist im Gesetz - anders als bei der Planfeststellung - nicht vorgesehen. Daher bedürfte es einer entsprechenden Anwendung des § 10 Abs. 8 Satz 2 LuftVG, da man - anders als bei der Relevanzprüfung nach Satz 1 - kaum von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz sprechen kann. 66 Hingegen ist die nachträgliche behördliche Genehmigungsergänzung (wie bei der Planfeststellung) ohne weiteres möglich. Die Obergerichte gehen von ihrer Zulässigkeit aus, und das Bundesverwaltungsgericht hat sich dem offenbar angeschlossen, (ohne dies bisher allerdings konkret

65 Das sind kleinere Plätze ohne (beschränkten) Bauschutzbereich. Für Flugplätze, die ursprünglich nur durch Genehmigung zugelassen worden sind, nach heutigen Maßstäben aber einer Planfeststellung bedürften, wird in aller Regel die Planfeststellungsfiktion des § 71 LuftVG eingreifen. 66 Die Anwendung der in § 10 Abs. 8 Satz 1 LuftVG vorgesehenen Relevanzprüfung auf luftrechtliche Genehmigungen hat das Bundesverwaltungsgericht auf einen das Fachplanungsrecht allgemein beherrschenden Grundsatz zurückgeführt, ohne dass es der entsprechenden Anwendung des § 10 Abs. 8 Satz 1 LuftVG bedarf, vgl. BVerwG, Beschl. vom 20.2.2002 - 9 B 63.01 - , NVwZ 2002, 1235.

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tragend entscheiden zu müssen). Die Rechtsprechung stellt darauf ab, dass es sich bei der luftverkehrsrechtlichen Genehmigung um eine Planungsentscheidung 67 handelt und zieht daraus zwei Konsequenzen: (1) dass eine nachträgliche Genehmigungsergänzung entsprechend § 75 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 VwVfG i.V.m. § 9 Abs. 2 LuftVG zu gewähren ist; 68 (2) dass der fachplanerische Grundsatz vom Vorrang des Planergänzungsanspruchs gegenüber dem Anspruch auf Planaufhebung (entsprechend § 10 Abs. 8 Satz 2 LuftVG) auch für die luftverkehrsrechtliche Genehmigung gilt, soweit diese Planungsfunktion besitzt. 69

3. Zur Bedeutung freiwilliger Schallschutzangebote a) Planfestgestellte

Flugplätze

Ob freiwillige Schallschutzangebote des Flugplatzbetreibers („Schallschutzprogramme") berechtigte Ergänzungsforderungen abwenden können, ist je nach Zulassungsgrundlage unterschiedlich zu beurteilen. Bei planfestgestellten bzw. als solche fingierten Flugplätzen sind freiwillige Angebote angesichts des klaren Gesetzeswortlauts des § 75 Abs. 2 Satz 3 VwVfG unzureichend: Schutzvorkehrungen „sind" dem Träger des Vorhabens durch Beschluss der Planfeststellungsbehörde aufzuerlegen. Die obligatorische Einschaltung der Luftfahrtbehörde macht auch Sinn. Sie ist der Ausgleich für die gesetzlich auferlegte Duldung des Vorhabens und soll den Streit über das Ob, den Umfang und die Abwicklung der Schutzvorkehrungen zwischen den Parteien entscheiden. Oft wird ja gerade darüber Streit herrschen, ob das unterbreitete Schallschutzangebot nach Umfang und Art der Abwicklung ausreichend ist. 70 b) Genehmigte Flugplätze Für die Genehmigungsergänzung ist die Abwendungsmöglichkeit hingegen parallel zu den Grundsätzen zu erwägen, die für den Widerruf entwickelt worden sind (oben III. 2. d). Da die Genehmigungsergänzung durch Analogie zu 67 BVerwG, Beschl. vom 7.11.1996 - 4 B 170.96 - , Buchholz 442.40 § 8 LuftVG Nr. 13 m.w.N. 68 Vgl. BVerwG, Urt. vom 15.9.1999 (Fn. 61) a.E. unter Hinweis auf OVG Bremen, NVwZ-RR 1994, 189, 191; NVwZ-RR 1997, 214; OVG Frankfurt (Oder), ZLW 1997, 421,423. 69 OVG Bremen, Urt. vom 11.6.1996 - OVG 1 G 5 / 94 - , Juris. 70 OVG NRW, Schlussurt. vom 29.7.2004 - 20 D 78 / 00.AK - (n.v. - nicht rechtskräftig).

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den Planfeststellungsvorschriften begründet wird, kann es an der Notwendigkeit einer entsprechenden Anwendung auch des § 75 Abs. 2 Satz 3 VwVfG (Auferlegung durch Beschluss) fehlen. Dabei sind die fehlende Duldungswirkung bei nicht planfestgestellten Plätzen und die ohnehin stärkere Verweisung der Flugplatznachbarn auf Eigenschutz im Wege zivilrechtlichen Vorgehens zu bedenken. Ohne ausdrückliche Prüfung und behördliche Billigung des Schallschutzangebotes kommt eine Ablehnung berechtigter Ergänzungsansprüche aber nicht in Betracht.

V. Resümee 1. Das Schutzniveau Die These der Rechtsprechung vom Bestehen ausreichender nachträglicher Schutzmöglichkeiten trifft zu, wenn man das theoretische Rüstzeug betrachtet. Dieses gewährt Schutz nach den Maßstäben und auf dem Niveau der fachplanerischen Zumutbarkeitsschwelle im Sinne des § 9 Abs. 2 LuftVG, § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG. Das bedeutet zweierlei: (1) Ein Anspruch auf allgemeine Abwägung des Vorhabens besteht nicht mehr; insofern setzt sich die Bestandskraft der Zulassung durch. (2) Andererseits sind unzumutbare Wirkungen zu keinem Zeitpunkt von der Zulassung abgedeckt. Freilich kann sich die Grenze des Zumutbaren - bei Zulassung wie auch später im Einzelfall zu bestimmen - nach oben verschieben: Vorhersehbare Wirkungen sind grundsätzlich als zumutbar anzusehen und hinzunehmen; eine absolute Grenze ergibt sich hier erst aus der Verfassung, also bei Grundrechtsverletzungen. Nicht vorausgesehene nachträgliche Belastungen (nach Art oder Umfang) sind grundsätzlich so zu behandeln, als müssten sie in einem Planungsverfahren neu bewältigt werden; namentlich sind sie auf der Grundlage der jeweils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu bewerten. Bei planfestgestellten Flugplätzen bzw. Flugplatzteilen kann diese Bewertung von Betroffenen aber nur im Rahmen der Prüfung individueller Schutzeinrichtungen (§ 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG) verlangt werden.

2. Vergleich von genehmigten mit planfestgestellten Flugplätzen Der Vergleich von genehmigten mit planfestgestellten Flugplätzen ergibt letztlich kaum relevante Unterschiede. Der Beschränkung auf passive Schutzmaßnahmen infolge der Duldungswirkung bei planfestgestellten Flugplätzen (§ 75 Abs. 2 Satz 1 VwVfG) steht nur theoretisch eine „freie" (d. h. ermessensfehlerfreie) Auswahl zwischen aktiven Maßnahmen (Betriebsbeschränkungen) und passiven bei nur genehmigten Betriebsteilen gegenüber. Praktisch ver-

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schafft der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Rahmen des Ermessens aber auch dort dem passiven Schallschutz einen allgemeinen Vorrang. Der Unterschied liegt im Wesentlichen im Begründungsaufwand und im Rechtfertigungszwang für die Behörde im Einzelfall. Ob die Rechtfertigung für die Ablehnung aktiver Maßnahmen gelingt, hängt sehr stark von den in Rede stehenden Betriebsbereichen und -einschränkungen ab sowie von ihre Bedeutung für den Unternehmer und die Allgemeinheit.

3. Zumutbarkeitsbestimmung im Einzelfall Nach der Struktur der Schutzgewährung offenbaren sich die Probleme als solche der praktischen Anwendung des Systems auf die Realität. Zu Lasten der Nachbarschaft sind dabei starke Kräfte am Werke, nämlich: a) Der Mangel an gesetzlichen (generalisierenden) Vorgaben für Zumutbarkeits- und Sanierungsgrenzen nötigt zu Einzelfallbetrachtungen mit unvorhersehbarem Ergebnis; die individuelle Betrachtung einzelner Grundstücke an einzelnen Flugplätzen führt zu teilweise deutlich auseinanderfallenden Schutzniveaus an Flugplätzen. b) Die Abhängigkeit rechtlicher Bewertungen von außerrechtlichen Erkenntnissen, namentlich über die Gesundheitsgefährdung durch Lärm. Immer feinere Mess- und Untersuchungsmethoden der Lärmwirkungsforschung fördern zwar immer neue, subtilere Reaktionen auf Lärmereignisse zu Tage. Ob diese Reaktionen als normale Reizantworten oder als gesundheitlich bereits bedenklich eingestuft werden müssen, ist aber selten klar. Rechtlich fundierte Ansprüche (deren Kehrseite immer Eingriffe in Rechtspositionen sind) müssen sich indes auf gesicherte Erkenntnisse stützen können; wesentlicher Streit unter den Wissenschaftlern darf nicht bestehen. Zur Vorsorge kann die Behörde beim nachträglichen Eingreifen nicht mehr verpflichtet werden; auch darin liegt ein deutlicher Unterschied zur Ausbausituation. c) Die politische Billigung von Luftverkehr im Allgemeinen, die von der Luftfahrtbehörde im Einzelfall umgesetzt wird, und die rechtlich anerkannte Rechtsposition des Flugplatzbetreibers an der Fortfuhrung des laufenden Betriebs. Dabei ist die Position des Flugplatzbetreibers grundsätzlich auf Ausschöpfung (Betriebserweiterung) angelegt. Auch insofern stehen Betroffene beim nachträglichen Eingreifen generell schlechter da als bei Anlegung und Ausbaumaßnahmen, wo der Stellenwert und das öffentliche Interesse für die Maßnahme belegt werden müssen. Beim nachträglichen Einschreiten kehren sich die Nachweislasten gewissermaßen um: Den Kläger trifft die Last, die Voraussetzungen für ein Einschreiten zumindest plausibel zu machen.

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d) Dem Nachbarn wird bei dieser Plausibilisierung abverlangt, überzeugend darzutun, •

dass die Voraussetzungen für ein Einschreiten zu seinen Gunsten vorliegen, vor allem, dass er selbst unzumutbar belastet ist,



dass er sich auf die Situation nicht einstellen musste bzw. sich auf erkennbare rechtmäßige Entwicklungen des Flugbetriebs eingestellt hat,



dass er alle zumutbaren Maßnahmen des Eigenschutzes vorgenommen, etwa Bauvorschriften eingehalten hat.

4. Ein bleibendes Problem: die richtige Balance Bei allem geht es um das nachträgliche Herstellen einer neuen Balance zwischen der Rechtsposition des Flugplatzbetreibers und den Belangen der Umgebung oder einzelner Nachbarn. Diese Balance wird materiell-rechtlich - nicht anders als bei Errichtung und Ausbau von Flugplätzen - mit dem Begriff der Zumutbarkeit umschrieben und durch eine Güterabwägung hergestellt. Was kann, in Ansehung der geschilderten Probleme, dazu hilfreich sein, das richtige Gleichgewicht herzustellen? a) Von der Festsetzung von (Immissions-)Grenzwerten für die Lärmbelastung - so wünschenswert sie ist 71 - darf man sich für die nachträgliche Bestimmung der Zumutbarkeit nur begrenzt Hilfe erwarten: Zum einen wird die Diskussion um ihre Gültigkeit voraussichtlich dauerhaft geführt werden und wegen des rasanten Fortschritts der Lärmwirkungsforschung einerseits, der noch lange nicht zu beseitigenden Unsicherheiten über Langzeitgefährdungen andererseits auf absehbare Zeit nicht zu einer abschließenden Klärung kommen können. Zum anderen aber legen gesetzliche bzw. verordnungsrechtliche Grenzwerte in aller Regel wohl Standards für Anlegung und wesentliche Erweiterung fest oder benennen verfassungsrechtlich begründete Sanierungswerte (wie etwa bei der 16. BImSchV zu sehen); Aussagen zur dauerhaft zu gewährleistenden fachplanerischen Zumutbarkeitswerten macht der Gesetz- und Verordnungsgeber bislang aber nicht. Ob sich solche Werte der geplanten Neuregelung des Fluglärmschutzgesetzes entnehmen lassen werden, bleibt abzuwarten. Auch in diesem Fall ist eine konkrete Güterabwägung jenseits der Grenzwertbetrachtung nicht entbehrlich.

71 Vgl. dazu Storost, Das deutsche Verkehrslärmschutzrecht aus Sicht eines Richters, ZfL 51 (2004), 93 ff.

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b) Ist die Zumutbarkeit durch Güterabwägung im Einzelfall zu bestimmen, dann werden fundierte Aussagen dazu benötigt, was jeweils in die Waagschalen fällt. Die Belange der Nachbarschaft lassen sich aus den konkreten Verhältnissen dingfest machen. Schwieriger ist Identifizierung und Gewichtung der Belange des Flugplatzes, die den Belastungen der Nachbarschaft entgegengesetzt werden sollen. Die generelle Billigung des Luftverkehrs und der verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Gestaltungsauftrag sind viel zu allgemein, um konkrete Belastungen rechtfertigen zu können. Benötigt werden detaillierte Funktionszuweisungen hinsichtlich der abzuwickelnden Betriebselemente, also genaue Beschreibungen der öffentlichen Verkehrsaufgaben, die von einem einzelnen Platz erfüllt werden sollen, und zwar innerhalb des als multifunktional und gestuft gedachten Flugplatznetzes der Bundesrepublik Deutschland. Diese müssen sich auf politisch abgesicherte Grundlagen stützen können. Sie sind umso tragfähiger, je höherstufiger sie verankert und je mehr sie in ein übergeordnetes Konzept eingebunden sind, wie dies in der Verkehrswegeplanung (mit Bundesverkehrswegeplan und Bedarfsgesetzen) für die aus öffentlichen Haushalten finanzierten Verkehrswege des Bundes seit Langem üblich ist. Eine entsprechende Verantwortung des Bundes für die Flugplätze des allgemeinen Verkehrs (vgl. § 31 Abs. 2 Nr. 4, § 6 Abs. 3 LuftVG) ergibt sich aus Art. 87d Abs. 1 GG. Dass dennoch entsprechende Aussagen für den Luftverkehr fehlen, dürfte damit zu erklären sein, das Funktionszuweisungen zugleich Verteilungsentscheidungen beinhalten, die einzelnen Flugplätzen Aufgaben entziehen oder Entwicklungen abschneiden können. Das passt schlecht zu einem System, dass Luftverkehr privaten Betreibern im Wettbewerb überantwortet, und es passt auch schlecht zu den Flexibilitätserfordernissen marktwirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. Jedoch ist abzuwarten, wie lange sich die politische Abstinenz in diesem Punkt angesichts der Herausforderungen zwischen gewünschtem Wachstum des Verkehrs und den Widerständen in der Bevölkerung noch verantwortbar durchhalten lässt.

Schließung von Flughäfen Von Norbert Kämper

I . Vorbemerkung Dem Flugverkehr werden trotz diverser Turbulenzen in Folge von Terroranschlägen und Seuchen wie SARS nach wie vor erhebliche und kontinuierliche Wachstumsraten vorhergesagt. Die hierfür erforderlichen Flughafenkapazitäten müssen durch Fortentwicklung des Flugplatzbestandes bereitgestellt werden, weil in der dicht besiedelten Bundesrepublik Neubauten unrealistisch sind. Deshalb überrascht es, dass die Schließung von Flugplätzen überhaupt ein Thema ist. Tatsächlich wurden in Folge der Auflösung der Militärblöcke in Mitteleuropa zahlreiche Militärflugplätze geschlossen bzw. umgewidmet. Es gibt aber auch Versuche, zivile Flugplätze zu schließen. Spektakulär war der - zunächst gescheiterte - Versuch der Berliner Senatsverwaltung, den Flughafen Tempelhof, der immerhin als „Mutter aller Flughäfen" bezeichnet wird, durch eine Befreiung der Betreibergesellschaft von der Betriebspflicht stillzulegen. Es hat aber auch in anderen Fällen Beschlüsse insbesondere kommunaler Gesellschafter von Flugplatzbetreibergesellschaften gegeben, die Schließung diverser Flugplätze herbeizuführen. Die Gründe hierfür sind heterogen: Neben raumordnerischen Gesichtspunkten mögen dabei ideologische Motive eine Rolle spielen; es können aber auch finanzielle Überlegungen sein, wenn Betriebskostenzuschüsse vermieden werden sollen oder die Vorstellung besteht, das Flugplatzgelände könnte anderweitig profitabler vermarktet werden. Das manchmal etwas verworrene Interessenkonglomerat mag das Beispiel des Berliner Flughafensystems verdeutlichen: Noch aus der Zeit der Teilung der Stadt herrührend hat der relativ neue Stadtflughafen Tegel auch heute noch die größte Akzeptanz bei Fluggesellschaften und Passagieren. Der ältere zentral gelegene Stadtflughafen Tempelhof wurde in den vergangenen Jahren insbesondere durch die Rückzugspolitik der Lufthansa und ihrer Tochter- und Partnergesellschaften zurückgefahren und wird heute von kleineren Linienfluggesellschaften und der allgemeinen Luftfahrt genutzt. Der im Süden Berlins gelegene ehemalige DDR-Regierungsflughafen Schönefeld wurde bisher von den meisten

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Fluggesellschaften gemieden und hat erst in der jüngsten Zeit durch den Einsatz verschiedener Low-Cost-Carrier einen kräftigen Zuwachs des Passagieraufkommens erfahren. Es ist erklärtes Ziel der Länder Berlin und Brandenburg, die Stadtflughäfen Tegel und Tempelhof zu schließen und Schönefeld zum Single-Airport BerlinBrandenburg-International auszubauen. Der Planfeststellungsbeschluss liegt seit August 2004 vor. Bereits im Juli 2004 verfügte die Berliner Senatsverwaltung den Widerruf der Genehmigung für den Flughafen Berlin-Tegel; er soll geschlossen werden, wenn BBI in Betrieb geht. Dieses Schließungskonzept erscheint schlüssig, während die Entscheidung von Juni 2004, den Widerruf der Genehmigung für den Flughafen Tempelhof bereits zum Zeitpunkt der Bestandskraft des Planfeststellungsbeschlusses BBI wirksam werden zu lassen, weniger plausibel erscheint, aber dem sog. „Konsensbeschluss" der Gesellschafter der Berliner Flughäfen entspricht 1. Was die Bestandskraft des Planfeststellungsbeschlusses für einen noch nicht realisierten Flughafen mit dem Entfall des Bedarfs für den abzulösenden Flugplatz zu tun haben soll, erschließt sich nicht ohne weiteres. Mit Blick auf die verkehrsplanerischen Vorstellungen der beteiligten Bundesländer nicht mehr nachvollziehbar ist die mit dieser Entscheidung verfügte Aufhebung der Betriebspflicht bereits zum 30. 10. 2004, mit der eine sofortige Schließung von Tempelhof herbeigeführt werden sollte. Maßgeblich für diese Entscheidung waren deshalb auch keine planerischen Gründe, sondern die Behauptung der Betreibergesellschaft, der Betrieb von Tempelhof verursache hohe Verluste. Dieser Teil der Verfügung vom Juni 2004 konnte bisher allerdings nicht vollzogen werden, weil das Oberverwaltungsgericht Berlin in mehreren Beschlüssen vom September2 und November 20043 die aufschiebende Wirkung verschiedener hiergegen erhobener Klagen wiederhergestellt hat. Soweit zum aktuellen Hintergrund.

I I . Öffentliches Interesse am Betrieb von Flughäfen An dem Betrieb von Flugplätzen besteht grundsätzlich ein öffentliches Interesse. Piloten, Fluggesellschaften, Passagiere, aber auch luftfahrttechnische Betriebe oder Flugschulen sind wegen des geltenden Flugplatzzwangs auf funktionsfähige und bedarfsgerechte Flughäfen angewiesen. 1 Dazu Giemulla, Zu den Absichten einer Stillegung des Flughafens BerlinTempelhof, ZLW 1999, 23 ff. 2 OVG Berlin, Beschl. vom 23.9.2004 - 1 S 45.04 3 OVG Berlin, Beschl. vom 25.11.2004 - 1 S 63.04

Schließung von Flughäfen

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Flugplätze sind Bestandteil der Verkehrsinfrastruktur; ihre Vorhaltung und ihr Betrieb ist Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge 4. Während der Staat seine Infrastrukturaufgabe im Bereich des Straßenverkehrs weitgehend selbst in Form unmittelbarer Leistungsverwaltung wahrnimmt - erste Privatisierungen und PPP-Projekte gibt es aber auch hier - und die Eisenbahninfrastruktur in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts zumindest formal privatisiert hat, wird die Anlage und der Betrieb von Flughäfen traditionell durch privatrechtlich organisierte Unternehmen wahrgenommen, deren Gesellschafter allerdings - von wenigen Ausnahmen abgesehen - Träger hoheitlicher Verwaltung sind. Ein anderes Bild ergibt sich erst bei kleineren Verkehrslandeplätzen, bei denen auch die Flugplatznutzer häufiger Mitgesellschafter sind. Aufgrund dieser privatrechtlichen Strukturen kommt dem Staat für den Bestand der Flughafeninfrastruktur eine Gewährleistungsverantwortung zu, die sich auch bei Entscheidungen über die Schließung von Flughäfen manifestieren muss. Ausdruck des öffentlichen Interesses an dem gesicherten Betrieb bestehender Flugplätze ist die gesetzliche Betriebspflicht, § 45 Abs. 1 Satz 1 LuftVZO, die es dem Flughafenunternehmer auferlegt, den Flughafen in betriebssicherem Zustand zu erhalten und ordnungsgemäß zu betreiben. Damit kann die Entscheidung über die Stilllegung eines Flugplatzes nicht in das freie Ermessen eines privatrechtlich organisierten Betreibers gestellt werden 5, sondern muss durch die zuständige Luftfahrtbehörde unter Berücksichtigung des öffentlichen Verkehrsinteresses und aller anderen maßgeblichen abwägungserheblichen Interessen gefällt werden.

III. Rechtliche Instrumente Das Luftverkehrsgesetz regelt zwar ausführlich die Anlage, Änderungen und den Betrieb von Flugplätzen; ausdrückliche Regelungen über die Schließung aber fehlen. Anlage und Betrieb von Flugplätzen basieren rechtlich auf einer Genehmigung nach § 6 LuftVG und ggf. - bei Flughäfen und Landeplätzen mit beschränktem Bauschutzbereich - einer Planfeststellung nach § 8 LuftVG. Die Flugplatzgenehmigung ist dabei zum einen Unternehmergenehmigung zum anderen Planungsentscheidung. Die Genehmigung ist sowohl eine antragsgebundene Erlaubnis, also eine begünstigende Regelung, als auch Anknüpfungspunkt verschiedener Verpflichtungen. Insbesondere anhand dieser Beziehungen von 4 OVG Berlin-Brandenburg, Urt. vom 24.11.2005 - 12 A 3.05 - UA S. 12; BGH, Urt. vom 3.3.1999 - 2 StR 437 / 98 - , NJW 1999, 2378. 5 OVG Berlin, Beschl. vom 25.11.2004 - 1 S 6 3 . 0 4 - B A S . 14.

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Rechten und Pflichten ist zu beurteilen, welche Rechtsakte zur Schließung eines Flugplatzes erforderlich sind. In Betracht zu ziehen sind hierbei der Verzicht auf die Genehmigung, die Befreiung von der Betriebspflicht, der Widerruf der Genehmigung und die Rückabwicklung der Planfeststellung. Europarechtliche Aspekte möchte ich hier außer Betracht lassen.

1. Verzicht Öffentlich-rechtliche Berechtigungen sind grundsätzlich verzichtbar; der Verzicht ist als eigenständiges verwaltungsrechtliches Institut anerkannt6. Er ist eine einseitige verwaltungsrechtliche Willenserklärung des Rechtsinhabers und bewirkt das endgültige Erlöschen des erfassten Rechts, hat also unmittelbar rechtsgestaltende Wirkung 7 . Ein wirksamer Verzicht setzt allerdings die Dispositionsbefugnis des Inhabers des fraglichen Rechts voraus 8. Diese ist auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung ausgeschlossen, wenn der Bestand der betroffenen Rechtsposition auch dem öffentlichen oder anderweitigen privaten Interesse verpflichtet ist, insbesondere, wenn mit der Rechtsposition ausdrückliche Pflichten verbunden sind9. Da die Flugplatzgenehmigung Anknüpfungspunkt verschiedener Pflichten, insbesondere aber der Betriebspflicht nach § 45 LuftVZO ist, liegt auf der Hand, dass der Flugplatzunternehmer sich seiner Betriebspflicht nicht durch einseitigen Verzicht auf die Genehmigung entziehen kann 10 . Dieses Rechtsinstitut kann daher keine Grundlage für die Schließung eines Verkehrsflugplatzes darstellen.

2. Befreiung von der Betriebspflicht Auf die Idee, das rechtliche Instrument der Befreiung des Flugplatzunternehmers von seiner Betriebspflicht nach § 45 Abs. 1 Satz 3 LuftVZO als Mittel zur dauerhaften Schließung eines Flugplatzes einzusetzen, kommt man nicht ohne weiteres. Die offizielle Begründung im Berliner Fall ging dahin, dass der 6 Stelkens / Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2001, §53 Rn. 17 a. 7 Karsten Baumann, Die Pflicht zum Gebrauchmachen von behördlichen Genehmigung, GewArch 2004, 448, 449 m.w.N. 8 Stelkens /Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 53 Rn. 19. 9 Erichsen / Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2002, § 11 Rn. 54 m.w.N. 10 OVG Berlin-Brandenburg, Urt. vom 24.11.2005 - 12 A 3.05 - UA S. 12; Baumann, a.a.O., S. 450.

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Flughafen Tempelhof nur „vorübergehend" geschlossen werden solle, um ihn als Reserve vorzuhalten für den Fall, dass es mit dem Ausbau des Ersatzflughafens BBI doch nichts werde; würde man die Genehmigung sofort widerrufen, könne man den Flugplatz nicht wieder eröffnen 11. Dem Antrag lag also wohl die Vorstellung zugrunde, man könne einen Flugplatz „auf Eis legen", um ihn im Notfall in unbestimmter Zukunft ohne neue Planungsentscheidung wieder in Betrieb nehmen zu können. Diese Auffassung verkennt den Zweck der Betriebspflicht. Sie soll die Zweckbestimmung eines dem allgemeinen Verkehr gewidmeten Flugplatzes sichern und belegt deshalb den Flugplatzunternehmer mit einem mit den Genehmigungsgrundlagen deckungsgleichen Kontrahierungszwang zu Gunsten der Flugplatznutzer 12. Eine dauerhafte Befreiung von der Betriebspflicht führt damit zu einer Aufhebung der Widmung 13 . Der Flugplatz stünde nicht mehr dem allgemeinen Verkehr zur Verfügung; der Kontrahierungszwang würde aufgehoben. Da auch keine Widmung zu einem „besonderen Zweck", § 38 Abs. 2 Satz 2 LuftVZO, vorgenommen würde, stände der Flugplatz sozusagen zweckfrei dem Flugplatzbetreiber zur Verfügung. Er könnte willkürlich entscheiden, ob er den Platz weiter betreibt, welche Nutzer er zulässt und wann er den Platz schließt14. Einen derart gestalteten „Privatflugplatz" sieht das Luftverkehrsrecht nicht vor. Es besteht in Rechtsprechung und Literatur weitgehende Einigkeit, dass die Entwidmung nur durch die Aufhebung der Genehmigung selbst geschehen kann, durch die die Widmung bewirkt wurde. 15 Die Betriebspflicht ist gesetzliche Folge der Flugplatzgenehmigung nach § 6 LuftVG und damit in ihrem Bestand grundsätzlich von Erteilung, Inhalt und Bestand der Genehmigung abhängig16. Im Übrigen hätte eine so weitreichende Befreiung von der Betriebspflicht planerische Elemente17, die zu beurteilen nach dem LuftVG der Genehmigung

11

Entscheidung der Berliner Senatsverwaltung vom 2.6.2004, S. 164. Wysk , in: Ziekow (Hrsg.), Praxis des Fachplanungsrechts, 2004, Rn. 1590. 13 OVG Berlin, Beschl. vom 23.9.2004 - 1 S 45.04 - BA S. 12; Quaas, Zur Betriebspflicht des Flughafenunternehmers von Regionalflughäfen, ZLW 2003, 175, 179; a.A. Seilner / Reidt, Verwaltungsrechtlicher Rechtsschutz von Flughafennutzern bei Kapazitätserweiterungen, -Verringerungen und Schließung von Flughäfen, NVwZ 2004, 1168, 1170. 12

14 15 16

Seilner / Reidt, NVwZ 2004, 1168, 1169 halten das für zulässig. OVG Berlin, Beschl. vom 23.9.2004 - 1 S 45.04 - BA S. 10 ff. Giemulla , „BFG Ausstiegsprojekt Tempelhof', Rechtsgutachten September 2003,

S. 42. 17 BVerwG, Urt. vom 27.9.1993 - 4 C 22.93 - , ZLW 1994, 351, 352; Dolde/ Porsch , ZLW 2004, 3, 19 m.w.N.

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nach § 6 LuftVG 1 8 bzw. der Planfeststellung nach § 8 LuftVG vorbehalten bleibt. Nach alledem kann die Befreiung von der Betriebspflicht nicht als Mittel zur Schließung von Flughäfen dienen. § 45 Abs. 1 Satz 3 LuftVZO ermächtigt weder zu einem Eingriff in die Widmung noch zu einer Änderung der Genehmigung eines Flugplatzes.

3. Änderung der Genehmigung Die Schließung kann bereits vom Wortsinn her nicht als ,Änderung" des Betriebs eines Flughafens verstanden werden, u.a. weil ein geänderter Betrieb jedenfalls die Fortsetzung desselben voraussetzt 19, so dass ein Änderungsgenehmigungsverfahren nach § 6 Abs. 4 S. 2 LuftVG kein zulässiges Instrumentarium darstellt 20. Der gegenteiligen Auffassung des OVG Berlin-Brandenburg 21 kann bereits aus gesetzessystematischen Gründen nicht gefolgt werden. So unterscheidet § 6 LuftVG in Abs. 2 S. 4 einerseits und Abs. 4 S. 2 andererseits klar zwischen dem Widerruf und der Änderung einer Genehmigung. Entsprechendes gilt für die Vorschriften der LuftVZO in § 41 - Änderungsanträge - und in § 48 - Rücknahme und Widerruf der Genehmigung - , wobei die unterschiedlichen Tatbestände an verschiedene Voraussetzungen geknüpft werden. Das würde keinen Sinn machen, wenn die unterschiedlichen Rechtsfolgen mit dem einheitlichen Instrument der Änderungsgenehmigung erreicht werden könnten.

4. Widerruf der Genehmigung Damit verbleibt als das nahe liegende Instrument zur Schließung eines Flugplatzes der Widerruf der Genehmigung. Mit dem Widerruf entfällt - jedenfalls bei nicht planfestgestellten Plätzen - die Zweckbestimmung als öffentliche Sache, die Betriebspflicht erlischt ebenso wie die Widmung.

18

BVerwG, Urt. vom 27.9.1993 - 4 C 22.93 - Z L W 1994, 351, 352. Giemulla, ZLW 1999, 23, 26; ders., in: Giemulla / Schmid, Luftverkehrsverordnungen, § 41 LuftVZO Rn. 3. 20 Seltner /Reidt, NVwZ 2004, 1168, 169; Hofmann / Grabherr, LuftVG, Stand: 2 / 2005, § 6 Rn. 29; Wysk, in: Ziekow (Hrsg.), Praxis des Fachplanungsrechts, 2004, Rn. 1676. 21 OVG Berlin-Brandenburg, Urt. vom 24.11.2005 - 12 A 3.05 - UA S. 25 f. 19

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a) Ermächtigungsgrundlage Als Ermächtigungsgrundlage kommen die §§ 6 Abs. 2 Satz 4 LuftVG, 48 LuftVZO und 49 VwVfG in Betracht. Damit stellt sich die Frage, ob und ggf. wie die Anwendungsbereiche dieser Vorschriften gegeneinander abzugrenzen sind. Dazu ist festzuhalten, dass § 48 LuftVZO nach seinem Wortlaut als gebundene Norm im Gegensatz zu § 6 Abs. 2 Satz 4 LuftVG und § 49 VwVfG kein Ermessen einräumt. Ob eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage verzichtbar ist, wenn der Genehmigungsinhaber selbst den Widerruf der Genehmigung mit dem Ziel der Schließung eines Flugplatzes beantragt, ist zu bezweifeln 22. Zwar mag der in den Widerrufsvorschriften, etwa in § 49 Abs. 2 VwVfG, zum Ausdruck kommende Vertrauensschutz für den Inhaber verzichtbar sein; die Schließung eines Flugplatzes wirkt sich unter Geltung des „Flugplatzzwangs" jedoch zumindest mittelbar auf die Grundrechtsausübung Dritter aus. Nach der „Wesentlichkeitstheorie" sind aber staatliche Maßnahmen, die für die Grundrechtsverwirklichung der Bürger von Bedeutung sind, nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig 23 . Schon deshalb ist die Schließung eines Verkehrsflughafens, durch die den Flughafennutzern ihre Nutzungsmöglichkeiten entzogen werden, nur mit einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung zulässig. So fordert das Bundesverwaltungsgericht bereits für die regionale Kapazitätsverteilung eine „parlamentarische Leitentscheidung"24. Auch das öffentliche Interesse an der Verfügbarkeit von Infrastruktureinrichtungen spricht für die Wesentlichkeit einer Entscheidung über die Schließung. Jedenfalls dann, wenn die Schließungsentscheidung unmittelbar auf die Grundrechtsausübung Dritter einwirkt, etwa einem am Flugplatz ansässigen Gewerbebetrieb die Existenzgrundlage entzieht, ist eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage unverzichtbar. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass den betroffenen Unternehmen ein Anspruch auf gerechte Abwägung ihrer Belange zusteht25. aa) § 48 Abs. 1 S. 2 LuftVZO Tatsächlich dürfte der Anwendungsbereich von § 48 Abs. 1 Satz 2 LuftVZO klein sein: Danach ist die Genehmigung zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für ihre Erteilung nachträglich nicht nur vorübergehend entfallen sind. Ge-

22

So aber OVG Berlin-Brandenburg, Urt. vom 24.11.2005 - 12 A 3.05 - UA S. 13. Erichsen , in: Erichsen / Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2002, § 15 Rn. 18. 24 BVerwG, Urt. vom 26.7.1989 - 4 C 35.88 - , BVerwGE 82, 246, 255. 25 BVerwG, Urt. vom 26.7.1989 - 4 C 35.88 - , BVerwGE 82, 246, 249. 23

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nehmigungsvoraussetzungen im Sinne dieser Vorschrift können aber nur solche sein, die für die Erteilung einer Genehmigung zwingend vorliegen müssen; damit kommen Änderungen der Belange, die im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen sind und ggf. „weggewogen werden können", als Widerrufsgrund nach dieser Vorschrift nicht in Betracht. Zusätzlich ist der Anwendungsbereich der Norm vor dem Hintergrund ihrer Einstufung als untergesetzliche Rechtsvorschrift eingeschränkt 26. Es stellt sich insbesondere die Frage, ob die Ausgestaltung der Norm als gebundene Entscheidung, die allein an den Wegfall der Tatbestandsvoraussetzungen anknüpft, überhaupt zulässig ist. Ermächtigungsgrundlage für den Erlass von § 48 LuftVZO ist § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 a LuftVG. Danach erlässt das BMVBW die notwendigen Rechtsverordnungen über die Voraussetzungen und das Verfahren für den Widerruf der im Luftverkehrsgesetz vorgesehenen Genehmigungen. Aus dieser Formulierung geht deutlich hervor, dass der Verordnungsgeber lediglich zur Festlegung von bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen berufen ist, deren Vorliegen einen Widerruf der Genehmigung ermöglicht. Dadurch wird er in die Lage versetzt, die Tatbestandsvoraussetzungen eines Widerrufs der luftrechtlichen Genehmigung nach § 6 Abs. 2 Satz 4 LuftVG zu ergänzen und zu konkretisieren. Allerdings muss bei der Widerrufsermächtigung, wie bei allen Normen, strikt zwischen der Tatbestands- und der Rechtsfolgenseite unterschieden werden. Zur Festlegung der Rechtsfolgen des Widerrufs ermächtigt § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 a LuftVG den Verordnungsgeber aber nicht. Hier besteht also auch kein Spielraum für den Verordnungsgeber, die Vorgaben des formellen Gesetzes zu verändern; es gelten vielmehr die Vorschriften des Luftverkehrsgesetzes. Die höherrangige Regelung in § 6 Abs. 2 Satz 4 LuftVG sieht aber einen Ermessensspielraum der Behörde und keine gebundenen Entscheidung vor. Das gilt demnach auch für den Widerruf der Genehmigung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 LuftVZO, obwohl der Wortlaut der Vorschrift eine gebundene Entscheidung nahe legt. Den Widerruf als gebundene Vorschrift auszugestalten, ohne eine Möglichkeit vorzusehen, die Rechte der Betroffenen zu berücksichtigen, wäre auch verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Das Bundesverwaltungsgericht sowie das Bundesverfassungsgericht haben mehrfach entschieden, dass bei der Aufhebung von Verwaltungsakten der in den §§ 48, 49 VwVfG zum Ausdruck kommende Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht ohne weiteres durch spezielle Rücknahme- bzw. Widerrufsvorschriften ausgeschlossen werden darf 27 .

26

Lau, in: Giemulla / Schmid, a. a. O., § 48 LuftVZO Rn. 1. Vgl. BVerfG, Beschl. vom 16.12.1981 - 1 BvR 898 / 79 u.a. - , BVerfGE 59, 128, 164, 166; BVerwG, Urt. vom 16.12.1992 - 11 C 6 / 9 2 - , NVwZ 1994, 75, 76 ff.; vgl. 27

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Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts erfordert die Aufhebung eines Verwaltungsaktes jeweils eine Abwägung zwischen den Belangen des Allgemeinwohls und den Interessen des Einzelnen am Fortbestand einer Rechtslage, auf die er sich eingerichtet und auf deren Fortbestand er vertraut hat. Somit ist zwingend ein Minimum an verfassungsrechtlichem Vertrauensschutz dadurch zu gewährleisten, dass die schützenswerten Belange des Genehmigungsinhabers bei der Rücknahme berücksichtigt werden. Grundsätzlich sind auch die Belange eines durch den zu widerrufenden Verwaltungsakt begünstigten Dritten im Rahmen des Rücknahme- bzw. Widerrufsermessens zu berücksichtigen 28. Im Übrigen sind erhebliche Zweifel an der hinreichenden Bestimmtheit von § 32 Abs. 1 Nr. 9 a LuftVG geäußert worden mit der Folge, dass die Nichtigkeit der Ermächtigungsnorm auch auf die auf ihrer Basis erlassene Rechtsverordnung zu erstrecken wäre 29 . bb) § 6 Abs. 2 Satz 4 LuftVG Damit ist auf die spezielle Widerrufs Vorschrift des § 6 Abs. 2 Satz 4 LuftVG zurückzugreifen, die der allgemeinen verfahrensrechtlichen Regelung des § 49 VwVfG vorgeht. Tatbestandsvoraussetzungen sind hierbei •

die Ungeeignetheit des Geländes oder



die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung.

Da es kaum vorstellbar ist, dass sich aufgrund nachträglich eingetretener Tatsachen das Flughafengelände als ungeeignet erweist, wird der Hauptanwendungsfall das Bekanntwerden von Tatsachen sein, die die Annahme rechtfertigen, dass die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet wird. Einen denkbaren Auslöser, nämlich die gesundheitsgefährdende Zunahme des Fluglärms, hat Herr Dr. Wysk bereits in diesem Zusammenhang angesprochen.30

auch Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2001, § 48 Rn. 37 ff. 28 Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2001, § 50 Rn. 67. 29 Hofmann/Grabherr, Luftverkehrsgesetz, § 32 Rn. 11; Friauf, ZLW 1974, 9, 17 ff. 30 Wysk, Behördliches Einschreiten und individuelle Schutzansprüche gegen zugelassenen Luftverkehr, in diesem Band.

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b) Materiell-rechtliche

Erfordernisse

Bei der Festlegung des materiellen Prüfprogramms ist zunächst zu beachten, dass die Genehmigung nach § 6 LuftVG zwei voneinander klar zu trennende Elemente enthält: Zunächst ist sie Unternehmergenehmigung und damit einer gewerberechtlichen Kontrollerlaubnis vergleichbar; zum anderen aber Planungsentscheidung, auf die die fachplanerischen Grundsätze, insbesondere das Abwägungsgebot, anzuwenden sind. Deshalb ist auch die Entscheidung über einen Widerruf zweigleisig zu treffen: Liegen Widerrufsgründe für den unternehmerbezogenen Genehmigungsteil vor, muss dies nicht auf den anlage- und betriebsbezogenen Teil durchschlagen. aa) Unternehmergenehmigung Sind Widerrufsgründe in der Person des Flugplatzunternehmers erkennbar, etwa wegen fehlender persönlicher Zuverlässigkeit oder Insolvenz, so mag dieser Teil der Genehmigung widerrufen werden. Das oben aufgezeigte öffentliche Interesse am Fortbestand und der fortgesetzten Nutzbarkeit der Flugplatzinfrastruktur verpflichtet die zuständige Luftfahrtbehörde, in Wahrnehmung ihrer Infrastrukturverantwortung die Genehmigung nur teilweise zu widerrufen und einen anderen Betreiber zu suchen. In diesem Zusammenhang kann auf den Rechtsgedanken des § 11 Abs. 1 S. 2 AEG verwiesen werden, wonach eine Infrastruktureinrichtung Dritten anzubieten ist, wenn der Betreiber den Betrieb dauerhaft einstellen will. Steht zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits ein anderer Betreiber bereit, kann die Flugplatzgenehmigung durch Änderungsgenehmigung auf einen neuen Betreiber übertragen werden 31 . Da Rechte Dritter dadurch nicht betroffen werden, wird teilweise von einer unwesentlichen Änderung ausgegangen32. Im Hinblick auf die Prüfungserfordernisse zur Eignung und Zuverlässigkeit des Betreibers und eine etwaige Auswahlentscheidung bei mehreren Bewerbern spricht allerdings einiges für die Annahme einer wesentlichen Änderung 33 mit der Folge eines Genehmigungserfordernisses nach § 6 Abs. 4 S. 2 LuftVG. Die Genehmigungsbehörde muss den Antrag eines Dritten, ihm eine bestehende Flughafengenehmigung zu übertragen, ernst nehmen und ermessensfeh31 32

Wysk, in: Ziekow, Rn. 1582.

