Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II [1. Aufl.] 978-3-658-25914-3;978-3-658-25915-0

Das Buch dokumentiert die Beiträge der von der „Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialmanagement / Sozialwirtschaft BAG SMSW“

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German Pages XII, 291 [292] Year 2019

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Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II [1. Aufl.]
 978-3-658-25914-3;978-3-658-25915-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Front Matter ....Pages 1-1
Reframing des Public und Social Management durch den neuen Governancediskurs (Herbert Schubert)....Pages 3-18
New Public Governance in der Alterspolitik von Schweizer Gemeinden und Städten – erste Ansätze und Entwicklungspfade (Jürgen Stremlow)....Pages 19-34
Lebenslanges Lernen in der Öffentlichen Verwaltung fördern: Bedarfserhebung und Handlungsansätze zur Entwicklung von Modulen wissenschaftlicher Weiterbildung (Frank Unger)....Pages 35-56
Front Matter ....Pages 57-57
Sozialraumorientierte Sozialplanung als neue Dominanz lokaler Sozialadministration oder partizipatives Lokal-Governance? (Andreas Langer)....Pages 59-75
Kommunale Sozialpolitik, strategische Sozialplanung und politisches Agenda-Setting (Holger Wunderlich)....Pages 77-120
Zur Schnittstelle von Sozialwirtschaft und Sozialplanung (Herbert Schubert)....Pages 121-137
Planung und Implementierung von sozialraumorientierten Projekten und Arbeitsansätzen (Ludger Kolhoff)....Pages 139-151
Front Matter ....Pages 153-153
Öffentliche Finanzierung der Sozialwirtschaft (Ludger Kolhoff)....Pages 155-170
Finanzierung der Behindertenhilfe – Zu den Kräfteverschiebungen im sozialrechtlichen Leistungsdreieck durch das Bundesteilhabegesetz (Sebastian Noll)....Pages 171-182
Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung (Susanne Vaudt)....Pages 183-203
Front Matter ....Pages 205-205
Care Economy: Wir alle sind Wirte und Wirtinnen in Belangen der sozialen Versorgung (Wolf Rainer Wendt)....Pages 207-222
Zum Verhältnis von Gender und Care oder: Warum ist Sorgearbeit weiblich? (Susanne A. Dreas)....Pages 223-239
Care – pflegewirtschaftliche Herausforderungen (Uwe Bettig, Maria Krüger)....Pages 241-250
Care im bürgerschaftlichen Engagement und ziviler Partizipation mit Blick auf die neue Welt der Pflegestärkungsgesetze und die UstA-VO in Baden-Württemberg (Ursula Weber)....Pages 251-271
Care im informellen Sektor (Ludger Kolhoff)....Pages 273-287
Back Matter ....Pages 289-291

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Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement

Ludger Kolhoff Hrsg.

Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II

Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement Reihe herausgegeben von Klaus Grunwald, Fakultät Sozialwesen, Duale Hochschule BW Stuttgart, Stuttgart, Baden-Württemberg, Deutschland Ludger Kolhoff, Fakultät Soziale Arbeit, Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Hochschule Braunschweig/Wolfenbüttel, Wolfenbüttel, ­Niedersachsen, ­Deutschland

Beiratsmitglieder Holger Backhaus-Maul, Philosophische Fakultät III, Universität HalleWittenberg, Halle (Saale), Sachsen-Anhalt, Deutschland Waltraud Grillitsch, Fachhochschule Kärnten, Feldkirchen, Österreich Marlies Fröse, Evangelische Hochschule Dresden, Dresden, Sachsen, Deutschland Michael Herzka, Berner Fachhochschule, Bern, Schweiz Andreas Langer, Department Soziale Arbeit, HAW Hamburg, Hamburg, Deutschland Wolf-Rainer Wendt, Stuttgart, Baden-Württemberg, Deutschland Peter Zängl, Beratung, Coaching und Sozialmanagement, FHNW, Hochschule für Soziale Arbeit, Olten, Schweiz

Die Buchreihe „Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement“ widmet sich der Darstellung und kritischen Diskussion von theoretischen Konzepten und Fragestellungen aus Wissenschaft, Forschung und Praxis der Sozialwirtschaft und des Sozialmanagements. Monographien und Sammelbände thematisieren aktuelle Diskurse und Forschungen aus relevanten wissenschaftlichen (Teil-) Disziplinen (wie z. B. Soziale Arbeit, Sozialwirtschaftslehre, Sozialmanagement, Organisationssoziologie und -psychologie, Ethik, Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, ….). Bearbeitet werden weiterhin methodische Fragen sowie Herausforderungen der Sozialwirtschaft im Allgemeinen und sozialwirtschaftlicher Unternehmen im Besonderen. Die Bände richten sich an Lehrende und Teilnehmer_innen von Masterstudiengängen der Sozialwirtschaft und des Sozialmanagements sowie an Fach- und Führungskräfte.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15474

Ludger Kolhoff (Hrsg.)

Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II

Hrsg. Ludger Kolhoff Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Hochschule Braunschweig/Wolfenbüttel Wolfenbüttel, Deutschland

ISSN 2569-2127 ISSN 2569-2135  (electronic) Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement ISBN 978-3-658-25914-3 ISBN 978-3-658-25915-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialmanagement/Sozialwirtschaft (BAG SMSW) e. V. als Vertretung der Lehrenden und Forschenden an Hochschulen im Bereich Sozialmanagement/Sozialwirtschaft dient als Plattform für aktuelle Diskurse des Sozialmanagements und der Sozialwirtschaft1. Dazu veranstaltet sie Fachtagungen und Kongresse. Nachdem in der Publikation „Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft I“ die Fachtagungen der BAG SMSW aus den Jahren 2015 und 2016 dokumentiert wurden, werden in dieser Publikation Beiträge aus den von der BAG SMSW in den Jahren 2017 und 2018 durchgeführten Fachtagungen dokumentiert: • „Kompetenzen und Ermöglichungsstrukturen an der Schnittstelle von Sozialund Publicmanagement“ (Fulda 2017) • Sozialwirtschaft und Sozialplanung im lokalen Raum (Hamburg 2017) • Finanzielle Ressourcen der Sozialwirtschaft (Berlin 2017) • Care: Bezahlte und unbezahlte sozialwirtschaftliche Versorgung (Wolfenbüttel 2018) Im ersten Teil dieses Bandes werden „Kompetenzen und Ermöglichungsstrukturen an der Schnittstelle von Sozial- und Publicmanagement“ diskutiert.

1Mitglieder des geschäftsführenden Vorstands der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialmanagement/Sozialwirtschaft (BAG SMW) e. V. sind: Prof. Dr. Ludger Kolhoff (Vorsitzender), Prof. Dr. Andrea Tabatt-Hirschfeldt und Prof. Dr. Andreas Langer (stellvertretende Vorsitzende). Dem erweiterten Vorstand gehören an: Prof. Dr. Michael Brodowski, Prof. Dr. Susanne A. Dreas, Prof. Dr. Beate Finis Siegler, Prof. Dr. Klaus Grunwald, Prof. Dr. Sebastian Noll, Prof. Dr. Monika Sagmeister, Prof. Dr. Bettina Stoll, Prof. Dr. Wolf Rainer Wendt und Prof. Dr. Susanne Vaudt.

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Vorwort

Herbert Schubert weist in seinem Beitrag „Reframing des Public und Social Management durch den neuen Governancediskurs“ auf eine Abnahme von Top-Down-Führungsmustern und eine Zunahme partizipatorischer und interaktiver Formen der Politikgestaltung hin, da Akteure aus unterschiedlichen Feldern einbezogen werden und kommunale Agenturen das Zusammenspiel eher koordinieren als steuern. Den Wandel der Steuerungsformen von der hierarchischen Öffentlichen Verwaltung über die Marktorientierung des Public Management hin zur Public Governance bezeichnet er als Reframing des Public und Social Managements, durch das Steuerungsprozesse wirksamer werden. Auch Jürgen Stremlow geht in seinem Aufsatz „New Public Governance in der Alterspolitik von Schweizer Gemeinden und Städten – erste Ansätze und Entwicklungspfade“ davon aus, dass die Gestaltung sozialer Dienstleistungen immer weniger in den traditionellen Strukturen staatlicher Steuerung bewältigt werden kann und stattdessen in Netzwerken Lösungen unter der Federführung des Staates ausgehandelt werden. Jürgen Stremlow präsentiert im Bereich der kommunalen Alterspolitik der Schweiz erste einschlägige Ansätze von New Public Governance. (Er hat hierzu politische Verantwortliche oder Fachpersonen im Zuständigkeitsbereich der Alterspolitik aus ausgewählten Schweizer Städten und Gemeinden befragt.) Frank Unger weist in seinem Beitrag „Lebenslanges Lernen in der Öffentlichen Verwaltung fördern: Bedarfserhebung und Handlungsansätze zur Entwicklung von Modulen wissenschaftlicher Weiterbildung“ darauf hin, dass auch in der öffentlichen Verwaltung erlerntes Wissen immer seltener ausreichen wird, um neue Anforderungen bewältigen zu können. Er präsentiert Perspektiven von wissenschaftlicher Weiterbildung in der Öffentlichen Verwaltung unter Berücksichtigung von Blended-Learning-Angeboten. Am Beispiel der Untersuchung einer Öffentlichen Verwaltung zur Entwicklung wissenschaftlicher Weiterbildungsangebote werden Anforderungen dargestellt und Handlungsmöglichkeiten diskutiert. Im zweiten Teil wird die „Sozialwirtschaft und Sozialplanung im lokalen Raum“ thematisiert. Andreas Langer verweist in seinem einführenden Beitrag „Sozialraumorientierte Sozialplanung als neue Dominanz lokaler Sozialadministration oder partizipatives Lokal-Governance?“ auf aktuelle Fragen der sozialwirtschaftlichen Dienstleistungserbringung und skizziert die Hintergründe, vor denen sich zwei alternative Antworten zu der Sozialplanung der Zukunft bewegen: 1) Ob Sozialplanung verstärkt als integrativer Steuerungsmodus im Sinne einer lokalen,

Vorwort

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partizipativen Governance zum Erfolg führt? 2) Ob sich der öffentliche Träger wieder verstärkt ins Zentrum der Steuerung und Planung rückt? Holger Wunderlich geht in seinem Beitrag „Kommunale Sozialpolitik, strategische Sozialplanung und politisches Agenda-Setting“ der Frage nach, ob und ggf. wie Sozialplanung den politischen Prozess, insbesondere das politische Agenda-Setting, in den Städten, Kreisen und Gemeinden beeinflussen kann. Wichtig, so eine Schlussfolgerung des Beitrags, ist das Bewusstsein für die unterschiedlichen Ebenen von kommunaler (Sozial-) Planung: 1) handlungsfeld-orientierte Sozialplanung, 2) strategisch-integrative Sozialplanung und 3) integrative kommunale Planung. Im Fokus seines Beitrags steht die strategische Ebene von Sozialplanung. Entwickelt wird ein Verständnis einer strategisch-integrativen Sozialplanung, die als Kontextsteuerung interpretiert wird. Herbert Schubert erläutert in seinem Beitrag „Zur Schnittstelle von Sozialwirtschaft und Sozialplanung“ das aktuelle Sozialplanungsverständnis, mit der die kommunale Sozialverwaltung in der Lage ist, soziale Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren. Er nimmt die Schnittstelle von Sozialwirtschaft und Sozialplanung in den Blick und fordert neue Beteiligungsformate für Bürgerinnen und Bürgern und ihre Selbsthilfeverbände, damit die Sozialplanung dezentral Anschluss an die Stakeholder in den Sozialräumen und Planungsräumen finden kann. Nachdem in den drei vorherigen Beiträgen das Thema Sozialplanung im Mittelpunkt stand, zeigt Ludger Kolhoff in seinem Beitrag „Planung und Implementierung von sozialraumorientierten Projekten und Arbeitsansätzen“ anhand von zwei Beispielen, wie sozialraumorientierte Projekte geplant und implementiert werden können. Im ersten Beispiel wird das Braunschweiger Projekt „Stadtteil in der Schule“ vorgestellt, dessen strategische Planung sich an den Strukturen der Sozialräume der beteiligten Schulen orientiert. Im zweiten Beispiel geht es um die „Implementierung von sozialraumorientierten Arbeitsansätzen in der Behindertenhilfe“, die sich an den Interessen und Erwartungen der Menschen mit Behinderung ausrichten. Im dritten Teil werden die „finanziellen Ressourcen der Sozialwirtschaft“ behandelt. Ludger Kolhoff skizziert die Grundstrukturen der „öffentlichen Finanzierung der Sozialwirtschaft“, die direkt über Zuwendungen, Subventionen und öffentliche Aufträge und (überwiegend) indirekt über Leistungsentgelte erfolgen kann. (Zuwendungen werden bewilligt, Leistungsentgelte und kommunale

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Vorwort

Subventionen ausgehandelt und öffentliche Aufträge auf der Grundlage von Ausschreibungen vergeben.) Sebastian Noll widmet sich in seinem Beitrag „Finanzierung der Behindertenhilfe – Zu den Kräfteverschiebungen im sozialrechtlichen Leistungsdreieck durch das Bundesteilhabegesetz“, den Veränderungen, die das Bundesteilhabegesetz auf die Akteurskonstellation aus Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsempfänger haben dürfte. Er vermutet, dass die öffentlich-rechtlichen Leistungsträger und die Menschen mit Behinderung eher zu den Gewinnern und die Leistungserbringer eher zu den Verlierern zählen dürften, wobei viele Fragen und Details noch bis zum Starttermin 2020 zu klären sind. Susanne Vaudt untersucht in ihrem Beitrag „Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung“, inwiefern neben Intervention auch die Präventionsarbeit Sozialer Schuldnerberatungsstellen öffentlich refinanziert wird. Sie geht dieser Frage am Beispiel der Sozialen Schuldnerberatung in Hamburg nach, da sich hier die Finanzierung strukturell geändert hat. Im vierten Teil wird schließlich das Thema „Care: Bezahlte und unbezahlte sozialwirtschaftliche Versorgung“ behandelt. Wolf Rainer Wendt weist in seinem Beitrag „Care Economy: Wir alle sind Wirte und Wirtinnen in Belangen der sozialen Versorgung“ darauf hin, dass soziale und gesundheitliche Versorgung eine Gemeinschaftsaufgabe ist. Neben der Breite des Bedarfs nimmt er auch die Ressourcen in den Blick, die zu einem Großteil informell vorliegen und in Interaktion öffentlicher, ziviler und privater Akteure der Daseinsvorsorge erschlossen werden können. Institutionelle Versorger sollten mit den individuell Sorgenden zusammenwirken und formelle dienstliche Leistungen sollten an informelle Sorgearbeit anknüpfen. Susanne A. Dreas möchte in ihrem Beitrag „Zum Verhältnis von Gender und Care oder: Warum ist Sorgearbeit weiblich?“ die kulturell-historische Verknüpfung von Gender und Care nachzeichnen und eine Erklärung dafür liefern, warum dieser Zusammenhang bis heute so wirkmächtig ist. Die enge Verflechtung von Gender und Care wird anhand empirischer Daten untermauert. Der Beitrag endet mit Überlegungen, wie eine geschlechtergerechte Reorganisation und gesellschaftliche Aufwertung von Care Work gelingen kann. Uwe Bettig und Maria Krüger setzten sich in ihrem Beitrag „Care – pflegewirtschaftliche Herausforderungen“, mit dem Care-Markt in Deutschland auseinander und beleuchten die Probleme des Fachkräftemangels und die Situation der in der

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Pflege tätigen Personen. Um drohende Versorgungslücken in der pflegerischen Versorgung zu vermeiden, werden zwei Lösungen zum Fachkräftemangel in der Pflege (Einsatz von MigrantInnen, Etablierung bedarfsgerechter Pflegesysteme nach dem Vorbild Skandinavien) vorgestellt und diskutiert. Ursula Weber skizziert in ihrem Beitrag „Care im bürgerschaftlichen Engagement und ziviler Partizipation mit Blick auf die neue Welt der Pflegestärkungsgesetze und die Unterstützungsangebote-Verordnung (UstA-VO) in Baden-Württemberg“ den Eigensinn und die Größenordnung des bürgerschaftlichen, freiwilligen Engagements und spitzt es auf den Aspekt von Care im bürgerschaftlichen Engagement zu. An den Pflegestärkungsgesetzen und an der aktuellen Unterstützungsangebote-Verordnung (UstA-VO) des Landes Baden-Württemberg wird exemplarisch dargelegt und diskutiert, dass gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen eine wesentliche Rolle in der Ausgestaltung von Engagement-Strukturen spielen. Der Beitrag von Ludger Kolhoff zum Thema „Care im informellen Sektor“ schließt die Publikation ab. Er geht auf die bundesdeutsche Adaption des in der entwicklungspolitischen Diskussion geprägten Begriffes informeller Sektor ein und auf Careansätze im informellen Sektor am Beispiel der Pflege, dem Aufbau von Unterstützungsnetzwerken und der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen. Wolfenbüttel im Winter 2018

Ludger Kolhoff Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialmanagement/Sozialwirtschaft an Hochschulen e. V.

Inhaltsverzeichnis

Teil I Kompetenzen und Ermöglichungsstrukturen an der Schnittstelle von Sozial- und Publicmanagement Reframing des Public und Social Management durch den neuen Governancediskurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Herbert Schubert New Public Governance in der Alterspolitik von Schweizer Gemeinden und Städten – erste Ansätze und Entwicklungspfade. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Jürgen Stremlow Lebenslanges Lernen in der Öffentlichen Verwaltung fördern: Bedarfserhebung und Handlungsansätze zur Entwicklung von Modulen wissenschaftlicher Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Frank Unger Teil II  Sozialwirtschaft und Sozialplanung im lokalen Raum Sozialraumorientierte Sozialplanung als neue Dominanz lokaler Sozialadministration oder partizipatives Lokal-Governance?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Andreas Langer Kommunale Sozialpolitik, strategische Sozialplanung und politisches Agenda-Setting. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Holger Wunderlich Zur Schnittstelle von Sozialwirtschaft und Sozialplanung. . . . . . . . . . . . . 121 Herbert Schubert XI

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Planung und Implementierung von sozialraumorientierten Projekten und Arbeitsansätzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Ludger Kolhoff Teil III  Finanzielle Ressourcen der Sozialwirtschaft Öffentliche Finanzierung der Sozialwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Ludger Kolhoff Finanzierung der Behindertenhilfe – Zu den Kräfteverschiebungen im sozialrechtlichen Leistungsdreieck durch das Bundesteilhabegesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Sebastian Noll Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Susanne Vaudt Teil IV Care: Bezahlte und unbezahlte sozialwirtschaftliche Versorgung Care Economy: Wir alle sind Wirte und Wirtinnen in Belangen der sozialen Versorgung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Wolf Rainer Wendt Zum Verhältnis von Gender und Care oder: Warum ist Sorgearbeit weiblich?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Susanne A. Dreas Care – pflegewirtschaftliche Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Uwe Bettig und Maria Krüger Care im bürgerschaftlichen Engagement und ziviler Partizipation mit Blick auf die neue Welt der Pflegestärkungsgesetze und die UstA-VO in Baden-Württemberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Ursula Weber Care im informellen Sektor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Ludger Kolhoff Verzeichnis der Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Teil I Kompetenzen und Ermöglichungsstrukturen an der Schnittstelle von Sozial- und Publicmanagement

Reframing des Public und Social Management durch den neuen Governancediskurs Herbert Schubert

Zusammenfassung

Im Beitrag wird gezeigt, dass der Wandel der Steuerungsformen in der Kommune vom hierarchischen Modus der Öffentlichen Verwaltung über den Marktfokus des Public Management hin zur Public Governance als Reframing – als neue Rahmung – verstanden werden kann, durch die der Steuerungsprozess wirksamer wird. Die Interdependenz unter den Stakeholdern als Folie der Steuerung anzulegen, wie das in der Public Governance der Fall ist, erhöht in der Sozialwirtschaft beispielsweise den Adressatennutzen. Beim Reframing werden auf der strukturellen Ebene neue Regeln, Prozeduren und Aufbauorganisationen entwickelt, auf der Ebene der Humanressourcen werden die Beteiligten zur interdisziplinären, Fachbereichsgrenzen überschreitenden Kooperation befähigt, auf der kommunalpolitischen Ebene neue Verhandlungsformen zwischen den beteiligten Akteuren vereinbart und auf der symbolischen Ebene neue Symbole und Narrative geschaffen. Die abgeleitete Checkliste bietet den kommunalen und sozialwirtschaftlichen Akteuren Orientierungsfragen an, damit der gemeinsame Übergang zur Steuerungslogik der Public Governance gelingen kann.

H. Schubert (*)  TH Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_1

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1 New Public Governance als aktuelle Leitlinie des modernisierten kommunalen Handelns Das kommunale Regime – im Sinn von Regieren, Leiten und Lenken einer Gebietskörperschaft – hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte deutlich verändert. Während Top-Down-Führungsmuster abgenommen haben, war eine Zunahme partizipatorischer und interaktiver Formen der Politikgestaltung zu verzeichnen. Dieser Prozess wurde mit einem Entwicklungsmodell dargestellt, das zwei Stufen kommunaler Modernisierung beinhaltet (vgl. Osborne 2006): Danach haben sich die Formen des kommunalen Regierens im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ausgehend vom – seit den 1950er Jahren – vorherrschenden Typ der hierarchischen Öffentlichen Verwaltung (Public Administration) über die ökonomische Modernisierung nach dem Neuen Steuerungsmodell (Public Management) in den 1990er Jahren zur aktuell verfolgten Leitlinie der New Public Governance verschoben (vgl. Osborne 2010). Im Verlauf dieses Prozesses nehmen sowohl die Steuerungspraxis der Kommunen als auch auch die Strategien sozialwirtschaftlicher Unternehmen einen hybriden Charakter an: Die Logiken rechtlicher Grundlagen (Dimension: Staat), des neoliberal fundierten Managements (Dimension: Markt) und der Partizipation von Stakeholdern (Dimension: Bürgergesellschaft) kommen in den Alltagsroutinen vermischt zur Anwendung. Denn die sozialwirtschaftlichen Organisationen sind zugleich Dienstleister des Staates, sozialmarkt- und kundenorientiert und ermöglichen als Moderator in den Lebenswelten der Adressatinnen und Adressaten Teilhabechancen (vgl. Wasel und Haas 2017, S. 376 f.). Unter einer längerfristigen Perspektive verschiebt sich der Fokus sukzessive trotz hybridem Mix. Wasel und Haas haben die Chronologie der Entwicklungsabfolge der intermediären Steuerung im sozialpolitischen Kontext schon seit dem 19. Jahrhundert als Oszillation zwischen den Polen der Triade Staat, Markt und Bürgergesellschaft gekennzeichnet: Danach verschiebt sich die Steuerung seit den 1960er Jahren kontinuierlich vom Staats- zum Marktfokus und in den 2000er Jahren weiter zu einem bürgergesellschaftlichen Orientierungskern (vgl. Wasel und Haas 2017, S. 377; vgl. Abb. 1).

1.1 Die Logik des Public Management Durch das New Public Management, das in Deutschland in den 1990er Jahren unter der Bezeichnung „Neues Steuerungsmodell“ Einzug hielt, wurden die

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Abb. 1   Chronologie intermediärer Steuerung. (Quelle: verändert nach Wasel und Haas 2017, S. 377)

Richtlinien der öffentlichen Verwaltung nicht außer Kraft gesetzt, sondern ökonomisch überformt. Der Übertragung betriebswirtschaftlicher Instrumente und Techniken des Managements aus dem privatwirtschaftlichen Sektor in das kommunale Handeln lag die Erwartung zugrunde, dass das Leistungsvermögen der Dienste und Einrichtungen der Sozialwirtschaft sowohl effizienter als auch effektiver wird. Mit der Aufgabe des Selbstkostendeckungsprinzips und der gezielten Förderung des Wettbewerbs mussten die sozialwirtschaftlichen Unternehmen neue Perspektiven entwickeln – das Verständnis des subsidiären Versorgungsauftrages verschob sich zu einer Kundenorientierung (vgl. Wasel und Haas 2017, S. 317). Von den Trägern der Dienstleistungen wurde eine Übernahme der unternehmerischen Perspektive verlangt: Im Rahmen einer Outputsteuerung müssen Dienstleistungen seitdem sowohl von der Kostenseite her gesteuert als auch von der Ergebnisseite her evaluiert werden. Das Controlling, das zuvor bei der öffentlichen Verwaltung lag, wurde in die Organisationen der Sozialwirtschaft hinein verlagert.

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Mit der Betonung von Instrumenten wie beispielsweise Kontraktmanagement, Wirkungsmessung und Benchmarking präsentierte sich das Neue Steuerungsmodell in der Tradition der neoklassischen Ökonomie und der Rational Choice Theorie (vgl. Crouch 2011, S. 34 ff.): Für das Erbringen von Dienstleistungen in der Kommune wurde die Flexibilität und Effizienz des neoliberalen Unternehmens zum Maßstab erklärt. Die Unternehmen der Sozialwirtschaft müssen im Stadtteil und im Wohnquartier unter dieser Leitlinie marktförmig agieren – ihre Leistungen werden nach der Qualität und den finanziellen Vorgaben definiert. Zugleich wurde die Zuwendung öffentlicher Mittel in ein marktförmiges Wettbewerbsmodell eingebettet und kennwertbezogen kontraktiert (vgl. Dahme und Wohlfahrt 2000). Weitgehend ausgeblendet wurde dabei das pluralistische Geflecht von Ressourcen und Interessen in den Sozialräumen der Kommune, die von freiwilligen Initiativen über privates Engagement bis zu den Traditionen freigemeinnütziger Träger reichen. Eine Fokussierung auf die Dichotomie von Verwaltung und Management wird der besonderen Situation in der Sozialwirtschaft deshalb nicht gerecht. Im notwendigen Anschluss an die Lebenswelten der Adressatinnen sowie Adressaten und wegen der dafür teilweise erforderlichen Kooperation unter den sozialwirtschaftlichen Dienstleistern gewann der Steuerungsansatz der Public Governance an Bedeutung (vgl. Schubert 2018b, S. 5 f.).

1.2 Die Logik der Public Governance Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vollzog sich die zweite Stufe der Modernisierung – im Fachdiskurs wird der neue Steuerungsmodus als „New Public Governance“ bezeichnet (vgl. Osborne 2006). Unter dieser Governance-Perspektive werden die unabhängigen, aber interdependenten Akteure aus unterschiedlichen organisationalen Feldern mit jeweils eigener Handlungsrationalität – die sogenannten Stakeholder – einbezogen (vgl. Benz 2004). Ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten nehmen zu, weil die kommunalen Agenturen ihre traditionelle hierarchische Rolle zurücknehmen und das Zusammenspiel nach verabredeten Regeln eher koordinieren als steuern. Die Logik der Public Governance setzt auf den Ausbau von lokalen Arenen der Partizipation, in denen der dialogische Austausch der öffentlichen und privaten Akteure über die reine Wahldemokratie hinaus gefördert wird. Governance soll Legitimität im Rahmen der Mobilisierung von zivilgesellschaftlichen Ressourcen, Energien und Ideen in der Kommune erzielen: „At the bottom of this new participatory trend we have the notion of active citizenship that tends

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to replace the liberal notion of citizenship that conceives the citizen as a passive bearer of legal rights“ (Torfing und Triantafillou 2013, S. 16). Die Steuerung kommunaler Belange erfolgt nicht mehr monozentral allein durch die kommunale Verwaltung, sondern es bilden sich netzförmige Steuerungsinstrumente heraus, mit denen die Sozialraumentwicklung und die soziale Dienstleistungsproduktion in die Mitverantwortung der beteiligten Stakeholder gelegt wird – über ihre kooperativen Verbünde übernehmen sie auch Steuerungsfunktionen. Torfing und Triantafillou bezeichnen die Situation daher als „Multi-Actor Collaboration“ (Torfing und Triantafillou 2013, S. 17). Indem Governance als „increased collaboration between different levels and organizations within the public sector and increased collaboration between the public and private sectors“ verstanden wird (Torfing und Triantafillou 2013, S. 18), werden die lokalen Akteure zur partizipativen Mitgestaltung von lokalen Lösungen anerkannt.

1.3 Das Profil der Governance im Vergleich Im Vergleich der skizzierten Entwicklungsstufen lässt sich das Profil erkennen, das den Governance-Ansatz prägt (vgl. Osborne 2006, S. 383; vgl. Tab. 1): Die theoretischen Grundlagen sind vor allem in der Organisationssoziologie und Netzwerktheorie verankert. Die ökonomische Rationalität von Managementtheorien, die dem Neuen Steuerungsmodell zugrunde liegt, spielt eine untergeordnete Rolle. Dem traditionellen Verständnis des kommunalen Handelns – mit einer monozentralen Perspektive der öffentlichen Verwaltung – und der ökonomisierten Fortentwicklung – mit dem Postulat einer Trennung von Staat und Privaten im New Public Management – setzt die Governancelogik die pluralistische Perspektive eines polyzentrischen Handlungszusammenhangs gegenüber. Während die Neue Steuerung den Fokus auf das intraorganisationale Management gerichtet hatte, weitet sich die Perspektive der Governance zur interorganisationalen Kooperation und Koordination in den Sozialräumen der Kommune auf. Die Gewichte verschieben sich von den politischen Vorgaben und über den Managementfokus hin zur Betonung der Dienstleistungs-Koproduktion, indem der Nutzen für die Adressatinnen und Adressaten einen besonderen Stellenwert erhält. Dabei verändert sich auch die Stellung der Akteure: Während sie in der Logik der öffentlichen Verwaltung lediglich Agenten des Prinzipals Kommune darstellen und im ökonomischen Verständnis zu unabhängigen Anbietern und Konkurrenten auf dem Sozialmarkt erklärt werden, löst sich das Konzept der Governance von der Atomisierung der Akteure – es wendet sich ins Gegenteil:

Quelle: eigene Übersetzung von Osborne (2006, S. 383)

Inter-organisati-onale Koopera-tion

Neo-Korpora-tismus: Einbindung aller lokaler Interessen Vertrauen und relationale (Netz-) Verträge Horizontale Prozess-ketten, längerfristi-ge Interde-pendenz der Akteure Dienstleis-tungs-prozesse, Nutzen und Wirkungen

Pluralis-tisch, polyzen-trisch

Organisations-soziologie und Netzwerk-theorie

New Public Gover-nance

Wirksam-keit von Konkurrenz und Markt Markt mit klassischen und neoklassi-schen Verträgen

Unabhän-gige, atomi-sierte An-bieter, Markt mit Wettbewerb

Input und Output der Dienst-leistungen

Trennung Staat Intra-orgaund Private nisati-onales Manage-ment

Rational Choice, Management-theorien

New Public Manage-ment (Neue Steuerung)

Ethos des öffentlichen Dienstes

Steue-rungsme- Werte-basis cha-nismen Hierarchie

Strikte PrinImplementie-rung politi- zipal-Agenscher Vorgaben ten-Beziehung

Politisches System

Einheitlich, mono-zentral

Politik- und Verwaltungs-wissenschaft

Öffentl. Verwal-tung

Beziehung zu Partnern

Gewichtung

Verständ-nis Fokus staatl. Handelns

Theore-tische Grundlagen

Schlüssel-Elemente

Tab. 1   Elemente der New Public Governance im Kontrast zur Public Administration und zum New Public Management

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die Interdependenz der Stakeholder wird in der kommunalen Daseinsvorsorge zu einem Steuerungsfaktor. Das hat Konsequenzen für die Steuerungsmechanismen: Statt auf die Hierarchie der öffentlichen Verwaltung und auf die klassischen sowie neoklassischen Verträge der Marktlogik des Public Management zu setzen, baut der Governance-Ansatz auf dem gegenseitigen Vertrauen unter den Akteuren auf und bevorzugt die horizontale Koordination ihres Netzverbunds. Eine deutliche Differenz tritt auch in der Wertebasis zutage. Weder der Ethos des Dienens der öffentlichen Verwaltung noch der Glauben an die ökonomische Effizienz spielen in der Public Governance eine Rolle. Stattdessen herrscht eine neo-korporatistische Haltung vor, nach der die Interessen und Anspruchsgruppen in der Kommune einzubeziehen sind und an kommunalpolitischen Entscheidungen teilhaben sollen.

1.4 Netzwerk als Modus Operandi der Public Governance Die skizzierte Verschiebung lässt sich mit der Metapher der russischen Puppe „Matrjoschka“ symbolisieren. Wie bei den ineinander verschachtelten Holzfiguren verschwindet der jeweilig alte kommunale Steuerungstyp nicht, sondern bleibt im Kontext des neuen in hybrider Form erhalten. Die Public Governance ersetzt somit weder das Instrumentarium des Managements noch die traditionelle administrative Steuerung, sondern die drei Leitlinien bilden einen komplexen Steuerungsmix, in dem sowohl Leitlinien der öffentlichen Verwaltung als auch ökonomische Prinzipien der Neuen Steuerung unter dem Rahmen der breiten Stakeholder-Beteiligung der New Public Governance integriert werden. Wasel und Haas beschreiben die Situation folgendermaßen (2017, S. 376): „Daraus ergeben sich hybride Anforderungen. Ein Sozialunternehmen agiert als klassisch subsidiärer Träger im Rahmen staatlicher Steuerung oder als Teilnehmer des freien Marktes oder im Rahmen bürgergesellschaftlichen Engagements“.

Mit der neuen Leitlinie der Public Governance wird die hierarchische Steuerung in der Kommune gedämpft und im Kontext horizontaler sowie dezentralisierter Formen der Partizipation neu interpretiert. Die kommunalen Entscheidungsprozesse basieren zunehmend auf Verhandlungen, in die alle relevanten Akteure aus Politik und anderen gesellschaftlichen Feldern einbezogen werden. Für die Sozialwirtschaft bedeutet das: Unter Berücksichtigung der Handlungsrationalität und -kapazität der sozialwirtschaftlichen Akteure werden sowohl die Fragen des

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Bedarfs als auch die Umsetzung der Bedarfsdeckung in institutionellen Arrangements verhandelt, die auf der Grundlage des Netzwerkkonzepts gestaltet werden (vgl. Osborne 2010, S. 9). Der Netzwerkmodus überwindet dabei sowohl die vertikale Hierarchisierung als auch die horizontale Versäulung der Fachressorts (vgl. Schubert 2018a, S. 11 f.). Durch die Anerkennung der Interdependenz unter den Stakeholdern in der Sozialwirtschaft lassen sich den Netzwerken unterschiedliche fachliche Kompetenzen bündeln und verknüpfen (vgl. Abb. 2). In den Netzwerken Frühe Hilfen nach dem Bundeskinderschutzgesetz wird beispielsweise professionelles Knowhow aus dem Gesundheits- Jugendhilfe- und Sozialbereich verbunden. Das abgestimmte Handeln im Verbund führt zu einer integrierten und verbesserten

Abb. 2   Wirkungsgefüge sozialwirtschaftlicher Governance-Netzwerke. (Quelle: eigene Darstellung)

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Produktqualität, was zu einer Erhöhung des Nutzens koordinierter Dienstleistungen für die Adressatinnen und Adressaten beiträgt. Vor diesem Hintergrund trägt die Logik der Public Governance dazu bei, dass sich die Machtverhältnisse in der Kommune sowie in ihren Sozialräumen verschieben und der Einfluss einer direktiven öffentlichen Verwaltung und einer rein ökonomisch fundierten Steuerung in eine neue Balance gebracht wird. Im Dreiklang neu kalibriert bilden die kommunale Administration (mit den rechtlichen Grundlagen), das ökonomische Management (mit einem angemessenen Blick auf die Adressatinnen und Adressaten als Kunden) und die lokale Public Governance (mit der Befähigung lokaler Netzwerke zur interdependent koordinierten Steuerung der Bedarfsdeckung) einen geeigneten Rahmen für die kommunale Entwicklung in der spätmodernen Gesellschaft.

2 Public Governance als Reframing des Public und Social Managements 2.1 Dimensionen des Reframings Der skizzierte Prozess von Änderungen des Steuerungsfokus in der Sozialwirtschaft lässt sich auch als „Reframing“ beschreiben, was beispielsweise in der systemischen Psychotherapie die Umdeutung zu einer neuen Metapher bedeutet, wodurch der Situation eine andere Bedeutung und ein anderer Sinn zugewiesen wird (vgl. Bandler und Grinder 2000). Im Fall der Sozialwirtschaft handelt es sich um eine neue Rahmung der Steuerungsmuster in der kommunalen Daseinsvorsorge. Der traditionelle Rahmen der Verwaltung, der auf der Metapher der Hierarchie basiert, wurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Rahmen der betriebswirtschaftlichen Managementlogik neu gefasst, der die Metapher des Marktaustausches zugrunde liegt. Mit dem neuen Rahmen der Public Governance wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Metapher des interdependenten Netzwerks in den Blickpunkt gerückt (vgl. Abb. 3). Aus der Perspektive der Organisationswissenschaften lässt sich das Reframing von vier Dimensionen kennzeichnen (vgl. Bolman und Deal 2013): • Auf der strukturellen Ebene werden neue Regeln, Prozeduren und Aufbauorganisationen – wie Netzwerke und moderierte Austauschformen – geschaffen, um die Ziele an den Bedarf anzupassen und das Rollen- und Beziehungsgefüge sowie die arbeitsteilige Kooperation neu zu gestalten.

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Abb. 3   Neue Rahmungen – von der verwalteten zur modernisierten Kommune. (Quelle: eigene Darstellung)

• Auf der Ebene der Humanressourcen werden das Kompetenzprofil erweitert und die Befähigung gefördert, an interdisziplinären Schnittstellen neue Beziehungen zu schaffen. • Auf der politischen Ebene entstehen in der Kommune neue Arenen des Austausches und neue Verhandlungsformen zwischen den beteiligten Akteuren, deren Bezeichnungen von Netzwerk bis zum Runden Tisch reichen. • Auf der symbolischen Ebene entstehen neue sprachliche Muster des interdisziplinären Austausches und Kulturen, die bestehende Systemgrenzen überschreiten. Durch die verbindende Kommunikation und Interaktion werden neue Symbole, Mythen und Narrative geschaffen. Dass kommunale Gremien nicht mehr in der Verwaltungsrhetorik als Arbeitskreis bezeichnet werden, sondern in einer neuen Rhetorik als Netzwerk, ist ein Beispiel dafür.

Reframing des Public und Social …

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2.2 Kernelemente des Reframings Das Reframing der Public Governance verlagert Steuerungsaufgaben in der Kommune in das netzwerkförmige Zusammenwirken der Stakeholder. Die Kernelemente dieser neuen Steuerungsstruktur können aus dem Konzept der phänomenologischen Netzwerktheorie abgeleitet werden (vgl. Stegbauer 2016, S. 7 f.; vgl. Abb. 4): 1. Schaffung von interinstitutionellen Verbindungen – Im Rahmen des Reframings werden neue Verbindungen generiert, die über die formalen intra-administrativen Verbindungen und die interinstitutionelle Kontraktlogik des Public Management hinausweisen. Statt Über- oder Unterordnungen werden horizontale Verbindungen in die kommunale Verwaltungsumwelt aufgebaut. Mitarbeitende der öffentlichen Verwaltung erhalten mit Blick auf einen spezifischen

Abb. 4   Kernelemente des Reframings. (Quelle: eigene Darstellung)

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Gegenstand – wie zum Beispiel „Frühe Hilfen“ nach dem Bundeskinderschutzgesetz – dafür von den Führungskräften einen Auftrag und (Zeit-) Ressourcen. Es ist ihre Aufgabe, gezielt Verbindungen zu Akteuren aus der sozialwirtschaftlichen Umwelt herzustellen und ein Netzwerk zwischen kommunalen und zivilgesellschaftlichen Akteuren zu entwickeln. Aus der Perspektive der einbezogenen zivilgesellschaftlichen Organisationen ist es eine Aufgabe der Führungskräfte, den Anschluss an externe Organisationen als Auftrag zu formulieren und die dafür notwendigen (Zeit-) Ressourcen bereitzustellen. 2. Versammlung von Akteuren – Im Vordergrund steht im weiteren Vorgehen, wie das zu schaffende Netzwerk abgegrenzt werden kann, um es einerseits gestaltbar zu machen und andererseits ein unproduktives Netzwerkrauschen zu vermeiden. Im Vorfeld ist deshalb im Rahmen einer Stakeholderanalyse zu klären, welche Akteure für den besonderen Gegenstand des zu generierenden Netzwerks einbezogen und zu einem Netzwerksystem versammelt werden sollen. Die Netzwerkkooperation wird vom Adressatennutzen her entwickelt, indem gefragt wird, welche Akteure zusammenwirken müssen, um den Nutzen der sozialwirtschaftlichen Dienstleistungen für die Adressatinnen und Adressaten zu erhöhen. 3. Situationen der Aushandlung – Für die notwendigen Aushandlungen zwischen den Akteuren aus den verschiedenen administrativen und zivilgesellschaftlichen Feldern sind soziale Situationen zu schaffen, in die das neue Beziehungsgefüge eingebettet wird. In den situativ organisierten Ereignissen begegnen sich die Akteure und handeln ihre Beziehungen gegenstandsbezogen fortschreitend aus. Es sind Ereignisformate zu wählen, die sowohl hierarchische Arbeitskreismuster als auch die Konkurrenz des marktbezogenen Einzelkämpfertums überwinden. 4. Moderation/Koordination der Aushandlung – In den Situationen der Ereignisse beobachten sich die Akteure und beeinflussen sich gegenseitig. Damit dies konstruktiv und auf Augenhöhe möglich wird, sind Moderations- und Koordinationsleistungen erforderlich, die eine heterarchische Austauschform fördern. Erst in der Abfolge der moderierten Situationen entsteht Vertrauen und nachfolgend eine Verlässlichkeit des Verhaltens zwischen den Akteuren. Die angewandte Form der Kommunikation wird in den Aushandlungen kontinuierlich weiter institutionalisiert: Ausgelöst wird eine gegenseitige Annäherung von Werten und fachlichen Positionen, die sich zu der Mikrokultur des Netzwerkes weiterentwickelt. 5. Kultur gemeinsamer Verantwortung – Ausgehandelt werden in der Vernetzung somit nicht nur die Beziehungsstruktur und die Verhaltenserwartungen der Beteiligten. Zu den Ergebnissen gehören auch gemeinsame Interpretationen

Reframing des Public und Social …

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und Symbole. Insofern stellt das Netzwerk nicht nur ein Beziehungssystem dar, sondern bildet auch eine gemeinsame Kultur heraus. Dies findet seinen Ausdruck in Präferenzen für Formen des Umgangs, gemeinsame Normen sowie institutionelle Rituale. 6. Positionen und Netzwerkrollen – Die Akteure nehmen im Netzwerk unterschiedliche Positionen ein, die mit spezifischen Verhaltenserwartungen verbunden sind. Die damit verbundenen typischen Netzwerkrollen enthalten unterschiedliche Machtpotenziale, sodass einige Positionen mehr als andere vermitteln können, was von den Akteuren im Netzwerk erwartet wird. Diese Positionen und Rollen sind transparent zu machen, damit sie offen Gegenstand der Aushandlungsprozesse werden können. 7. Neue Story/Geschichte – Die Beziehungen und die Struktur des Netzwerks werden nicht nur durch das Verhalten und direkte Erleben in den Situationen und Ereignissen übertragen, sondern auch durch die Kommunikation nach außen vermittelt. Der kommunikative Austausch – zum Beispiel mit Dritten – lädt die Beziehungen des Netzwerks mit zugeschriebenen Bedeutungen interpretativ auf. Damit transportieren signifikante Geschichten über das Netzwerk die Kultur des Netzwerks nach innen sowie nach außen und profilieren weitergehend die Identität. Die kursierende Geschichte darüber, die von Situation zu Situation verändert und fortgeschrieben wird, nimmt im weiteren Aushandlungsprozess den Charakter eines Mediums an. 8. Formulierung von Entwicklungszielen – In der Abfolge der Situationen und des Aushandlungsprozesses verändern sich nicht nur Zuschreibungen und Interpretationen, sondern die gesamte Netzwerkstruktur. Da die Dynamik zu den Basiskomponenten der Geschichte eines Netzwerks gehört, ist es notwendig, den Fluss der Entwicklungsgeschichte strategisch zu reflektieren und in Gestalt von Entwicklungszielen zu antizipieren. Durch diese Kernelemente verschiebt sich der Kontrollmodus von einer rein hierarchischen Steuerung zu einem Mix von heterarchischen Verbindungen, die anschlussfähig sind an die hierarchischen Verwaltungsstrukturen. Es ist ein Kennzeichen der netzwerkartigen Struktur der Public Governance, dass heterarchische Beziehungsmuster mit hierarchischen kombiniert werden können. Dadurch entsteht ein neues „emergentes Phänomen“ (Weyer 1993, S. 2), das eigenen Regeln folgt, die keiner der beteiligten Akteure mehr exklusiv kontrollieren kann. Das Netzwerk entwickelt in der Folge eine strukturelle Eigendynamik, sodass singuläre Interessen dahinter zurücktreten.

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2.3 Ableitung einer Checkliste für die Sozialwirtschaft Die netzwerktheoretischen Kernelemente des Reframings der Public Governance lassen sich weiter operationalisieren. Im Folgenden werden sie zugespitzt zu einer Checkliste, die helfen kann, das netzwerkförmige Zusammenwirken der Stakeholder in der Kommune zu reflektieren. Die Orientierungsfragen der Checkliste lauten: 1. Formulierung von Entwicklungszielen: Wurden Ziele definiert? Welche Ziele bringen die einzelnen Akteure mit? Wie lassen sie sich kombinieren? 2. Schaffung von interinstitutionellen Verbindungen: Erteilen die Führungskräfte den Auftrag und stellen sie (Zeit-)Ressourcen zur Verfügung, damit Verbindungen zu Akteuren aus der Umwelt hergestellt und ein Netzwerk zwischen kommunalen sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren entwickelt werden kann? 3. Versammlung von Akteuren: Wurde im Rahmen einer Stakeholderanalyse das zu schaffende Netzwerk abgegrenzt und geklärt, welche Knoten bzw. Akteure für den besonderen Gegenstand des zu generierenden Netzwerks einbezogen und zu einem Netzwerksystem versammelt werden sollen? Ist die Initiative subsidiär von außen gekommen? Handelt es sich um eine Initiative der Kommunalverwaltung oder um eine zivilgesellschaftliche Initiative? Hat sich das Netzwerk selbst konstituiert und kann es weitgehend selbstständig Beschlüsse fassen? 4. Situationen der Aushandlung: Gibt es ein Konzept, wie die Treffen gestaltet werden sollen? Welche Rahmenbedingungen werden geboten, damit die notwendigen Aushandlungen zwischen den Akteuren aus den verschiedenen administrativen und zivilgesellschaftlichen Feldern erfolgen können? Wie korrespondiert das mit der Aufbauorganisation des Netzwerks? 5. Moderation/Koordination der Aushandlung: Gibt es eine Strategie, mit welchen Moderations- und Koordinationsleistungen die Aushandlungen institutionalisiert werden sollen? Wie können Interessen eingebracht, wie transparent gemacht werden? 6. Kultur gemeinsamer Verantwortung: Was wird getan, um im Netzwerk eine gemeinsame Kultur – z. B. bezüglich Formen des Umgangs, gemeinsamer Normen, gemeinsamer Symbole sowie institutioneller Rituale – zu entwickeln? 7. Positionen und Netzwerkrollen: Wird reflektiert, welche unterschiedlichen Positionen Akteure im Netzwerk einnehmen, die unterschiedliche Macht- und Einflusspotenziale enthalten? Gibt es formal definierte sowie informelle Rollen,

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und gibt es explizite Koordinationsrollen? Wie werden Entscheidungen getroffen? Wie werden heterarchisch entwickelte Aspekte hierarchisch angebunden (z. B. Vorschläge des Netzwerks, Einbringen über Verwaltung, Ratsentscheidung)? 8. Neue Story/Geschichte: Wird eine signifikante Geschichte über das Netzwerk sowohl nach innen als auch nach außen kommuniziert, um die Identität zu profilieren? Welche Rolle spielt die Historie des Netzwerks und wie wird sie als Geschichte erzählt? Auf welche Ergebnisse und Kulturelemente ist man besonders stolz? Was unterscheidet das Netzwerk von anderen Netzwerken? Was macht die besondere Identität aus? 9. Reflektion der Entwicklung: Wird die Entwicklungsgeschichte des Netzwerks strategisch reflektiert? Werden die Entwicklungsziele angepasst und fortgeschrieben? Wie schaffen es die Mitglieder, in einem selbstreflexiven Prozess zu lernen und neue Handlungsstrategien zu entwickeln – quasi ein lernendes Netzwerk zu sein?

3 Schlussbemerkung In der Abhandlung wurde gezeigt, dass der Wandel der Steuerungsformen in der Kommune vom hierarchischen Modus der Öffentlichen Verwaltung über den Marktfokus des Public Management hin zur Public Governance, die lokale Stakeholder in den Steuerungsprozess integriert, als Reframing – also eine neue Rahmung – verstanden werden kann, durch die der Steuerungsprozess wirksamer wird. Die Interdependenz unter den Stakeholdern als Folie der Steuerung anzulegen, wie das in der Public Governance der Fall ist, erhöht in der Sozialwirtschaft beispielsweise den Adressatennutzen. Beim Reframing werden auf der strukturellen Ebene neue Regeln, Prozeduren und Aufbauorganisationen entwickelt, auf der Ebene der Humanressourcen werden die Beteiligten zur interdisziplinären, Fachbereichsgrenzen überschreitenden Kooperation befähigt, auf der kommunalpolitischen Ebene neue Verhandlungsformen zwischen den beteiligten Akteuren vereinbart und auf der symbolischen Ebene neue Symbole und Narrative geschaffen. Die im vorliegenden Beitrag abgeleitete Checkliste bietet den kommunalen und sozialwirtschaftlichen Akteuren Orientierungsfragen an, damit der gemeinsame Übergang zur Steuerungslogik der Public Governance gelingen kann.

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H. Schubert

Literatur Bandler, R., & Grinder, J. (2000). Reframing. Ein ökologischer Ansatz in der Psychotherapie. Paderborn: Junfermann. Benz, A. (Hrsg.). (2004). Governance. Regieren in komplexen Regelsystemen. Wiesbaden: Springer VS. Bolman, L. G., & Deal, T. E. (2013). Reframing organizations. Artistry, choice, and leadership (5. Aufl.). San Francisco: Jossey-Bass. Crouch, C. (2011). Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dahme, H.-J., & Wohlfahrt, N. (Hrsg.). (2000). Netzwerkökonomie im Wohlfahrtsstaat. Wettbewerb und Kooperation im Sozial- und Gesundheitssektor. Berlin: Edition Sigma. Osborne, S. P. (2006). The new public governance. Public Management Review, 8, 377– 387. Osborne, S. P. (Hrsg.). (2010). The new public governance. London: Routledge. Schubert, H. (2018a). Netzwerkorientierung in Kommune und Sozialwirtschaft. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS. Schubert, H. (2018b). Netzwerkmanagement in Kommune und Sozialwirtschaft. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS. Stegbauer, C. (2016). Grundlagen der Netzwerkforschung. Situation, Mikronetzwerke und Kultur. Wiesbaden: Springer VS. Torfing, J., & Triantafillou, P. (2013). What’s in a name? Grasping new public governance as a political-administrative system. International Review of Public Administration, 18, 9–25. Wasel, W., & Haas, H.-S. (2017). Hybride sozialwirtschaftliche Unternehmen auf der Suche nach hybriden Strategien. NDV/Nachrichtendienste des Deutschen Vereins, 97(311–319), 376–379. Weyer, J. (1993). System und Akteur. Zum Nutzen zweier soziologischer Paradigmen bei der Erklärung erfolgreichen Scheiterns. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 45, 1–22.

New Public Governance in der Alterspolitik von Schweizer Gemeinden und Städten – erste Ansätze und Entwicklungspfade Jürgen Stremlow Zusammenfassung

Der vorliegende Text geht der Frage nach, ob und inwiefern sich in die politisch-administrativen Planung und Umsetzung der Alterspolitik in Schweizer Kommunen Ansätze von New Public Governance (NPG) finden lassen. Die Ergebnisse der explorativen Studie, in der 15 unterschiedlich große Kommunen untersucht wurden, zeigen einzelne NPG-Elemente. Besonders in den größeren Schweizer Städten wurden verschiedene Formen von Netzwerkkooperationen gefunden: zum einen verwaltungsinterne, abteilungsübergreifende Zusammenarbeitsnetzwerke und zum anderen institutionalisierte Netzwerkkooperationen mit verwaltungsexternen Akteuren wie z. B. mit Dienstleitungsanbietern, Fachpersonen oder interessierten Bürgerinnen und Bürgern, die für die Gestaltung der Alterspolitik relevant sind. Der Artikel schließt mit Überlegungen, wie NPG-Ansätze gestärkt und weiterentwickelt werden könnten. Der Aufsatz geht davon aus, dass Public Management im Allgemeinen und die Gestaltung sozialer Dienstleistungen im Besonderen immer weniger in den traditionellen territorialen und hierarchischen Strukturen staatlicher Steuerung bewältigt werden können. An ihre Stelle treten Governancestrukturen, d. h. nicht hierarchische Netzwerke ohne klare Grenzen zwischen Staat, Gesellschaft und privatem Sektor. Bei diesem Zugang werden Lösungen nicht angeordnet, sondern vorwiegend unter der Federführung des Staates ausgehandelt (Hablützel 2013). Netzwerkorientierung oder Netzwerkmanagement gelten in diesem Kontext als J. Stremlow (*)  Hochschule Luzern, Luzern, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_2

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J. Stremlow

wichtige Handlungsansätze (Schubert 2018a, b). Im Bereich der kommunalen Alterspolitik der Schweiz werden im Folgenden erste einschlägige Ansätze von New Public Governance präsentiert und Weiterentwicklungspfade skizziert.

1 Unterschiedliche Steuerungsmodi im Bereich des Public Managements Wirft man einen Blick auf die geschichtliche Entwicklung von Public Management, kann die Bildung von drei paradigmatischen Steuerungsmodi beobachtet werden (Knill und Tosun 2015; Osborne 2006). Den historischen Ursprung bildet die traditionelle Verwaltungsführung (Public Administration). Sie ist vorwiegend bürokratisch geprägt. Im Zentrum steht der Vollzug politischer Vorgaben. Demokratische Entscheide und rechtsstaatliches Handeln stellen die vornehmlichen Legitimationsbasen dieser Form des Public Managements dar. Mit den Neuerungen in Richtung des New Public Managements – respektive in der Schweiz der „wirkungsorientierten Verwaltung“ – hielten managementorientierte Konzepte Einzug in die Verwaltungsführung. Die Verwaltung hat zunehmend den Nachweis von Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit zu erbringen (Schedler und Proeller 2011). Die Orientierung an ökonomischen Prinzipien und Begriffen wie Markt, Konkurrenz oder dem Kundenbegriff sind wegleitend. Instrumente wie Leistungsaufträge, Globalbudgets, Kosten- und Leistungsrechnungen oder die regelmäßige öffentliche Ausschreibung von Leistungsaufträgen dienen als Instrumente der Verwaltungsführung (Schubert 2018a). Seit gut zehn Jahren wird ein neuartiger Steuerungsmodus beschrieben, die sogenannte New Public Governance. Dieser Modus basiert auf der Erkenntnis, dass neue gesellschaftliche Herausforderungen immer weniger in traditionellen territorialen, hierarchischen oder sektoral versäulten Strukturen gemeistert werden können. Governance-Strukturen öffnen diese Grenzen und schaffen Netzwerke zwischen staatlichen Ebenen bzw. Sektoren, privaten Organisationen und informellen Netzen, in denen eine Verständigung auf gemeinsame Ziele erfolgt und Lösungen unter den beteiligten Akteur*innen ausgehandelt werden (Hablützel 2013). Die drei Steuerungsmodi lösten sich im Verlaufe der Zeit nicht ab, sondern ergänzen sich. Sie existieren nebeneinander und überlagern sich in mancher Hinsicht. Tab. 1 gibt einen Überblick über Schlüsselelemente dieser drei Modi. Da es sich bei New Public Governance um den jüngsten Steuerungsmodus handelt, ist dessen Implementierung von besonderem Interesse.

Elemente des politischen Systems Bittsteller*innen Ethos des öffentlichen Sektors Hierarchie

Verhältnis zu externen Partner*innen

Rolle der Bürger*innen u. Zivilgesellschaft

Wertebasis

Steuerungsmechanismus

Gemeinsame Ziele, Regeln und Vertrauen, Selbstorganisation

Neo-Korporatismus: Einbindung aller Interessen

Beteiligte

Bevorzugte Anbieter*innen und verflochtene Akteure auf Basis von Langzeitbeziehungen

Dienstleistungsprozesse, Nutzen und Wirkungen (Outcome)

Pluralistisch, polyzentrisch

Interorganisationales Management (Systemsicht)

Leistungsaufträge, Globalbud- Aushandlungsprozesse, gets, Kosten- und Leistungsrech- Netzwerkmanagement, verschiedene Beteiligungsformen nung, Ausschreibungen

Wettbewerb, Markt und Vertragsbeziehungen

Wirksamkeit von Konkurrenz und Markt

Kundinnen/Kunden

Unabhängige Anbieter*innen am freien Markt, Kunden/Kundinnen

Dienstleistungen (Input und Output)

Trennung Staat und Privat

Intraorganisationales Management

Quellen: Osborne (2006), Hablützel (2013), Tabatt-Hirschfeldt (2018), Schubert (2018b)

Typische Steuerungsinstrumente Gesetzliche Grundlagen, Ressourcen

Einheitlich, monozentral Implementierung politischer Vorgaben (Input)

Handlungsverständnis

Handlungsprioritäten

Politisches System

Managementfokus

Sozialer Zusammenhalt und Partizipation

Rechtsstaatlichkeit

Ziel

Wettbewerbsfähigkeit

Fokus von Public Administration Fokus von New Public Manage- Fokus von New Public Goverment nance

Schlüssel-element

Tab. 1   Schlüsselelemente verschiedener Steuerungsmodi im Bereich des Public Management

New Public Governance in der Alterspolitik von Schweizer … 21

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Tab. 2   Untersuchte Schweizer Städte und Gemeinden Anzahl Anzahl Gemeinden in der Einwohner*innen (2015) Schweiz (2015)

Anzahl Gemeinden in der Befragung (deutsche Schweiz)

< 15.000

2240

1

≥ 15.000 und < 25.000

≥ 50.000 und < 100.000

55

4

≥ 25.000 und < 50.000

19

6

4

2

≥ 100.000

6

2

Quelle: Bundesamt für Statistik (2016)

2 Die Untersuchung von New Public GovernanceAnsätzen in der kommunalen Alterspolitik der Schweiz Ein Projektteam der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit untersuchte das Public Management der Alterspolitik in ausgewählten Schweizer Städten und Gemeinden. Dabei galt das Forschungsinteresse 1) dem Planungs- und Steuerungsverständnis bei der politisch-administrativen Gestaltung, 2) den bestehenden Formen von Beteiligung und Partizipation, 3) innovationsfördernden Bedingungen sowie 4) einer Orientierung am Sozialraum. Die Schweizer Untersuchung stellt ein Teilprojekt des Projektes «Integrierte Sozialplanung als Innovation für die Versorgung im Alter» der Technischen Hochschule Köln dar (Schubert et al. 2018). Untersucht wurden 15 Städte und Gemeinden in der deutschsprachigen Schweiz. Um die Vergleichbarkeit mit der Situation in Deutschland zu gewährleisten, lag der Auswahlfokus zum einen auf größeren Kommunen. Zum anderen sollten auch unterschiedlich große Gemeinden abgebildet werden (Tab. 2). Befragt wurden politische Verantwortliche oder Fachpersonen im Zuständigkeitsbereich der Alterspolitik aus den ausgewählten Schweizer Städten und Gemeinden mittels leitfadengestützter Interviews. Die jeweiligen Vertreterinnen und Vertreter hatten zum Zeitpunkt der Interviews entweder eine Fachfunktion auf Verwaltungsebene oder eine exekutive Funktion auf Ebene der Kommunalpolitik inne. Die Untersuchung enthält verschiedene Fragen, die Aussagen zur Bedeutung und zur Implementierung von New Public Governance erlauben. Im Zentrum steht diesbezüglich das Thema „Netzwerkorientierung“. So wurden den Fachpersonen u. a. folgende Fragen gestellt:

New Public Governance in der Alterspolitik von Schweizer …

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• Zusammenarbeit innerhalb der Kommunalverwaltung: Bestehen institutionalisierte Formen der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Dienstabteilungen oder Departementen in Form von stehenden Querschnittgremien, Arbeits- oder Fachgruppen? Wenn Ja, welche? Oder findet die Zusammenarbeit eher punktuell und fallbezogen statt? • Verwaltungsexterne Netzwerkkooperationen: Existieren Netzwerke oder Netzwerkkooperationen mit verwaltungsexternen Akteuren (z. B. mit Dienstleitungsanbietern, Fachpersonen, interessierten Bürgerinnen und Bürgern), die für die Gestaltung der Alterspolitik relevant sind? Wenn Ja, in welcher Art und Weise? • Einbezug der Bürgerinnen und Bürger: Werden Bürgerinnen und Bürger in die Gestaltung der Alterspolitik einbezogen? Wenn Ja, in welcher Art und Weise? Bestehen formelle Gremien (z. B. Fachkommissionen zu Altersfragen) oder informelle Formen? Bei den Beteiligungsverfahren wurde u. a. untersucht, ob es sich bei den genannten Gremien und -formen um einen formellen oder informellen Einbezug handelt. Insbesondere interessierte, ob die Beteiligung über die formellen Verfahren hinausgeht und von staatlicher Seite systematische Bestrebungen zu deren Förderung bestehen. Eine gezielte staatliche Förderung des Austauschs und der Netzwerkkooperation entspricht den Kerngedanken von New Public Governance.

3 Ansätze von New Public Governance in der kommunalen Alterspolitik 3.1 Verwaltungsinterne Zusammenarbeit und externe Netzwerkkooperation Aufgrund ihres Querschnittcharakters kann aus fachlicher Planungs- und Gestaltungsperspektive gefordert werden, dass zur Gestaltung der Alterspolitik – unabhängig von der Größe einer Kommune – eine verbindliche Kooperation innerhalb der Verwaltung zweckmäßig ist, die über eine punktuelle und situative Zusammenarbeit hinausgeht. In sieben der 15 untersuchten Schweizer Kommunen konnten entsprechende institutionalisierte, abteilungsübergreifende Zusammenarbeitsformen gefunden werden und in einem Fall eine interkommunale Kooperation (Stremlow et al. 2016, S. 63). Bei den übrigen sieben Gemeinden und Städten fand die ämterübergreifende Zusammenarbeit eher situativ statt. Im Weiteren konnte gezeigt werden, dass sich die verwaltungsinterne Zusammenarbeit

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vor allem in größeren Kommunen etabliert hat (Stremlow et al. 2016, S. 64). Vor dem Hintergrund der stärker ausgebauten und fachlich spezialisierten Verwaltungsstrukturen in größeren Gemeinden und Städten ist zu vermuten, dass diese in wachsendem Maße auf institutionalisierte Formen der Zusammenarbeit angewiesen sind. Dagegen dürften in kleineren Gemeinden – bedingt durch ihre geringer spezialisierten Verwaltungsstrukturen – möglicherweise weniger institutionalisierte Zusammenarbeitsgremien notwendig sein. Mit Blick auf verwaltungsexterne Netzwerkkooperationen hat Zweifel (2014) im Bereich der Alterspolitik eine nützliche Unterscheidung in drei verschiedene Netzwerktypen erarbeitet: 1. Das Behördennetzwerk besteht aus verschiedenen Instanzen der kommunalen Behörde wie zum Beispiel Gemeinderäten, verantwortlichen Ämtern, Alterskommissionen oder dem Parlament. Es ist von formalisierten Beziehungen der Verwaltung geprägt und bei Projekten werden die bekannten Akteure einbezogen. Der Fokus dieser Netzwerke liegt auf der strategischen Planung wie der Erarbeitung von Leitbildern oder Maßnahmenplänen. 2. Das Dienstleistungsnetzwerk setzt sich in der Regel aus privaten Anbietenden und der öffentlichen Hand zusammen und ist von einer diesbezüglichen Kooperation geprägt. In diesen Netzwerken spielen Fachpersonen und professionelle Akteure eine wichtige Rolle in der Planung und Gestaltung von Dienstleistungen. 3. In thematischen Netzwerken treffen sich verschiedene Organisationen in der Gemeinde oder Region für einen regelmäßigen Austausch zu einem bestimmten Thema, um Synergien zu nutzen. Häufig wird der Gesundheitssektor außerhalb dieser kommunalen Netzwerke abgedeckt, was die kommunalen Behörden entlastet, da Ressourcen für anderweitige Themen eingesetzt werden können. Der alterspolitische Bereich wird in der Regel von freiwilligen Organisationen und NGOs wahrgenommen. Im Vordergrund stehen Aktivitäten für ältere Menschen, deren soziale Integration und Kultur. Diese Netzwerke organisieren sich in der Regel informell; allenfalls übernimmt die Gemeinde eine Koordinationsaufgabe. Die Ergebnisse zeigen, dass zwölf der 15 untersuchten Städte und Gemeinden über Behördennetzwerke verfügen (Stremlow et al. 2016, S. 65–67). Dieses Ergebnis bildet den generellen Sachverhalt ab, dass in der Schweiz für die Planung und Gestaltung von Staatsaufgaben häufig formelle Netzwerke wie beispielsweise Fachkommissionen eingesetzt werden. Diese beraten in der Regel die Exekutive und haben dabei den Auftrag, „fachlich begründete und zugleich politisch konsens- und tragfähige Lösungen zu erarbeiten“ (Stremlow et al. 2016, S. 65).

New Public Governance in der Alterspolitik von Schweizer …

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In zwölf Kommunen sind Dienstleistungsnetzwerke anzutreffen. Sieben Städte und Gemeinden verfügen über thematische Netzwerke (Stremlow et al. 2016, S. 65). Thematische Netzwerkkooperationen finden sich insbesondere in größeren Städten, die eine umfassende Alterspolitik verfolgen und somit auch die Teilhabe älterer Menschen gezielt fördern (Stremlow et al. 2016, S. 66).