VG München, Urt. vom 30.9.2004 - 24 K 03.6462 - UA S. 25 zu dem Bescheid des Luftamts Südbayern für den Sonderflughafen Oberpfaffenhofen vom 2.12.2002, Az.: 315.30-0. 33 Hofmann / Grabherr, LuftVG, Stand: 2005, § 6 Rn. 36; Giesberts, „Flughafenparks" durch Outsourcing - Anzeige- und Genehmigungspflicht nach LuftVG?, ZLW 2005, 553, 566.

Schließung von Flughäfen

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lerfrei bescheiden; sie darf die Übertragung nicht aus sachfremden Gründen verhindern, insbesondere darf sie, wenn ihr Rechtsträger Mitinhaber eines anderen Flughafens ist, die Entscheidung nicht dazu benutzen, einen konkurrierenden Flughafen zu verhindern 34. Das Grundrecht der Berufsfreiheit und die Gewerbefreiheit sind bei der Entscheidung mit dem ihnen zukommenden Gewicht zu berücksichtigen 35. Ein privatnütziger Konkurrenzschutz zugunsten anderer Flughäfen ist mit den Grundrechten des Bewerbers jedenfalls nicht zu vereinbaren. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob dem Flugplatzunternehmer ein Anspruch auf „Entlassung" aus der Genehmigung zustehen kann 36 , wenn er den Widerruf der Genehmigung beantragt. Die Entscheidung über einen solchen Antrag steht im Ermessen der zuständigen Behörde, so dass der Flugplatzbetreiber allenfalls einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung hat; diese kann sich nur in den Fällen einer Ermessensreduzierung zu einem Anspruch verdichten. Der Genehmigungsinhaber muss zunächst darlegen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen für einen Widerruf gegeben sind, dass also Tatsachen die Annahme rechtfertigen, ein Weiterbetrieb des Flugplatzes gefährde die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. Allein die Behauptung, die Betreibergesellschaft mache Betriebsverluste, kann diese Annahme sicher nicht rechtfertigen. Es ist das unternehmerische Risiko des Flugplatzbetreibers, Verluste zu machen, das er mit Beantragung der luftrechtlichen Genehmigung und der Aufnahme des Flugbetriebs in Kenntnis der dann entstehenden Betriebspflicht eingeht. Er muss dem ggf. durch wirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen begegnen. Ist er dazu nicht in der Lage, ist ggf. ein Betreiberwechsel anzustreben. Es gibt allerdings Grenzen der Zumutbarkeit für Flugplatzbetreiber; die Betriebspflicht wird nicht mehr aufrechtzuerhalten sein, wenn die wirtschaftliche Existenz des Unternehmens vernichtet zu werden droht 37 . Bei privaten Betreibern gebieten die Grundrechte, Art. 12, 14 GG, eine die Unternehmerinteressen berücksichtigende Lösung, was sich zu einem Anspruch auf (Teil-) Widerruf verdichten kann. Dieser grundrechtliche Aspekt kommt allerdings im Regelfall bei deutschen Flughafenunternehmungen nicht zum Tragen, weil diese mehrheitlich im Eigentum von Trägern hoheitlicher Gewalt - in der Regel Gebietskörperschaften - stehen. Diese sind Grundrechtsverpflichtete, nicht aber Berechtigte.

34 35 36 37

VGH Mannheim, Urt. vom 28.2.2005 - 8 S 2004 / 04 - UA S. 18. VGH Mannheim, Urt. vom 28.2.2005 - 8 S 2004 / 04 - UA S. 21 f. Baumann, GewArch 2004, 448, 451. Baumann, GewArch 2004, 448, 452.

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bb) Planungsentscheidung Durch den Widerruf der Genehmigung wird die Widmung des Flugplatzes für Zwecke des allgemeinen Verkehrs aufgehoben mit der Folge, dass die privatrechtliche Verfügungsgewalt über das Gelände wieder auflebt; es kann einer anderen Verwendung zugeführt werden. Ferner wird der bisher dort abgewickelte Verkehr umgelenkt; ggf. müssen am Flugplatz angesiedelte luftfahrttechnische Betriebe oder Schulen verlagert werden. Damit kommt der Schließungsverfügung auch der Charakter einer Planungsentscheidung zu. Die fachplanerischen Grundsätze über die planerische Abwägung kommen zum Tragen. Es ist im Wesentlichen das gleiche Prüfprogramm abzuwickeln wie bei der Erteilung von luftrechtlichen Genehmigungen. (1) Raumordnung Insbesondere ist zu prüfen, ob die beabsichtigte Schließung den Erfordernissen der Raumordnung entspricht, § 6 Abs. 2 Satz 1 LuftVG. Erfordernisse der Raumordnung sind nach der Legaldefinition von § 3 Nr. 1 ROG Ziele der Raumordnung, Grundsätze der Raumordnung und sonstige Erfordernisse der Raumordnung. Zu den zielförmigen Festlegungen von Raumordnungs- und Regionalplänen sollen nach § 7 Abs. 2 Nr. 3 ROG auch die zu sichernden Standorte der Verkehrsinfrastruktur gehören, mithin auch die Flughafenstandorte. Zu beachten sind die Ziele der Raumordnung von öffentlichen Stellen bei raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen, durch die die räumliche Entwicklung eines Gebiets beeinflusst wird. Unabhängig von der Frage, ob für die Flughafenschließung eine eigene Fachplanung erforderlich ist, ist die Schließung jedenfalls eine Maßnahme im Sinne von §§ 3 Nr. 6, 4 Abs. 1 Satz 1 ROG 38 . Diese Bindungswirkung an die Ziele der Raumordnung erfasst nach § 4 Abs. 3 ROG auch Maßnahmen, die Personen des Privatrechts in Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durchfuhren, wenn daran öffentliche Stellen mehrheitlich beteiligt sind, was bei fast allen Flughäfen der Fall ist. Diese werden damit direkt gebunden, was Handlungs- und Unterlassungspflichten zur Folge haben kann 39 . Im Ergebnis ist damit eine der zielförmigen Standortausweisung eines Flughafens widersprechende Schließungsmaßnahme unzulässig. Damit müsste vor einer entsprechenden Entscheidung eine Anpassung der landes- und regionalplanerischen Grundlagen erfolgen. Im Hinblick auf einige

38

Runkel, in: Bielenberg / Runkel / Spannowsky, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des Bundes und der Länder, Band 2, Stand: 3 / 2004, § 3 Rn. 269. 39 Erbguth, Luftverkehr und Raumordnung - Am Beispiel der Flughafenplanung NVwZ 2003, 144, 148.

Schließung von Flughäfen

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aktuelle Entscheidungen des brandenburgischen Oberverwaltungsgerichts muss man ergänzen: Eine wirksame Anpassung! Ein Zielabweichungsverfahren, § 11 ROG, dürfte in den meisten Fällen nicht ausreichen, weil mit der Stillegung eines Flughafens regelmäßig die Grundzüge der Planung berührt sein dürften. Das ist dann der Fall, wenn die Abweichung Auswirkungen zeigt, die über den unmittelbar betroffenen Bereich hinausreichen 40 . Durch die Schließung eines Flughafens werden die Verkehrsströme auf andere Flughäfen umgelenkt, so dass diese mit betroffen werden, insbesondere bei bestehenden Flughafensystemen. (2) Abwägung Im Rahmen der zu treffenden Abwägungsentscheidung sind unter fachplanerischen Gesichtspunkten alle Belange einzustellen, die nach Lage der Dinge einzustellen sind. Dazu zählen auch die Interessen der Flugplatznutzer. Sie sind nicht nur gebündelt zu einem öffentlichen Verkehrsinteresse als öffentlicher Belang in die Abwägung einzustellen, sondern individuell zu ermitteln und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auszugleichen41. Unter Umständen kann ein Betroffener verfassungsrechtlichen Schutz seines eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs vor schweren und unerträglichen Eingriffen geltend machen42. Durch die Schließung eines Flughafens wird die ebenfalls grundrechtlich geschützte Berufsausübung nicht nur im gewerblichen Luftverkehr des Linien- und des planmäßigen Charterverkehrs, sondern auch im Geschäftsreise- und Werksluftverkehr sowie bei Betrieben von Flugschulen, Luftcharterunternehmen und luftfahrttechnischen Unternehmen betroffen 43. Auch nach den Grundsätzen des öffentlichen Sachenrechts ist eine Entwidmung der öffentlichen Sache Flughafen jedenfalls nicht sofort möglich, sondern erst dann, wenn die Erfüllung der öffentlichen Aufgabe anderweitig sichergestellt ist 44 .

40 Schmitz , in: Bielenberg / Runkel / Spannowsky, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des Bundes und der Länder, Stand: 9 / 2004, § 11 Rn. 32; Dyong , in: Cholewa / Dalihammer / Dyong / von der Heide / Ahrens, Raumordnung in Bund und Ländern, § 11 Rn. 6. 41 BVerwG, Urt. vom 26.7.1989 - 4 C 35.88 - , BVerwGE 82, 246, 249. 42 BVerwG, Urt. vom 26.7.1989 - 4 C 35.88 - , BVerwGE 82, 246, 251. 43 BVerwG, Urt. vom 26.7.1989 - 4 C 35.88 BVerwGE 82, 246, 255. 44 Germann , Die „gesetzlose" Widmung von Sachen für öffentliche Zwecke, AÖR 128 (2003), 458, 477.

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c) Zwischenergebnis Der Widerruf der Genehmigung nach § 6 LuftVG kann bei nicht planfestgestellten Flugplätzen nur dann ein geeignetes Mittel zur Schließung sein, wenn diese mit den Zielen der Raumordnung übereinstimmt und die Interessen u. a. der Flugplatznutzer ordnungsgemäß abgewogen wurden. Bei Vorliegen von Widerrufsgründen für die Unternehmergenehmigung ist allenfalls ein Teilwiderruf der luftrechtlichen Genehmigung hinsichtlich des unternehmerbezogenen Entscheidungsteils vertretbar. Die Planungsentscheidung bleibt davon unberührt.

5. Rücknahme der Genehmigung Spezialvorschriften über die Rücknahme von rechtswidrigen Genehmigungen sieht das Luftverkehrsgesetz nicht vor. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LuftVZO ist die Genehmigung zurückzunehmen, wenn die Voraussetzungen für ihre Erteilung nicht vorgelegen haben. Hierbei handelt es sich wiederum um eine gebundene Entscheidung, die die Berücksichtigung von Verhältnismäßigkeits- und Vertrauensschutzgesichtspunkten nicht ermöglicht. Insofern gelten die gleichen Bedenken wie für § 48 Abs. 1 Satz 2 LuftVZO. Im Übrigen ist eine Ermächtigungsgrundlage für diese Verordnungsregelung nicht erkennbar. § 32 Abs. 1 Nr. 9 a ermächtigt lediglich dazu, die Voraussetzung und das Verfahren für die Erteilung und den Widerruf der Genehmigungen zu regeln, nicht aber die Rücknahme. Rechtsgrundlage für die Rücknahme einer rechtswidrigen Genehmigung ist daher § 48 VwVfG.

6. Planfestgestellte Flughäfen Für planfestgestellte Flughäfen - sei es durch Planfeststellungsbeschluss oder durch gesetzliche Fiktion, § 71 LuftVG - stellt sich vor dem Hintergrund der Zweigleisigkeit der luftrechtlichen Zulassungsentscheidung die Frage, unter welchen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen eine Schließung zulässig ist. Jedenfalls kann ein planfestgestellter Flugplatz nicht allein durch Widerruf der Genehmigung geschlossen werden 45. Insoweit darf ich auf die Ausführungen

45 Wysk, Aktuelle Rechtsfragen des Ausbaus von Verkehrsflughäfen, in: Ziekow (Hrsg.), Flughafenplanung, Planfeststellungsverfahren, Anforderungen an die Planungsentscheidung, 2002, S. 27, 35 mit Fn. 15; ders., ZLW 1998, 18, 32 mit Fn. 78; a.A. nunmehr OVG Berlin, Urt. vom 24.11.2005 - 12 A 3.05 - UA S. 24.

Schließung von Flughäfen

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von Herrn Dr. Wysk verweisen. 46 Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Falle eines mehrstufigen Verwaltungsverfahrens ein prozessualer Aufhebungsanspruch allein auf die abschließende Verwaltungsentscheidung zu richten, d. h. gegen den Planfeststellungsbeschluss 47. Entsprechendes muss für die behördliche Aufhebungsentscheidung gelten. § 6 Abs. 2 Satz 4 LuftVG ist auf Planfeststellungen jedenfalls nicht anwendbar, so dass neben einer „Rückabwicklungs"-Planfeststellung 48 der Widerruf nach § 49 VwVfG in Frage kommt 49 . Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass ein neues Planfeststellungsverfahren erforderlich ist 50 . In der Literatur wird auch die Auffassung vertreten, § 77 VwVfG sei auch auf bereits fertiggestellte Flughäfen anwendbar 51.

I V . Rechtsschutz gegen Schließungsentscheidungen Soweit Betroffene von der Schließung eines Flughafens in ihrem Recht auf gerechte Abwägung ihrer Interessen berührt sein können, steht ihnen der Verwaltungsrechtsweg offen. Allerdings ist nicht jedes private Interesse an der Benutzung eines Flughafens stets ein abwägungserheblicher Belang. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist vielmehr Voraussetzung, dass das Interesse im Zeitpunkt der planerischen Entscheidung hinreichend konkret und individuell zu erfassen und dass es als Einzelinteresse schutzwürdig ist 52 . Das wurde von der Rechtsprechung bejaht etwa für Flugschulen, die unter Einsatz von erheblichen Mitteln ein standortbezogenes gewerbliches Unternehmen aufgebaut haben und damit auf die Benutzung dieses Flughafens angewiesen sind. Rechtlicher Anknüpfungspunkt ist hierbei § 33 Abs. 2 Satz 3 Luft-

46 Wysk , Behördliches Einschreiten und individuelle Schutzansprüche gegen zugelassenen Luftverkehr, in diesem Band. 47 BVerwG, Beschl. vom 18.11.2004 - 4 B 37.04 - westlaw-Ausdruck S. 3; BVerwG, Beschl. vom 19.8.1997- 11 B 2.97 - BA S. 5; BVerwG, Urt. vom 29.1.1991 - 4 C 51.89 - , BVerwGE 87, 332, 348 f.; st. Rspr. 48 Allesch / Häußler, in: Obermayer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl. 1999, §77 Rn. 17, unter Bezug auf Grupp , Aufhebung von Planfeststellungsbeschlüssen durch die Verwaltung, DVB1 1990, 81, 86. 49 BVerwG, Urt. vom 28.6.2000 - H C 13.99 - , BVerwGE 111, 276, 284. 50 Vgl. Allesch / H äußler, in: Obermayer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl. 1999, § 77 Rn. 17; Grupp , DVB1. 1990, 81, 86; vgl. auch bei Keilich, Das Recht der Änderung in der Fachplanung, 2001, S. 121 f. 51 Kopp / Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 8. Aufl. 2003, § 77 Rn. 2; nur für Teilbereiche des Fachplanungsrechts zustimmend Keilich , Das Recht der Änderung in der Fachplanung, 2001, S. 122. 52 BVerwG, Urt. vom 26.7.1989 - 4 C 35.88 - , BVerwGE 82, 246, 251.

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VZO, wonach der jeweilige Ort des Schwerpunktes der Ausbildung auf einen bestimmten Flugplatz festgelegt wird. Entsprechendes gilt für luftfahrttechnische Betriebe und Flugzeughalter, deren Luftfahrzeuge ihren regelmäßigen Standort an dem zu schließenden Flugplatz haben, § 8 Abs. 1 Nr. 7 Luft VZO 5 3 . Demgegenüber ist das Interesse eines Piloten, der keinen besonderen Standortbezug hat, auf einem bestimmten Flugplatz zu landen, nicht abwägungserheblich; ihm fehlt damit die Klagebefugnis 54. Nicht entschieden war bisher die Klagebefugnis von Fluggesellschaften. Diese sind aber Hauptnutzer von Verkehrsflughäfen und haben ein erhebliches schützenswertes Interesse an der Fortsetzung des Betriebes, wenn sie einmal mit erheblichen Investitionen Fluglinien zwischen bestimmten Destinationen aufgebaut haben. Rechtlicher Anknüpfungspunkt ist hier der Besitz von Fluglinienbzw. Streckengenehmigungen nach § 21 Abs. 4 LuftVG 5 5 , die jeweils bestimmte Flughäfen als Zielorte aufweisen 56. An den Linienverkehr knüpft § 21 Abs. 2 Satz 3 LuftVG eine Beförderungspflicht. Letztlich stellen auch sog. „Slots", d. h. auf einen bestimmten Flughafen bezogene Nutzungserlaubnisse, die der Flughafenkoordinator nach Maßgabe der VO (EG) Nr. 793 / 2004 erteilt, rechtliche Anknüpfungspunkte für einen konkreten Standortbezug dar, die eine Berücksichtigungspflicht auslösen. Damit sind auch Luftverkehrsgesellschaften, die Linienflugverkehr betreiben, gegen behördliche Maßnahmen klagebefugt, die die Schließung von Zielflughäfen zum Ziel haben. Eine erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts nach § § 1 , 5 VerkPBG ist bei Maßnahmen zur Schließung von Flughäfen nicht gegeben, weil der Beschleunigungszweck dieses Gesetzes hier nicht greifen kann 57 .

V. Zivilrechtliche Aspekte Auch zivilrechtliche Rechtspositionen können für die Frage der Zulässigkeit der Schließung eines Flughafens relevant werden. So hatte ein Luftsportverein von einer westdeutschen Großstadt, die Eigentümerin großer Teile des Geländes eines Flughafens ist, ein Erbbaurecht an einem Grundstück auf diesem 53

BVerwG, Urt. vom 27.9.1993 - 4 C 22.93 - , ZLW 1994, 351,352. BVerwG, Urt. vom 27.9.1993 - 4 C 22.93 ZLW 1994, 351. 55 Dazu Gotting, Zuteilung von Streckenrechten für Linienflug- und gewerblichen Gelegenheitsverkehr, ZLW 1999, 499 ff. 56 OVG Berlin, Beschl. vom 25.11.2004 - 1 S 63.04 - BA S. 9. 57 OVG Berlin, Beschl. vom 26.8.2005 - 12 A 1.05 - , DVB1 2005, 1392. 54

Schließung von Flughäfen

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Flughafengelände erhalten. Dort befinden sich unter anderem Vorfeldflächen, eine Flugzeughalle und das Vereinsheim. Die Stadt ist gleichzeitig maßgebliche Gesellschafterin der Flughafenbetreibergesellschaft. Aus politischen Gründen betrieb die Stadt wenige Jahre nach Abschluss des Erbbaurechtsvertrages die Schließung des Platzes. Sie verlangte von der Betreibergesellschaft nach Ablauf des Pachtvertrages die Herausgabe des Flughafengrundstücks und veranlasste mit ihren Mitgesellschaftern die Flughafengesellschaft, die Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses für den Flughafen bei der Luftfahrtbehörde zu beantragen. Auf die Klage des Luftsportvereins hat das Oberlandesgericht Düsseldorf die Kommune verurteilt, „während der Laufzeit des Erbbaurechtsvertrages der Parteien alles zu unterlassen, was den Motorflug-, Motorsegelflug- und Segelflugbetrieb des Klägers zu Sportzwecken einschränkt oder aufhebt." 58 Der Erbbaurechtsvertrag hat eine Laufzeit von immerhin fünfzig Jahren. Die Unterlassungspflicht, deren Missachtung mit einem Ordnungsgeld bis zu 250.000,00 Euro, ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, zu vollstrecken am Bürgermeister der Stadt, sanktioniert ist, erstreckt sich sowohl auf ein Herausgabeverlangen der für den Flugbetrieb notwendigen Flächen als auch auf die Wahrnehmung von Gesellschafterrechten, die durch entsprechende Beschlüsse letztlich zu einer Schließung des Flugplatzes führen können. Die Kommune ist damit gehindert, Anträge der Flughafengesellschaft an die Genehmigungsbehörde zu unterstützen, die Genehmigungssituation des Flugplatzes zu Lasten des Erbbauberechtigten abzuändern.

58

OLG Düsseldorf, Urt. vom 19.3.1998 - 14 U 231 / 96.

Rechtsschutz in Umweltangelegenheiten Der Entwurf des Umweltrechtsbehelfsgesetzes Ein Diskussionsbeitrag* Von Volker Gronefeld

I. Die Grundlagen 1. Die Aarhus-Konvention A m 25. Juni 1998 ist in Aarhus im Rahmen der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa ein Abkommen (UN ECE-Übereinkommen) über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten angenommen worden. Zu den 35 Vertragsparteien des Übereinkommens gehörte zum Stichtag 28. Februar 2005 die Europäische Gemeinschaft, nicht aber Deutschland. Die Aarhus-Konvention beruht auf drei Pfeilern. -

Zugang zu Umweltinformationen Jeder natürlichen oder juristischen Person sowie Verbänden oder sonstigen Organisationen ist nach den der Konvention zu entnehmende Modalitäten ein subjektives Recht auf Zugang zu bei Behörden (weiter Behördenbegriff) befindlichen Umweltinformationen einzuräumen, das unabhängig von einem irgendwie gearteten Interesse besteht.

-

Beteiligung der Öffentlichkeit an verschiedenen Entscheidungsverfahren Bei Entscheidungen über Tätigkeiten, die erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben können, ist eine Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit vorzusehen. Hierzu gehören nach Art. 2 Abs. 5 des Übereinkommens kon-

Stellungnahme im Rahmen der „Aktuellen Stunde" des Speyerer Luftverkehrsrechtstages 2005. Der Charakter als kurzer Diskussionsbeitrag wurde beibehalten.

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Volker Gronefeld

kret betroffene und wahrscheinlich konkret betroffene Öffentlichkeit sowie ganz allgemein die Öffentlichkeit, die ein Interesse an diesem Verfahren hat. Bei Verbänden, die sich für Umweltschutzbelange einsetzen, wird von vornherein eine solche Betroffenheit angenommen. -

Zugang zu Überprüfungsverfahren Nach Art. 9 Abs. 1 des Übereinkommens stellt jede Vertragspartei im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften sicher, dass gegen die Verletzung des Anspruches auf Zugang zu Umweltinformationen der Rechtsweg offen steht. Nach Art. 9 Abs. 2 des Übereinkommens stellt jede Vertragspartei im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften sicher, dass Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit, die ein ausreichendes Interesse haben oder alternativ eine Rechtsverletzung geltend machen, sofern das Verwaltungsprozessrecht einer Vertragspartei dies als Voraussetzung fordert, Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht und / oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffen unabhängigen und unparteiischen Stelle habe. Dieses gerichtliche / gerichtsähnliche Verfahren dient der Überprüfung der materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeit von Entscheidungen.

Was als ausreichendes Interesse und als Rechtsverletzung gilt, bestimmt sich nach den Erfordernissen innerstaatlichen Rechts und dem Ziel, der betroffenen Öffentlichkeit nach Maßgabe des Übereinkommens einen weiten Zugang zu den Gerichten zu gewähren. Eine Verbandsklage muss möglich sein. Nach § 9 Abs. 3 des Übereinkommens soll gegenüber Verletzung des innerstaatlichen Umweltrechtes grundsätzliche ein Überprüfungsverfahren eröffnet werden.

2. Die Richtlinie 2003 / 35 / EG Um den Anforderungen der Aarhus-Konvention zu entsprechen, hat das Europäische Parlament und der Rat am 26. Mai 2003 die Richtlinie 2003 / 35 / EG erlassen. Diese Richtlinie ändert die Richtlinie 85 / 337 / WWG und 9 6 / 6 1 / EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten. Nach Art. 10 a der durch die Richtlinie 2003 / 25 / EG geänderten Richtlinie 85 / 387 / EWG und Art. 15 a der durch die Richtlinie 2003 / 35 / EG vom 26. Mai 2003 geänderten Richtlinie 96 / 61 / EG stellen die Mitgliedsstaaten im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften sicher, dass die Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit, die ein ausreichendes Interesse haben oder alternativ eine Rechtsverletzung geltend machen, „sofern das Verwaltungsverfahrensgesetz bzw. Verwaltungsprozessrecht eines Mitgliedsstaates dies als Voraussetzung erfordert", Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen unparteiischen Stelle haben, um die materiell-rechtliche und verfah-

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rensrechtliche Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen anzufechten, für die die Bestimmung dieser Richtlinie gelten. Was als ausreichendes Interesse und als Rechtsverletzung gilt, bestimmen die Mitgliedsstaaten. Sie sollen aber ihrer Bestimmung das Ziel zugrunde legen, der betroffenen Öffentlichkeit einen weiten Zugang zu den Gerichten zu gewähren. Nichtregierungsorganisationen, die sich für den Umweltschutz einsetzen und alle nach innerstaatlichem Recht geltenden Voraussetzungen erfüllen (Art. 2 Nr. 14 der Richtlinie 9 6 / 6 1 / EG), verfügen nach Art. 15 a über das ausreichende Interesse nach Art. 15 a Abs. 1 (a).

II. Der Entwurf eines Gesetzes über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der Richtlinie 2003 / 35 / EG (Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz) 1. Ziel des Gesetzes Der Entwurf des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes dient der Anpassung des Bundesrechtes an die zwingenden Vorgaben der Richtlinie 2003 / 35 / EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 26. Mai 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinie 85 / 337 / EWG und 96 / 61 / EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten 1.

2. Die Vorgaben Aarhus-Konvention und Richtlinie 2003 / 35 / EG verlangen die Einführung der Verbandsklage in Umweltdingen, um die Kontrolle der Anwendung von Rechtsvorschriften im Bereich des Umweltschutzes zu effektuieren. Die Vorschriften der Aarhus-Konvention und der Richtlinie 2003 / 35 / EG machen jedoch keine Vorgaben über Art und Umfang der den Verbänden eingeräumten Rügemöglichkeiten. Das heißt, es verbleibt bei den Regelungen des Art. 175 Abs. 1 i. V. m. Art. 174 EGV, nach welchen der Europäischen Gemeinschaft keine umfassende Rechtssetzungszuständigkeit für das Gerichtsverfahrensrecht zusteht. Das Gerichtsverfahrensrecht ist kein bloßer Annex zum materiellen Umweltrecht der Gemeinschaft. Das Gerichtsverfahrensrecht unterfällt vielmehr 1

ABl. EU Nr. L I 56 S. 17.

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dem allgemeinen Gemeinschaftsrechtsgrundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts, Art. 175 Abs. 4 EG. Insoweit belassen auch die Aarhus-Konvention und die Richtlinie 2003 / 35 / EG einen entsprechenden Ausgestaltungsspielraum für den nationalen Gesetzgeber. Darüber hinaus geht es bei der Verbandsklage, für die gemeinschaftsrechtlich bei Erfüllung des Satzungszweckes „ein ausreichendes Interesse" unterstellt wird, nicht um eine bloße Erweiterung der Zugangsmöglichkeiten zum Gericht. Vielmehr wird hiermit auch das Gleichgewicht zwischen Klagebefugnis in prozessualer Hinsicht (Zugang zum Gericht) und Umfang der gerichtlichen Kontrolldichte angesprochen. Auch dieser Bereich, die Ausgestaltung der gerichtlichen (materiellen) Kontrolldichte obliegt dem nationalen Gesetzgeber. Für einen Systemwechsel zu einer allein auf die objektive Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns beschränkten Kontrolle der Verwaltung besteht gemeinschaftsrechtlich für den nationalen Gesetzgeber keine Veranlassung. Schließlich sieht Art. 6 des Aarhus-Übereinkommens eine obligatorische Beteiligung der Öffentlichkeit für die im Anhang des Übereinkommens umfassend aufgelisteten Tätigkeiten und eine fakultative Beteiligung für andere umweltrelevanten Maßnahmen vor. Obligatorisch ist eine Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit sowie der Öffentlichkeit mit einem Interesse an der Entscheidung. Für Umweltschutzverbände wird ein solches Interesse nach Art. 2 Nr. 5 des Übereinkommens aus ihrem Verbandszweck gefolgert. Auch insoweit belässt das Übereinkommen den Vertragsparteien einen weiten (nationalen) Ausgestaltungsspielraum, den auch die Richtlinie 2003 / 35 / EG nicht mit originären Vorgaben ausgefüllt hat.

3. Das einheitliche Verwaltungsprozessrecht Die Umsetzung von EU-Richtlinien wie der Richtlinie 2003 / 35 / EG rechtfertigt nicht Systembrüche, wie beispielsweise die Aufsplitterung verwaltungsprozessualer und verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften in Einzelmaterien. Die Umsetzung liegt in der Hand des nationalen Gesetzgebers, der gerade im Hinblick auf das Verwaltungsprozessrecht wie auch das Verwaltungsverfahrensrecht gemeinschaftsrechtlich nicht gebunden ist. Da es sich bei den Regelungsgegenständen des Umweltrechtsbehelfsgesetzes nicht um Annex-Kompetenzen zum Umweltrecht handelt, sondern um Verwaltungsprozessrecht und Verwaltungsverfahrensrecht, liegt es nahe, die insoweit erforderlichen Änderungen unmittelbar in der Verwaltungsgerichtsordnung und in dem Verwaltungsverfahrensgesetz vorzunehmen.

Rechtsschutz in Umweltangelegenheiten

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Das Herauslösen verwaltungsprozessualer und verwaltungsrechtlicher Vorschriften aus dem Gesamtkontext der sonstigen prozessualen und verfahrensrechtlichen Regelungen fuhrt zu Abgrenzungs- und Auslegungsschwierigkeiten. Dies gilt insbesondere im Hinblick von § 1 des Umweltrechtsbehelfsgesetzes, das den Anwendungsbereich des Gesetzes auf alle Entscheidungen im Sinne des § 2 Abs. 3 des UVPG erstreckt, für die eine Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich ist. Die Umweltverträglichkeitsprüfung stellt keinen Selbstzweck dar. Sie bedarf eines Trägerverfahrens. Vielfach aber bestehen für die Trägerverfahren, wie etwa für das luftrechtliche Planfeststellungsverfahren (§10 Abs. 6, § 10 Abs. 8 LuftVG), Spezialregelungen. Das Verhältnis dieser Spezialregelungen zu den Anforderungen des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes ist unklar. Dies gilt in gleicher Weise für das Fachplanungsrecht im Übrigen. 4. Verletzung in eigenen Rechten Die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs nach § 2 Abs. 1 des Entwurfs soll nach der Systematik des Gesetzes die Erfüllung der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 des Entwurfs zur Grundlage haben. Insofern übernimmt § 2 Abs. 2 des Entwurfs die Funktion des § 42 Abs. 2 VwGO. Die von § 2 Abs. 1 des Entwurfs genannten „eigenen Rechte des Vereins" werden in § 2 Abs. 2 des Entwurfs unter dem Titel „ausreichendes Interesse" im Sinne von Art. 10 a/ Art. 15 a der Richtlinien i. V. m. Art. 2 Abs. 14 der Richtlinie 96 / 61 / EG definiert, so dass der Zusatz in § 2 Abs. 1 des Entwurfes „ohne eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen zu müssen" entfallen kann.

5. Das Anerkennungsverfahren Die gegenwärtige Fassung von § 2 Abs. 2 des Entwurfs verlagert die Überprüfung, ob ein Verein die Bedingungen des § 2 Abs. 2 des Entwurfs erfüllt, in das ohnehin schon komplizierte Gerichtsverfahren. Es kann nur dringend angeraten werden, der Systematik des Bundesnaturschutzgesetzes zu folgen und ein förmliches Anerkennungsverfahren einzuführen. Die Voraussetzungen des Anerkennungsverfahrens sind allerdings in § 2 Abs. 2 des Entwurfs zu präzisieren. Es muss feststehen, dass sich die klageberechtigten Nichtregierungsorganisationen auf Dauer und nicht nur vorübergehend für den Umweltschutz einsetzen. Allein die Ziele des Umweltschutzes zu fordern, entspricht nicht den Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 14 der Richtlinie 96 / 61 / EG.

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6. Das Unterlassen einer Entscheidung In § 2 Abs. 3 des Gesetzentwurfes wird das Unterlassen einer Entscheidung nach § 1 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes erwähnt. In diesem Zusammenhang ist zwischen Zulassungsentscheidungen und aufsichtlicher Tätigkeit zu unterscheiden. Soweit es um das Aufsichtsrecht geht, besteht aufgrund der Richtlinie 2003 / 35 / EG kein Umsetzungsbedarf. Es kann, bei entsprechender Ausgestaltung des Fachplanungsrechtes wie etwa im Bereich von § 8 LuftVG, nur um planungsrechtliche Zulassungsakte gehen, in denen etwa zu Lasten der Vorschriften des UVPG eine Umweltverträglichkeitsprüfung, obgleich geboten, unterlassen worden ist.

7. Die Begründetheit einer Verbandsklage Rechtsbehelfe gegen umweltbedeutsame Entscheidungen nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes sollen nach § 2 Abs. 6 des Gesetzes schon dann mit der Folge ihrer Aufhebung begründet sein, wenn die Entscheidung gegen Rechtsvorschriften, die dem Umweltschutz dienen, verstößt und der klagende Verein dadurch in seinem satzungsgemäßen Aufgabenbereich (Förderung der Ziele des Umweltschutzes) berührt wird. Allein der Umstand, dass eine Entscheidung nach § 1 Abs. 1 gegen Rechtsvorschriften, die dem Umweltschutz dienen, verstößt, muss nicht zwangsläufig zu der Begründetheit einer erhobenen Verbandsklage führen. An die Regelung des § 10 Abs. 8 LuftVG sei erinnert. Bei Planungsentscheidungen komplexer Art (Abwägungsentscheidungen) kann es nur um solche Verstöße gehen, die erheblich sind, also offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind. Überdies kommt eine Aufhebung der angegriffenen Entscheidung nur dann in Betracht, wenn der entstandene (materiell-rechtliche oder verfahrensrechtliche Fehler) nicht in einem Ergänzungsverfahren behoben werden kann.

8. Die Fehlerfolge § 3 des Umwelt-Rechtsbehelfs-Gesetzes schafft für die Gegenstände des § 1 des Gesetzes ein eigenes Verfahrensrecht, insbesondere im Hinblick auf die „Fehlerlehre". Dies ist zur Umsetzung der Richtlinie 2003 / 35 / EG nicht geboten. Allein der Umstand, dass eine erforderliche Umweltverträglichkeitsprüfung oder eine erforderliche Vorprüfung des Einzelfalls über die UVP-Pflichtigkeit nicht durchgeführt worden ist, führt nicht automatisch zu einer Aufhebung der gleichwohl ergangenen fachplanerischen Zulassungsentscheidung. Maßgeblich

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ist, ob die Belange des Umweltschutzes in der Planungsentscheidung selbst berücksichtigt worden sind: Das Unterbleiben einer Umweltverträglichkeitsprüfung muss sich in der Sache selbst negativ ausgewirkt haben. Auch insoweit kommt ohne Aufhebung des angegriffenen Fachplanungsaktes notfalls ein ergänzendes Verfahren (Nachholung der Umweltverträglichkeitsprüfung) in Betracht.

9. Keine Prozessstandschaft Bei der Beteiligung der „verfassten Öffentlichkeit" am Verwaltungs- und im Gerichtsverfahren geht es nicht um die Geltendmachung der Rechte einzelner, sondern um die Effektuierung der „Umweltverträglichkeit" der jeweiligen fachplanerischen Maßnahmen in einem allgemeineren (aggregierten) Maßstab. Dies hat jedoch zur Folge, dass die in den Verbänden verfasste Öffentlichkeit nicht anstelle der „Verletzten" für die individuelle Rechtswahrung zuständig ist. Die Umsetzung der Richtlinie 2003 / 35 / EG verlangt nicht die Einführung einer „Prozessstandschaft" durch Verbände. 10. Verbandsklage und individuelle Zumutbarkeit Viele Fragen der Umweltauswirkungen sind, wie auch das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung festgestellt hat, gerade im Bereich der Lärmauswirkungen, Fragen der individuellen Zumutbarkeit und lösen sich deshalb vom prozessualen Zugriff der „verfassten Öffentlichkeit" ab. Das Entscheidungsprogramm etwa der §§ 8 ff. LuftVG unter Einschluss von § 9 Abs. 2 LuftVG kann durch die Einführung einer umweltbezogenen Verbandsklage nicht verändert werden. Auch dies schließt es aus, Verbandsklagen allein schon deshalb als zulässig zu erachten, weil mit ihnen ein Verstoß gegen Vorschriften, die der Umwelt dienen (etwa § 9 Abs. 2 LuftVG) geltend gemacht wird. Im Bereich der Fluglärmauswirkungen bestehen mit Ausnahme des Fluglärmgesetzes, dessen Novellierung ansteht, keine Vorschriften, die in allgemeiner Weise der Umwelt dienen. Die Anforderungen des Abwägungsgebotes (§ 8 Abs. 1, § 9 Abs. 2 LuftVG) sind auf den Schutz des Einzelnen (Abwägungserheblichkeit / Zumutbarkeit) ausgerichtet und können allein schon deshalb nicht Gegenstand einer zulässigen Verbandsklage in diesem Bereich sein. Wird gleichwohl auch in dieser Hinsicht die Verbandsklage erweitert, verstärkt sich der Druck auf die Konkretisierung des Normprogramms, etwa durch Festsetzung von Lärmstandards in der LuftVZO, vergleichbar dem gesetzgeberischen Vorgehen im Bereich des Immissionsschutzrechtes.

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11. Verbandsklage und Kontrolldichte gerichtlicher Entscheidungen Offen sind die Fragen des Verhältnisses von Verbandsklage und Kontrolldichte gerichtlicher Entscheidungen in Planungsdingen. Mag das Normprogramm im Rahmen gebundener Entscheidungen - mit Ausnahme unbestimmter Rechtsbegriffe - gesetzlich noch hinreichend bestimmt sein, setzt ein Planungsvorhaben Abwägungsspielräume der Behörde voraus, die gerichtlicher Überprüfung nur in Grenzen zugänglich sind. Die Verbandsklage ist nicht in der Lage, diese Entscheidungsstrukturen, etwa durch Heraushebung und besondere gerichtliche Betonung der Ermittlung des Abwägungsstoffes (Verfahrensbeteiligung), zu verändern. Die offenkundig unvollständige Ermittlung des Abwägungsmaterials mag ein Indiz für ein fehlerhaftes Abwägungsergebnis sein. Gleichwohl muss es bei der gerichtlichen Überprüfung und dem Erfolg einer etwaigen Klage bei der Kausalitätsbeziehung verbleiben: Auch bei einer Verbandsklage kann der Kläger Mängel bei der Ermittlung des Abwägungsmaterials (etwa Mängel einer Verkehrsprognose) nur geltend machen, wenn etwa die angenommene Verkehrsentwicklung von (entscheidungserheblicher) Bedeutung für die planerische Abwägung in Bezug auf die satzungsgemäßen Rechte des Verbandes ist. Die (zugleich wertende) Abwägung kann nicht, auch nicht aufgrund einer Verbandsklage, zur vollständigen gerichtlichen Disposition stehen. Insoweit geht es also nicht um die Effektuierung von Verfahrensrechten, sondern um den Rechtsschutz gegen die Sachentscheidung selbst. Allein die Behauptung eines Verbandes, die behördliche Ermittlungstätigkeit im Zulassungsverfahren sei unzureichend gewesen, da etwa seine Äußerung im Verfahren nicht mit dem von ihm für richtig gehaltenen Gewicht in die Sachentscheidung eingegangen sei, reicht gerade nicht aus, die materielle Rechtswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung darzutun.

12. Verbände als Träger öffentlicher Belange? Die Anerkenntnis der Verbände als verfahrensrechtlich und prozessual privilegiert enthält nicht die Übertragung einer öffentlichen Aufgabe: Die Verbände sind nach wie vor „Verwaltungshelfer" und sollen über ihre Verfahrensbeteiligung ihren Sachverstand in Umweltbelangen in das Verfahren einbringen. Die Verbände widmen sich zwar im Rahmen ihres satzungsgemäßen und damit ausschließlich privaten Zwecks einer öffentlichen Aufgabe. Durch eine erweiterte „staatsfreie Bürgerbeteiligung" soll Vollzugsdefiziten der öffentlichen Verwaltung im Umweltrecht entgegengewirkt werden. Die Verbände sind aber nicht Träger öffentlicher Belange. Damit aber schließen sich im Rahmen der Beteiligung der Verbände Kategorien wie „Benehmen" und darüber hinaus „Einver-

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nehmen" mit der entscheidenden Behörde ebenso aus wie das Hinübergreifen aus der Verfahrens- in die Entscheidungsphase. Auch dies begrenzt die gerichtliche Rügebefugnis der Verbände im Rahmen einer Verbandsklage.

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I. Die Ärhus-Vorgaben und ihre Transformation in Gemeinschaftsrecht Zur Erreichung ihres Ziels, z u m Schutz des Rechts aller Menschen gegenwärtiger und künftiger Generationen auf ein Leben i n einer Gesundheit und Wohlbefinden zuträglichen U m w e l t beizutragen (Art. 1 Ärhus-Konvention), verfolgt die sog. Ärhus-Konvention, also das i m Juni 1998 i m dänischen Ärhus beschlossene Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten i n Umweltangelegenheiten 1 , ein Drei-Pfeiler-Modell.