3.2 Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger Bei den untersuchten Schweizer Kommunen ließen sich die Beteiligungsformen zu vier Mustern zusammenfassen (Stremlow et al. 2016, S. 97–99). Mit Blick auf die Ansätze von New Public Governance ist dabei von besonderem Interesse, inwiefern die Verantwortlichen der Kommunalverwaltung Beteiligungsformen gezielt fördern. 1. Fokus auf formelle und mittelbare Beteiligung: In diesem Muster findet Beteiligung überwiegend im formellen, gesetzlich und verfahrenstechnisch geregelten Rahmen statt und erfolgt meistens durch die Vertretung der Bevölkerung mittels ausgewählter Personen, was einer mittelbaren Beteiligung entspricht. Die Teilnahme beschränkt sich mehrheitlich auf organisierte Akteure, und eine systematische Förderung weiterer Formen durch das politisch-administrative System ist kaum erkennbar. Fünf Kommunen lässt sich dieses Muster zuschreiben. 2. Informelle, situative Partizipation: Oftmals werden bei dieser Form punktuelle, projektbezogene Formen eingesetzt, die neben vereinzelten mittelbaren Formen insbesondere eine direkte Teilnahme der Interessengruppen ermöglichen. Dabei erhalten sowohl einzelne Bürger*innen als auch organisierte Akteure die Möglichkeit zur Partizipation. Hinsichtlich der Teilnahmegewährung legt das politisch-administrative System den Fokus auf Dialog und Beratung. Grundsätzlich sind die Beteiligungs- und Partizipationsformen häufig durch einen niederschwelligen, alltagsbezogenen Einbezug geprägt, wobei die Etablierung institutionalisierter und stärker formalisierter Formen von Beteiligung am Anfang steht. In drei untersuchten Kommunen herrscht dieses Beteiligungsmuster vor. 3. Gezielte Förderung der Beteiligung: Die Beteiligungsformen dieses Musters sind vielfältig. So finden sich formelle, gesetzlich und verfahrenstechnisch geregelte wie auch informelle Verfahren, die hinsichtlich der Form, der Umsetzung sowie der Beteiligungsberechtigung einen größeren Spielraum bieten. An formellen Verfahren partizipieren primär organisierte Akteure, während Bürger*innen

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mehrheitlich bei informellen Verfahren beteiligt sind. Im Rahmen der bestehenden Gremien und Formen des Einbezugs werden Interessen einerseits mittelbar durch ausgewählte Personen vertreten, zugleich stehen direkte Beteiligungsformen zur Verfügung, die allen Interessengruppen offenstehen. Mehrheitlich kann ein Bestreben des politisch-administrativen Systems festgestellt werden, die ältere Bevölkerung vermehrt in Entscheidungsfindungen einzubeziehen. Vier der untersuchten Schweizer Kommunen kann dieses Muster attestiert werden. 4. Beteiligung und Partizipation als integraler Bestandteil der Alterspolitik: Hier zeigt sich eine große Vielfalt an Gremien und Formen der Beteiligung. Einerseits findet sie im formellen Rahmen statt; mehrheitlich bestehen jedoch informelle Verfahren, die über formelle, verpflichtende Verfahren hinausgehen. Neben mittelbaren Teilnahmeformen liegt der Fokus oft auf einer direkten Teilnahme, die allen Interessengruppen offensteht. Das Spektrum der partizipierenden Akteure ist breit, beteiligt werden stets Bürger*innen und organisierte Akteure. Die Beteiligung wird von staatlicher Seite systematisch gefördert. Insofern besteht auch eine Bandbreite an Mitwirkungsmöglichkeiten. Diese reicht hinsichtlich der Teilnahmegewährung von der ersten Stufe der Information über die zweite Stufe des Austausches, des Dialogs und der Beratung teilweise bis hin zur dritten Stufe der partnerschaftlichen Kooperation. Oftmals existieren gut organisierte Vereine mit großen informellen Einflussmöglichkeiten auf Entscheidungen. Fünf der 15 untersuchten Kommunen kann dieser Typ zugeschrieben werden. Sozialer Zusammenhalt und Partizipation, der direkte Einbezug der Bürgerinnen und Bürger sowie die Einbindung aller Interessen gelten als Grundgedanken von New Public Governance. Die beiden letztgenannten Beteiligungsmuster kommen diesen Grundsätzen am nächsten.

4 Ausgewählte Beispiele von New Public Governance Ansätzen Die im Folgenden präsentierten Beispiele illustrieren Ansätze von New Public Governance und heben einzelne Schlüsselelemente in exemplarischer Weise hervor.

New Public Governance in der Alterspolitik von Schweizer …

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4.1 Beispiel 1: Seniorinnen-/Seniorenforum der Stadt Luzern In der Stadt Luzern (ca. 81.000 Einwohner*innen) erfolgte ab 2009 eine stra­ tegische Neuausrichtung der Alterspolitik, die u. a. in das Entwicklungsprojekt „Altern in Luzern 2012–2015“ (Stadtrat von Luzern 2011) mündete. Im Kontext dieses Projektes erfolgte der Aufbau des Forums „Luzern60plus“. Dabei handelt es sich um eine internetbasierte Austausch- und Innovationsplattform, die von engagierten Bürgerinnen und Bürgern betrieben wird (www.luzern60plus.ch), die über 60 Jahre alt sind und in der Stadt Luzern wohnen. Der gezielte Aufbau der Plattform erfolgte über mehrere Jahre mit Methoden der soziokulturellen Animation. Das Forum Luzern60plus besteht zurzeit aus rund 70 Mitgliedern und wird von einem Ausschuss geleitet. Der Stadtrat von Luzern hat das Forum Luzern60plus eingesetzt mit dem Zweck (www.luzern60plus.ch/ueber-uns) • der Gesprächspartnerschaft mit der Stadt in Fragen, die die Generation 60plus betreffen; • der Vertretung der Generation 60plus bei Behörden und anderen wichtigen Partnern; • der aktiven Stellungnahme und der Beteiligung an Vernehmlassungen; • des Engagements der Generation 60plus zugunsten einer attraktiven, lebensfreundlichen Stadt Luzern. Im Rahmen der Studie der Hochschule Luzern wurde deutlich, dass die Mitglieder des Forums einen substanziellen Beitrag zur Gestaltung der Alterspolitik in der Stadt Luzern leisten. Mit Blick auf ausgewählte Merkmale des New Public Governance Ansatzes illustriert das Forum Luzern60plus insbesondere zwei Kerngedanken: erstens den systematischen und gezielt geförderten Einbezug der Bürger*innen und der Zivilgesellschaft. Zweitens bringt die Austauschplattform zentrale Werte von New Public Governance zum Ausdruck: die Einbindung aller Interessen bei der politisch-administrativen Gestaltung. Beide Elemente sind in Tab. 3 grau unterlegt.

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Tab. 3   Durch das Forum „Luzern60plus“ illustrierte Kerngedanken von New Public Governance Schlüsselelement

Fokus von New Public Governance

Ziel

Sozialer Zusammenhalt und Partizipation

Managementfokus

Interorganisationales Management (Systemsicht)

Handlungsverständnis

Pluralistisch, polyzentrisch

Handlungsprioritäten

Optimale Gestaltung von Dienstleistungsprozessen sowie Orientierung am Nutzen und den Wirkungen (Outcome)

Verhältnis zu externen Partner*innen

Kooperation mit bevorzugten Anbieter*innen sowie verflochtene Akteure auf Basis von Langzeitbeziehungen

Rolle der Bürger*innen und der Zivilgesellschaft

Beteiligte (systematischer Einbezug/ Partizipation)

Wertebasis

Neo-Korporatismus: Einbindung aller Interessen

Steuerungsmechanismus

Gemeinsame Ziele, Regeln und Vertrauen, Selbstorganisation

Typische Steuerungsinstrumente

Aushandlungsprozesse, Netzwerkmanagement, verschiedene Beteiligungsformen

Eigene Darstellung

4.2 Beispiel 2: Quartierdienstleistungszentren in Schaffhausen Im Jahr 2008 wurde im Stadtparlament von Schaffhausen (ca. 36.000 Einwohner*innen) die Weiterentwicklung der Alterspolitik verabschiedet. Im Zentrum stand die Strategie „zu Hause alt werden“ und die Zusammenführung der ambulanten und stationären Altersbetreuung im Rahmen von Quartierdienstleistungszentren (QDZ) unter der Trägerschaft der Stadt. Es fand keine Übergabe an private Träger statt, wie das in der Schweiz seit einiger Zeit oft vorkommt. Die drei städtischen Altersheime wurden schrittweise zu quartierbezogenen Alterszentren ausgebaut, denen in einem ersten Schritt die ambulante Pflege für das jeweilige Quartier zugeordnet wurde; eine Reihe weiterer Angebote folgten. Ziel war und ist es, Quartierbewohnerinnen und -bewohnern einen möglichst einfachen und niederschwelligen Zugang zu einer breiten Angebotspalette zur Verfügung

New Public Governance in der Alterspolitik von Schweizer …

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Tab. 4   Durch die Quartierdienstleistungszentren illustrierte Kerngedanken von New Public Governance Schlüsselelement

Fokus von New Public Governance

Ziel

Sozialer Zusammenhalt und Partizipation

Managementfokus

Interorganisationales Management (Systemsicht)

Handlungsverständnis

Pluralistisch, polyzentrisch

Handlungsprioritäten

Optimale Gestaltung von Dienstleistungsprozessen sowie Orientierung am Nutzen und den Wirkungen (Outcome)

Verhältnis zu externen Partner*innen

Kooperation mit bevorzugten Anbieter*innen sowie verflochtene Akteure auf Basis von Langzeitbeziehungen

Rolle der Bürger*innen und der Zivilgesellschaft

Beteiligte (systematischer Einbezug/ Partizipation)

Wertebasis

Neo-Korporatismus: Einbindung aller Interessen

Steuerungsmechanismus

Gemeinsame Ziele, Regeln und Vertrauen, Selbstorganisation

Typische Steuerungsinstrumente

Aushandlungsprozesse, Netzwerkmanagement, verschiedene Beteiligungsformen

Eigene Darstellung

zu stellen. Überdies wurde in der Stadtverwaltung die Stabstelle soziale Quartierentwicklung geschaffen. Diese setzt die Gemeinwesenarbeit um. Teil davon sind breit angelegte Quartierbegehungen mit älteren Bewohnerinnen und Bewohnern. Im Weiteren besteht in Schaffhausen ein Fachbeirat für Altersfragen, in dem alle wichtigen Stakeholder vertreten sind. Die Quartierentwicklung, die regelmäßige Beteiligung der älteren Bevölkerung sowie die vielfältigen und niederschwellig zugänglichen Angebote im unmittelbaren Lebensraum der älteren Menschen verweisen auf zwei Kerngedanken von New Public Governance: Zum einen entsprechen sie dem Anliegen einer optimalen Gestaltung von Dienstleistungsprozessen sowie der Orientierung an deren Nutzen und deren Wirkungen. Zum anderen richten sie sich systematisch an den Bedürfnissen und der Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger im Quartier aus. Beide Elemente sind in Tab. 4 grau unterlegt.

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J. Stremlow

4.3 Beispiel 3: Interkommunale Kooperation Vor etwa zehn Jahren starteten Bestrebungen, die Alterspolitik der drei Zürcher Gemeinden Wallisellen (ca. 15.000 Einwohner*innen), Wangen-Brüttisellen und Dietlikon (je ca. 7500 Einwohner*innen) umfassend zu koordinieren und die Dienstleistungen im Altersbereich über ein „Regionales Kompetenzzentrum Alter“ zentral zu steuern. Die weitreichende interkommunale Kooperation konnte teilweise umgesetzt werden. Ein Ergebnis der damaligen Bemühungen ist die Fusion der ambulanten Pflegeeinrichtungen der drei Gemeinden, die 2010 beschlossen und ab Januar 2014 realisiert wurde. Aktuelle Grundlage für die Koordination und Zusammenarbeit unter den drei Gemeinden ist das Konzept „Regionale Kooperation Alter und Gesundheit“. Als Ziel wird darin die Sicherstellung einer bestmöglichen, bedarfsgerechten, koordinierten Pflege und Betreuung von pflegebedürftigen Einwohnerinnen und Einwohnern mit einer optimalen Finanzierung genannt. Kräfte sollen gebündelt und Synergien genutzt werden. Dazu zählt nach der Fusionierung der ambulanten Pflege auch eine strategische Allianz zur Abstimmung und Koordination der stationären Angebote in den drei Alters- und Pflegezentren. Neben der gemeinsamen Ausrichtung bestehen in allen drei Gemeinden zusätzlich eigene alterspolitische Schwerpunkte, die sich aus der jeweiligen Größe und Siedlungsstruktur, aber auch aus den politischen Kulturen ergeben. Die interkommunale Kooperation der drei Gemeinden im Kanton Zürich stellt einen Ansatz dar, die politisch bedingten Grenzen vergleichsweise kleiner Versorgungsräume zu überwinden, um damit Dienstleistungsprozesse zu optimieren; dies beispielsweise in Bezug auf die Kosteneffizienz, die Nutzer*innen-Orientierung oder die Palette der Dienstleitungen. Diese Bemühungen entsprechen dem Kerngedanken von New Public Governance, „optimale Gestaltung von Dienstleitungsprozessen am Nutzen und den Wirkungen (Outcome)“, und bedingen ein interorganisationales Management – ebenfalls ein Kerngedanke. Beide sind in Tab. 5 grau unterlegt. Angesichts der Anzahl vieler kleinerer Gemeinden in der Schweiz wären interkommunale Kooperationen zu empfehlen, um die Alterspolitik weiterzuentwickeln.

New Public Governance in der Alterspolitik von Schweizer …

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Tab. 5   Durch die interkommunale Kooperation illustrierte Kerngedanken von New Public Governance Schlüsselelement

Fokus von New Public Governance

Ziel

Sozialer Zusammenhalt und Partizipation

Managementfokus

Interorganisationales Management (Systemsicht)

Handlungsverständnis

Pluralistisch, polyzentrisch

Handlungsprioritäten

Optimale Gestaltung von Dienstleistungsprozessen sowie Orientierung am Nutzen und den Wirkungen (Outcome)

Verhältnis zu externen Partner*innen

Kooperation mit bevorzugten Anbieter*innen sowie verflochtene Akteure auf Basis von Langzeitbeziehungen

Rolle der Bürger*innen und der Zivilgesell- Beteiligte (systematischer Einbezug/ schaft Partizipation) Wertebasis

Neo-Korporatismus: Einbindung aller Interessen

Steuerungsmechanismus

Gemeinsame Ziele, Regeln und Vertrauen, Selbstorganisation

Typische Steuerungsinstrumente

Aushandlungsprozesse, Netzwerkmanagement, verschiedene Beteiligungsformen

Eigene Darstellung

4.4 Beispiel 4: Fachliche und finanzielle Unterstützung pflegender Angehöriger Im Kanton Basel-Stadt haben dauernd pflegebedürftige Personen mit Wohnsitz im Kanton, die durch Angehörige oder Dritte gepflegt werden, Anspruch auf finanzielle Beiträge. Voraussetzung ist ein bedeutender Pflege- und Betreuungsaufwand (mindestens eine Stunde pro Tag), der durch Angehörige oder Nachbarn erbracht wird. Die Höhe des Pflegebeitrages hängt vom Erhalt einer allfälligen Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung oder der Alters- und Hinterlassenenversicherung ab.1

1https://www.gesundheitsversorgung.bs.ch/aeltere-menschen/kosten-finanzierung.html

(27.05.2019).

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J. Stremlow

Eine zentrale Aufgabe der Fachstelle „Alter“ der Gemeinde Riehen (ca. 21.000 Einwohner*innen) im Kanton Basel-Stadt ist die Information und Beratung über die vielfältigen Dienstleistungen zu Hause, die den Verbleib im angestammten Umfeld erleichtern und teilweise erst ermöglichen. Die Fachstelle berät dabei u. a. Angehörige resp. pflegende Privatpersonen und klärt Berechtigungen für eine finanzielle Unterstützung ab. Im Weiteren arbeitet sie mit Freiwilligenorganisationen und Leistungserbringenden zusammen und ist für die Gesundheitsförderung im Alter zuständig. Ziel ist eine vielfältige Angebotspalette bei einer gleichzeitig hohen Vernetzung und Integration der Angebote. Wegweisend für die Schweiz sind dabei insbesondere die gezielt gestalteten Übergänge vom natürlichen Hilfsumfeld (z. B. pflegende Angehörige oder Privatpersonen) zur professionellen Pflege und Betreuung. Diese Bemühungen beziehen – ganz im Sinne der Kerngedanken von New Public Governance – die Bürger*innen aktiv ein und sind Ausdruck eines systematischen Netzwerkmanagements (Tab. 6). Tab. 6   Durch die interkommunale Kooperation illustrierte Kerngedanken von New Public Governance Schlüsselelement

Fokus von New Public Governance

Ziel

Sozialer Zusammenhalt und Partizipation

Managementfokus

Interorganisationales Management (Systemsicht)

Handlungsverständnis

Pluralistisch, polyzentrisch

Handlungsprioritäten

Optimale Gestaltung von Dienstleistungsprozessen sowie Orientierung am Nutzen und den Wirkungen (Outcome)

Verhältnis zu externen Partner*innen

Kooperation mit bevorzugten Anbieter*innen sowie verflochtene Akteure auf Basis von Langzeitbeziehungen

Rolle der Bürger*innen und der Zivilgesellschaft

Beteiligte (systematischer Einbezug/Partizipation)

Wertebasis

Neo-Korporatismus: Einbindung aller Interessen

Steuerungsmechanismus

Gemeinsame Ziele, Regeln und Vertrauen, Selbstorganisation

Typische Steuerungsinstrumente

Aushandlungsprozesse, Netzwerkmanagement, verschiedene Beteiligungsformen

Eigene Darstellung

New Public Governance in der Alterspolitik von Schweizer …

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5 Weiterentwicklung Die präsentierten Fallbeispiele für New Public Governance Ansätze stammen aus Schweizer Städten und Gemeinden, in denen von Innovation und „Guter Praxis“ im Bereich der Alterspolitik gesprochen werden kann. In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie diese Ansätze weiter gefördert werden könnten. Zunächst kann festgestellt werden, dass New Public Governance Elemente in der kleinräumig und uneinheitlich strukturierten Schweiz durch zwei politische Strukturmerkmale begünstigt werden können: erstens durch das Prinzip der unmittelbaren Volkssouveränität und politischen Mitbestimmungskultur im Rahmen der direkten Demokratie und zweitens durch die profilierten föderalistischen Strukturen. Gerade der ausgeprägte Föderalismus, der einer dezentralen Verantwortung für Planung und Gestaltung in den Kommunen eine zentrale Bedeutung beimisst und weniger auf hierarchische staatliche Strukturen ausgerichtet ist (Fürst und Zimmermann 2005), kann sich förderlich auf die Entwicklung von New Public Governance auswirken (Stremlow und Da Rui 2018, S. 159). Die politische Mitbestimmungskultur fördert zudem den formellen und informellen Einbezug der Bürger*innen. In den unzähligen kleinen Gemeinden der Schweiz ((über 2000 Gemeinden mit weniger als 15.000 Einwohner*innen, 2015) sind einer professionellen und zukunftsweisenden Planung und Gestaltung der Alterspolitik jedoch auch institutionelle Grenzen gesetzt, z. B. durch geringe personelle Ressourcen, die in der Kommunalverwaltung zur Verfügung stehen. In Deutschland wird in Politik und Fachwelt zurzeit das Ziel diskutiert, die Gestaltung der Versorgung im Alter als kommunale Pflichtaufgabe gesetzlich zu verankern (Deutscher Bundestag 2016). Dieser Entwicklungspfad ist für die Schweiz angesichts ihrer subsidiären politischen Kultur und ihrer föderalistischen Strukturen kaum denkbar. Vielversprechender wäre es, (kantonale) Orientierungsrahmen für die Kommunen zu erarbeiten, um ein Planungsbewusstsein in der Kommunalverwaltung zu entwickeln (Schubert und Stremlow 2018). Eine zweckdienliche Richtschnur bieten diesbezüglich die Kriterien zur Beurteilung der Altersfreundlichkeit in Gemeinden, wie sie von der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie in Anlehnung an die WHO-Checkliste „Global Age-Friendly Cities“ erarbeitet wurden. Ebenfalls zielführend wäre der Anschluss an Fachnetzwerke wie z. B. das „Netzwerk altersfreundliche Städte“ (www.altersfreundlich. net) oder schlicht das Lernen von denjenigen Kommunen, die eine innovative Alterspolitik verfolgen.

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J. Stremlow

Literatur Bundesamt für Statistik BFS. (2016). Institutionelle Gliederungen der Schweiz. Die Gem­ einden. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/querschnittsthemen/raeumlicheanalysen/raeumliche-gliederungen/Institutionelle-gliederungen.assetdetail.7008563.html. Zugegriffen: 27. Mai 2019. Deutscher Bundestag. (2016). Siebter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland: Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften. Drucksache 18/10210. Berlin: Eigenverlag. Fürst, D., & Zimmermann, K. (2005). Governance – Ein tragfähiges Analysekonzept für Prozesse regionaler oder lokaler Selbststeuerung? Endbericht des DFG-Projektes FU 101/22-1 2005. Hannover: Typoskript. Hablützel, P. (2013). Bürokratie – Management – Governance: Schweizer Verwaltung und Verwaltungsführung im Wandel. In A. Ladner, J.-L. Chappelet, Y. Emery, P. Knoepfel, L. Mader, N. Soguel, & F. Varone (Hrsg.), Handbuch der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz (S. 93–106). Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung. Knill, C., & Tosun, J. (2015). Einführung in die Policy-Analyse. Opladen: Budrich. Osborne, S. P. (2006). The new public governance? Public Management Review, 8,377–387. Schedler, K., & Proeller, I. (2011). New public management. Bern: Haupt. Schubert, H. (2018a). Netzwerkorientierung in Kommune und Sozialwirtschaft. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS. Schubert, H. (2018b). Netzwerkmanagement in Kommune und Sozialwirtschaft. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS. Schubert, H., Bremsthaler, S., & Zinn, J. (2018). Integrierte Sozialplanung für die Versorgung im Alter – Bausteine und innovative Planungspraxis, (S. tbd.-tbd.). Wiesbaden: Springer VS (Erscheint Ende 2018). Schubert, H., & Stremlow, J. (2018). Sozialplanung zwischen Pfadabhängigkeit und Konvergenz in Deutschland und in der Schweiz. In H. Schubert, S. Bremsthaler, & J. Zinn (Hrsg.), Integrierte Sozialplanung für die Versorgung im Alter – Bausteine und innovative Planungspraxis, (S. tbd.-tbd.). Wiesbaden: Springer VS. Stadtrat Luzern. (2011). Altern in Luzern – ein Einwicklungskonzept. Luzern: Bericht und Antrag an den Grossen Stadtrat von Luzern vom 31. August 2011. Stremlow, J., & Da Rui, G. (2018). Sozialplanung in Schweizer Städten und Gemeinden – eine Standortbestimmung am Beispiel der Alterspolitik. In H. Schubert & H. Spieckermann (Hrsg.), Sozialraum und Netzwerke (S. 157–164). Köln: Verlag Sozial – Raum – Management. Stremlow, J., Riedweg, W., Da Rui, G., & Müller, M. (2016). Gestaltung der Alterspolitik, Beteiligung und Partizipation in ausgewählten Schweizer Städten und Gemeinden. Kölner Schriftenreihe für Management und Organisation in der Sozialen Arbeit (4/2016). https://cos.bibl.th-koeln.de/frontdoor/index/index/docId/395: Zugegriffen: 3. Sept. 2018. Tabatt-Hirschfeldt, A. (2018). Öffentliche Steuerung und Gestaltung der kommunalen Sozialverwaltung im Wandel. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer. Zweifel, C. (2014). Alterspolitische Netzwerke in Schweizer Gemeinden. In F. Höpflinger & J. van Wezemael (Hrsg.), Age Report III – Wohnen im höheren Lebensalter, Grundlagen und Trends (S. 201–210). Zürich: Seismo.

Lebenslanges Lernen in der Öffentlichen Verwaltung fördern: Bedarfserhebung und Handlungsansätze zur Entwicklung von Modulen wissenschaftlicher Weiterbildung Frank Unger Zusammenfassung

Der vorliegende Text skizziert Perspektiven der beruflichen Weiterbildung in der Öffentlichen Verwaltung mit dem Schwerpunkt der Implementierung von Blended Learning Ansätzen. Im Kontext aktueller und künftig noch steigender Herausforderungen an die Beschäftigten der Öffentlichen Verwaltung müssen Konzepte der Personalentwicklung und Angebote zur Weiterbildung umfassend analysiert und weiterentwickelt werden. Erhebungen zum Bildungsbedarf, zu Voraussetzungen und zur Gestaltung von Lernangeboten können hierbei die Verantwortlichen zielgerichtet unterstützen und zum Gelingen entsprechender Weiterbildungsangebote beitragen. Am Beispiel der Untersuchung einer Öffentlichen Verwaltung zur Entwicklung wissenschaftlicher Weiterbildungsangebote werden Anforderungen dargestellt und Handlungsmöglichkeiten diskutiert.

F. Unger ()  Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_3

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F. Unger

1 Personal und Personalentwicklung in der Öffentlichen Verwaltung im Kontext lebenslangen Lernens: Situation und Perspektiven Technische Entwicklung und Digitalisierung, gesellschaftliche Wandlungstendenzen, demografische Entwicklung wie die Zunahme von Komplexität, Dynamik und Unsicherheit wirken sich zunehmend auf die Arbeitswelt und das private Umfeld aus (Annosi et al. 2018; Arnold et al. 2017; Mack und Khare 2016; Birk et al. 2015, S. 10). Solche tief greifenden Veränderungen führen auch zu sich wandelnden Ansprüchen von Bürger*innen, Unternehmen sowie der Politik an die Öffentliche Verwaltung und demzufolge zu neuen Aufgabenbereichen und Herausforderungen (Gourmelon et al. 2018, S. 1 ff.; Fischer 2015, S. 31; Lünendonk 2015, S. 6 ff.; Hopp und Göbel 2013, S. 19 ff., 32 ff.). Immer seltener wird erlerntes Wissen (und damit Wissen der Vergangenheit) ausreichen, um mit künftig auftretenden Anforderungen erfolgreich umgehen und diese umfassend bewältigen zu können. Es wird, neben Flexibilität und sozial-emotionalen Kompetenzen1, auf vielfältige Fertigkeiten und Fähigkeiten ankommen, um angemessene Lösungen für die Herausforderungen des Verwaltungsalltags zu entwickeln (Unger 2018). Wenngleich die Auswirkungen der zuvor skizzierten Wandlungstendenzen nicht selten auf eine noch eher starre Verwaltung treffen (was auch die Personalrekrutierung und -entwicklung betrifft; z. B. Niemann und Geißler 2016), sind in jüngster Vergangenheit ein steigendes Problembewusstsein und auch verschiedene Anpassungstendenzen zu erkennen (Möltgen-Sicking und Winter 2018, S. 118 ff.; Gourmelon et al. 2018, S. 6; Thom und Ritz 2017, S. 7, 10 ff.; Institut für Verwaltungsberatung und Perseo GmbH 2016). Innovative Entwicklungen (z. B. E-Government), eine stärkere Öffnung und Vernetzung der Verwaltung (nach innen und außen) sowie Veränderungen im Beteiligungs-, Organisations- und Dienstleistungsverständnis sind einige nicht unerhebliche Antworten auf aktuelle und künftig noch steigende Anforderungen. Doch wie schon in der Vergangenheit, stellt motiviertes und kompetentes Personal (in ausreichender Anzahl) den zentralen Schlüssel für eine professionelle, flexible und zukunftsfähige Öffentliche Verwaltung dar (Gourmelon et al. 2018, 1„Kompetenzen

beschreiben die Disposition, in reflektierter Weise selbstorganisiert zu handeln […] Erpenbeck und von Rosenstiel (2007) definieren ein einheitliches Konzept mit vier Kompetenzklassen: Persönliche Kompetenzen, fachliche und methodische Kompetenzen, soziale und kommunikative Kompetenzen, handlungs- und umsetzungsorientierte Kompetenzen…“ (Metternich et al. 2018, S. 75 f.).

Lebenslanges Lernen in der Öffentlichen Verwaltung fördern …

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S. 65, 70, 366 ff.). Bereits die Frage nach der Q ­ uantität verdeutlicht allerdings die sich bereits heute abzeichnenden und künftig problematischer werdenden Entwicklungen des Fachkräftemangels (Unger 2018; Detemple et al. 2017, S. 18 ff.). Dies gilt ebenso für den Bereich des öffentlichen Sektors (MöltgenSicking und Winter 2018, S. 113 ff.; Detemple et al. 2017; Niemann und ­Geißler 2016; Lünendonk GmbH 2015, S. 20 ff.; ­Richenhagen et al. 2014). Hier treffen gleichzeitig verschiedene Aspekte aufeinander. Neben der im Sinne der Fachkräftesicherung und -gewinnung vergleichsweisen ungünstigen Altersstruktur (Lünendonk GmbH 2015, S. 2), hat der seit vielen Jahren betriebene Abbau des Personals im Öffentlichen Dienst den Personalkörper und damit auch Personalpotenziale für die verschiedenen Anforderungen (u. a. auch Führungskräftenachwuchs) abschmelzen lassen (Detemple et al. 2017; Vesper 2016; Robert-Bosch-Stiftung 2009). Erst in den letzten Jahren kann eine entgegengesetzte Bewegung konstatiert werden, die jedoch nicht flächendeckend und eher „themen-/aufgabenspezifisch“ stattfindet (z.  B. im frühpädagogischen Bereich – siehe hierzu Möltgen-Sicking und Winter 2018, S. 115 f.; Vesper 2016). Ungeachtet leicht positiver Entwicklungen verweist auch Vesper (2016, S. 57 f.) auf die altersbedingten „Ersatzbedarfe“ wie auf neue Herausforderungen (auch Detemple et al. 2017; Institut für Verwaltungsberatung und Perseo GmbH 2016; Lünendonk GmbH 2015; Fischer 2015). Im Gegensatz zu anderen B ­ ranchen (wie z. B. der Industrie) kann nicht davon ausgegangen werden, dass Rationalisierungseffekte durch technische bzw. digitale Errungenschaften, der zielgerichtete Einsatz von (besonders materiellen) Anreizen oder eine bedeutende Arbeitgebermarke (Stichwort „War for Talents“) die bevorstehende Personalknappheit im Öffentlichen Dienst umfassend ausgleichen können (Detemple et al. 2017, S. 3). Nicht selten handelt es sich bei den zukünftig ausscheidenden Arbeitskräften um gut qualifizierte Personen mit schwer zu ersetzenden (Schlüssel-)Qualifikationen, deren Wegfall das Verwaltungshandeln spürbar beeinträchtigen kann. In diesem höheren Qualifikationssegment wird zudem eine Zunahme des Engpasses um das Dreifache vorausgesagt (Detemple et al. 2017, S. 20). Somit rückt die Gewinnung von neuen Mitarbeiter*innen und der (langfristige) Erhalt der bereits vorhandenen Beschäftigten (mit entsprechend aktuellen Kompetenzen) immer stärker in den Vordergrund (Möltgen-Sicking und Winter 2018, S. 120 ff., 125 ff.). Wie zuvor bereits skizziert, entstehen zudem durch neue Aufgabenfelder in der Verwaltung, politische Vorgaben oder steigende Ansprüche an die Dienstleistungsqualität neue Herausforderungen (Detemple et al. 2017; Niemann und Geißler 2016, S. 3). All jene Tendenzen lassen auf einen akuten Handlungsbedarf schließen, welcher hinsichtlich der strategischen Fachkräftesicherung im Öffentlichen Dienst generell (regional, quantitativ und

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qualitativ sicherlich unterschiedlich stark) vorhanden ist und noch zunehmen wird (Detemple et al. 2017; Niemann und Geißler 2016; Richenhagen et al. 2014). Die beschriebenen Folgen der demografischen Entwicklung erfordern ein Umdenken in den Kommunalverwaltungen und führen zu verschiedenen (auch oder vor allem innovativen) Handlungsnotwendigkeiten (Möltgen-Sicking und Winter 2018; Detemple et al. 2017, S. 84; Institut für Verwaltungsberatung und Perseo GmbH 2016; Lünendonk GmbH 2015, S. 21 ff.; Fischer 2015; ­Bogumil et  al. 2013, S. 276; Robert-Bosch-Stiftung 2009, S. 57). In nahezu allen Bereichen des Personalmanagements der Öffentlichen Verwaltung ergeben sich Ansatzpunkte für die Fachkräftegewinnung und -sicherung (Deller et al. 2008, S. 112 f.; Möltgen-Sicking und Winter 2018, S. 119). In den Handlungsempfehlungen der Robert-Bosch-Stiftung (2009) für die Öffentliche Verwaltung wird die Sicherung der Zukunftsfähigkeit des Personals ebenso deutlich als zentrales Handlungsfeld herausgehoben. Neben den bereits zuvor erläuterten Aspekten sollen insbesondere Kompetenzen der Lern- und Handlungsautonomie gefördert werden. Das bedeutet, dass die Beschäftigten in Zukunft noch mehr als heutzutage in der Lage sein müssen „selbstständig Probleme und Abweichungen von der Routine zu identifizieren und nach neuen Problemlösungen zu suchen. In diesem Zusammenhang nehmen Mitarbeiter z. B. eigenen Schulungsbedarf wahr und entwickeln gemeinsam mit dem Vorgesetzen Lösungsstrategien“ (­Robert-Bosch-Stiftung 2009, S. 87; auch Thom und Ritz 2017, S. 359). Folgt man diesem Ansatz unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Megatrends, wird auch für den Öffentlichen Dienst die (allgemein postulierte) Notwendigkeit einer veränderten Schwerpunktsetzung im Bildungsbereich evident: Es stehen vermehrt Fähigkeiten und Fertigkeiten im Fokus, die die Beschäftigten im Alltag wie im Beruf unterstützen, mit Brüchen und Widersprüchen sowie mit den damit verbundenen Unsicherheiten umzugehen, Informationen kritisch zu hinterfragen und offen für verschiedene, selbst entwickelte Lösungsmöglichkeiten zu sein (Butler et al. 2017, EduAction Erklärung 2016). Eine Personalentwicklung2, die hinsichtlich Planung und Durchführung von Angeboten der Aus- und

2„Die Personalentwicklung umfasst alle bildungs- und stellenbezogenen Maßnahmen bei Mitarbeitenden aller Ebenen einer Institution zur Steigerung der Qualifikation, um die gegenwärtigen und zukünftigen Anforderungen erfüllen zu können“ (Thom und Ritz 2017, S. 358). „Das übergeordnete Ziel der PE sind der Aufbau, die Beibehaltung sowie der Ausbau beruflicher Handlungskompetenzen. Das Vorhandensein dieser Kompetenzen wird in der konkreten Anwendung und Ausführung von Tätigkeiten sichtbar“ (Krisor et al. 2015, S. 180). Aus- und Weiterbildung gelten als ein zentrales Element im Rahmen der Personalentwicklung.

Lebenslanges Lernen in der Öffentlichen Verwaltung fördern …

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­ eiterbildung an den individuellen Bildungsbedarfen der Mitarbeiter*innen im W Kontext zukünftig benötigter Kompetenzen und unter Berücksichtigung aktueller bildungswissenschaftlicher Erkenntnisse ansetzt, wird somit zu einer bedeutenden Perspektive im Umgang mit dem zunehmenden Mangel an qualifiziertem Personal (Unger et al. 2017, S. 3). Sie ist die Basis für die wirkungsvolle, kontinuierliche Weiterentwicklung der Mitarbeiter*innen in der Öffentlichen Verwaltung (Krisor et al. 2015, S. 183). Eine moderne Personalentwicklung folgt einem Bildungsverständnis, das die Einzigartigkeit der Menschen und den Wunsch nach Eigenverantwortung wie auch das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit wertschätzt und stützt sowie die individuelle Befähigung zu selbst gesteuertem, lebenslangem Lernen und damit den Abbau von Chancenungleichheiten fokussiert (KMK 2017, S. 181 f.; Jürgens et al. 2017, S. 80), gleichzeitig jedoch auch diese mitarbeiter*innen orientierte Blickrichtung mit den künftigen Bedarfen der Öffentlichen Verwaltung in strategischen Konzeptionierungen vorausschauend und umfassend in Einklang bringt. Wenngleich die Digitalisierung unweigerlich eine wesentliche und noch an Gewicht zunehmende Rahmenbedingung für Bildung insgesamt wie auch für den Öffentlichen Dienst darstellt, so gibt es noch weitere, wichtiger werdende Kompetenzen, wie z. B. die Bereitschaft bzw. Befähigung zum selbst gesteuerten Problemlösen (und Lernen), interdisziplinäres Denken und Handeln, sozial-­ emotionale Kompetenzen, Eigenverantwortung, Flexibilität, Kreativität sowie Urteils- und Entscheidungsfähigkeit – verbunden mit Achtsamkeit und Nachhaltigkeit (Unger 2018; Welpe et al. 2018; Hollmann und Patscha 20153). Auch für den Bereich der Öffentlichen Verwaltung gilt: Einmal angeeignetes Wissen oder standardisierte Qualifikationen sind nicht (mehr) ausreichend. Es kommt vielmehr auf die situative und zielgerichtete Anwendung und selbstständige Weiterentwicklung des Wissens, der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten an; auf die Befähigung, „auf Basis fachlicher, sozialer, methodischer und personaler Teilkompetenzen situationsangemessen handeln zu können“ (Wahl 2013, S. 212). Die Entwicklung solcher Kompetenzen kann von außen nur eingeschränkt beeinflusst oder gar vorgegeben bzw. kotrolliert werden, sondern entsteht durch Angebote, die Lernen als erfahrungsbasierten, individuellen und zugleich sozialen, selbst gesteuerten, aktiven wie emotionalen Prozess v­ erstehen (Tippelt und Kadera 2014, S. 473 ff., Mandl und Kopp 2006). Hierbei nehmen

3Verschiedene

Perspektiven zu künftigen Kompetenzerfordernissen und viele Möglichkeiten der Entwicklung von Kompetenzen bieten die Beiträge in Ahrens und Molzberger 2018 (Hrsg.).

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das bewusste Lernen aus Fehlern anhand praktischer Erfahrungen und die theoretische Einordnung entsprechender Handlungsmöglichkeiten, die wiederum in praxisrelevante Interventionen umgesetzt werden, einen wesentlichen Raum ein. Die Angebote für entsprechende (Weiter-)Bildungsangebote sind vielfältig. Auch in Hochschulen entwickelt sich (neben „klassischen Studienangeboten“) zusehends ein Feld, das sich auf den Bereich der beruflichen (Weiter-)Bildung konzentriert: die sog. „wissenschaftliche Weiterbildung4“. Sie stellt einen Weg dar, die Entwicklung wissensbasierter Kompetenzen auf akademischem Niveau wie auch die Professionalisierung und Zertifizierung berufspraktischer Kompetenzen zu ermöglichen (Unger et al. 2017, S. 3 f.; Wolter 2011, S. 26). Auch für die Öffentliche Verwaltung können Angeboten der wissenschaftlichen Weiterbildung als ein innovatives wie professionelles und damit hilfreiches Instrument der Personalentwicklung der Zukunft verstanden und genutzt werden. Der vorliegende Beitrag widmet sich den Perspektiven von wissenschaftlicher Weiterbildung in der Öffentlichen Verwaltung – insbesondere unter Berücksichtigung von Blended Learning Angeboten. Am Beispiel einer Bildungsbedarfsanalyse in einer Kommunalverwaltung können verschiedene Faktoren aufgezeigt werden, welche die berufliche Weiterbildung und die Gestaltung entsprechender Bildungsangebote positiv beeinflussen können. Hieraus lassen sich Bedingungen und Handlungsansätze für den wirkungsvollen Einsatz wissenschaftlicher Weiterbildungsangebote im Rahmen der Personalentwicklung in der Öffentlichen Verwaltung ableiten.

2 Erkenntnisse der empirischen Bildungsforschung als Grundlage der Bedarfserhebung und Bildungsplanung im Rahmen der wissenschaftlichen Weiterbildung Betrachtet man die vielfältigen Befunde zur wirkungsvollen Erwachsenenbildung, so fokussieren sich diese insbesondere auf folgende Aspekte: Neben den zentralen Faktoren Anschlussfähigkeit, konkrete Verwertbarkeit und aktives 4Die

Kultusministerkonferenz versteht unter wissenschaftlicher Weiterbildung „die Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens nach Abschluss einer ersten Bildungsphase und in der Regel nach Aufnahme einer Erwerbs- oder Familientätigkeit, wobei das wahrgenommene Weiterbildungsangebot dem fachlichen und didaktischen Niveau der Hochschule entspricht […] Wissenschaftliche Weiterbildung knüpft in der Regel an berufliche Erfahrungen an, setzt aber nicht notwendigerweise einen Hochschulabschluss voraus“ (KMK 2001, S. 2 f.).

Lebenslanges Lernen in der Öffentlichen Verwaltung fördern …

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Problemlösen (z. B. Schellhammer 2017; Tippelt und Kadera 2014; Mandl und Kopp 2006) sind es vor allem Autonomie (Selbststeuerung), soziale Zugehörigkeit/Verbundenheit und Kompetenzorientierung/-erleben, die für gelingende Lehr-Lern-Prozesse bedeutend sind (Gagné und Deci 2014; Deci und Ryan 2012). Aus diesen Punkten wird die Notwendigkeit der passgenauen Gestaltung von Lehr-Lern-Beziehungen auf der einen Seite, wie auch das Erfordernis, Lernen als erfahrungs- und problembasierten, individuellen, selbst gesteuerten, aktiven wie emotionalen Prozess, der trotz Autonomietendenzen auch soziale Eingebundenheit sucht, evident. Wenngleich es den Königsweg der Wissensvermittlung bzw. Kompetenzentwicklung nicht gibt, so legen angemessene Lernanforderungen, eine ausreichende Teilnehmenden-Orientierung (und damit eine gewisse Flexibilität im Rahmen der Lehrveranstaltungen) sowie die durchdachte methodisch-didaktische Planung einen bedeutenden Grundstein für erfolgreiches Lernen und somit für gelingende Veranstaltungen (Nückles und Wittwer 2014; Tippelt und Kadera 2014; Wahl 2013). Aufgrund der Erkenntnis, dass Lernen „mit allen Sinnen“ und eine damit verbundene Methodenvielfalt u. a. zu besserem Lernerfolg führen kann (Schellhammer 2017; Herzig 2014, S. 12 ff.; Schirp 2012, S. 106, 116 f.; Kraus 2012, S. 150 ff.), wird der Einsatz verschiedener „Vermittlungs-Medien“ als ein didaktisches Element der klassischen Hochschullehre schon lange Zeit praktiziert und erweist sich auch für das Feld der wissenschaftlichen Weiterbildung als wertvoll. Eine spürbare Zunahme erfahren in der jüngeren Vergangenheit vor allem die sog. „Quartären Medien“ (Horz und Ulrich 2015), wie z. B. Powerpoint-/Prezi-Präsentationen, internetbasierte Kommunikations- und Lernplattformen (als Basis für digitalisierte Medien), Online-Lehrveranstaltungen, individuelles Lerncoaching (z. B. via E-Mail, Skype) oder Computer-Simulationen. Somit werden auch vermehrt digitale Elemente5 in der Hochschullehre wie in der wissenschaftlichen Weiterbildung genutzt (zur Vielfalt der Anwendungsbereiche siehe bspw. van Ackeren et al. 2018)6. Digitale L ­ ehr-Lern-Formate bieten eine enorme Vielfalt an Möglichkeiten, Lernangebote individuell passend sowie zeit- und ortsunabhängig für alle am Lernprozess Beteiligten zu offerieren (Ulrich 2016) und den Anforderungen

5Eine

differenzierte Betrachtung zum Thema „E-Learning vs. Digitalisierung der Bildung“ bieten z. B. Getto und Kerres (2018). 6„Blended bzw. E-Learning Formate nutzen quartäre Medien, welche zeitlich und örtlich vom Lehrenden unabhängig sind. E-Learning umfasst digitale Lernmedien ohne Präsenzlehre und erfolgt meist im Selbststudium, Blended Learning kombiniert digitale Lernmedien und Präsenzlehre“ (Ulrich 2016, S. 140).

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an eine z­ eitgemäße Personalentwicklung gerecht zu werden (z. B. Schellhammer 2017; Goertz 2014; Tippelt und Kadera 2014). Über Sinn, Notwendigkeit sowie Wirkung und damit den Einsatz von E-Learning Angeboten insgesamt wird sowohl in der Theorie als auch in der Praxis vielfach diskutiert (z. B. Herzig 2014; Higgins et al. 20127). Dabei muss eine didaktisch gut geplante und am Bedarf der Teilnehmenden orientierte klassische Seminarveranstaltung (auch mit hohem Anteil an „Frontalunterricht“) nicht per se einem E-Learning-Ansatz unterlegen sein (Getto und Kerres 2018, S. 17). Gleichzeitig gibt es Evidenz, dass E-Learning (bei didaktisch gut durchdachten Konzepten; Higgins et al. 2012, S. 3) der „klassischer Standardpräsenzlehre“ in nichts nachsteht – mitunter gar überlegen sein kann (Getto und Kerres 2018, S. 17 f.; Higgins et al. 20128; Tamim et al. 2011; Lou et al. 2006)9. Ulrich (2016) betont u. a. in Anlehnung an Tamim et al. (2011, S. 16), Hattie (2009) und Timmerman und Kruepke (2006), dass aufgrund des höheren Lernerfolges Blended Learning Angebote der reinen Präsenzlehre wie dem reinen E-Learning vorzuziehen seien. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass didaktisch gut gestaltete, an den Teilnehmer*innen orientierte Angebote, die verschiedene, aufeinander abgestimmte Lehr-Lern-Formen (E-Learning wie Präsenzbestandteile) beinhalten, gute Lernerfolge10 ermöglichen. Auf Seite des E-Learnings wird der überwiegenden Zahl der Angebotsmöglichkeiten insgesamt positive Wirkungen attestiert (z. B. Hattie 2015; Goertz 2014; Higgins et al. 2012; Höffler und Leutner 2007; einschränkend: Herzig 2014).

7Eher populärwissenschaftlich z. B. Manfred Spitzer (2012): „Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ und entgegengesetzt Norbert Lossau (2013): „Digitale Demenz? Von wegen!“ – ein Interview mit den beiden Hirnforschern HansPeter Thier und Michael Madeja (online abgerufen am 10.03.18 unter: https://www.welt. de/gesundheit/article112361058/Digitale-Demenz-Von-wegen.html). Siehe auch: Appel, M. und Schreiner, C. (2014): Digitale Demenz? Mythen und wissenschaftliche Befundlage zur Auswirkung von Internetnutzung. Psychologische Rundschau, 65. 8Metastudie im Schulbereich, die später auch auf „allgemeine akademische Leistungen“ übertragen wird. 9„There is no doubt that technology engages and motivates young people. However this benefit is only an advantage for learning if the activity is effectively aligned with what is to be learned. It is therefore the pedagogy of the application of technology in the classroom which is important: the how rather than the what. This is the crucial lesson emerging from the research“ (Higgins et al. 2012, S. 3; auch Herzig 2014). 10„Lernerfolg wird in der Regel als Wissenszuwachs, verbesserte Problemlösungsfähigkeit oder bessere Transferfähigkeit definiert“ (Herzig 2014, S. 12).

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­ ennoch: Selbst gesteuertes Lernen und damit auch selbst gesteuertes digitales D Lernen ist nicht voraussetzungsfrei und der (vor allem unreflektierte) Einsatz moderner Technologie führt nicht kausal zu besseren Lernergebnissen (Getto und Kerres 2018; Riedel et al. 2017, S. 6, Herzig 2014, S. 20 f., 23; Higgins et al. 2012, S. 3 f.). Die Vielfalt an Möglichkeiten sowie die Flexibilität und die damit verbundenen Anforderungen von E- und Blended Learning können sich gar belastend und (wenn z. B. nur die technische Seite und nicht der Inhalt motiviert) mitunter nachteilig auswirken. Vor allem bei Berufstätigen können sich die vergleichsweise hohen Anforderungen an das Zeit- und Selbstmanagement, fehlende Kommunikations-/Austauschmöglichkeiten und damit eine geringe Gruppenkohäsion durchaus als problematisch herauskristallisieren. Nicht zuletzt aus diesen Gründen sind sowohl im Bereich des E-Learnings als auch in der Präsenzlehre Interaktionen (Lernende – Lehrende wie auch Lernende untereinander) ein bedeutender Erfolgsfaktor (Schellhammer 2017; Zhao et al. 2005). Hier wird – bei aller Euphorie für digitale Impulse – deutlich, dass das Engagement von (Weiter)Bildner*innen im Sinne einer motivierten sozialen Interaktion eine große Bedeutung für den Bildungserfolg besitzt und weiterhin besitzen wird (Schneider und Preckel 2017; Schellhammer 2017, S. 63 f., 130 ff.; Herzig 2014). Schließlich sind ausreichend digitale Kompetenzen aller Beteiligten als Grundvoraussetzung notwendig (Herzig 2014, S. 23; Higgins et al. 2012, S. 4), denn der digitale Medieneinsatz ist nicht „nur“ Methode, sondern die Basis dieser Lernform und demnach auch des Lernerfolgs (Getto und Kerres 2018; Ulrich 2016, S. 139 f.; Higgins et al. 2012). Diese vielfältigen Aspekte sind im Rahmen einer Bedarfserhebung bzw. Bildungsplanung im Rahmen der wissenschaftlichen Weiterbildung ebenso zu beachten. Denn um Berufstätige für Angebote der wissenschaftlichen Weiterbildung zu gewinnen, müssen besondere Vermittlungsformate und Organisationsformen eingesetzt werden, die der Heterogenität und den unterschiedlichen Bedarfen dieser Personen (z. B. Arbeitszeiten, Betreuungsverpflichtungen) entsprechen (Wolter et al. 2016). Zudem bestimmen diverse soziale (u. a. soziale Herkunft, Geschlecht, Bildungsstand, Lebensplanung) wie psychologische Faktoren (Vertrauen, Relevanz, Zeitzwänge, Kosten etc.) die Teilnahmebereitschaft und den Erfolg (Nolda 2012, S. 73 ff.). Das Wissen über potenzielle Zielgruppen ist daher eine bedeutende Grundlage für eine zielgerichtete Planung und Umsetzung von Bildungsangeboten im Rahmen der Personalentwicklung insgesamt (­Hippel und Tippelt 2011, S. 802; Höffer-Mehlmer 2011, S. 997). Tippelt und Kadera (2014, S. 470) betonen, dass die Adressat*innen-, Teilnehmer*innenund Zielgruppenorientierung zu den wesentlichen didaktischen Prinzipien in der

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Erwachsenenbildung gehören. „Diese Prinzipien beruhen auf der Erkenntnis, dass alle sozialen Gruppen – sowohl Bildungsaktive als auch Bildungsferne – bestimmte Erwartungen an Weiterbildungsangebote haben und demzufolge unterschiedlich angesprochen werden müssen“ (ebd.). Hierbei sind die Bedarfe, die sich aus der konkreten Arbeitspraxis ergeben, ein wesentliches Gestaltungselement entsprechender Angebote (Problem- und Anschlussorientierung von Bildungsangeboten).

3 Bedarfserhebung zur Entwicklung von Modulen wissenschaftlicher Weiterbildung am Beispiel einer Landkreisverwaltung11 3.1 Konzeptionelle Grundlagen zur Erfassung des Bildungsbedarfs in der Öffentlichen Verwaltung Um für die unterschiedlichsten (Weiter-)Bildungsbedarfe passgenaue Angebote entwickeln zu können, müssen Voraussetzungen und Wünsche von Zielgruppen vorab identifiziert werden. Zudem liefern solche Analysen wichtige Erkenntnisse, um Angebote entsprechend den bereits zuvor erläuterten Grundlagen erfolgreicher Erwachsenenbildung planen und umsetzen zu können. Nicht selten werden solche Analysen nur unzureichend oder erst am Ende eines Angebots erhoben (i. S. v. wer hat teilgenommen, wie zufrieden waren die Teilnehmenden, was könnte verbessert werden etc.), was eine angemessene Planung und erfolgreiche Durchführung des Angebots nicht unterstützt bzw. nur für nachfolgende Angebote verwertbar ist. Dies gilt ebenfalls für den Bereich der Hochschulweiterbildung (Wolter et al. 2016). Vor dem Hintergrund des zuvor ausgeführten steigenden Fachkräfte- und Weiterbildungsbedarfs wurde eine Öffentliche Verwaltung als Arbeitgeber potenzieller Zielgruppen ausgewählt. Aufgrund der Vielfalt der Aufgaben können dort verschiedenste Aspekte für zu kreierende Weiterbildungsangebote

11Es

handelt sich hierbei um eine Untersuchung im Rahmen des Projektes „Fulda Bildet Lebensbegleitend“ (FuBiLe), welches im Rahmen des Wettbewerbs „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen“ aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert wird. Ein Bestandteil des hier beschriebenen Projekts ist die systematische Erhebung von Bildungsbedarfen zum Themenfeld Sozial- und Verwaltungsmanagement – insbesondere für die Entwicklung von entsprechenden wissenschaftlichen Weiterbildungsangeboten. Vertiefte Ausführungen zum methodischen Vorgehen sowie zu den Ergebnissen sind zu finden bei Unger et al. 2017.

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analysiert werden. Dafür wurde auf der einen Seite betrachtet, auf welchen Feldern Bildungsbedarfe aus Sicht des Personalmanagements und aus Sicht der Beschäftigten vorhanden sind. Auf der anderen Seite sollten Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie eine Lernumgebung gestaltet werden kann, die Diversität und Individualität sowie auch Kontextbedingungen und Anforderungen eines öffentlichen Arbeitgebers gleichermaßen berücksichtigt. Das Erkenntnisinteresse konzentriert sich hierbei auf die grundsätzlichen Bedarfe, Kriterien für die Angebotsgestaltung und Faktoren der Weiterbildungsbereitschaft (Unger et al. 2017, S. 5 f.). Insbesondere sollten Erkenntnisse gewonnen werden, welche Bildungsangebote hauptsächlich benötigt werden und unter welchen Umständen wissenschaftliche Weiterbildungsangebote bei Mitarbeiter*innen der Öffentlichen Verwaltung von Interesse sind. Daher sollte durch unterschiedliche Zugänge zum Untersuchungsfeld ein realistischer Bildungs- und Handlungsbedarf herausgearbeitet werden (Dörner und Schäffer 2010; Eckert 2010), was durch Verwendung qualitativer und quantitativer Erhebungsmethoden ermöglicht wurde. Auf der Seite der qualitativen Analyse führte der vergleichsweise offene Zugang (dialog-orientiert) dazu, dass ergänzende (Hintergrund)Informationen gewonnen werden konnten, die bei einem rein quantitativen Vorgehen mitunter verloren gehen (Flick 2016). Dabei wurden nicht-standardisierte Methoden der Datenerhebung sowie interpretative Verfahren der Datenauswertung eingesetzt (Mayring 2016; Flick 2004). In einem explorativen Vorgehen wurden die Soll- und Istwerte des Personalentwicklungsbedarfs aus Sicht der zuständigen Führungskräfte qualitativ ermittelt. Neben der Bedarfsabfrage unter den Mitarbeiter*innen sollten die Erkenntnisse mit den Aussagen der Personen abgeglichen werden, die über exklusives Wissen zu politischen Verhandlungs- und Entscheidungsprozessen oder zu Strategien und Instrumenten der Personalentwicklung verfügen12. Im Zentrum der Bedarfserhebung stand jedoch die Erfassung der Mitarbeiter*innenperspektive. Die Befragung wurde über den Arbeitgeber initiiert. Das Erhebungsinstrument bestand aus einem standardisierten Fragebogen (40 Fragen), welcher

12„Auf

diese Weise gelang es, übergeordnete Problemlagen in Bezug auf personelle und demografische Herausforderungen zu erfassen, und Erkenntnisse aus dem Forschungsprozess direkt an die entsprechenden Entscheidungsebenen weiterzuleiten. Insgesamt wurden acht Gespräche mit der Behördenleitung und der Personalleitung sowie mit Mitarbeitenden aus dem Bereich Personal geführt. Diese wurden jeweils im Anschluss im Rahmen eines selektiven Protokolls aufbereitet […] Sie lieferten hilfreiche Erkenntnisse für die Konzeption des Fragebogens und die Interpretation der gewonnenen Daten aus der schriftlichen Befragung“ (Unger et al. 2017, S. 6).

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an alle Beschäftigten der kooperierenden Verwaltungsbehörde verschickt wurde. Die Mitarbeiter*innen wurden u. a. nach ihren aktuellen Tätigkeitsbereichen und nach den Erwartungen an berufliche Veränderungen gefragt. Auch wurden ­Einstellungen gegenüber Weiterbildung generell, die Erfahrungen mit formeller und informeller beruflicher Weiterbildung, Vorstellungen zu zukünftigen Weiterbildungsveranstaltungen sowie zu persönlichen Weiterbildungsdispositionen und zur Soziodemografie erhoben. Auch die Bedeutung verschiedener Entscheidungskriterien für die Teilnahme an einer längerfristigen beruflichen Weiterbildung war Teil der Analyse. Um insbesondere den Bedarf von verschiedenen Zielgruppen genauer zu erkennen, wurden Alter, Geschlecht sowie das Ausmaß an Betreuungsverpflichtungen und der höchste Bildungsabschluss betrachtet. Um der Besonderheit der Laufbahnstruktur in der Öffentlichen Verwaltung angemessen Rechnung zu tragen, wurden zudem die verschiedenen Laufbahnen sowie der zeitliche Umfang des Beschäftigungsverhältnisses (Vollzeitbeschäftigte im Gegensatz zu Teilzeitkräften) berücksichtigt (Unger et al. 2017). Das nach Abschluss der Befragungssequenz vorliegende Datenmaterial wurde mithilfe deskriptiver Methoden sowie einer linearen Regressionsanalyse ausgewertet (Unger et al. 2017; Bortz und Schuster 2010).

3.2 Weiterbildungsperspektiven in der Öffentlichen Verwaltung: Zentrale Ergebnisse der empirischen Untersuchung An der Befragung haben sich 295 Verwaltungsmitarbeiter*innen beteiligt13. Dies entspricht einer Rücklaufquote etwa 30 %, was äußerst zufriedenstellend ist und eine gute Grundlage zur statistischen Auswertung liefert14. 70 % der antwortenden Personen sind weiblich und 30 % männlich, was auch in etwa der aktuellen Personalverteilung in der untersuchten Verwaltung entspricht. 70 % der Befragten arbeiten in Vollzeit und 30 % sind teilzeitbeschäftigt. 35 % der Befragten kümmern sich um die Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Personen und etwa 38 % besitzen einen Studienabschluss.

13Ausführliche

Ergebnisse der Studie sind nachzulesen bei Unger et al. 2017. (2007, S. 52) berichtet von einer Rücklaufquote bei ihrer Unternehmensbefragung von 6,7 % und verweist auf noch niedrigere Rücklaufquoten von 5 % bei kurzen Online-Befragungen ähnlicher Studien.

14Utsch

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Bezüglich des generellen Interesses an Weiterbildungen zeigt sich bei der Stichprobe (unabhängig von Alter und Geschlecht) ein großes Interesse an Weiterbildung. Insgesamt geben 74 % ein starkes oder sehr starkes Interesse an; immerhin noch 26 % äußern ein Interesse an einem (weiteren) Hochschulabschluss. Regressionsanalytisch zeigt sich dabei, dass das Interesse an einem weiteren Abschluss vor allem bei den Personen höher ist, die bereits einen Unibzw. Masterabschluss besitzen (Personen mit Bachelor- oder Diplom-Abschluss (FH) interessieren sich jedoch ebenso für Hochschulzertifikate – besonders im Vergleich zu Personen ohne akademischen Abschluss). Befragt nach Einstellungen gegenüber der Weiterbildung im Allgemeinen, findet der Ansatz des lebenslangen Lernens bei den Befragten große Zustimmung. Hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf/Privatem und Weiterbildung gibt knapp die Hälfte gibt an, berufsbegleitende Angebote mit Ihrem Alltag verbinden zu können. Die Offenheit gegenüber einer berufsbegleitenden Weiterbildung ist bei Personen aus dem gehobenen und höheren Dienst signifikant höher als bei Personen aus dem einfachen und mittleren Dienst. Wenig überraschend steht beruflicher Ehrgeiz in einem positiven Zusammenhang mit dem Interesse an Hochschulweiterbildungen. Befragt nach der bisherigen Nutzung von Weiterbildungsangeboten, geben etwa 90 % der Befragten an, bereits an internen Schulungen teilgenommen zu haben. Ca. 80 % verfügen über Erfahrungen in der Fort- und Weiterbildung bei externen Anbietern. Dagegen haben weniger als 40 % auch nur geringfügige Erfahrungen im selbst gesteuerten Lernen (z. B. Fernunterricht, audiovisuelle Hilfen wie Videos oder E-Learning-Plattformen). An dieser Stelle wird eine erste Limitation bzw. ein methodisches Handlungsfeld im Kontext von Blended Learning Angeboten ersichtlich, was auch durch die Frage zu Vorstellungen von Weiterbildungsformaten verdeutlicht wird: 91 % der Befragten gaben an, dass sie „bestimmt“ oder „wahrscheinlich“ an einem Inhouseseminar teilnehmen werden. Dagegen wollen sich nur 23 % der Befragten „bestimmt“ oder „wahrscheinlich“ über computergestütztes Lernen ohne Betreuung weiterbilden. Es zeigt sich zudem, dass die geäußerte Bereitschaft, an einem Blended Learning Format während der Arbeitszeit teilzunehmen, mit steigendem Alter statistisch bedeutsam abnimmt. Die Teilnahmewahrscheinlichkeit an Blended Learning ist dabei unabhängig von Geschlecht, Bildungshintergrund, Erwerbsstatus oder Betreuungsverpflichtungen gegenüber Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen. Personen im gehobenen/höheren Dienst gaben an, wahrscheinlicher an Blended Learning Formaten während der Arbeitszeit teilzunehmen als Personen im einfachen/mittleren Dienst. Die Zurückhaltung bei Möglichkeiten des Blended Learnings steht zunächst im Gegensatz zu der von den Befragten häufig gewünschten Flexibilität und wurde im Rahmen der explorativen Interviews

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im Anschluss an die Auswertung der Befragung vertieft behandelt. In diesem Zusammenhang wurde u. a. ersichtlich, dass Blended Learning Angebote bisher selten oder nie zur Anwendung kamen und damit wenig belastbare Erfahrungen (die für oder gegen solche Angebote sprechen) vorhanden sind15. Insgesamt scheinen Angebote, die eine starke Selbststeuerungskomponente und hohe zeitliche wie räumliche Freiheitsgrade enthalten (bei Wahlmöglichkeiten zwischen „klassischen“ und Blended Learning Angeboten), weniger „beliebt“ zu sein, wenngleich die flexible Zeiteinteilung der Lerneinheiten eine hohe Relevanz bei allen Befragten genießt. Denn wie zuvor bereits dargestellt, gab knapp die Hälfte der Befragten an, berufsbegleitende Angebote (z. B. Online-Angebote) mit Ihrem Alltag verbinden zu können. Die Bereitschaft, sich außerhalb der Arbeitszeit weiterzubilden, ist insgesamt vergleichsweise gering. Dies weist darauf hin, dass das Engagement des Arbeitgebers ein wesentlicher Hebel für die Teilnahme und das Gelingen von Weiterbildungsformaten ist. Dies wird u. a. auch dadurch deutlich, dass neben der Flexibilität insbesondere die Unterstützung des Arbeitgebers sowie eine umfassende Betreuung und Beratung durch den Weiterbildungsanbieter als sehr wichtig herausgestellt wurden. Weitere Analysen konnten zeigen, dass mit zunehmendem Alter die Bedeutung von umfassenden Betreuungs- und Begleitangeboten ansteigt. Gleichzeitig sinkt mit steigendem Alter die Wichtigkeit eines wissenschaftlichen Abschlusses für die Entscheidung, an einer längerfristigen Weiterbildung teilzunehmen. Vor allem für Frauen und Personen mit Hochschulabschluss ist die Erlangung eines wissenschaftlichen Abschlusses durch eine Weiterbildung eine wichtigere Entscheidungsgrundlage als für Männer oder Personen ohne HS-Abschluss. Die Wichtigkeit des Abschlussgrades unterscheidet sich nicht zwischen Personen mit und ohne familiären Betreuungsverpflichtungen, Vollzeitbeschäftigten oder Personen im einfachen/mittleren Dienst und Personen im gehobenen/höheren Dienst. Abschließend wurde nach der Wahrscheinlichkeit gefragt, mit der die Mitarbeiter*innen an Weiterbildungen zu spezifischen Themen teilnehmen würden. Mit weitem Abstand wurden dabei das Thema „Umgang mit schwierigen Situationen“ (z. B. Konflikte, schwierige Kundenanliegen) mit 60 % und das Thema „Vertiefung in verwaltungsrechtlichen Fragen“ (z. B. Sozialrecht, Arbeitsrecht) mit 50 % präferiert. Alle anderen – üblicherweise in Weiterbildungen angebotenen – Themen erzielten eine Teilnahmewahrscheinlichkeit von 34 % und weniger. Hierbei wurden noch

15Hier

verdeutlicht sich das grundsätzliche menschliche Verhalten, eher an bekannten Dingen festzuhalten und Neues zunächst zurückhaltend zu bewerten (Kastner 2017, S. 24 ff.; Reinhardt 2014, S. 245 ff.).

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v­ ergleichsweise häufig Fremdsprachenkenntnisse, Projektmanagement, Zeit- und Selbstmanagement sowie Themen im Bereich „Führungsaufgaben wahrnehmen und gestalten“ genannt. Auf die Frage, welche Kenntnisse und damit auch Weiterbildungsangebote zukünftig mehr an Relevanz gewinnen, wurden Personalführungsaufgaben, Kommunikation sowie finanzielle Steuerungsthemen benannt.