Der erste Pfeiler ist das

Recht auf Zugang zu Informationen über die Umwelt (Art. 4 und 5 ÄrhusKonvention), der zweite das Recht auf Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren (Art. 6-8 Ärhus-Konvention) und der dritte das Recht auf Zugang zu Gerichten i n Umweltangelegenheiten (Art. 9 Ärhus-Konvention). Hier soll nur der dritte Pfeiler, der Zugang zu den Gerichten, behandelt werden. 2

Der folgende Beitrag gibt eine Kurzstellungnahme wieder, die der Verfasser im Rahmen der „Aktuellen Stunde" des Speyerer Luftverkehrsrechtstags 2005 abgegeben hat. Um den Charakter der Stellungnahme zu wahren, sind nur einige wenige Hinweise ergänzt worden. 1 Text in AVR 38 (2000), 252 ff. 2 Zur Arhus-Konvention insgesamt und den Rechten auf Informationszugang und Öffentlichkeitsbeteiligung siehe die Nachweise in den folgenden Anmerkungen und T. Bunge, Rechtsschutz bei der UVP nach der Richtlinie 2003 / 35EG - am Beispiel der Anfechtungsklage, ZUR 2004, 141 ff.; W. Durner , Rechtspolitische Spielräume im Bereich der dritten Säule: Prüfungsumfang, Kontrolldichte, prozessuale Ausgestaltung und Fehlerfolgen, in: W. Durner/C. Walter (Hrsg.), Rechtspolitische Spielräume bei der Umsetzung der Arhus-Konvention, 2005, S. 64 ff.; A. Epiney , Zu den Anforderungen der Arhus-Konvention an das europäische Gemeinschaftsrecht, ZUR 2003, 176 ff.; A. Epiney / M. Scheyli , Die Arhus-Konvention, 2000; M. Butt , Die Ausweitung des Rechts auf Umweltinformation durch die Arhus-Konvention, 2001; P. Jeder , Neue Entwicklungen im Umweltrecht vor dem Hintergrund der Ärhus-Konvention, UTR 62 (2002), 145 ff.; L. Knopp , Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz und Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz, ZUR 2005, 281 ff.; M. Scheyli , Ärhus-Konvention über Informationszugang, Öffentlichkeitsbeteiligung und Rechtsschutz in Umweltbelangen, AVR 38 (2000),

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Die EU hat mittlerweile ein Paket zur Transformation der Vorgaben der Ärhus-Konvention in Gemeinschaftsrecht geschnürt, zu dem in dem hier interessierenden Bereich die Richtlinie 2003 / 35 / EG zur Änderung der UVPRichtlinie und der IVU-Richtlinie 3 sowie ein Richtlinienvorschlag betr. den Gerichtszugang in Umweltangelegenheiten4 gehören. Die RL 2003 / 35 / EG verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Eröffnung des Zugangs zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle, um die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen anzufechten, für die die Bestimmungen der Richtlinie gelten (Art. 10a UVP-RL n. F., Art. 15a IVUR L n . F.). Die Vorgaben der RL 2003 / 35 / EG verlangen sicherzustellen, dass Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit, die ein ausreichendes Interesse haben oder eine Rechtsverletzung geltend machen, Zugang zu einem Überprüfungsverfahren haben müssen (Art. 10a UVP-RL n. F., Art. 15a IVU-RL n. F.). Unter der „betroffenen Öffentlichkeit" sind dabei natürliche oder juristische Personen oder Organisationen zu verstehen, die von umweltbezogenen Entscheidungsverfahren betroffen oder wahrscheinlich betroffen sind oder die ein Interesse daran haben (Art. 1 Abs. 2 UVP-RL n. F , Art. 10 Nr. 14 IVU-RL n. F.). Insoweit muß man unterscheiden zwischen Verbandsklagen und Individualklagen. Kurz einzugehen ist schließlich noch auf den erwähnten Vorschlag einer Richtlinie über den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, die grundsätzlich nur subsidiär gelten soll, wenn andere Gemeinschaftsvorschriften über den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten nicht einschlägig sind (Art. 1 Abs. 2 des RL-Vorschlags). Sie gibt den Mitgliedstaaten auf, allen natürlichen und juristischen Personen sowie Organisationen Zugang zu einem Verfahren in Umweltangelegenheiten zu eröffnen (Art. 4 Nr. 1 S. 1 des RL-

217 ff.; C. Walter, Beteiligungsrechte im Verwaltungsverfahren und Zugang zu Gerichten: Die Vorgaben des Völker- und Europarechts, in: W. Durner / C. Walter (Hrsg.), Rechtspolitische Spielräume bei der Umsetzung der Ärhus-Konvention, 2005, S. 7 ff.; J. Ziekow, Perspektiven von Öffentlichkeitsbeteiligung und Verbandsbeteiligung in der Raumordnung, NuR 2002, 701 (707 f.); M. Zschiesche, Die Ärhus-Konvention - mehr Bürgerbeteiligung durch umweltrechtliche Standards?, ZUR 2001, 177 ff. 3 RL 2003 / 35 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.05.2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85 / 337 / EWG und 9 6 / 6 1 / EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten, ABl. L 156 / 1 7 vom 25.06.2003. 4 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, KOM (2003) 624 endg. vom 24.10.2003. Zur Kompetenzfrage vgl. F. Ekardt / K. Pöhlmann, Die Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft für den Rechtsschutz - am Beispiel der Ärhus-Konvention, EurUP 2004, 128 ff.

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Vorschlags). Unter einem „Verfahren in Umweltangelegenheiten" ist dabei ein verwaltungsrechtliches oder gerichtliches Überprüfungsverfahren vor einem Gericht oder einer anderen durch Gesetz geschaffenen Einrichtung zu verstehen (Art. 2 Nr. 1 lit. f des RL-Vorschlags). Gegenstand der Kontrolle ist die Verfahrens - und materiellrechtliche Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten oder der Unterlassung von Verwaltungsakten, die gegen eine Umweltrechtsvorschrift verstoßen. Für die Reichweite der Rechtmäßigkeitsprüfung und für die auch in dem Richtlinienvorschlag vorgesehene Möglichkeit, die Klagemöglichkeit von der Geltendmachung einer Rechtsverletzung abhängig zu machen, können die folgende Ausführungen zur RL 2003 / 35 / EG entsprechend herangezogen werden.

II. Umsetzungsbedarf für das deutsche Recht Die Anforderungen, die die RL 2003 / 35 / EG insoweit an die Ausgestaltung des Rechtsschutzes stellt, werfen für das deutsche Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrecht - mit einer sogleich zu behandelnden Ausnahme keinen Änderungsbedarf auf. Da es die Richtlinie den Mitgliedstaaten überlässt, als Rechtsschutzvoraussetzung die Geltendmachung einer Rechtsverletzung zu verlangen und deren Voraussetzungen festzulegen, genügt das Erfordernis der Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO diesen Anforderungen. Größerer Veränderungsdruck geht allerdings von dem Erfordernis aus, dass sich die Eröffnung des Zugangs zu Rechtsschutzverfahren auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung in materiell-rechtlicher und verfahrensrechtlicher Hinsicht erstrecken muss. Hieraus ist gefolgert worden, dass die Anfechtung wegen der Frage der verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeit der Entscheidung ausdrücklich vorgesehen ist und deshalb für das Gericht auch die Möglichkeit einer Kassation wegen eines Verfahrensfehlers bestehen muss.5 Dem wird man nur schwer widersprechen können. Zwar ist darauf hingewiesen worden, dass die Aktivlegitimation an die Geltendmachung eines rechtlich geschützten Interesses geknüpft werden darf und für dessen Vorliegen das nationale Recht maßgeblich ist. 6 Das ist sicher richtig, besagt jedoch nichts für die Prüfung der Verfahrensrichtigkeit der angegriffenen Entscheidung. Kei-

5 Vgl. A. Schink , Die Ärhus-Konvention und das deutsche Umweltrecht, EurUP 2003, 27 (36); S. Schlacke , Rechtsschutz durch Verbandsklage, in: W. Erbguth (Hrsg.), Effektiver Rechtsschutz im Umweltrecht?, 2005, S. 119 (128). 6 A. Epiney/K. Sollberger , Zugang zu Gerichten und gerichtliche Kontrolle im Umweltrecht, 2002, S. 327.

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neswegs impliziert die Zulässigkeit der Einschränkung des Zugangs zum Rechtsschutzverfahren die Möglichkeit zur Einschränkung des Prüfungsumfangs. Der spezifische Bezug der Geltendmachung einer Verletzung subjektiver Rechte auf der Stufe der Sachentscheidungsvoraussetzungen in § 42 Abs. 2 VwGO einerseits und der Feststellung der Rechtsverletzung auf der Stufe der Begründetheitsprüfung in § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO andererseits ist nur eine positivrechtliche Entscheidung des deutschen Gesetzgebers. Man wird sicherlich nicht davon sprechen können, dass sie etwa der Rechtsschutzgewährung wesensimmanent wäre. Dies zeigt bereits der Blick auf die prinzipale Normenkontrolle nach § 47 VwGO. Dort besteht ebenfalls die an die Klagebefugnis angeglichene Sachentscheidungsvoraussetzung der Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO, dem keine Beschränkung des Prüfungsumfangs in § 47 Abs. 5 VwGO korrespondiert. Die Richtlinie setzt daher nicht bei § 42 Abs. 2, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO, sondern an § 46 VwVfG an. Der von dieser Norm vorgesehene Ausschluss der Möglichkeit, die Aufhebung eines verfahrensfehlerhaften Verwaltungsakts verlangen zu können, misst dem Verfahrensfehler nur bei einer Perpetuierung in der Sachentscheidung Bedeutung zu. Dass diese Unterordnung des Verfahrensrechts von Art. 9 Abs. 2 Ärhus-Konvention nicht toleriert wird, macht die Vertragsbestimmung durch die Gleichstellung der Prüfung der verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeit mit der Prüfung der materiell-rechtlichen Rechtmäßigkeit sehr deutlich. Nach der derzeit absehbaren Entwicklung wird sich die Bundesrepublik der Opferung des § 46 - allerdings, dies sei ausdrücklich betont, nur für die von der Richtlinie erfassten Entscheidungen - kaum entziehen können. Der einzige andere gangbare Weg, den die Konvention wohl auch offenlässt, könnte die Aufhebung des § 44a VwGO sein. Hier enthält die Richtlinie die Klausel, dass es den Mitgliedstaaten freisteht festzulegen, in welchem Verfahrensstadium die Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen angefochten werden können. Soweit - aber eben auch nur soweit - effektiver Rechtsschutz durch das Vorgehen gegen die Vornahme oder Unterlassung von Verfahrenshandlungen während des laufenden Verwaltungsverfahrens zu erlangen ist, könnte der Betroffene zulässigerweise auf das Tätigwerden in diesem Stadium verwiesen werden. Dem könnte dann eine Präklusionsregelung hinsichtlich des bei einer späteren Anfechtung der Sachentscheidung maßgebenden Prüfungsumfangs entsprechen. Ist im Einzelfall allerdings ein effektiver Rechtsschutz während des Verfahrens nicht möglich, so muss eine Überprüfung des Verfahrensfehlers auch noch bei einer Anfechtung der Sachentscheidung möglich sein. Die Regelung des § 44a VwGO würde sozusagen „umgedreht". Wenn Verfahrensverstöße nunmehr kraft europarechtlicher Vorgaben vor Gericht gerügt werden können, so geht beispielsweise die Auffassung des

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BVerwG vom rein verfahrensrechtlichen Charakter der UVP 7 hinsichtlich ihres rechtsschutzausschließenden Gehalts ins Leere. Auch die Einnahme des Standpunktes, die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über den Rechtsschutzzugang ließen es zu, den Zugang von der Geltendmachung einer Rechtsverletzung abhängig zu machen, und das UVP-Recht gewähre nun einmal keine durchsetzbaren Verfahrenspositionen 8, dürfte kaum möglich sein. Dies gilt in jedem Fall für die Verfahrensbestimmungen der UVP- und der IVU-RL. Die Eröffnung des Rechtsschutzverfahrens soll für die Verfahrenskautelen sichernde Wirkung haben. Hiermit wäre es nicht vereinbar, sämtlichen Verfahrensbestimmungen ihren individualschützenden Gehalt abzusprechen. Denn dann liefe die Verpflichtung zur Rechtsschutzeröffnung im Ergebnis leer. Verfahrensrecht ohne spezifischen Bezug zu den umweltbezogenen Entscheidungsverfahren wird man hingegen wesentlich weitergehend überprüfungsfrei stellen dürfen.

III. Umsetzungsüberlegungen in Deutschland Zur Umsetzung der genannten Vorgaben in deutsches Recht gibt es einen Entwurf des B M U in der Fassung von Ende Feb. 2005 zu einem „Gesetz über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie 200 / 35 / EG". Er behandelt die für das deutsche Rechtssystem zentrale Frage „wie halte ich es mit den Verfahrensfehlern" nur mit Blick auf Verstöße gegen UVP-Recht. Das ist aus zwei Gründen problematisch: Zum einen enthält die umzusetzende Richtlinie selbst keine Begrenzung auf UVP-Verfahrensfehler. Ganz im Gegenteil sprechen Begründungserwägungen und Richtlinientext ganz allgemein von der „verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeit" in den erfassten Fällen. Sicherlich sind erfasste Fälle gerade solche, bei denen eine UVP durchzuführen ist. 7

BVerwGE 100, 238 (246 f.); BVerwG, NVwZ-RR 1999, 429 (430); ebenso OVG Münster, NVwZ 2003, 361 (362); D. Czajka , Verfahrensfehler und Drittrechtsschutz im Anlagenrecht, in: ders. / K. Hansmann / M. Rebentisch (Hrsg.), Immissionsschutzrecht in der Bewährung. FS für Gerhard Feldhaus zum 70. Geb., 1999, S. 507 (519 ff.); U. DiFabio , Integratives Umweltrecht, NVwZ 1998, 329 (333); A. Schink, Die Umweltverträglichkeitsprüfung - eine Bilanz, NuR 1998, 173; M. Schmidt-Preuß, Der verfahrensrechtliche Charakter der Umweltverträglichkeitsprüfung, DVB1. 1995, 485 ff. Kritisch C. Heitsch , Durchsetzung der materiellrechtlichen Anforderungen der UVPRichtlinie im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren, NuR 1996, 453 (455 f.); K. Lange, Rechtsfolgen der Umweltverträglichkeitsprüfung für die Genehmigung oder Zulassung eines Projekts, DÖV 1992, 780 (781). 8 So noch BVerwG, NVwZ 1996, 381 (387); kritisch Heitsch (Fußn. 7), S. 455 f.; J.-W. Kirchberg, (2004): Das Planfeststellungsverfahren, in: J. Ziekow (Hrsg.), Praxis des Fachplanungsrechts, 2004, Rdnr. 115 f.; s. darüber hinaus VGH München, DVB1. 2000, 822 (823).

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Doch bezeichnet dies den Bereich der Verfahren, in denen eine Kontrolle auf Verfahrensfehler stattzufinden hat, nicht den Bereich der Fehler, die zu kontrollieren sind. Daß das Gemeinschaftsrecht durchaus in der Lage ist, eine entsprechende Einschränkung zu formulieren, zeigt der Richtlinienentwurf über den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten. Dort findet sich zwar auch die Vorgabe, dass Verwaltungsakte neben der materiellrechtlichen auch einer verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle zu unterziehen sind, jedoch mit dem ausdrücklichen Zusatz, dass relevant nur Verstöße gegen eine Umweltrechtsvorschrift sind. Zweites Problemfeld ist die Wahl des richtigen Regelungsorts. Natürlich zwingen die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen nicht zu einer generellen Aufhebung der § 44a VwGO und § 46 VwVfG. Allerdings käme man durch die die Schaffung eines besonderen Umweltverfahrensrechts zu einer Doppelspurigkeit der Anwendung von Verfahrensbestimmungen in Fällen mit und in Fällen ohne Umweltrechtsbezug kommen. Das erscheint mir wenig sinnvoll.9 Im Bereich der Verbandsklage gehen die Vorgaben der Richtlinie 2003 / 35 / EG insofern weiter als für die Individualklage, als es nicht mehr den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, wem sie welche klagefähigen Rechte zuerkennen. Verbände, die sich für den Umweltschutz einsetzen, gelten vielmehr immer als Träger von Rechten, deren Verletzung zur klageweisen Geltendmachung berechtigt. In der Konsequenz heißt dies, dass Umweltschutzverbände eine materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Vollkontrolle der unter die Richtlinie fallenden Entscheidungen verlangen können. Hier lässt die Richtlinie weniger Umsetzungsspielräume. Der Gesetzentwurf des B M U bewegt sich von daher in den Bahnen des gemeinschaftsrechtlich nicht nur Vorgezeichneten, sondern mehr noch Vorgegebenen. Vorgesehen ist, dass ein Verein, der nach seiner Satzung Ziele des Umweltschutzes fordert, ohne Geltendmachung einer Verletzung in eigenen Rechten uvp-pflichtige Entscheidungen sowie einige andere Verwaltungsakte anfechten kann. Allerdings ist die Klagebefugnis insofern eingeschränkt, als der Verein geltend machen muss, dass die Entscheidung Rechtsvorschriften widersprechen muss, die gerade dem Umweltschutz dienen, und dass er in seinem satzungsgemäßen Aufgabenbereich berührt ist. Entsprechend eingeschränkt ist die Prüfung der Begründetheit des Rechtsbehelfs. Mit Einwendungen, die der Verein nicht im Verfahren geltend gemacht hat, obwohl er dies konnte, ist er materiell präkludiert. Ganz deutlich ist, dass die Vorschrift den §§ 58 ff. BNatSchG nachgebildet ist.

9 Eingehend J. Ziekow, Strategien zur Umsetzung der Ärhus-Konvention in Deutschland: Einbettung in das allgemeine Verwaltungsrecht und Verwaltungsprozessrecht oder sektorspezifische Sonderlösung für das Umweltrecht?, in: W. Durner/C. Walter (Hrsg.), Rechtspolitische Spielräume bei der Umsetzung der Ärhus-Konvention, 2005, S. 39 ff.

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IV. Schlussbetrachtung Wer sich nur darauf beschränkt, kleinteilig die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben umzusetzen, bringt das System des deutschen Vorhaben- und Anlagenzulassungsrechts ins Kippen. Wir werden es uns auf die Dauer nicht leisten können, extrem hohe materielle Standards zu haben und dazu noch den verfahrensbezogenen Ansatz des Gemeinschaftsrechts oben drauf zu setzen. Aus der Evaluation von investitionsrelevanten Verfahrensregelungen, die ich für das Land Baden-Württemberg durchgeführt habe, haben wir gelernt, dass die Grenzen der Verfahrenssteuerung und -erleichterung ziemlich ausgereizt sind. Was wir brauchen ist ein großer Wurf, nämlich eine offene Debatte darüber, was wir an subjektiven Rechten im Verfahren und im materiellen Recht brauchen und was der effektivste Steuerungsmodus ist.

Die Rolle des Richterrechts im Planungsrecht, dargestellt an Beispielen der Rechtsprechung des Vierten Senats des BVerwG Von Wolfgang Durner

I. Planungsrecht und Richterrecht Das Verwaltungsrecht verdankt einen Großteil seiner Strukturen den ordnenden Aussagen der Dritten Gewalt.1 Seit der Kodifikation des Allgemeinen Verwaltungsrechts gilt dies vielleicht am stärksten für das Gebiet des Planungsrechts: Allgemein wird daher die starke Rolle des Richterrechts bei der Erschließung und Entwicklung des Planungsrechts - etwa mit Blick auf das Abwägungsgebot - betont und rühmend hervorgehoben. 2 Auch Vertreter der Wissenschaft haben immer wieder anerkannt, insbesondere das Fachplanungsrecht sei „weitgehend richterrechtlich geformt" und sehen beispielsweise die Entwicklung eines materiellen Planungsbegriffs als eine Großtat der Rechtsprechung im Bereich des Planungsrechts an.3 Dieses Lob gilt vor allem auch den Leistungen des für das Bundesbaurecht zuständigen Vierten Revisionssenats des Bundesverwaltungsgerichts und verbindet sich regelmäßig mit der Vorstel-

1 Näher Reinhard Mussgnug, Das allgemeine Verwaltungsrecht zwischen Richterrecht und Gesetzesrecht, in: Richterliche Rechtsfortbildung. Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg, 1986, S. 203 ff.; vgl. für die Zeit vor Erlass des Verwaltungsverfahrensgesetzes auch Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, 10. Aufl. 1973, S. 144 ff. 2 Vgl. etwa Werner Hoppe, Entwicklung von Grundstrukturen des Planungsrechts durch das BVerwG, DVB1. 2003, 697 ff.; Michael Ronellenfitsch, Fachplanung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Festschrift für Blümel, 1999, S. 497, 501 ff.; Eberhard Schmidt-Aßmann, Bundeskompetenzen zur Raumordnung unter veränderten Rahmenbedingungen, in: Festschrift für Weyreuther, 1993, S. 73, 83; Helmuth Schulze-Fielitz, Das Flachglas-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, Jura 1992, 201, 204 ff.; Horst Sendler, Über Wechselwirkungen zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung im Bau- und Umweltrecht, in: Festschrift für Weyreuther, 1993, S. 3, 6 ff. oder auch - etwas relativierender - Richard Bartlsperger, Das Abwägungsgebot als Erfordernis konkreter Verhältnismäßigkeit, in: Erbguth/Oebbecke / Rengeling / Schulte (Hrsg.), Abwägung im Recht, 1995, S. 79 ff. 3 Rainer Wahl, Entwicklung des Fachplanungsrechts, NVwZ 1990, 426 und 429.

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lung, gerade im Planungsrecht bedürfe es angesichts der offenen Finalstruktur der planungsrechtlichen Vorschriften 4 in besonderem Maße einer flankierenden richterrechtlichen Ausformung des Rechtsgebiets. Aber auch Kritik an der dominierenden Rolle des Bundesverwaltungsgerichts im Planungsrecht hat es im Laufe der Jahre bisweilen gegeben: So charakterisierte ein herausragender Vertreter der Richterschaft in einem Gespräch vor einigen Jahren die Rechtsprechung des Vierten Senats zum Drittschutz im Bauplanungsrecht als „voluntativ und dezisionistisch". Und einer der besten Kenner des Planungsrechts stellte fest, es sei für Kenner der Rechtsprechung des Senats „nichts Neues, dass dieser Senat einschlägige Entscheidungen des BVerfG neuerdings schlicht übergeht". 5 Wem die dominierende Rolle der Justiz im Planungsrecht selbstverständlich erscheint, der wird zudem vielleicht mit einiger Überraschung zur Kenntnis nehmen, wie sehr die Zulässigkeit des Richterrechts verfassungsrechtlich umstritten ist. In kaum einen Bereich des Verfassungsrechts klaffen die Grundannahmen der Richterschaft auf der einen und der Wissenschaft auf der anderen Seite derart auseinander. Zwar stellt nach einer ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze eine „legitime richterliche Aufgabe" dar, „sofern die Grenzen herkömmlicher Gesetzesinterpretation und richterlicher Rechtsfortbildung beachtet werden." 6 Dabei macht das Gericht jedoch wenig deutlich, was es unter richterlicher Rechtsfortbildung überhaupt versteht und welche Grenzen hierfür gelten sollen. Ähnliches gilt für § 137 GVG, der den Großen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes ausdrücklich die - nicht näher definierte - Aufgabe der „Fortbildung des Rechts" zuweist. In der Wissenschaft finden sich hingegen eher zurückhaltende und tendenziell kritische Stellungnahmen: Friedrich Müller beispielsweise, einer der bedeutendsten Methodenlehrer des öffentlichen Rechts, erklärt in einer Monographie zum „Richterrecht" dasselbe im Wesentlichen für verfassungsrechtlich unzulässig.7 Ebenso verneinen die meisten Vertreter der

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Vgl. zu diesem Ansatz etwa Werner Hoppe, Grundfragen des Planungsrechts, 1998, S. 120 ff., 126 f., 161 ff., 317 f. und öfter; Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2004, § 7 Rdnr. 63; Heinrich Amadeus Woiff, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), VwGO, § 114 Rdnr. 207, Stand: Jan. 2003; im Ansatz auch BVerfG, Beschl. vom 6.6.1989 - 1 BvR 921 / 85 BVerfGE 80, 137, 162 f. Kritisch zu dieser Vorstellung Beatrix Bartunek, Probleme des Drittschutzes bei der Planfeststellung, 2000, S. 54 f.; Johannes Dreier, Die normative Steuerung der planerischen Abwägung, 1995, S. 32 f., 47 ff.; Rüdiger Rubel, Planungsermessen, 1982, S. 10 f.; Christian Weitzel, Justitiabilität des Rechtssetzungsermessens, 1998, S. 99 ff. 5 Willi Blümel, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Verwaltungsrecht, VerwArch 73 (1982), 329, 332. 6 BVerfG, Beschl. vom 8.10.1996 - 1 BvR 875 / 92 - , BVerfGE 95, 48, 62. 7 Friedrich Müller, Richterrecht. Elemente einer Verfassungstheorie IV, 1986, S. 97 ff.

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Methodenlehre eine Rechtsquellenqualität richterlich entwickelter Institute8 und bemängeln das ausufernde „Richterrecht". 9 Vertreter der Richterschaft bezeichnen solche Angriffe als „verletzend" und halten entgegen, „Theoretiker", die nicht der Verantwortung des Richters unterlägen, hätten „es leicht, Schelte zu üben, gute Ratschläge zu geben [...] und damit dem Praktiker nichts oder Steine statt Brot zu geben". Wo der Richter „vom Gesetzgeber im Stich gelassen" werde und es an Normtexten fehle, „die ihm für die Bildung der von ihm zu setzenden Rechtsnormen die Richtung weisen könnten", sei die Setzung ergänzenden Rechts durch die dritte Gewalt verfassungsrechtlich geboten.10 Richterrecht, so hat ein ehemaliger Präsident des Bundesgerichtshofs selbstbewusst erklärt, sei daher ein „notwendiger Bestandteil jeder modernen Rechtsordnung" und „neben dem parlamentarisch gesetzten Recht zu einer wichtigen neuen Rechtsquelle geworden." 11 Trotz der zum Teil sehr unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Grundpositionen dieser Stimmen beruht jedenfalls ein Teil dieser Divergenzen auf die Unschärfe des Begriffs „Richterrecht". Der im Gesetz nicht definierte Begriff trägt weniger den Charakter eines Rechtsbegriffs als einer phänomenologischen Sammelbezeichnung für Aussagen der Rechtsprechung, die sich durch einen besonders schöpferischen Charakter auszeichnen. Die Frage nach der Zulässigkeit von Richterrecht hängt daher wesentlich davon ab, was man darunter versteht. Wenn etwa das Bundesverfassungsgericht erklärt, die „Offenheiten" gesetzlicher Generalklauseln seien unter Berücksichtigung der Grundrechte „konkretisierend zu schließen" und dasjenige, „was das Gesetz offen lässt, durch Richterrecht auszufüllen" 12 , so gelten für diese norminterpretierende Rechtsprechung andere Maßstäbe als im Rahmen der Definition von Müller, der un-

8 So namentlich Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 356 f. und 429ff.; Gerhard Robbers, Einführung in das deutsche Recht, 2. Aufl. 1998, S. 23; a.A. jedoch Michael Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, besonders S. 311 ff.; differenzierend Rudolf Wassermann, in: Denninger u.a. (Hrsg.), Alternativkommentar zum Grundgesetz, Art. 97 Rdnr. 54, Stand: GW 2001. 9 Bernd Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 2002, 365 ff. 10 Horst Sendler, Richterrecht - rechtstheoretisch und rechtspraktisch, NJW 1987, 3240 f. Interessanterweise knüpft Sendler damit an klassische Formulierungen in der Beweiswürdigung des Dorfrichters Adam an: „Wenn ich, da das Gesetz im Stich mich lässt, Philosophie zu Hilfe nehmen soll, so war's - der Leberecht" (.Heinrich von Kleist, Der Zerbrochene Krug, 1804, Neunter Auftritt). 11

Karlmann Geiss, Rechtsfortbildung durch Richterrecht, im Internet unter http://www.cis-legal-reform.org/publication/conferences/final-court-decisions-res-judica ta/geiss-rechtsfortbildung-durch-richterrecht.de.html, der interessanterweise gleichwohl eine Präjudizienbindung des Richters verneint; ebenso etwa Wassermann (Fn. 8), Art. 97 Rdnr. 53 m.w.N. 12 BVerfG, Beschl. vom 25.1.1985 - 1 BvR 272 / 81 - , BVerfGE 66, 116, 138.

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ter „Richterrecht" lediglich die autonome Aufstellung solcher Normregeln durch ein Gericht ansieht, die sich nicht mehr auf einen gesetzten oder gewohnheitsrechtlich nachweisbaren Normtext zurückführen lassen.13 Die Begriffe „Richterrecht" oder „Rechtsfortbildung" sind daher vor allem problembeschreibende Sammelbezeichnungen, aus denen sich keine trennscharfen Rechtsfolgen ergeben. 14

II. Verfassungsrechtliche Parameter Ausgangspunkt der Frage nach der Zulässigkeit des Richterrechts ist der im Grundgesetz verwirklichte Grundsatz der Gewaltenteilung: Nach Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut. Art. 97 Abs. 1 GG garantiert diesen sachliche und personelle Unabhängigkeit, bindet die Ausübung dieser Gewalt jedoch an das Gesetz. Die Richter sind daher verpflichtet, ihre richterliche Tätigkeit in strikter Gesetzesbindung und in sachlicher Unabhängigkeit wahrzunehmen. Damit verwirklicht Art. 97 die Prinzipien der Gewaltenteilung und der Demokratie und gewährleistet zugleich eine notwendige Voraussetzung für die Realisierung des rechtsstaatlichen Justizgewährungsanspruchs des Bürgers. 15 Der materielle Gesetzesbegriff des Art. 97 Abs. 1 GG schließt neben förmlichen Gesetzen auch Rechtsverordnungen, autonome Satzungen und Gewohnheitsrecht ebenso ein wie das Verfassungs- und das Gemeinschaftsrecht sowie die nach Art. 25 GG bindenden Regeln des Völkerrechts. 16 Namentlich die für das Umwelt- und Planungsrecht herausragend bedeutsamen Vorschriften des Europarechts binden den Richter als „Gesetz" i. S. d. Art. 97 Abs. 1 GG und verpflichten ihn wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts, widersprechendes nationales Recht im Einzelfall unangewendet zu lassen.17 Dass

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Müller (Fn. 7), S. 77 ff. Ähnlich das weite Begriffsverständnis bei Katja Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 3. 15 Näher Pasquale Pasquino, Prolegomena to a Theory of Judicial Power, The Law and Practice of International Courts and Tribunals 2 (2003), S. 11, 14 f.; Hans-Peter Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, S. 30 ff.; Müller (Fn. 7), S. 88 f f , 96 ff. 16 BVerfG, Beschl. vom 31.5.1988 - 1 BvR 520 / 83 - , BVerfGE 78, 214, 227; Norbert Bernsdorff, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), GG, Bd. II, 2002, Art. 97 Rdnm. 17 f.; Roman Herzog, in: Maunz-Dürig (Fn. 16), Art. 97 Rdnrn. 5 und 32, Stand: Mai 1977; Wolf gang Meyer, in: von Münch / Kunig, GG-Kommentar, 5. Aufl. 2003, Art. 97 Rdnrn. 19 ff.; Reinhardt (Fn. 8), S, 134 ff.; Wassermann (Fn. 8), Art. 97 Rdnr. 53. 17 Näher EuGH, Urt. vom 15.7.1964 - Rs. 6 / 6 4 - , Slg. 1964, 1251 ff.; PeterMichael Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, § 9 Rdnrn. 1 ff.; 14

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die deutsche Rechtsordnung jedoch kein Fallrechtssystem darstellt, dass also Richtersprüche der Fachgerichte entgegen einer verbreiteten Auffassung jedenfalls keine eigenständige Rechtsquelle neben dem gesetzten Recht und dem Gewohnheitsrecht bilden, verdeutlicht bereits der fast allgemein anerkannt Grundsatz, dass der einzelne Richter grundsätzlich nicht an die Entscheidungen anderer Gerichte gebunden ist, außer wenn ein Gesetz dies vorsieht (vgl. etwa § 31 Abs. 1 und 2 BVerfGG). 18 Verfahrensrechtlich wird die Rechtsbindung aller Gerichte zudem durch das in Art. 100 GG verankerte Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts für förmliches nachkonstitutionelles Recht begrenzt: Einfache Gerichte sind demnach zwar berechtigt und auch verpflichtet, Parlamentsgesetze auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz hin zu überprüfen und bis an die Grenze des Wortlauts hin verfassungskonform auszulegen; die Verwerfung einer solchen Norm ist den Gerichten jedoch auch im Gewand einer „verfassungskonformen Auslegung" verwehrt. 19 Grundlage der richterlichen Entscheidung ist damit nach den Vorgaben des Grundgesetzes kein abstraktes materielles Prinzip der Gerechtigkeit, sondern die sachgerechte Anwendung der vom Gesetzgeber hervorgebrachten Normtexte auf konkrete Sachverhalte. 20 Etwas anderes folgt - entgegen einer Auffassung, die zumal von höchsten Vertretern der Richterschaft vielfach vorgebracht wird - auch nicht aus der richterlichen Justizgewährleistungspflicht: Es ist ein Zirkelschluss zu argumentieren, die Pflicht umfassender Justizgewähr verbiete dem Richter, eine Klage mit der Begründung abzuweisen, das Gesetz enthalte für den zu entscheidenden Sachverhalt keine Regelung.21 Die Justizgewährleis-

Matthias Niedobitek, Kollisionen zwischen EG-Recht und nationalem Recht, VerwArch 2001, 58, 60 ff.; Ingolf Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), 148, 182 ff. 18 Vgl. statt vieler BVerfG, Beschl. vom 11.11.1964 - 1 BvR 488 / 62 - , BVerfGE 18, 224, 240 f.; Steffen Detterbeck,, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 97 Rdnr. 15; Herzog (Fn. 16), Art. 97 Rn 33 f f , Stand: Mai 1977; Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III, 2000, Art. 97 Rdnr. 22; a.A. jedoch Reinhardt (Fn. 8), besonders S. 464 f. 19 Vgl. Paul Kirchhof Der Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt, in: Richterliche Rechtsfortbildung (Fn. 1), S. 11, 13; Jörn Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 173 f. und 236 ff. 20 Ralph Christensen, Richterrecht - rechtsstaatlich oder pragmatisch? - Zum Streit um die Sicht des Richterrechts in der strukturierenden Rechtslehre, NJW 1989, 3194, 3195. 21 So jedoch beispielsweise der ehemalige Präsident des Bundesgerichtshofs Geiss (Fn. 11); der ehemalige Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Sendler (Fn. 10), 3240 f.; der damalige Präsident des OLG Nürnberg Wolfgang Schaffer, Die Unabhängigkeit der Rechtspflege und des Richters, BayVBl. 1991, 678, 679; im Schrifttum weiter Christian Calliess, Grundlagen, Grenzen und Perspektiven europäischen Richterrechts, NJW 2005, 929, 932; Langenbucher (Fn. 14), S. 23 f.; Eberhard Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, 3. Aufl. 2003, Rdnr. 461; vgl. auch Kirchhof {Fn. 19), S. 30.

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tungspflicht verbietet dem Richter zwar, sich der Entscheidung über eine zulässige Klage zu verweigern; die Klage abzuweisen, wenn das maßgebliche Recht - dies schließt das Verfassungs-, Gemeinschafts- und Gewohnheitsrecht ein keine Anspruchsgrundlage enthält, ist hingegen seine aus Art. 97 Abs. 1 GG folgende Pflicht. 22 Die verfassungsrechtliche Justizgewährleistungspflicht verpflichtet den Richter damit zum Urteil, besagt jedoch nichts über die schöpferischen Freiräume, die ihm bei der Erfüllung dieser Aufgabe zustehen.

III. Rechtstheoretische Grundlagen Nach der überkommenen positivistischen Lehre erfolgt die Zuordnung eines Sachverhalts zu einer Rechtsnorm in einem zweistufigen Subsumtionsvorgang 23 : Der Obersatz „Jeder Mensch ist sterblich" wird durch den Untersatz „Sokrates ist ein Mensch" zu der Conclusio gebracht: „Folglich ist Sokrates sterblich." Aus dieser Perspektive ist die Anwendung des Rechtssatzes auf einen konkreten Sachverhalt - der allerdings durch das Gericht überhaupt erst ermittelt und gewürdigt werden muss - eine fast schon mechanische, jedenfalls durch die Norm weitestgehend vordeterminierte Handlung. Montesquieu forderte dementsprechend, das Urteil des Richters dürfe nichts als ein getreues Abbild, eine präzise Formulierung des Gesetzes sein. 24 Tatsächlich wird dieses positivistische zweistufige Modell der Komplexität der richterlichen Entscheidung in kaum einem Fall gerecht. Es ist eine heute unbestrittene Tatsache, dass Gesetze nicht auf quasi mechanische Weise auf einen Sachverhalt angewandt werden können. 25 Wie insbesondere die Leitsätze der höchstrichterlichen Entscheidungen verdeutlichen, besteht die Aufgabe des Richters zunächst darin, über eine Interpretation oder Konkretisierung der vom Gesetzgeber formulierten abstrakten Normtexte überhaupt erst jene konkreten Rechtssätze zu gewinnen, unter welche der für die Entscheidung maßgebliche 22 Vgl. ganz beispielhaft BVerfG, Urt. vom 28.3.2002 - 2 BvG 1 / 01 - , NJW 2002, 2020: „Für eine geteilte Ertragszuständigkeit in Bezug auf die UMTS-Versteigerungserlöse fehlt die verfassungsrechtliche Grundlage." 23 Kritisch dazu etwa Karl Engisch, Subsumtion und Rechtsfortbildung, in: Richterliche Rechtsfortbildung (Fn. 1), S. 3, 5 f. 24 Charles de Montesquieu , De l'Esprit des Lois (1748), in dem berühmten die englische Verfassung idealisierenden sechsten Kapitel des elften Buchs, in: Oeuvres Complètes des Montesquieu, Bd. 1, 1859, S. 132: „Mais, si les tribunaux ne doivent pas être fixes, les jugements doivent l'être à un tel point, qu'ils ne soient jamais qu'un texte précis de la loi. S'ils étaient une opinion particulière du juge, on vivrait dans la société, sans savoir précisément les engagements que l'on y contracte." 25 Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Neuausgabe 1983, S. 17, bezeichnet dies als unumstrittene Einsicht der modernen Methodendiskussion.

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Sachverhalt subsumiert und aus denen der Tenor abgeleitet werden kann. Damit steht zwischen der Ermittlung der einschlägigen Norm und der eigentlichen Subsumtion eine weitere Stufe, die Normkonkretisierung, die den eigentlichen Anwendungsbereich der richterlichen Präjudizien bildet. 26 Art. 97 Abs. 1 GG gebietet nun freilich nicht, dass die konkreten Leitsätze durch den Gesetzgeber selbst festgelegt werden müssten; erforderlich ist jedoch, dass sich diese Formeln durch eine methodisch tragfähige Begründung auf die vom Gesetzgeber hervorgebrachten Normtexte zurückführen lassen.27 Diesen Prozess der Normkonkretisierung mag man als „gesetzeskonkretisierendes" Richterrecht bezeichnen.28 Da aber nahezu jede richterliche Entscheidung auch auf einer Auslegung abstrakter Gesetze durch den Richter beruht, stellt die Normkonkretisierung letztlich eine richterliche Selbstverständlichkeit dar. Die gebotene Konkretisierung abstrakter Normen verlangt von dem Richter bisweilen erhebliche schöpferische Weiterentwicklungen und die Wahl zwischen einer Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten.29 Zu dieser gestalterischen Aufgabe zählen unter anderem: •

die Auslegung des Gesetzestextes nach den herkömmlichen Methoden;



die Ermittlung von Gewohnheitsrecht;



die Schließung planwidriger Lücken durch Analogie;



die verfassungskonforme Auslegung, die bis an die Grenze des Wortlauts der einfachgesetzlichen Norm erfolgen muss;



die Normergänzung, etwa die Schaffung zusätzlicher begrenzender Tatbestandsmerkmale durch teleologische Reduktion oder durch die erwähnte verfassungskonforme Auslegung;



die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und der Vorrang des Gemeinschaftsrechts nach Art. 10 EGV.

Dabei bestehen dort tendenziell weite Interpretationsspielräume, wo der Gesetzgeber der Rechtsprechung durch Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe Entwicklungsaufträge erteilt, etwa bei den Strafzumessungsregeln in

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Vgl. Engisch (Fn. 23), S. 7 f.; Kirchhofen. 19), S. 18 ff.; Ipsen (Fn. 19), S. 63 ff. Christensen (Fn. 20), 3195; Langenbucher (Fn. 14), S. 22 ff. und 36 ff.; SchulzeFielitz (Fn. 18), Art. 97 Rdnr. 21; Ipsen (Fn. 19), S. 239 spricht von einem „einsehbaren juristischen Begründungszusammenhang". 28 So Fritz Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S. 6; ähnlich Horst Arndt, in: Arndt / Heinrich / Weber-Lortsch, Richterliche Rechtsfortbildung, 1970, S. 11. 29 Vgl. nur Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 262 ff.; Larenz (Fn. 8), S. S. 366 ff.; Meyer (Fn. 16), Art. 97 Rdnr. 19. 27

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den §§ 38 ff. StGB. Auch dabei handelt es sich letztlich jedoch lediglich um die Ausfüllung abstrakter Normsätze. 30 Ebenso bestehen größere Spielräume dort, wo der Richter gehalten ist, im Wege verfassungskonformer Auslegung zwingende Vorgaben des Grundgesetzes zur Geltung zu bringen: So wird bei der Frage der verwaltungsgerichtlichen Klagebefugnis die richterrechtliche Zuerkennung von Klagerechten dann für zulässig gehalten, wenn der Gesetzgeber den durch grundgesetzliche Abwehr- und Schutzansprüche vorgegebenen Auftrag zur Begründung subjektiver Klagerechte „nicht erfüllt oder wegen der Eigenart der Materie oder wegen der faktischen Grenzen des Normierens nicht erfüllen kann". 31 Obere Instanzen steuern zudem durch die Aussagedichte und Präzision ihrer Leitsätze die Judikatur der unteren Instanzen und sind, zumal mit Blick auf die Grundrechte, besonders zur Abschätzung der Folgen dieser Weichenstellungen aufgerufen. A l l diese normativen Konkretisierungen mag man erneut als Richterrecht bezeichnen. Der Begriff vermittelt jedoch insoweit keinen eigenständigen Erkenntniswert.