3.3 Fazit und Ausblick Die Rahmenbedingungen, in denen die Öffentliche Verwaltung Ihre Aufgaben erledigt, unterliegen einem immer schneller werdenden Wandlungsprozess. Komplexität, Dynamik und Unsicherheit wirken sich zunehmend auf die Arbeitswelt und das private Umfeld aus, was nicht zuletzt auch in veränderte Ansprüche von Bürger*innen, Unternehmen sowie Politik an die Öffentliche Verwaltung mündet. Künftig werden insbesondere überfachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten (wie z. B. digitale Kompetenzen, Flexibilität, Bereitschaft bzw. Befähigung zum selbst gesteuerten Problemlösen, interdisziplinäres Denken und Handeln, sozial-emotionale Kompetenzen, Eigenverantwortung, Kreativität sowie Urteilsund Entscheidungsfähigkeit) eine größere Rolle im Verwaltungsalltag spielen. Trotz dieses Wandels, der sicherlich auch in veränderten Aufgabenzuschnitten und -inhalten sichtbar wird, ist gut qualifiziertes Personal in ausreichender Zahl auch weiterhin der bedeutende Faktor einer effektiven und effizienten Verwaltung. An dieser Stelle entstehen enorme Herausforderungen an die Personalrekrutieren und -entwicklung im Öffentlichen Dienst, welche nicht zuletzt durch den Personalabbau der letzten Jahrzehnte, den demografischen Wandel und den Kampf um Fachkräfte auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt insgesamt noch ansteigen. Die Gewinnung von neuen Mitarbeiter*innen und der (langfristige) Erhalt der bereits vorhandenen Beschäftigten (mit entsprechend aktuellen Kompetenzen) rückt immer stärken in den Vordergrund des Personalmanagements. Die Individualität der Anliegen bzw. des Dienstleistungsangebots bedingt, dass Personalentwicklung verstärkt Kompetenzen der Lern- und Handlungsautonomie fördert, die Mitarbeiter*innen unterstützt, mit der Vielfalt und Unsicherheit im beruflichen Alltag professionell umzugehen sowie Informationen kritisch zu hinterfragen und offen für verschiedene, selbst entwickelte Lösungsmöglichkeiten zu sein. Eine moderne Personalentwicklung berücksichtigt beide Seiten einer Weiterbildungs-Medaille: Die (künftigen) Bedarfe in der Öffentlichen Verwaltung einerseits wie auch die Perspektive der Mitarbeitenden (sowohl inhaltlich als auch deren Wunsch nach Eigenverantwortung, sozialer Zugehörigkeit und Kompetenzerleben). In Hochschulen werden in jüngster Zeit vermehrt Angebote entwickelt,

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die sich auf den Bereich der beruflichen (Weiter)Bildung konzentrieren und auch für die Öffentliche Verwaltung von Interesse sein können. Wenn Angebote (sowohl aus Sicht der Verwaltung und ihrer Mitarbeitenden als auch hinsichtlich der Erkenntnisse der empirischen Bildungsforschung) passgenau und wirkungsvoll sein sollen, so können Bildungsbedarfsanalysen verschiedene Faktoren aufzeigen, welche die berufliche Weiterbildung und die Gestaltung entsprechender Bildungsangebote positiv beeinflussen können. Wenngleich es kein Patentrezept zur Planung und Durchführung erfolgreicher Weiterbildungsangebote gibt, so herrscht hinsichtlich des Erfolgs von Lernangeboten für Erwachsene aus Sicht der Bildungsforschung über folgende positive Einflussfaktoren weitgehend Konsens: Anschlussfähigkeit, Verwert­ barkeit, Problemorientierung, aktives, selbst gesteuertes Handeln sowie soziale Zugehörigkeit/Verbundenheit und Kompetenzerleben (auch oder vor allem als emotionaler Prozess) im Weiterbildungskontext. Insbesondere der Bereich des Blended Learnings rückt in den letzten Jahren verstärkt in die Aufmerksamkeit des Weiterbildungsdiskurses – so auch im Feld der beruflichen Weiterbildung und ebenso im Rahmen von wissenschaftlichen Weiterbildungsangeboten der Hochschulen. Wenngleich Blended Learning mit einer Vielzahl von Vorteilen verbunden ist (beispielsweise Zeit- und Ortsunabhängigkeit, vielfältige und gleichzeitig individuelle und damit am Lernfortschritt orientierte Gestaltung der Lernumgebung/-angebote und der Kompetenzüberprüfung) und – didaktisch gut geplant – eine deutlich positive Wirkung entfalten kann, so ist dieses Konzept nicht voraussetzungsfrei und kann gar belastend wirken und mit negativen Lernerfahrungen verbunden sein. Neben digitalen und ausgeprägten Selbstlernkompetenzen wird im Blended Learning auch in Zukunft das Engagement von (Weiter)Bildner*innen im Sinne einer motivierten sozialen Interaktion eine große Bedeutung für den Bildungserfolg einnehmen. Die vielfältigen Aspekte und Einflussfaktoren, die auf den Lernprozess einwirken, können im Rahmen einer Bedarfserhebung sinnvoll genutzt werden. Das Wissen über potenzielle Zielgruppen (deren Wünsche sowie Lernvoraussetzungen und Erwartungen an Weiterbildung) ist eine bedeutende Grundlage für die erfolgreiche Planung und Umsetzung von Bildungsangeboten und daher auch bedeutend für die Personalentwicklung in der Öffentlichen Verwaltung. Anhand einer Untersuchung im Rahmen des Projektes „Fulda Bildet Lebensbegleitend“ (FuBiLe) konnten mittels einer systematischen Erhebung von Bildungsbedarfen Erkenntnisse über die grundsätzliche Einstellung von Mitarbeitenden in der befragten Öffentlichen Verwaltung zum Thema lebenslanges Lernen, zu deren bevorzugten Lehr-/Lernformen, den Bedingungen für eine Weiterbildungsteilnahme sowie zu inhaltlichen Präferenzen gewonnen werden.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass (entsprechend der vorgestellten Erhebung) Weiterbildung insgesamt für Mitarbeiter*innen in der Öffentlichen Verwaltung – unabhängig vom Alter – von sehr großer Bedeutung ist. Eine wesentliche Zielgruppe für hochschulische Weiterbildungsangebote stellen dabei (zunächst) die bereits höher qualifizierten Verwaltungsmitarbeiter*innen dar. Möchte man darüber hinaus weitere Mitarbeitergruppen erreichen, so müssen verstärkte personalpolitische Anstrengungen erfolgen (z. B. enge Kooperation mit dem Arbeitgeber, individuelle, kleinteilige Beratungs-/Bildungsangebote, begleitende Lernberatung, konkrete Verwendungsmöglichkeiten für den Arbeitsalltag aufzeigen; auch mögliche Karrierewege, die sich durch diese zeitliche Investition öffnen). Vor allem diejenigen Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, die vergleichsweise wenig (oder auch negative) Weiterbildungserfahrung besitzen, benötigen zunächst eine aktive wie wertschätzende Ansprache durch die jeweilige Führungskraft bzw. die entsprechenden Personalverantwortlichen sowie niederschwellige Möglichkeiten, die vor allem darauf ausgelegt sind, positive Lernerfahrungen zu sammeln, und damit Angebote, die schnellstmöglich persönlichen (Arbeits)Erfolg und Kompetenzerleben sowie Anschlussfähigkeit und konkrete Verwendbarkeit des neuen Wissens ermöglichen. Fokussiert man Ansätze, die den Mitarbeitenden mehr zeitliche sowie örtliche Flexibilität bieten (z. B. Blended Learning Formate), so wird dies zunächst vor allem im Vergleich zu klassischen Bildungsangeboten eher zurückhaltend bewertet. Dies kann auch daran liegen, dass eher wenige Mitarbeiter*innen konkrete Erfahrungen (und demzufolge auch vergleichsweise geringere Kompetenzen) in „selbstgesteuerten Lehr-/Lernformaten“ mitbringen. Gleichzeitig deutet der häufig geäußerte Wunsch nach einer stärkeren flexiblen Zeiteinteilung der Lerneinheiten auf ein nicht zu unterschätzendes Potenzial für innovative Lehr-/Lernkonzepte. Wissenschaftliche Weiterbildungsangebote im Blended Learning Format könnten daher vor allem dann die Mitarbeiter*innen der Öffentlichen Verwaltung erreichen, wenn diese vom Arbeitgeber mitgetragen und mit diesem entwickelt werden, sie wenigstens zum Teil in der Arbeitszeit liegen (und der Rest möglicherweise vom Arbeitgeber „angerechnet“ wird), vor dem eigentlichen Lernangebot grundsätzliche „Blended Leraning Kompetenzen“ entwickelt werden und eine professionelle Lernbegleitung (passgenau auf die persönlichen Erfahrungen und Bedarfe der Lernenden ausgerichtet) erfolgt. Außerdem sollten solche Offerten bezüglich Dauer und Umfang (gerade die ersten Angebote) nicht überfordern. Blended Learning Formate sind mit besonderen Anforderungen verbunden. Hier liegt die Vermutung nahe, dass es zu veränderten Interessen kommt, sobald eine persönliche Auseinandersetzung mit z. B. Onlinetools innerhalb einer Weiterbildung stattgefunden hat. Dies gilt es bei der Implementierung neuer Angebote

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herauszufinden. Nicht zuletzt ist aufseiten der Öffentlichen Verwaltung weitere Aufklärungsarbeit zu leisten, um die Entwicklung neuer Lernkompetenzen und den Umgang mit neuen Medien im Rahmen von Bildungsangeboten bei ihren Beschäftigten aktiv zu unterstützen. Dies kann ein Beitrag sein, um den voranschreitenden Digitalisierungsprozess auch innerhalb der Öffentlichen Verwaltung positiv bewältigen und aktiv mitgestalten zu können. Insgesamt lässt sich sagen, dass es eine Herausforderung für die Personalentwicklung in der Öffentlichen Verwaltung sein wird, die Mitarbeiter*innen in ihren Selbstlernkompetenzen zu stärken und Modelle zu entwickeln, die einen individuell gestalt- und bewältigbaren Bildungs- und Entwicklungsprozess ermöglichen.

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Teil II Sozialwirtschaft und Sozialplanung im lokalen Raum

Sozialraumorientierte Sozialplanung als neue Dominanz lokaler Sozialadministration oder partizipatives Lokal-Governance? Andreas Langer Zusammenfassung

Die Fachtagung „Sozialplanung und Sozialwirtschaft im lokalen Raum“ hat implizit die Frage nach den Steuerungsmodi sozialer Dienstleistungen gestellt. Dabei ist festzuhalten, dass Sozialplanung mit der sozialräumlichen Schwerpunktsetzung eine neue Gestalt erhält – sie richtet sich stärker als bisher an lokalen Bedingungen, Ressourcen, Infrastruktur und Bedarfen aus. Aus sozialwirtschaftlicher Perspektive ist zu bedenken, dass auch die Trägerverhältnisse in sozialräumlich orientierten Steuerungsszenarien eine neue Gestalt bekommen dürften. Offen bleibt, ob mit der politischen Sozialraumorientierung mehr Partizipation im lokalen Raum ermöglicht wird oder ob es zu einer neuen Dominanz öffentlicher Sozialverwaltung kommt.

1 Einführung In diesem Band der „Aktuellen Diskurse der Sozialwirtschaft II“ finden sich im Folgenden die Beiträge der Fachtagung „Sozialwirtschaft und Sozialplanung im lokalen Raum“ aus dem Jahr 2017 in Hamburg. Diese Tagung wollte aktuelle Fragen der sozialwirtschaftlichen Dienstleistungserbringung aufnehmen, die sich seit jeher stellen: Welche Bedarfe im qualitativen und qualitativen Verständnis sind zu

A. Langer ()  Hochschule für angewandte Wissenschaften HAW-Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_4

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unterlegen und zu definieren, um die Bevölkerung angemessen mit Leistungen der sozialen Daseinsvorsorge auszustatten? Wie kann ausgehend von dem Bedarf die Versorgung mit diesen Dienstleistungen geplant und gesteuert werden? Wie kann innerhalb dieser Planung und Steuerung das Verhältnis von freien zu öffentlichen Trägern angemessen gewürdigt werden? Insbesondere wollte die Tagung beleuchten, ob sich in den Diskussionen zu „Sozialräumlichen Hilfen“ (ausgehend von dem Impuls der A-Staatssekretäre in 2011/12) und weitergefasst dem ‚Einzug des Sozialraums‘ in die Sozialplanung, in den Diskussionen zu der Reform des SGB VIII oder auch in einer Rückbesinnung auf die steuernde Rolle des Staates und seiner Institutionen neue Formen der Sozialplanung andeuten. Darin findet sich die offene Frage wieder, ob die öffentlichen Träger wieder mehr Verantwortung der Steuerung sozialer Dienste und der Sozialwirtschaft übernehmen und ob damit gleichzeitig auf diese Weise Sozialmanagement an Bedeutung verliert. An der Beantwortung dieser Fragen lässt sich gewisserweise die Entwicklungsgeschichte sozialer Dienstleistungen in groben Zügen nachzeichnen – denn die (neue) Rolle öffentlicher Träger wird nur vor dem Hintergrund eines sich zurückgezogen habenden „schlanken“ Sozialstaates verständlich, eine Leitvorstellung des New Public Management. In der Argumentation dieses kurzen einführenden Artikels sollen die Hintergründe skizziert werden, vor denen sich zwei alternative Antworten zu der Sozialplanung der Zukunft bewegen: Nämlich erstens, um mit der These von Herbert Schubert zu sprechen, dass Sozialplanung verstärkt als integrativer Steuerungsmodus im Sinne einer lokalen, partizipativen Governance zum Erfolg führt. Oder aber zweitens gerade unter der Orientierung auf den Sozialraum der öffentliche Träger wieder verstärkt ins Zentrum der Steuerung und Planung rückt und wir damit eine Renaissance der – zentralistisch-hierarchischen – öffentlichen Sozialadministration erleben (so meine These vor dem Hintergrund der politischen Sozialraumorientierung).

2 Steuerung sozialer Dienstleistungen Will man soziale Dienstleistungen im lokalen Raum zur Verfügung stellen, so muss man in der Bundesrepublik fast gezwungenermaßen auf Sozialplanung und Sozialwirtschaft zurückgreifen. Denn das System sozialer Sicherung ist hierzulande immer noch zutiefst geprägt durch das Leitmotiv der Subsidiarität, welches sich einerseits in der Konzentration auf die Funktionsfähigkeit der Familie ausdrückt, andererseits durch den Vorrang der freien Trägerin der Leistungserbringung – man könnte dies die organisationale Subsidiarität nennen (vgl. J­ üster 2018). In diesem Spannungs- oder Kooperationsverhältnis stellen aber beide

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Zugänge, der der Sozialwirtschaft und der der Sozialplanung, die Frage nach der Steuerung sozialer Leistungserbringung. Der Fokus der Steuerung richtet sich allerdings auf den lokalen Raum, den Nahraum der Lebenswelt der Nutzerinnen also. Es geht um genau die Dienstleistungen, die für die Menschen erreichbar, spürbar und sichtbar werden, es geht um Interaktionen, es geht um die Lebensräume der Menschen und natürlich auch um die Unterschiedlichkeit dieser grundlegenden Verhältnisse, man denke nur an soziale Leistungen im urbanen oder ländlichen Raum. Aber wenn man die Fokussierung auf den Nahraum einnimmt und solche Sozialleistungen in den Blick nimmt, die durch Interaktionen für die Menschen greifbar werden, so kommt auch schnell sozialarbeiterisches Handeln in den Blick. Als Dienstleistungserstellung zwischen Organisation (in Form von Trägern und deren Einrichtungen) und Profession (als System von Expertenhandeln, Status- und Selbstverwaltung und Professionsethik) gehört die Orientierung fachlichen Handelns in der Sozialen Arbeit wohl zum Grundbestand der Steuerungsdiskussion zwischen Sozialplanung und Sozialwirtschaft (vgl. Langer 2004). Ganz im Sinne der „bescheidenen Profession“ oder „Quasi-Profession“ wird sozialarbeiterisches Handeln als im Kern durch organisationale Rahmensetzung orientiert verhandelt. Es seien am Ende die Organisationsstruktur, die Strategie, die Finanzierungsform, die Kooperation und vor allem die Kultur, die Soziale Arbeit begrenzen und/oder ermöglichen. Einen Kontrapunkt dazu setzt immer noch die These der maßgeblichen Steuerung professionellen Handelns durch Profession und Professionalität, hier sind es dann Faktoren wie die kollegiale Selbstorganisation, formale Qualifikation, Berufsethik, (wissenschaftliche) Expertise, Orientierung an zentralen Werten, Standesorganisationen (als Profession) oder Kompetenzen, Handlungsmodi, Qualitätsstandards, Fachkulturen bis hin zu impliziten oder informellen Standards (als Professionalität), die Handeln orientieren, also steuern. Fokussieren wir uns auf den lokalen Raum, so kommen Themen in den Blick, die für Sozialplanung und Sozialwirtschaft erst einmal ungewohnt erscheinen. Um diese Themen aber zu erschließen, braucht es eine dementsprechende theoretische Perspektive, die im Folgenden kurz skizziert werden soll.

2.1 Handlungs-Orientierung und Gestaltung von Strukturen im Rahmen des soziologischen NeoInstitutionalismus Die gezielte und absichtsvolle Beeinflussung, Gestaltung oder Lenkung dieser Begrenzung und/oder Ermöglichung von Handeln soll hier also als „Steuerung“

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verstanden werden. Im Blick auf den lokalen Raum geht es damit um Programme, Gesetzgebung, formale Regularien, aber ebenso um Bewertungs- und Deutungsmuster, um Expertise, um die Gleichzeitigkeit von geregelter Leistungserbringung und funktional notwendiger Autonomie, um jeweils lokale Lösungen zu ermöglichen und situative Optionen zuzulassen. Eine Steuerungstheorie lokaler Leistungserbringung muss also in Struktur und Planung eben dieses weite Spektrum aufnehmen können. Um dies weiter zu plausibilisieren, soll Steuerung in dem Rahmen der Verhältnisbestimmung eines Grundverständnisses des Dualismus von Handeln und Struktur verortet werden, Struktur verstanden als Institution. Im Rahmen des soziologischen Neo-Institutionalismus verstehe ich die Einbettung jeder Erbringungsform des immateriellen Gutes „Dienstleistung“ als Interaktion in institutionalisierten Rahmenbedingungen. Soziale Arbeit als Dienstleistung ist also nicht nur Interaktion als Hilfe, Beratung, Betreuung und Begleitung, sondern immer eingebettet in ermöglichende und gleichzeitig begrenzende Rahmenbedingungen, sprich Institutionen. Der Terminus „Einbettung“ verweist dabei auf die Strukturationstheorie nach Anthony Giddens. Prozesse voranschreitender Modernisierung werden als gesellschaftliche „Entbettungs“- und „Rückbettungsmechanismen“ analysiert. Gesellschaftliche Lebensformen werden als aus tradierten Vergesellschaftungsformen (wie z. B. der Familie) herausgelöst (entbettet) und in neue – moderne – Formen „rückgebettet“ verstanden. Diese Entund Rückbettungsmechanismen – zusammengefasst als Einbettung – versteht Giddens als einen Prozess der gesellschaftlichen Emanzipations-, Modernisierungs- und Individualisierungsdurchsetzung. Giddens versteht dabei die Verhältnisbestimmung zwischen Handlung und Institution als Dualität der Struktur/ Institution: „We create society at the same time as we are created by it“ (Giddens 2001, S. 6). Strukturen und Institutionen sind in dieser Lesart sowohl Bedingungen als auch Resultate eines jeden Handelns, sie sind Begrenzung wie auch Ermöglichung sozialer Interaktionen als Dienstleistungen, sie sind nicht abstrakte externe Muster, sondern „chronisch in das Handeln selbst eingebettet“ (Giddens 1997, S. 290). Nach diesem Verständnis muss danach gefragt werden, wie Akteure, aber auch Organisationen der Sozialen Arbeit sich mit ihren „bewusst vollzogenen Handlungen […] jeweils auf Regeln und Ressourcen“ (Güntner 2007, S. 77) beziehen. Im Weiteren gilt es nun also, für die binnenorientierte Organisationsstruktur zu erschließen, welche die relevanten „Regeln und Ressourcen (sind), die rekursiv in Institutionen eingelagert sind“ (Güntner 2007, S. 76) und aus denen sich Unternehmensstruktur speist. Giddens wird in dieser Grundkonzeption gerne als Grundlagentheoretiker des soziologischen Neo-Institutionalismus verstanden. Dieser Forschungsstrang hat

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vor dem Hintergrund differenzierungstheoretischer Gesellschaftskonzeptionen (Systemtheorie) die Analyse von Handlungsorientierung an Institutionen neu thematisiert. Der Neo-Institutionalismus stellt einige Konzepte zur Verfügung, die hier zugrunde gelegt werden, aber an anderer Stelle ausgeführt sind, wie z. B. das Konzept der organisationalen Felder sowie das Isomorphie-Modell (vgl. Langer 2018a), die institutionellen Logiken (vgl. Langer 2018b) sowie die institutionellen Säulen (vgl. Grunwald und Langer 2018), die hier aber aus Platzgründen nicht näher eingeführt werden.

2.2 Steuerungselemente in Mehr-Ebenen-Systemen Vor diesem Hintergrund bedeutet Steuerung nun die gezielte, strategische und intentional gerichtete Gestaltung von Institutionen. Insbesondere sind mit Steuerungsmodi dann aber auch Funktionsweisen politischer Steuerung gemeint. Die Steuerungsakteure können dabei vielfältig sein. Im engeren Sinne denkt man natürlich an die formale Politik auf mehreren Ebenen, im weiteren Verständnis aber eben auch an eine Unzahl von „Stakeholdern“ und/oder „Interessensgruppen“, wie etwa Wohlfahrtsverbände, Organisationen und Träger, Fachverbände, Betroffenenverbände, Bürgerinitiativen, Ad-hoc-Interessensgruppen bis hin zu individuellen Akteuren als Nutzer_innen oder Betroffene. Natürlich ließe sich an dieser Stelle die Governance-Diskussion (Roß 2018) heranziehen. „Politische Steuerung erfolgt […] nicht mehr exklusiv durch den Staat, lässt sich aber auch nur begrenzt den Mechanismen des Marktes anheimstellen. Vielmehr erfolgt sie zunehmend in einem Mix verschiedener Steuerungsmechanismen, d. h. in komplexen „Kombinationen aus unterschiedlichen Regelsystemen (Vertragsregeln, Kompetenzregeln und Kontrollbefugnisse, Mehrheitsregeln, Verhandlungsregeln)“ (Roß 2018, S. 25 (hier Benz und Dose 2010, Anm. Andreas Langer)). Im Vordergrund stehen dabei Aushandlungen, innerhalb derer „Entscheidungen […] nicht oktroyiert, sondern in direkter Interaktion der Beteiligten vereinbart“ (Mayntz 2010, S. 41) werden“ (Roß 2018, S. 728).

Mit dem Governance-Konzept erschließen sich somit staatliche (hierarchiebasierte), partizipationsbasierte (gemeinwesenorientierte) und auch marktliche (konkurrenzbasierte) Systeme der Organisation und Planung. Mit Governancekonzepten wird also formal gedachte politische Steuerung, die auf die politischen Kerninstitutionen konzentriert bleibt, auf die Steuerungsmodi in institutionellen (Rahmen-)Bedingungen erweitert. Aber gleichermaßen wird auch der Fokus

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einer kausal-hierarchischen (Durchgriffs-)Regulierung hin auf die informellen Mechanismen gewachsener (teil)autonomer Selbststeuerung geöffnet. Versteht man Steuerung in den Kontexten Markt, Staat, Assoziationen oder primäre Netzwerke (vgl. Roß 2018, S. 727) so weit, so gilt es, lokale Kontexte in mehreren Mehrebenen-Kontexten einzubetten: Sozialplanung und Sozialwirtschaft sind in diesem Sinne selbst in unterschiedlichen Orientierungspotenzialen verortet: Es sind also unterschiedlichste institutionellen Kontexte, in denen sich Steuerung sozialer Dienstleistungen vollzieht und auf die in Sozialplanung und Sozialwirtschaft Bezug genommen werden müsste. • Zuerst ist dabei an das Mehrebenensystem politischer Institutionen, Prozesse und Inhalte zu denken. Fokussieren wir dabei tatsächlich die binnenorientierte Organisationskultur als letzte Instanz der Auswirkung von Steuerung, so wäre das Mehrebenensystem im bottom-up approach in folgende politische Steuerungsebenen zu differenzieren: Organisationskultur – Einrichtung – Nachbarschaft/ Sozialraum – Kommune – Region – Stadt/Landkreis – Land – Bund – EU – internationale Regulation. Dass in diesem Fall die Ebene internationale Regulation nicht zu weit hergeholt ist, beweist die UN-BRK mit ihren Auswirkungen auf Gesetzgebung (SGB IX) und Implementierung, aber auch die Auswirkung von Digitalisierung und Datenschutz. • Parallel zu diesen politischen Ebenen wirkt aber das organisationale System selbst. Die Steuerungsebenen wären dann Organisationskultur – Einrichtung – sozialräumliche Verbünde/Verfahren – Träger – Verband – Regional-/Kommunal-/Landes-/Spitzenverbandsarbeitsgemeinschaften – Interessensverbände auf internationalen Ebenen. • Dies kann ebenso von den Nutzer_innen aus gedacht werden: Organisationskultur – Betroffeneninitiative – Interessensverbände (regional, kommunal, landesweit, bundesweit, international) • Ebenso lässt sich dies parallel zur Sozialen Arbeit denken: Organisationskultur und Professionalität – kollegiale Selbststeuerung – fachliche Qualifikationsund Qualitätsstandards – fachliche Leistungsstandards – Qualifikationsrahmen, Kerncurricula, Anerkennungsstandards – ethische Richtlinien – Fachverbände, DGSA, HLK – internationale Assoziationen. • Über diese „Linien“ möglicher Mehrebenensysteme müssen lokale/regionale Steuerungssysteme beachtet werden, wie z. B. spezifische Konstellationen in subsidiären Trägerkonstellationen, wie z. B. fallzentrierte Verfahren, (sozialräumliche) Trägerverbünde, regionale wettbewerbliche Monopol- oder zumindest Dominanzsituationen von Trägern, regionale Rahmenkooperationen.

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Diese unterschiedlichen Mehrebenensysteme stehen für sich genommen für die These der möglichen steuernden Gestaltung von und in der Sozialwirtschaft. Mehrebenenbetrachtungen versuchen dabei insbesondere die vertikale, also hierarchische Integration von Steuerung zu analysieren – wobei es deutlich ist, dass je größer die Distanz der Ebenen, desto vermittelter wird der jeweilige steuernde Einfluss ausfallen. Für diese Analyse wären im neo-institutionalen Theorieangebot zum Beispiel die normativen und formalen Institutionen zu berücksichtigen, typisches Beispiel sind natürlich die Gestaltung von gesetzlichen Grundlagen sowie Verordnungen und deren Umsetzung auf den darauf bezogenen Steuerungsebenen. Neben der Mehrebenenanalyse wäre aber auch noch die kontextbezogene netzwerkorientierte Steuerungsbetrachtung angebracht. Hier stellt sich die Frage, welche Akteure auf einer Ebene oder zumindest auf direkt verbundenen Ebenen sich gegenseitig beeinflussen. Der letzte Aufzählungspunkt weiter oben deutet diese feldspezifische Betrachtungsweise bereits an. Die scheinbar hierarchisch-vertikale Betrachtung von Leistungsträger und Organisationen der Sozialen Arbeit wird in der Analyse schnell zu einer horizontalen Steuerung, wenn z. B. Rahmenorientierungen über Vertragsverhandlungen zwischen Spitzenverbänden geschaffen werden, aber auch wenn konkrete Leistungen der Sozialen Arbeit durch Verträge gesteuert werden, auf die der öffentliche Träger, der freie Träger, Interessensvertreter und Adressaten Sozialer Arbeit selbst Einfluss nehmen. Für diese weitere Interpretation lässt sich ein neo-institutionalistisches Theoriefragment gut verwenden, um Steuerungs- und Planungslogiken in einem organisationalen Feld zu analysieren. Grundlegend werden im neo-Institutionalismus drei „institutionelle Säulen“ (Scott 2001) unterschieden, die jeweils kulturrelevante Orientierungspotenziale bereithalten – regulative, normative und kognitive Orientierungen als „handlungsbegrenzende und -regulierende Aspekte“ (Güntner 2007, S. 27 f.). Wie Tab. 1 zeigt, können insbesondere auch die nicht-formalen Aspekte von Dienstleistungsstrukturen fokussiert werden. Diese kurze Einlassung auf die Analyse der Einbettung von Steuerungsmodi soll zeigen, dass eine Gestaltung sozialer Dienstleistungen vor dem Hintergrund von Bedarfsanalyse und Bedarfsdefinition nicht einfach monokausal auf bestimmte Arten der strategischen Planung und Sozialwirtschaft zu übertragen ist. Stattdessen müssen die unterschiedlichsten Strukturen, wertorientierten Kontexte und Kulturen beachtet werden, die in organisationalen Feldern der gegenseitigen Beeinflussung (Isomorphie) von institutionalen Elementen und Organisationen eingefasst sind. Die Art und Weise, in der jedoch Sozialplanung betrieben wird, reduziert gezwungenermaßen die Komplexität dieser unterschiedlichen Steuerungselemente.

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Tab. 1   Policy-Institutionen sozialer Dienstleistungsstruktur

3 Aktuelle Trends der Sozialplanung in der Sozialwirtschaft In diesem Band sind zwei Beiträge versammelt, die idealtypisch für eine Sozialplanung als Antwort auf bestimmt Problemstellungen der Steuerung stehen und die sich bis hinein in die sozialwirtschaftlichen Trägerstrukturen dehnen lassen – die Sozialberichterstattung und die integrative Sozialplanung. Diese beiden Problemlösungen sind mit dem Begriffspaaren • Sozialberichtserstattung mit sozialmanagerialen und marktlichen Koordinationstrukturen sowie Integrierte Sozialplanung mit sozialräumlichen Koordinationsstrukturen. skizzierbar. Beide Problemlösungen sind als Antwort auf rein korporatistische Koordinationsstrukturen zu verstehen – wobei die integrative Sozialplanung außerdem auf die enttäuschten Erwartungen marktlicher Steuerung reagiert. Folgende Tabelle zeigt nun also diese drei Koordinationsstrukturen im Überblick (Tab. 2).

Planung und Interessenausgleich

Bedarfsfeststellung

Sozialberichterstattung und rechtlich fragmentierte Leistungsbereiche

Subsidiarität: Arbeitsteilung aus Auftraggeber–Auftragnehmer– Interessensübereinstimmung Beziehung; Kontraktmanagement

Trägerstrukturen/ Netzwerk

(Fortsetzung)

Verhandlung und Partizipation als lokales Steuerungsmedium

Schaffung lokal geschützter Verbundsysteme, Stärkung zentraler Regeleinrichtungen

Kritik als Enttäuschung der Ökonomisierung, Marktsteuerung führe zu unsteuerbaren Trägerstrukturen, Qualitätssteigerung und Kostendämpfung gescheitert, Verselbständigung der Bedarfsbefriedigung/Sozialraum als Lösung bedarfsgerechter Steuerung durch fokussierten Sozialstaat

Kritik an Unwirtschaftlichkeit der Wohlfahrtsverbände und massiven Qualitätsmängeln (Entmündigung bzw. Fehlbedarfe) im Korporatismus/ Ökonomisierung, Markt, Management und Kundensouveränität als Lösungserwartung für Qualität und Effizienz

Kritik an staatlicher Dominanz (Hintergrund tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Übergriffen des NS-regimes)/Subsidiarität als „Gewaltenteilung“ und gegenseitige Kontrolle

Kritikpunkte/Lösungsoption

Sozialräumliche Priorisierung der Leistungserbringung: Infrastrukturgestaltung und lokale Bedarfe

Sozialberichterstattung bei gleichzeitiger Allokation der Leistungen durch marktliche Strukturen und Sozialmanagement

Schaffung vergleichbarer bedarfsgerechter Versorgungsstrukturen durch öffentliche und freie Träger

Sozialraumorientierte Sozialplanung

NPM-orientiertes Sozialmanagement

Koordinationsstruktur

Korporative Sozialplanung

Tab. 2   Drei sozialwirtschaftliche Steuerungsmodi und Sozialplanung

Sozialraumorientierte Sozialplanung als neue Dominanz lokaler … 67

Korporatistische Teilautonomie und Vertrauen

Komplexeinrichtungen, Institutionenbezug Politische und lobbybedingte Leistungsdefinition Klienten, Institutionelle Einpassung Advokatorischpaternalistische Fürsorglichkeit

Leistungsprozesse und Qualitätssicherung

Ressourcenverwendung

Leistungspluralität

Nutzer_innen

Professionlle Expertise

Quelle: Langer et al. (2018, S. 86), angepasst

Kostenerstattung, Refinanzierung

Korporative Sozialplanung

Rahmenfinanzierung Ressourcenmobilisierung

Tab. 2   (Fortsetzung)

Partizipative Netzwerk-Steuerung

Marktgängige AngebotsNachfrage-Steuerung

Professionalisierung als wissen- Enthierarchisierung und Demoschaftliche Standards kratisierung hin zu integrativer Expertise

„Gute“ und „schlechte“ Kunden Ressourcengeber und solidarische Lebensraumgestalter

Ausführung vorstrukturierter Produkteinheiten, Risikoselektion

Integration durch Teamstrukturen, enge Koppelung in trägerübergreifendem Case-Management

Pauschalisierte Leistungsvergütungen in budgetähnlichen Rahmen

Sozialraumorientierte Sozialplanung

Auslastungspolitik, Quersubvention

Standardisierung von Prozess-Strukturen, DL in Verfahren, Qualitätssicherungssysteme

Entgeltfinanzierung, Aktivierung, Rahmen- und Leistungsverträge, Finanzierungsmix

NPM-orientiertes Sozialmanagement

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Die kursiv gesetzten Zeilen fassen die für diesen Diskussionsgang ­wesentlichen Argumente zusammen, die weitere Tabelle habe ich an einem anderen Ort mit Fokus auf Steuerungsmodi ausführlich beschrieben (vgl. Langer 2018c), für weitere Informationen findet sich dort Näheres. Im Mittelpunkt der sozialwirtschaftlichen Steuerungsdiskussion steht nach wie vor sicherlich der ökonomische Steuerungsmodus, verhandelt vor allem unter den Stichworten „New Public Management (NPM)“ und „Neues Steuerungsmodell (NSM)“. Diese Art der Steuerung und Koordination ist sicherlich nur vor dem Hintergrund der Phänomene durchgreifender Globalisierung und ­Ökonomisierung zu verstehen. Wichtig ist aber ebenso, dass diese Art der Ökonomisierung als Reaktion auf die Dysfunktionalitäten des Korporatismus ­ (vgl. Jüster 2018) zu verstehen ist. Die „Gewaltenteilung“ der Aufgabenwahrnehmung zwischen Wohlfahrtsverbänden und öffentlichen Trägern führte zu einer Dominanz gerade der traditionellen Wohlfahrtsverbände. In der übergreifenden Beobachtung kann man vor allem die Reformprozesse in der Kinder- und Jugendhilfe (KJHG-Prozess und die Installierung des SGB VIII) als leitend für die Beobachtung von Modernisierungsversuchen Sozialer Arbeit heranziehen. Es dürfte nicht zuletzt der massive Protest gegen die entmündigende Heimerziehung sein, die neben den massiven Anreizen zu Unwirtschaftlichkeit als Hauptkritikpunkt am korporativen Systems steht. Nicht zu vergessen ist allerdings, dass die Stärkung der freien Wohlfahrtspflege nach dem Zweiten Weltkrieg auch dem tiefen Misstrauen gegenüber staatlicher Durchgriffsmacht geschuldet ist, mit den katastrophalen Auswirkungen, die unter der Herrschaft des Nazi-Regimes ­folgten. Sozialplanung hatte in der ausgehenden Phase des Korporatismus, in der Anfangsphase der 1970er Jahre, eher die gleiche Verteilung sozialer Leistungen im Blick, es ging um „im engeren Sinne […] die Planung sozialer Hilfen im Rahmen der kommunalen Gesamtentwicklung“ (KGSt B19/1978, S. 7). Die Lösungsoption für die massiven Qualitätsmängel im korporatistischen System, die Unterdrückung von Wunsch- und Wahlrechten, die Fehlanreize im Kostenerstattungssystem zu unwirtschaftlichem Verhalten, die Auswirkungen paternalistischer, „hausväterlicher“ Führung, und eine Stärkung neuer Innovationsmöglichkeit wurde lange Zeit im ökonomischen Steuerungsmodus gesehen. Idealtypisch wird dieser durch das Neue Steuerungsmodell repräsentiert, er sollte jedoch weitgreifender verstanden werden. Letztlich sind Instrumente und Programmelemente, Pluralisierung von Trägerverhältnissen, Liberalisierung der Trägerformen, Verrechtlichung des Systems bei gleichzeitiger Fragmentierung von Leistungsbereichen, aber auch die vorangeschrittene Professionalisierung in Fach- und Leistungspositionen bis hin zur Standardisierung Aspekte dieser ökonomisch orientierten Steuerung.

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Im sozialwirtschaftlichen Diskurs spielt die Managerialisierung eine e­ntscheidende Rolle. So ist doch die Einführung bestimmter Instrumente wahrscheinlich die Geburtsstunde des sozialen Managements. Ausgehend von der Initiierung marktlicher Verteilungs- und Qualitätsentwicklungselemente zeichnet sich die Sozialwirtschaft durch das Aufbrechen korporatistischer Kooperation in Auftragnehmer-Auftraggeber-Verhältnisse aus, innerhalb derer wirtschaftliches Handeln zuvörderst durch Entgeltfinanzierung angereizt wird, gleichzeitig betriebswirtschaftliche Unternehmenssteuerung durch die Ermöglichung von Insolvenzen erzwungen wird. Das Subsidiaritätsprinzip wird durch das rechtlich verankerte Vorrangprinzip freier Träger gestärkt, gleichzeitig fallen jedoch die Erbringungsgarantien für Wohlfahrtsverbände: Der öffentliche Träger zieht sich auf die Gewährleistungs- und Steuerungsfunktion zurück (öffentliche L ­ eistungsträger). Die Verortung der Sozialplanung hier ist widersprüchlich. Einerseits erfährt die Sozialplanung eine Stärkung als Jugendhilfeplanung, nicht zuletzt durch ihre Verankerung im SGB VIII. „In den letzten Jahren ist Sozialplanung in den Kommunen wichtiger geworden. Dies ist einerseits auf die gesetzliche Verankerung der Jugendhilfeplanung (§ 79 SGB VIII), Teilbereich von Sozialplanung, zurückzuführen, andererseits auf die Implementierung betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente als Folge der Verwaltungsmodernisierung (New Public Management)“ (Burmester 2011, S. 306). Andererseits wird die Sozialplanung für andere Bereiche (soziale Daseinsvorsorge, Eingliederungshilfe, Seniorenhilfe usw.) weitestgehend der Marktkoordination überlassen. Als Grenzbeispiel kann hier die Pflege dienen. Als Substitut einer übergreifenden Sozialplanung wird in Folge der Einführung der Pflegeversicherungen die Planung und Koordination zwei Instrumenten überlassen: einerseits der Bedarfsfeststellung durch Sozialberichterstattung und andererseits der Bedarfsdeckung durch Angebot und Nachfrage im Wettbewerb unter Definition der Mindeststandards für Qualität und Ausstattung. Der augenblickliche Trend sozialräumlicher Koordination und Planung ist gekennzeichnet von einer Ernüchterung gegenüber der Leistungsfähigkeit des NPM und geprägt von enttäuschten Erwartungen gegenüber den erhofften „Wirkungen“. Es lassen sich weder Effektivitäts- und Effizienzeffekte nachweisen noch wurde das „Neue Steuerungsmodell“ flächendeckend umgesetzt (vgl. Grohs 2010; Bogumil et al. 2007; Krone et al. 2009). Eine Modernisierung der freien Wohlfahrtspflege durch ökonomische Steuerung oder/und Verrechtlichung wird als gescheitert interpretiert (vgl. Jüster 2015). Stattdessen führen nicht intendierte Nebenwirkungen zu massivem Reformdruck übergreifend in sozialwirtschaftlichen Dienstleistungsfeldern. Kritik wird vor allem von öffentlichen Trägern geäußert, wenn es um Eigenlogiken marktorientierter Wettbewerbsorientierung geht, um die (Über)Spezialisierung und Ausdifferenzierung des L ­ eistungssystems, um die selbstreferenzielle Entwicklung von Parallelstrukturen bis hin zur

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Unsteuerbarkeit der freien Trägerlandschaft. Vonseiten der freien Träger wird massiv die Fragmentierung und Unbeweglichkeit des Hilfesystems kritisiert, die Konzentration auf individuelle Rechtsansprüche, die forcierten Sparprogramme bis hin zur Innovationsfeindlichkeit des Systems. Diese Kritik wurde zuletzt insbesondere im Rahmen der Diskussion um die sog. „Sozialräumlichen Hilfen und Angebote“ in Hamburg deutlich (vgl. Langer 2012). Auf die sozialräumlichen Ansätze werden nun die Hoffnungen gelegt, die vorher an die ökonomienahen Steuerungsmodi gerichtet wurden. Es geht um die Ermöglichung von lokaler Präsenz, Nutzer_Innennähe und niedrigschwellige Zugänge, um Flexibilisierung der Leistungen, Qualitätsentwicklung bei gleichzeitigen Einsparmöglichkeiten. Dabei ist zu betonen, dass mit der hier gemeinten Sozialraumorientierung beobachtet wird, wie ein ursprüngliches sozialarbeitswissenschaftliches Konzept sozialpolitisch entlehnt und umfunktionalisiert wird. Die sozialräumlichen Instrumente lassen sich seit langem in Modellprojekten in der Kinder- und Jugendhilfe skizzieren. Zentral sind dabei die Analyse und Identifizierung von förderungswürdigen Sozialräumen als Territorien, der Zusammenschluss von Leistungserbringern in (exklusiven) Trägerverbünden, die Etablierung neuer Finanzierungsmodi z. B. als Sozialraumbudgets oder Fallpauschalen bis hin zu zuwendungsähnlicher Maßnahmenförderung (vgl. Langer 2012), die Flexibilisierung der Dienstleistungsangebote, die aktive Vernetzung und Kooperation fallbezogen und fallübergreifend bis hin zur Verbesserung von Infrastruktur und Angebotspalette. In der Sozialraumorientierung erlebt Sozialplanung eine Renaissance und Neuinterpretation. Denn es ist die Konzentration auf ungleiche Lebensverhältnisse, die dazu führt, soziale Ungleichheiten in den Fokus von Sozialplanung zu rücken: „[D]ie Sozialplanung verteilt Maßnahmen nicht mehr gleichmäßig in Stadt und Kreis, vielmehr nimmt sie […] die Ausgangssituation eines Sozialraums unter die Lupe und schneidet Maßnahmen auf die örtlich vorgefundene Situation zu“ (Schubert et al. 2015, S. 134). Demzufolge findet sich auch beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge eine erneuerte Definition von Sozialplanung (DV 2011, S. 4): Sozialplanung in den Kommunen ist die politisch legitimierte, zielgerichtete ­Planung zur Beeinflussung der Lebenslagen von Menschen, der Verbesserung ihrer Teilhabechancen sowie zur Entwicklung adressaten- und sozialraumbezogener Dienste, Einrichtungen und Sozialleistungen in definierten geografischen Räumen. Sie geht über die dem Sozialwesen direkt zugeordneten Leistungen, Maßnahmen und Projekte hinaus.

Ausgehend von diesem Durchgang stellt sich nun aber die Frage, in welcher Art von Steuerung die Sozialraumorientierung tatsächlich mündet.

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4 Partizipation oder Leistungsträgerdominanz durch sozialräumlich orientierte Sozialplanung? 4.1 Sozialraumorientierung als Motor einer NewPublic-Governance Herbert Schubert entwirft vor dem Hintergrund des Projektes „Integrierte Sozialplanung als Innovation für die Versorgung im Alter“1 das Modell einer New Public Governance. Dieses Modell wird sichtbar und wirksam unter dem Zusammendenken von Sozialplanung unter der Leitorientierung des Sozialraums. Der Kerngedanke ist hier, dass dem öffentlichen Träger im Rahmen der Sozialplanung die Aufgabe der Koordination und Moderation zugewiesen wird. Die Steuerung des öffentlichen Trägers soll sich nicht mehr auf die Dienstleistungen selbst beziehen, sondern auf die Her- und Sicherstellung der Bedingung der Möglichkeit. Und diese Bedingung findet sich in lokal-autonomen, selbststeuernden und selbstorganisierenden Sozialraumkonstellationen, die sich vor dem Hintergrund der lokal-regionalen Bedingungen und Gegebenheiten entwickeln und deshalb in hohem Maße an diese angepasst sind. Zurückkommend auf die Skizze der Mehrebenensteuerung (Tab. 1.) stellt sich dieser Prototyp als Integration vertikaler und horizontaler Kooperationsmodi in Planungs- und Steu­ erungsprozessen dar (vgl. Schubert in diesem Band und 2017). Das partizipativ-­ selbststeuernde Moment wird darin deutlich, dass die „Verantwortung für die Dienstleistungsproduktion in die kommunalen Teilräume und zu den Stakeholdern“ (vgl. Schubert in diesem Band und 2017, S. 9) delegiert wird, dass den Möglichkeiten (Ressourcen) des Sozialraums durch den „Ausbau von lokalen Arenen der Partizipation und des Engagements“ (ebd.) Rechnung getragen wird und dass die „Förderung des dialogischen Austausches zwischen den öffentlichen, frei-gemeinnützigen sowie privaten Akteuren und den Adressaten“ ins Zentrum lokaler Strukturentwicklung tritt. Es wird deutlich, dass dieser partizipative, lokal autonome Governance-Modus ein nicht rein empirisches Modell entwickelt ist, sondern sich als normativ geleitete Empfehlung innovativer Entwicklung von Planungsaufgaben darstellt.

1In

der Förderlinie SILQUA-FH vom BMBF gefördertes Forschungs- und Entwicklungsprojekt des Forschungsschwerpunkts Sozial • Raum • Management der Technischen Hochschule Köln.

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4.2 Sozialraum als Neo Public Administration Sozialraumorientierung lässt sich aber auch anders lesen. Die im Folgenden kurz skizzierte Interpretation entspringt diversen Forschungsprojekten, Beobachtungen und Begleitungen sozialräumlicher Umstrukturierungsprozesse, angefangen im Jahr 2004 (Krone et al. 2009) bis ins Jahr 2018. Die wesentlichen Argumente, die die These einer Erneuerung und Stärkung lokaler Sozialadministration durch Sozialraumorientierung stützen, sind kurz angedeutet. Dieses Gegenmodell zur Schubertschen New-Public-Governence möchte ich Neo-Public-Administration nennen. Erstens wird in der politischen Verarbeitung Sozialraumorientierung meist dann programmatisch verwendet, wenn es um die Realisierung von Einsparpotenzialen geht. Insofern ist die politische Programmatik Sozialraum im Gegensatz zur KJHG-Reform als eine staatlich zentrierte Form der Verwaltungsmodernisierung zu interpretieren, die ihren Rückhalt und Ausgangspunkt nicht in der Praxis findet. Zweitens ist Sozialraumorientierung z. B. im Modell der SHA-Reform (modellhaft umgesetzt in Hamburg) von einer bürokratischen Umklammerung begleitet. Sozialraumorientierung wird nicht als ergänzende sozialarbeiterische Methode verstanden, sondern als Substitut weiterer Angebotsformen. Im Sozialraumbudget ist z. B. eine ­ implizite Konkurrenz oder zumindest eine Substitutionsmöglichkeit verschiedener Leistungsformen angelegt. Drittens werden mit der Sozialraumorientierung zumeist exklusive Trägerverbünde geschaffen, die den öffentlichen Träger verstärkt in eine dominante Position bringen. Das Wunsch- und Wahlrecht der Klienten wird nicht mehr nur durch das Angebot, sondern durch die Trägerverbünde in Kombination zum Wohnort gesteuert. Rahmenvereinbarungen werden dabei bewusst außer Kraft gesetzt. Es wird eine neue hierarchische Steuerungsstruktur eingezogen. Viertens steigt der Koordinationsaufwand in sozialräumlichen Projekten enorm an. Vernetzung und sozialräumliche Kooperation erfordern einen hohen Personalaufwand. Mögliche Synergieeffekte müssen gegen diese Aufwände verrechnet werden. Aus sozialwirtschaftlicher Perspektive lohnt es sich also, den Blick auf die Entwicklung der Trägerlandschaften in sozialraumorientierter Planung zu richten. In der Gegenüberstellung der Steuerungsmodi New-Public-Governance zu NeoPublic-Administration wurde versucht aufzuzeigen, dass unter einem Steuerungsaspekt Sozialraumorientierung keinesfalls in lokal gesteuerten, teilautonomen, partizipativ angelegten Planungskontexten münden muss. Interessant ist es hier, nochmals die Rolle der freien Wohlfahrtspflege und der freien Träger zu reflektieren. Wurde Subsidiarität zunächst – in der Interpretation des Korporatismus – als

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funktionales Gegenüber zu (willfährigen) sozialstaatlichen Institutionen konzipiert, so finden sich die freien Träger im ökonomischen Steuerungsmodus als vertraglich gesicherter Auftragnehmer wieder, innerhalb der Bedingungen und Möglichkeiten übergreifend vereinbarter Rahmenvereinbarungen. In sozialräumlich orientierten Steuerungs- und Planungsszenarien scheinen die Auswirkungen noch nicht eindeutig. Es bietet sich die Interpretation größerer Autonomie in lokalen Planungskontexten an, aber auch die Einhegung in kommunale S ­ teuerungsverbünde.

5 Fazit Die Fachtagung „Sozialplanung und Sozialwirtschaft im lokalen Raum“ hat implizit die Frage nach den Steuerungsmodi sozialer Dienstleistungen gestellt. Dabei ist festzuhalten, dass Sozialplanung mit der sozialräumlichen Schwerpunktsetzung eine neue Gestalt erhält. Aus sozialwirtschaftlicher Perspektive ist zu bedenken, dass auch die Trägerverhältnisse in sozialräumlich orientierten Steuerungsszenarien eine neue Gestalt bekommen dürften.

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Kommunale Sozialpolitik, strategische Sozialplanung und politisches AgendaSetting Holger Wunderlich

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag zeigt die Potenziale von Sozialplanung für die Entwicklung von Städten, Kreisen und Gemeinden auf. Ausgehend von den kommunal relevanten Herausforderungen in einer modernen und dynamischen Gesellschaft wird ein Verständnis von Sozialplanung vorgestellt, bei dem drei Ebenen unterschieden werden und der Fokus auf die strategische Ebene von Sozialplanung gerichtet wird. Entwickelt wird ein Verständnis einer strategisch-integrativen Sozialplanung, die als Kontextsteuerung interpretiert wird. Ein zentrales Instrument einer solchen Sozialplanung ist die kommunale Sozialberichterstattung. Zusammen mit den Überlegungen zu der Frage, wie und warum welche Themen auf die kommunalpolitische Agenda gelangen, wird herausgearbeitet, welches Potenzial kommunale Sozialberichterstattung für das politische Agenda-Setting haben kann.

1 Einleitung Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, ob und ggf. wie Sozialplanung den politischen Prozess, insbesondere das politische Agenda-Setting, in den Städten, Kreisen und Gemeinden beeinflussen kann. (Wie) Kann Sozialplanung dazu beitragen, dass soziale Themen im stadtgesellschaftlichen und kommunalpolitischen H. Wunderlich ()  Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Hochschule Braunschweig, Wolfenbüttel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_5

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Diskurs auf der kommunalen Ebene an Bedeutung gewinnen? Den Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage bilden drei Annahmen: 1. Wir leben in einer komplexen und dynamischen Gesellschaft. Die damit verbundenen (sozialen) Folgen sind (auch) lokal erfahrbar und müssen (auch) dort bewältigt werden! Die Komplexität und Dynamik unserer Gesellschaft erfahren wir trotz Globalisierung und Digitalisierung immer noch zu einem erheblichen Teil lokal, entweder im direkten Wohnumfeld oder aber zumindest kommunal oder regional. Die ­Konsequenzen dieser Entwicklung müssen folglich auch vor Ort, in den Städten, Kreisen und Gemeinden, bewältigt werden. Zum einen konfiguriert sich – die unsere Gesellschaft kennzeichnende – soziale Ungleichheit auch räumlich: Sowohl zwischen den als auch innerhalb der Kommunen gibt es deutliche Unterschiede hinsichtlich der Lebenslage der Bevölkerung.1 Zum anderen unterscheiden sich die soziale Infrastruktur und damit auch die Bewältigungsarrangements, unter denen diese Herausforderungen vor Ort bewältigt werden müssen. Verschärfend wirkt in diesem Zusammenhang die immer schwierigere Finanzlage der Kommunen. Die Herausforderung der Sozialplanung als „Vermittlungsinstanz zwischen den Interessen und Bedürfnissen der Menschen, ihren näherungsweise objektivierbaren Lebenslagen und Lebensführungsmustern und der öffentlichen Produktion sozialer Dienstleistung in den kommunalen, staatlichen und freigemeinnützigen Systemen des Sozialstaats“ (Brülle 1998, S. 96) sind damit größer denn je. Der Stellenwert von Sozialplanung ist vor diesem Hintergrund deutlich größer geworden. 2. Es gibt diverse Reform- und Modernisierungstrends auf der kommunalen Ebene, die das Zusammenwirken von Politik, Verwaltung und den Bürgerinnen und Bürgern verändert haben. Das Resultat sind veränderte Rahmenbedingungen für die Sozialplanung. Schon zur Jahrtausendwende wurde die Entwicklung von der Ordnungs- zur Dienstleistungs- und Bürgerkommune (Banner 1998) angeführt, womit insbesondere die Übertragung einer betriebswirtschaftlichen Logik auf die kommunale Verwaltungspraxis beschrieben wird. Auch wenn rückblickend festgehalten 1Vgl.

für die Unterschiede zwischen Kommunen beispielsweise diverse Studien der Bertelsmann Stiftung, die ZDF Deutschland-Studie von Prognos und/oder beliebige kommunale Sozialberichte; Hinweise zu ausgewählten Familienberichten finden sich beispielsweise unter www.faktor-familie.de.

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werden muss, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit eine erhebliche ­Diskrepanz zu verzeichnen ist, so haben die Verwaltungsreform, die Direktwahl des Bürgermeisters, die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden sowie die eingeführten kooperativen Formen der Demokratie das kommunale Entscheidungssystem verändert (Bogumil 2001, S. 257). Bogumil führt in diesem Zusammenhang an, dass die Input-Legitimation (Partizipation, Transparenz und Akzeptanz) dadurch ausgebaut wurde, hinsichtlich der Output-Legitimation (Effizienz und Effektivität) jedoch eine skeptischere Perspektive eingenommen werden muss. Mit Blick auf das Effektivitätskriterium sieht er jedoch Potenziale. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass „sich die Einsicht verstärkt, dass kooperative Aufgabenerledigung und das Zulassen größerer Handlungsspielräume für gesellschaftliche Akteure und Bürger die Steuerungsfähigkeit eher verbessert“ (Bogumil 2001, S. 257). Für die Sozialplanung bedeutet der Bedeutungsgewinn kooperativer Aufgabenerledigungen, dass beteiligungsorientierte und diskursive Zugänge an Relevanz gewinnen (was nicht mit einem Bedeutungsverlust handlungsfeldbezogener verwaltungsinterner Controlling-Prozesse einhergehen muss/sollte). 3. Kommunale Sozialplanung kann für die nachhaltige Entwicklung der Kommunen und der Stadtgesellschaften eine große strategische Bedeutung haben. Als Konsequenz der beiden ersten Punkte gilt es, das Profil von Sozialplanung zu schärfen und Verständigung über die Aufgaben und Funktionen von Sozialplanung zu erzielen. Im Fokus des vorliegenden Beitrags steht die strategische Ebene von Sozialplanung. Sozialplanung sollte, dies ist der Ausgangspunkt für die weiteren Ausführungen, stärker die strategische Ebene in den Blick nehmen und Leitplanken für die stadtgesellschaftliche Entwicklung setzen (und dafür den Auftrag der Verwaltungsspitze erhalten!). Strategische Sozialplanung sollte die Akteure vor Ort stärker für die (stadt-)gesellschaftlichen Entwicklungen sensibilisieren und sich als Motor einer ausgewogenen Stadtentwicklung verstehen. Dafür gilt es, sie auf einer Ebene mit anderen Handlungsfeldern und Planungszugängen zu verorten und sie mit ausreichenden zeitlichen und monetären Ressourcen auszustatten. Strategische Sozialplanung muss obligatorischer Bestandteil einer integrativen kommunalen Planung werden. Wie Sozialplanung als Bestandteil einer integrativen kommunalen Planung interpretiert werden kann, wird im Folgenden entwickelt. Ausgehend von einer Skizzierung des Bedeutungsgewinns der kommunalen Ebene in der Sozialpolitik und einer Systematisierung sozialpolitischer Herausforderungen wird in Abschn. 2 die Abhängigkeit politischer Inhalte von politischen Strukturen und Prozessen herausgestellt. In Abschn. 3 wird daran anknüpfend ein Verständnis

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strategisch-integrativer Sozialplanung als Basis einer wirkungsorientierten Sozialpolitik entwickelt. Die Grundlage dafür bietet ein Überblick über die Entwicklung von kommunaler Sozialplanung und die Differenzierung unterschiedlicher sozialplanerischer Ebenen. Die konkrete Ausgestaltung einer strategisch-integrativen Sozialplanung wird daran anknüpfend anhand eines Verständnisses von Sozialplanung als Kontextsteuerung skizziert. Ein zentrales Instrument einer derart interpretierten Sozialplanung ist die kommunale Sozialberichterstattung. Zusammen mit den Überlegungen zu der Frage, wie und warum welche Themen auf die kommunalpolitische Agenda gelangen, wird in Abschn. 4 dann das Potenzial von Sozialberichterstattung für das politische Agenda-Setting herausgearbeitet. Teile der folgenden Argumentation, insb. in den Abschn. 2.3, 3.3 und 4.2 basieren auf entsprechenden Ausführungen des Autoren zum Bereich kommunaler Familienpolitik (Wunderlich 2014). Der vorliegende Beitrag trägt dazu bei, die unterschiedlichen Ebenen von Sozialplanung zu ordnen, Potenziale von Sozialplanung für eine soziale Stadtentwicklung aufzuzeigen und dadurch Sozialplanung im kommunalen Kontext nachhaltig aufzuwerten!

2 Sozialpolitik in den Städten, Kreisen und Gemeinden Die Kommunen haben in der sozialpolitischen Diskussion in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. In zahlreichen kommunalen Handlungs- und Politikfeldern sind vielfältige und grundlegende Veränderungen zu beobachten, die auf eine neue Qualität kommunaler Sozialpolitik verweisen (vgl. Schefold 2012, S. 65; Dahme und Wohlfahrt 2011, S. 9 ff.). Was aber zeichnet diese neue Qualität konkret aus und welche Entwicklungen sind damit angesprochen? Anzuführen sind hier erstens die sich verschärfenden Problemlagen in den Städten, Kreisen und Gemeinden, zweitens die Dezentralisierungstendenzen im Sozialstaat sowie drittens ein verändertes Planungs- und Steuerungsverständnis im politisch-administrativen System (vgl. hierzu Schefold 2012, S. 65; Dahme und Wohlfahrt 2011, S. 9 ff.). Lokale Politik muss sich auf diese Herausforderungen einstellen und kommunale Sozialplanungsprozesse werden in diesem Zuge an Bedeutung gewinnen. Im Folgenden wird der Bedeutungsgewinn der kommunalen Ebene in der Sozialpolitik (Abschn. 2.1) skizziert, es werden sozialpolitische Herausforderungen und ihre Bedeutung für die stadtgesellschaftliche Entwicklung aufgezeigt (Abschn. 2.2) sowie unterschiedliche Ebenen von Sozialpolitik differenziert (Abschn. 2.3). Leitend dabei ist der Gedanke, die Abhängigkeit

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s­ozialpolitischer Inhalte von politischen Strukturen und Prozessen aufzuzeigen, da diese den Rahmen für die kommunale Sozialplanung darstellen.2

2.1 Bedeutungsgewinn der kommunalen Ebene Ob es um die Ursachen von Armut (bspw. Arbeitslosigkeit), ihre möglichen Folgen (bspw. Bildungsbenachteiligung) oder Herausforderungen wie beispielsweise die Integration von Migrantinnen und Migranten oder die Herstellung familiengerechter Rahmenbedingung geht – die kommunale Ebene spielt bei der Bearbeitung dieser Herausforderungen eine zentrale Rolle. Das Zusammengehen bundesweiter Arbeits- und kommunaler Sozialverwaltung (sog. Jobcenter) ist ein Beispiel dafür, dass nicht nur soziale Themen auf der kommunalen Ebene an Bedeutung gewonnen haben, sondern auch die kommunale Ebene in der Sozialpolitik des Bundes und der Länder an Bedeutung gewonnen hat. Vor Ort, in den Städten, Kreisen und Gemeinden, „werden die Linien und Tendenzen des Sozialen Wandels unmittelbar für Politik wichtig“ (Schefold 2012, S. 68). Hier wird konkret, was mit Blick auf Deutschland insgesamt diskutiert wird. Zunehmend ist eine Verschiebung der Bearbeitung sozialpolitischer Themen von der Bundesund Landesebene auf die kommunale Ebene zu beobachten, ohne dass in allen Fällen eine entsprechende Gegenfinanzierung erfolgt. Dahme und Wohlfahrt (2011, S. 12) verweisen in diesem Zusammenhang daher darauf, dass die Kommunen nicht mehr nur Implementationsträger staatlicher Sozialpolitik sind, sondern von ihnen zunehmend auch die Erfüllung gestalterischer Aufgaben erwartet wird. Der Bedeutungszuwachs kommunaler Sozialpolitik kann damit auch als die Reaktion auf eine zunehmende Problemverschiebung auf die kommunale Ebene interpretiert werden. Neben der „gesetzlich festgeschriebenen Infrastrukturverantwortung, die in der Regel durch Planungs- und Fördermaßnahmen wahrgenommen wird“ (Dahme und Wohlfahrt 2011, S. 11) haben Dezentralisierungsprozesse dazu geführt, dass die lokale Ebene „in den Rang einer sozialpolitisch relevanten Handlungsinstanz erhoben“ wird (Dahme und Wohlfahrt 2011, S. 12). Das Kernanliegen dieser international als Devolution bezeichneten Entwicklung ist „die lokale bzw. regionale Ebene als kompensatorische Ressource wachsender Armutsprobleme und sozialer

2Abschn. 2.1

und 2.2 wurde (bis auf den letzten Absatz von Abschn. 2.2 und mit wenigen Anpassungen) übernommen aus einem gemeinsamen Beitrag des Autors mit Gregor Hensen (Hensen und Wunderlich 2017, S. 26 f.).

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Gegensätze ins Spiel zu bringen. Ziel dieser Politik ist nicht nur, durch Verlagerung von Verantwortung die Legitimität des kommunalpolitischen Handelns zu erhöhen, sondern auch die Integration unternehmerischer, zivilgesellschaftlicher und ehrenamtlicher Kräfte in eine dezentrale sozialpolitische Strategie der Abfederung armutsverschärfenden Auswirkungen zentralstaatlicher Wachstums- und Standortpolitik“ (Dahme und Wohlfahrt 2011, S. 12 f.). Leitend bei dieser Perspektive ist die Einschätzung, dass der Bedeutungsgewinn kommunaler Sozialpolitik in Deutschland das Ergebnis einer Instrumentalisierung der kommunalen Ebene durch die übergeordneten Instanzen ist (Dahme und Wohlfahrt 2011, S. 13 mit Verweis auf Grell 2008, S. 347) und die Städte, Kreise und Gemeinden nicht mehr nur als Implementationsträger für die soziale Infrastruktur stehen, sondern auch als Implementationsträger für „Diversions- und Sanktionsstrategien, die die Versorgungsaufgaben noch weiter ins Private (familiäre Netzwerke), die lokalen Gemeinschaften (communities) oder in den karitativen Sektor verlagern“ (Grell 2008, S. 354 f., zitiert nach Dahme und Wohlfahrt 2011, S. 13). Ein beträchtlicher Teil des Bedeutungszuwachses kommunaler Sozialpolitik kann damit „als ein Ausdruck der Kompensation, des Abbaus oder der Verweigerung sozialpolitischer Leistungen auf höheren politischen Aggregatebenen interpretiert werden“ (Schefold 2012, S. 71). Verbunden damit sind „neue Risiken für die soziale Versorgung und soziale Sicherheit von Gruppen“ (Schefold 2012, S. 72). In den Hintergrund geraten dabei regelmäßig jedoch die „neuen Chancen der Sozialpolitik, vor allem im Zusammenspiel der Gemeinschaften, Märkte und staatlichen Institutionen“ (Schefold 2012, S. 71). Die damit angesprochene „Governance-Diskussion“, also die Abkehr von der ausschließlichen Planungsund Gestaltungshoheit der kommunalen Akteure hin zu einer Neugestaltung des (politischen) Zusammenwirkens aller sozialpolitisch relevanten örtlichen Akteure, eröffnet auch Möglichkeiten zur Neugestaltung des Sozialen. Die „Weiterentwicklung der umsetzungszentrierten kommunalen Sozialpolitik zu einer eigenständigen kommunalen Gesellschaftspolitik oder sozialen Kommunalpolitik“ (Dahme und Wohlfahrt 2011, S. 16) ist – abseits der Devolutionsprozesse – auch Ausdruck sich verändernder kommunaler Strukturen und eines veränderten Politikverständnisses (vgl. Abschn. 2.3).

2.2 Sozialpolitische Herausforderungen auf kommunaler Ebene Die inhaltlichen Herausforderungen kommunaler Sozialpolitik und damit von Sozialplanung werden deutlich, indem Strohmeier (2007) die von Kaufmann

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(1997) für den deutschen Sozialstaat formulierten Herausforderungen auf die kommunale Ebene überträgt. Demnach stehen die Kommunen vor einer 1) demografischen, einer 2) sozialen, einer 3) kulturellen, einer 4) internationalen und einer 5) ökonomischen Herausforderung (siehe hierzu Strohmeier 2007, S. 246 f.). 1. Mit der demografischen Herausforderung ist zum einen die durch den Geburtenrückgang und die Alterung der Bevölkerung verbundene Veränderung von Humanpotenzialen angesprochen. Zum anderen stellt die räumliche Polarisierung des schrumpfenden Familiensektors und des wachsenden Nicht-Familiensektors für die Kommunen eine Herausforderung dar, denn neben der Segregation von Arm und Reich sowie Migranten und Nicht-Migranten ist auch die Segregation von Familien und Nicht-Familien eine Entwicklung, der in zahlreichen Kommunen entgegenzusteuern versucht wird. 2. Die soziale Herausforderung hängt eng mit der demografischen Herausforderung zusammen. Sie besteht in der kleinräumigen Polarisierung sozialer Lagen und der gleichzeitigen Erosion traditioneller Lebensformen wie der Familie. Diese Entwicklung führt insbesondere in den segregierten unteren Sozialschichten zur Ausdünnung traditioneller Familien- und Nachbarschaftsnetzwerke, was wiederum zu individueller Perspektivlosigkeit und sozialer Exklusion führen kann. Die damit angesprochene Überlastung der informellen Solidarpotenziale sind insbesondere mit Blick auf die Pflege und Sorge für Kinder und Ältere relevant, denn diese wird zunehmend organisiert werden müssen und findet nicht mehr automatisch in den Familien(-netzwerken) statt. 3. Die kulturelle Herausforderung beschreibt Strohmeier als das „Schwinden sozialer Integration und lokaler Identifikation der Bürger“ (Strohmeier 2007, S. 247), die sich in Gestaltungspessimismus (insbesondere der von Armut gekennzeichneten Bevölkerung) und Nicht-Partizipation der BürgerInnen am politischen Geschehen ausdrückt und sich in „demokratiefreien Zonen“ (Strohmeier 2007, S. 247) widerspiegelt. Mit Blick auf die Aktivierung der Bürgerinnen und Bürger durch die Sozialplanung ist diese Herausforderung von großer Bedeutung. 4. Hinsichtlich der internationalen Herausforderung geht es auf der kommunalen Ebene um die Integration der Zugewanderten, die ebenso wie Arme und Nicht-Arme sowie Familien und Nicht-Familien häufig segregiert leben. Strohmeier betont, dass es auf der kommunalen Ebene „niemals um die Abwehr von Einwanderung, sondern immer um die ‚Integration‘ der ‚Fremden‘ [geht], die schon da sind“ (Strohmeier 2007, S. 247). Strohmeier verweist auf die Bedeutung der Zuwanderung für die „quantitative Reproduktion

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der deutschen Bevölkerung“ und den Umstand, dass insbesondere der Nachwuchs der Zugewanderten von Bildungsarmut betroffen ist und „Debatten um ‚qualifizierte Zuwanderung‘ […] so lange Phantomdebatten sind, wie sie nicht die Qualifikation der bereits Zugewanderten und ihrer Kinder einschließen, die angesichts der demografischen Herausforderung für die gesellschaftliche Nachwuchssicherung dringend benötigt werden“ (Strohmeier 2007, S. 247). 5. Die fünfte Herausforderung ist ökonomischer Natur. Die meisten Kommunen in Deutschland haben eine schwierige Haushaltssituation. Verbunden damit sind Handlungseinschränkungen (insb. mit Blick auf eine umfassende Sozialpolitik, die auch freiwillige Leistungen der Kommunen beinhaltet) bezogen auf die Bearbeitung der vorab skizzierten inhaltlichen Herausforderungen, insb. vor dem Hintergrund einer zunehmenden Problemverschiebung von der Bundes- und Landesebene auf die kommunale Ebene. Übergreifend kann formuliert werden, dass der Aufwand (Herausforderung 1–4) und damit der Ressourcenbedarf kommunaler Sozialpolitik immer größer und die zur Bearbeitung zur Verfügung stehenden Ressourcen immer knapper werden (Herausforderung 5). Zudem sind die formulierten Herausforderungen interdependent und können gravierende Folgen für die nachwachsende Generation und damit auch für die Entwicklung der Städte, Kreise und Gemeinden haben. Problematisch ist dies für die kommunale Entwicklung, da für diese eine ausgewogene Bevölkerungsstruktur ebenso wichtig ist wie eine konkurrenzfähige Wirtschaftsstruktur oder städtebauliche und sozial-kulturelle Aspekte (BMFSFJ 1996, S. 27). Entsprechend bilden die Steuerungsfelder Wirtschaft, Städtebau, soziale und kulturelle Infrastruktur sowie kommunale Selbstverwaltung gemeinsam mit einer ausgewogenen Einwohnerstruktur ein „magisches Fünfeck“ kommunaler Zielfelder (vgl. Abb. 1). Von einem „magischen“ Fünfeck wird gesprochen, weil für die kommunale Entwicklung erstens alle Steuerungsfelder gleichermaßen relevant sind und sie zweitens interdependent sind. „Wie beim magischen Drei- oder Viereck der Volkswirtschaftslehre liegt die Magie darin, dass dieses Zielsystem nicht optimiert werden kann, wenn nur eines der Teilziele Vorrang erhält“ (BMFSFJ 1996, S. 27). Die Wirtschaftsstruktur hat beispielsweise einen starken Einfluss auf die Finanzkraft und damit auch auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Kommune. Von diesen Gestaltungsmöglichkeiten wiederum ist die quantitative und qualitative Ausgestaltung der sozialen und kulturellen Infrastruktur abhängig, durch die in einem erheblichen Maße das Lebensumfeld von (potenziellen) Bürgerinnen und Bürgern geprägt wird.