IV. Unzulässige Rechtsfortbildungen Während der Gesetzgeber nämlich seine eigenen Gesetze zu revidieren vermag, ist die „Auflehnung des Richters gegen das Gesetz"32, das Hinweggehen über die Vorgaben des Gesetzgebers nach allgemeiner Auffassung unzulässig. Anders als der Gesetzgeber, der seine Entwicklung von Rechtssätzen durch materielle Gerechtigkeitsvorstellungen begründet, bedürfen zudem die konkretisierenden Leitsätze des Richters einer verfassungsrechtlich gebotenen Rückbindung an den demokratischen Rechtssetzungsprozess durch die juristische Methodenlehre. 33 Dabei ist die richterliche Begründungslast umso stärker, je weniger offensichtlich die Konkretisierung der gesetzlichen Vorgabe durch juristische Methoden geboten erscheint. Insbesondere implizieren Korrekturen gesetzgeberischer Erwartungen eine erhöhte Begründungslast. Richterrecht, das sich von diesen Erfordernissen ablöst, verstößt gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung. Über diese Maßstäbe herrscht ein weiter gehender Konsens, als die Grundsatzdebatten vermuten lassen: Der Richter, so hat selbst einer der promi-

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Müller (Fn. 7), S. 84 ff.; vgl. aber auch Ipsen (Fn. 19), S. 77 f. Rainer Wahl, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 42 Abs. 2 Rdnrn. 80 ff., Stand: Grundwerk 1996. 32 So der plastische Titel bei Klaus Roth-Stielow, Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, 1963. 33 Vgl. oben Fn. 27. 31

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nentesten Befürworter des Richterrechts formuliert, „darf stets nur in Bindung an einen Normtext, schon gar nicht in Widerspruch dazu Recht sprechen und im Zusammenhang damit Recht setzen".34 Dementsprechend ist der Richter niemals befugt, im Rahmen der Gesetzeskonkretisierung eigenständige materielle Ziele oder rechtspolitische Gerechtigkeitsvorstellungen zu verwirklichen, sondern stets gehalten, den Wertungen des Gesetzgebers und der Verfassung Rechnung zu tragen. 35 Diese Maßstäbe liegen auch jenen Aussagen zugrunde, die das „gesetzeskonkretisierende" oder „lückenfüllende" Richterrecht für zulässig, das „gesetzesvertretende" oder gar „gesetzeskorrigierende" Richterrecht hingegen für verfassungswidrig erklären. 36 Damit folgt aber auch die Prüfung des Richterrechts durch das Bundesverfassungsgericht anderen Maßstäben als die des gesetzten Rechts: Lässt sich eine Entscheidung nicht mehr methodisch vertretbar auf eine Rechtsnorm zurückführen, so kann nach Erschöpfung des Instanzenzugs eine Urteilsverfassungsbeschwerde erhoben werden; diese ist begründet, wenn die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts durch das angegriffene Urteil willkürlich war. 37 Willkürlich in diesem speziellen Sinne ist jedoch auch die Entscheidung, die nicht mehr die methodischen Mindestanforderungen einer Rückbindung an das Gesetz erfüllt. 38 Im Einzelfall bereitet es meist erhebliche Schwierigkeiten, eine klare Trennlinie zwischen der unverzichtbaren Auslegung gesetzlicher Normen und der nicht mehr legitimen Entwicklung neuer Rechtssätze zu ziehen. Jedenfalls Extrementscheidungen lassen sich aber auch nach diesen eher groben Kategorien klar zuordnen: So wird die Soraya-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der unter Billigung des Bundesverfassungsgerichts für Recht erkannte, entgegen dem ausdrücklichen Analogieverbot in § 253 BGB sei bei schweren Persönlichkeitsverletzungen die Zuerkennung von Schmerzensgeld geboten39, über-

34 So das Zitat bei Sendler (Fn. 10), 3240, der in der Sache damit die Forderung von Müller (Fn. 7), S. 81, weithin doch anerkennt. Vgl. weiter etwa Ipsen (Fn. 19), S. 235 ff. 35 BVerfG, Beschl. vom 19.2.1975 - 1 BvR 418/71 BVerfGE 38, 386, 396; Geiss (Fn. 11); Langenbucher (Fn. 14), S. 18 ff.; Schneider (Fn. 15), S. 32 f. und 38. 36 Ossenbühl (Fn. 28), S. 17 ff. 37 BVerfG, Beschl. vom 20.1.1981 - 2 BvR 632/78 BVerfGE 56, 99, 107 f.; Beschl. vom 4.6.1985 - 1 BvR 1222/82 - , BVerfGE 70, 93, 97 m.w.N.; Beschl. vom 3.11.1992-1 BvR 1 3 7 / 9 2 - , BVerfGE 87, 282, 284 f. 38 BVerfG, Beschl. vom 14.2.1973 - 1 BvR 112 / 65 BVerfGE 34, 269, 281; näher dazu Klaus Rennert, Die Verfassungswidrigkeit „falscher" Gerichtsentscheidungen, NJW 1991, 12, 16 m.w.N. Daher ist die beiläufige Aussage in BVerfG, Beschl. vom 13.1.1982-1 BvR 848 / 77 u.a. - , BVerfGE 59, 231, 257, in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend, das Richterrecht der Fachgerichte nähere sich „der Sache nach einer rechtssatzmäßigen Regelung" an und sei daher verfassungsrechtlich in gleicher Weise wie gesetztes Recht zu überprüfen. 39 BGH, Urt. vom 26.1.1971 - V I ZR 95 / 70 - , NJW 1971, 698.

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wiegend als bereits unzulässige Rechtsfortbildung kritisiert. 40 Zur Verteidigung erklärte das Bundesverfassungsgericht zwar in gewundenen Formulierungen, die Aufgabe der Rechtsprechung könne es erfordern, „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren." In diesem Fall schließe die richterliche Entscheidung diese Lücke „nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft". 41 Ob diese Aussagen angesichts der expliziten, keiner abweichenden Auslegung zugänglichen rechtspolitischen Entscheidung des Gesetzgebers in § 253 BGB, immateriellen Schaden nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen durch Geldleistungen zu kompensieren, für die Zulässigkeit dieser Gesetzeskorrektur viel beitragen, ist indes zu Recht bezweifelt worden. Die durch das Gericht für zulässig erklärten Entscheidungselemente können jedenfalls dort nicht den Ausschlag geben, wo das Gesetz derart eindeutig ist wie in § 253 BGB. Die durch den Bundesgerichtshof nachträglich zur Begründung entwickelte These, bei schwerwiegenden Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts geböten die Art. 1 und 2 Abs. 1 GG eine Durchbrechung von § 253 BGB 4 2 , verdeutlicht demgegenüber, dass es letztlich um die richterliche Korrektur des Gesetzgebers ging, die jedenfalls in der Berufung auf gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellungen keine Grundlage finden kann und zudem gegen Art. 100 GG verstieß. Als Zwischenergebnis ist damit festzuhalten: Der Richter verfügt bei der Konkretisierung abstrakter Normen über erhebliche schöpferische Spielräume. Die Grenzen des Richterrechts werden jedoch überschritten, wo ein Gericht rechtspolitische Entscheidungen des Gesetzgebers korrigiert oder losgelöst von jeder gesetzlichen Grundlage neue Rechtssätze entwickelt.

V. Maßstäbe für die (Un-)Zulässigkeit einer Rechtsfortbildung Ob sich eine richterliche Entscheidung im Rahmen der skizzierten Vorgaben hält, misst sich vor allem an der Qualität der Urteilsbegründung. Die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung sind überschritten, wenn der Ausspruch des Rich-

40 Vgl. Christensen (Fn. 20), 3195 f.; Müller (Fn. 7), S. 66 ff.; Ossenbühl (Fn. 28), S. 18; Sendler (Fn. 10), 3240 m.w.N. 41 BVerfG, Beschl. vom 14.2.1973 - 1 BvR 112 / 65 - , BVerfGE 34, 269, 287. 42 BGH, Urt. vom 5.12.1995 - V I ZR 332/94 („Caroline von Monaco") - , NJW 1996, 984, 985 m.w.N.

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ters nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Sinn vom Gesetz nicht als Rechtsfolge vorgesehen ist. 43 Freilich scheiden sich an der Frage der Richtigkeit einer Auslegung von jeher die Geister; nur in Extremfällen könnte daher die allgemeine Kritik an einer bestimmten Rechtsprechung die Grundlage für den Befund liefern, dieses Urteil habe die Bindungen des Richters an das Gesetz verletzt. Eine solche Entscheidung, die man im Ergebnis als methodisch schlichtweg unvertretbar bezeichnen könnte, ist dem Verfasser in der planungsrechtlichen Judikatur nicht bekannt. Eine Entscheidung kann jedoch auch dann gegen die in Art. 97 GG normierte Gesetzesbindung verstoßen, wenn sie sich zwar auf eine Rechtsnorm zurückführen lässt, jedoch tatsächlich auf fachfremden Erwägungen des erkennenden Gerichts beruht und die methodische Ableitung aus einer Rechtsnorm lediglich zur Begründung vorgeschoben wird. Denn die Bindung an das Gesetz verpflichtet den Richter, seine Entscheidungen auch im Hinblick auf seine innere Einstellung tatsächlich auf der Grundlage des Gesetzes zu treffen und nicht lediglich einer anhand anderer Maßstäbe getroffenen Entscheidung im Nachhinein eine rechtliche Begründung beizufügen. 44 Bisweilen wird freilich der Vorgang der Rechtsfindung generell so beschrieben, dass der Richter zunächst eine Entscheidung treffe und diese anschließend durch juristische Argumente begründe. 45 In der Tat hat die Rechtssoziologie längst nachgewiesen, dass subjektive Einflüsse der Richterpersönlichkeit im Rahmen der juristischen Entscheidungsfindung grundsätzlich nicht zu vermeiden sind. Vor allem die aus den USA stammenden Bewegungen der Sociological Jurisprudence und des Legal Realism haben dementsprechend versucht, durch empirische Rechtsprechungsanalysen die Gesetzesbindung des Richters als Fiktion zu entlarven und generell die Möglichkeit bestritten, den Richter durch Normtexte an Vorgaben des Gesetzgebers zu binden. 46 Auch in Deutschland gab es bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts vergleichbare Debatten. 47 Urteilsbegründungen stellen aus dieser - durchaus übersteigerten - Per43

Vgl. Bernsdorff (Fn. 16), Art. 97 Rdnr. 19 m.w.N. Ausdruck dieses Grundsatzes sind beispielsweise die Regelungen über die richterliche Befangenheit, vgl. dazu Wilhelm Krekeler, Der befangene Richter, NJW 1981, 1633 ff. 45 So etwa Uwe Wesel, Fast Alles was Recht ist. Jura für Nichtjuristen, 1991, S. 33 ff. 46 Vgl. dazu vor allem Andeas von Arnauld, Rechtssicherheit, Habilitationsschrift 2005, Manuskript, im Erscheinen, S. 374 ff.; Norbert Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas, 1967, insbes. S. 82 ff. und zusammenfassend S. 132 f.; Heinrich Geddert, Der amerikanische Rechtsrealismus (legal realism), JuS 1979, 393 ff.; Michael Martin, Legal realism, 1997. 47 Hervorzuheben ist dabei die 1914 erschiene Schrift von Ludwig Bendix, Das Problem der Rechtssicherheit. Zur Einführung des Relativismus in die Rechtsanwendungslehre, in: ders., Zur Psychologie der Urteilsfähigkeit des Berufsrichters und andere 44

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spektive letztlich nur nachträgliche Rationalisierungen einer durch irrationale Elemente geprägten richterlichen Entscheidung dar. 48 Ohne diese Grundfrage hier zu vertiefen 49, sei doch im Folgenden mit der vorherrschenden Sichtweise die Annahme zu Grunde gelegt, dass die in Art. 97 Abs. 1 GG angeordnete Gesetzesbindung durchaus eine erhebliche, wenn auch nicht vollkommene Steuerung der Rechtsprechung bewirkt. Normativ steht und fällt der Rechtsstaat zudem mit der Grundforderung, dass eine Regel und nicht der Mensch herrschen soll. Auch wenn die soziologische Analyse gezeigt haben mag, dass sich Einflüsse der Richterpersönlichkeit auf Einzelentscheidungen nie völlig eliminieren lassen, bleibt gleichwohl die Bindung an das Gesetz nicht nur die Grenze, sondern zugleich auch die eigentliche Legitimationsgrundlage der richterlichen Autorität. Gesetzesfremde Einflüsse nehmen daher einen ungebührlichen Rang ein, wo die Argumentation sich vom Gesetz löst und die rechtspolitische Motivation erkennbar in den Vordergrund tritt. Dabei lassen sich neben der rein dogmatischen Kritik des Urteilsergebnisses durch eine ergänzende prozessorientierte Sichtweise Indizien ermitteln, die dafür sprechen, dass sich ein Gericht weniger von einer Analyse des Gesetzes als vielmehr von eigenen rechtspolitischen Vorstellungen hat leiten lassen. Niemand hat in Deutschland stärker als der Vierte Senat des Bundesverwaltungsgerichts durch seine Unterscheidung von Abwägungsvorgang und Abwägungsergebnis 50 zur Verbreitung der Einsicht beigetragen, dass sich komplexe Entscheidungen nicht nur durch den Blick auf das Resultat, sondern auch durch die Untersuchung des Entscheidungsvorgangs auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüfen lassen. Eine solche Analyse der Entscheidungsprozesse als Suche nach Indizien für zwar inhaltlich vertretbare, aber sachfremde motivierte Entscheidungen hat sich freilich auch in anderen Zusammenhängen und namentlich für das Verständnis richterlicher Entscheidungen als fruchtbar erwiesen. 51 Richter-

Schriften, 1968, S. 159, 164 f f , der kritisierte, die traditionelle Methodenlehre verkenne die tatsächlich maßgebenden Einflüsse der Richterpersönlichkeit und irrationaler Sympathien bei der Subsumtion. Näher dazu von Arnauld (Fn. 46), S. 376 f. 48 So tatsächlich Hermann Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 25 ff., 56 f f , 60 f f , 85 ff. sowie S. 77 f. (zur nachträglichen Rationalisierung); näher dazu Arnauld (Fn. 46), S. 377 f.; Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, 1972, S. 142 f.; Günther Roßmanith, Rechtsgefuhl und Entscheidungsfindung. Hermann Isay (1873-1938), 1975, S. 52 f f , 74 f f , 118 ff. 49 Umfassend dazu von Arnauld (Fn. 46), S. 381 ff. 50 Vgl. nur BVerwG, Urt. vom 12.12.1969 - IV C 105 / 66 BVerwGE 34, 301, 309; weitere Nachweise bei Michael Bertrams, Die Verfassungsgericht!iche Kontrolle der Planung, in: Festschrift für Hoppe, 2000, S. 975, 987; J. Dreier (Fn. 4), S. 57 ff. 51 Vgl. beispielsweise für die Identifikation mittelbar protektionistischer Steuern i.S.v. Art. 90 Abs. 2 EGV die Darstellung bei Massimiliano Danusso / Ross Denton,

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liehe Motivforschung kann daher ebenso wie dogmatische Urteilsanalyse Maßstäbe für die Frage liefern, ob eine gerichtliche Entscheidung von unzulässigen rechtspolitischen Erwägungen getragen ist. Als Indizien für eine solche gesetzesfremde Ergebnisorientiertheit einer richterlichen Normkonkretisierung kommen in Betracht: 1. die Dominanz rechtspolitischer Argumente in der Urteilsbegründung; 2. den Gebrauch verschleiernder Fehlzitate, der eine tatsächlich nicht vorhandene Kontinuität vorspiegelt und die Fachöffentlichkeit von der Neuheit einer in Wirklichkeit voluntativen Normkonkretisierung ablenken soll; 3. die Auswechslung der Begründung für eine bestimmte Normkonkretisierung bei gleich bleibendem Ergebnis; 4. die Abweichung von erklärten Zielen und Erwartungen des Gesetzgebers; 5. die Floskelhaftigkeit der rechtlichen Begründung. Ebenso wie bei der Frage, ob eme Urteilsbegründung nicht mehr die methodischen Mindestanforderungen erfüllt, wird sich nach diesen Maßstäben das Verdikt eines Verstoßes gegen die Gesetzesbindung des Richters nur in Extremfällen begründen lassen. Die skizzierten Indizien können jedoch bereits im Vorfeld dieser äußersten Grenze Aussagen identifizieren, die sich im Bereich des noch Zulässigen bewegen, gleichwohl aber bereits Anlass zu verstärkter Kritik liefern. Im Folgenden sollen vier Beispiele aus der Judikatur des Vierten Senats, die im Schrifttum weithin als Beispiele richterlicher Rechtsfortbildung im Bereich des Umwelt- und Planungsrechts gelten, herausgegriffen und aus der skizzierten Perspektive analysiert werden um damit Aussagen zur Sachgerechtigkeit des richterlichen Planungsrechts zu gewinnen.

VI. Rechtsprechungsbeispiele 1. Die Rechtsprechung zum Abwägungsgebot Gleichsam als das Meisterstück der richterrechtlichen Rechtsfortbildung im Planungsrecht gilt die Rechtsprechung des Vierten Senats zum planungsrechtlichen Abwägungsgebot: Während die Rechtsprechung zunächst oft den Anspruch erhob, die gemeindliche Bauleitplanung nach den Maßstäben einer einfachen Ermessensentscheidung zu überprüfen 52, setzte der Vierte Senat in den Does the European Court of Justice Look for a Protectionist Motive under Article 95?, LIEI 1990, 67 ff. 52 Vgl. dazu die Nachweise bei Harald Wiedmann, Das Planungsermessen des § 1 Abs. 7 BBauG, 1977 S. 20 ff., sowie J. Dreier (Fn. 4), S. 44.

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späten 60er Jahren die Auffassung durch, dass die Kontrolle der bauleitplanerischen Gestaltungsfreiheit nach eigenständigen Grundsätzen erfolgen müsse. Prägend für diese eigenständigen Kontrollmaßstäbe sind vor allem die bereits erwähnte Unterscheidung von Abwägungsvorgang und Abwägungsergebnis 53 sowie die Entwicklung der bekannten „Abwägungsfehlerlehre". 54 Diese Regeln begriff der Senat schon frühzeitig als einen dem Wesen jeder rechtsstaatlichen Planung innewohnenden Grundsatz und übertrug das Gebot daher schrittweise auf die gesamte Raumplanung.55 Einen Anknüpfungspunkt fand der Senat dabei in jenen Fachplanungsgesetzen, die wie das Baugesetzbuch ausdrücklich vorsehen, die von einem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange abzuwägen,56 oder eine solche Abwägung zumindest voraussetzen.57 Das Bundesverwaltungsgericht konnte daher die Grundsätze der Abwägungsfehlerlehre auf diese Planfeststellungen übertragen. 58 Nach der Rechtsprechung des Senats muss die Behörde freilich stets die einer Planfeststellung entgegenstehenden Belange mit den für sie sprechenden abwägen59, selbst wenn das Gesetz weder ausdrücklich eine planerische Gestaltungsfreiheit einräumt noch eine Bindung an das Abwägungsgebot normiert. Auch § 31 WHG etwa, der weder eine Abwägung noch Gestaltungsspielräume erwähnt, fordert daher ungeschrieben eine planerische Abwägung. 60

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Vgl. bereits oben Fn. 50. Grundlegend waren BVerwG, Urt. vom 12.12. 1969 - IV C 105.66 - , BVerwGE 34, 301 f f , dazu Hoppe (Fn. 2), sowie das zusammenfassende „Flachglasurteil" vom 5.7.1974 - IV C 50.72 - , BVerwGE 45, 309 f f , dazu Schulze-Fielitz (Fn. 2). 54

55 Beginnend mit BVerwG, Urt. vom 30.4.1969 - IV C 6.68 DVB1. 1969, 697 ff. (Baulinienfestsetzung); vgl. zum Folgenden Wolfgang Durner, Konflikte räumlicher Planungen, 2005, S. 270 ff. 56 So im Bundesrecht etwa § 2 Abs. 2 S. 1 SpurVerkErprG, § 17 Abs. 1 S. 2 FStrG, § 28 Abs. 1 S. 2 PBefü, § 18 Abs. 1 S. 2 AEG oder § 8 Abs. 1 S. 2 LuftVG. 57 So die Regelung zur Unerheblichkeit bestimmter „Mängel bei der Abwägung" in § 19 Abs. 4 S. 1 WaStrG. 58 Vgl. nur BVerwG, Urt. vom 14.2.1975 - IV C 21.74 - , BVerwGE 48, 56, 63 f.; Beschl. vom 10.2.1978 - 4 C 25 / 75 - , BVerwGE 55, 220, 225; Urt. vom 7.7.1978 - 4 C 79.76 BVerwGE 56, 110, 117; Michael Gerhardt, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner (Hrsg.), VwGO, § 114 Rdnrn. 37 f f , Stand: GW April 1996; Jürgen Kühling/ Nikolaus Hermann, Fachplanungsrecht, 2. Aufl. 2000, Rdnrn. 311 ff.; Rudolf Steinberg / Thomas Berg I Martin Wickel, Fachplanung, 3. Aufl. 2000, § 3 Rdnrn. 57 ff.; Horst Sendler, (Un)erhebliches zur planerischen Gestaltungsfreiheit, in: Festschrift für Schlichter, 1995, S. 55, 72 ff. 59 Vgl. insbesondere BVerwG, Urt. vom 14.2.1975 - IV C 21.74 - , BVerwGE 48, 56, 59 (zum Fernstraßenrecht) sowie Urt. vom 7.7.1978 - 4 C 79.76 - , BVerwGE 56, 110, 116, m. w. N.; Stefan Paetow, in: Kunig / Paetow / Versteyl, K r W - / A b f G , 1998, § 29 Rdnr. 44 (Abfallrecht); näher auch Winfried Brohm, Die Koordination der Raumplanungen im Spannungsverhältnis zwischen gemeindlicher Ortsplanung und überörtlicher Fachplanung, in: Festschrift für Blümel, 1999, S. 79, \ Sendler (Fn. 58) S. 72 f. 60 BVerwG, Beschl. vom 10.2.1978 - 4 C 25 / 75 - , BVerwGE 55, 220, 225.

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Der Gesetzgeber hat diese Rechtsprechung durch eine Reihe nachträglich eingefügter Bestimmungen, etwa § 17 Abs. 1 S. 2 FStrG, im Nachhinein sanktioniert. Zudem haben Rechtsprechung und Literatur die Grundsätze des planerischen Abwägungsgebots auch in anderen Bereichen des raumwirksamen Verwaltungsrechts fruchtbar gemacht und namentlich auf den Erlass von Schutzgebietsverordnungen übertragen, der nach herrschender Lehre ebenfalls einem Abwägungsgebot unterliegt. 61 Dabei wird die Rechtsprechung zu § 1 Abs. 7 BauGB ohne weiteres für den Erlass der Verordnung übernommen. 62 In älteren Entscheidungen des Senats wurde die Geltung des Abwägungsgebots meist mit der Aussage begründet, dass „Planung ohne Planungsfreiheit ein Widerspruch in sich wäre" 63 , zugleich aber auch stets auf den rechtsstaatlichen Charakter des Gebots verwiesen. Nach mittlerweile gefestigter Auffassung ergibt sich das planerische Gebot der Abwägung auch ohne einfachgesetzliche Normierung aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und den betroffenen Grundrechten. 64 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verbietet demnach öffentliche Planungen, die keine Berücksichtigung betroffener verfassungsrechtlich geschützter Belange ermöglichen. 65 Gebundene Planungstatbestände sind daher verfassungskonform durch das rechtsstaatliche Abwägungsgebot zu ergänzen. Daher sind beispielsweise bei dem Erlass einer Landschaftsschutzgebietsverordnung die Einsprüche betroffener Eigentümer abzuwägen.66 Beurteilt man diese Judikatur an den oben entwickelten Maßstäben, so ist zunächst hervorzuheben, dass die Geltung des Abwägungsgebotes im Baurecht 61 So zuletzt BVerfG, Beschl. vom 7.5.2001 - 2 BvK 1 / 00 - , BVerfGE 103, 332, 378; besonders ausführlich OVG Berlin, Beschl. vom 26.9.1991 - 2 A 5 / 91 - , NVwZRR 1992, 406 ff., m. w. N.; ähnlich Werner Hoppe I Martin Beckmann / Petra Kauch, Umweltrecht, 2. Aufl. 2000, § 15 Rdnr. 133; Heinz-Joachim Peters, Grundzüge des Umweltplanungsrechts, DÖV 1988, 56, 58, 60 f.; Hermann Soell, Schutzgebiete, NuR 1993, 301, 302 ff. 62 Vgl. etwa die Nachweise in VGH Mannheim, Urt. vom 24.6.1999 - 5 S 2967 / 97 NVwZ-RR 2000, 488 ff.; OVG Münster, Urt. vom 6.10.1988 - 11 A 372/87 - , NVwZ-RR 1989,465 ff. 63 BVerwG, Beschl. vom 10.2.1978 - 4 C 25 / 75 - , BVerwGE 55, 220, 225; ähnlich bereits Urt. vom 12.12. 1969 - IV C 105.66 - , BVerwGE 34, 301, 304 (zum Bauplanungsrecht). 64 Vgl. BVerwG, Urt. vom 23.1.1981 - BVerwG 4 C 4.78 BVerwGE 61, 295, 301, m. w. N.; Urt. vom 11.12.1981 - 4 C 69 / 78 - , BVerwGE 64, 270, 272 f.; Urt. vom 9.9.1988 - 4 B 37/ 88 - , NuR 1990, 111, 113; vgl. ferner BVerfG, Beschl. vom 14.5.1985 - 2 BvR 397 - 399 / 82 BVerfGE 70, 35, 50; Hoppe (Fn. 4), S. 59 f.; Stefan Paetow, UPR 1990, 321; nach Winfried Brohm, Öffentliches Baurecht, 3. Aufl. 2002, § 13 Rdnr. 14, findet die Ableitung aus dem Rechtsstaatsgebot mittlerweile „allgemeine Zustimmung". 65 BVerfG, Beschl. vom 7.10.1980 BvR 584, 598, 599 und 604 / 76 BVerfGE 56, 298, 315 f. 66 BVerfG, Beschl. vom 10.10.1997 - 1 BvR 310 / 84 NJW 1998, 367, 368.

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durch § 1 Abs. 7 BauGB bzw. dessen Vorläufernormen außer Frage stand. Angesichts dieses interpretationsoffenen Normtextes kann insoweit von einer „Rechtsfortbildung" nicht die Rede sein. 67 Zudem ist augenfällig, dass die Konkretisierungen der Abwägungsfehlerlehre und ihre Fallgruppen des Abwägungsausfalls, des Abwägungsdefizits, der Abwägungsfehleinschätzung und der Abwägungsdisproportionalität in enger Anlehnung an die entsprechenden Figuren der Ermessensfehlerlehre entwickelt wurden und strukturell mit dieser weitgehend identisch sind. 68 Diese Anknüpfung ist auch sachgerecht, da im öffentlichen Recht Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe regelmäßig zunächst der Verwaltung Freiräume eröffnen. Die Rechtsprechung ist daher lediglich aufgerufen, rechtliche Grenzen für die Konkretisierungen der Exekutive zu entwickeln 69 , und ebendies ist der Ansatz der Abwägungsfehlerlehre. 70 Insgesamt bildet die Rechtsprechung des Senats zur baurechtlichen Abwägung damit ein Musterbeispiel für eine zwar weit reichende, jedoch durch das Gesetz begründbare und sachgerechte Konkretisierung einer abstrakten bauplanungsrechtlichen Norm. Ähnliches gilt für jene Reglungen des Fachplanungsrechts, die im Rahmen der Planfeststellung eine Abwägung vorschreiben. Zwar haben die Literatur und gelegentlich auch die Instanzgerichte die angebliche „Übertragung" der bauleitplanerischen Abwägungsdogmatik auf sämtliche Bereiche des Planfeststellungsrechts vielfach kritisiert 71 , dieser Schritt findet indes durch die einheitlichen Normbefehle im Gesetz seine Berechtigung, so dass von einer willkürlichen Vorgehensweise bei der analog zum Bauplanungsrecht erfolgten Konkre-

67 Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Öffentlich-rechtlicher Grundeigentumsschutz und Richterrecht, in: Richterliche Rechtsfortbildung (Fn. 1), S. 107, 127 ff. 68 So etwa VGH München, Urt. vom 8.7.1993 - 22 N 92.2522 - , BayVBl. 1994, 176, 177; Bartlsperger (Fn. 2), 102 ff.; Bartunek (Fn. 4), S. 33 ff.; Michael Börger, Genehmigungs- und Planungsentscheidungen, 1987, S. 149; Kühling / Hermann (Fn. 58), Rdnrn. 29 ff.; Rubel (Fn. 4), S. 60 ff.; Weitzel (Fn. 4), S. 99 ff. 69 Kirchhofen. 19), S. 20 ff. 70 Schmidt-Aßmann (Fn. 67), S. 127. 71 Vgl. etwa Bartunek (Fn. 4), S. 94, m. w. N.; Hildegard Blumenberg, Neuere Entwicklungen zu Struktur und Inhalt des Abwägungsgebots im Bauplanungsrecht, DVB1. 1989, 86, 87; Börger (Fn. 68), S. 153 ff.; Wilfried Erbguth, Anmerkungen zum administrativen Entscheidungsspielraum - am Beispiel der Planfeststellung, DVB1. 1992, 398, 399 ff.; Günter Gaentzsch, in: Die Planfeststellung als Anlagenzulassung und Entscheidung über die Zulässigkeit der Enteignung, in: Festschrift für Schlichter, 1995, S. 517, 523 ff.; Martin Ibler, Die Schranken planerischer Gestaltungsfreiheit, 1988, S. 26 ff.; Carl Hermann Ule / Hans-Werner Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl. 1995, § 41 Rdnrn. 10 ff.; Clemens Weidemann, Kontrollerlaubnis mit Abwägungsvorbehalt?, DVB1. 1994, 263, 264 f f , jeweils m. w. N.; vgl. auch Wilfried Erbguth, Bauleitplanung und Fachplanung, NVwZ 1995, 243.

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tisierung des fachplanerischen Abwägungsgebots keine Rede sein kann. 72 Ganz im Gegenteil ist es dem Senat mit der einheitlichen Ausgestaltung beider Abwägungsaufträge überhaupt erst gelungen, dem Planungsrecht insgesamt einheitliche rechtsdogmatische Strukturen zu verleihen. Als „Rechtsfortbildung" kann somit allenfalls die Ausweitung des Abwägungsgebots auf solche Raumplanungsentscheidungen angesehen werden, in denen das maßgebliche Fachrecht keine Abwägung vorsieht. Diese Ergänzung des Normtextes und der durch die Ausweitung des Abwägungsgebots entwickelte materielle Planungsbegriff stellen sich jedoch als verfassungsrechtlich begründete Normkonkretisierung dar. Die durch den Senat entwickelte Abwägungsfehlerlehre ist eine mögliche und sachgerechte, wenn auch in den Details nicht in jeder Hinsicht verfassungsrechtlich zwingend vorgegebene Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die in der Abwägungsdogmatik entwickelten Rechtswidrigkeitsformen (Abwägungsmängel) gehen nämlich teilweise über den Aspekt der UnVerhältnismäßigkeit hinaus73, so dass das Gebot der Abwägung aller räumlichen Belange in seiner heutigen Form als ein spezifisch planerisches Institut erscheint. Gerade darin zeigt sich indes die schöpferische Qualität der richterlichen Normkonkretisierung. 2. Die Rechtsprechung zu notwendigen Folgemaßnahmen Ein weiteres Beispiel planungsrechtlichen Richterrechts liefert die Rechtsprechung des Senats zu notwendigen Folgemaßnahmen: Nach § 75 Abs. 1 VwVfG bezieht sich die Planfeststellung auf die Zulässigkeit des Vorhabens „einschließlich der notwendigen Folgemaßnahmen". Diese Regelung erweitert den Gegenstand der Planfeststellung über das dem Fachrecht unterliegende Vorhaben hinaus auf notwendige Anpassungs- und Anschlussmaßnahmen an anderen Anlagen. 74 Vor allem der Bau von Ersatzstraßen gilt als typisches Bei-

72 Vgl. auch Dreier (Fn. 4), S. 390; Sendler (Fn. 58), S. 72 ff.; Bernhard Stüer, Querschnitte zwischen Bau- und Fachplanungsrecht, in: Festschrift für Blümel, 1999, S. 565, 574 f. 73 Peter Lerche, Grenzen der Wehrfähigkeit kommunaler Planungshoheit, in: Festschrift für den BayVGH, 1979, S. 223, 235. 74 Vgl. dazu Heinz Joachim Bonk/ Werner Neumann, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 75 Rdnrn. 8 f.; Hansjochen Dürr, in: Kodal / Krämer, Straßenrecht, 6. Aufl. 1999, Kap. 34 Anm. 4.3 ff.; Kühling/ Hermann (Fn. 58), Rdnrn. 525 f.; Michael Ronellenßtsch, Das Zusammentreffen von qualifizierten Straßenbauplänen (isolierten Bebauungsplänen) mit Fachplanungen, DVB1. 1998, 653, 660; Peter Runkel, in: Ernst / Zinkahn / Bielenberg (Hrsg.), BauGB, §38 Rdnr. 25, Stand: Feb. 2000; Steinberg/Berg/ Wickel (Fn. 58), § 1 Rdnrn. 129 ff.

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spiel einer derartigen Folgemaßnahme.75 Wird zum Beispiel aufgrund der Planfeststellung einer Eisenbahnstrecke erforderlich, dass eine Kreuzung mit einer Straße geändert wird oder erst entsteht, darf diese Änderung nach § 75 Abs. 1 VwVfG im Rahmen der Planfeststellung der Eisenbahnstrecke festgesetzt werden. Allerdings gehen die Auffassungen über dem Anwendungsbereich und die Reichweite dieser Bestimmung auseinander: Die Literatur spricht sich vielfach für eine großzügige Handhabung des § 75 VwVfG aus 76 und hält beispielsweise die Verlegung ganzer Bahnlinien und Straßen durch die Wasserbehörde beim Bau einer Talsperre für mögliche Folgemaßnahmen.77 Das Bundesverwaltungsgericht und vor allem der Vierte Senat haben demgegenüber engere Maßstäbe entwickelt: Die „Notwendigkeit" einer Folgemaßnahme setzt demnach zunächst das Vorliegen einer erheblichen Funktionsstörung an einer anderen Anlage voraus. 78 Selbst in diesem Fall liegt jedoch keine „Folgemaßnahme" mehr vor, wenn diese nach Bedeutung, Dimension und Komplexität des Vorhabens eine eigene Planung darstellt und nur durch eine eigene Konzeption des anderen Planungsträgers bewältigt werden kann. 79 Diese restriktive Normkonkretisierung hat die Rechtsprechung vor allem auf die durch § 75 Abs. 1 VwVfG bewirkte „kompetenzerweiternde Wirkung" gestützt. In der Tat ist eine solche Handhabung der Norm - wie allerdings etwas ausführlicher zu begründen wäre - durch die grundgesetzliche Kompetenzordnung geboten: Jede staatliche Planung oder Zulassung einer privaten Planung muss sich in den räumlichen und sachlichen Grenzen halten, die durch die ihr zugrundeliegenden Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen gesetzt 75 Vgl. etwa BVerwG, Urt. vom 9.3.1979 - BVerwG 4 C 41.75 - , BVerwGE 57, 297, 301; OVG Saarlouis, Urt. vom 28.4.1998 - 2 M 2 / 98 - , zit. nach Juris; Bernd Bender, Die Kompetenz zur Planung von Güterverkehrszentren, VerwArch 1992, 576, 585 f.; Steinberg/Berg/Wickel (¥n. 58), § 1 Rdnr. 133. 76 Vgl. etwa Günter Fromm, Praktische Probleme des Planfeststellungsverfahrens beim Eisenbahn- und Straßenbau, DÖV 1988, 1035, 1038, oder Ferdinand O. Kopp, Beteiligung und Rechtsschutz der Länder in Planfeststellungsverfahren des Bundes, NuR 1991, 449, 451, der darauf abstellen will, ob die andere Planung geradezu den Schwerpunkt des Gesamtvorhabens ausmacht. 77 Dieses Beispiel findet sich u. a. bei Erwin Allesch /Richard Häußler, in: Obermayer, VwVfG, 3. Aufl. 1999, § 78 Rdnr. 9; Hans Carl Fickert, Planfeststellung für den Straßenbau, 1978, S. 96; Ule / Laubinger (Fn. 71), § 44 Rdnrn. 1 f. 78 BVerwG, Beschl. vom 24.3.1999 - 11 B 38 / 98 - , zit. nach Juris; näher zum Folgenden Durner (Fn. 55), S. 228 ff. 79 BVerwG, Urt. vom 12.2.1988 - 4 C 5 4 / 8 4 NVwZ 1989, 153 f.; Urt. vom 12.2.1988 - 4 C 55 / 84 - , Buchholz 316 § 78 VwVfG Nr. 2; dem folgend Urt. vom 26.5.1994 - 7 A 21 / 93 NVwZ 1994, 1002, 1003 f.; VGH München, Urt. vom 19.7.1989 - 8 A 87.40015 - , DVB1. 1990, 166; im Schrifttum Allesch /Häußler (Fn. 77), § 78 Rdnm. 11 ff.; Michael Ronellenßtsch, Das Zusammentreffen von Planungen, VerwArch 88 (1997), 175, 180; Steinberg /Berg / Wickel (Fn. 58), § 1 Rdnr. 136.

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sind. 80 Bei der Festsetzung von Folgemaßnahmen im Rahmen einer bestimmten Fachplanung wird jedoch ein anderes fachfremdes Projekt „miterledigt", das sich den dieser Fachplanung zugrundeliegenden Kompetenztiteln gerade nicht zuordnen lässt. Setzt also das Eisenbahn-Bundesamt bei der Planfeststellung einer Eisenbahnstrecke Anpassungen an einer Landstraße fest, so greift eine Bundesbehörde auf einen Gegenstand zu, der nach Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz den Ländern zugewiesen ist. Die Rechtsprechung sieht die Rechtfertigung des Instituts in dem planerischen Gebot der Problem- und Konfliktbewältigung 81 , wonach durch eine Planung hervorgerufene nachhaltige Funktionsstörungen an anderen Anlagen notwendig auszugleichen sind: In der Tat führt die sachliche Notwendigkeit einer einheitlichen Problemlösung in diesem Fall dazu, dass Regelungsbereiche, die an sich anderen Kompetenztiteln unterliegen, kraft Sachzusammenhanges in die auf der Grundlage der fachplanerischen Gesetzgebungskompetenz ergehende Planung einbezogen werden können. 82 Verfassungsrechtlich lässt sich eine Folgemaßnahme nämlich kraft Sachzusammenhangs einem fachfremden Kompetenztitel zuordnen, wenn sie aufgrund des engen sachlichen Zusammenhanges zu der Hauptplanung eine unerlässliche Voraussetzung für diese Hauptplanung darstellt und die Hauptplanung zwingend von der Möglichkeit einer solchen Folgemaßnahme abhängt.83 Ein derart enger Sachzusammenhang zur Fachplanung ist jedoch nur in den durch die Rechsprechung entwickelten engen Fallgruppen zu bejahen. Damit können auch die Aussagen zu den notwendigen Folgemaßnahmen als besonders gelungene, weil verfassungsrechtlich gebotene Normkonkretisierungen gelten.

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Vgl. auch Georg Müller, Inhalt und Formen der Rechtssetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, 1979, S. 41 f. 81 Näher BVerwG, Urt. vom 1.11.1974 - 4 C 38.71 - , BVerwGE 47, 144, 155; Urt. vom 7.9.1979 - IV C 58.76 BVerwGE 58, 281, 284, m. w. N.; Urt. vom 14.11.2001 11 A 31 / 0 0 - , NVwZ 2002, 733, 736; Kühling / Hermann (Fn. 58), Rdnrn. 230 und 406; Marten Pfeifer, Der Grundsatz der Konfliktbewältigung in der Bauleitplanung, 1989. 82 Vgl. BVerwG, Urt. vom 9.3.1979 - BVerwG 4 C 41.75 - , BVerwGE 57, 297, 300 f., m. w. N. zur älteren Rspr.; Urt. vom 12.2.1988 - 4 C 54 / 84 - , NVwZ 1989, 153 f.; vgl. auch Beschl. vom 24.3.1999 - 11 B 3 8 / 9 8 zit. nach Juris; im Schrifttum Bonk /Neumann (Fn. 74), § 72 Rdnr. 54 m. w. N. 83 BVerfG, Urt. vom 9.7.1969 - 2 BvL 25 und 2 6 / 6 4 - , BVerfGE 26, 281, 297, 300; Urt. vom 28.5.1993 - 2 BvF 2 / 9 0 und 4, 5 / 92 - , BVerfGE 88, 203, 330; Urt. vom 27.10.1998 - 1 BvR 2306, 2314 / 96, 1108, 1109, 1110 / 97 - , BVerfGE 98, 265 ff.

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3. Die Rechtsprechung zum Drittschutz im Bauplanungsrecht Auch der Drittschutz im Bauplanungsrecht ist zweifellos ein Bereich, in dem der Vierte Senat in besonderer Weise schöpferische Rechtsprechung betrieben hat. Nicht ohne Stolz konnte der langjährige Vorsitzende des Senats Gaentzsch vor nahezu 20 Jahren feststellen, die Schaffung eines Individualschutzes gegen Genehmigungen im öffentlichen Bau- und Umweltrecht sei im Kern „eine richterrechtliche Schöpfung". 84 Diese Schöpfung verlief freilich nicht ohne Brüche. Nach der langjährigen älteren Rechtsprechung des Senats waren die Vorschriften des Bauplanungsrechts generell nicht drittschützend. Verletzten öffentlich-rechtliche Genehmigungen jedoch objektives Recht, so konnte sich eine Klagebefugnis Dritter gleichwohl ausnahmsweise unmittelbar aus Art. 14 Abs. 1 ergeben, wenn die Genehmigung oder ihre Ausnutzung die Nachbarn schwer und unerträglich traf. 85 Damit machte die Rechtsprechung grobe Missgriffe der Genehmigungsbehörden für einen kleinen überschaubaren Kreis Betroffener gerichtlich angreifbar, wenn diese „schwer und unerträglich" getroffen wurden. 86 Gegenüber dieser Rechtsprechung wandten Teile des Schrifttums ein, der Abwägungsauftrag in Art. 14 Abs. 2 GG richte sich allein an den Gesetzgeber, der somit auch allein zur Gewähr von Drittschutz berufen sei. 87 Unter dem Eindruck dieser Kritik nahm der Senat den Anwendungsbereich der schweren und unerträglichen Betroffenheit des Nachbarn stark zurück. Soweit drittschützende Regelungen des einfachen Rechts vorhanden sind, kann demnach kein weitergehender auf Art. 14 GG beruhender Anspruch bestehen.88

84 Günter Gaentzsch, Ausbau des Individualschutzes gegen Umweltbelastungen als Aufgabe des bürgerlichen und des öffentlichen Rechts, NVwZ 1986, 601. 8 BVerwG, Urt. vom 13.6.1969 - IV C 234.65 - , BVerwGE 32, 173, 178; Urt. vom 14.12.1973 - IV C 71.71 - , BVerwGE 44, 244, 246 ff.; Urt. vom 26.3.1976 - IV C 7.74 - , BVerwGE 50, 282, 287; Gunther Schwerdtfeger, Grundrechtlicher Drittschutz im Baurecht, NVwZ 1982, 5, 6 ff.; kritisch Silvana Parodi, Baurechtlicher Nachbarschutz an Art 14 GG gemessen, BauR 1985,422. 86 Näher Hans-Jürgen Papier, in: Maunz-Dürig (Fn. 16), Art. 14 Rdnr. 81, Stand: Juni 2002. 87

Vgl. etwa Kornelius Kleinlein, Das System des Nachbarrechts, 1987, S. 160 ff.; Joachim Lege, Zwangskontrakt und Güterdefinition 1995, S. 132 ff.; Dietmar Mampel, Modell eines neuen bauleitplanerischen Drittschutzes, BauR 1998, 697 f f ; Rainer Wahl, Abschied von den „Ansprüchen aus Art. 14 GG", in: Festschrift für Redeker, 1993, S. 245 ff.; Johannes Wasmuth, Überlegungen zur Dogmatik des öffentlichen Nachbarrechtsschutzes, NVwZ 1988, 322, 323 f. 88 Vgl. BVerwG, Urt. vom 26.9.1991 - 4 C 5 / 87 - , BVerwGE 89, 69, 78 f.; weitere Nachweise bei Christian Bönker, Baurechtlicher Nachbarschutz aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG?, DVB1. 1994, 506 ff.