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Einwohnerstruktur

Soziale und kulturelle Infrastruktur

Kommunale Selbstverwaltung

Magisches Fünfeck der kommunalen Entwicklung

Wirtschaftsstruktur

Wohnung, Versorgung, Verkehr

Abb. 1   Magisches Fünfeck der kommunalen Entwicklung. (Quelle: BMFSFJ 1996, S. 26, angepasste Darstellung)

Um den Implikationen des magischen Fünfecks mit Blick auf eine soziale Stadtentwicklung gerecht zu werden, bedarf es kommunaler Planungsprozesse, die nicht parallel ablaufen (also beispielsweise die Wirtschaftsförderung auf der einen Seite und die Planung sozialer Infrastruktur auf der anderen Seite). Es bedarf eines Planungsprozesses, der die einzelnen politikfeldbezogenen Planungsprozesse aus einer übergeordneten Perspektive aufeinander bezieht, übergreifende Trends sicht- und diskutierbar macht sowie inhaltliche und strukturelle Querverbindungen zwischen den einzelnen Handlungs- und Politikfeldern aufzeigt (das magische Fünfeck bietet hierbei eine Orientierung hinsichtlich der im Auge zu behaltenden Bereiche der kommunalen Entwicklung). Mit Blick auf die Sozialplanung wird in diesem Zusammenhang deutlich, dass mindestens die beiden Bereiche „Einwohnerstruktur“ und „soziale und kulturelle Infrastruktur“, aber auch der Bereich „Wohnung und Versorgung“ originäre Themen der kommunalen Sozialplanung sind. Sie kann somit ein wichtiger Impulsund Taktgeber für ein integriertes Planungsverständnis sein. Eine Voraussetzung

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dafür ist die Schärfung des sozialplanerischen Selbstverständnisses. Nach wie vor gibt es nämlich kein einheitliches Verständnis von Sozialplanung und aus Sicht des Autors gilt es insbesondere hinsichtlich der Ebene von Sozialplanungsprozessen, Klarheit zu erzielen. Geht es ausschließlich um die Planung sozialer Infrastruktur, so wie es häufig diskutiert wird, oder geht es um mehr? Aus Sicht des Autors geht es um deutlich mehr, nämlich die sozialplanerische Unterstützung einer weit(er) definierten Sozialpolitik.

2.3 Sozialpolitik als kommunale Gemeinschaftsaufgabe Bei der Antwort auf die Frage, was gute Sozialpolitik (und damit verbunden gute Sozialplanung) ist, gilt es im Blick zu behalten, dass die inhaltliche Gestaltung von Sozialpolitik in einem hohen Maße abhängig ist von kommunalen Strukturen und Prozessen. Sozialplanung als Unterstützung kommunaler Sozialpolitik muss diese Strukturen und Prozesse berücksichtigen. Neben der inhaltlichen gilt es daher auch die strukturelle und prozessuale Dimension von Sozialpolitik in den Blick zu nehmen. Im englischen Sprachgebrauch werden diese Dimensionen als Policy, Polity und Politics bezeichnet (vgl. Bogumil und Jann 2009, S. 23; ­Schubert und Bandelow 2009, S. 4 ff.). Politics verweist auf den prozessualen Charakter von Politik. Der Begriff bezeichnet im englischen Sprachschatz also nur eine von drei Dimension, wohingegen im Deutschen der Politikbegriff häufig als Sammelbegriff für alle Dimensionen verwendet wird. Zudem ist diese Dimension die für die Öffentlichkeit sichtbarste (Bogumil und Jann 2009, S. 23). „Politics bezeichnet den mehr oder weniger konflikthaften Prozess des Politikgestaltens, bei dem auf die unterschiedlichen, teilweise gegensätzlichen, teilweise gleichlaufenden, teilweise neutralen, teilweise koalierenden Interessen und Parteien und deren politische Absichten, Forderungen etc. Rücksicht genommen werden muss. In diesem Prozess werden politische Ideen im Rahmen bestimmter politischer Ordnungen in konkrete politische und sozioökonomische Forderungen, ­Vereinbarungen, Pläne und Entscheidungen gefasst“ (Schubert und Bandelow 2009, S. 4 f.).

Mit den in dieser Definition angesprochenen politischen Ordnungen wird auf eine weitere Dimension, nämlich die formale bzw. strukturelle Dimension hingewiesen. Mit dieser im Englischen als Polity bezeichneten Dimension werden.

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„einerseits die politischen Ideen und Ideologien angesprochen, andererseits werden unter Polity aber auch die aus diesen Ideen hervorgegangenen, formalen, institutionellen Ordnungen politischer Systeme subsumiert. Letztere werden in der Regel durchaus auch als geografisch gesehene Einheit oder Gesamtheit verstanden“ (Schubert und Bandelow 2009, S. 4 f.).

Als dritte Dimension stellt Policy die von Strukturen (Polity) und Prozessen (Politics) abhängige inhaltliche Dimension von Politik dar, also. „zum Beispiel Gesetze, Verordnungen, Entscheidungen, Programme und Maßnahmen […], deren konkrete materielle Resultate die Bürger direkt betreffen, gegebenenfalls an den Bürgern vorbeigehen oder auch nur symbolische Funktion haben“ (Schubert und Bandelow 2009, S. 4 f.).

Im Folgenden wird skizziert, was in einer ersten, eher allgemeinen Annäherung eine „gute“ Sozialpolitik sein könnte und was mit Blick auf die Strukturen und Prozessen, von denen sie abhängt, zu berücksichtigen ist. Anknüpfend daran wird in Abschn. 3 eine Perspektive kommunaler Sozialplanung entwickelt, die diesen Rahmenbedingungen Rechnung trägt.

2.3.1 Die inhaltliche Dimension: Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik Inhaltlich wird diesem Beitrag ein sozialpolitisches Verständnis zugrunde gelegt, dass mit Sozialpolitik „all jene Maßnahmen, Leistungen und Dienste [anspricht], die darauf abzielen, dem Entstehen sozialer Risiken und Probleme vorzubeugen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Bürgerinnen und Bürger befähigt werden, soziale Probleme zu bewältigen, die Wirkungen sozialer Probleme auszugleichen und die Lebenslage einzelner Personen oder Personengruppen zu sichern und zu verbessern“ (Bäcker et al. 2008, S. 43). Sozialpolitik ist in dieser Lesart also nicht nur auf die nachträgliche Bearbeitung sozialer Probleme, sondern explizit auch auf die Gestaltung (zukünftiger) Lebensbedingungen orientiert. Ein solches Verständnis von Sozialpolitik lässt sich auch auf die kommunale Ebene beziehen. Sozialpolitik wird dann als Bestandteil der Stadt-/Kreis-/ Gemeindeentwicklung verstanden und reicht deutlich über die Themen sozialer Kommunalpolitik und kommunaler Sozialpolitik hinaus. Während es im ­Rahmen „kommunaler Sozialpolitik“ um die Planung und Bereitstellung von Hilfen für benachteiligte Bevölkerungsgruppen geht, nimmt „soziale Kommunalpolitik“ die langfristige Entwicklung der sozialen Situation in den Blick. Die noch weiter gefasste „aktive Gesellschaftspolitik“ befasst sich auf verschiedensten Gebieten mit sozialer Bedeutung mit der Entwicklung von Lebensräumen und

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dem ­künftigen Zusammenleben und der Gestaltung entsprechender Maßnahmen (Dahme und Wohlfahrt 2013, S. 49 f. unter Verweis auf Deutscher Verein 1986, S. 19 f.). Je umfassender das Verständnis von Sozialpolitik ist, desto komplizierter wird auch das Aufgabenspektrum der Sozialplanung.

2.3.2 Die Prozess-Dimension: Von Planung über Steuerung zu Governance Politik wird, und damit wird bereits die Nähe zu den in der Sozialplanung diskutierten Steuerungskreisläufen deutlich, als Prozess verstanden, „in dem lösungsbedürftige Probleme artikuliert, politische Ziele formuliert, alternative Handlungsmöglichkeiten entwickelt und schließlich als verbindliche Festlegung gewählt werden“ (Scharpf 1973, S. 15, unter Verweis auf Grauhan 1970). Dieser Prozess lässt sich nach Jann und Wegrich (2009, S. 85 ff.) in sechs Phasen differenzieren (vgl. Abb. 2). Sowohl bezogen auf die sechs Phasen, als auch hinsichtlich der zeitlichen Abfolge handelt es sich um eine idealtypische Betrachtungsweise, die der Praxis des Policy-Making nur in den seltensten Fällen entspricht. „In vielen Fällen

Politikterminierung

Problem(re)definition

Politikevaluierung

Politikimplementierung

Abb. 2   Policy-Cycle. (Quelle: Jann und Wegrich 2009, S. 86)

Agenda Setting

Politik -formulierung

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können Phasen […] nicht wirklich unterschieden werden oder es kommt zu einer Umkehrung der Reihenfolge (Probleme der Politikformulierung beeinflussen direkt das Agenda-Setting), einzelne Phasen fehlen gänzlich (eine systematische Evaluation ist nicht erkennbar) oder sind kaum zu unterscheiden (Agenda Setting und Politikformulierung)“ (Jann und Wegrich 2009, S. 102, unter Verweis auf Sabatier 1993 und 2007 und Héritier 1993). Das Abweichen vom idealtypischen Policy-Cycle ist unter anderem darin begründet, dass „Policies in aller Regel nicht im luftleeren Raum entstehen, sondern fast immer schon auf bestehende Policies treffen, diese ergänzen, modifizieren oder, was wahrscheinlicher ist, mit diesen konkurrieren oder negativ interagieren. Wenn der öffentliche Sektor, wie in den letzten Jahrzehnten offenkundig, seine Aktivitäten ausweitet, ist zu erwarten, das Policy Making schwieriger wird, denn bereits bestehende Politikinhalte und Aktivitäten werden zu einem zentralen Element der Systemumwelt, nicht selten zu einer wichtigen Restriktion“ (Jann und Wegrich 2009, S. 85). Mit der Berücksichtigung der Systemumwelt angesprochen ist auch ein verändertes Politik- und Planungsverständnis. Hierfür wird in der Regel der Begriff „Governance“ angeführt. Dieser seit den 1990er-Jahren zunehmend verwendete Begriff stellt die Fortführung einer Diskussion dar, die in den 1960er- und 1970er-Jahren als Planungs-Diskussion begonnen und in den 1980er-Jahren als Steuerungs-Diskussion weitergeführt wurde. Im Mittelpunkt des Planungsdiskurses der gestaltungsoptimistischen 1960er- und 1970er-Jahre stand die Steuerungsfähigkeit des Steuerungssubjekts. Planungsprobleme wurden als Informationsprobleme betrachtet, die durch ein „Intelligentermachen des Apparats“ (Bogumil und Jann 2009, S. 47) gelöst werden können. Kennzeichnend für diese Zeit war der Ausbau des Wohlfahrtsstaates (Leistungsexpansion), verbunden mit der Überzeugung, dass der Ausbau des Leistungsspektrums umfassend planbar war (Planungseuphorie). Diese gestaltungsoptimistische Zeit wurde, angestoßen durch die Ergebnisse der Implementationsforschung, ab dem Ende der 1970er-Jahre durch eine Phase abgelöst, in der die Frage nach der grundsätzlichen Steuerbarkeit von Steuerungsobjekten in den Mittelpunkt rückte. Durch diesen Einbezug der Adressatenseite wurde die Planungs- zu einer Steuerungsdiskussion, die zudem bzw. deshalb die Besonderheiten der einzelnen Regelungs- bzw. Politikfelder berücksichtigt (Mayntz 2005, S. 13). Ebenso wie die Planungs- ist auch die Steuerungsdiskussion anfangs von einer eindeutigen Trennung von Steuerungssubjekt und -objekt ausgegangen. Diese kategorische Trennung wurde erst aufgegeben, indem die Perspektive um den Aspekt gesellschaftlicher Selbstregelung erweitert wurde bzw. beim PolicyMaking auch nicht-staatliche Akteure in den Blick gerieten (Mayntz 2005, S. 13). Diese Sichtweise kann im Wesentlichen mit dem Modell des kooperativen Staates

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beschrieben werden und entspricht in vielen Punkten bereits dem, was bei einem breiten Verständnis heute als Governance diskutiert wird. Governance beschreibt demnach alle „nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte: von der institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Selbstregelung über verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure bis hin zu hoheitlichem Handeln staatlicher Akteure“ (Mayntz 2003, S. 72, zitiert nach Mayntz 2005, S. 15). Im Mittelpunkt steht also nicht mehr „das Steuerungshandeln von Akteuren, sondern die wie auch immer zustande gekommene Regelungsstruktur und ihre Wirkung auf das Handeln der ihr unterworfenen Akteure“ (Mayntz 2005, S. 14). Entsprechend dieser veränderten Perspektive „ist, wenn vom kooperativen Staat die Rede ist, nicht die Kooperation des Staates (als Akteur), sondern die Kooperation innerhalb des staatlichen Kompetenzbereichs gemeint“ (Benz 1994, S. 16). Für die Sozialplanung ergibt sich hieraus die Notwendigkeit, noch stärker als bisher auf die Vernetzung aller lokal relevanten Akteure hinzuwirken. Nur so kann die Kommune ihrer Rolle als Initiator, Moderator und Koordinator einer umfassend verstandenen Sozial- und Gesellschaftspolitik vor Ort gerecht werden.

2.3.3 Die strukturelle Dimension: Kommunalpolitische Strukturen im Umbruch Das kommunale Entscheidungssystem und damit auch die Rahmenbedingungen für die (politikberatende) Sozialplanung haben sich durch diverse Modernisierungstrends verändert. Bogumil (2001, S. 247 f.) fasst diese Veränderungen dahin gehend zusammen, dass die Einflussmöglichkeiten der Räte, sowohl durch die Direktwahl des Bürgermeisters als auch durch Bürgerbegehren und kooperative Demokratieformen, deutlich geringer geworden sind. Da Bürgermeisterkandidaten und -kandidatinnen zumindest in mittleren und großen Kommunen auch unter den veränderten Bedingungen eine größere Wahlchance haben, wenn sie durch eine oder mehrere lokale Parteien unterstützt werden, geht der Machtverlust des Rates nicht automatisch mit geringeren Einflussmöglichkeiten der lokalen Parteien einher. Zudem bieten Bürgerbegehren und kooperative Demokratieformen den Parteien außerhalb der Wahlperioden viel stärkere Profilierungsmöglichkeiten als bisher. Größer geworden sind die Einflusschancen der Verwaltungsspitze. Sie hat, insbesondere bedingt durch ihre direkte Wahl und die damit verbundene hohe Legitimität, sowohl innerhalb der Verwaltung als auch gegenüber dem Rat bzw. den politischen Gremien erheblich an Einfluss gewonnen. Am stärksten haben jedoch die Einflussmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger zugenommen. Ihre Position wird gestärkt durch die Verwaltungsmodernisierung, die Direktwahl des Bürgermeisters, die Option von Bürgerbegehren und Bürger-

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Verwaltungsmodernisierung

Direktwahl des Bürgermeisters

Bürgerbegehren und Bürgerentscheide

Kooperative Demokratie

Bürgermeister

0

+

-

+

Verwaltung

+

0

-

+

Rat

0

-

-

-

Bürger

+

+

+

+

Abb. 3   Wirkungen der Modernisierungstrends auf die Einflusschancen. (Quelle: Bogumil und Holtkamp 2006, S. 124; Bogumil und Jann 2009, S. 194)

entscheiden sowie durch die verschiedenen Formen der kooperativen Demokratie. Dies führt dazu, dass ihre Anliegen und Interessen nicht nur von der Verwaltungsspitze, sondern auch vom Rat und den lokalen Parteien stärker als vor den Modernisierungsmaßnahmen berücksichtigt werden (Abb. 3). Inwiefern sich diese prinzipiell größeren Einflusschancen in der Praxis bisher zugunsten der Bürger auswirken, ist durchaus kritisch einzuschätzen. Zu beobachten ist allerdings, dass sich die lokalen Parteien und die Verwaltungsspitze stärker als vor einigen Jahren in die Prozesse kommunaler Sozialplanung einmischen. Sozialplanung, die nicht nur auf die Planung sozialer Infrastruktur orientiert ist, kann diese Modernisierungsentwicklungen strategisch nutzen.

3 Strategische Sozialplanung als Kontextsteuerung Kommunale Sozialplanung wird anknüpfend an die Ausführungen im vorhergehenden Kapitel im Folgenden nicht nur als ein Instrument zur Planung von (sozialer) Infrastruktur verstanden, sondern auch als ein Zugang zur Gestaltung sozialer Verhältnisse im umfassenden Sinne. Kommunale Sozialplanung kann und soll einen Diskurs über die sozialen Lebensverhältnisse vor Ort ermöglichen und damit erstens die Grundlage für die zukunftsfähige Gestaltung der sozialen Infrastruktur vor Ort bieten und zweitens den häufig immer noch recht autark geführten Diskurs über die Stadtentwicklung unter sozialen Vorzeichen ergänzen (Abschn. 3.3). Wichtig mit Blick auf das Policy-Making ist es, diese verschiedenen Zielsetzungen und die damit implizierten Ebenen von Sozial­ planung zu unterscheiden (Abschn. 3.2), wofür vorab eine definitorische Einordnung von Sozialplanung notwendig ist (Abschn. 3.1).

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3.1 Entwicklung und Definition von Sozialplanung In Deutschland können Aktivitäten der Sozialplanung, so Werner (2017, S. 20), seit etwa 50 Jahren beobachtet werden. Als Geburtsphase kommunaler Sozialplanung in Deutschland wird in der Regel die Zeit der 1960er-Jahre genannt. Konkret kann der 66. Deutsche Fürsorgetag im Jahre 1969 als der formale Beginn einer systematischen Beschäftigung mit diesem Instrument angesehen werden (Werner 2017, S. 20). Diese Entwicklung gipfelte in den 1970er-Jahren in einer Form von Planungseuphorie (vgl. Schone 2013), weil die mit der Sozialplanung verbundene Vorstellung der empirischen Erfassung der Lebenssituationen und Sozialstrukturen zunächst großes Veränderungspotenzial verhieß (vgl. hierzu und im Folgenden Hensen und Wunderlich 2017, S. 5 f. und 24 ff.). Es war vor allem der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. (DV), der durch seine damaligen und heutigen Aktivitäten rund um die Belange von Kommunen einen großen Teil dazu beigetragen hat, dass Sozialplanung in der kommunalen Steuerung als unverzichtbar angesehen werden kann. Zukünftige Veränderungen und kommunales Innovationspotenzial sollen nicht mehr dem Zufall überlassen bleiben. Wenn es um die Ausrichtung der Infrastruktur vor Ort sowie die Vorbereitung des poltisch-administrativen Systems auf gesellschaftliche Veränderungen geht, verhindert Sozialplanung sozialpolitischen Blindflug. Das vom Deutschen Verein 1986 veröffentlichte „Handbuch der örtlichen Sozialplanung“ war das erste Kompendium, das sich umfassend mit Sozialplanung befasst hat. Noch heute hat es seinen Platz im Fachdiskurs der Sozialplanung. Wegweisend, auch für diesen Beitrag, war die in diesem Kompendium neben der Infrastrukturplanung herausgearbeitete sozial-, kommunal- und gesellschaftspolitische Dimension von Sozialplanung (vgl. Abschn. 2.3). Bis heute wird das Thema Sozialplanung vom Deutschen Verein begleitet, beispielsweise mit der 2017 veröffentlichten Ausgabe des „Archivs für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit“ (Heft 1/2017). Auch die Gründung des Vereins für Sozialplanung e. V. (VSOP) im Jahre 1991 kann als Meilenstein in der Geschichte der Sozialplanung gesehen werden, die dadurch einen eigenen institutionellen Ort gefunden hatte. Der VSOP leistet seitdem einen wertvollen Beitrag zur Professionalisierung und Verbreitung von Sozialplanung in der kommunalen Praxis. Die meisten der aktuellen Definitionen von kommunaler Sozialplanung stellen sowohl auf managementgeleitete Steuerungsansprüche als auch auf fachliche Gestaltungserwartungen ab. Letztlich geht es bei allen begrifflichen Annäherungsversuchen stets darum, den komplexen Auftrag bzw. die an Sozialplanung gerichteten mehrdimensionalen Ansprüche (seitens der Verwaltung, der

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Politik, der Fachpolitik, der Leistungserbringer sozialstaatlicher Leistungen, der Bürgerschaft) möglichst komprimiert zusammenzufassen. Die unterschiedlichen Ansprüche spiegeln sich in den Zielen, Gegenständen und Zwecken von Sozialplanung. Möglicherweise kann die bisher nicht gelungene Etablierung einer übergreifenden Definition von Sozialplanung mit einer unscharfen bzw. unzureichenden Formulierung der Ziele von Sozialplanung begründet werden. Um dieses definitorische Defizit aufzuzeigen, werden im Folgenden einige Definitionen von Sozialplanung angeführt, vergleichend eingeordnet, in ihrer Entstehung nachgezeichnet und mögliche Ansatzpunkte für die heutige Diskussion aufgezeigt. Einführend werden zwei Definitionen des VSOP aus den Jahren 1991 und 2008 betrachtet, die von Brülle und Hock (2010, S. 80 f.) zur Illustrierung der aus ihrer Sicht existierenden Haltungen angeführt werden, wobei aus ihrer Sicht die erste Definition ein eher politisches und die zweite ein eher professionalisiertes Selbstverständnis von Sozialplanung zum Ausdruck bringt (Brülle und Hock 2010, S. 81). „Sozialplanung organisiert offene Planungsprozesse und sorgt für Beteiligung und Mitwirkung der Betroffenen in politischen und konzeptionellen Entscheidungsprozessen. Als Katalysator für lokale Entwicklungen ist Sozialplanung nah an der Lebenswelt der Betroffenen. Im gesellschaftlichen Rahmen ist Sozialplanung Inszenierung, Dramaturgie und Skandalisierung von Notlagen. Ihre Anwaltsfunktion zielt auf den Abbau sozialer Ungerechtigkeit und regionaler Disparitäten in der Infrastruktur. In dieser Form vertritt Sozialplanung die Sicht von unten und operiert bewusst parteiisch. Zudem liefert Sozialplanung einen Kompass im Kostenund Finanzierungsbereich, gibt Informationen, wo man finanziell steht und welchen Spielraum man hat“ (VSOP 1991, zitiert nach Brülle und Hock 2010). „Sozialplanung bewegt sich im Spannungsfeld Politik, Wissenschaft und Praxis, sie ist Sozialforschungs-, Planungs- und Koordinationstätigkeit zugleich. Sozialplanung ist das Instrument zur Ermittlung und differenzierten Beschreibung von Bedürfnissen und Lebenslagen von Betroffenen. Für modernes Organisationsmanagement bei der Neuorganisation sozialer Dienste und der Sozialverwaltung liefert Sozialplanung das Know-how“ (VSOP 2008, zitiert nach Brülle und Hock 2010).

Hinsichtlich der Ziele von Sozialplanung sind beide Definitionen eher auf die Entwicklung der sozialen Infrastruktur bzw. der sozialen Dienste gerichtet. Eine explizite Anbindung an stadtentwicklungsbezogene Prozesse fehlt in beiden Definitionen. Eine Definition, die diesen Aspekt berücksichtigt, ist im Handbuch „Moderne Sozialplanung“ zu finden:

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H. Wunderlich „Moderne Sozialplanung ist Steuerungsunterstützung. Sie analysiert die soziale Lage und Entwicklung im Sozialraum, in der Kommune und in ihrem Umfeld. Sie formuliert unter Beteiligung der Betroffenen und der ‚Stakeholder‘ Vorschläge für Ziele und Kennzahlen kommunaler Sozialpolitik. Sie entwickelt innovative Produkte und Prozesse mit Blick auf deren Wirkung und den Ressourceneinsatz. Sie unterstützt die Verwaltungsführung, andere Fachressorts und die Politik im Sinne einer integrativen Planung unter dem Dach von Stadt-/ Kreisentwicklungsplanung. Sie ist Grundlage einer ziel- und wirkungsorientierten Sozialpolitik sowie einer bedarfsgerechten sozialen Infrastruktur“ (MAIS NRW 2012, S. 38).

In dieser Definition wird explizit darauf verwiesen, dass es auch Aufgabe der Sozialplanung ist, die Verwaltungsführung, andere Fachressorts und die Politik im Sinne einer integrativen Planung unter dem Dach der Stadt- bzw. Kreisentwicklungsplanung zu unterstützen. Hinsichtlich der Zielsetzung weist diese Definition daher eine deutliche Nähe zu sozialer Kommunalpolitik und aktiver Gesellschaftspolitik auf. Korrespondierend zu diesen beiden unterschiedlich weit gefassten Definitionen bietet Ulrich eine engere und eine weitere Definition von Sozialplanung an: „Sozialplanung im engeren Sinn ist die gebiets- und zielgruppenbezogene Entwicklung sozialer Einrichtungen (Hilfsangebote) und Maßnahmen (Programme) im Hinblick auf sozial- und gesellschaftspolitische Zielvorstellungen. Zentraler Ansatzpunkt ist die planvolle Ausgestaltung des öffentlichen Sozialwesens; Träger sind vor allem Gebietskörperschaften (Staat, Kantone, Gemeindeverbände oder Gemeinden). Im weiteren Sinn kann Sozialplanung auch als sozial bewusste Planung in Wirtschaftspolitik, Bildungswesen, Stadtplanung usw. verstanden werden. Die soziale Situation einer Gesellschaft bemisst sich nicht nur am Sozialwesen und lässt sich somit nicht nur über dessen Ausgestaltung steuern. Dieser Begriff der Sozialplanung ist in der Praxis wenig verbreitet. Er ersetzt Sozialplanung im engeren Sinn nicht, ergänzt sie aber sinnvoll“ (Ulrich 2003, S. 300).

Es scheint also kein einheitliches Verständnis von Sozialplanung hinsichtlich ihrer Ziele zu geben. Entsprechend werden sowohl in der Literatur als auch in der Praxis unterschiedliche Ebenen angesprochen. Dittmann verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass sich die von Ulrich angesprochenen Hilfeangebote und Programme erstens „an fachspezifischen Zielen, beispielsweise Bedarfsdeckung an stationären Betten in der Pflege oder an Betreuungsplätzen für Kinder“ (Dittmann 2013, S. 158) orientieren müssen und zweitens „nach unterschiedlichen sozial- und gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen wie Inklusion, Eigenverantwortung der Adressaten und Adressatinnen, Gewährleistung eines

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soziokulturellen Existenzminimums oder Minderung von sozialer Ungleichheit“ (Dittmann 2013, S. 158) ausrichten müssen. Mit Blick auf sozial- und gesellschaftspolitische Zielsetzungen, so die hier vertretene These, sollte Sozialplanung die von Dittmann angesprochenen sozialund gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen nicht ausschließlich als übergeordnete und gegebene Rahmung von Sozialplanung verstehen, sondern explizit daran mitwirken, diesen Rahmen (mit) zu entwickeln bzw. ggf. zu verändern. Obwohl mit den Regelungen der Bundes- und Landesebene ein relativ klarer Rahmen für die Gestaltung kommunaler Entwicklungsprozesse vorgegeben ist und auch die finanzielle Situation der meisten Kommunen eher im Sinne einer Begrenzung wirkt, gilt es, Schwerpunkte durch die Kommunen bzw. die kommunale Gemeinschaft zu setzen. Wohin steuert die Stadtgesellschaft? Welche langfristigen Ziele setzt sich die Stadtgesellschaft? Welchen Stellenwert haben soziale Themen im kommunalpolitischen Diskurs? Letztendlich sind all diese Fragen auf der normativen und strategischen Ebene zu verorten und können somit als Aufgabe von Sozialplanung verstanden werden. Auswirkungen hätte ein solches Verständnis von Sozialplanung auch auf die Zwecke und die Ebenen kommunaler Sozialplanung. In einer Einführung in den Sozialplanungsbegriff beziehen sich Dittmann und Tappert (2014, S. 3 f.) auf Nimmermann, der bereits im Jahr 1971 sieben unterschiedliche Sozialplanungsverständnisse differenziert hat. Er unterscheidet unter anderem Sozialplanung als „Versuch der systematischen Erfassung der Bedürfnisse von Bevölkerungsteilen“, Sozialplanung als „Koordination aller Massnahmen auf staatlicher und nationaler Ebene zur Verbesserung der Lebensbedingungen von unterprivilegierten Gruppen”, Sozialplanung als „sozial sensibilisierte Stadt- und Raumplanung“ und Sozialplanung als „umfassende Planung […], d. h. als Integration von Bau-, Wirtschafts-, Verkehrs-, Bildungs-, Gesundheits- und Arbeitsmarktplanung” (Nimmermann 1971, S. 87, zitiert nach Dittmann und Tappert 2014, S. 4). Korrespondierend mit dieser Differenzierung wird im nächsten Kapitel ein Vorschlag zur Unterscheidung von drei Ebenen der Sozialplanung gemacht.

3.2 Ziele und Ebenen von Sozialplanung Im Folgenden wird, Bezug nehmend auf das Handbuch der örtlichen Sozialplanung von 1986, ein Vorschlag zur Differenzierung von drei (idealtypischen und damit vereinfachenden!) Planungsebenen gemacht, die aus Perspektive der Sozialplanung relevant sind (Abb. 4). Es wird unterschieden zwischen der

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H. Wunderlich

Abb. 4   Ebenen von Sozialplanung. (Quelle: eigene Darstellung)

• handlungsfeldorientierten Sozialplanung (HoS), die im Wesentlichen dem Verständnis sozialer Infrastrukturpolitik im Rahmen der einzelnen Fachpolitiken folgt, der • strategisch-integrativen Sozialplanung (SiS), die den Logiken der kommunalen Sozialpolitik und der sozialen Kommunalpolitik folgt und dabei erstens als integrative Klammer der einzelnen handlungsfeldorientierten Sozialplanungszugänge verstanden werden kann und die zweitens das Scharnier darstellt zur • integrativen kommunalen Planung (IKP), die sich auf die Stadtentwicklung bezieht und damit der Idee aktiver Gesellschaftspolitik folgt.3

3Der

Begriff „soziale Stadtentwicklung“ wird im Folgenden vermieden und stattdessen die Bezeichnung „Integrative kommunale Planung (IKP)“ genutzt. Damit soll unterstrichen werden, dass soziale Aspekte mit demselben Stellenwert bei der Stadtentwicklung zu beachten sind wie die anderen mit dem magischen Fünfeck angesprochenen Aspekte. Soziale Aspekte sollten in kommunalen Entwicklungsprozessen ihren obligatorischen Platz haben, weshalb hier von einer Nennung des Zusatzes „sozial“ in Zusammenhang mit „Stadtentwicklung“ abgesehen und stattdessen von integrativer kommunaler Planung gesprochen wird.

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Zwar muss auch die handlungsfeldorientierte Sozialplanung, bezogen auf das jeweilige Handlungsfeld, strategisch ausgerichtet und integrativ angelegt sein, allerdings bezieht sich eine so verstandene Sozialplanung primär auf die Entwicklung der sozialen Infrastruktur bzw. des Unterstützungssystems in den einzelnen Handlungsfeldern wie der Jugendhilfeplanung, der Gesundheitsplanung etc. Eine strategisch-integrative Sozialplanung hingegen, so das Verständnis im vorliegenden Beitrag, bezieht die einzelnen handlungsfeldorientierten Fachplanungsprozesse aufeinander. Dies ist von Bedeutung, da viele Themen in der Sozialplanung Querschnittsthemen sind und mehrere Politikfelder berühren. Eine die einzelnen handlungsfeldorientierten Planungen koordinierende Planungsinstanz scheint daher dringend notwendig. Zudem kann eine strategisch-integrative Sozialplanung (im Sinne einer intermediären Instanz) soziale Themen und Interessen im Kontext einer übergreifenden integrativen kommunalen Planung vertreten. Exkurs: Warum wird in diesem Beitrag von „integrativer“ statt von „integrierter“ Sozialplanung gesprochen? Der lateinische Begriff „integratio“ bedeutet übersetzt „Wiederherstellung eines Ganzen“. Die Bezeichnung „integrierte Sozialplanung“ könnte damit ein Ergebnis suggerieren, das durch die sozialplanerischen Aktivitäten zwar angestrebt, aber nicht zwangsläufig realisiert wird. Mit Blick auf die funktional differenzierte Organisation von Verwaltungen und die üblicherweise entlang von Verantwortlichkeiten organisierten Planungszuständigkeiten kann in der Praxis allerdings nur selten von einem „Ganzen“ im Sinne „integrierter Sozialplanung als Ergebnis“ gesprochen werden. Worauf es vielmehr ankommt – so die Perspektive in diesem Beitrag –, ist es, integrativ, also „gemäßigt; auf Ausgleich bedacht, kompromissbereit, maßvoll, nicht extrem, nicht radikal“ (Duden) darauf hinzuwirken, dass in der Verwaltung, der Politik und der Bürgerschaft ein Bewusstsein für die verschiedenen Perspektiven erreicht wird, die dahinterliegenden Logiken akzeptiert werden und der größte gemeinsame sozialpolitische Nenner gesucht wird (Sozialplanung als Prozess). Strategisch-integrative Sozialplanung wird damit als handlungsfeld-übergreifende Sozialplanung verstanden und stellt die Notwendigkeit der einzelnen handlungsfeld-orientierten Planungen überhaupt nicht infrage. Die Notwendigkeit einer differenzierten Planung in den einzelnen Fachabteilungen könnte eine einzige Planungsinstanz schon allein aufgrund der Vielzahl und Vielfalt der unterschiedlichen Themen nicht gewährleisten. Für eine sich an den Bürgerinnen und Bürgern orientierende Sozialpolitik bleiben die einzelnen handlungsfeld-orientierten Sozialplanungen unerlässlich. Vielmehr hat die strategisch-integrative Sozialplanung die Aufgabe, die Potenziale der einzelnen Fachplanungen durch die Einbindung in übergreifende Planungsstränge (insb. durch das Aufzeigen von Zusammenhängen und Abhängigkeiten) zu stärken!

Ohne Zweifel handelt es sich bei der integrativen kommunalen Planung um ­diejenige Ebene, die auf der kommunalen Ebene bisher nur in Ansätzen strukturell verankert ist. Aus der Sicht des Autors wird ein solches integratives Planungsverständnis in Zukunft jedoch an Bedeutung zunehmen (müssen), denn

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die kommunale Ebene wird in Zeiten der Globalisierung aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger und damit auch aus der Perspektive einer auf gute Lebensbedingungen hinwirkenden Stadtpolitik und Sozialplanung an Bedeutung gewinnen (Stichwort „Glokalisierung“). Strategisch-integrative Sozialplanung erfüllt in diesem Verständnis erstens die Funktion, die einzelnen handlungsfeldorientierten Sozialplanungsprozesse zusammenhängend zu betrachten und Wechselwirkungen aufzuzeigen und zweitens im Sinne einer Schnittstelle zur übergeordneten integrativen kommunalen Planung zu wirken. Die Voraussetzung dafür ist ein Verständnis von Sozialplanung, das der diesen Herausforderungen immanenten Komplexität gerecht wird. Sozialplanung mit Blick auf übergreifende kommunale Planungsprozesse bezieht sich auf andere (politische) Arenen und andere Akteure (mit ihren jeweiligen Handlungslogiken) als eine Sozialplanung mit dem alleinigen Fokus auf Infrastrukturentwicklung innerhalb begrenzter Zuständigkeiten. Ausgehend von diesen Gedanken wird in Abschn. 3.3 ein Verständnis von strategischer Sozialplanung als „Kontextsteuerung“ entwickelt.

3.3 Strategisch-integrative Sozialplanung als Kontextsteuerung Strategische Sozialplanung, so ist bis hierhin deutlich geworden, ist ein komplexes Feld. Je nach Größe der Stadt, des Kreises oder der Gemeinde (wobei hier nicht nur an die Anzahl der Einwohner, sondern auch an die Flächenausdehnung zu denken ist), gibt es unterschiedlich viele, jedoch immer mehrere Zuständigkeiten mit einer eigenen (handlungsfeldorientierten) Planungsaktivität. Es gibt beispielsweise die Jugendhilfeplanung, die Gesundheitsplanung und die Schulentwicklungsplanung. Um die einzelnen Fachabteilungen gruppieren sich außerdem die örtlichen Akteure, die es in den jeweiligen Handlungsfeldern ebenfalls einzubinden gilt. Für die handlungsfeldorientierte Sozialplanung resultiert daraus ebenso wie für die im Weiteren im Fokus stehende strategischintegrative Sozialplanung die Aufgabe, den jeweiligen Herausforderungen mit den richtigen Methoden zu begegnen. Stärker noch als bei der handlungsfeldorientierten Sozialplanung, bei der der Fokus auf der Entwicklung sozialer Infrastruktur liegt, muss die strategisch-integrative Planung erstens die örtlichen (nicht-kommunalen) Akteure in den Blick nehmen, die für die kommunale Entwicklung jedoch ebenso relevant sind (beispielsweise Vereine, Verbände, Wohnungsbaugesellschaften etc.), zweitens die Logik der mit dem magischen Fünfeck angesprochenen Akteure antizipieren und sich darauf einlassen k­ önnen

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(also beispielsweise die Logik der Wirtschaftsförderung) und drittens interkommunale Bezüge im Blick behalten, die im Zuge einer immer komplexer und dynamischer werdenden Gesellschaft an Bedeutung gewinnen. Der (gestiegenen) Komplexität und Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen kann entweder mit der Verfeinerung oder mit der Flexibilisierung von (Sozial-)Planungsprozessen begegnet werden. Bezogen auf die handlungsfeldorientierten Sozialplanungsprozesse kann dabei eine Verfeinerung durchaus berechtigt sein, insb. mit Blick auf die Evaluationsfunktion von Sozialplanung und die Verknüpfung mit verwaltungsinternen Controllingprozessen. Auf der strategischen Ebene könnte allerdings sowohl bei Betrachtung der integrativen Funktion nach innen als auch nach außen ein Verständnis von Sozialplanung als „Kontextsteuerung“ zielführender zu sein. Grundsätzlich wird damit der Perspektive von Heinz gefolgt, dass “mit steigender Komplexität und Dynamik eines (Problem-)Zusammenhangs […] auch die Komplexität und Flexibilität der Managementverfahren zunehmen“ müssen (Heinz 2000, S. 71). Die Komplexität und Dynamik kommunaler (­Problem-)Zusammenhänge ist dabei abhängig von der Größe der Kommunen und insbesondere vom konkreten Handlungsfeld. Das Handlungsfeld Sozialpolitik/-planung, so muss aus den oben skizzierten Herausforderungen abgeleitet werden, zeichnet sich durch eine hohe Komplexität und eine hohe Dynamik aus. Hinsichtlich des strategischen Umgangs mit komplexen und dynamischen (­ Politik-)Feldern verweist Heinz darauf, dass „steigender Unsicherheit und Komplexität nicht durch eine Verfeinerung der Planung, sondern durch ihre Erweiterung und Flexibilisierung“ (Heinz 2000, S. 73) begegnet werden sollte. Strategisches Management in komplexen und dynamischen Handlungsfeldern könnte daher als Kontextsteuerung verstanden werden. Kontextsteuerung definiert Heinz dabei wie folgt: „Politik und Führung haben hierbei nicht die Funktion, Globalziele vorzugeben und strategische Entscheidungen auf Vorschlag der Subsysteme selbst zu treffen, sondern Arrangements zu gestalten, in denen die relevanten Akteure im diskursiven Zusammenwirken die notwendigen Abstimmungen selbst treffen und ggf. Verände­ rungen in Eigeninitiative einleiten“ (Heinz 2000, S. 80, unter Verweis auf Naschold 1997, S. 309 ff.; Arnkill und Naschold 1998; Naschold et al. 1998, S. 28 ff.).

Werden unter den in der Definition angesprochenen Subsystemen sowohl kommunale als auch örtliche Akteure verstanden, so besteht eine große Nähe zu dem, was im Folgenden unter der Bezeichnung „Sozialplanung als Kontextsteuerung“ konkretisiert wird. Das zentrale Anliegen dabei stellt die Initiierung von Diskursen dar, womit zum einen das Ziel verfolgt wird, eine „strategisch abgestimmte“

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Planung innerhalb des sozialen Bereichs zu erreichen und zum anderen den sozialen Blick im Rahmen der integrativen kommunalen Planung zu schärfen. Das Ziel besteht also darin, Brücken zwischen den einzelnen Handlungsfeldern zu schlagen, um damit die Voraussetzungen für eine möglichst umfassende Nutzung aller sozialpolitischen Potenziale vor Ort zu ermöglichen und sozialpolitische Belange in der kommunalen Planung übergreifend zu vertreten. Mit Blick auf die strategische Ebene von Sozialplanung wird der (gestiegenen) Komplexität also nicht mit einer Verfeinerung der Planung auf immer differenziertere Planungsherausforderungen begegnet, sondern genau das Gegenteil wird angestrebt: Sozialplanung soll Leitplanken formulieren, die das Handeln der einzelnen Akteure (mit ihren jeweiligen Handlungslogiken) rahmen und in eine integrativ denkende und inhaltlich gemeinsam zu entwickelnde Richtung lenken soll. Die Aufgabe der Sozialplanung kann somit darin gesehen werden, relevante Akteure zu vernetzen (Sozialplanung als Netzwerkmanagement), Diskurse zu organisieren und dabei wechselseitige Abhängigkeiten aufzuzeigen und Vertrauen zwischen den Akteuren zu schaffen (Sozialplanung als Diskursmanagement), Wissen über die Bürgerinnen und Bürger vor Ort zu generieren und zur Verfügung zu stellen (Sozialplanung als Informationsmanagement) und konkrete Kooperationen zu organisieren (Sozialplanung als Kooperationsmanagement) (Abb. 5).4 Die Unterscheidung zwischen Netzwerk- und Kooperationsmanagement ergibt sich daraus, dass Netzwerke die Voraussetzung für Kooperation darstellen. Diese Unterscheidung zwischen Netzwerk und Kooperation wird in der Praxis häufig nicht gemacht. Mit Blick auf das Managen von Netzwerken und Kooperationen verweisen Duschek et al. darauf, dass es sich bei Netzwerken um eine „­Referenzebene“ handelt, die nicht direkt gemanagt werden kann (Duschek et al. 2005, S. 151). Vielmehr ist Netzwerkmanagement als „Adress- und Optionalitätsmanagement“ (Duschek et al. 2005, S. 152) zu verstehen. Ist ein solches Netzwerkmanagement erfolgreich, wirken Netzwerke „als systembildende, -verändernde und -überdauernde Strukturen. Das bedeutet, dass sie jederzeit vorhanden sind, aber nur als Latenz im Sinne potenzieller, das heißt jederzeit aktivierbarer Kontakte. Sie werden erst beobachtbar und auch handlungsleitend, wenn Personen in Form einer konkreten Kooperationshandlung darauf Bezug nehmen“ (Duschek et al. 2005, S. 147 f.).

4Vgl.

für die folgenden Ausführungen in diesem Kapitel Wunderlich (2014, S. 284 ff.). Dort hat der Autor für den Bereich kommunaler Familienpolitik ein Verständnis eines kommunalen Managements für Familien im Sinne von Kontextsteuerung und den dazugehörigen Managementanforderungen entwickelt. Dieses Verständnis wird im vorliegenden Kapitel auf den Bereich der kommunalen Sozialplanung übertragen.

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Diskurse bilden den Referenzrahmen für Kooperationen und schaffen Vertrauen!

Diskursmanagement Empirie als Entscheidungsgrundlage und Kommunikation als Entscheidungsträger (Maykus)

Kooperationsmanagement

Sozialplanung

Informationsmanagement

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Vernetzung als Voraussetzung für Kooperation

Netzwerkmanagement

Wissen über wechselseitige Abhängigkeiten als Basis für Vernetzung

Abb. 5   Strategische Sozialplanung als Kontextsteuerung. (Quelle: eigene Darstellung)

Für die Sozialplanung ist damit die erste Managementfunktion formuliert, das Managen von Adressen und Optionalitäten mit dem Ziel der Vernetzung. Gelingt die Vernetzung der für Sozialpolitik vor Ort relevanten kommunalen und örtlichen Akteure, so ist die Voraussetzung für konkrete Kooperationsbeziehungen gegeben. Kooperationen zeichnen sich im Gegensatz zu Netzwerken dadurch aus, dass sie anhand von Ansprechpartnern, Kommunikationswegen und Verantwortlichkeiten klare Strukturen besitzen (Duschek et al. 2005, S. 148). Aufbauend auf das Netzwerkmanagement ist es im Rahmen des Kooperationsmanagements dann die Aufgabe der Sozialplanung, konkrete Kooperationen zu initiieren, zu gestalten und aufrechtzuerhalten. Wobei hier nicht zwingend eine zeitliche Reihenfolge vorliegen muss, sondern es sich auch um parallele ­Aktivitäten handeln kann. Als dritte wichtige Aufgabe von Sozialplanung wird hier das Informationsmanagement betrachtet. Die Zielsetzung des Informationsmanagements ist es, sozialpolitisch relevantes Wissen verfügbar zu machen. Dies beinhaltet erstens Wissen über die Bürgerschaft, Problemlagen und Potenziale vor Ort und zweitens Handlungs- bzw. Problemlösungswissen. Informationsmanagement hat dementsprechend das Ziel, „den Entscheidern alle nötigen Informationen über einen Sachverhalt, eine Problemlage oder einen möglichen Lösungsweg zur Verfügung zu stellen“ (Stock und Stock 2005, S. 173). Eine gute ­Informiertheit

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über Problemlagen ist besonders wichtig, denn nur anhand der Information über die konkreten Problemlagen vor Ort ist eine wirkungsorientierte und nachhaltige Ausrichtung der lokalen sozialpolitischen Aktivitäten möglich. Um auf die sich aus diesem Wissen ergebenden Herausforderungen reagieren zu können, bedarf es darüber hinaus des Handlungs- und Problemlösungswissens sowie entsprechender Kompetenzen. Hierzu gehören neben konkreten sozialpolitischen sowie sozialarbeitsrelevanten Kenntnissen beispielsweise auch solche Fähigkeiten, die für das oben angeführte Netzwerk- und Kooperationsmanagement notwendig sind. Beides, das Wissen über die Bürgerinnen und Bürger vor Ort als auch Problemlösungswissen/-kompetenzen, ist zudem nicht nur für die in der Verwaltung für Sozialpolitik zuständige Stelle wichtig, sondern für alle im lokalen Kontext mit sozialen Belangen befassten Akteure. Entsprechend ist Informationsmanagement als eine quer zum Netzwerk- und Kooperationsmanagement liegende Dimension zu verstehen. In einem engen Zusammenhang zum Informationsmanagement steht das Diskursmanagement. Maykus bezeichnet in diesem Kontext Empirie (hier: Information) als Entscheidungsgrundlage und Kommunikation (hier: Interaktion) als Entscheidungsträger (Maykus 2006, S. 51, vgl. auch Jann 2009, S. 481, unter Verweis auf Wildavsky 1979). Güntner (2007) verweist in diesem Zusammenhang auf folgende von Schmidt (2002) herausgearbeitete Funktionen: Diskurse haben demnach „eine kommunikative Funktion, indem Politik dargestellt und erläutert wird; eine normative Funktion, indem sie die Notwendigkeit einer Politik veranschaulichen, und eine kognitive Funktion, wenn sie zeigen, dass die politische Reaktion dem Problem angemessen ist. Schließlich erfüllen Diskurse noch eine koordinierende Funktion, indem sie eine gemeinsame Sprache und einen Rahmen für die Entwicklung einer Programmatik bereitstellen (vgl. Schmidt 2002, S. 210)“ (Güntner 2007, S. 40). Im Rahmen der Sozialplanung liegt der Fokus auf der Koordinationsfunktion von Diskursen. Angesprochen sind dabei sowohl die kommunalen und örtlichen sozialpolitischen Akteure als auch die Bürgerinnen und Bürger. Mit Blick auf die örtlichen Akteure verweist Güntner (2007, S. 39) darauf, dass Diskurse durch ihre regulative, normative und kognitive Dimension einen Rahmen für die politikfeldbezogene Diskussion herstellen. Diese wiederum kann als Voraussetzung für „politisches Lernen“ und „politische Veränderung“ betrachtet werden. Strategische Sozialplanung als Kontextsteuerung erfolgt beim Diskursmanagement also über die Herstellung eines Referenzrahmens und die Steuerung der innerhalb dieses Rahmens stattfindenden Diskurse. Neben den örtlichen Akteuren gilt es auch die Bürgerschaft in die Diskurse einzubinden. Hier verweist Offe (2008) darauf, dass „staatliche Politik nicht nur durch Governance im Sinne informeller,

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v­oluntaristischer und netzförmiger Verhandlungs- und Regelungssysteme zwischen sozialen Verbänden [agiert], sondern (wohl zunehmend) auch dadurch, dass sie die kognitiven und moralischen Kräfte der Bürger zu aktivieren versucht und diese als Ressource politischer Steuerung in Anspruch nimmt“ (Offe 2008, S. 75). Seiner Meinung nach sind „Diskurse, Deliberation, Öffentlichkeit und politische Kultur, die den Erfolg von Politiken maßgeblich mitbestimmen“ (Offe 2008, S. 73) im Kontext sozialpolitischer Themen wichtig.5 Hier ist der Staat (bzw. die Kommune), „auf die gelingende Aktivierung von Wissen und moralischen Ressourcen der Bürger durch Signale angewiesen“ (Offe 2008, S. 74). Offe (2008, S. 73 f.) führt weiter aus, dass der Bürger nicht nur auf Recht, Prämien und Anreize reagiert, sondern auch auf weiche Formen politischer Kommunikation (hierzu zählt er u. a. Empfehlungen, Programme mit dem Zweck der Bewusstseinsbildung, Vorbilder, Ermutigungen, Appelle an kluges und verantwortliches Handeln, moralische Kampagnen). Es liegt auf der Hand, dass Diskurse insbesondere für eine gesellschaftspolitische Sozialpolitik (wie sie oben skizziert wurde) von großer Bedeutung sind. Mit Blick auf das Policy-Making kann mit einem Informations- und Diskursmanagement also die Vorrausetzung dafür geschaffen werden, dass die relevanten Akteure „ins Gespräch miteinander kommen“. Deutlich hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass für (politische) Entscheidungsprozesse in (wie auch immer typisierten) Netzwerken nicht nur inhaltliche Aspekte eine Rolle spielen. Zwar sind so genannte „advocacy coalitions“ (Sabatier 1993), also „Koalitionen aus Überzeugungstätern quer durch die Institutionen außerordentlich wichtig“ (Jänicke et al. 2000, S. 66), mindestens ebenso wichtig sind jedoch Macht-Aspekte (vgl. Bogumil 2001). Insbesondere für (geschlossene) Policy-Netzwerke „zeigt sich, dass Entscheidungsprozesse sich eher als Verhandlungsprozesse […] darstellen und das Ergebnis durch die Interessenskonstellationen und Einflussverteilungen zwischen den unterschiedlichen Akteuren bestimmt wird als durch rationale Alternativenauswahl“ (Jann und ­Wegrich 2009, S. 91). Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass inhaltliche Argumente an Gewicht gewinnen, ist die Herstellung von Öffentlichkeit. Diskurse, die öffentlich geführt werden, erfahren durch Öffentlichkeit eine wichtige Kontrolle. Je öffentlicher

5Offe

(2008, S. 74) verweist in diesem Zusammenhang auf folgende Themen: Verhältnisse zwischen Generationen, Geschlechtern und Einheimischen vs. Migranten, gesundheitsbewusstes Verhalten, gesundheitliche Prävention, Verteilung der Lebenszeit auf Qualifikation, Erwerbsleben und Familienarbeit.

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Diskurse (Diskursmanagement) und die diesen Diskursen zugrunde liegenden Informationen sind (Informationsmanagement), desto besser müssen interessensgeleitete Positionen begründet werden. Öffentlichkeit erzeugt somit einerseits Handlungs- und Entscheidungsdruck und zwingt die Diskursbeteiligten andererseits zur Begründung von Positionierungen. Eine diskursorientierte Sozialplanung kann somit das politische Agenda-Setting fundieren und erheblich beeinflussen. Ein wichtiges Instrument in diesem Zusammenhang ist das Instrument der ­Sozialberichterstattung.

4 Sozialberichterstattung und politisches AgendaSetting Im vorliegenden Kapitel wird der Frage nachgegangen, welche Potenziale eine kommunale Sozialberichterstattung mit Blick auf die Beeinflussung kommunaler (Sozial-) Politik und damit auf die soziale Entwicklung einer Kommune haben kann (Abschn. 4.3). Grundlegend dafür ist ein Überblick über die Aufgaben und Funktionen von Sozialberichterstattung (Abschn. 4.1) sowie ein Verständnis davon, wie und warum kommunale Politik sich mit welchen (sozialpolitischen) Themen befasst (Abschn. 4.2).

4.1 Sozialberichterstattung als Instrument der Sozialplanung Allgemein formuliert stellt Sozialberichterstattung für moderne Gesellschaften „einen zentralen Bestandteil des Systems der Bereitstellung gesellschaftlicher und gesellschaftspolitischer Informationen“ (Noll 1998, S. 634) dar. Als Teil der angewandten Sozialwissenschaft will Sozialberichterstattung „über gesellschaftliche Strukturen und Prozesse sowie über Voraussetzungen und Konsequenzen gesellschaftspolitischer Maßnahmen regelmäßig, rechtzeitig, systematisch und autonom […] informieren“ (Zapf 1977, S. 11). Entsprechend definieren Schmid-Urban et al. (1992, S. 14) kommunale Sozialberichterstattung als „systematische, kontinuierlich fortzuschreibende Erfassung eines Sets sozialer Strukturen und Problemindikatoren sowohl global als auch teilräumlich differenziert, bezogen auf eine bestimmte Gebietskörperschaft“ und fügen hinzu, dass sie dabei „durch die Dokumentation, Analyse und Vernetzung relevanter Daten Problemkonstellationen, Problementwicklungen global und teilräumlich aufzeigen und Zusammenhänge verdeutlichen“ (Schmid-Urban et al. 1992, S. 14) soll.

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Erste kommunale Sozialberichte sind in der durch Gestaltungsoptimismus geprägten Sozialpolitik ab Ende der 1960er-Jahre entstanden. Die auch auf kommunaler Ebene scheinbar gelöste soziale Frage wurde „zerlegt“. Neben ersten „umfassenden“ Sozialberichten entstanden – vergleichbar mit der Entwicklung auf Bundesebene – eine Reihe spezialisierter Berichte. Dazu gehören beispielsweise auch familienbezogene Sozialberichte, die sich mit der Lebenslage kinderreicher Familien in der Kommune auseinandersetzen (Deutscher Bundestag 1968, S. 73 ff.). Der eigentliche Ausgangspunkt indikatorengestützter Sozialberichterstattung auf kommunaler Ebene liegt jedoch in den eingeengten sozialpolitischen Handlungsspielräumen der 1980er-Jahre (Klatt 1990, S. 43). Zunehmende Belastungen der Kommunen durch Problemverschiebungen von Bund und Ländern – in erster Linie sind hier die Kommunalisierung der Folgen von Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen (Mehr)Ausgaben im Bereich der Sozialhilfe zu nennen – führten zu Erklärungs- und Rechtfertigungsbedarf seitens der Kommunen: Den Kommunen ging es „zumeist um den Nachweis, daß [!] die wachsenden Empfängerzahlen und Sozialhilfekosten überwiegend auf die Arbeitsmarktentwicklung und die Kürzungen in den Sozialhaushalten (insbesondere in der Arbeitslosenversicherung) zurückzuführen sind“ (Hanesch 1986, S. 59). Die vorwiegend verwaltungsintern erstellten kommunalen Sozialberichte dienten als Argumentationshilfe für die Bestrebungen der Kommunen und der kommunalen Spitzenverbände, die Lasten der Krise wieder an den Bund und die Sozialversicherung zurück zu wälzen (Hanesch 1986, S. 264) sowie als „lokales Korrektiv einer teilweise zum Schönfärberischen neigenden Berichterstattung in den Ländern und vor allem im Bund“ (Klatt 1990, S. 55). Darüber hinaus wurden sie als „Forum der Darlegung und Verarbeitung von Fakten und Zusammenhängen […] [betrachtet], mit deren Hilfe Ursachen-, Wirkungszusammenhänge und Folgen bestimmter Verwerfungen und Fehlentwicklungen aufgezeigt […] [und] im günstigsten Fall sogar Vorurteile – beispielsweise gegenüber Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern – abgebaut werden können“ (Klatt 1990, S. 55). Erst mit Beginn der 1990er-Jahre werden kommunale Sozialberichte zunehmend als Instrument kommunaler Planungs- und Gestaltungsprozesse wahrgenommen. Dies ist zum einen „Folge der wachsenden Anforderungen an die kommunale Sozialpolitik, zum anderen ist es das Resultat gesetzlicher Vorgaben, insbesondere im Bereich der Jugendhilfeplanung“ (Hanesch 1999, S. 54). Zwar verfolgen noch 1995 „rund drei Viertel der kommunalen Sozial- und Armutsberichte […] eine ‚Skandalisierung‘ der örtlichen Armutssituation als Zielrichtung der Öffentlichkeitsarbeit“ (Schubert 1995, S. 105), allerdings gewannen Planungs- und Evaluationsfunktionen – und damit implizit die Anerkennung von Sozialberichterstattung als Managementinstrument – zunehmend an Bedeutung.

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Verbunden mit dem Funktionswandel von Sozialberichterstattung ist in den 1990er-Jahren ein „Trend zur Professionalisierung“ (Bartelheimer 2001, S. 31) zu beobachten. Wurden in der Vergangenheit kommunale „Sozialplanung [und -berichterstattung] beim Großteil der Städte nebenher miterledigt durch Dezernenten und Amtsleiter, Abteilungsleiter oder auch einzelne Sachbearbeiter“ (Gernert 1998, S. 174), ist dies in den 1990er-Jahren zunehmend die Aufgabe verwaltungsinterner Sozialplaner oder verwaltungsexterner Experten geworden. Man kann festhalten, dass die (erste) „Publikationswelle“ (Hanesch 1986, S. 264) kommunaler Sozial- und Armutsberichte in den 1980er-Jahren eine „Reaktion auf steigende Fallzahlen bei den örtlichen Sozialhilfeträgern“ (­Bartelheimer 2001, S. 31) war und sich durch einen primär skandalisierenden Charakter auszeichnete. Mit steigender Akzeptanz von Sozialberichterstattung als Managementinstrument gewinnen in den 1990er-Jahren – über die Entlastungs- und Legitimationsfunktion hinaus – zunehmend auch die Planungs- und Evaluationsfunktionen an Bedeutung. Kommunale Sozialberichterstattung ist somit eine Reaktion der Städte und Kreise „auf die quantitativ und qualitativ veränderten Informationsanforderungen einer zeitgemäßen lokalen Politik“ (Noll und Schröder 1994, S. 39). Im Folgenden wird – korrespondierend mit dem Governance-Konzept – davon ausgegangen, dass Sozialberichterstattung dabei neben der Informationsfunktion auch eine Diskursfunktion erfüllt. Sozialberichte sind in dieser Lesart keine reinen Expertenberichte. Sie richten sich vielmehr an Politik, Verwaltung, die Akteure sozialer Arbeit, die Adressaten sozialer Hilfen sowie ganz allgemein an die Stadtöffentlichkeit. Sozialberichterstattung soll dabei „zu einer Aufklärung der gesamten interessierten Öffentlichkeit beitragen und zugleich entscheidungsrelevante Informationen für die Gesellschaftspolitik bereitstellen“ (Noll 1997, S. 7) und damit für alle angeführten Adressaten „Ansatzpunkte für politische Initiativen bieten“ (Schmid-Urban et al. 1992, S. 15). Sozialberichterstattung ist damit mehr als nur die Bereitstellung von Informationen für die Entwicklung sozialer Dienste und Angebote vor Ort (Sozialpolitik und Sozialplanung als Infrastrukturplanung), sondern sie kann, soll und muss (stärker als bisher) als Daten- und Diskurs-Grundlage einer integrativen kommunalen Planung verstanden werden, bei der „soziale“ Themen obligatorisch sind. Die Bereitstellung von Informationen erfüllt dabei je nach Adressaten unterschiedliche Funktionen. • Mit Blick auf Politik und Verwaltung kommt kommunaler Sozialberichterstattung die Aufgabe zu, „im Sinne eines Frühwarnsystems dazu bei[zu]tragen frühzeitig Tendenzen des Strukturwandels zu erkennen, soziale Probleme zu diagnosti-

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zieren und Problemgruppen zu identifizieren“ (Noll und Schröder 1994, S. 39), um darauf „angemessen und bedarfsgerecht“ (Noll 1998, S. 632) reagieren zu können (Planungsfunktion). Kommunale Sozialberichterstattung soll sowohl Informationen für politische Grundsatzentscheidungen als auch für laufende Verwaltungsentscheidungen bereitstellen. Darüber hinaus sollen „Kriterien für die Bewertung kommunaler Handlungsprogramme gewonnen werden, um die Wirkung bisheriger Politik- und Verwaltungsentscheidungen beurteilen und zieladäquatere Programme entwickeln zu können“ (Hanesch 1999, S. 51). Weiterhin kann die Berichterstattung der Politik bzw. der Verwaltung „als wirkungsvolles Instrument zur Absicherung der sozialpolitischen Etats“ bzw. in Verbindung mit Sozialplanung „zumindest als Mittel eines konsequenteren, problemgerechteren Mitteleinsatz“ (Hanesch 1999, S. 52, vgl. auch Schubert 1995, S. 105) dienen. • Den Akteuren der sozialen Arbeit soll Sozialberichterstattung „Orientierung und Hilfestellung bei der praktischen Arbeit geben“ (Schmid-Urban 1992, S. 14) und die „Bewertung der praktizierten (oder alternativer) Strategien“ (Hanesch 1990, S. 69) ermöglichen. • In Bezug auf die Adressaten sozialer Hilfen schreibt Schütte (vgl. 1998, S. 102) Sozialberichten eine entlastende Funktion zu: Finden die Betroffenen ihr „Schicksal“ als Teil einer regionalen, vielleicht gar nationalen oder supranationalen Entwicklung interpretiert, können dadurch handlungsblockierende Versagensängste gemindert werden. Weiterhin würden Schuldzuschreibungen unplausibel, „wenn gesellschaftliche Mechanismen der Chancenverteilung zur Sprache gebracht werden“ (Schütte 1998, S. 102). • Die Stadtöffentlichkeit soll in einen Gesprächszusammenhang über lokale Politik eingebunden werden (vgl. Schütte 1998, S. 101), zum „Nachdenken über Aufbau, Arbeitsweise und Ziele des kommunalen Sozialstaats einladen und dessen verschiedenen Akteuren helfen, sich ihrer besonderen Lage bewußt [!] zu werden, sich gemeinsame Ziele zu setzen und sich als Teil des stadtpolitischen Ganzen zu verstehen“ (Bartelheimer 1996, S. 11). Neben der Bereitstellung von planungs- und entscheidungsrelevanten Informationen für Politik und Verwaltung, darauf verweisen die zuletzt angeführten Adressatengruppen, richtet sich Sozialberichterstattung somit auch an die Stadtgesellschaft als Ganzes. Sozialberichte sollen die Stadtgesellschaft informieren und stadtgesellschaftliche Diskurse ermöglichen. Sozialberichterstattung, so lautet die hier eingenommene Perspektive, kann und sollte einen gesellschaftlichen Diskurs mit der Zielsetzung politischer Prioritäten ermöglichen. Dabei ist es wichtig zu akzeptieren, dass eine entsprechende Sozialberichterstattung anders gestaltet werden muss als eine (ausschließlich) auf die Planung sozialer Infrastruktur

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gerichtete Sozialberichterstattung. Bevor eine entsprechende Perspektive in Abschn. 4.3 entwickelt wird, gilt es sich zu vergegenwärtigen, wie üblicherweise welche (soziale) Themen auf die politische Agenda gelangen (Abschn. 4.2).

4.2 Wie und warum beschäftigt sich kommunale Politik mit welchen Themen? Eine Bedingung dafür, dass ein soziales Problem bearbeitet wird bzw. auf die Agenda kommt, ist die Definition und Artikulation dieses Problems (Jann und Wegrich 2009, S. 85). Schneider und Janning (2006, S. 51) führen hierzu an, dass die Abweichung eines Ist-Zustandes von einer sozialen Norm, einem Erwartungsniveau oder einer technischen Notwendigkeit erst dann zum sozialen Problem wird, wenn sie sich auf die Lebenschancen von Menschen auswirkt, von diesen wahrgenommen und als Problem definiert wird. Eine zweite Voraussetzung dafür, dass ein Problem Handlungsdruck erzeugt, ist die gesellschaftliche Akzeptanz dieses Problems. Kingdon (1995, S. 197 ff.) spricht bezogen auf den durch soziale Probleme entstehenden Handlungsdruck von einem „problem stream“. Neben dem Problem Stream führt Kingdon (1995, S. 197 ff.) zwei weitere Einflussfaktoren an, die mit Blick auf das Agenda-Setting von Bedeutung sind. Einen bezeichnet er als „policy stream“ und den anderen als „political stream“ (Abb. 6). Mit dem „policy stream“ werden prinzipiell zur Verfügung stehende Lösungsmöglichkeiten beschrieben. Diese Lösungsmöglichkeiten entstehen häufig ohne akuten Problembezug bzw. ohne konkreten (politischen) Auftrag, beispielsweise im Kontext wissenschaftlicher Diskussionen, strategischer Planungsaktivitäten etc. und können bei Bedarf „aus der Schublade geholt werden“.

Abb. 6   Agenda-Setting und „Windows of Opportunity“. (Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Kingdon 1995, S. 197 ff.)