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Zugleich entwickelte der Senat seit 1977 die Auffassung, der Nachbar sei „auf einen eigentumsrechtlichen Nachbarschutz aus Art 14 Abs. 1 GG gar nicht angewiesen". Daher sei irrelevant, ob eine Beeinträchtigung ihn „schwer und unerträglich" treffe. Vielmehr komme ein Nachbarschutz unmittelbar aus § 35 Abs. 1 des damaligen BBauG in Betracht, wenn eine Genehmigung nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen des Nachbarn nehme. Das in dieser Norm enthaltene objektiv-rechtliche „Gebot der Rücksichtnahme" gebiete, die Beeinträchtigung höherrangiger Interessen der Nachbarschaft zu unterlassen, auch wenn es im Allgemeinen keine subjektiven Rechte begründe. Bei einem Hinzutreten besonderer qualifizierender und damit zugleich individualisierender Umstände komme dem Rücksichtnahmegebot jedoch auch eine drittschützende Wirkung zu. 89 Dabei berief sich der Senat auf Vorarbeiten seines Mitglieds Weyreuther, der das Rücksichtnahmegebot auf Grundlage des Art. 14 GG dogmatisch entwickelt hatte und insoweit für verfassungsrechtlich abgesichert hielt. 90 In späteren Entscheidungen weitete der Senat den Anwendungsbereich des Rücksichtnahmegebots stark aus.91 Es avancierte schließlich zu einer „Generalklausel des Nachbarschutzes", die als durch den Senat erkanntes allgemeingültiges Rechtsprinzip interpretiert wurde. 92 Das Schrifttum hingegen kritisierte diese Rechtsprechung demgegenüber als „präterlegale [...] Mißachtung der einfachgesetzlichen Tatbestände" und forderte die Aufgabe des Gebotes und die Rückkehr zur rechtlich gebotenen Anwendung der §§ 34, 35 BauGB. 93 Das Gebot der Rücksichtnahme sei mit den grundgesetzlichen Vorgaben für die Entwicklung von Richterrecht nicht in Einklang zu bringen. 94 Aber auch jene Stimmen, die dem Vierten Senat im Ergebnis folgten, forderten überwiegend, den Drittschutz des Nachbarn künftig „normimmanent" im Rahmen einer nicht nur floskelhaften Auslegung der einschlägigen Vorschriften zu entwickeln. 95 Später konzedierte der Senat, ein bau89

BVerwG, Urt. vom 25.2.1977 - IV C 22.75 BVerwGE 52, 122, 125 ff. Felix Weyreuther, Das bebauungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme, BauR 1975, 1 ff. 91 BVerwG, Urt. vom 10.12.1982 - 4 C 49 / 79 - , NJW 1983, 1574. 92 Hansjochen Dürr, Das Gebot der Rücksichtnahme - eine Generalklausel des Nachbarschutzes im öffentlichen Baurecht NVwZ 1985, 719, 722 ff. 93 Rüdiger Breuer, Das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme - ein Irrgarten des Richterrechts, DVB1. 1982, 1065, 1970 und 1073; ähnlich Schmidt-Aßmann (Fn. 67), S. 131. 94 Franz-Joseph Peine, Das Gebot der Rücksichtnahme im baurechtlichen Nachbarschutz, DÖV 1984, 963 ff.; ähnlich auch Heinz Janning, Kommunalverwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, DVB1. 1983, 401, 404 („Übermaß an richterlicher Rechtsfortbildung"), sowie Gunther Schwerdtfeger, Baurechtlicher Drittschutz und Parlamentsvorbehalt, NVwZ 1983, 199 ff. 95 So etwa Rudolf Steinberg, Grundfragen des öffentlichen Nachbarrechts, NJW 1984, 457,460. 90

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rechtliches Rücksichtnahmegebot gebe es nur nach Maßgabe der einfachen Gesetze und nicht als allgemeinen baurechtlichen Rechtssatz.96 Nunmehr erkannte der Senat einer ganzen Reihe von Vorschriften partiell drittschützende Wirkung zu, soweit in ihnen das „Gebot der Rücksichtnahme" zum Ausdruck komme. Als solche Normen sind namentlich § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO, § 31 Abs. 2 und § 34 Abs. 1 BauGB mit dem Merkmal des Sich-einfügens anerkannt. 97 Im Lichte des Art. 14 GG können zudem auch Bebauungspläne drittschützende Festsetzungen enthalten, selbst wenn ihnen ursprünglich kein nachbarschützender Gehalt zuerkannt wurde. 98 Mittlerweile wird das Gebot der Rücksichtnahme auch auf andere Rechtsgebiete ausgedehnt und beispielsweise für den wasserrechtlichen Nachbarschutz fruchtbar gemacht.99 Die Grundlage einer Klagebefugnis bilden dabei aber nicht etwa jede Verletzung einer das Rücksichtnahmegebot konkretisierenden Norm, sondern nur besonders schwere Verstöße, die den Eigentümer in besonders grober Weise treffen; dabei müssen die tatsächlichen Auswirkungen derart handgreiflich sein, dass ihre Hinnahme für den Nachbarn unter Abwägung der Belange des Bauherrn unzumutbar erscheint. 100 Im Ergebnis bleibt es also bei dem ursprünglichen Erfordernis einer „schweren und unerträglichen" Betroffenheit des Nachbarn. Mit den somit als Ausdruck des Rücksichtnahmegebots erkannten Vorschriften hat der Senat allerdings einen neuen, im übrigen Verwaltungsrecht unbekannten Normtypus geschaffen die „partiell drittschützende Vorschrift" 101 , die grundsätzlich keinen Nachbarschutz vermittelt, bei groben Verstößen allerdings gleichwohl eine Klagebefugnis begründen kann. Obwohl der Vierte Senat seinem Gebot der Rücksichtnahme in erster Linie einen objektiv-rechtlichen Gehalt zuspricht, steht im Kern der skizzierten Rechtsprechung die Frage, wann ein Gericht eine auf die behauptete Verletzung

96 BVerwG, Beschl. vom 20.9.1984 - 4 B 181 / 84 - , NVwZ 1985, 37 f.; vgl. auch Karsten-Michael Ortloff Die Entwicklung des Bauordnungsrechts, NVwZ 1985, 13, 19 f , der von einer „erstaunlichen Entwicklung" spricht. 97 BVerwG, Urt. vom 19.9.1986 - 4 C 8.84 - , DVB1. 1987, 476, st. Rspr.; näher etwa Robert Alexy, Das Gebot der Rücksichtnahme im baurechtlichen Nachbarschutz, DÖV 1984, 953 ff.; Bönker (Fn. 88), 509; Rolf-Peter Lohr, in: Battis / Krautzberger/ Lohr, BauGB, 8. Aufl. 2002, § 30 Rdnr. 23, § 31 Rdnr. 65 f f , 78 ff.; Otto Schlichter, Das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme, DVB1. 1984, 875 ff. 98 BVerwG, Urt. vom 23.8.1996 - 4 C 13 / 94 BVerwGE 101, 364 ff.; näher dazu Mampel (Fn. 87), 703 f. 99 Vgl. BVerwG, Urt. vom 15.7.1987 - 4 C 56 / 83 NJW 1988,434; Raffael Knauber, Das Gebot der Rücksichtnahme - der Schlüssel zur Begründung subjektiver Rechtsmacht jetzt auch im wasserrechtlichen Nachbarschutz, NVwZ 1988, 997 ff.; allgemeiner Michael Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 10 Rdnrn. 126 ff. m.w.N. 100 BVerwG, Urt. vom 27.2.1992 - 4 C 50 / 89 - , NJW 1992, 2170. 101 Vgl. zusammenfassend etwa Stefan Muckel, Der Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht - Grundlagen und aktuelle Entwicklungen, JuS 2000, 132, 133 f.

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des Bauplanungsrechts gestützte Klage des Nachbarn gegen eine staatliche Genehmigung als zulässig ansieht. Gerade bei Zulässigkeitsfragen, die ihre Pflicht und Berechtigung betreffen, sich mit einem Anspruch überhaupt auseinandersetzen, neigen Gerichte auch in anderen Zusammenhängen vielfach zu voluntativen Entscheidungen. Gewiss kann die Auslegung ergeben, dass eine Vorschrift nur bei unzumutbaren Verstößen Drittschutz gewähren will. Dieses Ergebnis müsste dann aber in der Norm auch irgendwie zum Ausdruck kommen. Im Falle jener Vorschriften, in denen der Senat das Gebot der Rücksichtnahme verankert sieht, liegt nach der zugrundeliegenden Schutznormtheorie das Ergebnis viel näher, diese schlichtweg als drittschützend anzuerkennen. 102 Dennoch soll nicht in Frage gestellt werden, dass die Rücksichtnahmerechtsprechung des Vierten Senats zumindest in der konsolidierten Form, die sie in den letzten Jahren gefunden hat, dogmatisch vertretbar auf das materielle Baurecht zurückgeführt werden kann. Eine Reihe von Faktoren spricht jedoch dafür, dass die dogmatische Begründung lediglich im Nachhinein entwickelt wurde, um ein zuvor auf Grundlage rechtspolitischer Erwägungen gefundenes Ergebnis zu rechtfertigen: Ein erstes Indiz dieser Art ist die Scheinkontinuität, die der Senat durch lange Zitatenketten zu erzeugen versuchte, um seine zum Teil doch erheblichen Kurskorrekturen unkenntlich zu machen. So werden in der Leitentscheidung des Senats vom 25. Februar 1977, die das Gebot der Rücksichtnahme in das Baurecht einführte, die maßgeblichen Passagen durch die zweifelhafte Aussage eingeleitet, Vorhaben könnten „deshalb genehmigungsunfähig sein, weil sie auf die Interessen anderer nicht genügend Rücksicht nehmen. Das hat der erkennende Senat bereits mehrfach entschieden".103 Das somit eher beiläufig eingeführte Rücksichtnahmegebot wird anschließend über mehrere Seiten hinweg daraufhin untersucht, ob und wieweit es dem Nachbarn Drittschutz vermittelt. Diese Reflexionen sind als solche sicherlich anerkennenswert. Ein derartiger Begründungsaufwand erzeugt jedoch eine gewisse Scheinrationalität, wenn die eigentlich problematische Prämisse gerade keiner vergleichbaren Begründungslast unterworfen wird. Bemerkenswert an der Rechtsprechung zum Gebot der Rücksichtnahme erscheint vor allem, dass der Vierte Senat im Laufe mehrerer Jahrzehnte die Begründung seiner Judikatur - Drittschutz nur bei „schwerer und unerträglicher Betroffenheit", Gebot der Rücksichtnahme als eigenständige Ausprägung des

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Dafür etwa bereits Christian-Friedrich Menger, Zum baurechtlichen Nachbarschutz, VerwArch 69 (1978), 318 f f ; Martin Pagenkopf Nachbarschutz im unbeplanten Innenbereich auf Grund des § 34 nF Bundesbaugesetz?, BauR 1977, 159 ff.; differenzierend auch Johannes Wasmuth, Überlegungen zur Dogmatik des öffentlichen Nachbarrechtsschutzes, NVwZ 1988, 322, 324. 103 BVerwG, Urt. vom 25.2.1977 - IV C 22.75 - , BVerwGE 52, 122, 125.

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Baurechts, nunmehr: partieller Drittschutz der §§29 ff. BauGB - mehrfach weitgehend austauschte. Das Ergebnis dieser Erwägungen jedoch, den Maßstab des Drittschutzes nämlich, der seit 40 Jahren nur bei grob unzumutbaren Verletzungen des Planungsrechts gewährt wird, hat der Senat stets unverändert beibehalten. Dabei wurden die wesentlichen Weichenstellungen auf der Grundlage eines mittlerweile überholten Rückgriffs auf Art. 14 Abs. 2 GG gestellt. Auch die Aussagen zu dem späteren Gebot der Rücksichtnahme wurden während der ersten Jahre kaum ernsthaft auf das einfache Recht zurückgeführt. Erst seit Mitte der 80er Jahre hat sich der Senat bemüht, den in nahezu freier Rechtsfortbildung entwickelten Besitzstand stärker im einfachen Recht zu verankern. Hier drängt sich der Eindruck auf, dass der Senat durch eine weitgehend von den einfachgesetzlichen Rechtsgrundlagen losgelöste Begründung denn eigentlich geht es ja nur um die schlichte Frage der Anwendung der Schutznormtheorie auf die §§29 ff. BauGB - verschleiert, dass das Ergebnis dieser „Auslegung" in erster Linie darstellen dürfte, was der Senat selbst für rechtspolitisch „vernünftig" hält: Ein Rechtsschutz des Nachbarn wird für den Regelfall verneint, in Extremfällen behält sich die Rechtsprechung jedoch gleichwohl eine Korrektur der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen vor. Dies sind vermutlich Zulässigkeitsvoraussetzungen, von denen jedes Gericht träumen dürfte: Im Alltagsgeschäft können entsprechende Nachbarklagen als unzulässig abgewiesen werden, als gerichtlichen Notanker behalten sich die Verwaltungsgerichte jedoch die Intervention in Extremfällen vor.

4. Die Rechtsprechung zu Klagemöglichkeiten bei fehlerhafter Verbandsbeteiligung Ein weiteres Beispiel für eine eher fragwürdige Normkonkretisierung im Planungsrecht liefert die Rechtsprechung zur naturschutzrechtlichen Verbandsbeteiligung: Bekanntlich war die Einführung einer Verbands£/age im Umweltund insbesondere im Naturschutzrecht in Deutschland seit den 70er Jahren eine der umstrittensten umweltpolitischen Fragen. 104 Die einen sahen die Verbandsklage als Fremdkörper in dem deutschen System der Verletztenklagen und des behördenzentrierten Umweltschutzes an, das die Gemeinwohlverantwortung bei der staatlichen Verwaltung monopolisiert. Die Befürworter des Instituts vertraten die Auffassung, dass nur mit diesem Institut das Vollzugsdefizit im Umweltrecht effektiv bekämpft werden könne. Diese Debatte wurde von Be-

104 Vgl. nur Eckard Rehbinder, Die hessische Verbandsklage auf dem Prüfstand der Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ 1982, 666 m.w.N.; aus der aktuellen Diskussion Christian Calliess, Die umweltrechtliche Verbandsklage nach der Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes - Tendenzen zu einer „Privatisierung des Gemeinwohls" im Verwaltungsrecht?, NJW 2003, 97, 99 ff.

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ginn an auch mit juristischen Argumenten flankiert und gipfelte insbesondere in der mittlerweile überwundenen These, Art. 19 Abs. 4 GG verbiete die Einführung einer Verbandsklage. 105 Bis zum Jahr 2002 bestand ein derartiges Verbandsklagerecht lediglich auf zum Teil verfassungsrechtlich angezweifelter 106 landesrechtlicher Grundlage u.a. in Brandenburg, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen und Sachsen.107 Seit 2002 ist das Institut der naturschutzrechtlichen Verbandsklage in § 61 BNatSchG verankert 108 und hat sich, zumal es künftigen europa- und völkerrechtlichen Vorgaben entspricht 109 , seitdem im Grundsatz bewährt 110 , auch wenn sich nicht alle in das Institut gesetzten Hoffnungen erfüllt haben mögen. Die Vorgaben der Aarhus-Konvention werden diesem Institut künftig noch einen deutlich weiteren Anwendungsbereich verschaffen. 111 Dass die Verbandsklage jedoch weiterhin umstritten ist, zeigt sich auch daran, dass die CDU nach ihrer Regierungsübernahme in Hessen einer bereits in den 80er Jahren verkündeten Absicht entsprechend die Verbandsklage unverzüglich abschaffte. 112 Nach der bis zum Sommer 2002 geltenden Fassung des Bundesnaturschutzgesetzes bestand auf Bundesebene keine Möglichkeit zur Verbandsklage. Der Bundesgesetzgeber hatte sich im Jahre 1976 im Bundesnaturschutzgesetz lediglich zur Verankerung eines begrenzten „Anhörungsrechts" der Verbände im Verwaltungsverfahren entschließen können, das trotz verschiedener Anläufe für 105 Wichtige Beiträge zu dieser Debatte etwa bei Heiko Faber, Die Verbandsklage im Verwaltungsprozeß, 1972, S. 83 ff.; Wassilios Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß, 1979, S. 248; Felix Weyreuther, Verwaltungskontrolle durch Verbände?, 1975, S. 82 f f ; vgl. dazu im Rückblick auch Lothar Michael, Fordert § 61 Bundesnaturschutzgesetz eine neue Dogmatik der Verbandsklagen?, Verw 37 (2004), 35, 36 ff.; Sabine Schlacke, Rechtsschutz durch Verbandsklage - Zum Fortentwicklungsbedarf des umweltbezogenen Rechtsschutzsystems NuR 2004, 629, 634 f. 106 Vgl. Curt Lutz Lässig, Keine Landeskompetenz für Verbandsklage im Naturschutzrecht, NVwZ 1989, 97 ff.; a.A. etwa VG Frankfurt, Urt. vom 14.7.1982 - IV / 3 G 1526/82 NuR 1983,28. 107 Dazu Kloepfer (Fn. 99), § 8 Rdnrn. 33 ff. m.w.N. 108 Dazu etwa Robert Seelig / Benjamin Gündling, Die Verbandsklage im Umweltrecht - Aktuelle Entwicklungen und Zukunftsperspektiven im Hinblick auf die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes und supranationale und internationale rechtliche Vorgaben, NVwZ 2002, 1033, 1035 ff.; Thomas Wilrich, Vereinsbeteiligung und Vereinsklage im neuen Bundesnaturschutzgesetz, DVB1. 2002, 872 ff. 109 Vgl. statt vieler Calliess (Fn. 104), 98 f. m.w.N. 1.0 Vgl. Kloepfer (Fn. 99), § 8 Rdnr. 41; Alexander Schmidt /Michael Zschiesche, Die Effizienz der naturschutzrechtlichen Verbandsklage, NuR 2003, 16 ff. 1.1 Vgl. etwa Thomas von Danwitz, Aarhus-Konvention, in: Dokumentation zur 27. wissenschaftlichen Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrecht, 2004, S. 21 ff. m.w.N. 112 Vgl. dazu S ach verständ igen rat für Umweltfragen, Umweltgutachten 2004, BT-Drs. 15 /3600, 162, Tz. 196.

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über ein Vierteljahrhundert unverändert blieb. Der dem heutigen § 60 Abs. 2 BNatSchG entsprechende § 29 Abs. 1 BNatSchG a.F. sah die Mitwirkung von anerkannten Naturschutzverbänden in bestimmten Verfahren vor, in denen ihnen Gelegenheit zur Äußerung sowie zur Einsicht in die einschlägigen Sachverständigengutachten zu geben war. Die größte praktische Bedeutung hat dabei die Fallgruppe des § 29 Abs. 1 Nr. 4 BNatSchG a.F. bzw. heute der § 58 Abs. 1 Nr. 2 und § 60 Abs. 2 Nr. 6 BNatSchG, die Planfeststellungsverfahren über Vorhaben, die mit Eingriffen in Natur und Landschaft verbunden sind. 113 Daher liegt der eigentliche Anwendungsbereich dieses Instruments im Fachplanungsrecht, also einer der Domänen des Vierten Senats. In § 29 Abs. 5 Satz 3 BNatSchG a.F. bezeichnete der Gesetzgeber diese Stellung des Verbandes ausdrücklich als „Mitwirkungsrecht". Obwohl der Bundesgesetzgeber bewusst von der Einführung einer echten Verbandsklage Abstand genommen hatte, folgerte die Rechtsprechung aus dieser Bestimmung zu Recht, dass § 29 Abs. 1 BNatSchG a.F. den anerkannten Verbänden ein subjektiv öffentliches Recht auf Beteiligung gewährt, das sie auch im Klagewege geltend machen können. 114 Als eine solche „Partizipationserzwingungsklage" wurde mangels Verwaltungsaktsqualität der Beteiligung - die allgemeine Leistungsklage als statthaft angesehen.115 Umstritten war hingegen die Möglichkeit der Verbände, eine Verwaltungsentscheidung anzufechten, die unter Verletzung ihrer Rechte aus § 29 Abs. 1 BNatSchG a.F. zustande gekommen war. Obwohl die Beteiligung der Verbände zugleich eine formelle RechtmäßigkeitsVoraussetzung der Planfeststellung darstellt, wurde diese Möglichkeit überwiegend abgelehnt, da den Verbänden gerade keine materielle Rechtsposition zugestanden worden sei. 116 Dies entspricht dem allgemeinen Grundsatz, dass die Verletzung eines Verfahrensrechts ohne eine korrespondierende materielle Rechtspo-

1,3

Vgl. Inge Rudolph, Mitwirkungsrecht der Naturschutzverbände nach § 29 I 1 Nr. 4 BNatSchG und Rechtsschutz, JuS 2000, 478 m.w.N. 114 Vgl. dazu ausführlich Kristina Balleis, Mitwirkungs- und Klagerechte anerkannter Naturschutzverbände, 1996, S. 179 ff.; Jan Ziekow / Thorsten Siegel, Anerkannte Naturschutzverbände als „Anwälte der Natur", 2000, S. 95 ff. m.w.N.; zusammenfassend Lothar Harings, Die Stellung der anerkannten Naturschutzverbände im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, NVwZ 1997, 538, und Rudolph (Fn. 113), 479; weiterhin kritisch jedoch Michael (Fn. 105), 43. 1,5 Vgl. etwa VG Saarlouis, Beschl. vom 30.9.1986 - 5 F 96 / 86 - , NuR 1987, 39; VG Sigmaringen, Urt. vom 29.3.1995 - 4 L 299 / 93 - , NuR 1995,476,477; OVG Magdeburg, Urt. vom 29.03.1995 - 4 L 299 / 93 - , LKV 1995, 326, 327; Balleis (Fn. 114), S. 182 ff.; Philip Kunig, Verbandsklage im Naturschutzrecht, Jura 1996, 493, 495; Ziekow /Siegel (Fn. 114), S. 105 ff. 116 VG Saarlouis, Beschl. vom 30.9.1986 - 5 F 96 / 86 - , NuR 1987, 39 f.; VGH Mannheim, Urt. vom 15.01.1988 - 5 S 855 / 87 - , NVwZ 1988, 1039 m.w.N. zum damaligen Streitstand; a.A. Rehbinder (Fn. 104), 667.

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sition kein Klagerecht begründet. 117 Auch der Gesetzgeber ging beim Erlass des § 29 BNatSchG a.F. von der entsprechenden Vorstellung aus, aus dem Beteiligungsrecht ergebe sich für die Verbände keinerlei Recht, gegen die Sachentscheidung zu klagen. 118 Im Oktober 1990 wandte sich der Vierte Senat des Bundesverwaltungsgerichts in einer „richterrechtlichen" Entwicklung 119 gegen diese Sicht und erklärte eine entsprechende Anfechtungsklage der Verbände für zulässig. Der hinter dem Beteiligungsrecht der Verbände stehende Zweck einer verstärkten Berücksichtigung der Belange des Naturschutzes erfordere eine solche Sanktionsmöglichkeit. 120 Zu § 46 VwVfG stellte der Senat ursprünglich fest, in einem Planfeststellungsverfahren könne in aller Regel nicht ausgeschlossen werden, dass bei ordnungsgemäßer Verbandsbeteiligung eine andere Entscheidung in der Sache hätte ergehen können. 121 Sieben Jahre später erklärte der damalige Elfte Senat § 46 VwVfG auf das Beteiligungsrecht anerkannter Naturschutzverbände ganz für unanwendbar. 122 Da beide Senate in der Folgezeit auch die Beteiligungsrechte der Verbände erheblich erweiterten und u. a. forderten, die Verbände seien stets erneut zu beteiligen, wenn die Planfeststellungsbehörde neue, den Naturschutz betreffende Untersuchungen anstelle und der Sachverstand der Verbände erneut gefragt sei 123 , wurde das Verbandsbeteiligungsrecht damit doch zu einem durchaus scharfen Schwert der Verbände, das diesen etwa die Möglichkeit eröffnete, Behörden durch mehrfachen neuen Sachvortrag und anschließende Beteiligungsanträge in durchweg beachtliche Verfahrensfehler zu locken. Einige Großvorhaben, insbesondere die Fertigstellung der Bundesautobahn A 7, wurden durch dieses Instrument um mehrere Jahre verzögert. Im Januar 2002 schließlich vollzog der Senat dann eine erstaunliche Wende: Er stellte nunmehr fest, eine Verletzung des Verbandsbeteiligungsrechts sei im Regelfall nach § 46 doch unbeachtlich, wo das Landesrecht dem Kläger eine echte Verbandsklage ermögliche. 124 Die wenige Monate später erfolgte bundesweite Einführung der Verbandsklage in § 61 BNatSchG erledigte die Rolle

1,7 Näher Ferdinand O. Kopp / Wolf-Rüdiger Schenke, VwGO, Kommentar, 13. Aufl. 2003, § 42 Rdnr. 95 m.w.N. 118 Vgl. die Nachweise bei Walter Schmidt, Rechtsschutz gegen ein Begründungsdefizit bei Verwaltungsentscheidungen über öffentliche Interessen, DÖV 1976, 577, 578. 1,9 Schlacke (Fn. 105), 634. 120 BVerwG, Urt. vom 31.10.1990-4 C 7 / 8 8 - , NVwZ 1991, 162 ff. 121 BVerwG, Urt. vom 31.10.1990-4 C 7 / 8 8 - , NVwZ 1991, 162, 164 f. 122 BVerwG, Urt. vom 12.11.1997 - 11 A 49 / 96 - , NVwZ 1998, 395, 398. 123 BVerwG, Urt. vom 12.12.1996 - 4 C 19.95 - , BVerwGE 102, 358, 362; Urt. vom 12.11.1997 - 11 A 49 / 96 - , BVerwGE 105, 348, 350. 124 BVerwG, Urt. vom 31.1.2002 - 4 A 15/01 - , NVwZ 2002, 1103, 1105 ff.; dem folgend Urt. vom 19.3.2003 - 9 A 33 / 02 - , NVwZ 2003, 1120 ff.

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der auf eine Verletzung des Verbandsbeteiligungsrechts gestützten Anfechtungsklage weitgehend, zumal seit 2003 auch die nachträgliche Heilung der Anhörung im Verwaltungsprozess zugelassen wird. 1 2 5 Die Sicht des Vierten Senats ist im Lauf der 90er Jahre rasch zur herrschenden Lehre geworden. 126 Vor diesem Hintergrund mag es erstaunen, dass vor allem Vertreter der Wissenschaft die Rechtsprechung des Vierten Senats massiv als Verstoß gegen die Gewaltenteilung kritisierten. Ronellenfitsch warf dem Gericht vor, durch einen eigenmächtigen „Zugriff' auf die „legislatorische Entscheidungsfreiheit" § 29 BNatSchG ergebnisorientiert so umgestaltet zu haben, „wie sie nach Ansicht des BVerwG hätte getroffen werden sollen, nicht wie sie getroffen worden ist." 1 2 7 Kunig, der selbst maßgeblich an einem Gesetzentwurf mitgewirkt hatte, der de lege ferenda die Einführung der Verbandsklage vorsah 128 , stellte in dem für ihn typischen Understatement fest, der Senat habe mit der Eröffnung der Anfechtungsklage, die im Wortlaut des Gesetzes keinerlei Anhaltspunkt finde, „die Grenzen, die richterlicher Auslegung gezogen sind, jedenfalls erreicht". 129 Und Ziekow hält diese Beurteilung noch für eine euphemistische Untertreibung und erklärt, die durch den Senat bewirkte Transformation des Beteiligungs- zu einem Klagerecht, für die eine Begründung weiterhin ausstehe, hätte dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben müssen. 130 Im Zentrum des Leiturteils stand wie bereits zuvor im Schrifttum 131 ein Effektivitätsaspekt, die Erwägung nämlich, das dem anerkannten Verein gewährte Recht auf Beteiligung am Planfeststellungsverfahren könne „seinen Zweck einer verstärkten Berücksichtigung der Belange des Naturschutzes [...] letztlich nur dann effektiv erfüllen, wenn der Träger dieses Rechts für den Fall, dass er nicht oder nicht ausreichend beteiligt worden ist, unter Berufung hierauf die er125

BVerwG, Urt. vom 9.6.2004 - 9 A 11 / 03 - , NVwZ 2004, 1486 ff. Vgl. etwa VGH Kassel, Urt. vom 1.9.1998 - 7 UE 2170 / 95 - , NVwZ-RR 1999, 304 f.; Kopp/Schenke (Fn. 117), §42 Rdnr. 75 m.w.N.; Kühling/Hermann (Fn. 58), Rdnr. 686; Rudolph (Fn. 113), 480; Peter Schütz, in: Ziekow (Hrsg.), Praxis des Fachplanungsrechts, 2004, Rdnrn. 976 ff. m.w.N.; Seelig/ Gündling (Fn. 108), 1034, mit der Behauptung, die Zulässigkeit der Anfechtungsklage entspreche „allgemeiner Auffassung", da anderenfalls der Zweck der Verbandsbeteiligung nicht hinreichend verwirklicht würde; Steinberg/Berg/ Wickel (Fn. 58), § 6 Rdnr. 97. 126

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Michael Ronellenfitsch, in Marschall / Schroeter / Kastner, FStrG, Kommentar, 5. Aufl. 1998, § 17 Rdnr. 264 mit Fn. 617. 128 Umweltgesetzbuch, Professorenentwurf, Besonderer Teil, 1994, S. 451 f f , § 217 UGB-BT. 129 Kunig (Fn. 115), 496. 130 Jan Ziekow, Die Verbandsklage gegen Planungsakte, in: ders. (Hrsg.), Planung 2000 - Herausforderungen für das Fachplanungsrecht, 2001, S. 197, 225; ausführlicher nochmals ders. /Siegel (Fn. 114), S. 114 und 116; vgl. auch die Kritik bei Michael (Fn. 105), 43 f , und Schlacke (Fn. 105), 634. 131 Vgl. etwa Rehbinder (Fn. 104), 667.

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gangene Verwaltungsentscheidung angreifen und gegebenenfalls ihre Aufhebung durch das Gericht erreichen kann." 132 Zudem, so erklärte der Senat in einem zweiten, später aus guten Gründen fallen gelassenen Begründungsansatz 133 , stehe hinter dem verfahrensmäßigen Beteiligungsrecht in § 29 BNatSchG „auch eine materielle Position." Der Gesetzgeber habe „das öffentliche Interesse an Naturschutz und Landschaftspflege in begrenztem Umfang subjektiviert" und den Verbänden „die Vertretung der Ziele des Naturschutzes und der Landschaftspflege [...] in besonderer Weise anvertraut". 134 Erkennbar folgen diese Ausführungen dem Leitbild einer materiell-rechtlichen Verbandsklage, die der Gesetzgeber den Verbänden seinerzeit gerade nicht hatte zugestehen wollen. Im Schrifttum wurde bereits vor und verstärkt im Anschluss an die Entscheidung des Vierten Senats - zum Teil mit der Erwägung, es handele sich um eine sinnvolle Rechtsfortbildung bzw. Effektivierung des Naturschutzes - die These entwickelt, § 29 BNatSchG a.F. begründe wegen der besonderen Wertigkeit der Naturschutzbelange ein sog. „absolutes Verfahrensrecht", das den Verband unabhängig von jeder materiellen Rechtsposition und von einer inhaltlichen Auswirkung des Verfahrensfehlers zur Aufhebung der Verwaltungsentscheidung berechtige. 135 Erst der damalige Elfte Senat griff in seiner Entscheidung zur Unanwendbarkeit des § 46 VwVfG im Jahr 1997 136 diesen Begründungsansatz auf 137 . Es sollen hier nicht die Argumente diskutiert werden, die gegen die von der Rechtsprechung vertretene Auffassung sprechen, § 29 BNatSchG a.F. habe ein

132

BVerwG, Urt. vom31.10.1990-4 C 7 / 8 8 - , NVwZ 1991, 162, 164. Näher dazu die Kritik bei Balleis (Fn. 114), S. 67 ff. und 236 ff. 134 BVerwG, Urt. vom31.10.1990-4 C 7 / 8 8 - NVwZ 1991, 162, 165. 135 Vgl. besonders Balleis (Fn. 114), S. 227 ff. und 239 ff. (dort zur Rechtsfortbildung) m.w.N.; Gerhardt (Fn. 58), § 113 Rdnr. 12, mit der Erwägung, Klagerechte seien „dem gesetzlichen Auftrag entsprechend zu effektuieren"; Rudolph (Fn. 113), 479; Siegfried Waskow, Mitwirkung von Naturschutzverbänden in Verwaltungsverfahren, 1990, S. 80 f.; ablehnend Klaus-Peter Dolde, Beteiligung der Naturschutzverbände im Planfeststellungsverfahren - § 29 I Nr. 4 BNatSchG ein „absolutes Verfahrensrecht"?, NVwZ 1991,960, 962 f. 133

136 BVerwG, Urt. vom 12.11.1997 - 11 A 49 / 9 6 - , NVwZ 1998,395,398; bestätigt durch Urt. vom 17. 4.2002 - 9 A 24 / 01 - , NVwZ 2002, 1239, 1242. 137 Zitiert wurde der Beitrag von Waskow (Fn. 135). Zunächst begründete freilich auch der Elfte Senat seine Aussage mit einem fragwürdigen Verweis auf BVerwG, Urt. vom 12.12.1996 - 4 C 19 / 95 - , NVwZ 1997, 905, 907, wo der Vierte Senat feststellte, die Verletzung eines Verbandsbeteiligungsrechts könne durch ergänzendes Verfahren behoben werden, da der Gesetzgeber mit diesem Instrument gerade die Aufhebung als radikale Folge einer Rechtswidrigkeit des Planfeststellungsbeschlusses vermeiden wolle. Diese Erwägung spricht freilich nicht etwa gegen, sondern in gleicher Weise für eine Anwendbarkeit des § 46 VwVfG auf die Verbandsbeteiligung. Auch der Vierte Senat stellte später in BVerwG, Urt. vom 31.1.2002 - 4 A 15/01 - , NVwZ 2002, 1103, 1105, fest, jenes Urteil gebe „für diese Ansicht nichts her".

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„absolutes Verfahrensrecht" der Verbände begründen wollen. 138 Dass dieser Gesichtspunkt wohl nur nachträglich zur Begründung eines bereits vorher gefundenen und verfestigten Ergebnisses aufgegriffen wurde, indiziert jedoch bereits der Umstand, dass die Rechtsprechung diese Konstruktion zwar mehrfach bekräftigt, aber nie - etwa durch den nahe liegenden Vergleich mit anderen Fallgruppen - argumentativ vertieft oder gar kritisch hinterfragt hat. Der Wortlaut des § 29 BNatSchG a.F. deutete jedenfalls nirgends darauf hin, dass der Gesetzgeber ein solches absolutes Verfahrensrecht begründen wollte, seine Entstehungsgeschichte spricht sogar dagegen.139 Indizien für gesetzesferne Motive liefern in dieser Judikatur schon die einseitigen Literaturzitate und die ergebnisorientierte Relativierung des § 46 VwVfG. Bestätigt wird die rechtspolitische Motivation des Senats vor allem durch sein Urteil vom Januar 2002, in dem der Senat erkannte, eine Verletzung des Beteiligungsrechts, welche die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst haben könne, bleibe künftig folgenlos, wenn das Landesrecht den Naturschutzvereinen die Möglichkeit einer materiell-rechtlichen Verbandsklage eröffne. 140 Zwei Gesichtspunkte sind an der Begründung dieses Urteils hervorzuheben. Zum einen wahrt der Senat völliges Stillschweigen im Hinblick auf das handgreifliche Motiv dieser nach über 12 Jahren überraschenden Kurskorrektur: 1998 wurde in der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Grünen verabredet, auch im Bundesrecht die naturschutzrechtliche Verbandsklage einzuführen. 141 Im Mai 2001 erging der Kabinettsbeschluss über das neue Bundesnaturschutzgesetz, das sich zum Zeitpunkt der Senatsentscheidung längst im Gesetzgebungsverfahren befand. Dieses breit diskutierte Gesetzesvorhaben muss dem Senat im Januar 2002 bekannt gewesen sein. Die Begründung des Vierten Senats greift jedoch auch für die seitdem erlassene Verbandsklage in § 61 BNatSchG. 142 Es ist daher befremdlich, dass die Entscheidung ersichtlich gerade mit Blick auf die bundesweite Verbandsklage eine nunmehr überflüssige Hilfskonstruktion verabschiedet, diese Hintergründe jedoch mit keinem Wort erwähnt. Bemerkenswerter als diese augenscheinlichen Hintergründe der Entscheidung sind die rückblickenden Reflexionen, in denen der Vierte Senat die tra-

138 Ausführlich hierzu Dolde (Fn. 135), 960 ff.; Kunig (Fn. 115), 496; Ziekow/Siegel (Fn. 114), 114 ff.; vgl. auch Harings (Fn. 114), 542. 139 Vgl. den Nachweis oben in Fn. 118. 140 BVerwG, Urt. vom 31.1.2002 - 4 A 15 / 01 - , NVwZ 2002, 1103, 1105 ff. 141 Aufbruch und Erneuerung - Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert. Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und BÜNDNIS 9 0 / D I E GRÜNEN vom 20.10.1998 (im Internet unter: http://www.datenschutzberlin.de/doc/de/koalo/index.htm), Punkt IV. 2. 142 So dann auch BVerwG, Urt. vom 19.3.2003 - 9 A 33.02 - , NuR 2003, 745, 746.

Die Rolle des Richterrechts im Planungsrecht

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genden Motive seiner bisherigen Urteile zusammenfasst. Von einer Zuordnung des Verbandsbeteiligungsrechts zu der Gruppe der „absoluten Verfahrensrechte" ist nunmehr keine Rede mehr. Vielmehr habe sich der Senat „bei seiner bisherigen Rechtsprechung maßgeblich von dem Gedanken leiten lassen, dass eine Verletzung des § 29 BNatSchG nicht folgenlos bleiben darf" Das „Anliegen, Verstöße gegen § 29 BNatSchG nicht ohne Ahndung zu lassen", möge es auch nahe legen, die Sanktionswirkung auf Fehler zu erstrecken, die sich auf das Entscheidungsergebnis gar nicht ausgewirkt haben können. Diese strengen Maßstäbe verlören jedoch ihren Sinn, wenn die Naturschutzverbände nicht mehr darauf beschränkt seien, die ihnen durch § 29 BNatSchG gewährte Verfahrensposition zu verteidigen, sondern über die Möglichkeit einer materiellrechtlichen Überprüfung der Verwaltungsentscheidung verfügten. Daher bestehe künftig kein Grund mehr, einem bei Anwendung des § 29 BNatSchG unterlaufenen Beteiligungsfehler ein stärkeres Gewicht zuzuerkennen als sonstigen Verfahrensmängeln. 143 Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Stellung des § 29 BNatSchG a.F. spielen in dieser Argumentation allenfalls am Rand eine Rolle, ausschlaggebend ist hingegen das „Anliegen", Verstöße gegen das Verbandsbeteiligungsrecht „nicht ohne Ahndung zu lassen". Damit stützt sich der Senat mit dem Gestus eines demokratisch legitimierten Souveräns auf eigene rechtspolitische Erwägungen, die zwar dem aktuellen Stand der umweltpolitischen Diskussion, nicht aber diejenigen des Gesetzgebers des Bundesnaturschutzgesetzes des Jahres 1976 entsprechen. Dabei hat es der Senat in Kauf genommen, eine - rechtspolitisch zweifellos angreifbare - Systementscheidung des Gesetzgebers, nämlich jene in § 46 VwVfG, effektiv zu umgehen. Mag das Ergebnis der 12 Jahre währenden Rechtsprechung zu § 29 BNatSchG a.F. auch schon allein wegen der Zahl ihrer Befürworter dogmatisch begründbar sein, dogmatisch entwickelt worden ist es hingegen allem Anschein nach nicht.

VII. Folgerungen Es ist kaum möglich, auf der Grundlage von nur vier Beispielen tragfähige Folgerungen zu ziehen. Dennoch soll hier abschließend in aller Vorsicht eine kurze Bilanz der vier Fallstudien gezogen werden: Überzeugen kann das planungsrechtliche „Richterrecht" vor allem dort, wo es systematisch auf das Grundgesetz zurückgeführt wird. Beispiele dafür liefern die Ausweitung des Abwägungsgebots auf die gesamte Raumplanung und die restriktive Handhabung der „notwendigen Folgemaßnahmen". Hier lassen sich 143

BVerwG, Urt. vom 31.1.2002 - 4 A 15/01 - , NVwZ 2002, 1103, 1105 ff.

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auch weit reichende Konkretisierungen methodisch überzeugend auf das Gesetz zurückführen. Demgegenüber deuten bei den Aussagen zum Drittschutz im Planungsrecht und zur Anfechtungsklage bei Verbandsbeteiligungsrechten viele Indizien auf eher gesetzesfremde Motive. Dabei kann die These, dass vor allem die offene Finalstruktur der einschlägigen Rechtsnormen besonders weit reichende Rechtsfortbildungen herausfordert, so nicht bestätigt werden. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass die Gerichte vor allem dort zu einer Korrektur gesetzgeberischer Entscheidungen neigen, wo das hinter diesen Normen stehende rechtspolitische Konzept nicht oder nicht mehr dem Zeitgeist entspricht. Unabhängig von den zugrunde liegenden rechtspolitischen Positionen muss dies Kritik provozieren. Gerade in rechtspolitisch umstrittenen Bereichen wäre die Judikatur gut beraten, ihre Entscheidungen durch verstärkte Dogmatik zu entpolitisieren. 144 Könnte die Rechtsprechung ihre Weiterentwicklungen dogmatisch noch stärker absichern, so stünden ihre großen Verdienste um das deutsche Planungsrecht künftig in einem noch helleren Licht.

Zusammenfassende Thesen 1.

Das Planungsrecht verdankt einen Großteil seiner Strukturen den ordnenden Aussagen der Dritten Gewalt. Die starke Rolle der Rechtsprechung bei der Entwicklung des Planungsrechts wird allgemein anerkannt, bisweilen jedoch auch kritisiert. Anhand von vier Beispielen aus der planungsrechtlichen Judikatur des Vierten Senats des Bundesverwaltungsgerichts soll die Sachgerechtigkeit dieser Rolle untersucht werden.

2.