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Mit dem „political stream“ beschreibt Kingdon das Interesse von Politikern an einem Problem. Dieses definiert sich über die Problemstruktur, wobei nach Schneider und Janning (2006, S. 56) folgende sechs Dimensionen eine Rolle spielen: 1) „Konkretheit und Klarheit (Eindeutigkeit vs. Mehrdeutigkeit), 2) gesellschaftliche Relevanz (starke vs. marginale soziale Betroffenheit), 3) temporale Relevanz (absolut dringend vs. verschiebbar), 4) Komplexität (einfach vs. komplex), 5) Novität (Routineangelegenheit vs. Novum) und 6) Wertgeladenheit (große vs. geringe symbolische Bedeutung)“. Eindeutige, dringende Routineangelegenheiten mit großer gesellschaftlicher Relevanz stoßen aufgrund ihrer „günstigeren“ Problemstruktur bei den Politikern eher auf Interesse als mehrdeutige, komplexe und verschiebbare Probleme. Mit Blick auf sozialpolitische Themen kann tendenziell von einer eher ungünstigen Problemstruktur ausgegangen werden, da sozialpolitische Probleme häufig mehrdeutig und komplex sind und in der Regel keine Routineangelegenheit darstellen. Allerdings, und das weist wiederum in Richtung einer günstigen Problemstruktur, besitzen sie häufig eine große symbolische Bedeutung. Grundsätzlich ist jedoch davon auszugehen, dass aus der Perspektive von Politikern soziale Themen eher unattraktiv sind. Das zufällige Zusammentreffen der drei beschriebenen Ströme öffnet Politikfenster (Windows of Opportunity) für politische Entscheidungen (Kingdon 1995, S. 197 ff.). Das Agenda-Setting wird damit als in einem hohen Maße situativ begründet beschrieben. Jann und Wegrich (2009, S. 89, unter Verweis auf Page 2006) verweisen in diesem Kontext darauf, dass das Modell mit Blick auf die besonders pluralistischen politischen Strukturen der USA entwickelt wurde und für Europa von einem stärker durch die Regierung und die Regierungsparteien geprägten Agenda-Setting ausgegangen werden kann. Trotzdem lässt sich auch hier ein grundlegendes Kennzeichen des Agenda-Setting in Deutschland ableiten: Nicht jedes Problem mit (hohem) Handlungsdruck und einer günstigen Problemstruktur gelangt auf die politische Agenda und nicht jedes Problem, mit dem sich Politik befasst, hat einen hohen Handlungsdruck und eine günstige Problemstruktur. Sozialberichterstattung kann (und sollte!) dafür sorgen, dass ­ auch Probleme mit einer ungünstigen Problemstruktur sichtbar, diskutiert und politisch verhandelbar werden.

4.3 Potenziale von Sozialberichterstattung für das politische Agenda-Setting Allgemein wird „die politische Gestalt- und Steuerbarkeit gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse heute weniger optimistisch beurteil[t] […] als in der

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­ ntstehungsphase der Sozialindikatorenbewegung“ (Noll und Schröder 1994, E S. 5). Die Funktion von Sozialberichterstattung „wird daher auch nicht [mehr] so sehr in der unmittelbaren Anleitung und Wirksamkeitskontrolle von politischen Entscheidungen gesehen, sondern in der breiten gesellschaftlichen Aufklärung und Bereitstellung von Informationen, die die Politik eher indirekt unterstützt“ (Noll und Schröder 1994, S. 8 f.). Brülle (1990, S. 214) formuliert in diesem Zusammenhang, dass „Abschied zu nehmen [ist] von dem Irrglauben der Steuerungslogik von Fachplänen, Richtwerten und aufwendigen Prioritätenskalen. Sozialberichterstattung wird vielmehr zu einer tragfähigen Grundlage für rationale öffentliche Diskurse und Entscheidungen über Wege und Ziele einer sozialen Kommunalpolitik“ (Brülle 1990, S. 214). Diese veränderte Perspektive impliziert eine Sichtweise, die kommunale Sozialberichterstattung als „konzeptionelle Weiterentwicklung einer bisher häufig schon vorhandenen kommunalen Sozialstatistik und -dokumentation“ (Lukas 1998, S. 269) versteht. Kommunale Sozialberichterstattung, so Lukas (vgl. 1998, S. 276), soll durch die Auswahl, Dokumentation, Beschreibung, Analyse und Interpretation der Daten Problemlagen und Problemkonstellationen aufdecken und durch vergleichende Darstellungen von einzelnen Sozialräumen Hinweise und Grundlagen für planerische Entscheidungen liefern. Damit haben kommunale Sozialberichte einerseits die Aufgabe, möglichst frühzeitig Tendenzen des Strukturwandels zu erkennen und auf sich andeutende Defizite und Probleme hinzuweisen (vgl. Schmid-Urban et al. 1992, S. 15, Noll und Schröder 1994, S. 39) und erhalten für die örtliche Sozialplanung bei entsprechender qualifizierter und differenzierter Entwicklung den Charakter eines Frühwarnsystems (vgl. Schmid-Urban et al. 1992, S. 15). Andererseits sollen kommunale Sozialberichte kontinuierlich eine empirische Basis für die Entwicklung konkreter Maßnahmen bereitstellen, diese Daten analysieren und veröffentlichen. Darüber hinaus sollen sie Entwicklungs- und Handlungsperspektiven formulieren und Entscheidungsalternativen vorstellen sowie von ihrem Standpunkt aus Prioritätensetzungen vorbereiten. Ferner sollte es Aufgabe der Sozialberichterstattung sein, „rechtliche und organisatorische Entwicklungstrends sowie interessante Modelle und Lösungsmuster anderer Träger und Kommunen in den verschiedenen Fachbereichen darzustellen und zu bewerten“ (Brülle 1998, S. 99). Darüber hinaus betonen zahlreiche Autoren (vgl. beispielsweise Hanesch 1999, S. 56, Noll und Schröder 1994, S. 39), dass kommunale Sozialberichte – im Sinne einer Erfolgskontrolle – das Erreichen kommunalpolitischer Ziele beobachten und die Wirkung spezifischer Programme und Maßnahmen kontrollieren sollen. Dabei gilt es aber nicht nur zu überprüfen, „inwieweit es gelungen ist, die mit der Planung und Realisierung von

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­ aßnahmen und Angeboten intendierten Wirkungen zu erzielen“ (Hanesch 1999, M S. 56), sondern auch darum, nicht-intendierte Folgen durchgeführter und/oder unterlassener sozialpolitischer Maßnahmen zu überprüfen und zu bewerten. Damit erfüllt Sozialberichterstattung innerhalb der Sozialplanung folgende Funktionen: • „Sozialberichterstattung ist ein ‚politisch-strategisches Instrument zur Neustrukturierung, zur Bestimmung sowie zur konzeptionellen Fundierung von sozialen, pädagogischen und staatlichen Leistungen und Verteilungsmodellen‘ (konstruktive Funktion); • Sozialberichterstattung ermöglicht einen ‚Perspektivenwechsel von der individuellen prekären Lebenslage zu den Verursachungszusammenhängen, zu denen die sozialpolitischen Investitionen, Leistungen, Programme und Maßnahmen selbst mitgehören‘ (Karsten und Otto 1990, S. 14 f.) (reflexive ­Funktion); • Sozialberichterstattung beinhaltet eine Entkoppelung von Situationsanalyse und Situationsbewertung einerseits und einen rationalen gesellschaftlichen Diskurs über Voraussetzungen und Ziele sozialpolitischer Handlungsprogramme andererseits (diskursive Funktion)“ (Brülle 1998, S. 99 unter Verweis auf Brülle und Altschiller 1992). Brülle (1990, S. 212) verdeutlicht mit Blick auf die diskursive Funktion auch an anderer Stelle sehr anschaulich den Unterschied zwischen Sozialberichterstattung auf der einen und Maßnahmenplanung auf der anderen Seite (vgl. Abb. 7): „Sozialberichterstattung ist gebunden an die Deskription und Definition konkreter sozialer Tatbestände, sie ist damit Voraussetzung zur Entwicklung und Umsetzung konkreter politischer und administrativer Handlungsprogramme“ (Brülle 1990, S. 212). Erst im Anschluss an die Dokumentation und Diskussion der Ergebnisse, an deren Ende spezifische sozialpolitische strategische ­Richtungsentscheidungen der politisch und administrativ Verantwortlichen stehen sollten, schließt sich die Handlungsebene an, also die Entwicklung konkreter Maßnahmen (vgl. Brülle 1990, S. 212). Auch Lukas plädiert dafür, „den Gebrauchswert von Sozialberichten dadurch zu erhöhen, daß [!] sie ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Beschreibung und deskriptive Analyse richten, denn die Tätigkeit von Sozialplanern sei umso erfolgreicher, je eingeschränkter die Reichweite ihrer Analyse sei“ (Lukas 1998, S. 285). Eine derart konzipierte Sozialberichterstattung widerspricht allerdings den Anforderungen kommunaler Politik. Nach wie vor ist der Bestandsaufnahme des fachlichen Zirkels „Familien- und Kinderberichte“ im Rahmen des Modellprojekts

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Abb. 7   Entkoppelung von Bericht und Umsetzung. (Quelle: Wunderlich und Hensen 2010, nach Brülle (1990))

zur Umsetzung des Rahmenkonzepts „Familien- und Kinderfreundlichkeit in der Kommune“ zuzustimmen, die seinerzeit darin zusammengefasst wurde, dass „aus der herrschenden Umgehungsweise mit Berichten […] abgeleitet werden [kann], dass eine differenzierte Auseinandersetzung mit einem Bericht Grundsätzen der Politik widerspricht, die weder Aufwand, Störungen noch Kosten wünscht“ (IES 2000, S. 6). Hinzu kommt, dass langfristige Planungen (hier formuliert mit Blick auf Familien- und Kinderpolitik) oftmals parteipolitischen Richtungsänderungen – insbesondere durch Änderungen politischer Zusammensetzungen einer Kommune nach Wahlen – unterworfen sind (IES 2000, S. 6). Die Auftraggeber und Adressaten kommunaler Sozialberichte erwarten daher nicht nur Informationen, die indirekt in politisches Handeln einfließen können, sondern in erster Linie konkrete Maßnahmenvorschläge. Das von Brülle (1990, S. 213) propagierte „Denk-Moratorium“ zwischen sozialpolitischer Analyse (Sozialberichterstattung) und Maßnahmenplanung e­ ntfällt in diesem Fall. Das primäre Ziel dieser final ausgerichteten Sozialberichte ist das Handlungskonzept. Indem ihr aber „kurzfristige und situative politische Verwertungsinteressen zugemutet“ (Brülle 1990, S. 213) werden, gerät Sozialberichterstattung unter Druck: Versucht sie die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen, was aufgrund ihrer Konzeption gar nicht gelingen kann, enttäuscht sie zum einen diese Erwartungen (konkrete Maßnahmenvorschläge); zum anderen beraubt sie sich ihrer eigentlichen Stärke: der Beschreibung und Analyse der sozialstrukturellen und sozialökologischen Entwicklungen in der Kommune und deren vorbehaltlosen und von konkreten Ressourcenentscheidungen und Maßnahmenformulierungen unabhängigen Bewertung. Aus der Sicht des Autors ist dieses Spannungsfeld für den Kontext kommunaler Sozialberichterstattung zutreffender denn je.

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Hilfreich für die strategische Sozialplanung wäre es aus der Perspektive des Autors, kommunale Sozialberichterstattung als Instrument zur Beschreibung und Definition sozialer Tatbestände zu verstehen, auf deren Grundlage konkrete politische und administrative Handlungsprogramme entwickelt und umgesetzt werden können. Sozialberichte sollten sich daher auf die Erfassung der Lebenssituation und Lebenslage der Bürgerinnen und Bürger einer Kommune, die Bestandsaufnahme von Diensten und Leistungen und die Ermittlung der Bedürfnisse der Bevölkerung im Untersuchungsgebiet konzentrieren. Anhand dieser Komponenten sind Sozialberichte in der Lage, umfassend die Situation der Bürgerinnen und Bürger zu beschreiben, zu analysieren und zu bewerten, und sie können somit den am Sozialplanungsprozess beteiligten Akteuren als Diskussionsgrundlage für den Diskurs über sozialpolitische Grundpositionen und Richtungsentscheidungen ­dienen. Kommunale Sozialberichte können somit einerseits den kommunalen Sozialplanungsprozess vorbereiten (Bestandsaufnahme, Bedürfnisanalyse) und unterstützen (Handlungsperspektiven und Prioritätensetzung bezüglich aufzugreifender Defizite und Probleme) und andererseits intendierte und/oder nicht-intendierte Folgen durchgeführter und/oder unterlassener sozialpolitischer Maßnahmen aufzeigen (Evaluationsfunktion). Damit und durch das Aufzeigen von Handlungsperspektiven sowie der Vorbereitung von Prioritätensetzungen im weiteren Diskurs (Planungsfunktion) können kommunale Sozialberichte weitere entscheidungsrelevante Informationen für Politik und Verwaltung bereitstellen. Die konkrete Maßnahmenplanung und -durchführung allerdings kann nicht Aufgabe kommunaler Sozialberichterstattungsprozesse sein. Sozialberichte sollten vielmehr als „Instrument einer offensiven Öffentlichkeitsarbeit dazu genutzt werden, die in großen Teilen der Öffentlichkeit nach wie vor vorherrschende Verdrängung und Tabuisierung [von Problemen] zu durchbrechen und die Bereitschaft für solidarische Lösungs- und Bewältigungsformen zu fördern“ ­ (Hanesch 1990, S. 69 f.). Folgt man diesem Verständnis, so soll Sozialberichterstattung die Ist-Situation der Bürgerinnen und Bürger darstellen, Definitionen und Bewertungen festlegen und Entwicklungen beschreiben. Auf dieser Grundlage folgt dann eine Verständigung über die Befunde, Ziele und Konzeptionen im Rahmen eines öffentlichen Diskurses, der wiederum die Basis für die konkrete Planung und Umsetzung von Maßnahmen darstellt). Eine wichtige Voraussetzung für den Diskurs über Befunde des Sozialberichtes ist, dass der Bericht selbst ebenfalls in einem diskursiven Prozess entsteht. Verbunden damit ist die Vorstellung, dass es einerseits einen „Bericht als Produkt“ gibt und andererseits den Weg dahin, also die „Berichterstellung als Prozess“.

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Die Voraussetzung dafür, dass der Bericht als Grundlage für einen auf die Formulierung von Maßnahmen gerichteten öffentlichen Diskurs akzeptiert wird, setzt die frühzeitige Einbindung der Akteure voraus, die später mit dem Bericht arbeiten bzw. auf der Basis des Berichtes Konzepte und Maßnahmen entwickeln sollen. Idealerweise ist Berichterstattung so zu gestalten, dass bereits der Auftrag zur Berichterstattung durch eine Verständigung über Ziele, Methoden und Konzepte geprägt ist. Darüber hinaus sollten im Prozess der Berichterstellung örtliche Akteure und Bürgerinnen und Bürger als Informationsquellen (Befragungen, Interviews) eingebunden werden und mit ihnen bzw. den für das Policy-Making relevanten Akteuren Zwischenergebnisse und Interpretationen diskutiert werden. Wird Sozialberichterstattung als beteiligungsorientierter und diskursiver Prozess angelegt, so korrespondiert dieses Konzept von Berichterstattung in einem hohen Maß mit dem oben beschriebenen Ansatz von Kontextsteuerung. Sozialberichterstattung kann dann nicht nur planungs- und entscheidungsrelevantes Wissen bereitstellen (Informationsmanagement), sondern ist darüber hinaus die Grundlage für öffentlich geführte Diskurse (Diskursmanagement). Beides ist eine wichtige Voraussetzung für die Vernetzung und Kooperation der relevanten Akteure (Netzwerk- und Kooperationsmanagement). Im Idealfall kann eine diskurs- und beteiligungsorientierte Berichterstattung damit zur (Neu-)Strukturierung lokaler Sozialpolitik beitragen (vgl. Wunderlich 2003, 2007).

5 Fazit und Ableitungen für die Praxis Je komplexer und dynamischer unsere Gesellschaft wird, desto komplexer werden auch die politischen Prozesse auf kommunaler Ebene. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, soziale Themen sichtbar zu machen und soziale Aspekte auch bei allen nicht-sozialen Themen mitzudenken. Sozialplanung im Sinne einer strategisch-­ integrativen Sozialplanung, das ist die Intention des vorliegenden Beitrags, kann und muss in den Städten, Kreisen und Gemeinden eine wichtige Rolle spielen. Entgegen der häufig aufgestellten These, dass es in der kommunalen Sozialpolitik kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem gibt, wird hier eine andere These vertreten. Entlang politischer und administrativer Zuständigkeiten liegen in der Regel zwar zahlreiche Informationen über die Lebenssituation der Bürgerinnen und Bürger vor, allerdings handelt es sich dabei häufig um isolierte Wissensbestände und vergleichsweise selten um Zusammenhangswissen. Ein solches Zusammenhangswissen ist aufgrund des Querschnittscharakters sozialer Themen jedoch sehr wichtig, denn mit sozialpolitischen Themen sind zahlreiche kommunale und nicht-kommunale Akteure angesprochen.

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Die Voraussetzung für ein Zusammenwirken dieser Akteure ist die Verständigung über die Ist-Situation (Analyseebene), die Aushandlung von Zielen und Prioritäten (Zielebene) und die Definition von Wegen zur Zielerreichung (Umsetzungsebene). Der häufig angeführte Verweis auf Umsetzungsprobleme geht davon aus, dass die beiden ersten Voraussetzungen (Analyse- und Zielebene) erfüllt sind. Selbst in Kommunen mit einer guten, integrierten Wissensbasis ist die zweite Voraussetzung allerdings nicht zwangsläufig gegeben. Die Verständigung über Befunde und die (politische) Aushandlung sozialpolitischer Zielsetzungen (welche sich beispielsweise in Leitbildern manifestieren könnten) ist keine Selbstverständlichkeit auf der kommunalen Ebene. Für eine integrative und verlässliche Sozialpolitik ist die Erkenntnis, dass soziale Aspekte zukunftsrelevant sind und daher eine große Bedeutung haben müssen, unerlässlich. In den Kommunen muss es einen Überblick über die Lebenssituation der Bürgerinnen und Bürger vor Ort geben, die Politik und die Stadtgesellschaft müssen sich über die Ziele sozialpolitischer Bemühungen vor Ort verständigen und Politik und Verwaltung müssen zusammen mit den sozialpolitisch relevanten Akteuren vor Ort auf dieser Basis einen fachlichen und politischen Diskurs darüber führen, wie eine gute Sozialpolitik aussehen muss. Sozialplanung kann und muss hierbei eine wichtige Rolle spielen. Sie muss dabei – korrespondierend mit der Diskussion über Governance und Bürgerkommune – alle relevanten kommunalen und nicht-kommunalen Akteure in den Blick nehmen und ein partizipations- und diskursorientiertes Sozialplanungsverständnis entwickeln. Ein entsprechender Zugang für diese Aufgabe der Sozialplanung wurde mit der strategisch-integrativen Sozialplanung, verstanden als Kontextsteuerung, im vorliegenden Beitrag vorgestellt. Zwar gibt es eine Vielzahl von Kommunen, die eine strategisch-integrative Sozialplanung im oben skizzierten Sinne propagieren, in der Praxis liegt der Fokus von Sozialplanung jedoch häufig auf dem Bereich der handlungsfeldorientierten Sozialplanung. Dieser Unterschied zwischen Verlautbarung (talk) und Umsetzung (action) führt aus der Sicht des Autors zu großen Irritationen und enttäuschten Erwartungen in der Praxis. Beispielsweise wird gelegentlich anhand von Sozialberichten, die auf die Entwicklung von Infrastruktur orientiert sind, versucht, einen politischen Diskurs über stadtgesellschaftlich übergreifende Themen zu initiieren, was aufgrund des Charakters der Berichte schlicht und einfach nicht möglich ist. Nicht selten wird den politischen Akteuren in den Kommunen dann vorgeworfen, sich um Grundsatzentscheidungen „zu drücken“. Politische Diskussionen und Entscheidungen sind jedoch nur dann möglich, wenn diese Berichte dafür eine geeignete Grundlage darstellen. Entsprechend gilt es Verständigung darüber zu erzielen, wie eine

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adäquate Wissensbasis vor Ort aussehen und wie diese zustande kommen soll. Unter anderem erscheint es wichtig, diejenigen Akteure, die mit den Sozialberichten arbeiten sollen, bereits in den Prozess der Berichterstattung einzubinden. Die Informationsbeschaffung und -analyse muss der Größe und den Möglichkeiten der Kommune angemessen sein und kann von runden Tischen zur Eruierung von Bedarfen unter Beteiligung der Bürgerschaft bis hin zu umfassenden Berichtssystemen reichen. Ein leitender Grundgedanke sollte dabei sein, dass Sozialpolitik nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch mit ihnen gemacht wird! Der sich anschließende Diskurs sollte dann möglichst öffentlich geführt werden, denn Diskurse, die öffentlich geführt werden, erfahren durch die Öffentlichkeit eine wichtige Kontrolle. Je öffentlicher Diskurse geführt werden, desto besser müssen interessensgeleitete Positionen (auch) empirisch begründet werden. Wichtig, so lautet eine Schlussfolgerung dieses Beitrags, ist das Bewusstsein für die unterschiedlichen Ebenen von kommunaler (Sozial-)Planung: 1) handlungsfeld-orientierte Sozialplanung, 2) strategisch-integrative Sozialplanung und 3) integrative kommunale Planung. Nur durch ein Bewusstsein für diese Ebenen lassen sich damit verbundene unterschiedliche Zielsetzungen und Herausforderungen einordnen, die auch unterschiedliche methodische Zugänge implizieren. Während es bereits seit längerem einen (wenn aus Sicht des Autors auch nicht immer zielführenden) Diskurs über die integrative Perspektive von Sozialplanung innerhalb des sozialen Bereichs gibt, wird das Potenzial einer strategisch-integrativen Sozialplanung mit Blick auf die übergreifende kommunale Entwicklung aus Sicht des Autors bisher nur unzureichend ausgeschöpft. Indem sie diskursive Räume für Politik, Verwaltung und Bürgerschaft schafft, kann sie zu einer Arena nachhaltiger Stadtentwicklung bzw. sozialer Kommunalpolitik und aktiver Gesellschaftspolitik werden.

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Zur Schnittstelle von Sozialwirtschaft und Sozialplanung Herbert Schubert

Zusammenfassung

In dem Beitrag wird das aktuelle Verständnis der Sozialplanung skizziert, mit der die kommunale Sozialverwaltung in die Lage ist, soziale Entwicklungen sowie sich abzeichnende Problemlagen frühzeitig zu erkennen und mit angemessenen Planungen sozialwirtschaftlicher Dienstleistungen darauf zu reagieren. In einem Rückblick wird aufgezeigt, welche – mit Formen der kommunalen Steuerung korrespondierenden – Entwicklungsstufen die Sozialplanung in Deutschland durchlief. Vertieft wird ein zukunftsweisender Ansatz der Sozialplanung am Beispiel eines – mit der Methode „Design Thinking“ entworfenen – Prototyps der integrierten Sozialplanung veranschaulicht. In der Verallgemeinerung des Prototyps zum Modell der integrierten Sozialplanung spielen drei Faktoren eine Rolle: (I) der Stellenwert der Sozialplanung in der strategischen Aufstellung der Kommunalverwaltung; (II) die dezentrale Anschlussfähigkeit der Sozialplanung an die Stakeholder in den Sozialräumen bzw. Planungsräumen und (III) die Anbindung an den fachlichen Diskurs der Bezugssysteme.

H. Schubert ()  TH Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_6

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1 Was ist Sozialplanung? Im § 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) wurde formuliert, dass diejenigen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellt werden sollen, die zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit erforderlich sind. Diese Facette des Sozialstaatsprinzips erfordert eine Sozialplanung, damit diese Einrichtungen geschaffen werden können. Dass eine Sozialplanung auf der kommunalen und regionalen Ebene notwendig ist, wird nicht bestritten – allerdings wurde die Umsetzung nicht für alle sozialen Handlungsfelder gesetzlich differenziert dargestellt und zur Pflichtaufgabe erklärt. Lediglich bei der Jugendhilfeplanung verpflichtet der § 79 SGB VIII die Träger der Jugendhilfe zur Jugendhilfeplanung. Die Sozialplanungen in anderen fachlichen Feldern, die nicht in dieser Weise kodifiziert wurden, orientieren sich aber an den gesetzlich geforderten Planungsschritten der Jugendhilfeplanung, die sich aus § 80 Abs. 1 SGB VIII auf alle sozialen Planungen übertragen lassen: • Bestandserhebung, • Bedarfserhebung, • Maßnahmenplanung. Damit auf dieser Grundlage ein wirksames, aufeinander abgestimmtes Leistungsangebot gewährleistet werden kann (§ 80 Abs. 2 SGB VIII), sind die anerkannten Träger der freien Jugendhilfe an der Planung zu beteiligen (§ 80 Abs. 3 SGB VIII), und die Planungen sind mit anderen örtlichen und überörtlichen Planungen abzustimmen (§ 80 Abs. 4 SGB VIII). Die Merkmale der drei Planungsschritte, der Trägerbeteiligung und der Abstimmung mit anderen Fachplanungen gelten inzwischen sowohl in der strategischen Sozialplanung als auch in der operativen Fachplanung als Standard. Dadurch wird die kommunale Sozialverwaltung in die Lage versetzt, soziale Entwicklungen sowie sich abzeichnende Problemlagen frühzeitig zu erkennen und mit angemessenen Planungen sozialwirtschaftlicher Dienstleistungen darauf zu reagieren. Die fachliche und inhaltliche Information der verantwortlichen Akteure sowohl in der Kommunalpolitik als auch in den zuständigen Verwaltungseinheiten stellt eine wesentliche Voraussetzung für die Vorbereitung der notwendigen Entscheidungen kommunaler Sozialpolitik dar. Das aktuelle Sozialplanungsverständnis wurde pointiert im „Handbuch Moderne Sozialplanung“ des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales des Landes

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Nordrhein-Westfalen formuliert (vgl. Abb. 1): „Die Verwaltungsführung bedient sich der Sozialplanung in einem strategischen Steuerungsprozess. Sie stellt die notwendigen Ressourcen für die Sozialplanung zur Verfügung. Dazu gehören auch Mittel für das Sozialmonitoring und den Einsatz von Beteiligungsinstrumenten. Sie setzt den Rahmen, um unterschiedliche Fachplanungen unter dem Dach von Sozialplanung und darüber Entwicklungsplanung zu integrieren“ (MAIS NRW 2011, S. 31). In diesem Verständnis wird die Sozialplanung lebenslagen- und wirkungsorientiert ausgerichtet und zugleich mit definierten Budgets verknüpft. Ihre Verfahren und Organisationsformen werden darauf zugeschnitten: Deshalb ist die Planung zunehmend sozialräumlich organisiert und bietet allen Beteiligten – von den Betroffenen über die Wohnbevölkerung bis hin zu den Leistungserbringern – Mitwirkungsmöglichkeiten. In der Definition des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (vgl. 2011) wird die kommunale Sozialplanung als „politisch legitimierte, zielgerichtete Planung zur Beeinflussung der Lebenslagen von Menschen, der Verbesserung ihrer Teilhabechancen sowie zur Entwicklung adressaten- und sozialraumbezogener Dienste, Einrichtungen und Sozialleistungen in definierten geografischen Räumen“ aufgefasst. Die fachlichen Felder der Sozialplanung sind relativ breit gestreut (vgl. Abb. 2); Bezugspunkte bestehen zu/r (vgl. Dahme und Wohlfahrt 2011, S. 9 ff.):

Abb. 1   Aktuelles Verständnis der Sozialplanung. (Quelle: eigene Darstellung)

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Abb. 2   Prozess und fachliche Felder der Sozialplanung. (Quelle: eigene Darstellung)

• • • • • • • • •

kommunalen Arbeitsmarktpolitik, kommunalen Fürsorgepolitik, kommunalen Bildungslandschaften, kommunalen Integrationspolitik, kommunalen Wohnungspolitik, kommunalen Gesundheitsförderungspolitik, kommunalen Armutspolitik, kommunalen Alten- und Seniorenpolitik und zur Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 auch für Deutschland verbindlich ist.

In diesen fachlichen Feldern unterstützt die Sozialplanung einerseits die kommunale Steuerung und andererseits das fachliche Dienstleistungssystem. Dabei übernimmt die Sozialplanung folgende Funktionen (vgl. MAIS NRW 2011, S. 38 – vgl. Abb. 2):

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• Analyse der sozialen Lagen sowie Entwicklungen in den Sozialräumen und in der Kommune im Rahmen eines kontinuierlichen Sozialmonitorings; • Kontinuierliche Erhebung und Dokumentation des Bestands der Dienste, Einrichtungen und Sozialleistungen; • Ableitung des Bedarfs unter den Perspektiven der Adressatinnen und Adressaten sowie differenziert nach Sozialraumprofilen; • Entwicklung von Vorschlägen für die Ziele der kommunalen Sozialpolitik unter Beteiligung der Stakeholder und insbesondere der Adressatinnen und Adressaten; • Konzipierung innovativer Produkte und Prozesse mit Blick auf deren Wirkung und den Ressourceneinsatz (Budgets); • Unterstützung der Verwaltungsführung sowie der Kommunalpolitik sowie Einbezug anderer Fachressorts der Verwaltung im Sinne einer integrierten Planung; • Erarbeitung der Grundlage einer ziel- und wirkungsorientierten Sozialpolitik sowie einer bedarfsgerechten sozialen Infrastrukturentwicklung.

2 Entwicklungsstufen der Sozialplanung Im Rückblick ist zu erkennen, dass die Entwicklung der Sozialplanung in Deutschland verschiedene Stufen durchlief, die mit dem Wandel von Formen der kommunalen Steuerung korrespondieren (vgl. Osborne 2006): • In der jungen Bundesrepublik Deutschland wurde die kommunale Steuerung noch bis in die 1980er Jahre hinein von Prinzipien der hierarchischen öffentlichen Verwaltung bestimmt. • In den 1990er Jahren wurde die Steuerung nach der deutschen Vereinigung modernisiert, indem das – auf ökonomischen Prinzipien beruhende – Neue Steuerungsmodell des Public Managements in den Kommunen eingeführt wurde. • Und in der jüngeren Vergangenheit – d. h. im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende – gewann das Steuerungsideal der Public Governance an Bedeutung. Über die drei Stufen entwickelte sich auch die Sozialplanung weiter: Von etwa 1960 bis zum Ende der 1980er Jahre konzentrierten sich administrativ verankerte soziale Fachplanungen – mit einem Fokus auf die interne Verwaltungshierarchie (vgl. Deutscher Verein 1986, S. 709 ff.) – auf die flächendeckende Ausstattung

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mit sozialer Infrastruktur in der Kommune. In den 1990er Jahren entstand – mit der Steuerungs- und Marktlogik im Fokus – der Ansatz der steuerungsunterstützenden Sozialplanung. In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts bildete sich im Rahmen des Steuerungsideals der Public Governance eine integrierte Sozialplanung als dritter Planungsansatz heraus (vgl. Schubert 2017).

2.1 Flächendeckende Versorgung Die administrativ verankerte Fachsozialplanung baut als verwaltungsinterner Prozess auf folgenden Elementen auf (vgl. Deutscher Verein 1986, S. 112 ff.): • die Organisation der Planungsaufgabe, • die Formulierung der Planungsziele, • die Erhebung und Bewertung des Bestands sowohl auf der Seite der Bevölkerungsstruktur als auch auf der Seite der bestehenden sozialen Dienste und Einrichtungen, • die Ableitung des Bedarfs nach dem schematischen Modus der Richtwerte, • die Umsetzung der formulierten Ziele in einem Maßnahmenprogramm, • die Bestimmung bzw. Schätzung der Kosten und der notwendigen Finanzierung, der geeigneten Standorte und Infrastrukturflächen sowie des einzusetzenden Personals, • das Einbringen in den Entscheidungsprozess der Führungskräfte in der Kommunalverwaltung und des Kommunalparlaments sowie seiner Fachausschüsse, • die Fortschreibung und Folgenkontrolle nach der Umsetzung. Bei der Bedarfsermittlung orientiert sich die administrative Sozialplanung an normativen Festlegungen von Versorgungsquoten (vgl. vgl. Deutscher Verein 1986, S. 710). Dazu wurden in den 1970er und 1980er Jahren Richtwerte verwendet, die auf allgemeinen Bezugsgrößen beruhen. Sie hatten einen „quasi-objektiven“ Charakter (im Sinn von „zu Normen geronnenen politischen Wertentscheidungen“; vgl. Borchard 1983, S. 182 ff.). Die Bedarfsquote – beispielsweise für Pflegeheimplätze – wurde auf das gesamte Potenzial der über 60-jährigen Einwohnerschaft bezogen (z. B. wurden zur Versorgung pflegebedürftiger alter Menschen im Altenpflegeheim flächendeckend Plätze für 1,5 % der über 64jährigen Bevölkerung vorgehalten). Weder fanden die mit dem Alter zunehmende Pflegebedürftigkeit noch die sozialräumlichen Unterschiede innerhalb der Gemeinde Berücksichtigung. Solche Richtwerte verringerten die Komplexität

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im ­Planungsprozess, weil sie sich ohne Voruntersuchungen schnell anwenden ließen, verloren aber über ihre flächendeckende Anwendung eine sozialräumlich differenzierende Tiefenschärfe. Relativ schematisch konnten sie ohne eine partizipative Zieldiskussion in der Gemeinde vom Schreibtisch der planenden Fachkraft aus in die Bauleitplanung eingegeben werden, ohne dass die Differenzen der verschiedenen Sozialräume einer Kommune vertieft untersucht worden wären und ohne dass mit den Trägern der Daseinsvorsorge und den älteren Menschen selbst abgestimmt worden wäre, ob der jeweilige Richtwert den Zielrahmen in der Gemeinde bilden soll.

2.2 Steuerungsunterstützung Die Verwaltungsreform der „Neuen Steuerung“ zu Beginn der 1990er Jahre, die international unter dem Stichwort „New Public Management“ bereits in den 1980er Jahren diskutiert wurde, basierte auf der Kritik, dass im Rahmen des Verwaltungshandelns zwar alles detailliert und umfassend geregelt und geplant werde, dabei aber sowohl die Kostenkontrolle als auch die Ergebnisüberprüfung auf der Strecke bleiben. Der Perspektivwechsel bestand in dem neuen Verständnis, dass die Kommunalverwaltung Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger produziere. Die inputorientierten Richtlinien der öffentlichen Verwaltung wurden deshalb in ökonomische Kategorien der Output-Orientierung transformiert, indem betriebswirtschaftliche Instrumente und Techniken des Managements – wie zum Beispiel die Kosten- und Leistungsrechnung, die Budgetierung, das Controlling und die Kundenorientierung – aus dem privatwirtschaftlichen in den sozialwirtschaftlichen Sektor übertragen wurden. Exemplarisch verdeutlicht das die Einführung der Pflegeversicherung: Durch ihre Verankerung im SGB XI im Laufe der 1990er Jahre wurde die Altenpflegeperspektive von der Altenhilfeperspektive abgetrennt – und damit auch von der kommunalen Sozialplanung. In Folge der marktwirtschaftlichen Orientierung des Pflegeversicherungsgesetzes fielen die Entwicklung und Gestaltung der pflegerischen Versorgung aus der kommunalen Sozialplanung heraus; denn nun schlossen Pflegeeinrichtungen, die den Mindestanforderungen des § 71 SGB XI entsprachen, einen Versorgungsvertrag direkt mit den Pflegekassen ab, um sich als Leistungsanbieter in der Kommune zu etablieren. Zugrunde lag die Annahme, dass der Schwenk zu einem Wettbewerb zwischen den Anbietern im Pflegemarkt zu einer leistungsfähigen und betriebswirtschaftlich tragfähigen Pflegeinfrastruktur führe, was der „staatliche Dirigismus“ im Rahmen planerischer Richtwerte und Input-Steuerung nicht geschafft habe (vgl. Zängl 1999, S. 63 f.).

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So entstand ein – vom Gesetzgeber gewollter – „Pflegemarkt”, der die Versorgung im Rahmen der Dynamik von Angebot und Nachfrage unter der Prämisse der Wirtschaftlichkeit regelt. Die Sozialplanung wurde im Neuen Steuerungsmodell zu einem eigenständigen Bestandteil im Steuerungskreislauf auf den Ebenen der Sozialverwaltung erklärt (vgl. Feldmann und Kühn 2005): Sie soll das Leistungsangebot und die Ergebnisse transparent machen, damit bedarfsgerecht, wirksam sowie wirtschaftlich gesteuert werden kann. Während die administrative Sozialplanung in den 1970er und 1980er Jahren in Fachsozialplanungen zergliedert war, die im jeweiligen Funktionsbereich – wie z. B. Alten-, Behinderten- und Jugendhilfe – die flächendeckende Planung und Versorgung mit einschlägiger sozialer Infrastruktur in der Kommune adressierten, setzt die steuerungsunterstützende Sozialplanung auf die Integration der unterschiedlichen Fachplanungen im Kontext eines übergeordneten strategischen Steuerungsprozesses.

2.3 Sozialplanung als Teil der Public Governance Im Rahmen der Governancelogik bleibt die Planung und Steuerung von sozialen Belangen nicht mehr monozentral auf die Sozialverwaltung beschränkt, sondern es bildet sich ein Netz der Verantwortung für die sozialen Dienstleistungen in der Kommune heraus. Im Vergleich der skizzierten Entwicklungsstufen lässt sich erkennen, wie sich die Gewichte von den politischen Vorgaben in der Logik der öffentlichen Verwaltung und über die Marktorientierung im Managementfokus hin zur Betonung der Dienstleistungs-Koproduktion in der Public Governance verschieben (vgl. Schubert 2018a). Die Fragen der sozialen Planung werden in partizipativen institutionellen Arrangements verhandelt, die sowohl die vertikale Verwaltungshierarchie als auch die horizontale Versäulung der Fachressorts überwinden (vgl. Schubert 2017). Konsequenterweise beschränken sich die Planungsaktivitäten nicht mehr nur auf die Kommunalverwaltung, sondern sie finden auch bei freien Trägern und anderen Organisationen statt, die im sozialwirtschaftlichen Geschehen mitwirken (vgl. Beck 2012). Dieser neue Typ wird als „integrierte Sozialplanung“ bezeichnet (mehr dazu im nächsten Kapitel). Im Mittelpunkt stehen dabei zum einen der Nutzen für die Adressatinnen und Adressaten, zum anderen der Nutzen für die Stakeholder und zum dritten der Nutzen für die gesamte Gebietskörperschaft. Der Ausweitung der Beteiligten steht eine sozialräumlich engere Auswahl des Bezugsraums von Planung gegenüber – bei der Sozialraumorientierung werden beispielsweise eine Raumeinheit und die Potenziale ihrer Akteure in den

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Mittelpunkt der Entwicklungssteuerung gestellt, was eine Absage der flächendeckend gleichen Infrastrukturausstattung bedeutet. Die relevanten Akteure werden über Runde Tische, Stadtteilkonferenzen und ähnliche kommunikative Gremien angeregt, zusammenzuarbeiten, gemeinsam Konzepte für die Raumeinheit zu erstellen und selbst Verantwortung für die Planumsetzung zu übernehmen. Die Strategien werden vor Ort entwickelt und von den örtlich oder regional mobilisierten Ressourcen getragen, um zu räumlich spezifischen Lösungen und Prozessgestaltungen zu gelangen (vgl. Burmester 2011). Für die Vernetzung und Kommunikation mit den verschiedenen lokalen und regionalen Stakeholdern – z. B. aus der kommunalen Politik, aus der Zivilgesellschaft, aus dem Kreis der Anbieter sozialer Dienstleistungen und aus den verschiedenen anderen kommunalen Verwaltungsressorts – werden partizipative und dialogorientierte Moderationsinstrumente für Konferenzen eingesetzt (vgl. MAIS NRW 2011, S. 51–56; Burmester 2011, S. 131–165).

3 Schnittstelle von Sozialwirtschaft und Sozialplanung 3.1 Einsatz der Methode „Design Thinking“ Die Methode „Design Thinking“ hat sich bewährt, um systematisch neue Ideen und Lösungen für komplexe Problemsituationen aus allen Fach- und Lebensbereichen zu entwickeln. Der Ansatz beruht auf der Annahme, dass kreative Problemlösungen und Innovationen nur dann erfolgreich sein können, wenn sich multidisziplinäre Teams zusammenschließen, eine gemeinsame Denk- und Arbeitskultur bilden und die verschiedenen Perspektiven miteinander verbinden (vgl. Plattner et al. 2011, S. 42 f.). Im Fokus dieser Innovationsmethode steht die Nutzerorientierung: Die Empathie mit den potenziellen Nutzern ermöglicht es, Lösungen für deren existierende Bedürfnisse zu finden, sodass neue Produkte oder Dienstleistungen passgenau (weiter-)entwickelt werden können (vgl. Meinel et al. 2015, S. 14 ff.). Die Methode Design Thinking erfolgt in einem sechsstufigen iterativen Innovationsprozess. Die Abfolge ist flexibel und orientiert sich an den Schritten 1) Verstehen, 2) Beobachten, 3) Sichtweisen definieren, 4) Ideen finden, 5) daraus Prototypen entwickeln und 6) diese schließlich testen. Um eine möglichst hohe Quantität der Ideen- bzw. Lösungsvielfalt zu erhalten, werden zuerst viele Ideen gesammelt. Im weiteren Verlauf werden die vielversprechenden Ideen selektiert und umsetzungsorientiert weiter verdichtet. Durch die anschauliche Entwicklung

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von Prototypen können mögliche Barrieren der unterschiedlichen Wissens- oder Disziplinhintergründe im Team kompensiert werden (vgl. Gürtler und Meyer 2013, S. 18 ff.).

3.2 Entwurf eines Prototyps der integrierten Sozialplanung Im Januar 2016 veranstaltete der Forschungsschwerpunkt Sozial • Raum • Management eine Fachtagung mit deutschen und Schweizer Expertinnen und Experten in der TH Köln. Mit der Methode Design Thinking sollten soziale Innovationen der Sozialplanung entworfen werden, die sich zentral an den Nutzerinnen und Nutzern sozialer Dienstleistungen orientieren. Die Teilnehmenden wurden in vier heterogene Gruppen eingeteilt, deren Ziel darin bestand, im Rahmen der Design Thinking Methode Prototypen einer integrierten Sozialplanung – also einer Sozialplanung nach dem Steuerungsprinzip der Public Governance – zu entwickeln. Dem Prototyp sollten Metaphern zugrunde gelegt werden, um die Sozialplanung auf einer bildhaften Ebene zu figurieren. Denn die Sozialplanung repräsentiert ein abstraktes Strukturelement der kommunalen Verwaltung, für das Prototypen nur im übertragenen Sinn generiert werden können (vgl. Schubert et al. 2016). Die verschiedenen Entwürfe wurden zu einem Prototyp verbunden – danach beruht eine integrierte Sozialplanung auf Kooperationen, Zusammenschlüssen und Netzwerken (vgl. Abb. 3). Nur wenn die soziale Infrastruktur unter Beteiligung unterschiedlicher verwaltungsinterner und -externer Akteure gestaltet wird, können ganzheitliche und gleichzeitig individuelle und bedarfsgerechte Angebote und Maßnahmen für die Adressatinnen und Adressaten entwickelt werden. Die Orte solcher Interaktionen wurden durch die Metapher „Lagerfeuer“ gekennzeichnet: Sie verknüpfen einerseits (verwaltungsintern) die Fachbereiche und Ressorts, die bei der Planung sozialer Belange kooperieren, und andererseits die Akteure in den Sozialräumen bzw. in der Gemeinde, die zum Austausch von Informationen und zur Bündelung von Ressourcen zusammenkommen. Im Zentrum befindet sich die Zentrale der Sozialplanung, die den Knotenpunkt für die „Planungsfilialen“ in den Sozialräumen darstellt – mit den Metaphern der „Supermarktkette“ und ihrer „Filialen“ wird die Mehrebenenstruktur einer integrierten Sozialplanung verdeutlicht. Die Planungszentrale ist für den strategischen Planungsprozess zuständig. Dieser berührt dabei zwei Bereiche: Zum einen fungieren Entscheidungsorgane der Kommunalpolitik als normative Aufsicht; zum anderen repräsentiert die Verwaltung die Steuerungszentrale,

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Abb. 3   Prototyp „integrierte Sozialplanung“. (© Grafik: Julian Hensel; Quelle: Schubert et al. 2016, S. 70–71)

der die Sozialplanung, die Sozialberichterstattung sowie weitere Fachplanungen zugeordnet sind. Die enge Zusammenarbeit im Rahmen von „Lagerfeuern“, die der Strategieentwicklung dienen, ist für eine integrierte Sozialplanung von großer Bedeutung. Aus der Metapher der „Supermarktkette“ kann die Dezentralisierung der Planung abgeleitet werden: Die Zentrale des „Supermarktes“ steuert die an unterschiedlichen Orten in den Sozialräumen bzw. in der Gemeinde platzierten lokalen „Filialen“. Bei diesen Orten handelt es sich unter einer sozialplanerischen Perspektive um Sondereinrichtungen wie zum Beispiel ein Stadtteilbüro; in den meisten Fällen kommen aber bestehende Einrichtungen wie Bürgerhäuser, Jugendzentren, Senioreneinrichtungen und Ähnliches infrage, die als Interaktionsräume vor Ort dienen. Dort verbinden die Träger der Wohlfahrtspflege die Planung mit den lokalen Akteuren sowie den Bürgerinnen und Bürgern (z. B. als Schwerpunktträger) und können somit eine besondere Rolle in der Planung einnehmen. Die dezentralen „Filialen“ repräsentieren insofern die Schnittstelle zwischen der Sozialplanung und den sozialwirtschaftlichen Trägern und Organisationen.

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Wenn die gewählte Metapher zu einer „genossenschaftlichen Supermarktkette“ zugespitzt wird, nehmen die Bürgerin und der Bürger eine Doppelrolle ein: Als Anteilseigner des „Supermarktes“ sind sie in ihrer Funktion als Wählende und Gewählte der Kommunalpolitik für die normative und demokratische Beaufsichtigung der Prozesse zuständig. Als Nutzerinnen und Nutzer nehmen sie die Angebote, die von der Sozialplanung bereitgestellt werden, in Anspruch. Die „Sonne“ und die „Wolken“, die am „Himmel“ des Planungsnetzwerks stehen, symbolisieren die Bezugssysteme der Sozialplanung, die das Netzwerk – im übertragenen Sinn durch „Licht“ und „Regenwasser“ – nähren. Zu den Bezugssystemen zählen zum Beispiel die Vereine, in denen sich Sozialplanung organisiert, wie der Verein für Sozialplanung und der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge. Aber auch Hochschulen können zur Gewinnung neuen Wissens und neuer Erkenntnisse beitragen sowie gewerkschaftliche Vereinigungen und Organisationen der Sozialen Arbeit. Die Verbreitung von neuem Wissen wird auch durch Fachzeitschriften befördert. Die „Bäume“, die die Filiale umgeben und Bestandteil des Sozialraums sind, stehen in diesem Kontext für eine lebenslagenorientierte Ausrichtung der Sozialplanung. Denn ebenso wie junge und alte Bäume im Wald unterscheiden sich die Bürger hinsichtlich ihres Alters, ihrer Erfahrungen und Bedürfnisse. Sie können sich zu Betroffenheitsfigurationen formieren – wie z. B. Angehörigenfamilien mit einem demenzerkrankten Angehörigen. Die Herausforderung der Sozialplanung liegt somit in einer individuellen und biografiesensiblen Organisation, die den unterschiedlichen Bedürfnissen angemessen Rechnung trägt. Die lokale Filiale, in der Maßnahmen und Angebote der Sozialplanung für alle Kundinnen und Kunden – im Sinn von Nutzerinnen und Nutzern im Sozialraum und in der Gemeinde – angeboten werden, ist mit der Zentrale vernetzt. Die Zentrale und die lokalen Filialen sind durch Kommunikationsstränge miteinander verbunden, wodurch beidseitige Austausch- und Informationsprozesse möglich werden. Die Sozialplanung fungiert dabei als Verbindungsmedium, indem sie sowohl den Kontakt zwischen der Zentrale und der Bürgerschaft herstellt, aber sie agiert auch als „Sortimentsmanager“ an der Schnittstelle zu den sozialwirtschaftlichen Dienstleistern. Die Aufgabe des Sortimentsmanagements besteht quasi darin, im übertragenen Sinn die gewünschten „Waren“ bereitzustellen – und das bedeutet, in der Abstimmung mit den Organisationen der Sozialwirtschaft für eine passgenaue Infrastruktur und bedarfsgerechte Angebote im Sozialraum zu sorgen. Die Bürgerinnen und Bürger sind in ihrer Doppelrolle als Anteilseigner und Nutzer dazu eingeladen, die Filiale aufzusuchen und die Angebote, die ihren

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Bedürfnissen entsprechen, auszuwählen, aber auch, sich am Planungsprozess zu beteiligen. Gleichzeitig handelt die Sozialplanung vor Ort wie ein „Architekturbüro“ sowie eine „Stelle für die Planvermittlung“: Sie führt Plangespräche, in denen die Anliegen der Politik, die Bedarfe vor Ort sowie die operativen Planungsprozesse diskutiert werden. Diese Plangespräche finden wiederum an „Lagerfeuern“ statt. Als solche Orte können zum Beispiel Sozialraumkonferenzen und fachliche Arbeitskreise angesehen werden, in denen sich die sozialwirtschaftlichen Organisationen und die Sozialplanung fachlich verständigen und abstimmen, aber auch Beteiligungsgremien, die gezielt Bürgerinnen und Bürger in die Gestaltung des Planungsprozesses einbinden. Neben den Trägern und Verbänden der Wohlfahrtspflege steht die Tür zur Teilnahme am Lagerfeuer auch wirtschaftlichen Anbietern von Leistungen, verbildlicht durch einen privaten Investor (z. B. einer Pflegeeinrichtung), offen. Die „Wärme“ des Lagerfeuers stellt die Gesprächsergebnisse dar und wird durch die Kommunikationsstränge an die Zentrale zurückgegeben. So wird ­Handlungsdruck erzeugt, so werden strategische Überlegungen beeinflusst. Das Ergebnis sind Strukturen, Strategien und Ressourcen für die lokalen Filialen, die die Rahmenbedingungen für die Planung vor Ort darstellen. In der lokalen Filiale befindet sich außerdem eine Kommunikationskette, die sich aus vermittelnden Personen (z. B. Hausarzt/Hausärztin) und Ehrenamtlichen (z. B. den Weg weisenden Lotsen), Professionellen und Bürgerinnen sowie Bürgern zusammensetzt. Es handelt sich um eine nach außen hin offene Formation, in die hinein die Person der Sozialplanung Impulse gibt, aus der aber auch Anregungen und Hinweise mitgenommen werden. Durch den – bildlich dargestellten – (Körper-)Kontakt mit Bürgerinnen sowie Bürgern und fachlichen Akteuren wird deutlich, dass die Sozialplanung mit den Beteiligten vor Ort in einem regelmäßigen Austausch stehen soll. Darüber hinaus symbolisiert die Kommunikationskette die Beteiligung der Akteure und Nutzer an den Planungsprozessen. Über Lotsen können beispielsweise Informationen im Sozialraum bzw. in der gesamten Gemeinde weitergeleitet und Angebote publik gemacht werden – die Kommunikationskette beginnt aus diesem Grund in der lokalen Filiale, wo Maßnahmen und Angebote der Planung bereitgestellt werden. Das in der Filiale dargestellte Lagerfeuer verdeutlicht erneut die hohe Bedeutung von Beteiligungsformaten wie die Stadtteilkonferenz oder das Quartiersnetzwerk, deren Informationsfluss für die Planung relevant ist.

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3.3 Verallgemeinerung des Prototyps zum Modell der integrierten Sozialplanung Die Metaphorik des skizzierten Prototyps lässt sich verallgemeinern – aus dem Prototyp wird dann das allgemeine Modell der integrierten Sozialplanung. In der Verallgemeinerung spielen drei Faktoren eine Rolle: I) der Stellenwert der Sozialplanung in der strategischen Aufstellung der Kommunalverwaltung; II) die dezentrale Anschlussfähigkeit der Sozialplanung an die Stakeholder in den Sozialräumen bzw. Planungsräumen und III) die Anbindung an den fachlichen Diskurs der Bezugssysteme. In vereinfachter Form wird der Zusammenhang der drei Faktoren als Modell der integrierten Sozialplanung in dem nachfolgenden Schaubild dargestellt (vgl. Abb. 4). Auf der strategischen Verwaltungsebene ist die Sozialplanung ressortübergreifend in die unterschiedlichen Fachbereiche hinein – von Soziales, Pflege und Gesundheit und über Bildung, Sport, Kultur sowie über Wirtschaft und Arbeitsmarkt bis hin zur Stadtplanung und Wohnungsversorgung – vernetzt, damit die bestehenden Unterstützungsstrukturen der sozialen Daseinsvorsorge umfassend

Abb. 4   Verallgemeinerung des Prototyps zu einem Modell der „integrierten Sozialplanung“. (Quelle: Schubert et al. 2016, S. 73)

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koordiniert und in die kommunale Gesamtentwicklungsstrategie integriert werden können. Auf der operativen Planungsebene versucht die Sozialplanung, an den Schnittstellen mit den zivilgesellschaftlichen Stakeholdern vor Ort in den Sozial- und Planungsräumen anzuknüpfen. Die Interaktion findet dezentral in Orten wie einer lokalen Infrastruktureinrichtung und zu Ereignissen wie einer regelmäßigen Sozialplanungskonferenz statt. Dadurch werden die Interessen- und Anspruchsgruppen – insbesondere aus der Sozialwirtschaft – am Planungsprozess beteiligt, die zugleich als Gatekeeper bzw. Vermittler zu den Adressatinnen und Adressaten fungieren, um auch deren Partizipation zu ermöglichen. Im netzwerkförmigen Austausch unter den beteiligten Akteuren aus den unterschiedlichen fachlichen Sektoren und Teilbereichen gelingen eher Lösungen für die komplexen sozialen Entwicklungsaufgaben, die aufgrund des sozialen, demografischen, ökonomischen und technologischen Wandels in der Kommune und ihren Sozialräumen entstanden sind (vgl. Schubert 2018b).

4 Ausblick Damit die Sozialplanung dezentral Anschluss an die Stakeholder in den Sozialräumen und Planungsräumen finden kann, sind in den lokalen Infrastruktureinrichtungen neue Beteiligungsformate für die Bürgerinnen und Bürgern und ihre Selbsthilfeverbände zu etablieren, die sich von den fachspezifischen Partizipationsansätzen für die professionellen Träger der Wohlfahrtspflege unterscheiden. Da nicht alle an einem Runden Tisch Platz finden können, müssen Gelegenheiten geschaffen werden, dass die Stimmen aus der Bürgerschaft an wohnungsnahen Orten zu Wort kommen können. Die Methoden sind in einer Art und Weise zu gestalten, dass auch Bürgerinnen und Bürger erreicht werden können, die sich nicht in der Öffentlichkeit äußern. Für die Kontaktvermittlung ist beispielsweise an Schlüsselpersonen zu denken, die im Alltag über Kontakte mit den Adressatinnen und Adressaten verfügen. Dieser Personenkreis kann von der Leiterin der Kindertagesstätte über den Pfarrer und Mitarbeitende der freien Träger bis zur Ärztin vor Ort reichen. Den Trägern und Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege kommt ebenfalls eine zentrale Rolle bei der Ermöglichung von Beteiligung zu. Sie können partizipatorische Schnittstellenaufgaben in die Lebenswelten hinein übernehmen: 1) als Vermittler und Türöffner, die Zugänge zu den Adressatinnen und Adressaten als lebensweltliche Expertinnen und Experten erschließen; 2) als Transporteure von Informationen von und zu den Menschen unterschiedlicher Generationen in den Quartieren; und 3) als Generatoren einer Beteiligungskultur unter den Bürgerinnen und Bürgern im Gemeinwesen.

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Mit dem Blick in die Zukunft stellt sich die Frage, wie die Städte und Gemeinden die oszillierende Aktivität der Sozialplanung zwischen den strategischen Aufgaben in der Kommunalverwaltung und der operativen Abstimmung in den Sozialräumen gestalten können. Den Orientierungsrahmen bildet dabei die im Rahmen des Prototyps entwickelte „Kommunikationskette“ – d. h. die Sozialplanung braucht vor Ort Akteure, die als Mentorinnen und Mentoren der Sozialplanung in ihren Einrichtungen, Diensten und Vereinen Mitverantwortung für den operativen Planungsprozess im Sozialraum tragen.

Literatur Beck, A. (2012). Steuerung braucht Lotsen: Strategische Sozialplanung für Freie Träger. Blätter der Wohlfahrtspflege, 159, 171–173. Borchard, K. (1983). Gemeinbedarf. In Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Grundriss der Stadtplanung (S. 180–198). Hannover: Vincentz. Burmester, M. (2011). Sozialraumbezogene Sozialplanung und Sozialberichterstattung. In H.-J. Dahme & N. Wohlfahrt (Hrsg.), Handbuch Kommunale Sozialpolitik (S. 306– 317). Wiesbaden: VS Verlag. Dahme, H.-J., & Wohlfahrt, N. (2011). Kommunale Sozialpolitik. Neue Herausforderungen, neue Konzepte, neue Verfahren (S. 9–18). In H.-J. Dahme & N. Wohlfahrt (Hrsg.), Handbuch Kommunale Sozialpolitik. Wiesbaden: Springer VS. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge. (1986). Handbuch der örtlichen Sozialplanung. Schrift 265. Frankfurt a. M.: Eigenverlag. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge. (2011). Eckpunkte für eine integrierte Sozial- und Finanzplanung in Kommunen. DV 08/11 AF I. http://www. deutscher-verein.de/05-empfehlungen/ Zugegriffen: 29. Juli 2013. Feldmann, U., & Kühn, D. (Hrsg.). (2005). Steuerungsunterstützung durch Sozialplanung und Controlling auf kommunaler Ebene. Arbeitsbuch 13. Berlin: Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. Gürtler, J., & Meyer, J. (2013). 30 Minuten Design Thinking. Offenbach: Gabal. MAIS NRW/Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (2011). Handbuch Moderne Sozialplanung. Düsseldorf: Eigenverlag. Meinel, C., Weinberg, U., & Krohn, T. (2015). Design Thinking Live. Wie man Ideen entwickelt und Probleme löst. Hamburg: Murmann Publishers. Osborne, S. P. (2006). The new public governance? Public Management Review, 8, 377–387. Plattner, H., Meinel, C., & Weinberg, U. (2011). Design Thinking. Innovationen lernen – Ideenwelten öffnen. München: mi-Wirtschaftsbuch. Schubert, H. (2017). Entwicklung einer modernen Sozialplanung – Ansätze, Methoden und Instrumente. Archiv der Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 1, 4–19. Schubert, H. (2018a). Netzwerkorientierung in Kommune und Sozialwirtschaft. Eine ­Einführung. Wiesbaden: Springer VS.

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Planung und Implementierung von sozialraumorientierten Projekten und Arbeitsansätzen Ludger Kolhoff

Zusammenfassung

In dem Beitrag wird anhand von zwei Beispielen gezeigt, wie sozialraumorientierte Projekte und Arbeitsansätze geplant und implementiert werden können. Im ersten Beispiel wird das Braunschweiger Projekt „Stadtteil in der Schule“ vorgestellt. Es wurde für Grundschulen in Braunschweig geplant und ist zwischen den Feldern Gemeinwesen und Schulsozialarbeit angesiedelt. Durch das Projekt soll die Vielzahl der vorhandenen Angebote und Möglichkeiten im Sozialraum sinnvoll mit Schule verknüpft und entsprechend der identifizierten Bedarfe der Kinder und Eltern weiter entwickelt werden. Im zweiten Beispiel wird gezeigt, wie gemäß dem Grundprinzip der Sozialraumorientierung „Orientierung am Willen der Menschen“ Einrichtungen der Behindertenhilfe ihre strategischen Planungen an den Interessen und Erwartungen der Menschen mit Behinderung orientieren können.

1 Einleitung Nachdem in den bisherigen Beiträgen das Thema Sozialplanung im Mittelpunkt stand, soll an zwei Beispielen gezeigt werden, wie sozialraumorientierte Projekte und Arbeitsansätze geplant und implementiert werden können. Das erste Kapitel widmet sich dem Braunschweiger Projekt „Stadtteil in der Schule“. Die L. Kolhoff (*)  Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Hochschule Braunschweig/Wolfenbüttel, Wolfenbüttel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_7

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s­trategische Planung des Projektes orientiert sich an den Strukturen der Sozialräume der beteiligten Schulen. Im zweiten Kapitel geht es um die „Implementierung von sozialraumorientierten Arbeitsansätzen in der Behindertenhilfe“, die sich, gemäß dem Grundprinzip der Sozialraumorientierung „Orientierung am Willen der Menschen“ (Hinte und Treeß 2014) an den Interessen und Erwartungen der Menschen mit Behinderung ausrichten.

2 Planung und Implementierung des sozialraumorientierten Projektes „Stadtteil in der Schule“ Das Braunschweiger Modellprojekt „Stadtteil in der Schule“ hat das Ziel, im Sozialraum vorhandene Strukturen und Ressourcen zu nutzen und zu aktivieren, um Bildungs- und Teilhabechancen von Kindern in Grundschulbereich zu erhöhen. „Stadtteil in der Schule“ fokussiert sich darauf, die Beziehungen zwischen den Akteuren in der Schule sowie auch zwischen den relevanten Einrichtungen des Stadtteils in den Blick zu nehmen, zu fördern und zu pflegen. Das Projekt ist für einen Zeitraum von drei Jahren konzipiert worden und wird evaluiert. Der Evaluationsansatz orientiert sich am Struktur-Prozess-Wirkungs-Modell und umfasst folglich die Phasen der Struktur-Prozess-Wirkungsevaluation.

2.1 Strukturevaluation In der Vorbereitungsphase des Projektes erfolgt 2013 eine Strukturevaluation (Kolhoff und Gebhardt 2016). Es werden Daten des Amtes für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Braunschweig ausgewertet. Interviews mit Akteuren im Sozialraum, Stadtteilrundgänge etc. ergänzen die Erhebung (Marschik 2016). Weiterhin werden im Rahmen von schulspezifischen Erhebungen Fakten zu schulspezifischen Bedingungen (Anzahl der Schüler, Migrationshintergrund, soziale Struktur) erfasst (Galetzka und Liersch 2016).

2.2 Sozialraumspezifische Ziele Aus der Strukturevaluation werden sozialraumspezifische Ziele für die Projektumsetzung abgeleitet. In einem kommunikativen Prozess wird die Zielbestimmung modifiziert. Um zielführende Arbeitsabläufe zu entwickeln, erfolgen Ziel- und Umsetzungsplanungen in moderierten Workshops (Kolhoff 2016). Es werden Planungsübersichten entwickelt, die sich an folgenden Fragen orientieren (Abb. 1):

Planung und Implementierung von sozialraumorientierten …

Wer (macht)

Organisationsperspektive

Womit

Ressourcen

Wann

Zeitschiene

Was

Maßnahme

Warum

Ergebnisziel

Wozu

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Wie nachgewiesen

Indikator

Wo nachprübar

Quelle der Nachprübarkeit

Rahmenziel

Abb. 1   Struktur der Planungsübersichten. (Quelle: eigene Darstellung)

2.3 Akteure In dem Projekt wirken verschiedene Akteure zusammen. Unter ihnen stehen die Akteure der Sozialräume im Mittelpunkt der strategischen Zielplanung, denn aus den Sozialraumanalysen werden die Ziele des Projektes abgeleitet. Die Mitarbeiterinnen entwickeln Maßnahmen, um diese Ziele zu erreichen, und stehen im Mittelpunkt der operativen Planung. Ihre Aufgabe ist es, Konzepte zu entwickeln, in bestehende Netzwerke zu integrieren und neue Netzwerkstrukturen aufzubauen. Weiterhin gibt es einen Steuerungskreis, in dem relevante Entscheider versammelt sind. In diesem Steuerungskreis sind neben den Vertretern der Organisationen, die die Ressourcen für das Projekt zur Verfügung gestellt haben (Bürgerstiftung Braunschweig, Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, Borek-Stiftung), die zuständige Dezernentin der Stadt Braunschweig, die zuständige Dezernentin der Landesschulbehörde als Vertreterin der Schulen und die Leitung der Diakonie als Anstellungsträger der Sozialarbeiterinnen vertreten (Abb. 2).

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Steuerungskreis:

Sozialräume:

• Entscheidung • Ressourcen • (Steuerungsebene)

• stehen im Mittelpunkt der strategischen Zielplanung • (strategische Ebene)

Mitarbeiterinnen: • Maßnahmenplanung • Umsetzung • (operative Ebene)

Abb. 2   Akteure. (Quelle: eigene Darstellung)

2.4 Prozessevaluation als Steuerungsinstrument Die Prozessevaluation beschreibt die konkrete Umsetzung des Projektes sowie die sich daraus ergebenden Erfahrungen. Sie begleitet die Durchführungsphase des Projektes als Begleitforschung ab dem Schuljahr 2014/2015 bis zum Ende des ersten Schulhalbjahres 2016/2017. Die einzelnen Aktivitäten werden detailliert erfasst und dokumentiert, um die Zielerreichung des Projektes mit den Beteiligten abgleichen und überprüfen zu können. Es erfolgen Selbstevaluationen durch die Mitarbeiterinnen von „Stadtteil in der Schule“, die dabei durch Studierende unterstützt werden. Die Selbstevaluationen orientieren sich an den Zielen

Planung und Implementierung von sozialraumorientierten …

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und den entsprechenden, vorher festgelegten Quellen der Nachprüfbarkeit, die zur Steuerung der Datenerhebung formuliert wurden. Die Erhebungsergebnisse werden dokumentiert (Beobachtende, Maßnahmen, Beobachtungen, Informationen [Quellen]). Die dann folgende Bewertung orientiert sich an Indikatoren, die zu jedem Ziel formuliert wurden, bevor mit dem Projekt begonnen wurde. Die Bewertung erfolgt durch dritte, nicht an der Selbstevaluation beteiligte Personen, sodass eine Trennung von Beobachter- und Bewertungsebene gewährleistet ist. (­Überprüft wird, ob Indikatoren angezeigt werden oder nicht. Wenn bspw. 5 von 10 Indikatoren angezeigt werden, gilt ein Ziel als zu ca. 50 % erreicht.) Die Ergebnisse werden im Sinne einer kommunikativen Validierung an die Sozialarbeiterinnen und die sie unterstützenden Studierenden in moderierten Workshops zurückgespiegelt, sodass Unklarheiten und Unschärfen in den Dokumentationen der Selbstevaluationen korrigiert und abgestimmte Prozessevaluationsberichte erstellt werden können. Die Projektevaluationen dienen der Projektsteuerung. Durch kontinuierliches Monitoring und Zwischenevaluationen lässt sich feststellen, ob das Projekt (noch) auf dem richtigen Weg ist. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse besteht dann die Chance, Anpassungen vorzunehmen. Schwachstellen können erkannt und es kann entsprechend nachgesteuert werden.

2.5 Wirkungsevaluation 2017 erfolgt eine Wirkungsevaluation1. Unter Wirkungen werden Ergebnisse von Leistungen verstanden, für deren Erstellung Ressourcen zur Verfügung gestellt wurden. Es kann eine logische Kette vom Ressourceneinsatz bis zum gesellschaftlichen Nutzen (Wirksamkeit) und der subjektiv erlebten Wirkung (Zufriedenheit) der Leistungsempfänger konstruiert werden, die mit den Begriffen Input (Aufwand/Ressourceneinsatz), Output (Ertrag/quantitative Leistungsmenge), Outcome (subjektiv erlebte Wirkung (Zufriedenheit) des Leistungsempfängers) und Impact (gesellschaftliche Wirkung oder Nutzen) gekennzeichnet werden kann (Abb. 3).

1Die

Ergebnisse der Wirkungsevaluation werden 2018 publiziert (Kolhoff, L. (Hrsg.): Sozialraumorientierte Schulsozialarbeit – Prozess- und Wirkungsevaluation des Modellprojekts ‚Stadtteil in der Schule‘, Springer VS, Wiesbaden 2018).

output

subjective Wirkung/ Zufriedenheit

input

gesellschaftliche Wirkung/ Wirksamkeit

L. Kolhoff

Ertrag/ Leistungen

Aufwand/ Ressourcen

144

outcome

impact

Abb. 3   Wirkungskette. (Quelle: eigene Darstellung)

Im sozialen Bereich wird die Wirksamkeit von Maßnahmen von vielen Faktoren beeinflusst und ist z. B. stark von der Mitwirkung der AdressatInnen abhängig. Es gibt eine Fülle von Parametern, die sich gegenseitig durchdringen. Überprüfbar ist die Erreichung von Zielen. Um zu eruieren, ob die Projektziele erreicht wurden, werden statistische Daten ausgewertet, im Sinne eines Updates der Strukturevaluation aus dem Jahr 2013. Weiterhin werden die Prozessevaluationen von fünf Schulhalbjahren herangezogen. Es erfolgt eine systematische Auswertung der im Rahmen des Projekts durchgeführten Prozesse im Sinne einer Contentanalyse der Prozessevaluationen. Ergänzend werden weitere Erhebungen durchgeführt, um Veränderungen und Wirkungen zu erfassen. Hierzu werden problemzentrierte Interviews mit internen und externen Stakeholdern durchgeführt. Zur Bewertung kommt ein Kategorienmodell zum Einsatz. Das Projekt erzielt Wirkungen der Kategorie 1, wenn die Ziele des Projektes erreicht werden. ­Wirkungen der Kategorie 2 gelten als erreicht, wenn die Zielgruppen in gewünschter Art erreicht werden. Wirkungen der Kategorie 3 gelten als erzielt, wenn es erwünschte Auswirkungen auf Strukturen in den Schulen und in den Sozialräumen gibt (Abb. 4).