Verfassungsrechtlich ist die Berechtigung von Richterrecht umstritten. Während namentlich die Richterschaft es als notwendigen Bestandteil jeder modernen Rechtsordnung ansieht, bezeichnet das Schrifttum das Richterrecht vielfach als verfassungswidrig. Diese Divergenzen beruhen auch auf der Unschärfe des Begriffs „Richterrecht".

3.

Art. 97 Abs. 1 GG garantiert den Richtern bei der Rechtsprechung sachliche und personelle Unabhängigkeit, bindet die Ausübung dieser Gewalt jedoch an das materielle Recht. Da der Richter hingegen grundsätzlich nicht an Präjudizien gebunden ist, bilden Urteile der Fachgerichte keine eigenständige Rechtsquelle.

4.

Grundlage der richterlichen Entscheidung ist nach den Vorgaben des Grundgesetzes kein materielles Gerechtigkeitsprinzip, sondern die Anwendung demokratisch erzeugter Rechtsnormen auf konkrete Sachverhal-

144

Vgl. Meyer (Fn. 16), Art. 97 Rdnr. 13.

Die Rolle des Richterrechts im Planungsrecht

149

te. Auch die richterliche Justizgewährleistungspflicht besagt nichts über die richterlichen Gestaltungsspielräume. 5.

Gesetze können nicht mechanisch auf einen Sachverhalt angewandt werden. Vielmehr muss der Richter durch Interpretation der abstrakten Normtexte zunächst jene konkreten Rechtssätze - insbesondere die Leitsätze der höchstrichterlichen Entscheidungen - gewinnen, unter die der Sachverhalt subsumiert werden kann.

6.

Als schöpferischer Prozess umfasst die Normkonkretisierung so weit reichende Elemente wie die Ermittlung von Gewohnheitsrecht, die Schließung planwidriger Lücken, die verfassungskonforme Normergänzung, die gerneinschaftsrechtskonforme Auslegung und die Gewähr des Vorrangs des EG-Rechts. Dabei bestehen tendenziell weite Interpretations Spielräume, wo der Gesetzgeber dem Richter Entwicklungsaufträge erteilt oder dieser zwingende Vorgaben des Grundgesetzes zur Geltung bringen muss.

7.

Der Richter darf jedoch seine Obersätze stets nur in Bindung an einen Normtext entwickeln und ist nicht befugt, eigene Gerechtigkeitsvorstellungen zu verfolgen. Seine Konkretisierungen bedürfen der streng dogmatischen Rückbindung an den demokratischen Rechtssetzungsprozess. Eine methodisch schlechthin unvertretbare Entscheidung ist in der höchstrichterlichen Planungsrechtsprechung indes nicht bekannt.

8.

Auch ein vertretbar begründeter Richterspruch kann gegen die Gesetzesbindung verstoßen, wenn er zwar formal durch Rechtsnormen begründet wird, tatsächlich aber auf fachfremden rechtspolitischen Erwägungen beruht. Dies kann letztlich nur durch Indizien wie die Dominanz rechtspolitischer Argumente, verschleiernde Fehlzitate, die Auswechslung der Begründung bei gleichem Ergebnis, die fehlende Berücksichtigung von Gegenargumenten oder die Abweichung von Erwartungen des Gesetzgebers belegt werden. Auch diese Indizien begründen nur in Extremfällen einen Verstoß gegen die richterliche Gesetzesbindung, können jedoch bereits im Vorfeld Anlass zu verstärkter Kritik liefern.

9.

Als wichtigster Anwendungsfall des Richterrechts im Planungsrecht gilt die Rechtsprechung des Vierten Senats zum planungsrechtlichen Abwägungsgebot, insbesondere die Unterscheidung von Abwägungsvorgang und Abwägungsergebnis sowie die „Abwägungsfehlerlehre". Ausgehend vom Baurecht wurde das Abwägungsgebot auf die gesamte Raumplanung ausgedehnt und dort, wo das Planungsgesetz keine entsprechenden Vorgaben enthielt, auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip zurückgeführt.

10. Angesichts des interpretationsoffenen Normtextes in § 1 Abs. 7 BauGB kann insoweit jedenfalls im Baurecht von einer Rechtsfortbildung nicht die Rede sein, zumal die Abwägungsfehlerlehre strukturell den entspre-

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chenden Figuren der Ermessensfehlerlehre entspricht. Die Ausweitung des Abwägungsgebots auf solche Raumplanungsentscheidungen, in denen das Fachrecht keine Abwägung vorsieht, trägt zwar den Charakter einer Rechtsfortbildung, war jedoch verfassungsrechtlich geboten. 11. Die Erwähnung „notwendiger Folgemaßnahmen" in § 75 Abs. 1 VwVfG erweitert den Gegenstand der Planfeststellung auf notwendige Anpassungsmaßnahmen an anderen Anlagen. Während sich die Literatur vielfach für eine großzügige Handhabung des Instituts ausspricht, hat der Vierte Senat insoweit enge Maßstäbe entwickelt: Demnach ist eine Folgemaßnahme nicht „notwendig", wenn sie nach ihrer Dimension und Komplexität eine eigene Planung darstellt. 12. Bei der Festsetzung von Folgemaßnahmen wird ein fachfremdes Vorhaben mit erledigt, das sich den der Planung zugrunde liegenden Kompetenztiteln nicht zuordnen lässt. Verfassungsrechtlich kann dies nur über die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs gerechtfertigt werden, die voraussetzt, dass die Miterledigung eine unerlässliche Voraussetzung der Hauptplanung darstellt. Damit sind die Aussagen des Senats erneut verfassungsrechtlich gebotene Normkonkretisierungen. 13. Der Drittschutz im Bauplanungsrecht gilt als ein weiteres Schlüsselelement des richterrechtlichen Planungsrechts. Nach älteren Aussagen ergab sich eine Klagebefugnis des Nachbarn nur ausnahmsweise unmittelbar aus Art. 14 Abs. 1 GG, wenn ihn eine Baugenehmigung schwer und unerträglich traf. Später entwickelte der Senat stattdessen ein objektiv-rechtliches „Gebot der Rücksichtnahme", dem bei Hinzutreten besonderer „qualifizierender und individualisierender Umstände" drittschützende Wirkung zukomme. Erst unter Kritik des Schrifttums verankerte der Senat seine Aussagen in konkreten Rechtsnormen und sieht seitdem zahlreiche Vorschriften als partiell drittschützend an, wenn ihre Verletzung den Nachbarn besonders schwer betrifft. 14. Eine Reihe von Indizien legt nahe, dass der Senat den Drittschutz bauplanungsrechtlicher Vorschriften nicht aufgrund systematischer, sondern rechtspolitischer Erwägungen einschränkt. Insbesondere werden trotz großen Begründungsaufwands gerade zweifelhafte Grundannahmen nicht argumentativ hinterfragt. Zudem hat der Senat seine Begründung mehrfach ausgetauscht, das Ergebnis jedoch unverändert beibehalten und bejaht die Klagebefugnis weiterhin nur bei unzumutbaren Beeinträchtigungen des Nachbarn. Dies ist aus Sicht der Rechtsprechung ein komfortables Ergebnis. 15. Die Rechtsprechung zur naturschutzrechtlichen Verbandsbeteiligung berührte mit der Problematik der Verbandsklage eine seit den 70er Jahren

Die Rolle des Richterrechts im Planungsrecht

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umweltpolitisch umstrittene Frage. Bis 2002 sah das Bundesrecht in § 29 BNatSchG a.F. lediglich ein begrenztes Verbands6e/ez7igwrtgsrecht insbesondere in Planfeststellungsverfahren vor. 16. Im Jahr 1990 bejahte der Senat die Möglichkeit, eine Verwaltungsentscheidung anzufechten, die unter Verletzung dieses Beteiligungsrechts zustande kam, obwohl ein Verfahrensrecht ohne korrespondierende materielle Rechtsposition ansonsten keine Klagerechte vermittelt. Er begründete dies vor allem mit der Erwägung, die effektive Berücksichtigung der Naturschutzbelange erfordere eine Sanktion. Dieser Effektivitätsaspekt blieb das einzig durchgängige Argument der Rechtsprechung. Erst nach Jahren wurde zusätzlich die These aufgegriffen, § 29 BNatSchG a.F. begründe ein „absolutes Verfahrensrecht". Dabei ging die Rechtsprechung Gegenargumenten aus dem Weg. 17. Flankierend legte der Senat § 46 VwVfG, der ursprünglich selbstverständlich auf das Verbandsbeteiligungsrecht angewandt worden war, äußerst restriktiv aus, so dass die Vorschrift schließlich in Zusammenhang mit der Verbandsbeteiligung generell für unanwendbar erklärt wurde. Mit diesen Maßgaben wurde das Verbandsbeteiligungsrecht zu einem scharfen Schwert der Verbände, das einige Vorhaben um Jahre verzögerte. Im Januar 2002 vollzog der Senat eine radikale Wende und erklärte, eine Verletzung des Verbandsbeteiligungsrechts bleibe nach § 46 VwVfG regelmäßig folgenlos, wo den Vereinen eine Verbandsklage eröffnet sei. Bei ergebnisrelevanten Verletzungen wird nunmehr zudem die nachträgliche Heilung im Verwaltungsprozess zugelassen. 18. Den unerwähnten Hintergrund dieser Kurskorrektur bildete die bevorstehende bundesweite Einführung der Verbandsklage, welche die bisherige Konstruktion entbehrlich machte. Da die neue restriktive Linie offen durch rechtspolitische Erwägungen begründet wird, spricht vieles dafür, dass der Senat bereits 1990 die Anfechtungsklage gegen die Sachentscheidung vor allem aus rechtspolitischen Motiven eröffnete. 19. Insgesamt hinterlassen die Fallstudien zu planungsrechtlichem „Richterrecht" einen zwiespältigen Eindruck. Überzeugen können die Konkretisierungen vor allem dort, wo der Senat sie auf die Verfassung zurückführt wie bei der Ausdehnung des Abwägungsgebots und der restriktiven Handhabung der „notwendigen Folgemaßnahmen". Rechtspolitisch dominiert erscheinen demgegenüber die Aussagen zum Drittschutz im Planungsrecht und zur Anfechtungsklage bei Verbandsbeteiligungsrechten. Nicht bestätigt wird die These, die offene „Finalstruktur" der planungsrechtlichen Vorschriften mache weit reichende Rechtsfortbildungen unausweichlich. Vielmehr scheint die Rechtsprechung vor allem dort einer Korrektur gesetzgeberischer Entscheidungen zuzuneigen, wo das hinter den Normen

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Wolfgang Durner

stehende rechtspolitische Konzept nicht oder nicht mehr dem Zeitgeist oder den gerichtlichen Bedürfnissen entspricht.

Raten oder Rechnen: Planungsverfahren als methodische Herausforderung Von Ekkehard Hofmann

I. Einleitung Unter dem Begriff „Planungsverfahren" werden in erster Linie die Anforderungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes an die Auslegung von Planungsunterlagen, die Einbeziehung der Öffentlichkeit durch Anhörungen, Bestimmungen über die Akteneinsicht oder ähnliches verstanden. Im folgenden geht es um eine andere Bedeutung des Verfahrensbegriffes, nämlich um die regelmäßig in einer Begründung zu dokumentierenden gedanklichen Operationen, die ein Entscheidungsträger durchführen muss, um die beste unter den zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten auszuwählen. Es soll zunächst der Frage nachgegangen werden, ob das für komplexe Verwaltungsentscheidungen vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte differenzierte Anforderungsprofil an den Abwägungsvorgang hinreichend mit der üblichen natürlich-sprachlichen Vorgehensweise bewältigt werden kann (II.). Da hieran Zweifel bestehen, wie zu zeigen sein wird, ist weiter zu untersuchen, ob es nicht formale, numerische Verfahren gibt, die in Ergänzung der bisherigen Praxis für diese Aufgabe besser geeignet wären (III.). Numerische Instrumente sind schon jetzt in der Praxis der Rechtsanwendung und der Rechtsetzung zu beobachten (III. 1. und III. 2.). Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass trotz der eindeutigen Vorzüge, die formalen Entscheidungsherstellungsmethoden zu eigen zu sein scheinen (III. 3.), große Vorbehalte gegen ihre Verwendung in rechtlichen Zusammenhängen bestehen. Ihnen wird abschließend nachzugehen sein (III. 4.).

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Ekkehard Hofmann

II. Die Anforderungen an komplexe Entscheidungen bei der Rechtsanwendung 1. Das Abwägungsgebot als Handlungsanweisung und als Kontrollmaßstab Die zentrale materiell-rechtliche Anforderung an Planungsentscheidungen liegt bekanntlich im Abwägungsgebot, das ursprünglich als Kontrollmaßstab im Bauplanungsrecht entwickelt worden war, diesen Wurzeln aber längst entwachsen ist und nunmehr als Element des Rechtsstaatsprinzips verfassungsrechtliche und dementsprechend umfassende Geltung beansprucht. Das Gebot gerechter Abwägung wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur nicht nur als Kontrollnorm (ex /^¿-Perspektive) wahrgenommen, sondern zutreffenderweise auch als Handlungsanleitung (ex ante)} Dazu ist die Kontrollvariante zum Teil umzudeuten. Danach müssen komplexe Verwaltungsentscheidungen mit der Zusammenstellung des Abwägungsmaterials beginnen.2 Nach den Maßgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung unterliegt dies einem Gebot der Vollständigkeit, indem gefordert wird, dass alle Belange zu ermitteln seien, die der Sache nach in die Abwägung eingestellt werden müssen.3 Darüber hinaus sind die zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen (Alternativen) zu ermitteln. 4 Des weiteren zählen auch die erforderlichen Prognosen über die hypothetischen Folgen der zur Verfügung stehenden Alternativen zum Abwägungsmaterial. 5 Schließlich sind die Auswirkungen der möglichen Maßnahmen zu gewichten

1 H.-J . Koch/R. Hendler , Baurecht, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, 4. Aufl. 2004, S. 235; H-J. Koch, et al, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2003, S. 225; ähnlich W. Hoppe, in: Hoppe / Bönker / Grotefels, Öffentliches Baurecht, 2002, § 7 Rz. 36 ff.; W. Hoppe, NVwZ 2004, S. 903 (905 f.); U. Battis , Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2002, S. 265; J. Ziekow, in: Ziekow (Hrsg.), Praxis des Fachplanungsrechts, 2004, Rz. 649. 2 Eigentlich muss der Zusammenstellung des Abwägungsmaterials die Bestimmung der mit der Maßnahme verfolgten Ziele, also eine Art der Problemidentifikation vorangehen, worauf schon die erste Stufe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aufmerksam macht („legitimes Ziel"). Das bedarf aber für die vorliegende Fragestellung keiner Vertiefung. 3 BVerwG vom 12.12.1969, E 34, S. 301 (309); vom 5.7.1974, E 45, S. 309 (314); vom 9.11.1979, E 59, S. 87 (103); vom 25.2.1988, DVB1. 1988, S. 844; vom 20.12.1988, E 81, S. 128 (138); vom 5.10.1990, NVwZ-RR 1991, S. 118; vom 17.1.1992, NuR 1992, S. 377; vom 27.4.1992, E 90, S. 96 (101); vom 25.1.1996, E 100, S. 238 (251); vom 15.5.1996, DVB1. 1996, S. 925 (927). 4 St. Rspr.; siehe nur BVerwG vom 26.3.1998, UPR 1998, S. 382 (383); vom 25.1.1996, E 100, S. 238 (249); vom 10.4.1997, E 104, S. 236 (245). 5 Fehler bei der Erstellung von Prognosen werden von Kühling / Herrmann als „Ermittlungsfehler" bezeichnet, denen „Bewertungsfehler" gegenübergestellt werden (J. Kühling /N. Herrmann , Fachplanungsrecht, 2000, 120, 126).

Raten oder Rechnen: Planungsverfahren als methodische Herausforderung

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und in bilanzierender Art und Weise6 abwägend zu vergleichen. Als Handlungsanweisung zielt das Abwägungsgebot damit, kurz gesagt, auf die hinreichend vollständige Ermittlung der berührten Belange und Handlungsoptionen, die Durchführung vernünftiger Prognosen und die angemessene Gewichtung der Belange. Entspricht ein Abwägungsvorgang den genannten Voraussetzungen, so darf das erreichte Abwägungsergebnis in aller Regel als gerecht angesehen werden. Das Abwägungsgebot ist aber auch und gerade ein Kontrollmaßstab. Hierbei räumen die Gerichte der Verwaltung Spielräume zum ersten dadurch ein, dass die der Entscheidung zugrundegelegten Prognosen nur „vertretbar" und die Gewichtungen „nicht offensichtlich fehlsam" sein müssen, um vor der gerichtlichen Überprüfung zu bestehen.7 Zum zweiten habe die planerische Gestaltungsfreiheit da ihre Grenze, wo einer der beteiligten Belange in geradezu unvertretbarer Weise zu kurz komme.8 Dabei ist für die vorliegende Fragestellung von erheblicher Bedeutung, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht nur auf das Abwägungsergeftm.s als Kontrollgegenstand blickt, 9 sondern auch auf den Abwägungsvorgawg und in dessen Rahmen auf die Gewichtung einzelner Belange, woraus sich gewisse Rückwirkungen für die Art und Weise ergeben, in der Verwaltungsentscheidungen zu begründen sind. Der Ausgleich zwischen den betroffenen privaten und öffentlichen Belangen sei so vorzunehmen, dass er zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange (!) nicht außer Verhältnis stehe.10 Die planerische Gestaltungsfreiheit habe da ihre Grenze, wo einer (!) der beteiligten Belange in geradezu unvertretbarer Weise zu kurz komme. 11 Das Gericht geht offenbar davon aus, dass es für eine gerechte Abwägung auf die Gewichtung einzelner Belange ankommt. Darauf wird zurückzukommen sein.

6 Früh schon BVerwG vom 5.12.1986, E 75, S. 214 (254); vom 10. 4. 1997, E 104, S. 236 (251); aus jüngerer Zeit BVerwG, 27. 10. 2000, E 112, S. 140 (164). 7 Bezüglich der vom Gericht (und damit mittelbar auch von der Verwaltung) zu respektierenden gesetzgeberischen Wertungen BVerwG vom 24.10.2002, E 117, 138 (139). 8 BVerfG vom 18.12.1968, E 24, S. 367 (406). 9 BVerwG vom 5.7.1974, E 45, S. 309 (315). Die damit zusammenhängende Problematik von Veränderungen der Sachlage in der Zeit zwischen Erlaß eines Bebauungsplans und der gerichtlichen Entscheidung braucht hier nicht vertieft zu werden (s. im einzelnen H.-J. Koch / R. Hendler , Baurecht, Raumordnungsrecht- und Landesplanungsrecht, 2001, S. 245-248 m.w.N.). 10 St. Rspr., so aus jüngerer Zeit BVerwG vom 11.7.2001, E 114, S. 364 (367); grundlegend waren Entscheidungen aus dem Bauplanungsrecht, BVerwG vom 12.12.1969, E 34, S. 301 (309) und vom 5.7.1974, E 45, 309 (314 ff.); für das Fachplanungsrecht BVerwG vom 14.2.1975, E 48, 56 (64); vom 7.7.1978, E 56, S. 110 (123); vom 5.12.1986, E 75, S. 214 (253 f.); vom 29.1.1991, E 87, S. 332 (341). 11 BVerwG vom 5.7.1974, E 45, S. 309 (326).

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2. Das natürlich-sprachliche Vorgehen am Beispiel des Planfeststellungsbeschlusses zur Erweiterung des Airbus-Werks in Hamburg-Finkenwerder vom 8. Mai 2000 Anhand eines Planfeststellungsbeschlusses aus dem Jahr 2000 lässt sich erläutern, wie die Praxis den gestellten Anforderungen zu entsprechen sucht. Es sei betont, dass nicht die Spezifika des nachstehend herangezogenen Beispiels der Erweiterung des Airbus-Werkes in Hamburg im Vordergrund der Betrachtung stehen. Vielmehr geht es um die zu analysierende Argumentationsstruktur des Beschlusses, die der gängigen planungsrechtlichen Übung entspricht. 12 In Hamburg-Finkenwerder gibt es bereits seit Jahrzehnten eine Fertigungsstätte für Verkehrsflugzeuge, die sich direkt am südlichen Elbufer befindet. Für die geplante Beteiligung des Standortes an der Produktion des Airbus A3 80, des größten Passagierflugzeuges der Welt, wurde jedoch eine Erweiterung des Werksgeländes notwendig, da die vorhandenen Hallen den Dimensionen des A380 nicht genügten. Daher entschloss sich der Vorhabenträger mit Unterstützung durch die Freie und Hansestadt Hamburg, einen Teil der Elbbucht trockenzulegen, an der das Werk liegt. Im Planfeststellungsbeschluss werden die dadurch herbeigeführten Beeinträchtigungen angesichts der naturschutzrechtlich problematischen Teilverfüllung eines Süßwasserwatts als „sehr hohe" Beeinträchtigung klassifiziert. 13 Der zu erwartende Fluglärm wurde als „hohe" Beeinträchtigung betrachtet. 14 Ebenfalls eine „hohe" Beeinträchtigung erfährt nach Ansicht der Planfeststellungsbehörde zum Teil der Tier- und Pflanzenschutz, da der für die Flughafenerweiterung benötigte und infolgedessen zuzuschüttende Teil der Elbe einer der letzten Standorte vom Aussterben bedrohter

12 Freie und Hansestadt Hamburg, Planfeststellungsbeschluss DA-Erweiterung vom 8. Mai 2000, 2000; ähnlich Regierungspräsidium Stuttgart, Planfeststellungsbeschluß Landesmesse vom 12. März 2003, 2003: die Realisierung der Messe werde von „gewichtigen überörtlichen Interessen getragen" (S. 122); Ministerium fiir Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr des Landes Brandenburg, Planfeststellungsbeschluss Ausbau Verkehrsflughafen Berlin-Schönefeld vom 13. August 2004, 2004: bei Gesamtbetrachtung der Darlegung in den einzelnen Kapiteln komme den mit dem Ausbauvorhaben verfolgten Zielen gegenüber den entgegenstehenden übrigen öffentlichen und privaten Belangen das größere Gewicht zu (S. 1163); die Planfeststellungsbehörde verkenne jedoch nicht, dass mit dem Ausbau des Verkehrsflughafens auch negative Auswirkungen auf private und öffentliche Interessen verbunden seien. Durch Schutzauflagen werde aber sichergestellt, dass keine öffentlichen oder privaten Interessen in unzumutbarer oder unzulässiger Weise hinter die für das Ausbauvorhaben sprechenden Belange zurückgestellt würden (S. 1164). 13 FHH, Fn. 12, S. 67. 14 FHH, Fn. 12, S. 69.

Raten oder Rechnen: Planungsverfahren als methodische Herausforderung

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Arten sei. 15 „Mittlere" Auswirkungen beträfen unter anderem die Berufsfischer und die Erholungsfunktion eines Parks. 16 Sodann heißt es unter „2.3.3 Abwägung aller Belange": „Unter Abwägung aller betroffenen Belange wird der Plan für das Vorhaben festgestellt. Mit der getroffenen Entscheidung fiir das Vorhaben stehen die Belange der vom Flug- und Baulärm betroffenen Anwohner und des Umweltschutzes zurück. Bei einer Entscheidung gegen das Vorhaben (und damit für die Belange des Lärmund Umweltschutzes) würden die positiven Effekte für den Arbeitsmarkt und regionalwirtschaftliche Effekte fiir die Metropolregion Hamburg ersatzlos entfallen. Diese sind für die Metropolregion Hamburg jedoch von außerordentlich großer Bedeutung. Mit dieser Entscheidung entstehen Beeinträchtigungen für die vom Flug- und Baulärm betroffenen Anwohner, die jedoch hinsichtlich des Baulärms nur vorübergehend sind. Gleichwohl bewertet die Planfeststellungsbehörde die einmalige Chance, zukunftsfähige Industrie in Hamburg zu sichern, als so gewichtig, dass sie auch die beachtlichen Gründe gegen das Vorhaben zurückstellt." 1

Betrachtet man den materiellen Kern der Ausführungen, so stellt die Planfeststellungsbehörde in ihrer Gesamtabwägung wirtschaftliche Effekte von „außerordentlich großer" Bedeutung gegen die „beachtlichen" und in verschiedene Klassen eingeteilten Beeinträchtigungen. Dass die Argumentation auf die Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten verzichtet, soll im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter beachtet werden. Die zitierte Passage bezieht sich allein auf Gewichtungen. Zur Begründung führt die Behörde im einzelnen aus, die projektinduzierten Gewässerbelastungen seien mit dem wasserwirtschaftlichen Allgemeinwohl zu vereinbaren, da das Allgemeinwohl erst dann beeinträchtigt sei, wenn die konkreten Folgen der Ausbaumaßnahme so schwerwiegend seien, dass sie schlechterdings nicht mehr hingenommen werden könnten. 18 Die unterhalb dieser Schwelle verbleibenden nachteiligen Auswirkungen seien Gegenstand der Abwägung. 19 Dabei wird auf den Abschnitt des Planfeststellungsbeschlusses verwiesen, der die verschiedenen Beeinträchtigungen in „sehr hohe Beeinträchtigungen", „hohe", mittlere" und „geringe" Beeinträchtigungen einteilt. 20 Bei den übrigen Beeinträchtigungen wird ähnlich argumentiert. Die Veränderung des Landschaftsbildes sei nicht abschließend zu beurteilen, weil die Hö-

15 16 17 18 19 20

FHH, FHH, FHH, FHH, FHH, FHH,

Fn. Fn. Fn. Fn. Fn. Fn.

12, S. 68 f. 12, S. 71. 12, S. 75. 12, S. 157. 12, S. 157. 12, S. 67 ff.

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he der Gebäude durch den Planfeststellungsbeschluss nicht endgültig festgelegt werde. 21 Dennoch gehe auch die Antragstellerseite davon aus, dass mit der Umsetzung der Planung erhebliche Nachteile für das Landschaftsbild verbunden seien.22 Damit könne auch eine Verringerung der Erholungsfunktion einhergehen. Sämtliche nachteiligen Auswirkungen des Vorhabens auf das Landschaftsbild seien Gegenstand der Abwägung. 23 Die zu erwartende projektbedingte Zusatzbelastung durch Verkehrslärm sei nur dann ein Problem, wenn sie eine Konfliktplanung schaffe, die nicht bewältigt werden könne. 24 Das könnte und müsste aber trotz bereits bestehender starker Verkehrsbelastung letztlich bauplanungsrechtlich geschehen.25 Die Zunahme des Fluglärms sei trotz erheblicher Steigerungen angemessen berücksichtigt. 26 Grundlegende Veränderungen der Wertsituation betroffener Grundstücke seien nicht zu erwarten. Die dennoch tatsächlich auftretenden Betroffenheiten seien Gegenstand der Abwägung. 27 Der üblichen Vorgehensweise entsprechend geht der Planfeststellungsbeschluss auf die Mittel nicht ein, die der Fiskus zur Unterstützung des Vorhabens aufgewendet hatte - insgesamt war ein Betrag von rund 1,5 Milliarden Euro benötigt worden. 28 Die Nichterwähnung dieses Faktors ist jedenfalls dann ein (Abwägungs-)Defizit, wenn man mit dem Bundesverwaltungsgericht Belastungen der öffentlichen Hand als abwägungsrelevante Belange prinzipiell anerkennt 29 und deren hinreichend vollständige Ermittlung und angemessene Gewichtung verlangt.

21

FHH, Fn. 12, S. 449. FHH, Fn. 12, S. 434. 23 FHH, Fn. 12, S. 435. 24 FHH, Fn. 12, S. 201. 25 FHH, Fn. 12, S. 201, 358. 26 FHH, Fn. 12, S. 252. 27 FHH, Fn. 12, S. 358. 28 E. Hofmann / G. von Wangenheim, 22 International Review of Law and Economics 2003, S. 511 (515). 29 BVerwG vom 30.9.1998 - 4 VR 9.98 - , Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 142 S. 291 m. w. N.; vom 27.1.2000, E 110, S. 302 (311); vom 31.1.2001, 11 A 6.00, NVwZRR 2001, S. 653 (654); vom 31.1.2002, DVB1 2002, 990 (992 f.); VGH München vom 8.3.2004, 22 A 03.40058, UA S. 13. Mehrkosten können nach Art. 3 Abs. 1 BayEG (sogar) geeignet sein, einen Eingriff in privates Eigentum zu rechtfertigen; für Ausnahmefälle sieht Büchs sogar die alleinige Heranziehung des Kostenarguments als zulässig an (H. Büchs, Handbuch des Eigentums- und Entschädigungsrechts, 3. Aufl. 1996, Rz. 1166). 22

Raten oder Rechnen: Planungsverfahren als methodische Herausforderung

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3. Die Mängel einer natürlich-sprachlichen Abwägung Die Argumentationsweise der Behörde verdient aber vor allem aus einem anderen Grund vertiefte Aufmerksamkeit. Nach den vorstehend erwähnten Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts müssen Planungsentscheidungen hinsichtlich des Abwägungsvorgangs als Gesamtabwägung in bilanzierender Betrachtungsweise durchgeführt werden und auf die Erzielung gerechter Abwägungsergebnisse gerichtet sein, wobei die einzelnen Belange ihrem objektiven Gewicht entsprechend bewertet werden müssen. Nach den Vorschriften des VwVfG und der entsprechenden Planungsgesetze sind darüber hinaus die entsprechenden Erwägungen für die Öffentlichkeit, die Betroffenen und die Gerichte nachvollziehbar zu machen.30 Nimmt man die genannten Voraussetzungen zusammen, so stehen die Behörden vor der Aufgabe, eine transparente Darlegung der gedanklichen Operationen zu präsentieren, die sie zu dem Schluss geführt haben, die gewählte Alternative sei unter Durchführung einer Gesamtabwägung die beste unter den zur Verfügung stehenden Optionen. Genau daran fehlt es bei der üblichen natürlich-sprachlichen Vorgehensweise, wie gleichfalls an dem Airbus-Planfeststellungsbeschluss gesehen werden kann. Seiner Struktur nach enthält der als „Begründung" bezeichnete Teil des Verwaltungsakts zunächst die detaillierte Untersuchung, ob das Vorhaben an strikten Planungsleitsätzen scheitert. Das sei im Ergebnis hinsichtlich keiner Sachfrage der Fall. Die verbleibenden nachteiligen Wirkungen seien, so wird wiederholt gesagt, Gegenstand der Abwägung, ohne dass auch nur der Versuch unternommen würde, die „Bilanzierung" transparent zu machen. Diese Art der Argumentation begegnet erheblichen Bedenken. Erstens sind die zur Artikulation von Gewichtungen eingesetzten natürlichsprachlichen Bezeichnungen nicht nur vage, was mit Blick auf das Gebot, eine nachvollziehbare Begründung der Entscheidung zu geben, 31 bereits als solches nicht ohne weiteres unproblematisch ist, sie erlauben darüber hinaus nicht die Durchführung der unausweichlich gebotenen Gesamtabwägung. Begriffe wie „gering", „mittel" oder „groß" werden in der behördlichen Praxis in ihrem (Wert-)Verhältnis nicht genau beschrieben, so dass das Ergebnis der Entscheidungsherstellung, die Gerechtigkeit der Abwägung, nicht viel mehr als eine Behauptung bleibt, die zwar wegen des von den zuständigen Behörden gewissenhaft durchgeführten Verfahrens sicher ein erhebliches Maß an Legitimität

30

Siehe etwa § 74 Abs. 1 S. 2 V w V f ü in Verbindung mit § 69 Abs. 2 S. 1 VwVfG. Vertiefend U. Kischel , Die Begründung. Zur Erläuterung staatlicher Entscheidungen gegenüber dem Bürger, 2002, S. 338-354. 31

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für sich in Anspruch nehmen kann, aber letztlich nicht nachvollziehbar ist. Was etwa wäre die Summe von „gering" und „groß"? 32 Zweitens leidet die Überzeugungskraft der Begründung unter dem segmentierten Vergleich der Belastungen mit den erhofften positiven Wirkungen des Vorhabens. 33 So wird in der Planfeststellungspraxis regelmäßig ein Nachteil nach dem anderen abgearbeitet mit dem jeweiligen Schluss, zwingende gesetzliche Abwägungsgrenzen seien nicht verletzt und der gegebenenfalls verbleibende Teil Gegenstand der Abwägung. 34 Der Sache nach wird also der jeweilige belastete Teilbereich mit den Gesamtvorteilen des Projektes verglichen. 35 Ein solches Vorgehen ist schon im Ansatz nicht geeignet, einen Nachweis für die mit der Entscheidung zumindest implizit aufgestellten Behauptung eines gerechten Abwägungsergebnisses zu erbringen. Entscheidend ist jedoch - drittens - , dass nicht dargelegt wird, wieso die Vorteile nach Ansicht der Planfeststellungsbehörde insgesamt größer sein sollen als die ebenfalls in ihrer Summe zu betrachtenden Nachteile (positiver Nettonutzen). Damit wird eine zentrale rechtliche Anforderung verfehlt: Nur dann, wenn die mit einem Vorhaben verbundenen Vorteile die zu befürchtenden Nachteile überwiegen, sind seine individuellen wie gesellschaftlichen Belastungen gerechtfertigt. Das Planungsrecht bringt diesen Gedanken mit der Leitidee des gerechten Abwägungsergebnisses zum Ausdruck. Soweit sich die Beeinträchtigungen als Grundrechtseingriffe darstellen, hat der mit dem gerechten Abwägungsergebnis geforderte positive Nettonutzen des Projekts sogar eine verfassungsrechtliche Dimension, da Maßnahmen, deren Nachteile schwerer wiegen als ihre Vorteile, derartige Belastungen zu rechtfertigen nicht geeignet sind.

32 Das Problem verschärft sich im übrigen weiter, nimmt man die natürlichsprachliche Repräsentation von Prognosen hinzu, die in der Praxis dominiert. Dort werden für die Beschreibung der angestellten Erwartungen über die Auswirkungen der getroffenen Maßnahme Ausdrücke wie „wahrscheinlich", „unwahrscheinlich" oder „es kann ausgeschlossen werden,..." verwendet, was ähnlichen Einwänden ausgesetzt ist. 33 FHH, Fn. 12, S. 99-476, sowie Regierungspräsidium Stuttgart , Fn. 12, S. 118-171. 34 Vgl. FHH, Fn. 12, S. 155 (nachteilige Auswirkungen auf wasserwirtschaftliche Belange). 35 So auch das Vorgehen des Regierungspräsidiums Stuttgart , Fn. 12, S. 162, wo die Folgen für die Landwirtschaft (als Segment) und die Bedeutung des Vorhabens insgesamt miteinander verglichen werden.

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III. Formale Methoden zur Begründung von Abwägungsentscheidungen? Bei der Verwendung mathematisch-formaler Verfahren wäre das hingegen kein wirkliches Problem: Gesamtbetrachtungen - etwa in Form einer Addition von Punkten oder Geldeinheiten - sind ohne weiteres kalkulatorisch schlüssig und für Dritte nachvollziehbar möglich. Würde etwa eine „hohe Beeinträchtigung" mit einem Verlust von 500 Nutzwertpunkten beziffert, so ließe sich eindeutig sagen, ob zwei Vorteile des Vorhabens von je 200 Punkten ihn aufwiegen würden. Was aber genau steckt hinter einer derartigen, punktemäßigen Bewertung eines Effekts? Dazu kann anhand eines bikriteriellen Beispiels zunächst erläutert werden, wie eine Verrechnungseinheit, ein Numéraire, gebildet wird.

1. Die Bildung eines Numéraire Eine Bewertung artikuliert im Zusammenhang mit Abwägungsentscheidungen die Größe der Bereitschaft, auf ein bestimmtes Gut (etwa: die Anzahl der Tiere einer bedrohten Tier- oder Pflanzenart) zugunsten eines anderen (etwa: die Schaffung von Arbeitsplätzen) zu verzichten. Sie erfolgt nach dem Muster „Die Schaffung eines Arbeitsplatzes rechtfertigt die Reduzierung der Anzahl der Exemplare einer bedrohten Tierart, beispielsweise der Löffelenten, um mindestens x Exemplare". Die beschriebene Aussage entspricht in formaler ökonomischer Schreibweise 1W A >XW L ö , mit anderen Worten, der Wert eines Arbeitsplatzes beträgt, ausgedrückt in Löffelenten, > 'Lö .

~x _ A _ Sie stellt eine Umrechnung von Arbeitsplätzen in Löffelenten dar, wobei die Dimension („Löffelenten pro Arbeitsplatz") in eckigen Klammern steht. Dann wird also in der Währung „Löffelenten" gerechnet. Das mag auf den ersten Blick grotesk erscheinen, entspricht aber in struktureller Hinsicht exakt dem Modell, in dem auch alltägliche Preise ausgedrückt werden (etwa „1 Euro pro Liter Milch"). Wer sich unter Löffelenten nichts so recht vorzustellen vermag, dagegen vom Wert eines Arbeitsplatzes eher ein Bild hat, kann ebensogut umgekehrt in Arbeitsplätzen rechnen. Die entsprechende Aussage lautet: Der Wert einer Löffelente beträgt, ausgedrückt in Arbeitsplätzen,

30 ha,

-

Plausibilität der Flächenverfügbarkeit,

-

geeigneter (regionaler) Träger,

-

Potential einer breiten Maßnahmenpalette, die möglichst alle Schutzgüter der Eingriffsregelung abdeckt,

-

auf Akzeptanz und Kooperation mit den Landnutzern vor Ort fußende planerische Konzeption.

Damit sind Flächenpools eben kein „alter Wein in neuen Schläuchen", nach dem Motto, zunehmende Probleme mit der Verfügbarkeit von Flächen zwingen dazu, „irgendwas, irgendwo, irgendwann" 6 für den Naturschutz zu tun und damit letztlich fast beliebige Maßnahmen als Kompensation zu etikettieren. Vielmehr tragen Flächenpools, die die oben genannten Qualitätskriterien erfüllen, dazu bei, naturschutzfachlich besonders effektive Maßnahmen unter Wahrung des funktionellen Bezugs zu den vom Eingriff betroffenen Schutzgütern sicherzustellen 7. Flächenpools sind damit ein planerisches Gestaltungsinstrument der Eingriffsregelung 8. Hinzu kommt, dass Flächenpools durch die frühzeitige Beschaffung der Kompensationsflächen weit im Vorfeld des Eingriffs die Entstehung von kostentreibendem „Ausgleichserwartungsland" 9, das ledig4 In einigen Ländern bereits gesetzlich normiert, vgl. z.B. § 14 Brandenburgisches Naturschutzgesetz. 5 Zu den allgemeinen Anforderungen an Flächenpools vgl. auch MLUR 2003, Vorläufige Hinweise zum Vollzug der Eingriffsregelung, S. 54; www.mluv.brandenburg.de/ cms/media.php/2318/hve.pdf 6 Breuer, Ökokonto - Chance oder Gefahr?, in: Naturschutz und Landschaftsplanung 4/2001, 113 (115). 7 Vgl. zur höheren Qualität von gepoolten Maßnahmen auch Anger, Naturschutzrechtliche Eingriffsregelung und Kompensationspools, UPR 2004, 7(11). 8 Vgl. Steffen, Flexibilisierungsansätze in der Eingriffsregelung am Beispiel Brandenburgs; in: TU Berlin (Hrsg.): Flexibilisierung der Eingriffsregelung - Modetrend oder Notwendigkeit? Schriftenreihe Landschaftsentwicklung und Umweltforschung Nr. 115, Berlin 2000, S. 4 - 16. 9 Jordan, Auswirkungen der Änderung des BauGB und des BgbNatSchG auf Landschafts- und Grünordnungspläne, in: Naturschutz und Landschaftsplanung in Brandenburg 2 / 1998, 120(122).

Flächen- und Maßnahmenpools im Fachplanungsrecht

311

lieh in Planungen dargestellt, aber tatsächlich (noch) nicht verfügbar ist, vermeiden.

III. Die Pool-Idee in Bauleitplanung und Fachplanung Die Pool-Idee wird (z. T. auch unter dem Schlagwort „Ökokonto" 10 ) seit einigen Jahren bundesweit vorrangig im Rahmen der Bauleitplanung auf kommunaler Ebene diskutiert 11 . Der Einsatz von Pools zur Bewältigung regionaler Eingriffsfolgen vorrangig aus der Fachplanung ist - auch methodisch - noch nicht ausgeschöpft. Zukünftig werden die Poolansätze sowohl innerhalb der Eingriffsregelung als auch unabhängig von ihr möglicherweise auch für weitere Anwendungsbereiche, z. B. für Kohärenzsicherungsmaßnahmen nach Art. 10 der FFH-RL und für den Biotopverbund nach § la BbgNatSchG eine vorteilhafte Rolle spielen können und an Bedeutung gewinnen. Überhaupt sind die - theoretischen - Vorteile einer offensiven Verfolgung des Poolansatzes weitgehend unstreitig. Gegenstimmen verweisen für den Fall eines leicht zugänglichen Poolflächenangebots im Wesentlichen auf die Risiken für die Beachtung des strikten Vermeidungsgebots der Eingriffsregelung 12. Zu diskutieren sind zudem einschränkende rechtliche Rahmenbedingungen sowie die Überwindung ganz erheblicher praktischer (planerischer und organisatorischer) Hürden.

IV. Restriktionen für Flächenpools 1. Ausgleichsvorrang, Geeignetheit der Maßnahmen Restriktionen für die Nutzung von Flächenpools ergeben sich aus dem bundesrechtlich vorgegebenen Ausgleichsvorrang: § 19 Abs. 2 Satz 1 BNatSchG 10 Zur Kritik an diesem Begriff vgl. Ammermann et al, Bevorratung von Flächen und Maßnahmen zum Ausgleich in der Bauleitplanung, in: Natur und Landschaft 4 / 1998, 163 (169 Fn. 12); Breuer (Fn. 6). 11 Vgl. Ammermann et al. (Fn. 10); Louis , Das Verhältnis zwischen Baurecht und Naturschutz unter Berücksichtigung der Neuregelung durch das BauROG, NuR 1998, 113-123; einen bundesweiten Überblick bieten Bruns et al., Flächen- und Maßnahmenpools in Deutschland - Konzepte, Management und naturschutzfachlicher Standard, Natur und Landschaft Heft 3 / 2005, 89-95; zu Brandenburg vgl. Jordan , FlächenpoolProjekte in Brandenburg, in: Landschaftsplanung.net, Ausgabe 1 / 2000, www.laplanet.de/texte/01 00, S. 1-9. 12 Vgl. Breuer (Fn. 6), 115; Ammermann et al (Fn. 10), 169.