Planung und Implementierung von sozialraumorientierten …

Wirkung 3

„ Zielgruppen erreicht“

Wirkung 2

Wirkung 1

"Projektziele erreicht"

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"Auswirkungen auf Strukturen in den Schulen und in den Sozialräumen "

Abb. 4   Kategorienmodell. (Quelle: eigene Darstellung)

3 Planung und Implementierung von sozialraumorientierten Arbeitsansätzen in der Behindertenhilfe Während es sich bei „Stadtteil in der Schule“ um ein zeitlich begrenztes Modellprojekt handelt, wird im Folgenden anhand von Organisationsentwicklungsmaßnahmen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe in Niedersachsen (Lebenshilfe Braunschweig, Heilpädagogische Hilfe Osnabrück, Christophoruswerk Lingen) durchgeführt wurden, gezeigt, wie Ansätze der Sozialraumorientierung in bestehenden Einrichtungen verankert werden können. Organisationsentwicklungsmaßnahmen können anhand des klassischen Dreiphasenmodells der Organisationsentwicklung (Unfreezing, Moving, ­Refreezing) strukturiert werden (Kolhoff 2003, S.  100  ff.). Dieser Ansatz kommt bei der Implementierung der Sozialraumorientierung bei den Einrichtungen der Behindertenhilfe zum Tragen (Kolhoff 2013).

3.1 Phasenmodell der Organisationsentwicklung Unfreezing: Strukturen werden aufgetaut, infrage gestellt und somit Motivationen und Veränderungen geweckt Das Unfreezing (Auftauen) ist der Einstieg in einen Veränderungsprozess. Es geht darum, bestehende Strukturen auf den Prüfstein zu stellen, denn ohne ein vorhandenes Problembewusstsein werden die Mitglieder des Systems sich gegen eine Veränderung sträuben. Erst wenn alte, nicht mehr passende Strukturen infrage gestellt und dann auch gestört werden, sind Entwicklungen möglich.

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L. Kolhoff

Im Rahmen der Unfreezingphase werden Diagnosetechniken eingesetzt. Hierzu gehört in einem ersten Schritt die Beteiligtenanalyse mit dem Ziel der Bildung einer Steuerungsgruppe. In der Steuerungsgruppe sind sowohl unterschiedliche Mitarbeitergruppen und die Mitarbeitervertretung wie auch die Leitungsebene vertreten, um eine möglichst hohe Akzeptanz des Entwicklungsprozesses zu gewährleisten. In einem zweiten Schritt werden die Interessen und Positionen der Menschen mit Behinderung erfasst. Moving: Situationen werden verändert, in Bewegung gesetzt, neue Verhaltensweisen und Arbeitsabläufe entwickelt In der Movingphase nimmt das System einen neuen Platz ein. Es erfolgt eine strategische und operative Planung, die sich gemäß dem Grundprinzip der Sozialraumorientierung „Orientierung am Willen der Menschen“ an dem ausrichtet, was die Menschen mit Behinderung wollen. Refreezing: Einfrieren veränderter Verhaltensweisen und eine Stabilisierung veränderter Verhältnisse An die Movingphase schließt sich die Refreezingphase an, damit das System einen neuen stabilen Zustand einnehmen kann.

3.2 Akteure Den am Prozess beteiligten Akteuren werden klare Rollen und Funktionen zugeordnet. • So hat die Steuerungsgruppe eine Koordinationsfunktion und ist das Verbindungsglied zu den Menschen mit Behinderung, den Mitarbeitern und der Leitung. Sie hat die Aufgabe, den Organisationsentwicklungsprozess zu planen, zu organisieren und zu moderieren und die Ergebnisse zusammenzufassen und weiterzugeben. • Die Menschen mit Behinderung stehen im Mittelpunkt der strategischen Zielplanung gemäß dem sozialräumlichen Grundprinzip „Orientierung am Willen der Menschen“. • Die Aufgabe der Mitarbeiter besteht dann darin, entsprechende Maßnahmen zu entwickeln (operative Planung) und umzusetzen. • Die hierfür notwendigen Ressourcen müssen von der Leitung zur Verfügung gestellt werden. Sie trifft die entsprechenden Entscheidungen. In der folgenden Abbildung werden die unterschiedlichen Rollen der Akteure dargestellt (Abb. 5).

Planung und Implementierung von sozialraumorientierten …

Leitung:

Steuerungsgruppe:

• Entscheidung • Ressourcenplanung • Organisation • (Steuerungsebene)

• Koordination, Verbindungsglied • Vorbereitung der Zielplanung • (Koordinierung)

Mitarbeiter:

Menschen mit Behinderung:

• Maßnahmenplanung • Umsetzung • (operative Ebene)

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• stehen im Mittelpunkt der strategischen Zielplanung • (strategische Ebene)

Abb. 5   Akteure. (Quelle: eigene Darstellung)

3.3 Prozessgestaltung Bei der Gestaltung des Prozesses wird deutlich, wie diese Rollen ineinander greifen. In einem ersten Schritt werden die Mitarbeiter der Einrichtungen im Rahmen von „Kick off“-Veranstaltungen in das Themenfeld Sozialraumorientierung eingeführt. Anschließend werden in Arbeitsgruppen bereits gefundene Problemlösungen diskutiert. Danach geht es um die Schwachpunkte der Organisationen (Unfreezing). In einem zweiten Schritt werden Steuerungsgruppen implementiert, um sozialraumorientierte Ansätze zu entwickeln. In diesen Steuerungsgruppen wirken

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L. Kolhoff

VertreterInnen aus dem stationären und dem ambulanten Bereich, dem Fachdienst und der Mitarbeitervertretung ebenso mit wie VertreterInnen der Leitungsebene. Die Steuerungsgruppen bekommen den Auftrag, 10 bis 12 Monate zu arbeiten und kurz- und mittelfristige Ziele für einen Zeitraum von 3 bis 5 Jahren zu formulieren (Moving). Sie erstellen in einem ersten Schritt eine Grobplanung und diskutieren, wie die Menschen mit Behinderung, MitarbeiterInnen und Leitung in den Entwicklungsprozess eingebunden werden können. Die Steuerungsgruppen begeben sich in die Perspektive der Menschen mit Behinderung und entwickeln mögliche Ziele aus Sicht der Menschen mit Behinderung. Die ermittelten Ziele werden jeweils zu vier (deduktiven) Oberthemen geclustert. Es wird somit ein Vorverständnis hergestellt, um in einem nächsten Schritt die Perspektive der Menschen mit Behinderung berücksichtigen und die strategische Planung gemeinsam mit den Menschen mit Behinderung entwickeln zu können (Moving). Um zu erfassen, „was die Menschen mit Behinderung wollen“, wird das Verfahren des World Cafés gewählt, an dem ein repräsentativer Querschnitt (körperliche, geistige, psychische Behinderung) der ambulant bzw. stationär betreuten Menschen mit Behinderung teilnimmt. Durch diese Art der „Gruppendiskussion“ können die individuellen Meinungen Einzelner erfasst werden, die durch Diskussion mit anderen Teilnehmenden spontaner, unkontrollierter und durch Bezugnahme auf differenzierte Ansichten zudem deutlicher zum Ausdruck gebracht werden können (vgl. Liebig und Nentwig-Gesemann 2009, S. 103). Die Auswahl der Menschen mit Behinderung, die an den World Cafés teilnahmen, erfolgt durch eine Mischung von zufälliger und bewusster Auswahl durch die Fachkräfte in den Einrichtungen, die mündlich oder schriftlich einladen und Einzelne gezielt ansprechen. Im Ergebnis nehmen jeweils 50 bis 80 Menschen mit Behinderung am World Café teil. Zu Beginn erfolgt die Begrüßung durch eine Leitungsperson sowie eine Vorstellung des World Cafés und eine Einführung in den Tag. Nach der Begrüßung erhält jeder Teilnehmende nach dem Zufallsprinzip einen farbigen Stift. Für jede Farbe steht ein Tisch zu einem der vier von der Steuerungsgruppe geclusterten Oberthemen zur Verfügung. Mithilfe der farbigen Stifte erfolgt die Zuteilung zu den Thementischen, die mit Papier belegt sind. Die Moderatoren (je zwei Personen aus der Steuerungsgruppe) weisen zu Beginn in die Arbeitsweise ein und moderieren die Diskussionsrunden mit vorab festgelegten Leitfragen. Im ­Verlauf des World Cafés werden an allen Tischen unterschiedliche Themen in zwei aufeinanderfolgenden Diskussionsrunden (jeweils 12 bis 20 Teilnehmerinnen) bearbeitet. Eine Diskussionsrunde dauert in etwa 45 min, sodass im Ergebnis innerhalb von 90 min an jedem Thementisch etwa 25–40 Menschen mit

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Behinderung ihre Bedarfe äußern und zu Papier bringen können. Aufgabe der Moderatoren ist es, bei Bedarf Aussagen zu verschriftlichen und somit unterstützend zu wirken. Nach Beendigung der ersten Phase findet eine kurze Pause statt. Dann wechseln die Teilnehmer an einen anderen Thementisch. Nach der zweiten Phase erfolgt eine Vernissage, in der alle Teilnehmenden die Möglichkeit bekommen, an den Tischen, an denen sie nicht mitdiskutiert haben, Dinge zu ergänzen. Abschließend erfolgt die Verabschiedung der Teilnehmenden und das offizielle Ende der Durchführung des World Cafés. Die Ergebnisse des World Cafés werden von der Steuerungsgruppe ausgewertet und münden in eine Zielplanung. Gemäß den Grundzügen der Sozialraumorientierung stehen die Menschen mit Behinderung im Mittelpunkt der Zielplanung. Es wird eine Prioritätenliste erstellt. • Priorität 1 haben die Ziele, die von den Menschen mit Behinderung häufig genannt worden sind (quantitativ) oder die qualitativ von der Steuerungsgruppe so interpretiert werden, dass sie besonders wichtig sind. • Priorität 2 haben die Punkte, die wenig genannt wurden oder die von der Steuerungsgruppe als weniger wichtig interpretiert werden. Diese Zielplanung wird den Mitarbeitern der Einrichtungen im Rahmen von Zukunftswerkstätten vorgestellt (Unfreezing, Moving). Die Zukunftswerkstatt ist durch die Phasen 1. Kritik, Bestandsaufnahme, 2. Utopie, Fantasie 3. Verwirklichung, Praxis gekennzeichnet. 1. Kritik, Bestandsaufnahme In der ersten Phase erfolgt in den Zukunftswerkstätten eine kritische Bestandsaufnahme der Aktivitäten zum Themenfeld Inklusion und Sozialraumorientierung. Es wird gefragt: Was brauchen Menschen mit Behinderung, damit sie selbst bestimmen können? Was kann die Einrichtung tun, um Menschen mit Behinderung zu unterstützen? Wie können Hindernisse (Barrieren) beseitigt werden, damit Menschen mit Behinderung so leben können, wie sie es wollen? Was brauchen Menschen mit Behinderung, damit es ihnen da, wo sie leben bzw. leben wollen, gut geht?

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2. Utopie In der zweiten Phase werden die Ziele und Visionen vorgestellt, die von den Menschen mit Behinderung im World-Cafè entwickelt wurden. Die Mitarbeiter knüpfen hier an und entwickeln zu den Zielen Maßnahmen, die operative Planung (Moving). 3. Verwirklichung In Arbeitsgruppen werden die Maßnahmen und Vorschläge weiter konkretisiert und Planungsübersichten erstellt. In den Planungsübersichten wird aufgelistet, was (Maßnahme), warum (Ergebnisziele), wozu (Rahmenziel), womit (Ressourcen), wann (Zeitschiene) von wem (Organisationsperspektive) umgesetzt werden soll. Die Planungsübersichten werden von der Steuerungsgruppe gesichtet, ergänzt und bewertet. Die Organisationsleitungen entscheiden auf dieser Basis, was wann und wie realisiert werden kann. Sie stellen die Ressourcen, also Zeit, Gelder und Mitarbeiter zur Verfügung und passen die Organisationsstrukturen an die neuen Anforderungen an. Die Ergebnisse des Prozesses werden den Menschen mit Behinderung und den Mitarbeitern in einer Kick-off-Veranstaltung zur Umsetzung präsentiert (Refreezing) (Abb. 6).

Kick-off Veranstaltung zur Planung

Menschen mit Behinderung: Zielplanung

Steuerungsgruppe: Abstimmung der Zielplanung

Mitarbeiter: Maßnahmenplanung

Steuerungsgruppe: Feinplanung, Projektübersicht

Steuerungsgruppe: Vorschläge zur Ressourcenplanung und zur Organisationperspektive

Geschäftsleitung:

Steuerungsgruppe

•Entscheidung •Ressourcenplanung •Organisation

• Vorbereitung der Kick-Off veranstaltung zur Umsetzung

Abb. 6   Prozessgestaltung. (Quelle: eigene Darstellung)

Kick-off Veranstaltung zur Umsetzung

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Literatur Galetzka, S., & Liersch, C. (2016). Schulspezische Erhebungen in den Grundschulen Altmühlstraße, Rheinring und Bebelhof. In L. Kolhoff & C. Gebhardt (Hrsg.), Stadtteil in der Schule (S. 83–128). Wiesbaden: Springer VS. Hinte, W., & Treeß, H. (2014). Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe (3. Aufl.). ­Weinheim: Beltz Juventa. Kolhoff, L. (2003). Analyse und Entwicklung von Organisationen im sozialen Sektor. Augsburg: Ziel. Kolhoff, L. (2013). Gewandelte Strukturen brauchen verändertes Denken. SOZIALwirtschaft, Zeitschrift für Führungskräfte in sozialen Unternehmungen, 3, 36–37. Kolhoff, L. (2016). Planung der Prozessevaluation. In L. Kolhoff & C. Gebhardt (Hrsg.), Stadtteil in der Schule (S. 143–230). Wiesbaden: Springer VS. Kolhoff, L. (Hrsg.). (2018). Sozialraumorientierte Schulsozialarbeit – Prozess- und Wirkungsevaluation des Modellprojekts „Stadtteil in der Schule“. Wiesbaden: Springer VS. Kolhoff, L., & Gebhardt, C. (Hrsg.). (2016). Stadtteil in der Schule. Wiesbaden: Springer VS. Liebig, B., & Nentwig-Gesemann, I. (2009). Gruppendiskussion. In S. Kühl, P. Strodtholz, & A. Taffertshofer (Hrsg.), Handbuch Methoden der Organisationsforschung. Quantitative und Qualitative Methoden (S. 102–123). Wiesbaden: VS Verlag. Marschik, N. (2016). Allgemeine Erhebungen in den Sozialräumen der Grundschulen Altmühlstraße, Rheinring und Bebelhof. In L. Kolhoff & C. Gebhardt (Hrsg.), Stadtteil in der Schule (S. 43–82). Wiesbaden: Springer VS.

Teil III Finanzielle Ressourcen der Sozialwirtschaft

Öffentliche Finanzierung der Sozialwirtschaft Ludger Kolhoff

Zusammenfassung

In diesem Aufsatz werden die Grundstrukturen der öffentlichen Finanzierung der Sozialwirtschaft skizziert. Die öffentliche Finanzierung der Sozialwirtschaft kann direkt über Zuschüsse, als institutionelle oder Projektförderung, oder indirekt über Leistungsentgelte für Leistungen erfolgen. Öffentliche Mittel können bewilligt, ausgehandelt oder vergeben werden. Bei Bewilligungsverfahren sind die freien von den öffentlichen Trägern abhängig, bei Aushandlungsverfahren besteht ein Spielraum der „gemeinsamen Gestaltung“, und bei Vergabeverfahren geht es darum, den Vergabekriterien zu entsprechen.

1 Einleitung Der dänische Soziologe Gosta Esping-Andersen hat 1990 einen der Klassiker der Theorie des Sozialstaates geschrieben. Er unterscheidet zwischen einem nordisch sozialdemokratischen, einem kontinentaleuropäisch konservativen und einem Dieser Aufsatz sowie der im Rahmen der Tagung ‚Finanzielle Ressourcen der Sozialwirtschaft‘ am 17.11.2017 an der ASH/Berlin gehaltene Vortrag basieren auf der Publikation: Kolhoff, L. (2017): Finanzierung der Sozialwirtschaft- Eine Einführung, 2. vollständig überarbeitete Auflage, Wiesbaden: Springer VS. L. Kolhoff ()  Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Hochschule Braunschweig/Wolfenbüttel, Wolfenbüttel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_8

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Abb. 1   Struktur der Sozialleistungen nach Leistungsarten 2016. (Quelle: http://www.sozialpolitik-aktuell.de [Zugriff 10.01.2018])

angelsächsisch liberalen Wohlfahrtsmodell (Esping-Andersen 1990). Der skandinavische Wohlfahrtstaat wird durch Steuern und der kontinentaleuropäisch konservative Sozialstaat überwiegend durch Beiträge finanziert. Das angelsächsische Modell orientiert sich am Markt. Der konservative Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland finanziert sich vornehmlich durch die Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in die gesetzlich geregelten Sozialversicherungen, auch wenn eine Kofinanzierung durch Steuern erfolgt. Mittlerweile fließt über ein Drittel des Bundeshaushaltes in Sozialausgaben (Abb. 1). Neben den Sozialversicherungen als den wichtigsten Kostenträgern der Sozialwirtschaft sind insbesondere die Kommunen (Landkreise und kreisfreien Städte) als Kostenträger der Jugend- und Sozialhilfe zu nennen. Sie finanzieren sich über Steuereinnahmen und öffentliche Zuweisungen. Die wichtigsten Einnahmequellen der Kommunen sind neben der Grundsteuer und Gewerbesteuer die auf sie entfallenden Anteile an der Einkommens- und Umsatzsteuer. Während sich die Westkommunen zum überwiegenden Teil über Steuern, Beiträge und Gebühren finanzieren, ist der Anteil der Zuweisungen bei den Ostkommunen signifikant höher, wie in den beiden folgenden Abbildungen gezeigt wird (Abb. 2 und 3).

Öffentliche Finanzierung der Sozialwirtschaft

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Abb. 2   Struktur der Einnahmen des Verwaltungshaushaltes der westdeutschen Kommunen. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Kommunalfinanzen [Zugriff 10.01.2018])

Abb. 3   Struktur der Einnahmen des Verwaltungshaushaltes der ostdeutschen Kommunen. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Kommunalfinanzen [Zugriff 10.01.2018])

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2 Direkte und indirekte Finanzierung Die Kostenträger der Sozialwirtschaft finanzieren die Einrichtungen der Sozialwirtschaft direkt über öffentliche Zuwendungen und weit überwiegend indirekt über Leistungsentgelte für Leistungen, die anspruchsberechtigen Leistungsempfängern gewährt werden.

2.1 Direkte Finanzierung Zuschüsse sind direkte Geldleistungen, die durch Bundes-, Landes- und Kommunalmittel und Mittel aus den europäischen Strukturfonds erfolgen. Der Bund spielt aus verfassungsrechtlichen Gründen eine eher untergeordnete Rolle. Die direkte Bezuschussung kann sich auf die Einrichtung als Ganzes beziehen (institutionelle Förderung) und Zuschüsse zum laufenden Betrieb und/oder Investitionszuschüsse umfassen oder sich auf zeitlich und inhaltlich abgrenzbare Vorhaben beziehen (Projektförderung) (Abb. 4). Eine Einrichtung wird als Ganzes gefördert, wenn ein öffentliches Interesse besteht. Anders als bei der Projektförderung besteht dann keine genaue Zweckbindung der Mittel. Gefördert wird die satzungsgemäße Wahrnehmung der Aufgaben durch den Empfänger. Auf die Tätigkeit im Einzelnen nimmt der

Zuschussarten Institutionelle Förderung, zur Deckung der gesamten oder eines nicht abgegrenzten Teils der Ausgaben Projekförderung zur Deckung von Ausgaben für einzelne abgegrenzte, noch nicht begonnene Vorhaben

Abb. 4   Zuschussarten. (Quelle: eigene Darstellung)

Öffentliche Finanzierung der Sozialwirtschaft

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Zuschussgeber keinen Einfluss. Die Einflussnahme beschränkt sich auf fiskalische, haushaltsrechtliche Aspekte (Niemeier 2006, S. 159). Obgleich die institutionelle Förderung (wie auch die Projektförderung) lediglich für ein Haushaltsjahr bewilligt wird, bedeutet sie häufig eine Dauerverpflichtung, obwohl kein Rechtsanspruch auf eine Anschlussbewilligung besteht. Oftmals aber kann eine institutionelle Förderung nur dann eingestellt werden, wenn die Institution aufgelöst wird oder ein anderer Zuschussgeber die Förderung übernimmt. Da die institutionelle Förderung über einen längeren Zeitraum erfolgt, wird sie wesentlich kritischer überprüft als die Projektförderung. Der Träger muss einen Finanzierungsplan, einen Wirtschaftsplan, eine Einnahmen- und Ausgabenrechnung, einen Organisations- und Stellenplan und ein Konzept sowie eine Maßnahmenplanung zur Qualitätssicherung vorlegen. Zunehmend werden zeitlich und inhaltlich befristete Vorhaben (Projekte) statt Institutionen finanziert. Der Anfangs- und der Endzeitpunkt eines Projekts sind eindeutig bestimmt, die zur Verfügung stehenden Mittel sind begrenzt und an das Projekt gebunden. Da eine genau definierte Aufgabe des Zuwendungsempfängers gefördert wird, kann eine stärkere Ausrichtung am konkreten Interesse des Zuwendungsgebers erfolgen, als dies bei der institutionellen Förderung der Fall ist (Abb. 5). Zuwendungen können als Voll- oder Anteils-, Festbetrags- und Fehlbedarfsfinanzierung vergeben werden (Abb. 6).

Abb. 5   Kriterien der Projektabgrenzung. (Quelle: eigene Darstellung)

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Finanzierungsarten Vollinanzierung • deckt die vollen Ausgaben ab

Anteilsinanzierung • inanziert wird ein bestimmter Prozentsatz der Gesamtkosten

Festbetragsinanzierung • inanziert wird ein Betrag in bestimmter Höhe:

Fehlbedarfsinanzierung • inanziert wird die Deckungslücke zwischen den Ausgaben und den eigenen und/oder fremden Mitteln

Abb. 6   Finanzierungsarten. (Quelle: eigene Darstellung)

Eine Vollfinanzierung deckt die vollen Ausgaben ab. Sie ist selten und nur dann möglich, wenn ein öffentliches Interesse vorliegt und die Erfüllung des öffentlichen Zwecks sich nicht anders realisieren lässt. In der Regel erfolgt eine Teilfinanzierung eines bestimmten Prozentsatzes der Gesamtkosten, sodass die Restsumme von weiteren Finanzierungsträgern kofinanziert werden muss. Auch ein Eigenanteil wird erwartet, der bspw. durch Mitgliedsbeiträge, Spenden, durch ehrenamtliche Tätigkeit oder kirchliche Zuwendungen erwirtschaftet werden kann. Der Zuschuss ist auf einen Höchstbetrag zu begrenzen. In der Regel ist aber eine Nachfinanzierung möglich, wenn Ausgabenerhöhungen nicht vom Zuwendungsempfänger zu verantworten sind. Wenn der Zuwendungsbetrag nicht ausgeschöpft wurde, muss der Restbetrag zurückgezahlt werden. Unter einer Festbetragsfinanzierung versteht man, dass die Förderung einem festen, nicht veränderlichen Betrag entspricht. Der Festbetrag ist nicht veränderbar, auch wenn die zuwendungsfähigen Ausgaben tatsächlich höher oder niedriger ausfallen als der bewilligte Zuwendungsbetrag. Für den Fall, dass das Vorhaben kostengünstiger zu realisieren ist, verbleiben die ­ Mittel beim Z ­uwendungsempfänger (Teske 2006, S.  63). Dies bedeutet für den ­Zuwendungsgeber, dass er sich überlegen muss, ob der Finanzierungsplan realistisch ist und welchen Betrag er zur Verfügung stellen will. Im Gegenzug wird er bei der Prüfung des Finanzverwendungsnachweises entlastet. Er muss nämlich

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nicht im Einzelnen prüfen, ob der Finanzierungsplan eingehalten wurde (Teske 2006, S. 63 f.). Folglich führt der Einsatz der Festbetragsfinanzierung auch zu einer Verwaltungsvereinfachung und somit zu einer Entlastung der Exekutive. Mit der Fehlbedarfsfinanzierung wird die Finanzierungslücke abgedeckt, die nach Ausschöpfung aller anderen Finanzierungsquellen verbleibt. Sie kann nur dann erfolgen, wenn keine Deckung aus eigenen Mitteln oder mit Hilfe von dritter Seite erfolgen kann und wenn vonseiten des Zuwendungsgebers ein erhebliches Interesse an der Durchführung der Maßnahme besteht. Die Fehlbedarfsfinanzierung kann auch in Form einer Anteilsfinanzierung erfolgen, z. B. wenn verschiedene Zuwendungsgeber den Fehlbedarf gemeinsam tragen. Für Teske werden durch die Fehlbedarfsfinanzierung falsche ökonomische Anreize gesetzt, denn der Empfänger einer Zuwendung, der zusätzliche Eigenmittel erwirtschaftet, hat nichts von seinem Erfolg, da dies zu einer Reduktion der Zuwendung führt. Folglich wird er keine weiteren Drittmittel einwerben (Teske 2006, S. 63).

2.2 Indirekte Finanzierung Da aufgrund sozialrechtlicher Bestimmungen in der Regel nicht die Träger, sondern die Leistungsempfänger anspruchsberechtigt sind, wird die Sozialwirtschaft überwiegend (indirekt) durch Leistungsentgelte finanziert, die im Rahmen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses von den Kostenträgern übernommen werden. Die folgende Grafik verdeutlicht die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Sozialleistungsträger (Kostenträger), der sozialen Einrichtung bzw. dem sozialen Dienst (Leistungserbringer) und dem Klienten (Leistungsempfänger) (Abb. 7):

Leistungsempfänger Leistungsverpflichtung

Kostenverpflichtung Leistungserbringer

Leistungsverpflichtung Leistungsanspruch

Leistungsverpflichtung z. B. zugunsten eines Heimbewohners Leistungszusage : Übernahme der Kosten

Abb. 7   Sozialrechtliche Dreiecksverhältnis. (Quelle: eigene Darstellung)

Kosten träger

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Leistungsempfänger

Kostenträger

•Vertragsverhandlung (Was wird genau wie geleistet?)

Leistungserbringer

Abb. 8   Einkaufsmodell. (Quelle: eigene Darstellung)

Durch das Dreiecksverhältnis der Leistungserbringung werden Sachleistungen finanziert, doch in einigen Bereichen der Sozialwirtschaft können Anspruchsberechtigte statt einer Sach- eine Geldleistung wählen, mit der sie soziale Dienstleistungen am Sozialmarkt frei einkaufen können. Das folgende Schaubild verdeutlicht das Einkaufsmodell (Abb. 8). In der Pflege können Anspruchsberechtigte ein Pflegegeld erhalten, wenn sie hiermit die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung sicherstellen können. Obwohl das Pflegegeld nur ca. die Hälfte des Wertes der Pflegesachleistung beträgt, wird es mehrheitlich gewählt. Somit erfolgt die Versorgung Pflegebedürftiger vor allem durch Angehörige, die Arbeitsleistung auch durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Es wird ein informeller Sektor der sozialen Dienstleistungen finanziert, seien es Nachbarn oder Familienangehörige oder aber preiswerte, illegal tätige Pflegekräfte aus Mittel- und Osteuropa. „In 10% der Haushalte arbeiten osteuropäische Frauen in Schwarzarbeit, so schätzt das Institut für angewandte Pflegeforschung. Ohne die Schwarzarbeit der osteuropäischen Frauen würde die ambulante Pflegestruktur zusammenbrechen und die zu Hause Gepflegten müssten in ein Pflegeheim“ (FAS 08.08.2010, S. 5). In der Behindertenhilfe können Menschen mit Behinderung über einen Geldbetrag für Teilhabeleistungen (Persönliches Budget) verfügen. Durch das Persönliche Budget soll die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung gestärkt werden. Sie sollen in die Lage versetzt werden, Angebote zu nutzen, die ihren

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individuellen Bedürfnissen entsprechen. Wenn sich Menschen mit Behinderung für das Persönliche Budget entscheiden, werden sie zu Käufern, Kunden und manchmal auch zu Arbeitgebern, das heißt, die Leistungserbringer stehen in keinem Vertragsverhältnis mehr zum Kostenträger, sondern nur noch zum Leistungsempfänger. Das Gutscheinmodell ist eine Sonderform des Einkaufsmodells. Das Modell wird z. B. im SGB III, im SGB XII und im SGB II umgesetzt. So kann, wer die Voraussetzungen des § 81 Abs. 1 und 2 SGB III erfüllt, einen Bildungsgutschein von der Agentur für Arbeit erhalten. Dieser kann zeitlich befristet für einen bestimmten Bildungszweck ausgerichtet und regional beschränkt erteilt werden. Vom Grundsatz her kann der Inhaber eines Bildungsgutscheins frei wählen, an welchen zugelassenen Weiterbildungsträger er sich wendet, doch muss die Wahl des Weiterbildungsträgers mit dem Bildungsziel, den Qualifizierungsschwerpunkten und der vorgesehenen maximalen Weiterbildungsdauer übereinstimmen. Ziel der Einführung von Bildungsgutscheinen ist mehr Wettbewerb zwischen den Bildungsträgern und eine gesteigerte Qualität in der Weiterbildung. Da Bildungsgutscheine nur so lange verteilt werden, wie finanzielle Mittel für die Förderung beruflicher Weiterbildung zur Verfügung stehen, ist die Existenz der Träger von der Prioritätensetzung der Bundesagentur und ihrer finanziellen Situation abhängig. Das SGB XII und das SGB II regeln die Vergabe von personalisierten Gutscheinen für Bildungs- und Teilhabeleistungen, wie z. B. „schulische Angebote ergänzende Lernförderungen“ für bedürftige Schülerinnen und Schüler. In Hamburg wird das Gutscheinmodell im Kita-Bereich angewandt. Eltern können Gutscheine bei einer Kita ihrer Wahl einreichen. Sie haben den Gutschein zuvor bei der zuständigen Behörde beantragt. Die Kita rechnet über den Gutschein mit dieser Behörde ab. (Die Tageseinrichtungen bekommen von der Stadt nur für die tatsächlich betreuten Kinder Entgelte. Sie müssen deshalb mit ihrem Angebot flexibel auf die Anforderungen von Kindern und Eltern reagieren und mit hoher Qualität überzeugen.) Die folgende Grafik stellt den Ablauf des Einsatzes von Gutscheinen am Beispiel der Verwendung im Kita-Bereich dar. Die Eltern müssen demnach zunächst einen Antrag beim Jugendamt ihrer Kommune stellen, dieser wird mit den Steuerungsvorgaben des Senats und den Budgetvorgaben der jeweiligen Fachbehörde abgeglichen, woraufhin die Antragssteller bei Erfüllung der Antragsvoraussetzungen den Gutschein ausgehändigt bekommen. Diesen Gutschein können die Eltern dann bei einer Kita ihrer Wahl einlösen, welche wiederum den Gutschein an die zuständige Fachbehörde weiterleitet, um von dieser ihre Leistungen in Form eines Entgeltes erstattet zu bekommen (Abb. 9).

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Abb. 9   Gutscheinmodell. (Quelle: Brinkmann 2010, S. 181)

3 Bewilligung, Aushandlung, Vergabe Öffentliche Mittel für die Sozialwirtschaft werden bewilligt, ausgehandelt oder vergeben. Zuwendungen werden bewilligt, Leistungsentgelte und kommunale Subventionen ausgehandelt und öffentliche Aufträge auf der Grundlage von Ausschreibungen vergeben. Bei Bewilligungsverfahren sind die freien von den öffentlichen Trägern abhängig. Sie haben nur die Möglichkeit, auf Gleichbehandlung zu klagen. Bei Aushandlungsverfahren besteht ein Spielraum der „gemeinsamen Gestaltung“ und bei Vergabeverfahren geht es darum, den Vergabekriterien besser zu entsprechen als die Konkurrenz.

3.1 Bewilligung Zuwendungen, d. h. Geldleistungen von Bund und Ländern, werden auf der Grundlage haushaltsrechtlicher Bestimmungen bewilligt. Sie sind für Bund und Länder ein Mittel zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Zuwendungen können aufgrund eines staatlichen Hoheitsaktes, in Form eines Verwaltungsaktes oder in Form eines öffentlich-rechtlichen Vertrages zur Verfügung gestellt werden. Sie können als Darlehen gewährt werden, wenn die Anschaffung bzw. Herstellung langfristig nutzbarer Güter gefördert werden soll. Es sind unterschiedliche Förder- (Projektförderung oder institutionelle Förderung) und Finanzierungsarten (Vollfinanzierung, Anteilsfinanzierung, Fehlbedarfsfinanzierung, Festbetragsfinanzierung) zu verzeichnen.

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Die Bewilligung von Zuwendungen erfordert einen Zuwendungsantrag, der das öffentliche Anliegen verdeutlicht. Dem Antrag muss eine entsprechende Kostenkalkulation beigefügt sein. Zuwendungsfähig sind alle Ausgaben, die zur Erreichung des Zuwendungszwecks innerhalb des Bewilligungszeitraums notwendig sind. Basierend auf dem Antrag werden die Höhe und die Finanzierungsart bestimmt und im Zuwendungsbescheid unter der Auflage der sparsamen Mittelverwendung bewilligt. Zuwendungen können zweckgebunden oder auch ohne Zweckbindung bewilligt werden (Abb. 10).

Beantragung der Zuwendung

Zuwendungsbescheid

Widerspruch

ja

Bearbeitung im Widerspruchsausschuss

nein Zuwendungsbescheid erlangt Bestandskraft (Voraussetzung für die Auszahlung)

ja

nein Klage beim Verwaltungsgericht

nein Abrechnung der Zuwendung/ Verwendungsnachweis

nein

Prüfung des Verwendungsnachweises durch Bewilligungsbehörde und Anhörung des Zuwendungsempfängers

Rückforderung von Mitteln

Widerspruch wird stattgegeben

ja

Rückforderungsbescheid

nein nein

Widerspruch ja

Ende des Vorganges: Belege und Verträge sowie alle mit der Förderung zusammenhängenden Unterlagen sind 5 Jahre nach Vorlage des letzten Verwendungsnachweises aufzubewahren, sofern nicht nach steuerrechtlichen oder anderen Vorschriften eine längere Aufbewahrungsfrist bestimmt ist.

Bearbeitung im Widerspruchsausschuss Widerspruch wird stattgegeben ja

Abb. 10   Verfahrensablauf der Zuwendungsfinanzierung. (Quelle: Diakonisches Werk der EKD 1993, S. 292)

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Auf Zuwendungen besteht grundsätzlich kein Rechtsanspruch. Der Zuwendungsgeber hat jedoch immer den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Grundgesetz zu beachten und muss Sorge tragen, dass die Verteilung gleichmäßig erfolgt. Hierüber wird im Rahmen des „Ermessens“ von der Verwaltung entschieden. Falls jemand den Eindruck hat, dass der Gleichheitsgrundsatz verletzt wurde, kann er dagegen mit einer Konkurrentenklage vorgehen. Die Konkurrentenklage kann als positive Konkurrentenklage oder als negative Konkurrentenklage erfolgen. Bei der positiven Konkurrentenklage erhebt der Kläger den Anspruch, in die Förderung einbezogen zu werden. Bei der negativen Konkurrentenklage geht es nicht um die eigene Förderung, sondern um die Nichtförderung eines Konkurrenten.

3.2 Aushandlung In vielen Feldern der Sozialwirtschaft bestehen Aushandlungsmöglichkeiten. Bspw. kann in Entgeltverhandlungen die Höhe der Leistungsentgelte in der Kinder- und Jugend- und in der Sozialhilfe mit den kommunalen Kostenträgern ausgehandelt werden. Neben der örtlichen kommunalen ist auch die überörtliche Ebene zu berücksichtigen, denn auch die überörtlichen Träger der Sozialhilfe (z. B. in Niedersachsen das Land Niedersachsen, in Nordrhein-Westfalen die Landschaftsverbände und in Bayern die Bezirke) schließen Leistungs-, Entgelt- und Prüfungsvereinbarungen direkt mit den Leistungserbringern ab. Auch die Landesebene ist zu beachten, denn auf Landesebene werden Rahmenverträge abgeschlossen, um die Rahmenbedingungen von Leistungen hinsichtlich entsprechender Vergütungs-, Qualitäts- und Prüfungsfragen sowie Fragen zu Organisation und Verfahren zu regeln. Ziel ist es, Leistungsanbieter relativ einheitlich zu behandeln und Bevorzugungen und Benachteiligungen am Markt auszuschließen. Mit den Verbänden und den öffentlichen Kostenträgern wird die Regelungstiefe der Verträge vereinbart. In Landesrahmenverträgen werden die Grundprinzipien der Entgeltkalkulation unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit vereinbart. Rahmenverträge sind Mustervorlagen für die angestrebten Entgeltverhandlungen. Zwar gibt es auch eine ganze Anzahl von Leistungsvereinbarungen, die ohne Bezug auf Rahmenverträge als einzelvertragliche Regelung zustande gekommen sind. Doch der überwiegende Teil basiert auf Rahmenverträgen. Auch bei der Gewährung kommunaler Subventionen bestehen Gestaltungsmöglichkeiten, denn die Gewährung kommunaler Subventionen erfolgt aufgrund von politischen Entscheidungen. Vertreter der Sozialwirtschaft können Einfluss nehmen, sei es bei der Aufstellung von Haushaltsplänen durch Verhandlungen mit

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Entscheidungsträgern der Verwaltung oder wenn sie über ihre Vertreter in Fachausschüssen auf Entscheidungsprozesse einwirken.

3.3 Vergabe Im Bereich des SGB II und SGB III bestehen Vergabeverfahren für öffentliche Aufträge auf der Grundlage von Ausschreibungen. Ausschreibungen können offen oder beschränkt sein. Bei der offenen Ausschreibung können alle ­Interessierten ein Angebot abgeben. Bei der beschränkten Ausschreibung werden ausgewählte Einrichtungen aufgefordert, ein Angebot abzugeben. Damit auch kleine und mittlere Unternehmen der Sozialwirtschaft an Ausschreibungen teilnehmen können, werden z. B. im Bereich arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen Aufträge in Lose zerlegt. Die Ausschreibungen der regionalen Einkaufszentren (REZ) der Bundesagentur für Arbeit erfolgen auf der Grundlage der Verdingungsordnung für Leistungen (VOL). Die Arbeitsagentur schreibt aus und die sozialen Einrichtungen bewerben sich. Angebote werden nach Qualitäts-, aber auch nach Kostengesichtspunkten geprüft. Der Preis ist zwar nicht das alleinige, dennoch ein entscheidendes Kriterium. Die folgende Grafik dient der Veranschaulichung des Prozesses einer öffentlichen Ausschreibung (Abb. 11).

4 Anschlussfähigkeiten herstellen Da die Sozialwirtschaft von öffentlichen Mitteln abhängig ist, gilt es, Anschluss zu den für die Sozialwirtschaft wichtigen Funktionssystemen der Gesellschaft, Politik und Verwaltung herzustellen, um Ressourcenflüsse zu sichern. Die Politik orientiert sich am Code der Macht. Macht wird im demokratischen Gemeinwesen durch Wahlen legitimiert. Folglich gilt es politisch zu agieren, d. h. politische Entwicklungen wahrzunehmen und in einem für die jeweilige Einrichtung positiven Sinne mitzugestalten. Dies kann im Rahmen von Parteiarbeit oder durch Lobbyarbeit in Verbänden und informellen Netzen erfolgen. Insbesondere sind enge Kontakte zu politischen Entscheidungsträgern hilfreich, um Ressourcenzuflüsse zu sichern. Doch auch politische Aktionen, Demonstrationen, öffentliche Rede oder gute Kontakte zu Medien können sich positiv auswirken.

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Abb. 11   Ausschreibungsverfahren. (Quelle: http://www.unitracc.com/mediathek/structure/ nodomain/vergaberecht-oeffentliche-ausschreibung. [Zugriff: 10.01.2018])

Neben der Politik ist insbesondere das Funktionssystem der Verwaltung zu beobachten und zu beachten. Die Verwaltung richtet sich am Code „formale Vorschriften“ aus. Nicht nur Sozialarbeiter/innen haben die Erfahrung gemacht, dass sie mit inhaltlichen Argumenten nicht weiterkommen, wenn die Verwaltung bspw. erklärt, dass sie rein formal nicht zuständig ist.

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Zwar ist die Sozialwirtschaft von öffentlichen Mitteln abhängig, deren Vergabe politisch oder formal geregelt wird. Gleichzeitig sind aber auch Marktmechanismen aufgebaut worden. Die Einrichtungen der Sozialwirtschaft befinden in einem Mix aus politischen, Verwaltungs- und Marktstrukturen. Sie müssen politisch handeln, Verwaltungsstrukturen bedienen und formale Vorschriften ­ beachten und sich im Wettbewerb behaupten. Dabei befinden sich die Strukturen permanent im Fluss.

5 Aktuelle Veränderungen Die Tagung Finanzielle Ressourcen der Sozialwirtschaft dient dazu, auf aktuelle Veränderungen und Handlungsmöglichkeiten hinzuweisen. So sind die Sozialausgaben der Kommunen stark angestiegen, insbesondere, da die Eingliederungshilfe in den letzten zehn Jahren massiv gestiegen ist. Überlegungen, die Kommunen hier zu entlasten und das Bundesteilhabegesetz entsprechend finanziell auszugestalten, konnten nicht realisiert werden, da gleichzeitig vom Bund z. B. 2016 und 2017 rund um das Thema Asyl und Flüchtlingspolitik ca. 43 Mrd. € zur Verfügung gestellt werden mussten (BMF 2017). Sebastian Noll thematisiert die Dynamik der Behindertenhilfe und fragt, welche Auswirkungen das neue Bundesteilhabegesetz auf die Sozialwirtschaft hat und wie das Verhältnis zwischen Leistungsträger, Leistungsempfänger und Einrichtungen aussieht. Zuwächse gibt es auch in anderen Bereichen, beispielsweise im Bereich der privaten Überschuldung. Die Überschuldung von Privatpersonen hat seit 2014 zum vierten Mal in Folge zugenommen. Mehr als 6,9 Mio. Bürger im Alter von über 18 Jahren sind überschuldet (FAZ 10.01.2017). Susanne Vaudt widmet sich der Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung.

Literatur Brinkmann, V. (2010). Sozialwirtschaft. Grundlagen, Modelle, Finanzierung. Wiesbaden: Gabler. Bundesministerium für Finanzen (BMF). (2017). Monatsbericht des BMF, Jan. 2017. https:// www.bundesfinanzministerium.de/Monatsberichte/2017/01/Downloads/monatsbericht2017-01-deutsch.pdf?__blob=publicationFile&v=8. Zugegriffen: 10. Dez. 2017. Diakonisches Werk d. EKD. (Hrsg.). (1993). Leitfaden zur wirtschaftlichen Führung diakonischer Einrichtungen und Werke (2. Aufl.). Stuttgart: Diakonisches Werk d. EKD.

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Esping-Andersen, G. (1990). The three worlds of welfare capitalism. New Jersey: Princeton University Press. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS). (8. August 2010). Die Polin ganz legal, S. 5. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). (10. November 2017). Die Überschuldung ­deutscher Verbraucher nimmt zu. Kolhoff, L. (2017). Finanzierung der Sozialwirtschaft – Eine Einführung (2., vollständig überarbeitete Aufl.). Wiesbaden: Springer VS. Maelicke, B. (Hrsg.). (2006). Finanzierung in der Sozialwirtschaft. Baden-Baden: Nomos. Niemeier, H. P. (2006). Gestaltungsmöglichkeiten im Zuwendungsrecht. In B. Maelicke (Hrsg.), Finanzierung in der Sozialwirtschaft (S. 157–161). Baden-Baden: Nomos. Teske, W. (2006). Welchen Stellenwert haben öffentliche Zuwendungen für die zukünftige Finanzierung der Sozialwirtschaft? In B. Maelicke (Hrsg.), Finanzierung in der Sozialwirtschaft (S. 58–65). Baden-Baden: Nomos.

Finanzierung der Behindertenhilfe – Zu den Kräfteverschiebungen im sozialrechtlichen Leistungsdreieck durch das Bundesteilhabegesetz Sebastian Noll Zusammenfassung

Mit dem Bundesteilhabegesetz soll die Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderung ein großes Stück weiter verwirklicht werden. Im Bereich Wohnen ist dafür vorgesehen, dass die Leistungsempfänger sich selbst geeignete und von ihnen gewünschte Wohnsettings bei Leistungserbringern suchen. Für Letztgenannte könnte dies allerdings ein Mehr an Verwaltungsaufwand und unternehmerisches Risiko bedeuten. Die (über-)kommunalen Leistungsträger können im Unterschied dazu auf Entlastungen hoffen. Aber viele Fragen und Details sind bis zum Starttermin 2020 noch zu klären, beispielsweise wie eine neutrale Beratung und Begleitung der Menschen mit Behinderung aussehen könnte.

1 Einleitung Die Sozialgesetzbücher I bis -XII sind seit ihrem Bestehen ständigen Reformbemühungen und Weiterentwicklungen ausgesetzt. Derzeit trifft dies besonders auf die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung zu, für die das sogenannte Bundesteilhabegesetz (BTHG) erlassen wurde. Im Folgenden werden einleitend der Weg und ausgewählte Elemente dieser Reform skizziert. Im Mittelpunkt

S. Noll ()  Hochschule Mittweida, Mittweida, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_9

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stehen aber die Veränderungen, die das BTHG auf die Akteurskonstellation des sozialrechtlichen Leistungsdreiecks aus Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsempfänger haben dürfte. Exemplarisch wird am Gesetzesbestandteil der „Trennung von Leistungen“ im Bereich Wohnen zugespitzt argumentiert, dass die Seite des öffentlich-rechtlichen Leistungsträgers und auch die Menschen mit Behinderung als Leistungsempfänger von den Neuregelungen profitieren könnten, während die Leistungserbringer eher zu den Verlierern zählen dürften. Unbedingt zu beachten ist dabei aber vom heutigen Standpunkt aus (Juni 2018), dass gegenwärtig und in den Folgemonaten eine Vielzahl von Detailregelungen zur Konkretisierung und Umsetzung der BTHG-Elemente beschlossen werden, was noch zu Modifikationen des Dargestellten führen könnte. Zudem sind dem föderalen Staatsaufbau entsprechend unterschiedliche Regelungen in den 16 Bundesländern zu erwarten. Trotz dieser unklaren unmittelbaren Zukunft auf der Detailebene können aber Annahmen und Vermutungen angestellt werden, wie sich die Kernelemente des BTHG auswirken werden; der Praxistest dieser Annahmen wird in den nächsten Jahren erfolgen.

2 Das Bundesteilhabegesetz – Ein wichtiger Schritt zur Inklusion Menschen mit Behinderung und ihre Interessenvertreter kämpfen seit Jahrzehnten weltweit um mehr Anerkennung und vor allem um eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft. Dabei geht es um Chancengerechtigkeit, gleich ob eine Person eine Behinderung hat, von Behinderung bedroht ist oder nicht; die Gesellschaft hat sich letztlich so zu organisieren, dass Behinderung keine Rolle mehr spielt. Auch wenn dabei zweifelsohne im Laufe der Zeit beträchtliche Fortschritte erzielt wurden, bleibt die Inklusion ein Ideal, über das es zudem unterschiedliche Vorstellungen gibt. Trotzdem markierte das Jahr 2006 einen wichtigen Meilenstein: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschloss die sogenannte UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Diese fordert im Kern die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft weltweit. In der Folge mussten die Mitgliedsstaaten diesen Beschluss national anerkennen und in eigene Gesetze überführen; in Deutschland gilt die UN-BRK seit 2009. Aber es hat noch sieben Jahre gedauert, bis die UN-Behindertenrechtskonvention mit dem Bundesteilhabegesetz als nationales Recht kodifiziert wurde. Die Zielsetzung ist ambitioniert, laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird durch das BTHG „mit einem modernen Recht auf Teilhabe […] mehr individuelle Selbstbestimmung

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ermöglicht und der Mensch in den Mittelpunkt gestellt.“ (BMAS 2016, S. 2). Leitmotiv ist die Inklusion, das soll nicht zuletzt der Ort innerhalb der Sozialgesetzbücher widerspiegeln, in dem die Regelungen des BTHG eingefügt wurden – sie wurden herausgelöst aus dem dem Fürsorgegedanken verhafteten SGB XII und eingefügt in das SGB IX als Sozialgesetzbuch für Rehabilitation und Teilhabe. Nach langwierigen Verhandlungen und Anhörungen von Verbänden beschloss der Bundestag Ende 2016 das BTHG. Seinem beträchtlichen Regelumfang geschuldet, gilt eine insgesamt siebenjährige Übergangsfrist; erst ab 2023 wird es komplett zur Anwendung kommen. Hintergrund dieser langen Vorbereitungszeit bis zur Umsetzung ist neben der inhaltlichen Komplexität und Vielfalt auch die vertikale Komponente im Staatsaufbau. Denn der Bundestag hat quasi einen Rahmen beschlossen, der auf Länderebene befüllt werden muss. Derzeit sind die Sozialministerien sowie die Vertreter der unterschiedlichen Leistungsträger und Leistungserbringer in den Bundesländern damit beschäftigt, das BTHG auszugestalten und an ihre spezifischen Bedingungen vor Ort anzupassen. Dies geschieht in Form eigener Ausführungsgesetze und Verwaltungsverordnungen in Fragen, die rein staatlicher Steuerung bedürfen, sowie in Verhandlungen zu Landesrahmenverträgen zwischen Verbänden der Leistungsträger und Leistungserbringer. Diverse Detailregelungen der zukünftigen Finanzierung der Eingliederungshilfe sind Bestandteile dieser Verhandlungen. Seit dem Bekanntwerden der ersten Entwürfe ist das BTHG auch Kritik ausgesetzt. Vielfältige Akteure vor allem aufseiten der Leistungserbringer vermuten, dass mit dem BTHG langfristig die Ausgaben für die Eingliederungshilfe gesenkt werden sollen, so beispielsweise der Paritätische Landesverband MecklenburgVorpommern: „Das Gesetz insgesamt zielt vor allem auf Kostensenkung. Notwendige Unterstützungsleistungen, die heute gewährt werden, sollen eingeschränkt werden oder ganz wegfallen. Das Vertragsrecht soll verändert werden, sodass künftig einzig der niedrigste Preis, aber nicht die Qualität eines Angebots zählt.“ (Paritätischer Mecklenburg-Vorpommern 2017). Auch wenn in den offiziellen Entwürfen zum BTHG das Ziel der Kosteneinsparung nicht genannt wurde, mögen die zitierte Aussage des Paritätischen und die Einlassungen vieler anderer Akteure nicht vollkommen realitätsfern sein. Die Ausgaben für die Eingliederungshilfe sind von 11,3 Mrd. € im Jahr 2005 auf ca. 17 Mrd. € 2015 angewachsen – eine Steigerung von mehr als 50 % (Sozialpolitik aktuell 2017). Dies lässt, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Haushaltssanierung als politisches Leitmotiv auf allen staatlichen Ebenen (Stichwort „Schwarze Null“), das Ziel der Kostenkonsolidierung als weiteren Effekt des BTHG zumindest als wahrscheinlich erscheinen.

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3 Das BTHG und die Trennung von Leistungen Wie geschildert, umfasst das BTHG vielfältige Regelungsbereiche. Dabei werden sämtliche Lebens- und Altersbereiche von Personen tangiert, die Leistungen der Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen: von der Frühförderung für Kinder mit Behinderung oder von Behinderung bedrohter Kinder über die Teilhabe an Bildung und das Arbeitsleben bis zum Wohnen. Um die Ansprüche (potenzieller) Klienten angemessen einschätzen zu können, sollten Bedarfsermittlungsverfahren nach dem international anerkannten ICF-Verfahren (ICF = internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) eingeführt werden. Davon ausgehend ist vorgesehen, unter aktiver Beteiligung der Betroffenen eine individualisierte, personenzentrierte Leistungssystematik zu entwerfen.

3.1 Die bisherige Leistungsbeziehung beim „Wohnen“ Diese Individualisierung prägt auch die Trennung von Leistungen im Bereich Wohnen. Um die Veränderungen nachvollziehen zu können, wird zunächst der Ist-Zustand anhand des sozialrechtlichen Leistungsdreiecks in Abb. 1 verdeutlicht. Voraussetzung ist ein Rechtsanspruch eines Menschen mit Behinderung (nach SGB XII, §§ 53 ff.) gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Leistungsträger auf einen Platz in einem stationären Setting. Der (über-)kommunale Leistungsträger wird gemäß dem geltenden Subsidiaritätsprinzip einen geeigneten Leistungserbringer (meist einen freigemeinnützigen Anbieter) mit dieser Aufgabe betrauen und ihm diese finanzieren. Leistungsträger und Leistungserbringer gehen dazu ein öffentlich-rechtliches Vertragsverhältnis ein, in dem sie über die Leistung und deren Vergütung verhandeln und außerdem eine Prüfungsvereinbarung schließen. Laut Gesetzeslage und Rechtsprechung müssen diese Vereinbarungen „leistungsgerecht sein, also den Grundsätzen der Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entsprechen“ (Gerlach und Hinrichs 2018, S. 178). Was darunter genau zu verstehen ist, erweist sich erst in den Verhandlungen zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer vor Ort. In der Praxis existiert eine Spannbreite unterschiedlicher Entgeltsätze, gerade im überregionalen Vergleich kann für die gleiche Leistung auch das 1,5-fache oder noch mehr vergütet werden. Ausschlaggebend für diese Spannbreiten sind unterschiedliche Machtkonstellationen und Durchsetzungspotenziale der Akteure vor Ort, aber auch der makroökonomische Hintergrund einer Region bzw. eines Bundeslandes.

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Abb. 1   Stationäres Wohnen heute, dargestellt im sozialrechtlichen Leistungsdreieck. (Quelle: eigene Darstellung)

Im geltenden System verhandeln Leistungsträger und Leistungserbringer meist über die „Komplettversorgung“ eines Menschen mit Behinderung in einem Wohnheim. Zwar kann die Person in der Diagnostik- und Leistungseinstufungsphase nach dem Grundsatz des Wunsch- und Wahlrechts Einfluss nehmen. Aber insgesamt ist „die Kernfunktion der Leistungsempfänger/innen […] weniger die Steuerung, sondern vielmehr die Inanspruchnahme der bewilligten Leistung.“ (König und Wolf 2017, S. 29) Das Verhandlungspaket zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer richtet sich in Form und Umfang nach der Zusammensetzung der betreuten Bewohner und des dafür notwendigen Personals und weiterer Kosten aus. Es gliedert sich in drei Elemente: • Grundpauschale für Verpflegung und Grundpflege • Maßnahmenpauschale für v. a. pädagogische Betreuung, Begleitung, Beratung • Investitionsbetrag, vor allem für die Instandhaltung der Gebäude Laufende Personal- und Sachkosten werden über Verteilungsschlüssel aus Grundund Maßnahmenpauschale finanziert.

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3.2 Die Trennung der Leistung Kernanliegen des Bundesteilhabegesetzes ist es, Inklusion als Leitmotiv der Behindertenpolitik ein Stück weit mehr zu realisieren. Am Beispiel des Bereichs „Stationäres Wohnen“ kann dies augenfällig demonstriert werden. Das Bundesteilhabegesetz stellt die oben skizzierten Finanzierungsmodalitäten komplett um – der bisherige Block aus Grund- und Maßnahmenpauschale zzgl. Investitionsbetrag existiert nicht mehr weiter. Der neue „Finanzierungsblock“ ist zwar ebenfalls dreiteilig, aber inhaltlich und adressatenspezifisch different.

3.2.1 Existenzsichernde Leistungen Der Bereich der existenzsichernden Leistungen gliedert sich in: 1. Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU): Der Leistungsempfänger erhält direkt „Hilfe zum Lebensunterhalt“, Regelbedarfsstufe 2. Diese in ihrer Höhe bundesweit fixierte Sozialleistung beträgt derzeit knapp 400 €. 2. Kosten der Unterkunft: Des Weiteren erhält der Leistungsempfänger die Kosten für die Warmmiete eines Einpersonenhaushalts im Rahmen der Grundsicherung; als Grundlage könnte der jeweilige lokale Mietspiegel dienen, wenn vorhanden. Zusätzlich kann für einen Mehrbedarf an Mietkosten, der sich beispielsweise aus den Zusatzkosten für eine teurere Wohngegend ergibt, ein Zuschlag von bis zu 25 % gewährt werden. Dazu ist in Ausnahmefällen noch die Finanzierung zusätzlichen Wohnbedarfs im Zuge von Assistenzleistungen möglich. Detailregelungen z. B. für die Kosten einer Ersteinrichtung sowie zu Investitionskosten stehen noch aus. Zu betonen ist, dass sich der Block der existenzsichernden Leistungen in seinem Volumen nicht aus Verhandlungen ergibt, sondern in seiner Höhe per Gesetzesregelung und kommunalspezifischen Faktoren fixiert ist, auf die der Klient einen Rechtsanspruch hat. Er ist auf diese Weise Aushandlungsprozessen zwischen Leistungsträgern und -erbringern entzogen. Die existenzsichernden Leistungen fließen vielmehr direkt vom Leistungsträger zum Menschen mit Behinderung als Leistungsempfänger und verändern somit stark die Statik im sozialrechtlichen Leistungsdreieck. Insgesamt werden so „Heimverträge […] aufgelöst […] zugunsten individueller Mietverträge“ (Wacker 2018, S. 106).

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3.2.2 Fachleistungen Von den existenzsichernden Leistungen in der neuen Systematik zu trennen sind die Fachleistungen. Diese Leistungen der Betreuung, Begleitung und Beratung haben vorwiegend medizinisch-therapeutischen oder sozial- und heilpädagogischen Charakter. Nur diese Fachleistungen sind noch Verhandlungsgegenstand zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer, im Gegensatz zum jetzt gültigen System, in dem die Gesamtleistung (ausgedrückt in Grund- und Maßnahmenpauschale sowie dem Investitionsbetrag) verhandelt wird. Diese neue Systematik soll ab 2020 anlaufen und wird in der Abb. 2 veranschaulicht. Die Trennung der Leistungstypen kann auf der theoretischen Ebene relativ einfach dargestellt werden – in der Praxis wird die Abgrenzung schwierig: Wie verhält es sich beispielsweise mit dem Bereich Ernährung, wie können hier Kosten und deren Erstattung genau abgegrenzt werden beim Einkaufen, beim Zubereiten und bei der Hilfe bei der Einnahme, wenn bei allen drei Stationen Hilfe durch Fachpersonal nötig ist? Viele Fragen sind noch ungeklärt. Aus diesem Grund sollen dazu in den nächsten Monaten Erläuterungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erscheinen.

Abb. 2   Trennung der Leistung „Wohnen“. (Quelle: eigene Darstellung)

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4 Mögliche Folgen für die Akteure Die neue Finanzierungsform des Wohnens in der Eingliederungshilfe kann als ein Meilenstein zur Inklusion gedeutet werden. Letztlich sind damit die ohnehin schon fließenden Grenzen zwischen stationären und ambulanten Settings auch aus der Finanzierungsperspektive aufgelöst – es gibt nur noch den Finanztransfer zum Leistungsnehmer, der sich seine Wohnform aussucht, zusätzlich unterstützt durch die Fachleistung zur Eingliederungshilfe. Wie bereits erwähnt sind die Detailregelungen zur Umsetzung dieser neuen Systematik derzeit in der Erarbeitung. Trotzdem soll in diesem Abschnitt der Versuch unternommen werden, mögliche Wirkungen auf die Akteure im sozialrechtlichen Leistungsdreieck zu eruieren.

4.1 Mehr Selbstständigkeit für Leistungsnehmer Im Sinne der Inklusion ist es folgerichtig, vor allem die Rolle des Klienten zu verändern bzw. zu stärken. Seine Person soll mehr Einfluss auf die eigene Lebensgestaltung gewinnen, das bedeutet in diesem Fall die Möglichkeit, weitgehend eigenständig zu bestimmen, wo und in welcher Form er/sie wohnen und leben will. Diese Stärkung ist Ausdruck einer Emanzipation des Leistungsempfängers im sozialrechtlichen Leistungsdreieck, verglichen mit der gegenwärtigen Situation. Denn Ziel und Aufgabe Sozialer Arbeit und ihrer Umsetzung in der Sozialwirtschaft ist die Realisierung sozialrechtlicher Ansprüche des Leistungsempfängers; allerdings waren und sind seine Selbstbestimmungsmöglichkeiten trotz partizipativer Teilhabeplanung sowie dem im Gesetz vorgesehenen Wunschund Wahlrecht doch eher begrenzt. In der Praxis dominiert heute oftmals die Beziehung zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer beispielsweise bei der Wahl und Ausgestaltung von ambulanten und stationären Wohnsettings. Die neue Systematik bietet hier die Möglichkeit einer radikalen Neugestaltung, zugespitzt formuliert: Der Mensch mit Behinderung wird mithilfe der ihm übermittelten Finanzmittel zum Mietinteressent, der für sich eine in seinen Augen geeignete Wohnoption auswählt. Er bekommt eine eigene Verhandlungsposition gegenüber dem Leistungserbringer als Vermieter, kann Angebote vergleichen, verwerfen, Optimierungen vorschlagen und auswählen – so jedenfalls die Zielsetzung, die bei einer geglückten Umsetzung ein hohes Maß an Verselbstständigung, „Normalisierung“ und gesellschaftlicher Inklusion verspricht.

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4.2 Mehr Sicherheit für Leistungsträger Auch für die Seite der öffentlich-rechtlichen Leistungsträger kann ein potenzieller Steuerungsgewinn angenommen werden. Im gegenwärtigen System verhandeln sie mit den Leistungserbringern das „Gesamtpaket Wohnen“, zusammengesetzt aus Grund- und Maßnahmenpauschale sowie dem Investitionsbetrag (siehe oben). Diese Verhandlungen laufen nach dem Grundsatz der Prospektivität ab, d. h. die zu vereinbarende Vergütungserhöhung gilt für die Zukunft, aufgelaufene Kosten in der Vergangenheit können nicht geltend gemacht und ausgeglichen werden. Nach diesem Grundsatz liegt das unternehmerische Risiko beim Leistungserbringer, der mit dem von ihm verhandelten Entgeltsatz auskommen muss. In der Praxis wird er deshalb mitunter versuchen, zu seinen Selbstkosten eine Art Risikozuschlag in den Entgeltsatz einzupreisen und bei den Verhandlungen durchzusetzen. In der neuen Systematik ist die Verhandlungsmasse stark geschrumpft, es geht zwischen Leistungsträger und -erbringer ausschließlich um die Fachleistung für die Eingliederungshilfe. Der kostenmäßig große Block der Unterkunfts- und Lebenshaltungskosten ist in seiner Höhe bereits fixiert, durch den bundesweit festgelegten Satz der Hilfe zum Lebensunterhalt und vermutlich den von der Kommune berechneten Mietspiegel, der bei der Beurteilung der Unterkunftskosten eine wichtige Funktion spielen könnte. Damit sinken Verhandlungsrisiko wie Verhandlungsaufwand aus Sicht der Leistungsträger beträchtlich. So können die notwendigen Aufwendungen in den (über-)kommunalen Haushalten (je nach Bundesland gibt es unterschiedliche Strukturen aufseiten der Leistungsträger) besser abgeschätzt und damit von vornherein geplant werden. Durch einen weitgehend abschätzbaren Kostenblock ist auch ein Vergleich zwischen verschiedenen Leistungsträgern möglich. Damit einher geht auch eine bessere Möglichkeit, Ausgabenerhöhungen in ihrer Dynamik wirkungsvoller als gegenwärtig zu begrenzen.

4.3 Nachteile für den Leistungserbringer Während Leistungsempfänger und Leistungsträger vermutlich von der neuen Systematik profitieren könnten, fällt die Einschätzung bei den Leistungserbringern kritischer aus. Das mag an dieser Stelle wenig überraschen, da sie ja den Kontrapart zu den Leistungsträgern darstellen. Weniger Verhandlungsmasse bedeutet für sie geringere Chancen, in einem Verhandlungssetting prospektiv Kosten durch höhere Entgelte zu verhandeln. Damit müssen Kostensteigerungen in ihren Einrichtungen,

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die beispielsweise durch Tariferhöhungen zustande kommen, kurz- und mittelfristig anderweitig aufgefangen werden – die Erhöhung der HLU-Sätze ist im Vergleich zum Verhandlungsmodus dafür zu statisch und unflexibel angelegt und liegt im Entscheidungsbereich der Bundespolitik. Mit der neuen Konstanz und Begrenzung der Kostenerstattung kann es auch zu einer Angebotshomogenität zwischen verschiedenen Leistungserbringern kommen. Das Angebot möglichst unterschiedlicher fachlicher Konzepte, die heute Bestandteile der Leistungsvereinbarung sind und unterschiedlich vergütet werden, könnte schrumpfen. Einer homogeneren Finanzierungsform würde auf diese Weise auch eine ähnlichere Angebotsstruktur entsprechen. Dagegen spricht allerdings ein direkter Wettbewerb als „Vermieter“ um Klienten als „Mieter“, der zu Unterscheidung und Alleinstellungsmerkmalen gegenüber Mitbewerbern zwingen könnte. Mit Sicherheit bringt die neue Systematik umfangreiche Veränderungsnotwendigkeiten für die Leistungserbringer auch an dieser Stelle mit sich. Hinzu kommt trotzdem ein gesteigerter Verhandlungs- und Verwaltungsaufwand. Bisher wurden stationäre Settings in ihrer Gesamtheit mit den Leistungsträgern verhandelt, die zu erzielenden Steigerungsraten haben sich aus der Gesamtzusammensetzung aus Leistungsempfängern und Mitarbeitenden sowie spezifischen Kostenfaktoren ergeben. In der neuen BTHG-Systematik muss mit jedem potenziellen Bewohner in der Person des „Mietinteressenten“ einzeln verhandelt werden, und welches Verfahren bei steigenden Kosten im Zeitverlauf mit bestehenden Mietern verwendet wird, ist noch unklar. Einzelverhandlungen und Einzelrechnungsstellung bedeuten eine immense Steigerung an Verwaltungsund Personalaufwand. Ein Vertreter der Diakonie Stetten in Baden-Württemberg (ein Erbringer mit ca. 4000 Mitarbeitenden) äußerte sich dazu in einem Referat anlässlich des Deutschen Fürsorgetags in Stuttgart im Mai 2018. Nach seiner Einschätzung könnte sich alleine die Menge an zu verarbeitenden Rechnungen verdreifachen. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich die Belegungsstruktur rascher ändern und neu zusammensetzen könnte als im bisherigen System. Nützen die Menschen mit Behinderung ihre neuen Spielräume aus, könnten sie auch schneller wieder aus- und umziehen als bisher. Ein schwankendes Mieteraufkommen bedeutet allerdings auch mehr Aufwand und ein gesteigertes Risiko, die eigenen Kosten kontinuierlich decken zu können. Und schließlich war trotz oftmals schwieriger Verhandlungen mit dem Vertragsabschluss der Zahlungsfluss vom Leistungsträger zum Leistungserbringer gesichert. Jetzt zahlt jeder Klient seine Unterkunftskosten selbst. Auch das bedeutet ein gesteigertes Risiko, alle vereinbarten Einnahmen auch pünktlich und vollständig

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zu erhalten. Die Möglichkeit eines Forderungsausfalls muss demnach zukünftig ebenfalls im Blickfeld eines Leistungserbringers stehen. Die Abb. 3 fasst die vermuteten Vor- und Nachteile für alle drei Akteure nochmals zusammen:

5 Ausblick Es bleibt abzuwarten, wie die Leistungserbringer ihre abschätzbar schlechtere Situation bewältigen werden. Aber es ist davon auszugehen, dass sie ihr in den letzten Jahrzehnten der Liberalisierung und Deregulierung der Sozialwirtschaft eingeübtes unternehmerisches Innovationspotenzial nutzen werden. So ließe sich beispielsweise durch die Bildung überschaubarer Wohnraumkategorien das Angebotssetting begrenzen und der damit einhergehende Austausch- und Verhandlungsaufwand mit den Leistungsnehmern reduzieren. Die Kernfragen lauten hingegen: Wie kann der Leistungsempfänger seine neuen Spielräume nutzen? Sind die Menschen mit Behinderung sämtlich dazu in der Lage und auch bereit? Es dürfte einleuchten, dass nicht nur Menschen mit schweren und/oder mehrfachen Behinderungen dafür eine enge und konstante

Abb. 3   Folgen für die Akteure. (Quelle: eigene Darstellung)

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Beratung und Begleitung benötigen. Die Gretchenfrage lautet, wer dies erfüllen kann und vornehmlich die Wünsche und das Wohlergehen der Klienten im Fokus hat, ohne gleichzeitig eigene Interessen zu verfolgen? Beratung und Begleitung durch Leistungsträger oder Leistungserbringer nach diesen Prämissen ist schwer vorstellbar, wenn das BTHG in der Umsetzung auch seinen Zielen gerecht werden soll. Das BMAS versucht deshalb mit der sogenannten Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) ein neutrales, bundesweites Netzwerk aus Beratungsstellen für die Menschen mit Behinderung zu schaffen. Als Anschubfinanzierung sind dafür 58 Mio. € vorgesehen. Die Beratung erfolgt von Betroffenen für Betroffene (Prinzip des Peer Counseling), also von Menschen mit Behinderung für Menschen mit Behinderung. Abzuwarten bleibt, ob damit der zu erwartende Beratungsbedarf auch dauerhaft und effektiv erfüllt werden kann. Denn nur so lässt sich die Selbstbestimmung auch verwirklichen.

Literatur BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales. (2016). Mehr möglich machen. Weniger behindern. Berlin: BMAS – Referat Öffentlichkeitsarbeit. BMAS_a766-das-neue-bundesteilhabegesetz-pdf. Zugegriffen: 23. Mai 2017. Gerlach, F., & Hinrichs, K. (2018). Leistungserbringungsrecht in der Sozialwirtschaft. In K. Grunwald & A. Langer (Hrsg.), Sozialwirtschaft. Handbuch für Wissenschaft und Praxis (S. 168–194). Baden-Baden: Nomos. König, M., & Wolf, B. (2017). Steuerung in der Behindertenhilfe. Das Bundesteilhabegesetz und seine Folgen. Berlin: Verlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. Paritätischer Mecklenburg-Vorpommern. (2017). Kritik am ursprünglichen Gesetzentwurf. http://www.paritaet-mv.De/fachbereiche/behindertenhilfe/bthg. Zugegriffen: 23. Mai 2017. Sozialpolitik aktuell. (2017). Bruttoausgaben der weiteren Leistungen der Sozialhilfe. http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Sozialstaat/Datensammlung/PDF-Dateien/abbIII74.pdf. Zugegriffen: 28. Aug. 2017. Wacker, E. (2018). Behindertenpolitik, Behindertenarbeit. In H.-U. Otto et al. (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit (6. Aufl., S. 96–109). München: Reinhardt.

Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung Susanne Vaudt

Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund einer steigenden gesellschaftlichen Ver- und Überschuldung bieten Soziale Schuldnerberatungsstellen ein lebensweltorientiertes Angebot für komplexe Bedarfe einer heterogenen Zielgruppe. Die Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung fällt in die Zuständigkeit der Länder und ist bundesweit nicht einheitlich geregelt. Neben dem „klassischen“ Interventionsangebot in Form einer Schulden- und Insolvenzberatung für Ratsuchende mit häufig schon sehr weit fortgeschrittenen Überschuldungsverläufen liegt ein zunehmendes Augenmerk darauf, das Angebot an primären, sekundären und tertiären Präventionsleistungen (weiter) auszubauen und öffentlich zu fördern. Aber inwiefern wird neben Intervention auch die Präventionsarbeit Sozialer Schuldnerberatungsstellen öffentlich refinanziert? Dieser Aufsatz geht der Frage am Beispiel der Sozialen Schuldnerberatung in Hamburg nach, da sich hier im Laufe des Jahres 2018 die Finanzierung ­strukturell geändert hat.

Basiert auf dem von der BAG Schuldnerberatung mit Mitteln des BMJV – Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz geförderten und inzwischen abgeschlossenen Forschungsprojekt ‚Herausforderungen moderner Schuldnerberatung‘ (DISW 2017). S. Vaudt ()  Hochschule für angewandte Wissenschaften HAW-Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_10

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1 Einleitung Mit zunehmender Ver- und Überschuldung privater Haushalte steigt auch der Informations- und Beratungsbedarf. Bundesweit bieten ca. 1400 Soziale Schuldnerberatungsstellen (destatis 2017) ein lebensweltorientiertes Angebot für komplexe Bedarfe einer heterogenen Zielgruppe. Die Studie „Herausforderungen Moderner Schuldnerberatung“ (DISW 2017) kommt u. a. zum Ergebnis, dass neben Interventionsangeboten zunehmend auch präventive Angebote wichtig sind, um Verschlechterungen (potenziell) problematischer finanzieller Situationen für Betroffene abzuwenden. Aber inwiefern wird neben Intervention auch die Präventionsarbeit Sozialer Schuldnerberatungsstellen öffentlich refinanziert? Dieser Frage wird am Beispiel der Sozialen Schuldnerberatung in Hamburg nachgegangen, da sich hier im Laufe des Jahres 2018 die Finanzierung strukturell ändert. Um die öffentliche Finanzierung in der Sozialen Schuldnerberatung näher zu analysieren, wird zunächst die Entwicklung von Ver- vs. Überschuldung privater Haushalte dargestellt. Diese Entwicklung beeinflusst die Inanspruchnahme der Sozialen Schuldnerberatung maßgeblich mit (vgl. Abschn. 2). Seit der Einführung des Verbraucherinsolvenzrechts resp. §§ 304 ff. InsO im Jahr 1999 bietet die Soziale Schuldnerberatung – anders als die gewerbliche Schuldenberatung – ihren Klient_innen ein kostenloses bzw. kostenreduziertes Beratungsangebot (Abschn. 3). Die öffentliche Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung mittels (Leistungs-) Entgeltpauschalen und/oder Zuwendungen fällt in die Zuständigkeit der Länder und ist bundesweit uneinheitlich geregelt (Abschn. 3.1). Das Angebot Sozialer Schuldnerberatung umfasst sowohl komplexe Interventionsangebote für bereits überschuldete Ratsuchende aber auch unterschiedliche Formen präventiver Unterstützung (Abschn. 3.2). Wie am Beispiel von Hamburg gezeigt wird, werden im Unterschied zu bisher (Abschn. 4.1) ab Mitte 2018 auch primär- und sekundärpräventive Leistungen der Sozialen Schuldnerberatung refinanziert. Damit berücksichtigt das neue Finanzierungsmodell präventive Soziale Schuldnerberatung zukünftig wesentlich stärker (Abschn. 4.2). Allerdings werden die neuen Präventionsmodule nicht „on top“ finanziert, sondern in ein bestehendes fast ausschließlich für Interventionsangebote der allgemeinen Schuldner- und Insolvenzberatung zur Verfügung stehendes Gesamtbudget eingerechnet. Die Kalkulation kostendeckender Leistungspauschalen entspricht damit einer Gleichung mit vielen unbekannten Parametern. Dies betrifft insbesondere das Verhältnis von Prävention und Intervention. Offen ist, wie sich die stärkere strukturelle Gewichtung der Präventionsarbeit in der Praxis auswirkt resp. ob und inwiefern eine „erfolgreiche“ Präventionsarbeit quantitativ und qualitativ den Bedarf an Interventionsangeboten zu beeinflussen vermag (Abschn. 5).

Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung

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2 Ver- vs. Überschuldung Angesichts leicht zugänglicher und niedrigverzinslicher Finanzierungsoptionen erscheint eine private Verschuldung aus ökonomischer Perspektive strategisch durchaus rational. Allerdings kann ein Teil der verschuldeten Personen bestehende Zahlungsverpflichtungen über längere Zeit nicht mehr fristgerecht begleichen und stellt in der Folge fällige Zahlungen ein. „Im Jahr 2014 gaben knapp 6 % der Bevölkerung Zahlungsrückstände in den letzten zwölf Monaten bei Hypotheken, Konsumentenkrediten, Miete oder Rechnungen von Versorgungsbetrieben (zum Beispiel Stromrechnung, Gasrechnung) an“ (destatis 2016). Zahlungsrückstände sind im worst case bereits Anzeichen von Überschuldung, d. h. akuter oder drohender Zahlungsunfähigkeit, bei der gem. § 17 Abs. 2 InsO ein Schuldner „[…] nicht mehr in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen“. In der Folge werden Zahlungen eingestellt bzw. droht die Einstellung zumindest. Überschuldete Menschen haben keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt durch bestehendes persönliches Vermögen oder die Einräumung weiterer Kreditmöglichkeiten zu bestreiten, um ihre elementaren Lebensgrundlagen eigenständig zu sichern. Dauert ein Überschuldungszustand längere Zeit an, entwickelt er sich nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für weitere Haushaltsmitglieder zu einer existenzbedrohenden Krise (DISW 2017, S. 4). Fälle von Überschuldung sind quantitativ inzwischen kein gesellschaftliches Randphänomen mehr (Finke 2014). Zugleich ist davon auszugehen „[…], dass die Überschuldungszahlen in Deutschland auch in der näheren Zukunft weiter steigen werden“ (Creditreform et al. 2017, S. 3). Werden sogenannte Negativmerkmale als Indikator für Fälle von Überschuldung herangezogen, wären in 2016 bundesweit ca. 6,85 Mio. Personen (3,39 Mio. Haushalte) überschuldet gewesen (Creditreform et al. 2017, S. 69). Negativmerkmale in privaten Schulden-/Kredit-Auskunfteien wie Creditreform, Boniversum u. a. sind allerdings kein zuverlässiges Erkennungsmerkmal von Überschuldung, da sie neben unstrittigen Inkassofällen gegenüber Privatpersonen auch Fälle von „nachhaltigen“ Zahlungsstörungen statistisch mitzählen. Diese liegen nach Minimaldefinition bereits dann vor, wenn Gläubiger mindestens zwei Mal eine Forderung angemahnt haben (iff 2016, S. 17 f.). Empirische Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass deutlich mehr als die Hälfte, d. h. ca. 60 % der verschuldeten Personen mit Negativmerkmalen auch sogenannte „harte“ Negativmerkmale aufweisen. Bei ihnen liegen entsprechend mehrere gerichtliche Negativeinträge vor und/oder sie haben ggf. bereits einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt. Betroffen waren im Jahr 2017 immerhin ca. 4,22 Mio. Personen und damit 1,2 % mehr als 2016 (Creditreform et al. 2014, S. 4, 2017).

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Insofern Überschuldungsrechnungen von Auskunfteien die Forderungen von öffentlichen Kassen gegenüber privaten Haushalten wie z. B. Steuerforderungen des Finanzamtes oder Unterhaltsforderungen des Jugendamts nicht verzeichnen, bleibt die tatsächliche Anzahl überschuldeter Personen eine unbekannte Größe. Zudem gilt: Nicht alle überschuldeten Personen sind zugleich (potenzielle) Klient_ innen der Sozialen Schuldnerberatung (siehe nächstes K ­ apitel).

3 Die Soziale Schuldnerberatung: Klient_innen, öffentliche Finanzierung und Angebote Verhaltensökonomische Studien zeigen, dass sich überschuldete Menschen im Hinblick auf (Finanz-)Bildung und (Kauf-)Verhalten nicht signifikant von anderen Menschen unterscheiden. Dahinter steht die empirisch belegte Hypothese, dass Überschuldung nicht zwingend die Folge einer mangelnden Finanzbildung oder eines impulsiven Kaufverhaltens ist (vgl. Loibl 2016, S. 48; Bertrand und Morse 2011; Bertrand et al. 2006; Jones et al. 2015; Mani et al. 2013; Shah et al. 2012). Verschuldete private Haushalte, die aufgrund typischer Risikofaktoren wie unfreiwilliger Teilzeiterwerbstätigkeit, Verlust des Arbeitsplatzes, Trennung und Scheidung oder Krankheit Schwierigkeiten haben, finanzielle Verpflichtungen einschließlich der Tilgung von Schulden einzuhalten, versuchen zunächst, ihre Probleme selbstständig zu regeln1. Mit zunehmender Schärfe ihrer problematischen finanziellen Situation werden sie krisenhaft vereinnahmt, entwickeln als Folge dieser mentalen Anspannung häufig einen „Tunnelblick“ und verfallen in eine sogenannte „Überlastungsstarre“ (vgl. DISW 2017, S. 50): Durch Auseinandersetzungen mit Banken, Behörden, Inkassounternehmen und sonstigen Gläubigern sind sie relativ stärker psychisch wie physisch belastet, zermürbt und erschöpft – und dadurch umso empfänglicher für ökonomisch irrationale Entscheidungen wie die dauerhafte Inanspruchnahme kostspieliger (Zwischen-) Finanzierungslösungen wie ausgeschöpfte Dispos und überteuerte Konsumentenkredite (vgl. DISW 2017, S. 92 f.). In der Praxis kommt sehr häufig erst mit fortgeschrittenem Überschuldungsverlauf die Schuldenberatung ins Spiel. Seit Einführung des Verbraucherinsolvenzrechts

1Dabei

sind die BIG 6-Faktoren einer Überschuldung wie 1) Einkommensarmut, 2) Arbeitslosigkeit, 3) Trennung und Scheidung, 4) Krankheit, 5) irrationales Konsumverhalten sowie 6) gescheiterte Selbstständigkeit zeitlos und haben nicht an Bedeutung verloren (z. B. iff 2017, S. III).

Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung

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im Jahr 1999 bieten sogenannte „geeignete Stellen und Personen“ gem. § 305 InsO (Insolvenzordnung) in Verbindung mit landesspezifischen Ausführungsgesetzen und -verordnungen bundesweit ein Angebot an Schuldner- und Insolvenzberatung in räumlicher Nähe. Das Beratungsangebot solcher Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen adressiert sich grundsätzlich nur an solche Personen, auf die das Verbraucherinsolvenzrecht anwendbar ist. Dazu zählen gem. § 304 InsO alle natürlichen Personen, die keine selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit ausüben bzw. ausgeübt haben oder deren Vermögensverhältnisse aus selbstständiger wirtschaftlicher Tätigkeit „überschaubar“ sind, weil sie weniger als 20 Gläubiger haben und zugleich keine Forderungen aus Arbeitsverhältnissen ehemaliger Mitarbeitender mehr zu begleichen sind2. Im Gegensatz zur gewerblichen Schuldnerberatung umfasst der Begriff „Soziale Schuldnerberatung“ Angebote der freien Wohlfahrtspflege, der Verbraucherberatung und der öffentlich-rechtlichen Beratung, die mit öffentlichen Mitteln gemäß § 11 Abs. 5 SGB XII unter der Überschrift „Beratung und Unterstützung, Aktivierung“3 gefördert werden. Dazu haben sie mit den zuständigen Sozialleistungsträgern nach dem Modell des sozialrechtlichen Leistungsdreiecks eine Vereinbarung abgeschlossen4. In Hamburg sind für die Kostenübernahmen der Sozialen Schuldnerberatung gemäß § 11 Abs. 5 SGB XII die „Fachämter für Grundsicherung und Soziales“ bzw. „Grundsicherungs- und Sozialdienststellen“ (GS-Dienststellen) der Bezirke zuständig. SGB II-Leistungsempfänger_innen werden an das Jobcenter verwiesen: Die Bewilligung und Abrechnung von

2Seit

längerem ist eine Beratungslücke für überschuldete (ehemalige) Freiberufler, Kleinund Kleinstunternehmer bekannt, die nicht die § 304 InsO Kriterien der Verbraucherinsolvenz erfüllen und damit unter das Unternehmensinsolvenzrecht fallen. Diese können bestenfalls die Notfall- bzw. Kurzberatung einer Sozialen Schuldnerberatung aufsuchen, benötigen ansonsten aber eine (kostenpflichtige) Beratung hinsichtlich des Regelinsolvenzverfahrens etc. (u. a. Wiedenhaupt 2017). 3Auszug aus § 11 Abs. 5 SGB XII: „Ist die weitere Beratung durch eine Schuldnerberatungsstelle oder andere Fachberatungsstellen geboten, ist auf ihre Inanspruchnahme hinzuwirken. Angemessene Kosten einer Beratung nach Satz 2 sollen übernommen werden, wenn eine Lebenslage, die Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt erforderlich macht oder erwarten lässt, sonst nicht überwunden werden kann; in anderen Fällen können Kosten übernommen werden. Die Kostenübernahme kann auch in Form einer pauschalierten Abgeltung der Leistung der Schuldnerberatungsstelle oder anderer Fachberatungsstellen erfolgen.“. 4Grundlage der Vereinbarung im Modell des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses ist § 75 SGB XII i. V. m. § 11 Abs. 5 SGB XII und/oder § 17 Abs. 2 SGB II i.  V.  m. § 16a SGB II (vgl. AG SBV 2011).

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­ eistungen der Schuldnerberatung erfolgt dann gemäß § 16a Nr. 2 SGB II zentral L durch Jobcenter team.arbeit.hamburg (vgl. BASFI 2011). Insgesamt zeigen sich bzgl. der Kostenübernahme komplexe Zuständigkeitsstrukturen (siehe Abb. 1). Deutlich wird, dass nahezu alle Ratsuchenden der Sozialen Schuldnerberatung einkommensarm sind. Sie beziehen entweder eine Sozialleistung gemäß SGB II (Regelleistung, Sozialgeld, Mehrkostenerstattung, Wohngeld)5 und/oder erhalten ein (Netto-) Einkommen unterhalb der gesetzlich definierten Einkommensgrenze. Das Jobcenter refinanziert Soziale Schuldnerberatung im Rahmen der kommunalen Eingliederungshilfen (§ 16a Nr. 2 SGB II) für Personen aus dem Leistungsbereich SGB II. Dazu zählen neben erwerbsfähigen Leistungsberechtigten auch „Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben (gemäß § 7 SGB II), bei denen die Schuldnerberatung für die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben im Sinne des § 16a Nr. 2 SGB II erforderlich ist“ (BASFI 2011). Zur heterogenen Gruppe der Ratsuchenden Sozialer Schuldnerberatung mit Kostenübernahme gemäß § 11 Abs. 5 SGB XII zählen außerdem SGB XII-Leistungsberechtigte, die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 27 ff. SGB XII)6 oder Grundsicherung im Alter oder bei dauerhafter Erwerbsminderung (§§ 41 ff. SGB XII) beziehen7. Anspruchsberechtigt nach § 11 (5) SGB XII sind aber auch Erwerbstätige, die über eigenes Einkommen verfügen, das festgelegte Einkommensgrenzen nicht überschreitet. Bei Überschreitung der unteren Einkommensgrenze ist in Hamburg derzeit ein Eigenanteil in Höhe von 180 € zu zahlen (vgl. BASFI 2016a)8.

5Bei

Fällen sogenannter ‚Aufstocker_innen‘ dient das ALG II dazu, ein Einkommen aus ALG I und/oder Erwerbstätigkeit (wie z.  B. Minijob) existenzsichernd aufzustocken. 6‚Hilfe zum Lebensunterhalt‘ kommt damit in erster Linie infrage für „Minderjährige, die nicht mit einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, und volljährige Personen, die vorübergehend voll erwerbsgemindert sind“ (Trenczek et al. 2008, S. 436). 7Hinzu kommen noch Personen in besonderen sozialen Schwierigkeiten, die z. B. aus geschlossenen Anstalten entlassen werden, keinen Wohnraum haben etc. (§§ 67 ff. SGB XII), Auszubildende, denen kein BAföG gewährt wird (§ 22 SGB XII) und Kriegsopfer (nach dem BVG oder Anwendungsleistungen) (vgl. Trenczek et al. 2008, S. 451 ff.; BSG 2011, S. 3). 8Die Einkommensgrenzen sind gestaffelt nach Haushaltsgröße. Erwachsene mit einem monatlichen Netto-Einkommen unter 1298 € (untere Einkommensgrenze) haben Anspruch auf eine kostenlose Beratung. Bis zu einem Netto-Einkommen i. H. v. 1498 € sind 180 € zu zahlen. Ab einem Netto-Einkommen von 1498 € (obere Einkommensgrenze) entfällt der Anspruch auf Kostenübernahme.

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Abb. 1   Wer trägt die Beratungskosten in der Sozialen Schuldnerberatung in Hamburg? (Quelle: DISW 2017, S. 6)

190

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3.1 Öffentliche Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung In Deutschland ist die öffentliche Refinanzierung Sozialer Schuldnerberatung je nach Bundesland unterschiedlich geregelt. Im Hinblick auf Interventionsangebote für überschuldete Klient_innen lassen sich grundsätzlich zwei „Produkte“ resp. komplexe Unterstützungsleistungen unterscheiden. Die (1) allgemeine Schuldenberatung umfasst zunächst die Erstellung einer aktuellen und vollständigen Forderungsübersicht („Forderungsaufstellung“) aller Gläubiger. Im nächsten Schritt wird dann versucht, mit allen Gläubigern entsprechende Stundungsvereinbarungen auszuhandeln und Tilgungsregelungen zu treffen. Je nach Konstellation des einzelnen Falls kann eine Teilregulierung oder sogar eine vollständige Regulierung gelingen. Eine Teilregulierung kommt in Betracht, wenn Ratsuchende noch nicht völlig zahlungsunfähig sind, sondern z. B. mit dem größten oder drängenden Gläubiger eine Regulierungsvereinbarung treffen können. Diese enthält dann die Vereinbarung zur Ratenzahlung oder auch (teilweisen) Forderungsverzicht. „Maßgeblich ist stets, dass bezogen auf die jeweiligen Forderungen eine endgültige Regelung getroffen wird“ (vgl. BASFI 2016a). Möglich sind Vereinbarungen mit Gläubigern zu Einmal- und Ratenzahlungen, aber auch ein Zahlungsverzicht bzw. ein sogenannter „Nullplan“, in dem Ratsuchende sich verpflichten, innerhalb eines Zeitraums dann Zahlungen zu leisten, wenn sie zu pfändbarem Einkommen gelangen sollten. Einige Bundesländer finanzieren diese Leistung über kommunale Zuschüsse zu Personal- und Sachkosten. In Hamburg gewährt die Landesbehörde eine entsprechende (Leistungs-)Erfolgspauschale, wenn mit mind. 50 % der Gläubiger eine Einigung erreicht oder eine dauerhafte Tilgungsregelung getroffen wird. Die Höhe der öffentlichen Zuwendung bzw. Leistungspauschale liegt wiederum im Ermessen der Kommune bzw. des Landkreises/der Landesbehörde (AG SBV 2011; Just 2011; BASFI 2016b). Die (2) Insolvenzberatung endet erfolgreich, wenn eine sogenannte „Bescheinigung“ nach § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO vorliegt, aus der hervorgeht, dass die/der Ratsuchende erfolglos versucht hat, eine außergerichtliche Einigung mit den Gläubigern über die Schuldenbereinigung auf der Grundlage eines (Regulierungs-)Plans zu erzielen. Die „Bescheinigung“ ist daher entsprechend die Voraussetzung für den Antrag auf Eröffnung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens. Ein häufiger Grund für ein Scheitern des außergerichtlichen Einigungsversuchs bei Einkommensarmut der Ratsuchenden ist, dass ein Teil der Gläubiger den Regulierungsplan wegen „Geringfügigkeit“ ablehnt.

Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung

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Die Finanzierung der Insolvenzberatung fällt bundesweit vielfach in die Finanzierungszuständigkeit der Bundesländer. Nur in den Stadtstaaten (­ Berlin, Bremen, Hamburg) und Mecklenburg-Vorpommern finanzieren Kommunen und Länder gemeinsam mit der allgemeinen Schuldenberatung „aus einer Hand“ (vgl. Just 2011, S. 40). Analog der allgemeinen Schuldenberatung als Komplexleistung wird auch die Insolvenzberatung der Sozialen Schuldnerberatung bundesweit uneinheitlich entweder via Zuwendung oder Fallpauschale vergütet. Da sich die Höhe von Fallpauschalen stets am Verhandlungsgeschick der Träger bzw. an der Verhandlungsbereitschaft der unterschiedlichen Kostenträger ausrichtet, fordert der AG SBV (Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände) die gesetzliche Verankerung einer zuwendungsfinanzierten Finanzierung „aus einer Hand“ auf Grundlage eines anerkannten Beratungsschlüssels. Zur Sicherung eines Mindestangebotes an Beratungsfachkräften „sollten deshalb mindestens zwei vollzeitbeschäftigte Schuldnerberatungsfachkräfte für 50.000 Einwohner zur Verfügung stehen“ (AG SBV 2011, S. 11). Weisen Bundesländer eine überdurchschnittliche Überschuldungsquote auf, ist der Schlüssel entsprechend zu erhöhen (AG SBV 2011, S. 11). Zusätzlich zur öffentlichen Finanzierung müssen Klient_innen Sozialer Schuldnerberatung z. B. in Hamburg einen Selbstzahleranteil i. H. v. 180 € leisten, falls ihr monatliches Nettoeinkommen – mit Staffelung nach Haushaltsgröße – oberhalb einer sogenannten „unteren Einkommensgrenze“ ­ liegt. Für alleinstehende Erwachsene liegt diese Grenze zzt. bei 1298 € netto monatlich (BASFI 2016a).

3.2 Angebotsentwicklung der Sozialen Schuldnerberatung: Prävention und Intervention Neben den beiden Interventionsangeboten der Schuldner- und Insolvenzberatung (siehe Abschn. 3.1) bietet die Soziale Schuldnerberatung auch präventive Unterstützung (siehe Abb. 2). Analog zu anderen Bereichen des Sozial- und Gesundheitswesens lassen sich auch Angebote der Prävention für die Soziale Schuldnerberatung in solche der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention differenzieren (zur Kategorisierung siehe u. a. Böllert 2015). Hier zielen bereits unter dem Stichwort „Verbraucherbildung“ viele primärpräventive Materialien und Programme auf

192

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Abb. 2   Angebote der Sozialen Schuldnerberatung. (Quelle: DISW 2017, S. 4 f., 94 f., 104 f.)

(Berufs-)Schüler_innen, aber nur wenige auf Erwachsene (Stichwort: Budgetberatung)9. Für die Soziale Schuldnerberatung denkbar sind zusätzliche niedrigschwellige Beratungs- und Informations-Veranstaltungen z. B. in sozialräumlichen Treffpunkten oder Familienzentren. Ein sekundäres Präventionsangebot reagiert frühzeitig auf ein bereits aufgetretenes Verschuldungsproblem und versucht, dessen weitere Verstärkung und Verfestigung zu verhindern (Scherr 2018, S. 1015). Im Unterschied zu primärpräventiven Angeboten befinden sich Ratsuchende bereits in einer problematischen finanziellen Situation. Sie sind allerdings noch nicht manifest überschuldet. Ein typisches sekundärpräventives Angebot der Sozialen Schuldnerberatung ist die vielerorts vorgehaltene niedrigschwellige Kurz- und Notfallsprechstunde. Sie steht allen Ratsuchenden offen, d. h. auch solchen, die aufgrund von Selbstständigkeit und/oder höheren Einkommen keine öffentliche Kostenübernahme erhalten und entsprechend auch keine weiterführende Beratungsleistung („Interventionsprodukt“) der Sozialen Schuldnerberatung in Anspruch nehmen können.

9Viele

Programme und Träger finden sich z. B. im Präventionsnetzwerk ‚Finanzkompetenz e. V.‘ Online unter: https://www.pnfk.de/.

Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung

193

Perspektivisch mag die im März 2016 gesetzlich eingeführte Beratungsangebotspflicht gem. §§ 504a/505 BGB den weiteren Ausbau sekundärpräventiver Beratungsangebote begünstigen. Kreditinstitute müssen inzwischen Kund_ innen, die dauerhaft und erheblich ihren „Dispo“ ausschöpfen bzw. ihre Girokonten überziehen10, ein Beratungsangebot zu kostengünstigeren Alternativen unterbreiten und könnten zukünftig – statt selbst zu beraten – auf Basis von Kooperationsverträgen alternativ auf externe Beratungsangebote z. B. der Sozialen Schuldnerberatung verweisen (siehe ausführlich DISW 2017, S. 14 ff.). Tertiärprävention beschreibt dagegen ein nachsorgendes bzw. -gehendes Angebot mit bedarfsorientierter Unterstützung von Menschen in Regulierungs- oder Insolvenz-Wohlverhaltenspflichtphasen. Sie umfasst im Nachgang einer (bereits abgeschlossenen) allgemeinen Schulden- und Insolvenzberatung ein verbindlich erreichbares Unterstützungsangebot, das in krisenhaften Phasen und/oder während der langen Phase der Restschuldbefreiung einen Rückfall Betroffener in eine erneute Überschuldungssituation verhindern soll (vgl. DISW 2017, S. 52, 93 ff.).

4 Entwicklung der Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung in Hamburg 4.1 Fallpauschalierte Finanzierung seit 2008 In Hamburg ging seit Juni 2003 die bis dahin durch die Bezirksämter durchgeführte Soziale Schuldnerberatung im Rahmen einer öffentlichen Bekanntgabe der Behörde nach und nach auf öffentlich geförderte freie Träger über (vgl. FHH BV Bergedorf 2015, Anlage). In 2008 fand eine öffentliche Neuausschreibung mit vertraglicher Laufzeit von fünf Jahren und der Verlängerungsoption um weitere fünf Jahre statt (vgl. FHH 2008). Das öffentliche Vergabeverfahren umfasste im Jahr 2008 15 Lose mit Losgrößen i. H. v. 200.000 € p.a. Für Leistungen der Sozialen Schuldnerberatung war damit ein jährliches Gesamt- bzw.

10Die

gesetzliche Beratungsangebotspflicht greift, wenn Kunden 75 % der eingeräumten Überziehungsmöglichkeit nach § 504a BGB ununterbrochen über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten in Anspruch nehmen. Sie greift nach § 505 BGB, wenn Kunden in einem Zeitraum von mehr als drei Monaten geduldet ununterbrochen ihr Konto so überziehen, dass der durchschnittliche Überziehungsbetrag die Hälfte des durchschnittlichen monatlichen Geldeingangs übersteigt.

194

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Abb. 3    Fallpauschalierte Finanzierung in Hamburg (2008–2018). (Quelle: eigene Erstellung, gestützt auf Daten von * BASFI Ausschreibung 2008, Kap. A11, 8 sowie ** FHH 2016b)

­ aushaltsbudget i. H. v. (15 × 200.000  € =) 3 Mio. € eingeplant. Interessenten H konnten für max. 3 Lose gleichzeitig ein Angebot abgeben und dadurch ein max. ­Leistungsentgeltvolumen i. H. v. 600.000 € p.a. erreichen (vgl. BASGV 2008, S. 4). Eingegangene Angebote wurden dann im Hinblick auf ihre „Wirtschaftlichkeit“ miteinander verglichen. Ob und inwiefern ein Angebot wirtschaftlich war, hing zu 30 % am Angebotspreis und zu 70 % an qualitativen Kriterien. Auf dem „Preisblatt“ der Ausschreibungsunterlagen waren Preise für sechs zum Teil nach Gläubigerzahl differenzierte Fallpauschalen anzugeben (siehe Abb. 3; BASGV 2008, D.10 Preisblatt). Zu den qualitativen Kriterien zählten die organisatorische, technische, räumliche Ausstattung und Erreichbarkeit der Beratungsstelle (20 %), ihre personelle Umsetzung und regionale Vernetzung (25 %) sowie die Qualität und Belastbarkeit des Beratungskonzeptes (25 %) (vgl. BASGV 2008, A.13 Prüfung und Wertung der Angebote). Sechs der Träger, die am Ende des Ausschreibungsverfahrens für

Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung

195

10 Standorte den Zuschlag bekamen11, unterzeichneten 2013 eine Kooperationsvereinbarung mit der zuständigen Behörde (BASFI) für weitere 5 Jahre Betriebsverlängerung. Die absolute Höhe der ausgehandelten Pauschalen blieb angesichts der Wettbewerbssituation der Sozialen Schuldnerberatungsstellen untereinander in der Öffentlichkeit eine unbekannte Größe.12 Mit Ausnahme der (6) nachgehenden Betreuung, die sich als tertiärpräventives Angebot verstehen lässt, beziehen sich die fünf anderen Fallpauschalen ausschließlich auf (Teil-)Leistungen des in Abschn. 3.2 beschriebenen Interventionsangebotes einer allgemeinen Schulden- und Insolvenzberatung. Erbrachte primär- und sekundärpräventive Leistungen sind demnach nicht durch Fallpauschalen refinanzierbar, sondern nur (Teil-) Interventionsleistungen für bereits überschuldete Ratsuchende: Nach Bestätigung der Kostenübernahme kann zu Beginn der (allgemeinen Schulden- oder Insolvenz-)Beratung (1) eine sogenannte Grundpauschale abgerechnet werden. Die (2) Beratungspauschale wird fällig, sobald ein vollständiger Schuldenbereinigungsplan bzw. vollständiges Gläubigerund Forderungsverzeichnis aufgestellt ist (siehe BASGV 2008, A.11 Angebotspreis, S. 7). Eine (3) Erfolgspauschale I „Stundung oder Teilregulierung“ wird dem Kostenträger in Rechnung gestellt, wenn entweder eine mindestens sechs Monate gültige Stundungsvereinbarung mit mindestens 50 % der Gläubiger bzw. über mindestens die Hälfte der Forderungen gelingt oder mit einem Teil der Gläubiger eine dauerhafte Tilgungsregelung getroffen wird. Die Erfolgspauschale II (Fallpauschale Nr. 4) kann abgerechnet werden, wenn der außergerichtliche Einigungsversuch gescheitert ist und in der Folge ein Insolvenzverfahren

111)

afg worknet GmbH, 2) Deutsches Rotes Kreuz – Gesellschaft für soziale Beratung und Hilfe mbH, 3) Diakonisches Werk Hamburg – Landesverband der Inneren Mission e. V., 4) Hamburger Arbeit Beschäftigungsgesellschaft mbH, 5) H.S.I.-Hamburger Schuldner- und Insolvenzberatung des Hamburger Kinder- und Jugendhilfe e. V. sowie die 6) ­Verbraucherzentrale Hamburg e. V. (siehe BASFI 2011, 2018). 12Einen ungefähren Anhaltspunkt geben Gebührensätze der nicht öffentlich geförderten Schuldnerberatungsstellen wie z. B. Roder/Förter-Vondey GbR Beratung und Betreuung. Die Kosten für ein Beratungsgespräch betragen 71,40 € . Ein a. g. (außergerichtlicher) Einigungsversuch kostet 589,05 €  bei 1–5 Forderungen (678,30 € = 6–10 Forderungen; 767,55 € = 11–15 Forderungen; 856,80 € = 16–20 Forderungen etc.). Falls der a. g. Einigungsversuch scheitert, werden für die notwendige Bescheinigung zum Antrag auf Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens 238,00 €  berechnet (siehe Erfolgspauschale II bei öffentlich geförderten Schuldnerberatungsstellen). Der erfolgreiche Abschluss einer a. g. Einigung kostet einmalig 297,50 € (vgl. Erfolgspauschale III bei öffentlicher Förderung). Siehe im Detail zu den Kosten bspw. bei Beratung und Betreuung Roder/Förter-Vondey: https://www.beratung-und-betreuung.de/unsere-gebhren/ (Zugriff: 01.02.2018).

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angestrebt wird. Voraussetzung für die Abrechnung der Fallpauschale ist die sogenannte „Bescheinigung“ nach § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO, die ausgestellt wird, wenn die oder der Ratsuchende erfolglos versucht hat, eine außergerichtliche Einigung mit den Gläubigern über die Schuldenbereinigung auf der Grundlage eines (Regulierungs-)Plans zu erzielen13. (5) Erfolgspauschale III ist auszuzahlen, wenn mit allen Gläubigern erfolgreich ein außergerichtlicher Vergleich, d. h. auf Basis eines (Regulierungs-)Plans eine Schuldenregulierung über alle Forderungen vereinbart wurde. Möglich sind Vereinbarungen mit Gläubigern zu Einmal- und Ratenzahlungen, aber auch ein Zahlungsverzicht bzw. ein sogenannter „Nullplan“, in dem Ratsuchende sich verpflichten, innerhalb eines Zeitraums Zahlungen zu leisten, wenn sie zu pfändbarem Einkommen gelangen sollten. Die Höhe der Erfolgspauschalen II und III staffelt sich nach der Anzahl der Gläubiger und nach der „Wertigkeit“ des erzielten Beratungsergebnisses: „Umso hochwertiger der Abschluss, umso höher ist auch die Fallpauschale.“ (BASFI 2011). Die Erfolgspauschale III, die eine erfolgreiche außergerichtliche Einigung mit allen Gläubigern voraussetzt und daher ein Verbraucherinsolvenzverfahren mit anhängigen Gerichts- und Verwaltungskosten vermeidet, gilt als am hochwertigsten. Vor dem Hintergrund der einkommensarmen Klient_innen der Sozialen Schuldnerberatung wurde diese Pauschale 2015 allerdings nur in 175 Fällen in Hamburg abgerechnet. Die Erfolgspauschale I („Bescheinigung“) konnte dagegen im gleichen Jahr knapp 1600-mal in Rechnung gestellt werden (siehe Abb. 3). Im Vergleich zu dem in der Ausschreibung von 2008 eingeplanten jährlichen Gesamtbudget für Soziale Schuldnerberatung i. H. von 3 Mio. € waren die öffentlichen Ausgaben in Hamburg 2015 deutlich höher. Die Summe abgerechneter Fallpauschalen für Soziale Schuldnerberatung belief sich im Jahr 2015 auf 3,635 Mio. €. Davon finanzierte das Jobcenter als kommunale Eingliederungshilfeleistung gem. § 16a SGB II ca. 60 % der insgesamt 3275 Fälle. Bei knapp 40 % der Fälle kamen die Grundsicherungsämter für die Kosten auf (FHH 2016a, b)14.

13Siehe

bspw. das Formular „Anlage 3c: Bescheinigung über das Scheitern des außergerichtlichen Einigungsversuchs (§ 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO)“ der BASFI-Arbeitshilfe zur Durchführung der Schuldnerberatung gemäß § 11 (5) SGB XII. Online unter: http://www. hamburg.de/basfi/ah-sgbxii-Kap03-11 (Zugriff: 01.04.2018). 14Die genaue Fallzahl für 2015 ist unbekannt. Hilfsweise wird auf die abgerechneten Grundpauschalen zurückgegriffen (sogenannte Fallpauschale 1). Fälle mit Eigenbeteiligung sind hier nicht berücksichtigt. Ihr Anteil ist allerdings auch geringfügig.

Finanzierung der Sozialen Schuldnerberatung

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4.2 Implikationen für die Finanzierung Sozialer Schuldnerberatung ab 2018 In Hamburg werden primär- und sekundärpräventive Leistungen der Sozialen Schuldnerberatung im Rahmen des aktuellen fallpauschalierten Entgeltsystems (2008–2018) nicht refinanziert. Im benachbarten Bundesland Schleswig-Holstein sieht die öffentliche Finanzierung dagegen eine Pauschale für (Primär-) Präventionsarbeit vor. Entsprechend ist in der „Richtlinie zur Förderung von geeigneten Stellen im Sinne von § 305 Insolvenzordnung (InsO)“ von Schleswig-Holstein (SH 2015a) als sozialpolitisches Ziel „die Sicherstellung von Präventionsmaßnahmen im Bereich Verschuldung“ formuliert (SH 2015a, Abschn. 1). Erreicht werden soll diese Zielsetzung durch diverse Präventionsveranstaltungen Sozialer Schuldnerberatung innerhalb und außerhalb allgemeinbildender Schulden (SH 2015b). Explizit angeführt werden Veranstaltungen für Berufsschüler_innen und junge Menschen in Einrichtungen der Berufsförderung und -orientierung bzw. außerhalb der Schule, für Lehrkräfte und andere Multiplikator_innen sowie für sonstige Erwachsene (SH 2015b). Soziale Schuldnerberatungen erhalten in Schleswig-Holstein jedoch auch Mittel für die aktive Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen, wie z. B. Diskussionen und Infostände in der Öffentlichkeit (SH 2015b). Die Refinanzierung erfolgt ähnlich der Abrechnung von Fachleistungsstunden ambulanter Dienste. „Für die Durchführung von […] Präventionsmaßnahmen wird ein Stundensatz von 60,87 € gewährt. Außer der Veranstaltungsdauer der einzelnen Maßnahmen kann jeweils eine Stunde Vorbereitung und die tatsächliche Fahrzeit angesetzt werden. Der Stundensatz wird grundsätzlich pro Veranstaltung nur für eine Person gewährt. Bei Gruppenveranstaltungen mit mehr als 20 Teilnehmern kann der Stundensatz für zwei Personen gewährt werden. Veranstaltungen mit weniger als fünf Teilnehmerinnen oder Teilnehmern sind nicht förderfähig“ (SH 2015a, Abschn. 5.2.2).

Einen Schritt weiter in Richtung „präventionsorientierte konzeptionelle Weiterentwicklung der Sozialen Schuldnerberatung“ (DISW 2017, S. 90) ging die zuständige Hamburger Landesbehörde BASFI im September 2017. Sie startete die zweite öffentliche Ausschreibung der Sozialen Schuldnerberatung in Hamburg mit einem neuen Finanzierungsmodell (siehe Abb. 4). Vorgesehen ist ab 01.08.2018 eine vertragliche Laufzeit von drei Jahren mit jeweils zweimaliger Vertragsverlängerung um je zwei weitere Jahre bis zum 31.07.2025. Im Vergleich zum öffentlichen Vergabeverfahren im Jahr 2008 mit 15 Losen umfasst das Verfahren 2017 nur 5 Lose mit einer Losgröße i. H. v. 750.000 € p.a. Interessenten können jeweils nur für max. ein Los gleichzeitig ein Angebot abgeben

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Abb. 4   Öffentliche Ausschreibung 2017 – Ausbau der Finanzierung von Präventionsarbeit. (Quelle: eigene Berechnung mit BASFI 2017: Leistungsbeschreibung und A4-Preisblatt)

(vgl. FHH 2017, S. 3). Insgesamt beläuft sich das für Leistungen der Sozialen Schuldnerberatung ab 2018 angesetzte Gesamt- oder Haushaltsbudget demnach jährlich auf (5 × 750.000  € =) 3,75 Mio. € und liegt damit 3 % über (den tatsächlichen) Ausgaben für die Sozialen Schuldnerberatung 2015 (3,635 Mio. €). Wie aus den Vergabeunterlagen deutlich wird, haben sich die (Fall-) Pauschalen strukturell geändert und sind fünf sogenannten Modulen zugeordnet. Jedem Modul ist ein Teilbudget zugewiesen. Die Teilbudgets ergeben wiederum in der Summe die Losgröße i. H. v. 750.000 € (FHH 2017, S. 33; A4 Preisblatt und siehe Abb. 4). Bieter, die sich am Ausschreibungsverfahren beteiligen, kalkulieren ihren jeweiligen Preis pro Pauschale im entsprechenden Modul. Ausnahme ist das neue (5) Modul für (Primär-)„Präventive Arbeit“. Hier ist keine Pauschale anzugeben, stattdessen steht jährlich ein Festbetrag i. H. v. 37.500 € für tatsächlich angefallene Kosten zur Verfügung. Insofern einem Anbieter Kosten für jegliche Maßnahmen, Aktivitäten, Initiativen, die den Ursachen von Überschuldung frühzeitig begegnen (FHH 2017, Bewertungsmatrix),

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entstanden sind, werden diese nicht mittels einer Pauschale, sondern in voller Höhe bis zur Festbetragsgrenze erstattet. Neben primärpräventiver Arbeit stärkt das neue Finanzierungsmodell auch die Sekundärprävention durch das (1) Modul für „Offene Beratung und Informationsveranstaltung“ mit der Pauschale „Kurz- und Notfallberatung“ (siehe Abb. 4). Sie refinanziert ein niedrigschwelliges Beratungsangebot und richtet sich an Ratsuchende in einer finanziell problematischen Situation. Dazu zählt z. B. eine anstehende Sperrung der Energie- oder Wasserversorgung, eine Konto- oder Lohnpfändung bzw. ein Besuch vom Gerichtsvollzieher. Die Modul-Leistung umfasst bis zu drei Beratungstermine und u. a. auch die Ausstellung von „P-Kontenbescheinigungen“15 sowie die Teilnahme an einer (Gruppen-)InfoVeranstaltung zum Thema Schulden(regulierung), die mind. alle zwei Wochen anzubieten sind (FHH 2017, S. 21). Das Angebot an „Notfallsprechzeiten“ (BASFI 2016c) der Sozialen Schuldnerberatung ist in Hamburg nicht neu. Bisher wird es jedoch nicht als separate Leistung refinanziert. Seit 2018 ist nun explizit dafür eine Pauschale vorgesehen, die auch für solche Ratsuchenden abrechenbar ist, die eine allgemeine Schulden- oder Insolvenzberatung der Sozialen Schuldnerberatung nicht in Anspruch nehmen werden bzw. können (siehe auch Abschn. 3.2) (FHH 2017, S. 31). Die bisher abrechenbaren Grund-, Beratungs- und Erfolgspauschalen I-III (siehe Abschn. 4.1) werden ab Mitte 2018 übergeleitet in die beiden Module (2) „Allgemeine Schuldnerberatung“ und (3) „Insolvenzberatung“. Beide Module enthalten jeweils eine Grund- und Abschlusspauschale, die nicht mehr nach einer bestimmten Anzahl von Gläubigern differenziert. Die Grundpauschale kann bereits zu Beginn eines Beratungsprozesses abgerechnet werden und beträgt 50 % der Abschlusspauschale, die entsprechend am Ende des Beratungsprozesses fällig ist (FHH 2017, S. 32). Unverändert geblieben ist die tertiärpräventive Pauschale im (4) Modul „Nachgehende Beratung“ (FHH 2017, S. 33; und siehe Abschn. 4.1). Mit Blick auf die beiden neu hinzugekommenen Module (1) „Offene Beratung und Informationsarbeit“ und (5) (Primär-)„Präventive Arbeit“ kommt Präventionsarbeit in der Sozialen Schuldnerberatung in dem ab Mitte 2018 gültigen Finanzierungsmodell deutlich stärkere Bedeutung zu. Insgesamt sind durch erbrachte präventive Leistungen dieser drei Module 30 %, d. h. knapp ein Drittel der zur Verfügung

15Gemeint

sind Bescheinigungen für Kreditinstitute, um dort ein „Pfändungsschutzkonto“ (‚P-Konto‘) ohne Dispositionskredit und ohne Überziehungsmöglichkeit, d. h. nur auf Guthabenbasis einzurichten.

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s­ tehenden Budgetmittel pro Jahr abrechenbar. Bezogen auf ein (­Ausschreibungs-) Los sind dies bis zu 225.000 € von max. 750.000 € (siehe Abb. 4). Umgekehrt gelesen, erfolgt die zukünftige Finanzierung von Präventionsarbeit aber nicht ergänzend „on top“, sondern substitutiv: Für Interventionsangebote wie allgemeine Schulden- und Insolvenzberatung sehen die im Vergabeverfahren „fixierten Modulbudgets“ (FHH 2017, A4-Preisblatt) nur noch 70 % der bisher abrechenbaren Summe vor.

5 Fazit Tendenziell zeigt sich in der Sozialen Schuldnerberatung ein steigender und komplexer werdender Beratungsbedarf. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Ver- und Überschuldungsentwicklung ist neben dem bestehenden Angebot allgemeiner Schulden- und Insolvenzberatung das Angebot an primären, sekundären und tertiären Präventionsleistungen (weiter) auszubauen und öffentlich zu fördern. Uneinheitliche länderspezifische Regelungen zur öffentlichen Finanzierung Sozialer Schuldnerberatung erschweren jedoch einen bundesweiten Vergleich von Finanzierungsmodellen. Am Beispiel von Hamburg wird deutlich, dass die neuen, ab Mitte 2018 geltenden Finanzierungsstrukturen den gestiegenen Stellenwert der Präventionsarbeit widerspiegeln: (Tatsächlich) entstandene Kosten im Rahmen von primärpräventiver Arbeit werden erstattet. Das sekundärpräventive Angebot „Offene Beratung und Informationsarbeit“ wird erstmals mit einer Leistungspauschale vergütet und die tertiärpräventive Pauschale für „Nachgehende Beratung“ weiterhin beibehalten. Ein offenes Vergabeverfahren mit Betonung von quantitativen und qualitativen Wirtschaftlichkeitsfaktoren forciert auf Anbieterseite aber stets Ökonomisierungsprozesse. (Sehr) knapp kalkulierte (Leistungs-) Pauschalen verschärfen sowohl Effizienz- als auch Effektivitätsdruck. Hinzu kommt, dass die neuen Präventionsmodule nicht „on top“ finanziert werden, sondern in ein bestehendes fast ausschließlich für Interventionsangebote der allgemeinen Schuldner- und Insolvenzberatung zur Verfügung stehendes Gesamtbudget eingerechnet sind. Die Kalkulation kostendeckender Leistungspauschalen entspricht damit einer Gleichung mit vielen unbekannten Parametern. Dies betrifft insbesondere das Verhältnis von Prävention und Intervention. Offen ist, wie sich die stärkere strukturelle Gewichtung der Präventionsarbeit in der Praxis auswirkt resp. ob und inwiefern eine „erfolgreiche“ Präventionsarbeit quantitativ und qualitativ den Bedarf an Interventionsangeboten zu beeinflussen vermag. Nur in einem Best-Case-Szenario wäre die Anzahl von „Interventionsfällen“ rückläufig und der Beratungsaufwand zeitlich/personell mit weniger

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Ressourcen verknüpft. Wirtschaftlich herausfordernder und sozialarbeiterisch realistischer ist dagegen, dass der Anteil an Klient_innen mit komplexen Unterstützungsbedarfen, die langfristige Überschuldungsbiografien und Anzeichen von „Überlastungsstarre“ (siehe Abschn. 2) mitbringen, trotz „erfolgreicher“ Präventionsarbeit auch zukünftig (weiter) steigt. In diesem Szenario erscheint ein geschrumpftes Interventionsbudget angesichts (sehr) knapp kalkulierter Leistungspauschalen nicht unkritisch. Es kann eine nachhaltige Kostendeckung gefährden und birgt zugleich das Risiko der Rationierung professioneller sozialarbeiterischer Fachlichkeit.

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Teil IV Care: Bezahlte und unbezahlte sozialwirtschaftliche Versorgung

Care Economy: Wir alle sind Wirte und Wirtinnen in Belangen der sozialen Versorgung Wolf Rainer Wendt

Zusammenfassung

Soziale und gesundheitliche Versorgung ist eine Gemeinschaftsaufgabe. In ihr wirken institutionelle Versorger mit den individuell Sorgenden zusammen. In ihrem Handlungsfeld knüpfen formelle dienstliche Leistungen, wo immer möglich, an informelle Sorgearbeit an. Eine neue Verteilung von Zuständigkeit und Verantwortung ist die Folge. Die Ökonomie gemischter Versorgung (mixed economy of care) und deren Regie (governance of care) bauen auf dem Gebiet der Pflege, der Erziehung, der Integration und allgemein der sozialen Unterstützung auf Partnerschaft und Kooperation der Beteiligten. Sie sind in ihrer Beziehung aufeinander und in der Erfüllung ihrer Aufgaben Wirte und Wirtinnen des Geschehens. In dieser Rolle bewirtschaften sie die Kräfte, die Zeit, die Fähigkeiten und die Mittel, über die sie verfügen und die sie in ihrem Aktionsbereich umsichtig zum Versorgungszweck, zu persönlichem und gemeinsamem Wohlergehen einsetzen können.

W. R. Wendt (*)  Duale Hochschule BW Stuttgart, Stuttgart, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_11

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1 Einleitung Die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels – Digitalisierung, Individualisierung, demografische Entwicklung – fordert die Gestaltung der sozialen Versorgung heraus. Wobei mit Versorgung alles gemeint ist, was getan wird und zu tun ist, wenn Menschen in der Bewältigung ihrer Belange nicht allein zurechtkommen und person- und situationsbezogen Hilfen benötigen. Diese sehr allgemeine Formulierung sei gewählt, um die Breite des Bedarfs in den Blick zu rücken. Zu diesem Bedarf sind die Ressourcen – die materiellen und immateriellen Vermögen – in Verhältnis zu setzen, mit denen für ihn aufgekommen werden kann. Ein Großteil de Potenzials liegt informell vor oder kann in Interaktion öffentlicher, ziviler und privater Akteure der Daseinsvorsorge erschlossen werden. In ihr sind wir alle zu wirtlichem Handeln gefordert. Als Wirt oder Wirtin der eigenen und gemeinsamer Versorgung haben wir eine Zuständigkeit für ihre Gestaltung. Dafür ist Einsicht in die Aufgabenstellung Voraussetzung. In der Frage nach der Regie von Versorgung (governance of care) heute und zukünftig wird zunächst ein Überblick in der Landschaft des Pflegens, Betreuens und der Unterstützung gebraucht, um danach zu diskutieren, wie sich eine quantitativ und qualitativ hinreichende Versorgung auf der Makro-, Meso- und Mikroebene des Geschehens erreichen und erhalten lässt.

2 Sorgearbeit im Fokus Die Last der Versorgung ist eine Arbeitslast. Wie sie sich verteilt oder sich anders und besser verteilen lässt, gilt es zu erkunden. Anteil haben Sorgende im eigenen Lebensbereich, die Strukturen der stationären und ambulanten Versorgung, darunter Einrichtungen und Dienste in öffentlicher, frei-gemeinnütziger und privat-gewerblicher Trägerschaft sowie freiwillige und andere bürgerschaftlich Engagierte. Alle Akteure leisten ihren Beitrag zur sozialwirtschaftlichen Aufgabenbewältigung und gehören in das Beziehungsgeflecht der sozialen Daseinsvorsorge und gemischten Produktion von Wohlfahrt. Dazu dürften zwei Vorbemerkungen angebracht sein. Erste Vorbemerkung: Die Debatte in der Sozialwirtschaft beginnt und endet zumeist bei den dienstleistenden Unternehmen und ihrem Ergehen. Gefragt ist der betriebswirtschaftliche Erfolg eines Unternehmens und was zu diesem Erfolg beitragen kann. Die Beschränkung auf eine Dienstleistungsbranche wird der sozialwirtschaftlichen Aufgabenstellung jedoch keineswegs gerecht. Unberücksichtigt bleibt nicht nur der ökonomische Rahmen des sozialrechtlichen Leistungsdreiecks,

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in dem Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsnehmer aufeinander bezogen sind, sondern auch das ganze sozialwirtschaftlich relevante Geschehen außerhalb des formellen Versorgungssystems. Dabei meinte „Sozialwirtschaft“ bekanntlich für lange Zeit gerade das außerhalb von ihm in Selbsthilfe und genossenschaftlich organisierte Wirtschaften zu Zwecken sozialer Bedarfsdeckung. Für heute und morgen wird die Ökonomie eigenen und gemeinsamen Sorgens immer wichtiger und die Bewirtschaftung des Leistungssystems kommt immer weniger ohne das informelle Sorgegeschehen aus. Grund genug, den sozialwirtschaftlichen Diskurs auf Care in seiner ganze Ausdehnung und Vielgestaltigkeit zu fokussieren. Eine zweite Vorbemerkung zu Care: Der Begriff meint allgemein die Sorge und die Praxis des Sorgens, geleistet zur Versorgung von Menschen. Die Disposition der Sorge (des emotionalen und kognitiven Besorgtseins, caring about) und die Aktivitäten des Sorgens (caring for) verbinden sich in all den Weisen, in denen sich Menschen um Menschen kümmern, persönlich oder organisiert, informell oder professionell. In dieser breiten Bedeutung wird Care englischsprachig verwandt. Der Begriff bezeichnet auf der institutionellen Ebene die ganzen Systembereiche von social care, health care, elderly care, child care, psychosocial care, rehabilitation care und recreational care. Care work gleich Sorgearbeit ist zu einem Leitbegriff in der feministischen Diskussion weiblicher Fürsorge geworden (Aulenbacher und Dammayr 2014; Winker 2015). Gesorgt wird von Frauen von der Hausarbeit bis in die vorwiegend weiblichen sozialen Berufe und die Einrichtungen und Dienste der Pflege. „Care is both the paid and unpaid provision of support involving work activities and feeling states. It is provided mainly, but not exclusively, by women to both able-bodied and dependent adults and children in either the public or domestic spheres, and in a variety of institutional settings“ (Thomas 1993, S. 665). Entsprechend formuliert Brückner: Sorgearbeit bezeichnet „den gesamten Bereich weiblich konnotierter, personenbezogener Fürsorge und Pflege, d. h. familialer und institutionalisierter Aufgaben der Versorgung, Erziehung und Betreuung und stellt sowohl eine auf asymmetrischen Beziehungen beruhende Praxisform als auch eine ethische Haltung dar“ (Brückner 2010, S. 43). Soweit die Sorgearbeit nicht informell erledigt wird, braucht man das institutionalisierte System der Versorgung. Es besteht in einem Beschäftigungssystem, zusammengesetzt aus Diensten und Einrichtungen. Systematisch kann das system of care daraufhin betrachtet werden, inwieweit es den Versorgungsbedarf deckt und die Arbeit leistet, die komplementär und kompensatorisch zur informellen Sorgearbeit gebraucht wird. Ein System z. B. der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltens­ problemen besteht aus Diensten und Einrichtungen der Beratung, der Erziehung und sozialen Betreuung, der gesundheitlichen Prävention und medizinischen Behandlung,

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der Freizeitgestaltung und Erholung, des Übergangs von der Schule in die Arbeitswelt usw. (vgl. Stroul und Blau 2008). In Deutschland liegt eine Systematisierung mit dem SGB VIII vor. Ein Netzwerk der Versorgung im Alter reicht von der im SGB XI vorgesehenen Pflegeberatung bis zum Hospiz für Sterbende. In der Bewirtschaftung der Versorgungsaufgabe haben die divers Beteiligten ein unterschiedliches Gewicht und Potenzial. Während kommerzielle Anbieter im Gesundheits-, Pflege- und Sozialmarkt mit ihrer Leistungsfähigkeit werben, bleibt das weite Feld informellen Sorgens im Schatten und verdient gerade deshalb und umso mehr Beachtung, unabhängig vom Lob des sozialen Geschäfts der Unternehmen. Mag deren Betriebserfolg auf den ersten Blick mit geringerer Eigenaktivität ihrer potenziellen Nutzer und informeller Helfer wachsen, bieten sich ihnen bei einer Versorgung in Partnerschaft neue und andere Chancen.

3 Mit dem feministischen Konzept der Sorgeökonomie zur Versorgungsregie Die von Frauen im häuslichen Rahmen geleistete Sorgearbeit ist in der Wirtschaftswissenschaft lange ignoriert worden und wird bis heute nicht bzw. nur höchst unzulänglich in die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einbezogen. Der Bereich des Wirkens im Haushalt samt aller personenbezogenen Pflege in ihm bleibt, weil unbezahlt, statistisch außer Betracht und ohne erwerbswirtschaftliche Bewertung. Diese Mangel ist in der Frauenbewegung der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts aufgezeigt und sodann in der feministischen Ökonomie genauer analysiert worden (Waring 1988; Felber und Nelson 1993; Bauhardt und Çağlar 2010). Inzwischen gibt es zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zwar Satellitenkonten; sie ändern aber nichts an der Gegenüberstellung von marktlichem Wirtschaftsgeschehen und in Haushalten und an Menschen unmittelbar zu ihrer Wohlfahrt geleisteter Arbeit. Die feministische Diskussion hat zu einer neuen Konzeption der Ökonomie des Sorgens geführt. Sie bewertet jenseits der Maßstäbe, welche die klassische und die neoklassische Nationalökonomie an die Gewinn- und Nutzengenerierung anlegen, die Produktivität der Sorgearbeit und ihren hoch einzuschätzenden Beitrag zur Wohlfahrtsproduktion insgesamt. Sorgearbeit wird unbezahlt im Haushalt und bezahlt – mehr oder weniger gut bezahlt – in vorwiegend weiblicher Erwerbstätigkeit geleistet. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist die Sorge­ arbeit Gegenstand einer weiblich geprägten Haushaltswissenschaft (Wendt 1986; Thompson 1988; Stage und Vincenti 1997) und einer caring economy bzw. von careful economics (Jochimsen 2003) bzw. Care-Ökonomie (Madörin 2010;

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­ nobloch 2013): „Die Sorgeökonomie untersucht, in welchem Umfang SorgearK beit in einer Gesellschaft geleistet wird, wie die Bereitstellung von Sorgearbeit individuell und gesellschaftlich organisiert ist, wer konkret die Sorgearbeit leistet und für wen sie geleistet wird. Sie bezieht bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit systematisch in ihre Analyse ein und untersucht das Angebot und die Nachfrage nach Sorgearbeit ebenso wie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen Sorgeleistungen erbracht werden.“ (Knobloch 2013, S. 10 f.). Der feministische Diskurs erschließt einen Zugang zur Ökonomie im Sozialund Gesundheitswesen von den Menschen her, die sich bedarfsbezogen um sich und um einander kümmern, wie verschieden und mehr oder minder kompetent das im Hause oder beruflich außer Haus auch geschehen mag. Mit diesem Bedarfsbezug kommt die Sorgeökonomie mit dem sozialwirtschaftlichen Diskurs überein, der einst (ab 1830) von gegenseitiger Unterstützung und genossenschaftlicher Kooperation ausgegangen ist und erst im Nachhinein (150 Jahre später) das Geschäft von Unternehmen im Handlungsfeld sozialer und gesundheitsbezogener Versorgung eingeschlossen hat. Was heißt nun hier Versorgung und vom wem wird sie getragen und ausgeführt? Gemeint ist Versorgung bei Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit, Erziehung und Betreuung von Kindern, Entwicklungskrisen und in diversen Notlagen. Im Wohlfahrtsstaat haben wir dafür ein funktional ausdifferenziertes Sozialleistungssystem. Es steht in seiner Administration und mit seinen Einrichtungen und Diensten den Menschen bei Bedarf zur Verfügung. Das System trägt aber Versorgung nicht allein bzw. nur zum geringeren Teil. Versorgung von Menschen erfolgt zum größeren Teil informell durch sie selber in Formen der Selbstsorge und der Sorge füreinander und miteinander. Das ist zunächst eine triviale Feststellung. Jeder weiß, dass Kinder von ihren Eltern erzogen werden, dass Pflegebedürftige überwiegend im eigenen Haushalt von Angehörigen betreut werden und dass man nicht bei jeder Gesundheitsstörung zum Arzt geht oder gar ein Krankenhaus aufsucht. Das Verhältnis von Sorgen und Versorgung wird gewichtig, wenn eine übergreifende sozialwirtschaftliche Disposition in der sozialen und gesundheitsbezogenen Daseinsvorsorge sich des Versorgungsbedarfs und der Versorgungsmöglichkeiten gestaltend annimmt. Für das Sorgen muss gesorgt werden. In der modernen Welt gehört zur individuellen Lebensbewältigung eine institutionelle Absicherung. Für sie ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts schrittweise die sozialpolitische Regie und im 20. Jahrhundert die wohlfahrtsstaatliche Regie zuständig geworden. Heutzutage reicht die bloße Bereitstellung von Sozialleistungen nicht aus, um der Dynamik der Lebensverhältnisse zu entsprechen. Das Management der öffentlichen und sozialen Daseinsvorsorge und die individuelle Lebensführung müssen wohlfahrtsdienlich ineinandergreifen.

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4 Die sozialwirtschaftliche Rahmung des Sorgens und der Versorgung Erfassen wir einerseits die soziale und die wirtschaftliche Dimension, in der sich Menschen selbst, miteinander und füreinander darum kümmern, dass sie materiell und immateriell in ihrem Leben zurechtkommen, und andererseits die darauf bezogene organisierte und institutionell eingerichtete Versorgung in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Dimension, haben wir einen weiten Rahmen für die Aufgabe einer nachhaltigen Gestaltung und Integration des Sorgens und der Versorgung. Wir beschränken uns dabei im Verständnis von Care kategorial nicht auf Pflege bei Gebrechlichkeit, Krankheit oder Behinderung, gar bloß auf fachliche Pflege durch dafür ausgebildete Kräfte. Versorgung erfolgt – wie erörtert – zum großen Teil informell und es gibt auch im beruflichen Bereich viele Übergänge zwischen Unterstützungs- und Betreuungstätigkeiten vom hauswirtschaftlichen bis in den medizinisch-therapeutischen Bereich. Das Versorgungssystem ist auf mehreren Ebenen und in einem Nebeneinander von Akteuren organisiert. Abgesehen von den Fachgebieten und beruflichen Sektoren bezieht eine „gemischte Versorgung“ (welfare mix bzw. mixed care) und Ökonomie gemischter Versorgung (mixed economy of care), wie sie seit den 1980er Jahren diskutiert wird (Evers und Wintersberger 1988), zu den durch Leistungsträger und Leistungserbringer formell gebotenen Diensten die freiwilligen Unterstützungen und die Eigenleistungen von Betroffenen und ihren Angehörigen ein und verbindet in dieser Mixtur auf der überindividuellen Ebene staatliche und marktliche Akteure, Haushalte, Nachbarschaften, zivile Organisationen und auf der Individualebene professionelles, freiwilliges und privates Handeln. Die Beteiligung von informeller Seite und die Hebung des Potenzials individuellen und gemeinschaftlichen Sorgens steht allein schon aus Kostengründen seit längerem international auf der Agenda der Sozialpolitik und wurde mit ihr Thema der Versorgungsforschung. In Großbritannien ist das seit der Marktöffnung der Dienstleistungen mit dem National Health Service and Community Care Act 1990 der Fall. Das lokale Care Management hat seitdem die zugleich soziale und ökonomische Aufgabe, das gemischte Angebot vor Ort zu nutzen. Man macht damit in der Praxis lokal recht unterschiedliche Erfahrungen (Charlesworth et al. 1995). Im Wandel der sozialpolitischen Orientierung und je nach dem in der Altenpflege herrschenden Regime gestaltet sich in anderen Ländern die gemischte Versorgung und das Zusammenwirken von professionellen Kräften und informell Sorgenden unterschiedlich (z. B. in Norwegen: Christensen 2012, in Schweden: Dahlberg 2005, in den Niederlanden: Broese van Groenou et al. 2016, in Italien und Spanien: Casanova et al. 2017; vgl. Suanet et al. 2012).