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behält den schon zuvor bestehenden Vorrang des Ausgleichs vor dem Ersatz bei. Die beeinträchtigten Funktionen des Naturhaushalts müssen vorrangig nach dem biblischen Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn'4 gleichartig und zwar am Ort des Eingriffs oder in dessen unmittelbarer Umgebung wiederhergestellt werden. Aus der grundsätzlichen Anforderung der Geeignetheit von Ausgleichsmaßnahmen ergeben sich jedoch Beurteilungsspielräume für die praktische Umsetzung. Zunächst ist der z. B. vom BVerwG vorgegebene Anspruch „Ausgleichsmaßnahmen müssen so beschaffen sein, dass in dem betroffenen Landschaftsraum ein Zustand herbeigeführt wird, der den früheren Zustand in der gleichen Art und mit der gleichen Wirkung fortführt" 13 bei Licht betrachtet häufig nicht einlösbar. Geeignete Maßnahmen bedürfen nach der fortschreitenden Mindestarealforschung zudem einer bestimmten - u. a. biotoptypenabhängigen - Mindestgröße, da sonst die erforderlichen Wechselwirkungen zur Absicherung eines günstigen (nachhaltigen) Erhaltungszustandes bzw. einer günstigen Entwicklungsprognose nicht eintreten können. Dies ist etwa bei schmalen Randstreifen bzw. zufälligen Flächenverfügbarkeiten von Kleinstarealen auch bei einer z. B. noch so identischen Abbildung eines zerstörten Sandtrockenrasentyps nicht ohne weiteres gegeben. Schließlich eröffnet die Berücksichtigungspflicht der Landschaftsplanung 14 gemäß § 19 Abs. 2 Satz 4 BNatSchG Entscheidungsspielräume dergestalt, dass auf der Grundlage von Ziel- und Entwicklungsaussagen der Landschaftsplanung, bezogen auf eine vom Eingriff betroffene konkrete Gebietskulisse, die strikte Entscheidungsvorgabe Ausgleich vor Ersatz „überwunden" werden kann 15 . Generell sind für Ausgleich- und Ersatzmaßnahmen gleichermaßen geltende Anforderungen an die grundsätzliche Geeignetheit von Maßnahmen sowohl fachlich als auch rechtlich in den Blick zu nehmen. Die Kompensation eines Eingriffs soll an anderer Stelle - im Sinne einer Aufwertung des dortigen status quo - die Herstellung eines nachhaltig wirkenden und in seinen Wechselbeziehungen funktionierenden Naturhaushalts bewirken. Die Kompensation ist keinesfalls sklavisch an die Bedienung jeder einzelnen beeinträchtigten Naturschutzfunktion gebunden. Hier verwechseln einige das Erfordernis einer rechtssicheren differenzierten Erfassung der eingriffserheblichen Beeinträchtigungen mit der Kompensationsanforderung an ein funktionierendes Gesamtsystem im Sinne einer effektiven Kompensation. Für die naturschutzrechtliche Anerkennung „geeigneter" Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen kommt es mithin ganz entscheidend auch auf die Erfolgswahrscheinlichkeit ihrer tatsächlichen Umset-

13

BVerwG, NuR 1997,87 (88). Vgl. z. B. zu den Inhalten eines Landschaftsplans: LUA (Landesumweltamt), Der Landschaftsplan in Brandenburg, Potsdam 1996. 15 So auch Louis, Rechtliche Grenzen der räumlich funktionalen und zeitlich funktionalen Entkopplung von Eingriff und Kompensation, NuR 2004, 714 ff. 14

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zung sowie auf ihre nachhaltige Wirkung an. Kleinräumige, isolierte Einzelmaßnahmen sind - ohne Einbindung in ein planerisches auf die Ermöglichung von Wechselbeziehungen ausgerichtetes Gesamtkonzept - nach dem heutigen Stand der Technik ebenso wenig sinnvoll wie Maßnahmen, deren dauerhaftwirksame Betreuung nicht durch einen mit einem wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Eigeninteresse ausgestatteten, möglichst regionalen Träger abgesichert ist.

2. Räumlicher Bezug Nach Auffassung des BVerwG 1 6 ist der notwendige räumliche Zusammenhang jedenfalls dann gegeben, wenn der Bereich, in dem die Ersatzmaßnahmen durchgeführt werden sollen, durch bioökologische Wechselbeziehungen unmittelbar mit dem Eingriffsort verbunden ist. An anderer Stelle führt das Gericht unter Bezugnahme auf die entsprechende Vorschrift eines Landesnaturschutzgesetzes dazu aus: „Der Gesetzgeber verlangt nicht, dass die Maßnahme auf den Eingriffsort zurückwirkt. Vielmehr lässt er es damit bewenden, dass überhaupt eine räumliche Beziehung zwischen dem Ort des Eingriffs und der Durchführung der Ersatzmaßnahmen besteht"17. Nach Berkemann x% soll es genügen, wenn durch die Ersatzmaßnahme eine Verbesserung der naturalen Gesamtbilanz zu erwarten ist. Allerdings diene eine Ersatzmaßnahme nicht dazu, bei Gelegenheit des zu beurteilenden Eingriffs vorhandene Versäumnisse zu beseitigen, anderweitige Ziele zu realisieren oder ganz allgemein Verbesserungen vorzunehmen 19. Damit entscheidet der (Landes-)Gesetzgeber über die - unterschiedlich definierbare - naturräumliche Bezugsgröße. § 12 Abs. 2 Satz 4 BbgNatSchG definiert einen weiten Naturraumbegriff durch Bezugnahme auf die vierzehn im Landschaftsprogramm Brandenburg dargestellten naturräumlichen Regionen Brandenburgs. Innerhalb dieser Naturräume ist grundsätzlich von einem räumlichen Bezug zwischen Eingriff und Kompensation auszugehen 20 . Für die Zulässigkeit eines derart weiten Naturraumbegriffs sprechen weitere Argumente: § 7 ROG ermöglicht ausdrücklich Festlegungen zu Ausgleichsund Ersatzmaßnahmen in der Raumordnung auch oberhalb der kommunalen 16

BVerwG, NuR 1997, 87 (88). Vgl. Fn. 16 sowie BVerwG NuR 1999, 103 (104). 18 Berkemann , Rechtliche Instrumente gegenüber Eingriffen in Natur und Landschaft, NuR 1993,97(105). 19 Vgl. in diesem Sinne auch BVerwG, NuR 1999, 103 (104). 20 Vgl. Steffen (Fn. 8), 13: „Ein mit Eingriffen verbundenes Vorhaben kann - zumindest hinsichtlich der Ersatzmaßnahmen - überall innerhalb des jeweiligen Naturraums kompensiert werden." 17

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Ebene. Ferner fuhrt die zunehmende Verknüpfung der Eingriffsregelung mit Anforderungen aus dem europäischen Naturschutzrecht (Kohärenzsicherungsmaßnahmen) zu einem sogar länderübegreifenden Blickwinkel. Ein weiter Naturraumbegriff erleichtert schließlich die Einhaltung von Mindestanforderungen an einen funktionalen Ableitungszusammenhang zwischen Eingriff und Kompensation. Das neue BNatSchG hat diese Anforderung eher verschärft, indem es ausdrücklich auf den gleichwertigen Ersatz der beeinträchtigten Funktionen verweist.

3. Fachplanungsrecht Das Fachplanungsrecht ist für die Nutzung noch im Aufbau befindlicher Pools ausreichend flexibel: Die verbindliche Entscheidung über Kompensationsverpflichtungen kann unter bestimmten Voraussetzungen für mehrere Planfeststellungsabschnitte gebündelt erfolgen. Die Rechtsprechung 21 hat dabei grundsätzlich anerkannt, dass die Entscheidung über Ausgleich- und Ersatzmaßnahmen einem ergänzenden Planfeststellungsverfahren vorbehalten bleiben kann, wenn der Planungsträger plausibel davon ausgehen darf, dass der zunächst ungelöst gebliebene Konflikt im Zeitpunkt der Plandurchführung in einem anderen - späteren - Verfahren in Übereinstimmung mit seiner eigenen planerischen Entscheidung bewältigt werden wird. Eine zwischen Poolbetreiber, Naturschutzbehörde und Planungsträger erfolgte Abstimmung über die Nutzung eines - noch im Aufbau befindlichen bzw. erst bei vollständiger Flächen- bzw. Maßnahmenzuordnung nutzbaren - Pools kann eine entsprechend tragfähige Begründung liefern. Über das Erfordernis einer Ersatzmaßnahme kann etwa dem Grunde nach im ersten Planfeststellungsbeschluss entschieden werden, die näheren Modalitäten der Ausführung können einer späteren ergänzenden Planfeststellung vorbehalten bleiben 22 . Gerade bei mehreren planerischen Teilabschnitten kann es zu einer wirksameren Durchsetzung der Belange von Naturschutz und Landschaftspflege fuhren, wenn die Kompensationsmaßnahmen in einem späteren Beschluss einheitlich festgesetzt werden, wenn und soweit die Konzeption und dessen grundsätzliche Realisierbarkeit schon im ersten Planfeststellungsbeschluss feststeht bzw. hinreichend plausibel ist 23 .

21 Vgl. grundlegend BVerwG, NuR 1996, 143 (146); VGH Mannheim, NuR 1990, 167(169). 22 BVerwG, NuR 1996, 143; vgl. entsprechend auch OVG Lüneburg, NuR 2002, 369 („Mühlenberger Loch"). 23 Vgl. hierzu Louis, Bundesnaturschutzgesetz, Komm., 2.Aufl., § 8 Rn. 121 m.w.N.

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V. Chancen der Flächenpools 1. Förderung vorgezogener Maßnahmen „Vorgezogene Maßnahmen" sind solche, die ohne rechtliche Verpflichtung bereits vor dem Eingriff durchgeführt werden und im späteren Zulassungsbescheid einem Eingriff als Kompensationsmaßnahme zugeordnet werden. Dieser Sonderfall eines Flächenpools, der bereits durchgeführte Maßnahmen „auf Abruf' enthält, wird teilweise auch „Maßnahmenpool" genannt. In der Praxis ist die vorweggenommene Kompensation bisher vornehmlich in der Bauleitplanung unter dem Begriff des „Ökokontos" bekannt. Wichtig für eine rechtssichere Zuordnung sind u. a. eine aussagekräftige Dokumentation des Ausgangszustandes24 sowie ein nach außen dokumentierter Widmungsakt vor Beginn der Maßnahmendurchfuhrung für Zwecke der Eingriffsregelung. Ob Flächenpools in die Phase eines Maßnahmenpools eintreten, ist in erster Linie eine finanzielle Fragestellung. Die vorgezogene Durchführung von Kompensationsmaßnahmen wirkt sich doppelt günstig auf den Umfang der Kompensationsverpflichtung aus: In Anrechnung kommt der Aufwertungseffekt, der Natur und Landschaft früher als bei konventionellen Maßnahmen zugute kommt 25 , ebenso wie der grundsätzlich anzunehmende fachliche Mehrwert von Aufwertungsmaßnahmen, die Ausfluss eines planerischen Poolkonzeptes sind.

2. Qualitätssicherung und -Verbesserung durch Zertifizierung Für die Etablierung von Pools reicht das Vorhandensein befördernder rechtlicher Rahmenbedingungen nicht aus. Die oberste Naturschutzbehörde des Landes Brandenburg beschäftigt sich daher seit einiger Zeit mit den Möglichkeiten, mittels einer Zertifizierung die weitere Umsetzung des Pool-Gedankens zu unterstützen. Dazu wurde eine Liste mit 11 Qualitätskriterien (u. a. zur Mindestflächengröße, zur naturschutzfachlichen Aufwertung, zur Flächenverfügbarkeit und zur Sicherung der langfristigen Pflege) erstellt, die derzeit anhand erster Praxisfälle erprobt und optimiert wird. Bisher wurde für drei Flächenpools in Brandenburg die Zertifizierung beantragt, die in allen drei Fällen auch erteilt wurde. Die Vorteile der Zertifizierung für die Poolträger, die Investoren und nicht zuletzt für den Naturschutz selbst liegen zum einen in der mit der Zertifizierung bescheinigten Verlässlichkeit des Poolangebots hinsichtlich der naturschutzfachlichen Aufwertung, der tatsächlichen Durchführbarkeit der

24 Louis (Fn. 15), 718 hält die Bestandsdarstellungen der Landschaftsplanung für ausreichend für die Dokumentation des Ausgangszustandes. 25 Vgl. Jordan (Fn. 11), 8.

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Maßnahmen und der erfolgten Abstimmung des Angebotes mit den Naturschutzbehörden und zum anderen in dem naturschutzfachlichen Mehrwert von Maßnahmen, die gebündelt auf möglichst zusammenhängenden Flächen und auf der Grundlage eines durchdachten fachlichen Konzeptes durchgeführt werden.

3. Träger regionaler Flächenpools Trotz einer Vielzahl etwa von im BauGB eröffneten Varianten für die Bewältigung der baurechtlichen Eingriffsregelung ist in der Praxis eine tatsächliche Anwendung der möglichen Instrumente weitgehend ausgeblieben. Viel entscheidender sind daher auch bei der Umsetzung im Fachplanungsrecht der politische Wille, die Etablierung einer mit dem Aufbau von Pools beauftragten Institution sowie ein Finanzierungskonzept. Die hohe Akzeptanz vor Ort sowie die intensive fachliche Vorabstimmung garantieren einen hohen Umsetzungsgrad und damit eine hohe Planungssicherheit. Diese Sicherheit sowie die sehr zeitnahen Umsetzungsmöglichkeiten stellen nicht zuletzt ökonomische Vorteile dar. In Brandenburg hat die öffentlich-rechtliche Stiftung „NaturSchutzFonds" mittlerweile den gesetzlichen Auftrag zum Aufbau von Pools 26 . Die PoolProjekte entsprechen qualitätsmäßig sonstigen aus Mitteln der Ersatzzahlung forderfähigen Projekten und können entsprechend verbucht werden, falls es in absehbaren Zeiträumen nicht zu einer Zuordnung zu einem Eingriff kommen sollte. Dies ist wichtig vor dem Hintergrund, dass für die Vorplanung und Flächensicherung Mittel aus der Ersatzzahlung verwendet werden. Da im Falle einer Refinanzierung durch Vorhabensträger die Einnahmen wiederum im Sinne der gesetzlichen Zweckbindung für Ersatzzahlungen zeitnah für weitere (Förder-) Projekte eingesetzt werden, ist das Finanzierungskonzept tragfähig. Mit der Vermarktung der Pools ist eine GmbH, eine mittlerweile 100%ige Tochter der Stiftung NaturSchutzFonds, beauftragt. Das gesamte Projekt befindet sich noch in der Aufbauphase und wird tatkräftig vom B M U und BfN für eine Teilregion von Brandenburg unterstützt, um möglichst bundesweit übertragbare Ergebnisse zu erzielen 27.

26 Nach § 59 Abs. 2 Satz 1 Nr. la BbgNatSchG hat die Stiftung u.a. den Zweck, „den Aufbau von Flächen- und Maßnahmenpools für die Eingriffsregelung vorzunehmen oder zu unterstützen". 27 Im Rahmen eines Erprobungs- und Entwicklungsvorhabens beim Bundesamt für Naturschutz; die hierzu erfolgte Vorstudie wurde vom Bundesverkehrsministerium gefördert.

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4. Kohärenzsicherungsmaßnahmen Die inhaltlichen Anforderungen an Kohärenzsicherungsmaßnahmen im Sinne von Art. 6 Abs. 4 FFH-RL bzw. § 34 Abs. 5 BNatSchG sind noch nicht fest etabliert. Die EU plant speziell zu diesem Thema die Herausgabe einer weiteren Leitlinie (guideline) 28 . Tendenzen sind jedoch mittlerweile beschreibbar. Während die strengen funktionalen Anforderungen eine Nutzung vorgeplanter Flächenpools eher erschweren, werden andererseits die im Vergleich zur Eingriffsregelung deutlich strengeren zeitlichen Anforderungen ebenso wie der mögliche weite räumliche Maßstab ftir die gebotene Sicherung der Kohärenz (biogeographische Region) die Nutzung von Flächenpools zunehmend interessant werden lassen, wenn man Verzögerungen von Zulassungsverfahren vermeiden will 2 9 . Hinzuweisen ist ferner auf den Umstand, dass für den Kohärenzausgleich nicht wie in der klassischen Eingriffsregelung der Verursacher zuständig, sondern aus Sicht der FFH-RL zunächst der Mitgliedsstaat verpflichtet ist (Art. 6 Abs. 4 FFH-RL), was den Verursacher allerdings nicht von der Kostenlast freistellen soll. Im Sinne der Planungs- und Rechtssicherheit von Zulassungsentscheidungen sollte also auch unter diesem Blickwinkel ein vorausschauendes Flächenmanagement in die Wege geleitet werden.

28

Bisher veröffentlicht: Europäische Kommission - GD Umwelt - , Natura 2000 Gebietsmanagement: Die Vorgaben des Art. 6 der Habitat-RL 9 2 / 4 3 / EWG, 2000; dies.: Prüfung der Verträglichkeit von Plänen und Projekten mit erheblichen Auswirkungen auf Natura 2000 - Gebiete - Methodische Leitlinien zur Erfüllung der Vorgaben des Art. 6 Abs. 3 und 4 der Habitat-RL 92 / 43 / EWG, November 2001. 29 Vgl. hierzu aktuell Köck , Der Kohärenzausgleich für Eingriffe in FFH-Gebieten, ZUR 2005,466 (470).

Errichtung von Windkraftanlagen in Vorranggebieten für die Windenergienutzung bei nachträglicher Ansiedlung von besonders und streng geschützten faunistischen Arten - Windkraft contra Artenschutz?1 Von Volker Kuhnert

I . Einführung Das Aufeinandertreffen von Windkraft und Artenschutz ist im Rahmen der Errichtung von Windkraftanlagen (WKA) immer häufiger anzutreffen. Bei der Vielzahl der Fallgestaltungen erschien mir diese Fragestellung im Hinblick auf regionalplanerische Vorranggebiete besonders interessant. Diese werden mit Blick auf den Landesentwicklungsplan 20042 (LEP) künftig eine noch größere Rolle als bisher spielen. Wurden bisher nur in der Planungsregion Nordthüringen Vorranggebiete „Windenergie" mit Eignungswirkung ausgewiesen, so sind nach dem LEP auch in den übrigen Regionalplänen Vorranggebiete mit der Wirkung von Eignungsgebieten auszuweisen.3 Je nach Anzahl der aufzustellenden W K A wird das Vorhaben nach Bau- oder Immissionsschutzrecht zu beurteilen sein.4

1 Der Vortrag wurde während der Speyerer Planungsrechtstage vom 7. bis 11. März 2005 gehalten und gibt die persönliche Meinung des Verfassers wieder. 2 Herausgegeben von: Thüringer Ministerium für Bau und Verkehr, Abt. Städte- und Wohnungsbau, Raumordnung und Landesplanung, Erfurt. 3 LEP 2004, Ziel 4.2.8. 4 In dem viel beachteten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Thema Windfarm vom 30.6.2004 (Az.: 4 C 9.03) hatte das Gericht die Kriterien definiert, unter denen eine „Windfarm" i.S.v. Nr. 1.6 der Anlage 1 zum UVP-Gesetz sowie von Nr. 1.6 des Anhangs zur 4.BImSchV zu verstehen ist. Danach ist eine Windfarm dadurch gekennzeichnet, dass sie aus mindestens drei Windkraftanlagen besteht, die einander räumlich so zugeordnet sind, dass sich ihre Einwirkungsbereiche überschneiden oder wenigstens berühren. Unabhängig von der Zahl der Betreiber ist nach diesem Urteil des BVerwG ein immissionschutzrechtliches Genehmigungsverfahren durchzufuhren, sobald die für eine Windfarm maßgebliche Zahl von 3 WKA erreicht oder überschritten wird.

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In einem immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren hat die zuständige Behörde gem. § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG zu prüfen, ob andere öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegen stehen, die von der Konzentrationswirkung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung nach § 13 BImSchG erfasst werden. Die baurechtliche Zulassung von Einzelanlagen in den Planungsregionen, die über Vorranggebiete mit Ausschlusswirkung verfügen, wie z. B. in der Regionalen Planungsgemeinschaft Nordthüringen, oder in den Planungsregionen, in denen nach dem im LEP zum Ausdruck gebrachten Willen Vorranggebiete etabliert werden müssen, wird perspektivisch eine immer geringer werdende Rolle spielen. Bei der Aufstellung des Regionalen Raumordnungsplanes (RROP) werden u. a. die Belange des Naturschutzes eingestellt und entsprechend berücksichtigt. Dazu gehören insbesondere auch die Belange des Artenschutzes. Soll ein Vorranggebiet für die Windkraftnutzung ausgewiesen werden, ist u. a. zu prüfen, ob dies Auswirkungen auf besonders bzw. streng geschützte Tierarten haben kann. Ergeben die fachlichen Ermittlungen keine negativen Auswirkungen auf vorhandene Arten, stehen dem Beschluss über den RROP und dessen Vorranggebiete sowie der Verbindlicherklärung des Raumordnungsplanes aus Sicht des Naturschutzes keine Hindernisse mehr im Wege. Stellt sich hingegen im Rahmen der Ermittlungen bei der Regionalplanung eine negative Beeinflussung von artenschutzrechtlichen Belangen durch die geplante Ausweisung eines Vorranggebietes für die Windkraftnutzung heraus, wird diese raumordnerische Planung unzulässig. Hieraus wiederum folgt, dass jede weitere Abwägung ausscheidet und z. B. im Falle einer FFH-Unverträglichkeit der betroffene Habitatschutz nicht hintangestellt werden darf. 5 Fraglich ist nun, ob und wie sich Artenschutzfragen in einem Vorranggebiet mit Eignungswirkung für die Windenergienutzung nachträglich auswirken können. Zu denken ist hier an den Fall, dass sich besonders und streng geschützte faunistische Arten in diesem Vorranggebiet ansiedeln, wodurch sich ein unvorhersehbarer Konflikt mit der Windkraftnutzung ergibt. In Ermangelung eines bestandskräftig abgeschlossenen Beispielsfalles beschränke ich meinen Bericht auf praxisrelevante Aspekte aus Thüringer Sicht.

5 Erbguth, Wirkungen von FFH- bzw. Vogelschutzgebieten auf räumliche Planung, NuR 2000, 130, 133.

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II. Raumordnungsrechtliche Aspekte Kommen wir zunächst zur raumordnungsrechtlichen Seite. Vorranggebiete für Windkraftnutzung finden sich in allen vier Thüringer Planungsregionen. Dieses sind die Regionen der Planungsgemeinschaften Nord, Südwest, Mitte und Ost.

1. Vorranggebiete für Windenergienutzung Gemäß der Legaldefinition des § 7 Abs. 4 Ziffer 1 ROG, auf die § 11 Abs. 2 S. 3 ThürLPIG verweist, ist unter einem Vorranggebiet ein Gebiet zu verstehen, das für bestimmte, raumbedeutsame Funktionen oder Nutzungen vorgesehen ist und in dem andere raumbedeutsame Nutzungen ausgeschlossen sind, soweit diese mit den vorrangigen Funktionen, Nutzungen oder Zielen der Raumordnung nicht vereinbar sind. Vorranggebiete mit der Wirkung von Eignungsgebieten im Sinne der Ziffer 3 der genannten Vorschrift finden sich nur im Bereich der Regionalen Planungsgemeinschaft Nordthüringen. Der derzeit gültige RROP Nordthüringen 6 aus dem Jahre 1999 sieht vor, dass in den im Einzelnen genannten und zeichnerisch in den entsprechenden Karten festgelegten Vorranggebieten die Belange der Windenergienutzung Vorrang vor anderen raumbedeutsamen Nutzungen haben. Er stellt weiterhin fest, dass Vorranggebiete zur Nutzung der Windenergie zugleich die Wirkung von Eignungsgebieten haben.7 Nach der Fortschreibung der übrigen RROP soll dies nach dem LEP künftig auch in den anderen Planungsregionen der Fall sein. Die Vorranggebiete mit Eignungswirkung für die Windkraftnutzung haben gem. § 7 Abs. 4 S. 2, S. 1 Nr. 1 und 3 ROG nach ganz h. M. und Thüringer Erlasslage8 Zielqualität i. S. v. § 3 Ziffer 2 ROG. Sie sind auch vor dem Hintergrund von Natur- und Artenschutzbelangen abschließend abgewogen worden und entfalten gem. § 11 Thüringer Landesplanungsgesetz und § 4 ROG Bindungswirkungen. Von der oberen Immissionsschutzbehörde als der zuständigen Genehmigungsbehörde für Windparks mit mehr als zwei Windkraftanlagen

6

Veröffentlicht als Sonderdruck Nr. 1 / 1999 des Thüringer Staatsanzeigers. Ziffer 10.2.4.3 des RROP Nordthüringen. 8 Der Erlass „Planungs- und naturschutzrechtliche Beurteilung von Windenergieanlagen4', Gemeinsame Bekanntmachung des Ministeriums für Wirtschaft und Infrastruktur und des Ministeriums für Landwirtschaft, Naturschutz und Umwelt v. 10.1.1997, veröffentlicht in: Thüringer Staatsanzeiger Nr. 7 / 1997, S. 356, sieht bereits in einem Vorranggebiet für die Windenergienutzung ohne Eignungswirkung ein Ziel der Raumordnung. 7

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sind die Vorranggebiete mit Eignungswirkung bei der Abarbeitung der jeweiligen Anträge als Ziele der Raumordnung zu beachten.

2. Einbeziehung von Artenschutzfragen bei der Fortschreibung der Regionalen Raumordnungspläne Zum Erreichen der Zielqualität ist es nach der Rspr. des BVerwG vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gebots der Verhältnismäßigkeit erforderlich, dass bei der Festlegung der Vorranggebiete mit Eignungswirkung das Gebot einer gerechten Abwägung beachtet wurde. 9 Bei Kenntnis der Ansiedlung von besonders und streng geschützten Arten sind deren Belange in die Abwägung einzubeziehen und dürfen weder verkannt, noch ignoriert werden, worin ein Abwägungsfehler läge. 10 Daher sollte der Träger der Regionalplanung bei der Fortschreibung des Regionalplanes im Falle der Kenntnis von artenschutzrechtlichen Konfliktlagen diese ausreichend prüfen und würdigen, da andernfalls die damit einhergehenden Probleme nur in das Genehmigungsverfahren verlagert würden. Aus der in § 1 Abs. 1 S. 1 ROG allgemein formulierten Aufgabenbeschreibung der Raumordnung lässt sich das Recht und die Pflicht entnehmen, absehbare Nutzungskonflikte z. B. zwischen raumbedeutsamen Planungen wie der Errichtung von Windkraftanlagen und dem Artenschutz zum Ausgleich zu bringen. Dabei dürfen einzelne Nutzungsformen nicht generell unangemessen eingeschränkt werden, insbesondere dann nicht, wenn - wie im Falle der Windkraft - diese Nutzung durch § 35 Abs. 1 BauGB privilegiert ist. 11 Es wird daher zu Recht betont, dass es Aufgabe der Raumplanung ist, absehbare Nutzungskonflikte, die auf der Ebene der Zulassung oder - wie hier der Genehmigung nur im Einzelfall gelöst werden können, bereits auf der Planungsebene zu vermeiden bzw. zum Ausgleich zu bringen. 12 Im Rahmen der gerade angelaufenen Planfortschreibung kann sich möglicherweise die Notwendigkeit ergeben, ein Vorranggebiet zu ändern oder ganz aufzuheben, sofern artenschutzrechtliche Gründe durchschlagen. Im für den Artenschutz günstigsten Fall wird der Träger der Regionalplanung das Vorranggebiet aus Artenschutzgründen im Rahmen der Planfortschreibung verschieben.

9

Vgl. BVerwGE 48, 56; Runkel, in: Bielenberg / Runkel / Spannowsky, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des Bundes und der Länder, Kommentar ROG Bund, § 3 Rn. 58 ff. 10 Runkel , a.a.O., § 3 Rn. 66. 11 Spannowsky / Weick / Gouverneur , Raumordnerische Steuerung der Windenergienutzung im Lichte aktueller Rechtsprechung, UPR 2004, 161, 163. 12 Spannowsky / Weick / Gouverneur , a.a.O., S. 165.

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Der Träger der Regionalplanung wertet im Planfortschreibungsverfahren die Erkenntnisse der Naturschutzverbände und Behörden aus und wird Änderungen nur dann in Erwägung ziehen, wenn sich artenschutzrechtlich hierzu eine Notwendigkeit ergibt. Dieser vorsichtige Umgang mit Planänderungen im Rahmen der Planfortschreibung hängt auch damit zusammen, dass sich hieraus Ersatzund Regressansprüche ergeben können. 13 Geht ein Raumordnungsverfahren dem immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren voran, so erleichtert dies die Arbeit der Genehmigungsbehörde erheblich. Hat die Raumordnungsbehörde im Rahmen ihrer landesplanerischen Beurteilung - als Ergebnis des ROV - bereits artenschutzrechtliche Belange ausreichend geprüft und gewürdigt und die in § 23 a Abs. 2 der 9. BImSchV genannten Verfahrensschritte eingehalten, so kann sich die Immissionsschutzbehörde diese Erkenntnisse ohne nochmalige Prüfung zueigen machen. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Raumordnungsverfahren bei der Errichtung von W K A in Vorranggebieten gem. § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 ThürLPIG nicht erforderlich sind, da diese Planung den Zielen der Raumordnung entspricht. In den Planungsregionen, die über keine Vorranggebiete für die Windenergienutzung mit Eignungswirkung verfügen (also Südwest-, Ostund Mittelthüringen), ist außerhalb der bestehenden Vorranggebiete, die allesamt keine Eignungswirkung für die Windkraftnutzung aufweisen, also namentlich in den Vorbehaltsgebieten ein Raumordnungsverfahren durchzuführen. Die Ausweisung des Vorranggebietes mit Eignungswirkung macht vorliegend das Abarbeiten artenschutzrechtlicher Fragen durch die Genehmigungsbehörde nicht entbehrlich.

13

Kommt die Gemeinde nach erfolgter Planänderung ihrer Pflicht nach, ihre Bauleitplanung in Bezug auf die Aufhebung eines Vorranggebietes für Windkraftnutzung entsprechend anzupassen, so können die betroffenen Grundstückseigentümer Ersatzansprüche nach §§39 und 42 BauGB gegen die Gemeinde geltend machen, die sich diese wiederum nach § 16 Abs. 2 ThürLPIG im Wege des Regresses vom Freistaat ersetzen lassen kann. Hierunter fallen Ansprüche des Grundstückseigentümers oder des nutzungsberechtigten WKA-Betreibers auf Ersatz des Vertrauensschadens gem. § 39 BauGB, Entschädigungsansprüche des Grundstückseigentümers gem. § 42 BauGB für erlittene Grundstückswertminderungen oder Entschädigungsansprüche für Eingriffe in die ausgeübte Nutzung. Im letztgenannten Fall wären solche Ansprüche z. B. denkbar in Fällen, in denen eine in einem Vorranggebiet errichtete Windkraftanlage zwar aufgrund der erteilten Baugenehmigung Bestandsschutz genießt, jedoch infolge der Rücknahme des Vorranggebietes notwendige Modernisierungs-, Erweiterungs- oder Ersatzbauten (sog. Repowering) nicht mehr ausgeführt werden dürften und der Betrieb der Windkraftanlage dadurch seine Wettbewerbsfähigkeit einbüßt.

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Der absolute Vorrang vor konkurrierenden Nutzungen innerhalb eines Vorranggebietes bewirkt, dass diese raumordnerische Letztentscheidung nicht mehr auf der nachfolgenden Planungsstufe abgewogen werden kann. 14 Über die Beachtung dieser raumordnerischen Letztentscheidung hinausgehende Bindungswirkungen entfaltet das Vorranggebiet der Genehmigungsbehörde gegenüber nicht. Die Ausweisung der Vorranggebiete stellt keine Vorwegnahme des anschließenden immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahrens dar.

III. Naturschutzrechtliche Aspekte 1. Schutz besonders und streng geschützter Arten Zunächst ist festzustellen, dass bei einem Konflikt zwischen Artenschutz und Windkraft in erster Linie die Fauna zu betrachten sein wird. Innerhalb des Artenschutzrechts ist vorliegend zwischen dem allgemeinen Artenschutz wild lebender Tiere nach § 41 Abs. 1 BNatSchG i. V. m. Landesrecht und dem besonderen Artenschutzrecht zu unterscheiden. Das besondere Artenschutzrecht, das zunehmend wieder in den Blickpunkt des Interesses rückt, ist Ausprägung der Umsetzung europäischen Naturschutzrechts und hat wie dieses die Funktion, einen wirksamen Schutz besonders bedrohter Tier- und Pflanzenarten sicherzustellen. 15 Welche Arten nun besonders und welche streng geschützt sind, ist auf einen Blick nicht zu erkennen, da das Artenschutzrecht an Unübersichtlichkeit leidet. Die Arten, bei denen es zu Konflikten mit WKA kommen kann, sind v. a. solche gem. Art. 1 Vogelschutzrichtlinie (V-RL) 1 6 und Anhang IV der FFHRichtlinie (FFH-RL). 17 Letztere - also die Arten nach Anhang-IV der FFH-RL - sind sowohl besonders, als auch streng geschützte Arten.

2. Artenschutzrechtliche Verbote am Beispiel Fledermaus Gem. § 42 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG ist es verboten, wild lebenden Tieren der besonders geschützten Arten nachzustellen, sie zu fangen, zu verletzen oder ih-

14 Ingo Schmidt, Wirkung von Raumordnungszielen auf die Zulässigkeit privilegierter Außenbereichsvorhaben, Diss. Münster 1997, S. 77. 15 Gellermann, Artenschutz in der Fachplanung und der kommunalen Bauleitplanung, NuR 2003, 385, 386. 10 Richtlinie 7 9 / 4 0 9 / E W G . 17 Richtlinie 9 2 / 4 3 /EWG.

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re Entwicklungsformen, Nist-, Brut-, Wohn- oder Zufluchtstätten der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören. Einen darüber hinaus gehenden Schutz wild lebender Tiere der streng geschützten Arten bietet § 42 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG, wonach bereits z. B. das Stören dieser Arten durch Aufsuchen oder ähnliche Handlungen verboten ist. Worin nun konkret Handlungen und Störungen nach § 42 BNatSchG liegen können, hängt von der jeweiligen Art ab. Ein Beispiel aus der Praxis ist eine in Thüringen vorkommende nach Anhang IV der FFH-Richtlinie streng geschützte Fledermausart, das Große Mausohr (Myotis myotis). Hinsichtlich der gem. § 42 BNatSchG verbotenen Handlungen und Störungen werden zur Zeit verschiedene Einflussfaktoren von W K A auf Fledermäuse diskutiert. Bei Fledermäusen kommen als mögliche verbotene Handlungen und Störwirkungen in Betracht: -

die Kollision mit Rotorblättern (sog. Fledermausschlag),

-

die Tötung durch Druckeinwirkung oder technische Bauteile sowie

-

die Meidung von Jagdgebieten.

Die Forschung zum Thema Windkraft und Fledermäuse steckt aber noch in den Kinderschuhen, da dieses Thema erst seit wenigen Jahren diskutiert wird. Forschungsbedarf besteht insbesondere zur Frage, welche Auswirkungen Standort, Höhe, Rotordurchmesser, Anzahl und Anordnung der WKA auf Fledermäuse haben. Interessant wäre auch noch die Frage, ob durch Leitpflanzungen Fledermäuse aus dem Gefahrenbereich von WKA gelockt werden können. Solange verlässliche und wissenschaftlich haltbare Erkenntnisse nicht vorliegen, ist die Arbeit der mit diesen Fragen befassten Genehmigungsbehörde erheblich erschwert. Im Idealfall wird der potentielle Anlagenbetreiber von sich aus bestrebt sein, durch anlage- und betriebsbedingte Vermeidungsmaßnahmen zu einer pragmatischen Lösung zu kommen. Hierunter können z.B. fallen: 1 8 -

die Verwendung gleich hoher Anlagen in einem Windpark,

-

der Verzicht auf Leuchtbefeuerung, 19

-

die Verwendung von W K A mit geringer Abwärme,

18

Vgl. Kusenbach, Integration fledermauskundlicher Fachbeiträge in den Planungsablauf von UVP-pflichtigen Vorhaben, Diplomarbeit an der FH Erfurt, Juli 2004, S. 12 ff. (nicht veröffentlicht). 19 Hierzu ist allerdings anzumerken, dass diese Maßnahme praktisch wenig relevant ist, da die Leuchtbefeuerung bei Anlagen ab einer Höhe von 100 m vorgeschrieben ist und die Anlagenhöhen der in Thüringen gegenwärtig genehmigten WKA sich im Bereich von etwa 130 bis 150 m bewegen.

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-

der fledermaussichere Verschluss aller Öffnungen,

-

die Freihaltung zuggünstiger Kuppen und Flusstäler in Gebieten mit Fledermauszug,

-

die lineare Anordnung der W K A in der Richtung von Flug- und Zugstraßen zur Vermeidung von Barriereeffekten sowie

-

die ausreichende Abstandshaltung von fledermaussensiblen Bereichen.

Welche der Vermeidungsmaßnahmen zielführend ist, hängt von der jeweiligen Art ab.

3. Der Absichtsbegriff des § 43 Abs. 4 BNatSchG als Scheideweg § 43 Abs. 4 BNatSchG stellt bestimmte Handlungen von den Beeinträchtigungsverboten des § 42 BNatSchG frei, dies aber nur wenn - um bei der Fauna zu bleiben - die besonders geschützten Tiere nicht absichtlich beeinträchtigt werden. Dreh- und Angelpunkt der Vorschrift ist also der Absichtsbegriff des § 43 Abs. 4 BNatSchG. Die Diskussion hierzu wird sehr kontrovers geführt. Ausgangspunkt der Diskussion ist das Urteil des EuGH vom 30. Ol. 2002 20 zur Meeresschildkröte Caretta caretta. In diesem Urteil stellt der EuGH hinsichtlich der Absicht des Handelns nicht darauf ab, ob ein bestimmter Erfolg hier die Störung der Caretta caretta - angestrebt wird, sondern lässt es für die Annahme der Absicht genügen, dass der Handelnde weiß, dass an dem Platz, an dem er störende Handlungen unternimmt, geschützte Arten vorkommen. Absicht liegt also bereits dann vor, wenn Kenntnis vom Vorhandensein einer (besonders) geschützten Art besteht. Ein Störungserfolg muss nicht angestrebt sein. Auch der VGH Kassel hat sich der Caretta-Rechtsprechung des EuGH angeschlossen.21 Schließlich scheint auch der Bund in der Diskussion zur Zeit der Auffassung zu sein, dass der Absichtsbegriff der FFH-RL (und der V-RL) von deutschen Gerichten und Behörden nicht autonom, sondern grundsätzlich in der durch den EuGH im Caretta-Urteil demonstrierten Weise auszulegen ist. Demgegenüber verstehen die bisher h. M. im Schrifttum und auch das BVerwG 2 2 unter Absicht nur die gezielte Beeinträchtigung von Tieren (und Pflanzen), nicht jedoch Beeinträchtigungen, die sich als unausweichliche Konsequenz rechtmäßigen Handelns ergeben.

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EuGH, Rechtssache 103 / 00. VGH Kassel, Urt vom 24.11.2003 - 3 N 1080/03 - , NuR 2004, 393, und Urt. vom 25.2.2004 - 3 N 1699 / 03 - , NuR 2004, 397. 22 Vgl. z. B.: BVerwG, Urt. vom 11.1.2001 - 4 C 6.00 - , NuR 2001, 385, 387. 21

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Für die Praxis bestehen nun Unsicherheiten. Folgt man der Rspr. des BVerwG und der bisherigen Mehrheit im Schrifttum, so können artenschutzrechtliche Belange im Rahmen der Eingriffsregelung abgearbeitet werden. Legt die Behörde den Absichtsbegriff im Sinne der Rspr. des EuGH aus, wird es in der vorliegenden Fallgestaltung für den Antragsteller erforderlich sein, eine Befreiung nach § 62 BNatSchG zu erwirken. Es stellt sich vor allem die Frage, ob die Rspr. des BVerwG vor dem Hintergrund des Caretta-Urteils noch haltbar ist. Der bisher h. M. ist mit Gellermann23 das Gebot einer gemeinschaftskonformen Auslegung von nationalem Artenschutzrecht entgegenzuhalten. Nach Art. 12 FFH-RL ist es den Mitgliedsstaaten aufgegeben, ein strenges Schutzsystem einzuführen, das hinsichtlich der Anhang IV-Arten (also z. B. auch unserer Myotis myotis) u. a. das Töten und Stören dieser Arten verbietet. Nach Art. 16 FFH-RL sind Abweichungen unter bestimmten Voraussetzungen vorzusehen. In dieser Vorschrift findet sich jedoch keine, die dem § 43 Abs. 4 BNatSchG auch nur annähernd ähnelte. Eine allgemeine Freistellungsmöglichkeit sieht das europäische Artenschutzrecht nicht vor. Im Übrigen findet sich dort auch nicht die Möglichkeit einer Kompensation. Zudem übersieht die bisher h. M. einen Aspekt, den Gassner aufgreift. 24 Während die h. M. aus § 43 Abs. 4 BNatSchG herausliest, dass Artenschutzfragen im Rahmen der Eingriffsregelung abgearbeitet werden können, weist Gassner m. E. zutreffend daraufhin, dass § 43 Abs. 4 BNatSchG keine Anforderungen an die Eingriffsregelung stellt, sondern vielmehr gerade voraussetzt, dass ein bereits zugelassener Eingriff vorliegt. Hierfür spricht bereits der Wortlaut des § 43 Abs. 4 BNatSchG. Dieser bezieht sich nicht auf die Zulassung des Eingriffs, sondern auf den tatsächlichen Akt seiner Ausführung. Folgt man der Ansicht, dass die Verbote des § 42 Abs. 1 BNatSchG strikt gelten, bleibt nur die Möglichkeit der Befreiung nach § 62 BNatSchG. 4. Die artenschutzrechtliche Befreiung gem. § 62 BNatSchG Der § 62 BNatSchG nennt drei Befreiungsgründe. Zunächst kann eine Befreiung erteilt werden, wenn eine nicht beabsichtigte Härte vorliegt und die Abweichung mit den Belangen von Naturschutz und Landschaftspflege vereinbar ist (siehe § 62 Abs. 1 Nr. la BNatSchG). Der Umstand allein, dass die

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Gellermann , Artenschutz in der Fachplanung und der kommunalen Bauleitplanung, NuR 2003,385,387. 24 Gassner , Die Zulassung von Eingriffen trotz artenschutzrechtlicher Verbote, NuR 2004, 560, 562.

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W K A in einem Gebiet errichtet werden sollen, das als Vorranggebiet für die Windenergienutzung ausgewiesen ist, dürfte nicht ausreichen, um einen Einzelfall mit atypischem Sachverhalt bejahen zu können. Das wirtschaftliche Interesse des WKA-Betreibers reicht ebenfalls nicht aus, einen atypischen Einzelfall zu konstruieren, da die ihn in wirtschaftlicher Hinsicht treffende Härte gerade typisch für artenschutzrechtliche Verbote ist. Diese Befreiungsmöglichkeit wird eher nicht einschlägig sein. Nicht einschlägig ist vorliegend die Befreiungsmöglichkeit des § 62 Abs. 1 Nr. 1 b BNatSchG. Danach kann eine Befreiung erteilt werden, wenn ohne die Befreiung eine nicht gewollte Beeinträchtigung von Natur und Landschaft eintreten würde. Schließlich kann gem. § 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BNatSchG eine Befreiung erteilt werden, wenn überwiegende Gründe des Gemeinwohls die Befreiung erfordern. Dabei kommt nach Ansicht des OVG Weimar jedes öffentliche Interesse in Betracht. 25 Hier scheiden zunächst ohne Weiteres die privatwirtschaftlichen Interessen des WKA-Betreibers aus. Die öffentlichen Interessen müssen darüber hinaus auch überwiegen. Dabei bedeutet überwiegen, dass die Gründe des Gemeinwohls im Einzelfall so gewichtig sind, dass sie sich gegenüber artenschutzrechtlichen Belangen durchsetzen. Diese Feststellung wiederum ist im Wege der Abwägung im Einzelfall zu ermitteln. 26 Im Rahmen der Abwägung ist auch die Erforderlichkeit der Befreiung zu prüfen. Dabei reicht bloße Nützlichkeit nicht aus. Die Befreiung muss vielmehr vernünftigerweise geboten sein. 27 Es ist nun fraglich, ob die in § 1 Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) formulierten Gemeinwohlbelange des Klima- und Umweltschutzes i. S. v. § 62 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG überwiegen. Dies wird in aller Regel nicht der Fall sein. Kumulativ zu den Voraussetzungen des § 62 BNatSchG dürfen die in dessen Abs. 1 genannten europarechtlichen Vorschriften der FFH-RL (bzw. der V-RL) nicht entgegenstehen. Aus der europarechtlichen Prämisse des Art. 16 FFH-RL „dass es keine andere zufriedenstellende Lösung gibt" wird abgeleitet, dass Alternativen zu prüfen sind. Finden sich zumutbare Alternativen, entfällt die Erforderlichkeit der Befreiung. 28 Die Befreiungsmöglichkeit des § 62 BNatSchG stellt somit hohe Hürden auf, die zu überwinden für den potentiellen WKA-Betreiber schwierig sein dürften. 25 OVG Weimar, Urt. vom 06.06.1997 - 1 KO 570 / 94 - veröffentlicht in: Beilage zum ThStAnz Nr. 10 / 1997, S. 118, 124. 26 OVG Weimar (Fn. 25) m.w.N. 27 OVG Koblenz, Urt. vom 11.02.2000 - 8 A 10321 / 99 - , NuR 2000, 522. 28 Schumacher / Fischer-Hüftle, BNatSchG, Kommentar, § 62 Rn. 21, 19.

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I V . Ergebnis Die Ansiedlung von besonders und streng geschützten Arten in Vorranggebieten für die Windenergienutzung stellt sowohl für den Träger der Regionalplanung als auch für die immissionsschutzrechtliche Genehmigungsbehörde in rechtlicher und fachlicher Hinsicht mitunter eine Herausforderung dar. Fehlende oder noch unzureichende wissenschaftliche Erkenntnisse im Bereich Artenschutz erschweren die Arbeit. Gerade weil sich im begründeten Einzelfall der Konflikt zwischen Windkraftnutzung und Artenschutzbelangen trotz Bestehen eines Vorranggebietes nicht immer vermeiden lässt, hat der Träger der Regionalplanung bei der Fortschreibung der Regionalpläne eine besondere Verantwortung. Er ist aufgerufen absehbare Konflikte sorgfältig zu bewerten und erforderlichenfalls umzuplanen. Will ein potentieller WKA-Betreiber in Kenntnis des Vorkommens einer besonders und streng geschützten Art sein Vorhaben realisieren, wird er auf die Befreiung nach § 62 BNatSchG verwiesen werden müssen. Dieses für die Windkraft unbefriedigende Ergebnis sollte sowohl Windkraftbetreiber als auch damit befasste Behörden für einen ernsthaften Umgang mit artenschutzrechtlichen Fragen sensibilisieren.

Alternativenprüfung aus fachplanungsrechtlicher und FFH-Sicht Von Nikolaus Herrmann

Alternative, das ist dem Wortsinn nach immer die andere Möglichkeit im Vergleich mit der Planung, die konkret zur Entscheidung ansteht. Dass die andere auch die bessere Möglichkeit sein soll - dieses Argument durchzieht inzwischen so gut wie alle gerichtlichen und auch vorgerichtlichen Auseinandersetzungen über größere Vorhaben, insbesondere über größere Infrastrukturvorhaben. Damit ist auch schon der Rahmen der folgenden Untersuchung gezeichnet: Einer kurzen sprachlichen Analyse des Begriffs (I.) folgt eine rechtliche Einordnung (II.). Der Schwerpunkt liegt dabei im Fachplanungsrecht und im europäischen Naturschutzrecht. In beiden Rechtsgebieten spielt die Prüfung von Alternativen eine wesentliche Rolle. Dennoch bestehen ganz erhebliche, auch rechtssystematische Unterschiede. Diese Unterschiede bedürfen einer eingehenden Analyse (III.). Für den praktischen Umgang mit Alternativenprüfungen muss schließlich die Frage beantwortet werden, welcher Prüfungsumfang eigentlich rechtlich gefordert wird, was also im Rechtssinne eine Alternative ausmacht (IV.). Denn nicht jede andere Planungsmöglichkeit ist auch eine „Alternative" im Rechtssinne: Zu große und zu geringe Abweichungen von dem im Streit befindlichen Projekt fallen aus dem Anwendungsbereich der fachplanungsrechtlichen und der FFH-rechtlichen Alternativenprüfung heraus.

I . Alternativenbegriff Im Ablauf eines Planungsprozesses geht es zunächst - im eigentlichen Wortsinne - überhaupt nicht um „ A l t e r n a t i v e n " , also um die Auswahl der einen oder der anderen von zwei Möglichkeiten. Planungsprozesse umfassen begriffsnotwendig die Auswahl zwischen einer ganzen Reihe von Möglichkeiten. So führt das Bundesverwaltungsgericht in seiner Leitentscheidung zum Fachplanungsrecht, dem B42-Urteil, aus, „daß die Befugnis zur Planung [...] einen mehr oder weniger ausgedehnten Spielraum an Gestaltungsfreiheit einschließt und ein-

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schließen muß, weil Planung ohne Gestaltungsfreiheit ein Widerspruch in sich wäre". 1 Aufgrund dieser prinzipiellen Offenheit von Planungsprozessen wird dann auch - sprachlich zutreffend - in der Planungspraxis namentlich der Straßenplanung für die unterschiedlichen Möglichkeiten der Projektverwirklichung der Begriff der Variante - und eben nicht der der Alternative - verwandt. In der „juristischen Umgangssprache" hat sich dennoch der Begriff der Alternativenprüfung auch dort eingebürgert, wo noch eine Mehrzahl von Varianten zur Auswahl steht. Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Verwendung des Begriffs der Alternative allerdings dann als gerechtfertigt, wenn man nicht den Planungsprozess, sondern das Rechtsschutzverfahren betrachtet. Im Laufe des Planungsprozesses findet nämlich ein Perspektivenwechsel statt: Zu Beginn ist die Projektgestaltung für den Planer noch recht offen und insbesondere durch die Planungsziele determiniert. Im weiteren Verlauf wird dann aber der Planfeststellungsbehörde ein bestimmter Antrag vorgelegt - immerhin aber wird der Behörde ein „eigener Gestaltungsspielraum" zugestanden, der sich allerdings in der Praxis auf ein „abwägendes Nachvollziehen" des vorgelegten Planes beschränkt. Dennoch kann die Behörde - durchaus auch gegen den Willen des Vorhabenträgers - in begrenztem Umfang Änderungen durchsetzen.2 Im Gerichtsverfahren schließlich steht eine konkrete Zulassungsentscheidung im Streit, der eine „andere" Planung entgegengehalten wird. Im Gerichtsverfahren also geht es um Alternativen im eigentlichen Sinn des Wortes. Allerdings ist keineswegs eine umfassende Aiternativenprüfung in dem Sinne geboten, dass das Gericht die jeweils „günstigste" Vorhabensalternative zu ermitteln hätte.3 Es stellt sich vielmehr lediglich die Frage, ob die streitgegenständliche Zulassungsentscheidung deshalb ganz oder teilweise rechtswidrig ist, weil stattdessen eine andere Entscheidung hätte getroffen, mithin eine Alternative hätte gewählt werden müssen.

I I . Rechtliche Einordnung Rechtlich wurde diese Forderung nach einer Betrachtimg von Alternativen im Fachplanungsrecht entwickelt. Das FFH-Recht baut hierauf auf. In seiner Entscheidung über die Verlagerung des Münchener Flughafens in das Erdinger

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BVerwGE 48, 56(59). Vgl. hierzu Kühling / Herrmann, Fachplanungsrecht, 2. Aufl. 2000, Rn. 36 ff. Vgl. nur BVcrwG NVwZ 2004, 1486 (1490).

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Moos im 75. Band4 führt das Bundesverwaltungsgericht dazu aus, es sei „verfehlt oder zumindest mißverständlich, wenn das Berufungsgericht meint, die Planfeststellungsbehörde habe den beantragten Standort im Hinblick auf einen Alternativstandort nur dann zu verwerfen, wenn sich ihr dieser als ,eindeutig besser geeignet' aufdrängen müsse. Für die von der Planfeststellungsbehörde vorzunehmende Abwägung der einzustellenden Belange kommt es" - so das Gericht weiter - „stets darauf an, rechtsmindernde Eingriffe nach Möglichkeit zu vermeiden." Dabei könne es „zu rechtlich erheblichen Fehlgewichtungen bereits dann kommen, wenn die Behörde die Bedeutung der (objektiv) betroffenen öffentlichen und privaten Belange in einer Weise vorgenommen hat, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht (...). Wenn die Planfeststellungsbehörde infolge einer derartigen Fehlgewichtung die Vorzugswürdigkeit eines anderen Standortes verkennt, handelt sie rechtswidrig." Hierfür werde „nicht vorausgesetzt, daß sich der Behörde ein anderer Standort als o f fensichtlich' besser geeignet aufdrängen mußte". Auch wenn die Formulierungen sich zwischenzeitlich geändert haben und nunmehr doch die Begriffe „aufdrängen" und „eindeutig vorzugswürdig" im Zentrum stehen - am Ansatzpunkt hält das BVerwG in beständiger Rechtsprechung fest: Die Alternativenprüfung ist eine Frage des fachplanerischen Abwägungsgebots. Dabei geht es keineswegs nur um Standortalternativen wie für den Münchener Flughafen oder um andere räumliche Alternativen wie die Trassenführung von Straßen - auch technische und sogar konzeptionelle Alternativen werden durch das Abwägungsgebot erfasst. 5 Das Naturschutzrecht, soweit es auf der europäischen Flora-Fauna-HabitatRichtlinie 6 basiert, stellt hingegen einen gänzlich anderen Zusammenhang her. Das Gebot einer Alternativenprüfung ist keine Entwicklung des Richterrechts, sondern ergibt sich unmittelbar aus den normativen Vorgaben des Art. 6 Abs. 4 Satz 1 FFH-Richtlinie und des entsprechenden deutschen Umsetzungsrechts in § 34 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG. Die Funktion der Alternativenprüfung scheint danach aus der Sicht des gerichtlichen Überprüfungsverfahrens identisch: Auch hier geht es zwar um die eine Alternativlösung, die ein konkretes Vorhaben rechtswidrig werden lässt. Doch sind die tatbestandlichen Voraussetzungen eher schlicht: Die Rechtswidrigkeit der Zulassung eines ein FFH-Gebiet beeinträchtigenden, aber aus zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses notwendi-

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BVerwGE 75, 214 (237). Vgl. hierzu auch Groß, Die Alternativenprüfung in der Umweltverträglichkeitsprüfung, NVwZ 2001,513 (516). 6 Richtlinie 92 / 43 / EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, Amtsblatt Nr. L 206 vom 22.7.1992, S. 7. 5

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gen Vorhabens knüpft nach dem Wortlaut der Regelungen einzig an die Existenz auch nur einer einzigen weniger belastenden Alternativlösung. 7 Im Vordergrund der FFH-rechtlichen Alternativenprüfung steht daher nicht die Frage, wann eine Alternative gegenüber dem planfestgestellten Vorhaben derart vorzugswürdig ist, dass sie dieses Vorhaben rechtswidrig werden lässt. Vielmehr geht es in erster Linie darum, wann eine solche Alternative überhaupt gegeben ist: Das deutsche Umsetzungsrecht führt hier - ebenso wie die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - den Begriff der Zumutbarkeit ein.8 Neben FFH-Recht und Fachplanungsrecht kommt - in begrenztem Umfang auch die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung als Ansatzpunkt für eine Pflicht zur Alternativenprüfung in Betracht. Insbesondere lassen sich Bestimmungen im Landesnaturschutzrecht, die als Zulässigkeitsvoraussetzung für Eingriffe vorsehen, dass der Eingriff nicht „an einer anderen Stelle mit geringeren Beeinträchtigungen durchgeführt werden kann", 9 in diesem Sinne verstehen. 10 Soweit allerdings ein Vorhaben einer fachplanerischen Abwägung bedarf, tritt die Eingriffsregelung insoweit hinter das fachplanerische Abwägungsgebot zurück. 11 Darüber hinaus verlangt das deutsche Recht derzeit keine Alternativenprüfung. Ausdrücklich hat dies das Bundesverwaltungsgericht für das Baugenehmigungsverfahren bestätigt.12 Entsprechendes dürfte auch für alle anderen gebundenen Zulassungsentscheidungen, namentlich für die immissionsschutzrechtliche Genehmigung gelten, und zwar auch dann, wenn das entsprechende Vorhaben einer Umweltverträglichkeitsprüfung bedarf. Denn im Rahmen der vorhabenbezogenen Umweltverträglichkeitsprüfung verlangt das UVP-Gesetz nur, dass der Vorhabenträger seinen Unterlagen eine „Übersicht über die wich7 Vgl. auch Hoppe, Rechtliche Überlegungen zur Alternativenprüfung nach Art. 6 Abs. 4 S. 1 FFH-Richtlinie, § 19c Abs. 3 Nr. 2 Bundesnaturschutzgesetz, UPR 1999, 426 (427); Hösch, Die FFH-Verträglichkeitsprüfung im System der Planfeststellung, NuR 2004, 210 (215); Ramsauer, Die Ausnahmeregelungen des Art. 6 Abs. 4 der FFHRichtlinie, NuR 2000, 601 (606 f.); Beckmann /Lambrecht, Verträglichkeitsprüfung und Ausnahmeregelung nach § 19c BNatSchG, ZUR 2000, 1 (7). 8

Dazu näher unten Abschnitt 4. So § 6a Abs. 1 Nr.l Hessisches Naturschutzgesetz. 10 In diesem Sinne Groß (Fn. 5), 517 f.; a.A. Hösch (Fn. 7), 214; Kuschnerus, Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung, NVwZ 1996, 235 (239); anders aufgrund der Eingriffsregelung im BNatSchG (a. F.) BVerwGE 104, 144. Im Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der FFH-Richtlinie durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes (vom 30.4.1998, BGBl. I S. 823) hatte Bayern im Bundesrat einen Änderungsantrag eingebracht, der der nunmehrigen hessischen Regelung entspricht (BR-Drs. 421 / 8 / 97); dieser Antrag ist nicht Gesetz geworden. 11 Wie im Übrigen auch hinter sonstige fachrechtliche Zulässigkeitsmaßstäbe, so BVerwGE 104, 144 (Leitsatz 1). 12 BVerwG NVwZ-RR 1998, 357 (Leitsatz 4). 9

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tigsten, vom Träger des Vorhabens geprüften anderweitigen Lösungsmöglichkeiten und Angabe der wesentlichen Auswahlgründe im Hinblick auf die Umweltauswirkungen des Vorhabens" beizufügen hat. Das Gesetz stellt aber keine Anforderungen auf, inwieweit der Vorhabenträger zu einer solchen Prüfung verpflichtet ist. 13 Offen ist bislang jedoch, welche rechtliche Bedeutung die unter der Plan-UPRichtlinie 14 geregelte Alternativenbetrachtung gewinnen wird. 15 Denn in dem danach für Pläne und Programme erforderlichen Umweltbericht müssen auch „vernünftige Alternativen, die die Ziele und den geographischen Anwendungsbereich des Plans oder Programms berücksichtigen, ermittelt, beschrieben und bewertet (!)" werden. 16 Ihren Ort werden derartige Bewertungen von Alternativen voraussichtlich (mit jeweils planungsspezifischer Tiefe) im Rahmen des Abwägungsgebots finden.

III. Unterschiede zwischen Fachplanungsrecht und FFH-Recht Auch wenn damit das Thema einer Alternativenprüfung im gerichtlichen Verfahren recht klar umrissen ist, bestehen bei genauerer Betrachtung doch erhebliche rechtliche Unterschiede zwischen FFH- und Fachplanungsrecht. Der wesentliche Unterschied ergibt sich aus der Zuordnung der fachplanungsrechtlichen Alternativenprüfung zum Abwägungsgebot, während andererseits das Bundesverwaltungsgericht schon recht früh, nämlich in seiner Entscheidung zur Ortsumgehung Hildesheim, 17 die FFH-Alternativenprüfung aus dem Abwägungsgebot ausgegrenzt hat. Der Wortlaut der Richtlinie und des deutschen Umsetzungsrechts ist insoweit durchaus eindeutig. Die Vorschriften des FFH-Rechts zur Alternativenprüfung haben damit - fachplanungsrechtlich gewendet - die Funktion einer gesetzlichen Regelung, die den Abwägungsspielraum begrenzt: 18 Sie sind den zwingenden Vorgaben für die Fachplanung zuzu13

BVerwGE 101, 166; s. auch Groß (Fn. 5), 515 f.; Hoppe (Fn. 7), 427. Richtlinie 2001 / 42 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, Abi. Nr. L 197 S. 30. 15 Vgl. z. B. Siems, Alternativenprüfungen durch die neue Strategische UVP: Auf dem Weg zur UVP amerikanischen Maßstabes?, EurUP 2005, 27; Ramsauer, Umweltprobleme in der Flughafenplanung - Verfahrensrechtliche Fragen, NVwZ 2004, 1041 (1045). 16 Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2001 / 42 / EG. 17 BVerwGE 110,302. 18 Vgl. Hösch (Fn. 7), 215; Beckmann/Lambrecht (Fn. 7), 6 f. 14

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ordnen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner früheren Rechtsprechung einmal als „Planungsleitsätze" bezeichnet hat. 19 Die normative Struktur des FFH-Rechts ist damit vergleichsweise klar, auch wenn der konkrete Inhalt und Umfang der FFH-Alternativenprüfung noch zu erörtern bleibt. Demgegenüber bietet die fachplanungsrechtliche Alternativenprüfung eine ganze Reihe von Facetten, die auch von ihrer rechtlichen Struktur her eine genauere Betrachtung verdienen. Die Grundlage kann dabei inzwischen als gesichert gelten: Die Rechtsprechung stützt sich im Wesentlichen auf die genannte Flughafen München II Entscheidung,20 wenngleich letztlich doch die dort kritisierten Formulierungen der Vorinstanz verwendet werden: Ein Vorhaben ist dann rechtswidrig, wenn eine Alternative „sich aufdrängt" bzw. „eindeutig vorzugswürdig" ist, allerdings nicht schlechthin, sondern „nach Maßgabe des Abwägungsgebots". Dies hat das Bundesverwaltungsgericht jüngst in seiner Entscheidung zur Ortsumgehung Michendorf zum wiederholten Male bestätigt: „Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind die Grenzen der planerischen Gestaltungsfreiheit bei der Auswahl zwischen verschiedenen Trassenvarianten erst dann überschritten, wenn eine andere als die gewählte Linienführung sich unter Berücksichtigung aller abwägungserheblichen Belange eindeutig als die bessere, weil öffentliche und private Belange insgesamt schonendere darstellen würde, wenn sich mit anderen Worten diese Lösung der Behörde hätte aufdrängen müssen."21 Eine Alternativenprüfung findet dabei - entsprechend der üblichen Terminologie des Fachplanungsrechts - sowohl im Hinblick auf das , Abwägungsergebnis" als auch im Hinblick auf den , Abwägungsvorgang" statt: Das Abwägungsergebnis ist dann betroffen, wenn das planfestgestellte Vorhaben deshalb rechtswidrig ist, weil eine Alternative hätte gewählt werden müssen. Eine Frage des Abwägungsvorgangs hingegen ist es, wenn Alternativen nicht ausreichend untersucht worden sind, so dass gar nicht sicher feststeht, dass nicht vielleicht doch anders hätte geplant werden müssen. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts konzentriert sich dabei fast ausschließlich auf den AbwägungsVorgang. Zwar wird immer wieder betont, dass es durchaus sein könne, dass das planfestgestellte Vorhaben deshalb rechtswidrig ist, weil eine Alternative hätte gewählt werden müssen. Die dann doch recht wenigen Fälle, in denen ein Vorhaben im Angesicht von Planungsal-

19 Ähnlich Hösch (Fn. 7), 215; zur Begriffsentwicklung Kühling / Herrmann (Fn. 2), Rn. 298. 20 BVerwGE 75, 214. 21 BVerwG NVwZ 2004, 1486 (1490).

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ternativen zunächst22 gescheitert ist, stützen sich allerdings nicht so sehr auf die Vorzugswürdigkeit einer konkreten Alternative, sondern vielmehr darauf, dass naheliegende Alternativen nicht in ausreichendem Umfang ermittelt worden sind, so dass über ihre Vorzugswürdigkeit keine hinreichend sichere Entscheidung hat getroffen werden können. Der gebotene Untersuchungsumfang - das sei hier der Vollständigkeit halber vermerkt - erlaubt dabei durchaus ein abgestuftes Vorgehen. Nicht jede denkbare Variante muss in gleicher Tiefe untersucht werden. Die Rechtsprechung vollzieht hier das in der Planungspraxis Übliche und Sinnvolle als rechtmäßig nach: Die Verengung der Auswahlentscheidung im Laufe des Planungsprozesses auf immer weniger Möglichkeiten aufgrund von zunächst recht groben, dann aber immer feiner werdenden Kriterien: „Trassenvarianten, die sich auf der Grundlage einer Grobanalyse als weniger geeignet erweisen, können schon in einem früheren Verfahrensstadium oder auf vorangegangenen Planungsebenen ausgeschieden werden." 23 Letztlich ist diese auch hierin zum Ausdruck kommende Konzentration der Rechtsprechung auf den Abwägungsvorgang durchaus nachvollziehbar. Sie ermöglicht eine gerichtliche Korrektur krasser Fehlentscheidungen, ohne aber dem Planungsträger und der Planfeststellungsbehörde endgültige Vorgaben zu machen. Die Kritik der nicht ausreichenden Untersuchung von Alternativen ist „planungsfreundlicher", ist näher an der Möglichkeit der „Planerhaltung" als die Feststellung der Vorzugswürdigkeit eines anderen Ergebnisses. Präzise Kriterien für die Alternativenprüfung können hieraus aber kaum gewonnen werden. Das Abwägungsgebot selbst bietet nur recht weiche Kriterien für die Rechtmäßigkeit einer konkreten Planung. Die rechtliche Zuordnung der Alternativenprüfung zum Abwägungsgebot einschließlich der deshalb auch im Hinblick auf Planungsalternativen gebotenen umfassenden Bewertung aller betroffenen Belange bietet zwar eine hoch komplexe Entscheidungsstruktur, die ihrerseits aber auf differenzierte Einzelfallentscheidungen ausgerichtet ist. Diese Ausrichtung auf eine Einzelfallbetrachtung wird noch verstärkt durch die Schwerpunktsetzung im Abwägungsvorgang. Angesichts dessen ist es dann auch nicht verwunderlich, wenn die Rechtsprechung im Ergebnis nur in Extremfällen zu einer Bewertung eines Vorhabens als rechtswidrig im Lichte einer Alternative kommt.

22 Wegen der Möglichkeit einer Planergänzung oder eines ergänzenden Verfahrens, vgl. grundlegend BVerwGE 100, 370; siehe auch BVerwGE 112, 140; BVerwG NVwZ 2004, 1486(1496). 23 Vgl. nur BVerwG NVwZ 2004, 1486 (1490, 1492), unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung.

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Zwei dieser Extremfälle haben dann aber auch Anlass zu dem Versuch gegeben, die doch recht weichen Kriterien des Abwägungsgebots durch härtere Kriterien zu ergänzen: Dies ist zum einen eine Entscheidung zur B15 neu, in der das Kriterium der Prüfung einer „Null-Variante" eingeführt worden ist, 24 zum anderen eine Entscheidung zur B173, die den Begriff der „Tabuzone" als Kriterium verwendet. 25 Beide Entscheidungen sind erkennbar von dem Bestreben getragen, absolute Begrenzungen für den planerischen Gestaltungsspielraum zu benennen, Begrenzungen also, die auf keinen Fall überschritten werden dürfen. Besonders deutlich ist dies bei dem Kriterium der Tabuzone, das in Gegenüberstellung zu den Regelungen des FFH-Rechts entwickelt wird: Auch außerhalb des grundsätzlich absoluten Schutzes des FFH-Recht soll es - so die Argumentation - Fälle geben, in denen Gebiete sich als derart schutzwürdig erweisen, dass sie von Fachplanungen nicht beeinträchtigt werden dürfen. Den Weg einer Gleichsetzung derartiger Tabuzonen mit FFH-Gebieten geht das BVerwG dennoch nicht bis zum Ende: Im Wechselspiel von gesetzlichen Grenzen und Abwägung, das das gesamte Planungsrecht quasi als Leitmotiv durchzieht, bildet die Schutzwürdigkeit von Tabuzonen keineswegs eine rechtliche Grenze des planerisch Zulässigen. Das Argument wird lediglich dazu benutzt, besondere Anforderungen an die Abwägung zu fordern. Auch wenn die Wortwahl zunächst anderes zu suggerieren scheint: Damit ist die Figur der Tabuzone nichts Besonderes. Sie dient lediglich - im Rahmen der üblichen planungsrechtlichen Denkfiguren - der Bestimmung des „objektiven" Gewichts der Naturschutzbelange. Denn auch ansonsten bedarf es bei entsprechend hohem Gewicht einzelner Belange besonderer Anforderungen, um diese zu überwinden. Auch die Prüfung der „Null-Variante" ist keineswegs der Generalschlüssel zur Verhinderung von Großvorhaben. Denn die Prüfung der Null-Variante ergänzt ebenfalls nur das Abwägungsgebot um ein Element, das im Rahmen der planerischen Bedarfsprüfung ohnehin eine Rolle spielt. In die planerische Abwägung gehört auch die Frage, „was passiert, wenn nichts passiert", wie also sich die von der Planung betroffenen Belange entwickeln, wenn die Planung nicht verwirklicht wird. 26

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BVerwGE 104, 236; vgl. auch BVerwG NuR 1998, 605. BVerwG NuR 2003, 360 (364); bestätigt in BVerwG NVwZ 2004, 732 (737). 26 Im Ansatz ähnlich Groß (Fn. 5), 517; a.A. Hösch (Fn. 7), 215, der die Prüfung der ,Null-Variante" mit der Frage der Zulässigkeit des Vorhabens gleichsetzt. 25

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IV. Grenzen der Alternativenpröfung Im Hinblick auf den gebotenen Umfang von Alternativenprüfungen nach FFH-Recht und Fachplanungsrecht bedürfen eine Reihe von Fragen der Beantwortung. Zunächst ist dies das Kriterium der Zumutbarkeit im deutschen FFH-Recht. Das Bundesverwaltungsgericht leitet dieses Kriterium in seiner Entscheidung zur Ortsumgehung Hildesheim - durchaus in Übereinstimmung mit dem seinerzeit noch nicht streitgegenständlichen deutschen Umsetzungsrecht - aus dem gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebot her. 27 Der Vorhabenträger darf mithin nicht auf eine Alternative verwiesen werden, die ihm - gemessen an dem erzielbaren Gewinn für Natur und Umwelt - einen unverhältnismäßigen Aufwand aufgibt. Das Kriterium der Zumutbarkeit bildet somit eine Art „obere" Grenze des Gegenstands der Alternativenprüfung. Eine über das Maß des Verhältnismäßigen hinausgehende Möglichkeit der Projektverwirklichung scheidet nach FFH-Recht als zu betrachtende Alternativlösung aus. Bestätigt hat das Bunds Verwaltungsgericht dies in der Entscheidung zur Führung der A44 über das Lichtenauer Hochland. 28 Hier gibt das Gericht eine weitere „obere" Grenze an: Alternativen im Sinne der FFH-Richtlinie sind nur solche Möglichkeiten der Projektverwirklichung, mit der sich das vom Vorhabenträger angestrebte Planungsziel zumindest grundsätzlich verwirklichen lässt. Welche Abstriche von der Zielverwirklichung dem Vorhabenträger damit zugunsten des Schutzes von Natur und Umwelt zugemutet werden können, lässt sich instruktiv am Sachverhalt der A44-Entscheidung beschreiben. Der planfestgestellten Variante wurde eine Trassenführung entgegengehalten, die - gemessen an dem mit dem Bundesfernstraßengesetz in allererster Linie verfolgten Ziel der überregionalen Verkehrserschließung - gleichwertig war, die allerdings im Hinblick auf gleichfalls angestrebte Ziele der Entlastung von Ortsdurchfahrten erhebliche Unterschiede aufwies. Das Bundesverwaltungsgericht führt hier den Begriff des „Ziel-Bündels" ein, und zwar als Entscheidungskriterium für die Frage, ob noch eine Alternative oder schon ein anderes Vorhaben vorliege. 29 Festzuhalten bleibt dabei, dass das Gericht dem Vorhabenträger keine Abstriche

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BVerwGE 110, 302 (310 f.); s. dazu Hösch, Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Natura-2000-Gebieten, NuR 2004, 348 (353); Beckmann /Lambrecht (Fn. 7), 7 f. 28 BVerwGNVwZ 2002, 1243. 29 BVerwG NVwZ 2002, 1243 (1245).

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am Hauptziel - der überregionalen Verkehrserschließung - zumutet, sondern nur an demgegenüber untergeordneten Nebenzielen.30 Noch deutlicher wird dies in einer Entscheidung zur A 73, in der das Bundesverwaltungsgericht der vorgebrachten anderen Planungsmöglichkeit (der sogenannten „intelligenten" Lösung) den Charakter einer Alternativlösung gerade im Hinblick auf die unterschiedliche großräumige Verkehrserschließung abgesprochen hat. 31 Diese zunächst für das FFH-Recht entwickelte Abgrenzung zwischen Alternative und anderem Vorhaben überträgt dann das Gericht ohne weiteres auf die fachplanungsrechtliche Prüfung, interpretiert also den Begriff der Alternative in beiden Rechtsgebieten in gleicher Weise. 32 Damit gewinnen die „oberen" Grenzen des gebotenen Umfangs der Alternativenprüfung recht klare Konturen: •

Der Begriff der Alternative unterscheidet sich nicht im FFH-Recht und im Fachplanungsrecht.



Maßstab für den gebotenen Prüfungsumfang sind die Ziele des Vorhabens. Zu betrachten sind nur solche Möglichkeiten der Projektverwirklichung, die das vom Projektträger verfolgte Hauptziel erreichen können; Abstriche bei untergeordneten Elemente des vom Projektträger verfolgten Zielbündels können diesem zugemutet werden.



Nicht zu betrachten sind aber solche Möglichkeiten der Zielverwirklichung, die gemessen an dem Gewinn für Natur und Landschaft dem Vorhabenträger einen unverhältnismäßigen Aufwand aufgeben.

Demgegenüber sind die Konturen des gebotenen Prüfungsumfangs nach unten hin in der Rechtsprechung nur im Ansatz erkennbar. Eine Art „Erheblichkeitsschwelle" wird, so weit erkennbar, für das Maß der Alternativenprüfung bislang nicht diskutiert. Dennoch lassen sich „untere" Grenzen angeben. Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist die Funktion der Alternativenprüfung im Rechtsschutzverfahren. Gibt es eine - nach FFH-Recht - „zumutbare" oder - nach Fachplanungsrecht - „eindeutig vorzugswürdige", „sich aufdrängende" Alternative, oder fehlt es an einer hinreichenden Untersuchung einer insoweit naheliegenden Alternative, so ist - wie dargestellt - die behördliche Zulassungsent-

30 Anders Hösch (Fn. 7), 216; vgl. auch Fisahn, Zur Alternativenprüfung nach EWGRL 34 / 92 Art. 6 (f), ZUR 2003, 26; zur wechselseitigen Beeinflussung von Zieldefinition und Umfang der Alternativenprüfung Beckmann /Lambrecht (Fn. 7), 7. 31 BVerwG NVwZ 2004, 732 (736). 32 BVerwG NVwZ 2004, 732 (737).

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Scheidung, der Planfeststellungsbeschluss, rechtswidrig. Diese Rechtswidrigkeitsfolge ist von entscheidender Bedeutung. Denn sie gilt nicht im Hinblick auf jegliche gebotene Veränderung des Vorhabens. Dies ist zunächst durch die Rechtsprechung für planungsrechtlich gebotene Schutzauflagen entwickelt worden. Wenn eine Vorhabenplanung, um in vollem Umfang rechtmäßig zu sein, der Ergänzung durch Schutzvorkehrungen bedarf - nach § 74 Abs. 2 Satz 2 und 3 VwVfG bzw. der entsprechenden fachplanungsrechtlichen Regelungen - , dann führt dies nicht zu einem Rechtswidrigkeitsurteil über die gesamte Planung. Prozessrechtlich kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass weder die Anfechtungsklage noch die Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit gegeben sind. Vielmehr sind derartige Änderungen des Vorhabens im Wege der Verpflichtungsklage 33 bzw. Bescheidungsklage34 durchzusetzen. Diese Rechtsprechung zu Schutzvorkehrungen gilt inzwischen gleichermaßen auch für naturschutzrechtliche Vermeidungsmaßnahmen.35 Einige Unklarheit entsteht allerdings dadurch, dass das Bundesverwaltungsgericht die unterschiedliche Gestaltung von naturschutzrechtlichen Vermeidungsmaßnahmen in seiner „Grünbrücken"-Entscheidung zur A l 13 in Berlin 36 als »Alternativen" bezeichnet und mit dem Abwägungsgebot kombiniert. Ähnliches wird auch in der genannten Michendorf-Entscheidung ausgeführt. 37 Diese Verbindung zum Abwägungsgebot darf allerdings keineswegs dazu verleiten, unterschiedliche Möglichkeiten der Projektverwirklichung im Hinblick auf naturschutzrechtliche Vermeidungsmaßnahmen und die fachplanungsrechtlich gebotene Alternativenprüfung in einen Topf zu werfen. Das Abwägungsgebot jedenfalls eignet sich nicht für eine solche undifferenzierte Betrachtung. Klar unterschieden - und zu recht klar unterschieden - wird nämlich zwischen verschiedenen Gestaltungen von Vermeidungsmaßnahmen einerseits und Alternativplanungen andererseits in der Entscheidung zur B6 neu im nördlichen Harzvorland. 38 Eine solche Differenzierung zwischen Gestaltungsmöglichkeiten bei Vermeidungsmaßnahmen und unterschiedlichen Gestaltungen des Vorhabens insgesamt ist auch von der Struktur des Fachplanungsrechts her geboten. In der Abgrenzung zwischen strikten Bindungen und Gestaltungsspielraum, zwischen Grenzen der Abwägung und ihrem Inhalt ist das naturschutzrechtliche Vermeidungsgebot bei Vorhaben des Fachplanungsrechts eine der Abwägung 33

Grundlegend BVerwGE 56, 110 (133). Grundlegend BVerwGE 107, 350 (359). 35 BVerwG NVwZ 2004, 1486 (1496 sowie Leitsatz 4). 36 BVerwG NuR 2002, 353. 37 BVerwG NVwZ 2004, 1486 (Leitsatz 7); vgl. auch BVerwG NVwZ 2004, 986, zu „alternativen Lärmschutzkonzepten", die der nach §41 Abs. 2 BImSchG gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung zugeordnet werden. 38 BVerwG NVwZ 2003, 1120 (Leitsatz 4). 34

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vorgelagerte Grenze, wie auch die Vorschriften über Schutzmaßnahmen Grenzen des Abwägungsspielraums bilden. Die fachplanungsrechtliche Alternativenprüfung ist demgegenüber - wie dargestellt - genau anderer Natur. 39 Dies lässt sich im übrigen in ähnlicher Weise auch auf das Verhältnis von Vermeidungsmaßnahmen und FFH-rechtlicher Alternativenprüfung übertragen: Auch hier sind Maßnahmen, die dazu dienen, eine Beeinträchtigung von FFHGebieten von vornherein auszuschließen, der Alternativenprüfung rechtlich vorgelagert, 40 auch wenn es durchaus höchst unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten für derartige Maßnahmen geben mag. Festzuhalten bleibt daher: Veränderungen eines Vorhabens, die nicht zur Rechtswidrigkeit der Zulassungsentscheidung als solcher führen können, sind nicht unter dem Gesichtspunkt der Alternativenprüfung zu behandeln. Diese Unterscheidung von Änderungen am Vorhaben, die nicht aus der ansonsten bestehenden Rechtswidrigkeit des Vorhabens begründet sind, von dem Gegenstand einer Alternativenprüfung lässt sich schließlich auch noch aus der Sicht der Planfeststellungsbehörde betrachten. Schutzvorkehrungen und naturschutzrechtliche Vermeidungsmaßnahmen kann die Behörde aufgrund eigener Kompetenz festsetzen, ohne dass es dazu einer Umplanung durch den Planungsträger bedürfte. Das ist im Übrigen nichts planungsrechtsspezifisches: Auch im Baugenehmigungsverfahren sind „modifizierende Auflagen" der Behörde von Umplanungen abzugrenzen, die Sache des Vorhabenträgers sind. Die Rechtfertigung für „kleinere" Änderungen ergibt sich hier aus dem Verhältnismäßigkeitsgebot. Ein Rechtswidrigkeitsurteil und damit eine Ablehnung des Antrags ist dann unzulässig, wenn die durch die Planung aufgeworfenen Probleme durch Nebenbestimmungen bewältigt werden können. Gleiches gilt hier, und zwar sowohl für Schutzauflagen als auch für Maßnahmen im Rahmen des „Folgenbewältigungsprogramms" der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung und auch für der FFH-Prüfung vorgelagerte Vermeidungsmaßnahmen. »Alternativen" haben jedoch ein solches Ausmaß, dass sie das Maß dessen überschreiten, was die Behörde im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums praktisch bewältigen könnte. Verfahrensrechtlich betrachtet fallen daher Alternativen aus dem vom Planungsträger vorgelegten Antragsgegenstand heraus: Ist eine sich aufdrängende Alternative vom Vorhabenträger aus unzureichenden Gründen verworfen worden, bleibt der Behörde nur die Ablehnung des Antrags, sofern der Vorhabenträger nicht selbst seinen Plan ändert. Soweit also Ansprü-

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Anders Groß (Fn. 5), 517 f. BVerwG NVwZ 2003, 1253 (Leitsatz 3); so bereits Hoppe (Fn. 7), 427; s. auch Hösch (Fn. 27), 354. 40

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che auf Schutzauflagen, auf naturschutzrechtliche Vermeidungs- oder Kompensationsmaßnahmen oder auf ermessensfehlerfreie Bescheidung über solche Maßnahmen in Betracht kommen, ist eine „Alternativenprüfung" im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit des Gesamtvorhabens ausgeschlossen.

V. Zusammenfassung Ein rechtliches Gebot der Prüfung von Alternativen existiert derzeit nur im Planungsrecht und im FFH-Recht. Im Wechselspiel zwischen der Ausfüllung des planerischen Gestaltungsspielraums einerseits und seinen Grenzen andererseits ist die FFH-Alternativenprüfung den Grenzen, die fachplanungsrechtliche Alternativenprüfung dem Inhalt des Abwägungsgebots zuzuordnen. Der Begriff der Alternative selbst ist jedoch in beiden Bereichen in gleicher Weise zu verstehen. Dabei gibt es „obere" und „untere" Grenzen: Keine Alternative ist ein „anderes" Vorhaben. Den Maßstab hierfür bilden die vom Vorhabenträger (im Rahmen der fachgesetzlichen Regelung) verfolgten Ziele des Vorhabens. Aus der Alternativenprüfung scheiden andererseits auch „kleinere" Änderungen am Vorhaben aus, die sich als Schutzmaßnahmen oder naturschutzrechtliche Vermeidungsmaßnahmen oder Folgenbewältigungsmaßnahmen darstellen.

Verzeichnis der Autoren Dieter R. Anders, Rechtsanwalt, Anders & Thomé, Krefeld Dr. Dr. Wolf gang Durner, Priv.-Doz., München/Berlin Dr. Lutz Eiding, Fachanwalt flir Verwaltungsrecht, Nickel Dröse Zabel Scharff & Eiding, Hanau Dr. Volker Gronefeld, Fachanwalt flir Verwaltungsrecht, München Dr. Annette Guckelberger,

Priv.-Doz., Deutsche Hochschule flir Verwaltungswissen-

schaften Speyer Dr. Nikolaus Herrmann, Fachhochschule der Sächsischen Verwaltung Meißen / Freshfields Bruckhaus Deringer, Frankfurt a. M. Dr. Ekkehard Hofmann, Universität Hamburg Dr. Norbert Kämper, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Kleiner Rechtsanwälte, Düsseldorf Volker Kuhnert, Referent im Referat Umweltrecht / Raumordnungsrecht, Thüringer Landesverwaltungsamt, Weimar Dr. Michael Ronellenßtsch, Univ.-Prof., Universität Tübingen Dr. Peter Schütz, Rechtsanwalt, Kasper Knacke Wintterlin & Partner, Stuttgart Dr. Dr. JongHyun Seok, Univ.-Prof., Dankook Universität, Seoul, Korea Dr. José Martînez Soria, Priv.-Doz., Universität Göttingen Axel Steffen,

Regierungsdirektor, Ministerium flir Landwirtschaft, Umweltschutz und

Raumordnung des Landes Brandenburg, Potsdam Dr. Peter Wysk, Richter am Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen, Münster Dr. Jan Ziekow, Univ.-Prof., Deutsche Hochschule flir Verwaltungswissenschaften Speyer