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Die Konstellationen ändern sich. Menschen mit einer Behinderung wird mehr Teilhabe ermöglicht, wenngleich der Weg zu einer „inklusiven Gesellschaft“ noch weit ist. Die Versorgung im Kindesalter verbessert sich u. a. durch den Ausbau der Frühen Förderung. Chronisch Kranke können von mehr Bemühungen um (sekundäre) Prävention und von Disease Management Programmen profitieren. Die demografische Entwicklung erhöht bei mehr Hochaltrigkeit, mehr Einpersonenhaushalten und veränderten Anforderungen an Familienangehörige in der Arbeitswelt (bei steigender Frauenerwerbsquote) den Bedarf an professioneller Pflege im Alter. Auf informelle Versorgung ohne formelle Ergänzung kann weniger gebaut werden. Eine Untersuchung in den Niederlanden hat ergeben, dass zwischen 1992 und 2012 bezahlte Pflege zunehmend an die Stelle unbezahlter Leistungen gerückt ist. Das Angebot an Diensten zur häuslichen Pflege ist gleichzeitig gewachsen (Swinkels et al. 2016). In Deutschland wurden 2015 von den 2,9 Mill. Pflegebedürftigen insgesamt 73 % zu Hause versorgt – zu zwei Dritteln durch Angehörige allein und zu einem Drittel unterstützt durch ambulante Pflegedienste mit 356.000 Beschäftigten, während 27 % der Pflegebedürftigen vollstationär in Heimen mit 730.000 Beschäftigten versorgt wurden (Destatis 2017, S. 5). Sozialwirtschaftlich ist nun zu disponieren, wie sich in Beobachtung der Bedarfsentwicklung und in Erörterung der Möglichkeiten, den Bedarf zu decken, die Versorgung – hier insbesondere im Feld der Pflege im Alter – sozial und wirtschaftlich vertretbar gestalten lässt. Die Lösung dürfte in neuen Arrangements von Beteiligten und Betroffenen und neuen Weisen der Kooperation und Koordinierung zu finden sein. Konzepte dafür sind vorhanden und Erfahrungen auch, wie sie sich realisieren lassen.

5 Vernetzung in Feldern der Sorge und der Versorgung mit der Perspektive einer „Sorgenden Gemeinschaft“ Die Akteure der Versorgung können sich im näheren oder weiteren Raum ihres Miteinanders für ein Zusammenwirken organisieren. Initiatoren sind die Zivilgesellschaft, Betroffene in Selbsthilfe, Leistungsträger und professionelle Dienstleister. Sie begegnen einander in einer vorhandenen Landschaft der (kommunalen) Daseinsvorsorge in Belangen sozialer, gesundheitsbezogener und speziell pflegerischer Versorgung. In ihrem Feld lässt sich feststellen, inwieweit sie bedarfsgerecht erfolgt, welche Versorgungslücken es gibt und wo und auf welche Weise Ressourcen für eine angemessene Bedarfsdeckung erschlossen werden können. Die Versorgungsplanung und die Versorgungsforschung, darunter eine

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geography of care (Conradson 2003; Milligan 2003; Milligan und Wiles 2010) widmen sich diesen Aufgaben. Bekanntlich hat die Sozialraumorientierung speziell in der Jugendhilfe, aber auch in der Behindertenhilfe auf die formell eingerichteten und informell vorhandenen Potenziale aufmerksam gemacht, die sich in einem Aktionsfeld nutzen lassen. In der landscape of care sind verschiedene Formen alter und neuer Arrangements der Versorgung auszumachen (vgl. Wendt 2010). Dazu zählen neben neuen professionellen Konzepten und Modellen (wie Buurtzorg in den Niederlanden und Community Health Nursing international, vgl. Schaeffer et al. 2015) in sozialwirtschaftlicher Sicht Genossenschaften, Netzwerke, Unterstützungszirkel und Sorgegemeinschaften. In der Sozialwirtschaft stellen Genossenschaften seit 200 Jahren die Grundform kollektiver Selbsthilfe dar. Heutzutage erfüllen sie in Form von Sozialgenossenschaften Zwecke für bestimmte leistungsberechtigte Personengruppen. In freiwilligem Zusammenschluss haben sich Seniorengenossenschaften (Beyer et al. 2015; Köstler 2018) bewährt; selbstbestimmtes Leben von Menschen mit einer körperlichen Behinderung wird durch eine Assistenzgenossenschaft erleichtert. Familiengenossenschaften organisieren eine Kindertagesbetreuung (Göler von Ravensburg 2017). International finden wir auf anderer soziokultureller Grundlage z. B. in Ostasien Gestaltungsformen kollektiver Selbsthilfe, z. B. in der Altenhilfe in Japan (Onda 2013) oder als medizinische Genossenschaften mit eigenen stationären und ambulanten Gesundheitsdiensten in Südkorea. Medizingenossenschaften sind dort in der Korean Health Cooperative Federation zusammengeschlossen. Health Care Co-operatives gibt es in anderer Form auch in den USA, in Kanada, in Südamerika und anderswo. Netzwerke der Versorgung, die nicht nur eine Verbindung unter Dienstleistern oder Fachkräften darstellen, sondern professionell mit den Menschen, die einen Versorgungsbedarf haben, und mit den informell für sie Sorgenden geknüpft werden, treten ebenfalls in unterschiedlicher Form auf. Es gibt zur gegenseitigen Unterstützung und Beratung Netzwerke von Familien, die ein behindertes Kind haben. Professionelle begleiten sie. „Mixed care networks“ verbinden in den Niederlanden informelle und freiwillig Helfende mit ambulanten Diensten in der Pflege (Broese van Groenou et al. 2016). In Dänemark hat man Familien mit psychisch kranken Angehörigen zu ihrer Abstützung im lokalen Umfeld mit anderen Familien ohne eine solche Belastung verknüpft (Væggemose et al. 2018). Die Digitalisierung ermöglicht die Bildung von Online-Gruppen, in denen sich Menschen zu gemeinsamer Selbsthilfe untereinander austauschen oder sich Rat von professioneller Seite einholen können. Es werden Internet-Plattformen angeboten, die der Vernetzung von formeller Versorgung und informell Engagierten und Helfenden dienen (Renyi und Kunze 2018). Die digitale Infrastruktur können auch

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Unterstützerkreise bzw. circles of support von Menschen mit Behinderungen oder besonderen Belastungen nutzen (Kirschniok 2010). Die verschiedenen Verwirklichungsmöglichkeiten vernetzten Handelns zur sozialen und gesundheitsbezogenen Versorgung lassen sich in der Idee der caring communities, der Sorgegemeinschaften zusammenführen. In sie wird in jüngster Zeit viel Hoffnung gesetzt (ISS 2014; Nationales Form 2014; Klie 2014). Der Siebte Altenbericht der Bundesregierung hat sich nicht nur für die „Kooperation zwischen professionellen und nicht professionellen Akteuren in lokalen Strukturen und Netzwerken“ ausgesprochen (Siebter Altenbericht 2016, S. 48), sondern in seinen Empfehlungen auch festgehalten: „Tragfähige Sorgearrangements leben von einem Ineinandergreifen unterschiedlicher Hilfen. Segmentierte Hilfen sind zu überwinden, es muss in wohlfahrtspluralistische Hilfearrangements investiert werden. Das Ineinandergreifen von familiären, nachbarschaftlichen, beruflichen, professionellen und freiwilligen Formen der Hilfe – unter Einbeziehung lebensdienlicher Technik – bildet die Grundlage für einen tragfähigen, Teilhabe fördernden und ökonomischen Hilfe-Mix“ (a. a. O. S. 291). Die Bürgerinnen und Bürger sollen in diesem Arrangement Verantwortung übernehmen – für sich und gemeinsam. Das Leitbild der „Sorgegemeinschaft“ konzipiert sie als Verantwortungsgemeinschaft. In einem Experten-Workshop 2013 wurde konstatiert, es sei „vor dem Hintergrund des demografischen Wandels klar, dass die Sorgefähigkeit der Gesellschaft in Zukunft nicht alleine durch professionelle soziale Dienstleistungen oder den Staat selbst gewährleistet werden kann, sondern ganz wesentlich auf die eigenständige Leistung seiner Bewohnerinnen und Bewohner angewiesen sein wird. Hierfür müssen die Rahmenbedingungen gestaltet werden, müssen die Bürgerinnen und Bürger die notwendige Unterstützung bekommen. Damit ist keine grundsätzliche Verantwortungsverlagerung verbunden, sondern vor allem auch eine Anerkennung und Förderung der Bürger und Bürgerinnen; sowohl was ihre Sorgeleistungen angeht als auch hinsichtlich ihrer Rolle als politische Gestalter und Mitgestalter im lokalen Raum“ (ISS 2014, S. 3).

Die „Sorgende Gemeinschaft“ steht für eine neue Verantwortungsteilung all der Akteure, die als Individuen, Familien, in Nachbarschaft, im bürgerschaftlichen Engagement und als Dienstleister und in kommunaler Verantwortung Sorgearbeit leisten. Sie prägen die lokale „Sorgekultur“ aus, in dem man sich darüber verständigt und aushandelt, was an Unterstützung und Hilfe im praktischen Miteinander nötig ist. Dazu wurde seinerzeit eine Formulierung des Bundesfamilienministeriums zitiert: „Eine ‚Sorgende Gemeinschaft‘ ist das gelingende Zusammenspiel von Bürgerinnen und Bürgern, Staat, Organisationen der Zivilgesellschaft und

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professionellen Dienstleistern in der Bewältigung der mit dem demografischen Wandel verbundenen Aufgaben.“ (ISS 2014, S. 4). In Erörterung von Aspekten einer Operationalisierung des Konzepts der „Sorgenden Gemeinschaft“ hat Ludger Klein im genannten Workshop auf für sie nötige Voraussetzungen hingewiesen. Zu fordern sei: • „eine klare Abgrenzung, welche Dienstleistungen im Rahmen sozialer Sicherungssysteme hauptamtlich erbracht werden müssen und welche Ergänzungs- und Unterstützungsleistungen durch das freiwillige Engagement von Bürgerinnen und Bürgern bzw. durch primäre Netzwerke ‚Sorgearbeit‘ abrunden können; • die Offenheit von Politik und Verwaltung gegenüber Initiativen der Bewohnerinnen und Bewohner; • eine Mindestinfrastruktur, die sozialraumorientiert als Knotenpunkt ‚Sorgender Gemeinschaften‘ fungieren kann. Solche Knotenpunkte können bereits vorhandene Einrichtungen, wie zum Beispiel Mehrgenerationenhäuser, aber auch Freiwilligen- oder Familienzentren, Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros oder Nachbarschaftshäuser sein.“ (ISS 2014, S. 28) Entscheidend bleibt aber, inwieweit die Bewohner einer Kommune oder eines Stadtteils tatsächlich willens und bereit sind, sich in die gemeinte Sorgekultur und Gemeinschaftlichkeit einzubringen. Die Motivation der Einzelnen will angeregt, gefördert, moderiert und durchgehalten werden. Für die angestrebte aktive Teilhabe ist die Erfahrung grundlegend, dass sie zur Lebensqualität beiträgt und dass dieser Lebensqualität die soziale Ausdehnung eigen ist, in der Wirtlichkeit des vor Ort geteilten Daseins zu bestehen.

6 Wirtliches Handeln individuell und gemeinschaftlich Was heißt „Wirtlichkeit“ und was hat sie mit Versorgung und der Teilhabe an ihr zu tun? Im feministischen Diskurs zur Sorgearbeit haben Joan Tronto und Berenice Fisher eine weite, ethisch und ökologisch konnotierte Definition des Sorgens (caring) vorgetragen. Sie bestimmten es als „a species activity that includes everything that we do to maintain, continue and repair our ‚world‘, so that we can live in it as well as possible. That world includes our bodies, our selves, and our environment, all of which we seek to interweave in a complex, life-sustaining web.“ (Fisher und Tronto 1990, S. 40). Sorgen hat seine Sphäre in sozialen Lebenszusammenhängen. In ihnen

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erfährt das tätige Dasein seinen Sinn. Es bleibt in diesen realen Kontexten nicht singulär und sie machen es lebenswert. Ein Engagement in ihnen entdeckt sie in ihrer Wirtlichkeit: Der oder die Einzelne ist in ihnen zu Hause, ihnen angehörig und für ihre Zustände auch verantwortlich. Wir sind Wirt und Wirtin in unserem Lebenskreis und haben darin unsere Zuständigkeit – privat im eigenen Haushalt, sozial in den Beziehungen, die wir pflegen, beruflich in einem betrieblichen oder dienstlichen Rahmen und ökologisch in den näheren und weiteren Zusammenhängen, in den wir wirksam sind oder wirken sollten. „Wirt“ steht für griechisch „oikonomos“, den Verwalter des Hauswesens, seiner gleichermaßen sozialen und wirtschaftlichen Belange insgesamt. Im übertragenen Sinne wird die Aufgabe in der governance of care auf jeder ihrer Ebenen wahrgenommen. Im wirtlichen Handeln in der Sozialpolitik, im Management von Einrichtungen und Diensten und in der Steuerung einzelfallbezogener Versorgung verbindet sich das Sorgen mit dem Wirtschaften. Ebenen übergreifend kann zuoberst dafür gesorgt werden, dass in der Bewältigung von Problemlagen von den Beteiligten gewirtschaftet werden kann – und auf der Ebene des sozialen Betriebs wird in wirtschaftlich vertretbarer Weise gesorgt. In Personenhaushalten muss das bei Gefahr sozialen Scheiterns ohnehin geschehen. Mit der Verantwortung werden den Adressaten von Humandiensten keine ökonomischen Lasten zugeschoben. Im Gegenteil: Die Anerkennung der Selbstsorge und geleisteter Sorgearbeit muss mit subsidiärer Unterstützung bzw. anderweitiger Entlastung verbunden sein. Die Schaffung wirtlicher Umstände ermöglicht es dem Einzelnen oder einer Familie erst, ihre Verantwortung mit Erfolg wahrzunehmen. In der ökosozialen Theorie Sozialer Arbeit habe ich die Figur des Wirtes eingeführt, um in der Ökologie der Sozialwirtschaft die Zuständigkeit der Akteure für das Wohl, für ein gutes Ergehen der Menschen anzuzeigen, für die und mit denen sozial gearbeitet wird (Wendt 2015, S. 153 ff.). Das kann keine Zuständigkeit in Isolation sein. Die ökosoziale Theorie Sozialer Arbeit (Wendt 2018) fokussiert wirtliche Verhältnisse, an deren Herstellung und Erhaltung wir individuell und gemeinsam teilhaben bzw. auf die interaktiv hinzuwirken uns aufgetragen ist. Produktives Sorgen (für einen selbst und im eigenen Lebenskreis) gehört zur persönlichen Lebensführung und zu ihrer Ökonomie (Wendt 2017) – wodurch in der Folge weniger passives Versorgtwerden nötig wird. Das aktive Sorgen im eigenen Handlungsbereich ist Voraussetzung für eine Partnerschaft mit versorgenden Akteuren. Die normative Unterstellung, dass jeder Mensch Wirt oder Wirtin in Verantwortung für sich selbst, seine physische und psychische Gesundheit, seine sozialen Beziehungen, für die Lebensgemeinschaft, der einer angehört, und für seinen materiellen Unterhalt ist oder sein sollte, stellt eine Verknüpfung

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individuell eigenen Sich-kümmerns mit dem versorgenden Handeln professioneller Kräfte, Stellen und Dienste her. Die formell Engagierten handeln wirtlich in ihrem Dienst, indem sie sich der Probleme einer Klientel in deren Lebensverhältnissen – z. B. bei Behinderung, chronischer Krankheit oder Einsamkeit im Alter – annehmen, und stehen dabei in Verbindung mit informell Engagierten und Angehörigen von Betroffenen in der gemeinsamen Absicht, etwas für die Qualität humanen Lebens zu tun. Bürger und Bürgerinnen in einer Kommune tragen zur Wirtlichkeit des Lebens in ihr bei, indem sie sich in der einen oder anderen Weise umeinander und in zuträglichem Handeln um die äußeren Bedingungen ihres Ergehens kümmern. Im Idealfall besteht eine Sorgende Gemeinschaft.

7 Sozialwirtschaftliche Folgerungen Mit dem Anspruch, die Bürgerinnen und Bürger in das Boot der Daseinsvorsorge und Versorgung zu holen, ist es praktisch nicht getan. Zur sozialwirtschaftlichen Aufgabenbewältigung heute und morgen empfehlen sich verschiedene Schritte. Unter anderen seien genannt: • die örtliche Einbeziehung und Anerkennung des bürgerschaftlichen Engagements als integraler Teil der Versorgung (in der Bewältigung der Flüchtlingskrise ist das unumgänglich geworden). • die Sorge für die Sorgenden. Sie sind weiterhin das Rückgrat insbesondere der pflegerischen Versorgung im Alter und der Betreuung bei Behinderung. Die Unterstützung der Angehörigen kann durch Entlastung, Berücksichtigung in Beschäftigungsverhältnissen, durch Beratung und pflegefachliche Hilfestellung erfolgen. • die partnerschaftliche Gestaltung der Infrastruktur sozialer Unterstützung, Förderung und Pflege (Teilhabe bei Behinderung lässt sich so als interaktiver Prozess realisieren). • die Koordination von Versorgung (über ein Care Management) von einem Gesundheitszentrum, Pflegezentrum, Kompetenzzentrum usw. aus, unter Einbeziehung von Fachdiensten, ehrenamtlich Helfenden, Nachbarschaft etc. (zu realisieren beispielsweise im Pflegewohnen, bei dem die Fachpflege im Unterschied zum Betreuten Wohnen stets zur Stelle ist). • die Hebung der Kompetenz (Zuständigkeit und Befähigung) der Bevölkerung in der sozialen und gesundheitsbezogenen Aufgabenbewältigung (lebenslanges

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Lernen ist auch auf diesem Gebiet geboten). Jüngst hat eine Erhebung ergeben, dass die Gesundheitskompetenz bei der Hälfte der Bevölkerung mangelhaft ist. • der Ausbau gemeinsamer Ressourcennutzung (auch im Sinne eines commoning, vgl. Bollier und Helfrich 2015; Ruivenkamp und Hilton 2017), wie es beispielsweise in einem Mehrgenerationenhaus oder im Pooling von Betreuungsleistungen beim Wohnen von Pflegebedürftigen geschieht. • aktives Sorgen lernen statt sich passiv auf Versorgung zu verlassen. Aktives Sorgen fängt im persönlichen Leben früh an und will im Laufe der Zeit geübt werden – nicht zuletzt um eine von anderer Seite nötige und geleistete Versorgung angemessen nutzen zu können. • die Anerkennung und Begleitung eigener Problemlösungen von Adressaten sozialer und gesundheitsbezogener Versorgung (von der Kindertagesbetreuung über selbstbestimmtes Leben bei Behinderung bis zur selbst gewählten Gestaltung von Pflege im Alter). Gehen wir von einer primär häuslichen Sorge und Versorgung aus, ist auf sie hin ihre komplementäre und kompensatorische Begleitung durch Fachdienste und kurative Maßnahmen zu gestalten. Menschen sind zu fördern und zu qualifizieren, die helfend einspringen, wo es an Fachkräften fehlt. Musterhaft sei auf die Menge der Haushaltshilfen verwiesen (300.000 dürften es gegenwärtig in Deutschland sein), die sich pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen privat vorwiegend aus Osteuropa besorgen. Ihre illegale oder legale Anstellung sollte von pflegefachlicher Seite weniger beklagt und mehr mit Rat und Tat begleitet und mit Qualifizierungsangeboten gefördert werden. Nachgerade im Feld der Altenpflege ist der Mangel an Personal das zentrale Problem: Keine Aufstockung in der Ausbildung und Entlohnung von Fachkräften wird den Bedarf in Zukunft decken können. Also sind die Stärkung selbstständiger häuslicher Bewältigungsweisen und das Zusammenwirken mit allen informell Sorgenden unausweichlich geboten (vgl. Wendt 2012). In governance of care ist über den Einsatz und die Ressourcen für ihn zu disponieren. Die sozialwirtschaftliche Aufgabe besteht in der Optimierung der Bedingungen, Strukturen und Prozesse der Versorgung. Die Erfüllung dieser Aufgabe kann nicht von einer Seite allein – politisch top-down oder zivilgesellschaftlich und fachspezifisch bottom-up – erwartet werden; sie gelingt nur bei vielseitig sachwaltender Kommunikation und Kooperation im Kreis der Wirte und Wirtinnen wohlfahrtsdienlicher Versorgung.

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Zum Verhältnis von Gender und Care oder: Warum ist Sorgearbeit weiblich? Susanne A. Dreas

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag zeichnet nach, wie kulturell-historische Entwicklungen, gesellschaftliche Machtverhältnisse und die Ausgestaltung des kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaats geschlechtsspezifische Care Arrangements herstellen und verfestigen. Die enge Verflechtung von Gender und Care wird anhand empirischer Daten aus dem Bereich der bezahlten als auch unbezahlten Sorgearbeit untermauert. Am Beispiel des ESF-Programms „Perspektive Wiedereinstieg“ wird dargestellt, inwieweit staatlich geförderte Interventionen dazu beitragen können, Familien bei einer partnerschaftlichen Aufteilung von Care Aufgaben zu unterstützen. Der Beitrag endet mit Überlegungen, wie eine geschlechtergerechte Reorganisation und gesellschaftliche Aufwertung von Care Work gelingen kann.

1 Einleitung Ob angestellt in Kitas, Arztpraxen, Krankenhäusern, Pflegeheimen oder unbezahlt zu Hause: Diejenigen, die sich um Kinder, Kranke oder Ältere kümmern und emotionale Beziehungsarbeit leisten, sind überwiegend weiblich. Vielfach erfährt Fürsorgearbeit (Care) eine geringe gesellschaftliche Anerkennung, egal ob sie von

S. A. Dreas (*)  Hochschule Neubrandenburg, Neibrandenburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_12

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Männern oder Frauen ausgeübt wird. Care Arbeit wird in allen Sektoren erbracht: privatwirtschaftlich, staatlich, im Dritten Sektor, in der Familie, aber auch in der Schattenwirtschaft. Der vorliegende Beitrag möchte die kulturell-historische Verknüpfung von Gender und Care nachzeichnen und eine Erklärung dafür liefern, warum dieser Zusammenhang bis heute so wirkmächtig ist. Dazu werden Ansätze aus der feministischen Forschung, der Care Ökonomie sowie der Sozialpolitikforschung herangezogen, um aufzuzeigen, wie gesellschaftliche Machtverhältnisse und wohlfahrtsstaatliche Arrangements spezifische Familien- und Geschlechterleitbilder reproduzieren und verfestigen. Es stellt sich die Frage, warum sich Ungleichheiten bei der Erbringung von Care Aufgaben nur wenig ändern, obwohl inzwischen viele Väter mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen wollen, Frauen zunehmend erwerbstätig sind und öffentliche Betreuungsleistungen für Kinder und Ältere ausgebaut werden. Es folgt eine empirische Bestandsaufnahme der aktuellen Bedingungen, zu denen unbezahlte Sorgearbeit im Haushalt sowie bezahlte Care Tätigkeiten in ambulanten und stationären Einrichtungen erbracht wird. Am Beispiel des ESF-Programms Perspektive Wiedereinstieg wird gezeigt, inwieweit Angebote zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben dazu beitragen können, Familien bei einer partnerschaftlichen Aufteilung von Care Aufgaben zu unterstützen. Der Beitrag endet mit Überlegungen, wie eine geschlechtergerechte Reorganisation und gesellschaftliche Aufwertung von Care Work gestaltet werden könnte.

2 Definition Care Work Care oder Care Work beschreibt alle Tätigkeiten, die Familienarbeit, Fürsorgearbeit und soziale Betreuungsarbeit von Menschen umfassen. Im weiteren Sinne bezieht sich Care auch auf Bildung, Erziehung und sozialemotionale Zuwendung (Beckmann 2016, S. 4). Care Tätigkeiten werden in Form von Dienstleistungen erbracht, die teilweise informell, aber überwiegend professionell im Haushalt zur Betreuung, Pflege und Erziehung von Menschen unterschiedlichen Alters ausgeübt werden (Winker 2015; Brückner 2010). Sie kann als bezahlte sowie u­ nbezahlte Arbeit geleistet werden, wobei berücksichtigt werden sollte, dass auch private ­Sorgearbeit z. B. durch Eltern- oder Pflegegeld bezahlt sein kann (Beckmann 2016, S. 4). Nach Beckmann geht Care jedoch über eine reine ­Tätigkeitsbeschreibung hinaus: Als soziale Praxis des gesellschaftlichen Lebens ist Care eine Folge von geschlechtsspezifischer Organisation, Verteilung und Verortung von Sorgearbeit

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(ebd. 2016, S. 5). Doing Care beinhaltet Praktiken, Diskurse und Interaktionen, die im Ergebnis Sorgearbeit untrennbar mit Geschlecht verknüpfen (Zerle und Keddi 2011, S. 58 f.).

3 Historische Entwicklung der Verknüpfung von Gender und Care Die hierarchische Geschlechter- und Klassenordnung hat im westeuropäischen Kulturkreis eine lange Tradition. Ungleichheiten und Unterschiede zwischen Männern und Frauen wurden bis Anfang des 20. Jahrhunderts als naturgegeben angesehen und von Ökonomen, Medizinern, Psychologen und Juristen wissenschaftlich untermauert (Hausen 1976, S. 367 f.). In Lexika und wissenschaftlichen Schriften früherer Epochen unterscheiden sich Geschlechter durch angebliche dichotome Geschlechtscharaktere, wonach sich Frauen durch Passivität und Emotionalität auszeichnen, Männer dagegen durch Aktivität, Zielstrebigkeit und Rationalität (ebd. 1976, S. 368). Aus diesen „natürlichen Eigenschaften“ wurde eine besondere Befähigung von Frauen für Care Aufgaben abgeleitet und legitimiert. Die kulturell etablierte Zuweisung der Haus- und Fürsorgearbeit an die Frau erreichte mit dem Beginn der Industrialisierung, der kapitalistischen Produktionsweise und der damit verbundenen Trennung von Wohnen und Arbeiten ihren Höhepunkt (Beckmann 2016, S. 6). Geschlecht wird somit zu einer zentralen Strukturkategorie, die den male breadwinner und die female homemaker hervorbrachte. Care-Aufgaben erfuhren eine Auslagerung aus den Funktionssystemen des öffentlichen Raumes wie Politik, Wirtschaft und Wissenschaft hinein ins private Umfeld und wurden dauerhaft mit Weiblichkeit verknüpft (Jurczyk und Rerrich 2015, S. 17). Schließlich wurden die gesellschaftlich konstruierten geschlechtsspezifischen Zuweisungsmuster auch institutionell festgeschrieben und mündeten in einen standardisierten Lebenslauf: Die Frau wurde zur domina privata, die ihre Fürsorgearbeit unsichtbar im Bereich des Privaten leistete, während der Mann als homo oeconomicus seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt veräußerte (Meier-Gräwe 2015, S. 5). Doch warum wird auch die bezahlte Care Arbeit überwiegend von Frauen geleistet? Ein Erklärungsmodell für die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung liefern Elisabeth Beck-Gernsheim und Ilona Ostner mit der Theorie vom weiblichen Arbeitsvermögen. Geschlechtsspezifische Sozialisation führe dazu, dass sich Frauen stärker für familien- und reproduktionsbezogene Aufgaben wie Helfen, Pflegen,

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Soziales und Emotionsarbeit interessieren, was im Ergebnis dazu führt, dass Frauen eher Sozial- und Pflegeberufe wählen (Beck-Gernsheim und Ostner 1978, S. 273 ff.). Zwar lassen sich durch das Konzept Segmentierungen als Folge geschlechtsspezifischer Sozialisation auf dem Arbeitsmarkt erklären, nicht allerdings, warum überwiegend von Frauen ausgeübte Tätigkeiten unterbewertet werden. Vor dem Hintergrund von Doing Gender, wonach Geschlechterverhältnisse und die bestehende Geschlechterordnung ein Ergebnis sozialer Praktiken sind, gilt der Ansatz lediglich als Erklärungsversuch, um Frauen zugeschriebene Fähigkeiten und Präferenzen aufzuwerten (Gildemeister 2008, S. 169). Beckmann beschreibt die Beziehung zwischen Gender und Care als einen Kreislauf der Marginalisierung: „Diskreditierte Tätigkeiten wie Care werden an die sozial benachteiligte Gruppe der Frauen verwiesen, die wiederum wegen ihrer Rollenzuschreibung als Fürsorgende diskriminiert und aus den gesellschaftlichen Machtzentren verwiesen werden.“ (Beckmann 2016, S. 11).

4 Berücksichtigung von Sorgearbeit durch die Care Ökonomie Die geringe Wertschätzung von Sorgearbeit hängt vor allem damit zusammen, dass sich Care einer Bewertung durch die Marktökonomie entzieht. In der neoklassischen Ökonomie wird Sorgearbeit als Gegenstand systematisch ausgeklammert, obwohl sich die Wirtschaftswissenschaften traditionell mit allen Bereichen der menschlichen Bedarfsdeckung beschäftigen. Das Verhältnis von Marktökonomie und Versorgungsökonomie wird als gleichberechtigtes Zwillingspaar beschrieben, das in der Realität jedoch eine ungleiche Behandlung erfährt (Praetorius 2015, S. 51): auf der einen Seite die männlich dominierte Ökonomie mit der Produktion von Gütern und technischen Dienstleistungen in den klassischen Sektoren Landwirtschaft, verarbeitendes Gewerbe, Industrie, Handwerk und der Informationstechnologie. Auf der anderen Seite die von Frauen erbrachte und wenig sichtbare Leistung der alltäglichen Versorgung anderer Menschen, die von männlichen Ökonomen bisher nicht als Arbeit anerkannt wurde bzw. als Arbeit aus Liebe bezeichnet wurde (Meier-Gräwe 2015, S. 4). In der Humankapitaltheorie von Gary S. Becker werden individuelle Entscheidungen für die Lebensentwürfe von Männern und Frauen als Folge rationaler Wahlhandlungen beschrieben. Grundannahme der neoklassischen Theorie ist ein positiver Kausalzusammenhang zwischen Bildungsinvestitionen und Lebenseinkommen. Danach investieren Frauen weniger in ihre Ausbildung als Männer, weil sie über die Lebenszeit hinweg aufgrund ihrer zukünftigen Mutterschaft dem Arbeitsmarkt nicht kontinuierlich zur Verfügung stehen, und kalkulieren deshalb

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mit geringeren Bildungsrenditen. Die unterschiedlichen Präferenzen von Männern und Frauen werden jedoch als gegeben unterstellt und innerhalb der Theorie nicht logisch hergeleitet (Hendrix 2011, S. 80). Auch die Annahme eines rational handelnden Homo oeconomicus ist heute aus Sicht der Soziologie, der Psychologie und der Verhaltensökonomie nicht mehr haltbar. Mit dem Begriff der Care Ökonomie führten feministische Forscherinnen eine eigenständige Fachrichtung für Sorgetätigkeiten ein, mit dem Ziel, den engen Begriff der Marktökonomie zu erweitern (Praetorius 2015, S. 24). Care Work sollte als eigener Teilbereich in die ökonomische Analyse integriert werden, um die blinden Flecken der Neoklassik auszuleuchten (Schmitt et al. 2018, S. 9). Dazu gehören: 1. Care als Bestandteil eines Sektorenmodells, wobei Care Arbeit in allen vier Sektoren Markt, Staat, Dritter Sektor und Familie verortet wird. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf Organisationen des Dritten Sektors und der Familie, in denen Care Arbeit unentgeltlich erbracht wird. Gubitzer ergänzt das Sektoren-Modell durch den Einbezug des illegal-kriminellen Sektors, in dem Care Arbeit informell, ungeregelt und manchmal auch illegal unter Ausbeutung der oft zugewanderten Leistungserbringerinnen erbracht wird (ebd. 2018, S. 11 f.). 2. Care als Bindeglied zwischen Fürsorge und Ökonomie: In kapitalistischen Gesellschaften hat Care Work keine Relevanz, weil Leistungen der Fürsorge und des Helfens nicht als marktfähiges Gut gehandelt werden können. Als „verstecke Reserve“ ist Care Work jedoch eine notwendige Bedingung für das Funktionieren kapitalistischer Ökonomien. Somit kann Care als Bindeglied zwischen den widersprüchlichen Polen des Prinzips der Fürsorge einerseits und des Prinzips der Kapitalakkumulation andererseits gesehen werden (ebd. 2018, S. 13). 3. Care als begrenzt marktfähiges Gut: Nicht alle Formen von Sorgearbeit sind kommodifizierbar und über marktwirtschaftliche Arrangements zu erbringen. Grenzen liegen vor allem dort, wo interpersonelle Beziehungen eine zentrale Rolle spielen. Niedrige Gehälter in Care Berufen, von denen vor allem Frauen betroffen sind, entstehen nach der neoklassischen Argumentation aufgrund des im Vergleich zur industriellen Produktion begrenzten Rationalisierungspotenzials. Auf die entstehende Kosten-Krise reagiert der Staat als Kostenträger mit Budgetkürzungen für Betreuungs- und Pflegeleistungen (ebd. 2018, S. 13). Das Ergebnis zeigt sich in Form von Pflege- und Betreuungsnotstand in Pflegeeinrichtungen und Kitas. Der Zwang zur immer effizienteren Leistungserbringung geht jedoch zulasten der Qualität der Leistung.

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5 Care Regime Deutschland Der in der international vergleichenden Forschung verwendete Begriff „Care-Regime“ umschreibt „die Gesamtheit der Politiken, Praktiken, Normen und Diskurse“ um Sorgearbeit (Aulenbacher et al. 2018, S. 747) und bringt zum Ausdruck, wie Care in der Gesellschaft eines Wohlfahrtsstaates institutionalisiert wird. Das Care Regime mit seinen sozial- und familienpolitischen Maßnahmen bestimmt dabei maßgeblich, in welchen der Sektoren Markt, Staat, Dritter Sektor oder Familie Sorgearbeit erbracht wird (Leitner 2009). In Deutschland, das nach Esping-Andersen der Gruppe der konservativ-etatistischen Wohlfahrtsstaaten kontinentaleuropäischer Prägung zugerechnet wird, sind die Sicherungssysteme an den Erwerbsstatus und das traditionell männliche Ernährermodell geknüpft (Esping-Andersen 1990, S. 48 ff.). Betreuung und Pflege wird vorrangig als individualisierte Familienleistung definiert. Regelungen der Sozial-, Familien-, Bildungs- und Steuerpolitik haben erhebliche Auswirkungen darauf, wie Frauen und Männer ihre Lebensentwürfe gestalten (Stiegler 2011, S. 43). Inzwischen hat sich jedoch in fast allen europäischen Staaten das von der EU aktiv geförderte Leitbild des Adult-Worker-Model durchgesetzt, das für erwachsene Frauen und Männer eine durchgängige Erwerbstätigkeit in allen Lebensphasen vorsieht. Damit verbunden sind auch Modernisierungen in der Familien- und Sozialpolitik, wie z. B. die Anerkennung von Erziehungszeiten bei der Rente, Elterngeld oder der Ausbau von institutionalisierter Kinderbetreuung. Vielfach setzt der Wohlfahrtsstaat jedoch ambivalente Akzente: Während die beitragsfreie Mitversicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung, die Halbtagsschule oder das Ehegattensplitting Anreize zur Verfestigung des Ernährermodells setzen, fördern das Elterngeld, der Ausbau der Kinderbetreuung oder das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf die Erwerbstätigkeit von Frauen im Sinne des Adult-Worker-Models. Im Rahmen der pfadabhängigen Entwicklung des konservativen Wohlfahrtsstaats blieb die Ernährerrolle des Mannes unhinterfragt und nahezu unverändert. Bei den Frauen hat sich das Leitmodell der Zuverdienerin etabliert, das durch folgende Entwicklungen beeinflusst wird: • Der Gender Pay Gap führt dazu, dass sich viele Frauen aufgrund des niedrigeren Einkommens für eine längere Unterbrechung als Männer entscheiden.

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• Obwohl sich das Vaterbild inzwischen wandelt und Väter mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen wollen, hat eine nennenswerte Umverteilung von Sorgearbeit bisher nicht stattgefunden: 22 % der Elterngeldempfänger sind Väter mit einer durchschnittlichen Bezugsdauer von 3,4 Monaten, während Mütter die Transferleistung für durchschnittlich 13,3 Monate in Anspruch nehmen (Statistisches Bundesamt 2017b, PM Nr. 213/17). • Knapp 90 % der Väter arbeiten unabhängig vom Alter des jüngsten Kindes in Vollzeit, während die Arbeitszeit von Müttern stark mit dem Alter der Kinder korreliert. Ist das jüngste Kind unter einem Jahr, bleibt die Erwerbstätigkeit von Müttern eine Ausnahme, danach nimmt mit steigendem Alter des Kindes eine zunehmende Anzahl von Frauen eine Berufstätigkeit auf, davon 60 % in Teilzeit und 20 % in Vollzeit. Das hohe Teilzeitniveau der Mütter ändert sich mit zunehmendem Alter der Kinder nur geringfügig (Hochgürtel 2018, S. 30). • Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld, Elterngeld und Rente sind von der Höhe des Einkommens bzw. der Dauer der geleisteten Beitragsjahre abhängig. Da mehrheitlich immer noch Frauen ihre Erwerbsarbeit zur Ausübung von Care Tätigkeiten unterbrechen oder einschränken, werden sie strukturell benachteiligt. • Die Zuverdienerrolle schafft Abhängigkeiten, da sich mit Teilzeitbeschäftigung inzwischen kaum noch eine existenzsichernde Altersvorsorge erwirtschaften lässt. Durch sozialversicherungsfreie Minijobs wird die Prekarisierung von Lebensläufen zusätzlich begünstigt. • Zwar nimmt die Erbringung von Care Leistungen über den Markt oder Dritten Sektor in vielen Bereichen zu, wie z. B. durch den Ausbau der Kindertagesbetreuung und Ganztagsschulen oder ambulanten Pflegediensten, dennoch bleibt ein Großteil der Fürsorgeaufgaben für Kinder und Ältere nicht kommodifizierbar (Giullari und Lewis 2005, S. 8 f.).

6 Unbezahlte Care Arbeit Seit mehr als 20 Jahren bleibt das Verhältnis von pflegenden Frauen und Männern konstant: 89 % der Erwerbstätigen, die mindestens 14 h pro Woche einen Angehörigen pflegen, sind weiblich, dagegen nur 11 % männlich (Hobler et al. 2017, S. 24). Auch wenn sie erwerbstätig bleiben, leisten Frauen deutlich mehr ­Sorgearbeit. Ein Indikator zur Messung unbezahlter Sorgearbeit ist der Gender Care Gap, der von der Sachverständigenkommission des Zweiten Gleichstellungsbericht entwickelt wurde. Der Gender Care Gap (Abb. 1) gibt an, wie viel Zeit Frauen

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Abb. 1   Gender Care Gap, Klünder 2017 (Screenshot). (Quelle: Gutachten der Sachverständigenkommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2017, Themenblatt 2: Ziele und Indikatoren)

im Durchschnitt pro Tag mehr für unbezahlte Sorgearbeit aufwenden als Männer. In die Berechnung gehen Haushaltsführung, Pflege und Betreuung von Kindern und Erwachsenen, ehrenamtliches Engagement und informelle Hilfen für andere Haushalte ein. Insgesamt übersteigt die von Frauen durchschnittlich geleistete Sorgearbeit das Zeitvolumen der Männer um 52 %, was einer täglichen Mehrarbeit von 1,5 Stunden entspricht. In Paarhaushalten ohne Kinder wenden Frauen immer noch 35,7 % mehr Zeit für Care Work auf als Männer, in Paarhaushalten mit Kindern sogar 83,3 % mehr. Der Gender Care Gap zeigt sich in allen Erwerbskonstellationen: Selbst wenn Vater und Mutter Vollzeit arbeiten, beträgt die Zeitdifferenz noch 41,3 % (Gutachten der Sachverständigenkommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2017).

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Aus welchen Motiven übernehmen Frauen und Männer Care Arbeit? Individuelle Aushandlungsprozesse und Herstellungsleistungen, die oft ungeplant und beiläufig innerhalb der Familie erfolgen, werden von Schier & Jurzcyk als Doing Family (Schier und Jurczyk 2007, S. 2) bezeichnet. In der Arbeitswelt herrscht eine Präsenzkultur, die mit zunehmender Verantwortung die Übernahme von Familienaufgaben erschwert. Das Care Regime mit dem Leitbild des Adult-WorkerModel setzt sowohl Männer als auch Frauen unter Druck, kontinuierlich über alle Lebensphasen hinweg berufstätig zu sein. Die zunehmende Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Familie bringt das System aus dem Gleichgewicht und verändert die Rahmenbedingungen, unter denen Fürsorge bislang erbracht wurde (ebd. 2007, S. 2). Familienmitglieder versuchen den veränderten Bedingungen des Familienalltags in Bezug auf neue Arbeitsformen, zeitliche und räumliche Veränderungen Rechnung zu tragen (Jurczyk und Rerrich 2016, S. 8). Naomi Gerstel hat in ihrer Forschung die Pflegemotivation von Frauen und Männern untersucht und folgende Unterschiede festgestellt: • Frauen pflegen in erster Linie ihre eigenen Eltern, während Männer sich tendenziell an der Pflege ihrer Schwiegereltern beteiligen, um ihre eigene Partnerin zu unterstützen. • Frauen leisten häufiger Sorgearbeit für Personen außerhalb der Familie als Männer, sie unterstützen ihre erwachsenen Kinder vier Mal so häufig wie Männer. • Frauen verbringen mehr Zeit mit Fürsorge und erbringen ein breiteres Spektrum an Versorgungsleistungen in Haushalt, Pflege, Erziehung und Gartenarbeit und unterstützen einen größeren Personenkreis wie z. B. Freunde, Nachbarn oder auch Fremde im Rahmen von Freiwilligenarbeit. • Männer pflegen in der Regel dann erst, wenn sie selber im Rentenalter sind, und dann ihre Partnerinnen (Gerstel 2000, S. 472 ff.). Frauen verwenden eher essenzialistische Selbstzuschreibungen in Bezug auf Care Arbeit. Sie beschreiben ihre Sorgetätigkeit für Angehörige oder Freunde als natürliche Gabe oder als „ihre Natur“. Auch Männer verweisen häufig auf naturalistische Zuschreibungen, wenn sie über die Sorgearbeit ihrer Partnerin sprechen. Über ihre eigene Sorgearbeit sprechen sie dagegen deutlich abstrakter und betonen eher allgemein die gesellschaftliche Notwendigkeit: „Ich pflege, um die Welt ein bisschen besser zu machen.“ [Übersetzung S. D.], während die Frauen ihre Beziehung zu den Pflegenden und ihre eigene Motivation in den Mittelpunkt stellen (ebd. 2000, S. 473). Gerstel interpretiert diese Befunde als Reaktion auf unterschiedliche gesellschaftliche Erwartungen, die im Rahmen von Doing Gender und Doing Care in das Selbstbild übernommen werden.

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7 Care Arbeit als Beruf Seit der Öffnung des Pflegesektors im Jahr 1995 drängen zunehmend private Anbieter in den Bereich der ambulanten und stationären Pflege, inzwischen beträgt ihr Anteil 40 %. Für internationale Investoren wie Versicherungen oder Pensions- und Hedgefonds ist Pflege ein attraktiver Markt, mit Renditen von durchschnittlich 4,7 % (Pflegeheim Rating Report 2017). Damit wird die andere Seite von Care sichtbar, nämlich Care als Wirtschaftsgut, das Wertschöpfungsund Rationalisierungszielen unterworfen wird. 87 % der Beschäftigten in ambulanten Pflegediensten und 85 % des Personals in Pflegeheimen sind weiblich (Statistisches Bundesamt 2017a, S. 10). Das Geschlechterverhältnis wird sich auch in Zukunft nicht signifikant verändern, denn bei den Auszubildenden beträgt der Frauenanteil immerhin noch 79 %. In den Kitas werden Kinder zu 95 % von weiblichen Fachkräften betreut. Für die Beschäftigten bedeutet das, Fürsorge unter Rahmenbedingungen der Ökonomisierung mit hoher Arbeitsbelastung und geringer Bezahlung zu erbringen. Erziehungs-, Gesundheits- und Pflegeberufe verlieren dadurch zunehmend an Attraktivität. In einigen Bundesländern wurden Kampagnen initiiert wie z. B. „Mehr Männer in Kitas“ oder „Vielfalt Mann“, um mehr männliche Erzieher zu gewinnen. Die Mehrheit der Beschäftigten in den Sozial- und Gesundheitsberufen (69 %) arbeitet in Teilzeit. Dies ist z. T. auf die hohen Arbeitsbelastungen in der Altenpflege zurückzuführen: So kommen in Deutschland auf eine Pflegekraft 13 Patienten, in den Niederlanden dagegen nur 7, in Schweden 7,7 und der Schweiz 7,9 (Lobenstein und Stuff 2018, S. 12). Fachkräfte der Sozial- und Gesundheitsberufe werden im Vergleich zu Beschäftigten anderer Branchen häufig unterdurchschnittlich entlohnt. Der Durchschnittslohn einer Altenpflegerin liegt im Vergleich zu allen Beschäftigten um 16 % niedriger (Seibert et al. 2018, S. 2). Bei der Entlohnung von Pflegekräften zeigt sich ein starkes Lohngefälle von bis zu 20 % zwischen West und Ost. Große Gehaltsdifferenzen bestehen zwischen Altenund Krankenpfleger*innen: Während das Durchschnittsgehalt einer Fachkraft in der Altenpflege 2737 € (West) bzw. 2211 € (Ost) beträgt, liegt es für eine Fachkraft der Krankenpflege bei 3325 € (West) bzw. 2939 € (Ost). Helfer*innen der Altenpflege erhalten mit 1957 € (West) bzw. 1662 € (Ost) am wenigsten, Helfer*innen in der Krankenpflege immerhin noch 2598 € im Westen und 1999 € im Osten (s. Abb. 2).

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Monatliche Bruoentgelte von Fachkräen und Helfer*innen in West- und Ostdeutschland, 2016 in Euro

Westdeutschland

Ostdeutschland 2,737

Fachkräe Altenpflege

2,211

3,325

Fachkräe Krankenpflege

Helfer*innen Altenpflege

Helfer*innen Krankenpflege

2,939 1,957 1,662 2,598 1,999

Abb. 2   Bruttoentgelte von Fachkräften und Helfer*innen in der Pflege. (Quelle: eigene Darstellung nach Daten des IAB (Seibert et al. 2018, S. 3))

Aufgrund der geringen Bezahlung und der hohen Arbeitsbelastung ist die Fluktuation von Beschäftigten in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen relativ hoch. Neue Fachkräfte sind zu diesen Bedingungen derzeit nur schwierig zu gewinnen, was die Pläne der Bundesregierung, die Beschäftigung von 13.000 zusätzlichen Pflegefachkräften zu finanzieren, zu einer großen Herausforderung werden lässt. Vergleicht man Frauen und Männer im Pflegebereich, so zeigt sich, dass Frauen im Durchschnitt 12 % weniger als Männer verdienen (Lohnspiegel 2013, S. 15). Ein signifikant höherer Männeranteil findet sich in den Sozial- und Gesundheitsberufen ausschließlich in Führungspositionen sowie in Gesundheitsberufen, die ein höheres soziales Prestige besitzen (Beckmann 2016, S. 30). Die Ausgestaltung des deutschen Care-Regimes befördert nicht nur geschlechtsspezifische Struktureffekte, sondern auch schichtspezifische (Leitner 2009, S. 376) und herkunftsbezogene Wirkungen. Professionelle Pflegearbeit für ältere Menschen in Privathaushalten wird oft von zugewanderten Frauen geleistet. Viele osteuropäische MigrantInnen üben irreguläre Care Arbeit in sogenannten Live-In-Arrangements aus, in denen sie eine pflegebedürftige Person oft mehrere Wochen lang rund um die Uhr betreuen. (Emunds und Schacher 2012, S. 7). Durch die dauerhafte Abwesenheit der Pflegerin entstehen im Heimatland Versorgungslücken, die dann

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wiederum von Verwandten oder ärmeren Migrantinnen ausgefüllt werden. Dadurch entstehen globalisierte Versorgungsketten zwischen reicheren und ärmeren Ländern (Lutz und Palenga-Möllenbeck 2014). Care Arbeit findet auch zu einem Teil in der Schattenwirtschaft statt: 3,6 Mio. Haushalte in Deutschland beschäftigen Haushaltshilfen, darunter in mindestens 2,6 Mio. Fällen irreguläre Beschäftigte ohne sozialversicherungspflichtigen Schutz (Enste 2017, S. 11). Eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung fand heraus, dass angestellte Pflegekräfte mit ausländischen Wurzeln in der professionellen Langzeitpflege in Deutschland mehr Überstunden machen als ihre deutschen Kolleg*innen, häufiger Reinigungsarbeiten übernehmen müssen und weniger Wertschätzung von ihren Vorgesetzten erhalten. In Schweden dagegen fanden sich keine Unterschiede in der Arbeitssituation zwischen Pflegepersonal mit und ohne Migrationshintergrund (Theobald 2018, S. 51 f.). Diese Befunde sprechen dafür, Care wie auch in dieser Studie aus einer intersektionalen Perspektive zu untersuchen.

8 Veränderung von Care Arrangements: Das Bundesprogramm Perspektive Wiedereinstieg Lassen sich individuelle Präferenzen und strukturelle Muster innerhalb der Familie durch Interventionen aufbrechen? Am Beispiel des ESF-Programms „Perspektive Wiedereinstieg“ soll illustriert werden, wie die Veränderung von familiären Care Arrangements in der Praxis gestaltet werden kann. Perspektive Wiedereinstieg erprobt seit 2008 an mehreren bundesweiten Modellstandorten regionale Konzepte zur Arbeitsmarktintegration von Wiedereinsteigerinnen. Zielsetzung des Bundesprogramms, das vom Bundesfamilienministerium in Kooperation mit der Agentur für Arbeit durchgeführt und vom Europäischen Sozialfonds finanziert wird, ist es, Wiedereinsteigerinnen dabei zu unterstützen, Erwerbsarbeit und Sorge um die Familie miteinander zu vereinbaren. Es richtet sich an die Zielgruppe Frauen, die nach einer mindestens sechsmonatigen Familienoder Pflegezeit wieder in den Beruf einsteigen wollen, und unterstützt sie und ihre Familien mit Coaching-, Qualifizierungs- und Vermittlungsangeboten. Innovativ ist die zugrunde liegende Philosophie des Ansatzes: Der Wiedereinstieg wird dabei als längerer Prozess definiert, der das gesamte Familiensystem beeinflusst (Schasse 2014, S. 15). Dementsprechend zielen die Projektangebote nicht nur auf die Wiedereinsteigerinnen, sondern auch auf die Kinder, den Partner und das

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persönliche Netzwerk. Damit wird ein systemisches Verständnis von Care postuliert: Mit den Frauen werden Lösungen entwickelt, die Veränderungen im gesamten Familiensystem zur Folge haben, bei der Organisation der Kinderbetreuung, über die Aufteilung der im Haushalt anfallenden Arbeiten bis hin zur Gestaltung des Familienund Soziallebens (ebd. 2014, S. 15). Mit dem Familiencoaching und den Partnerworkshops bietet der Modellstandort Hamburg1 mehrere Sitzungen für Familien und Paare, um das Zeitmanagement unter Einbeziehung aller Familienmitglieder neu zu justieren. Die Teilnehmenden sollen zu Aushandlungsprozessen angeregt und als Team gefestigt werden. Neben organisatorischen Fragen zur Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen sollen vor allem auch emotionale Hürden abgebaut werden. Viele Männer und Frauen haben die geschlechtstypischen Rollenerwartungen internalisiert: Wiedereinsteigerinnen befürchten, als Rabenmutter stigmatisiert zu werden, Väter machen sich Sorgen, mit der Übernahme von Care Aufgaben Nachteile im Beruf zu erleiden. In Einzel- und Gruppencoachings sollen Väter deshalb gestärkt werden, Erziehungsaufgaben zu übernehmen und ihre Ansprüche auch gegen Widerstände am Arbeitsplatz durchzusetzen und sich gegenseitig unterstützen. Es zeigt sich, dass die Veränderung des Kräftefeldes zur Überwindung von eingefahrenen Rollenmustern erhebliche Widerstände erzeugt. Nur etwa 10 % der Wiedereinsteigerinnen nutzen die Angebote gemeinsam mit ihrem Partner oder der Familie. Oftmals scheitert die gemeinsame Teilnahme an Zeitmangel oder Desinteresse des Partners. Die Hauptverantwortung für die Organisation von Sorgearbeit und die konkrete Ausgestaltung von „Doing Care“ liegt damit nach wie vor bei den Frauen. In Unternehmen werden Orientierungskurse für Beschäftigte mit Pflegesituation, Pflegecoachings, Führungskräfteschulungen sowie regelmäßige Netzwerktreffen für pflegende Angehörige angeboten. Ziel ist es, innerhalb der Unternehmen für Pflegesituationen der Beschäftigten zu sensibilisieren und für Akzeptanz zu sorgen. Allerdings ist auch hier der Männeranteil unter den Teilnehmenden mit fünf Prozent eher gering. Einige der Modellstandorte bieten den Wiedereinsteigerinnen eine Beratung zu haushaltsnahen Dienstleistungen an. Durch die Beschäftigung einer Haushaltshilfe oder eines Babysitters sollen die Frauen ermutigt werden, eine vollzeitnahe Beschäftigung aufzunehmen. Mit den Teilnehmerinnen wird ermittelt, welche

1Die

Daten zum Modellstandort Hamburg stammen aus Geschäftsberichten des Trägers Koordinierungsstelle Weiterbildung und Beschäftigung e. V.

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Dienstleistungen zum eigenen Bedarf passen, was bei der Beschäftigung professioneller Haushaltsdienstleister*innen beachtet werden sollte und mit welchen Kosten gerechnet werden muss. Die meisten Frauen entschieden sich jedoch aus Kostengründen gegen die Inanspruchnahme externer Dienstleistungen und präferierten einen Wiedereinstieg in Teilzeit. Viele Geschäftsmodelle von Dienstleistungsagenturen sind kritisch zu bewerten: Um für die Kund*innen bezahlbar zu bleiben, arbeiten viele angestellte Haushaltshilfen unter hohem Zeitdruck und erhalten oft nur den Mindestlohn. Perspektive Wiedereinstieg leistet einen wichtigen Beitrag, Frauen nach einer familienbedingten Unterbrechung in den Arbeitsmarkt zu integrieren, und unterstützt bei der Suche nach Lösungen zur Organisation von Kinderbetreuung, Pflege sowie Hilfen im Haushalt. Damit wird dem Leitbild des Adult-Worker-Models weitgehend entsprochen. Obwohl die Modellstandorte konkrete Interventionen zur Umverteilung von Erwerbs- und Care Arbeit anbieten, findet eine geschlechtergerechte Umverteilung von Sorgearbeit nicht in nennenswertem Umfang statt. Die Verantwortung für Doing Care bleibt bei den Frauen, was durch folgendes Zitat im Praxishandbuch Perspektive Wiedereinstieg deutlich wird: „Die Frauen werden so zu Gestalterinnen ihres Wiedereinstiegs und in der Befähigung unterstützt, Hemmnisse zu überwinden und Probleme selbst zu lösen.“ (Schasse 2014, S. 27).

9 Überlegungen zu einer Reorganisation von Care Work Wie kann eine geschlechtergerechte Verteilung von Sorgearbeit zukünftig organisiert und wie kann professionelle Sorgearbeit aufgewertet werden? Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, dass der Wandel der Governancestrukturen und die Modernisierung des Care Regimes bisher nicht zu einer nennenswerten Umverteilung oder Aufwertung von Care Arbeit beigetragen haben. Einfache Lösungen sind nicht zu erwarten, denn Prozesse der Kommodifizierung, Dekommodifizierung, Ökonomisierung, Rationalisierung, Professionalisierung und Deprofessionalisierung finden zeitgleich statt (Aulenbacher et al. 2015, S. 755). Die enge kulturhistorische Verflechtung zwischen Geschlecht und Doing Care lässt sich nur schwer aufbrechen. Deshalb müssen Veränderungen auf gesellschaftlicher, politischer, betrieblicher und individueller Ebene ansetzen:

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• Generative Sorgearbeit darf weder strukturell noch kulturell als weiblich definiert werden. Dies betrifft den kritischen Prozess des Doing Gender in Kita und Schule, der auch die Vermittlung von Geschlechterstereotypen hinterfragen soll. • Das Anliegen der Care Ökonomie, Fürsorge und Emotionsarbeit in privaten Haushalten sichtbar zu machen und als Teil der gesellschaftlichen Wertschöpfung zu betrachten, sollte in den Mainstream der klassischen Ökonomie integriert werden, ohne jedoch Care ausschließlich einer kapitalistischen Verwertungslogik zu unterwerfen. • Die Professionalisierung von Gesundheits- und Sozialberufen muss entsprechend anerkannt werden. Einerseits nimmt die Akademisierung zu, was sich in einer Zunahme von Studiengängen wie Pflegemanagement, Sozialmanagement, Public Health oder Kindheitspägagogik zeigt, andererseits schlägt sich die Professionalisierung des Personals bisher nur selten in einer höheren Vergütung nieder. Hier sind Gewerkschaften, Berufsverbände und Lobbyorganisationen gefragt, aktiv zu werden. Vor dem Hintergrund des drohenden Pflegenotstands stehen die Chancen für einen Erfolg nicht schlecht. • Zusammenschlüsse von Vereinen und Verbänden des Dritten Sektors: Ein Beispiel hierfür ist das Netzwerk „Care Revolution“, dem sich mehr als 80 Initiativen verschiedener Felder sozialer Reproduktion angeschlossen haben, um sich für bessere Rahmenbedingungen in der familiären und bezahlten Sorgearbeit einzusetzen (zu den Initiativen und ihren Forderungen vgl. auch Winker 2015). • Schließung des Gender Pay Gaps: Hierbei geht es nicht nur darum, frauentypische Berufe im Vergleich zu technischen Branchen aufzuwerten, sondern Lohnungleichheiten innerhalb eines Berufsbilds oder eines Betriebs festzustellen. Hierzu eigenen sich Analysetools wie Logib-D oder EG-Check, um Lohnungleichheiten im Betrieb sichtbar zu machen und faire Vergütungsmodelle zu entwickeln. • Private Investoren in der Pflegebranche kontrollieren: Die Erwirtschaftung einer hohen Rendite auf dem wachsenden Pflegemarkt darf nicht zulasten der Beschäftigten und Patienten gehen. Um die fachliche Qualität und Professionalität der Arbeit sicherzustellen, ist die Einführung fester Personalschlüssel und eine geringere Arbeitsverdichtung nötig. • Gesellschaftliche Anerkennung von Unterbrechungen oder Reduzierungen der Erwerbsarbeit: Jurczyk & Rerrich schlagen lebenslaufbezogene Carezeitbudgets für beide Geschlechter vor (Jurczyk und Rerrich 2016, S. 12). Auch eine lebensphasenorientierte Personalpolitik, die individuelle Lebensentwürfe berücksichtigt, könnte zu einer höheren Anerkennung von Sorgearbeit beitragen.

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Zum Verhältnis von Gender und Care oder: Warum ist …

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Care – pflegewirtschaftliche Herausforderungen Uwe Bettig und Maria Krüger

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag verdeutlicht, welche Personen unter welchen Bedingungen Care-Arbeit in Deutschland leisten. Um drohende Versorgungslücken in der pflegerischen Versorgung zu vermeiden, werden zwei Lösungen zum Fachkräftemangel in der Pflege vorgestellt und diskutiert.

1 Care-Arbeit Die folgenden Ausführungen setzen sich mit dem Care-Markt in Deutschland auseinander und beleuchten die Probleme des Fachkräftemangels auf der einen und die Situation der in der Pflege tätigen Personen auf der anderen Seite. Es wird deutlich, dass vor allem Frauen von schlechter (oder keiner) Bezahlung betroffen sind und die Bereiche Erziehung und Pflege gesellschaftlich zwar hoch relevant sind, die Anerkennung für diese Tätigkeiten aber gering ausfällt.

U. Bettig () · M. Krüger  Alice Salomon Hochschule Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_13

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U. Bettig und M. Krüger

1.1 Begriffsbestimmung Care-Arbeit oder Sorgearbeit umfasst alle Tätigkeiten der Fürsorge- und Sorgearbeit und lässt sich als personennahe reproduktive Dienstleistung definieren. Der Begriff „Care“ reflektiert den Arbeitsinhalt und die Beziehungsaspekte der Sorgearbeit. Care-Arbeit kann unbezahlt oder bezahlt und ebenso im privaten oder häuslichen Bereich sowie als marktförmige Dienstleistung erbracht werden (­Worschech 2011).

1.2 Dimensionen In unserer Gesellschaft übernehmen überwiegend Frauen die Sorge-, Pflege- und Betreuungsarbeit. Diese ungleiche Verteilung der Arbeit ist auf ein tradiertes Rollenbild zurückzuführen. Frauen gelten als sozial und fürsorglich und somit geeigneter für Pflege- und Betreuungsarbeit als Männer. Diese Begründung wird weiterhin für eine geschlechterspezifische Arbeitsteilung angeführt (Worschech 2011). Zu beachten ist, dass die Frauenerwerbsquote stetig ansteigt. Dessen ungeachtet ist die Beteiligung von Männern im Bereich Sorge und Fürsorge eher gering. Dies wird aus der Zeitbudgeterhebung des Statistischen Bundesamtes in den Jahren 2012/2013 deutlich: Demnach investieren Frauen 2,4-mal mehr Zeit für unbezahlte Fürsorgearbeit als Männer. Gerade in den Bereichen Kinderfürsorge und Pflege investieren Frauen deutlich mehr Zeit (Statistisches Bundesamt 2015). Die Gesamtarbeitszeit von erwerbstätigen Männern und Frauen fällt zwar ähnlich hoch aus, allerdings unterscheiden sich deutlich die Anteile der bezahlten und unbezahlten Arbeit, denn 73 % der Gesamtarbeitszeit von Männern besteht aus bezahlten Arbeitsstunden, bei Frauen hingegen wird nur 43 % der Gesamtarbeitszeit entlohnt. Damit leisten Frauen den größeren Teil ihrer Arbeit unbezahlt. Diese ungleiche Aufteilung von Care-Arbeit hat erhebliche negative Auswirkungen auf Einkommen, berufliche Chancen und Alterssicherung der Frauen. Zudem wird der Wert von Sorgearbeit sowohl gesellschaftlich als auch wirtschaftlich bisher verkannt (Hobler et al. 2017, S. 3 ff.). Unbestritten ist jedoch, dass Care Arbeit elementar für eine Gesellschaft ist (Worschech 2011).

Care – pflegewirtschaftliche Herausforderungen

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1.3 Unbezahlte Care-Arbeit Das Hauptproblem der benannten geschlechterspezifischen Arbeitsaufteilung ist, dass das Sozialsystem und die Arbeitsmarktpolitik darauf ausgelegt sind, dass alle erwerbsfähigen Personen einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Um dies zu gewährleisten, müssen unbezahlte Tätigkeiten wie Kochen, Putzen, Pflege von Angehörigen oder Kinderbetreuung anderweitig sichergestellt sein. Diese Tätigkeiten sind im tradierten Rollenverständnis häufig Aufgabe der Frau (Buls 2010). Nach diesem Verständnis ist Sorgearbeit zwar auch Arbeit, die verrichtet werden muss, wird jedoch volkswirtschaftlich als „Produktionsquelle“ komplett ausgeblendet. Laut Statistischem Bundesamt entsprach die Bruttowertschöpfung (2001) in Haushalten etwa der Bruttowertschöpfung der deutschen Industrie. Der Wert der erbrachten unbezahlten Arbeit wird auf 684 Mrd. EUR geschätzt (­Statistisches Bundesamt 2003). Die Zahlen weisen deutlich darauf hin, dass Sorgearbeit mit Erwerbsarbeit gleichzustellen ist und nicht als selbstverständlich hinzunehmen ist (Belser 2010, S. 6).

1.4 Bezahlte Care-Arbeit Ein anderes Bild ergibt sich in den bezahlten Fürsorgeberufen, in denen überwiegend Frauen tätig sind. Diese zeichnen sich durch eine geringe monetäre und gesellschaftliche Wertschätzung aus – ähnlich der unbezahlten Care-Arbeit. Eines der Grundprobleme stellt die soziale, dienstleistende Komponente dar, denn in Institutionen wie Kindertagesstätten, Pflegeheimen und Krankenhäusern kann der Wert der Arbeit nicht ausschließlich anhand von Produktivität und Effizienz gemessen werden. Es zählen andere Erfolgsfaktoren als gutes Wirtschaften oder Gewinn, es geht um qualitative Erfolge (Worschech 2011).

1.5 Der Pflegemarkt in Zahlen Der Pflegemarkt wächst stetig, seit 2015 jährlich um knapp 5 %. Ein Grund dafür stellt der demografische Wandel dar, im Zuge dessen die Anzahl der Pflegebedürftigen kontinuierlich ansteigt und die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter abnimmt. Prognosen zufolge werden im Jahre 2030 3,62 Mio. Menschen auf pflegerische Unterstützung angewiesen sein; gleichzeitig erhöht sich der Bedarf an zusätzlichen Pflegekräften. Bis 2025 wird ein Mehrbedarf an ­Pflegekräften von 200.000 Personen geschätzt (Statistisches Bundesamt 2015).

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Abb. 1   Der Pflegemarkt in Zahlen. (Quelle: Statistisches Bundesamt 2012, Abb. 1.5)

Dies stellt für den Pflegebereich eine große Herausforderung dar. Anzumerken ist, dass nur von allgemeinen Hochrechnungen ausgegangen werden kann, da z. B. der Zusammenhang von Alter und medizinischem Fortschritt, dem sich ändernden Lebenswandel sowie Veränderungen in sozialen Strukturen eine eindeutige Vorhersage schwierig machen (Lennartz und Kersel 2011, S. 7 f.; Abb. 1).

2 Lösungsansätze Im Jahr 2015 wurden 1,38 Mio. pflegebedürftige Menschen durch Angehörige im privaten Haushalt versorgt (Statistisches Bundesamt 2017). Diese Form der pflegerischen Versorgung stellt für pflegende Angehörige eine Herausforderung dar. Neben der psychischen und physischen Belastung stehen viele Angehörige vor finanziellen Hürden (Koppelin 2008). Ein grundlegendes Problem stellt die monetäre Entlohnung dar. Diese erfolgt durch die Pflegekassen rein leistungsbezogen und grenzt Bereiche wie Haushaltsunterstützung oder Möglichkeiten der Teilhabe aus. Somit ist die Pflegeversicherung als eine „Teilkaskoversicherung“ anzusehen. Da Pflege nicht ausschließlich aus Grundpflege besteht, werden die zusätzlichen Bereiche Haushalt und Teilhabe von Angehörigen unentgeltlich erbracht. Dies bedeutet, dass die finanzielle Situation für viele pflegende Angehörige mit der Dauer der

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Pflege immer prekärer wird, da sich einerseits das eigene Einkommen reduziert, andererseits die Kosten für die Pflege aber steigen. Dies zeigt deutlich, dass das Model „ambulant vor stationär“ Versorgungslücken aufweist. Hinzu kommt ein unzureichendes Angebot an Informationen und Unterstützung für ältere Menschen und ihre Angehörigen bezüglich Hilfen, Pflegeleistungen und ihrer Finanzierungsmöglichkeiten. Dies führt zunehmend dazu, dass sowohl ältere Menschen als auch deren Angehörige sich mit anderen Unterstützungsformen behelfen, um diese Hürden zu meistern (ver.di 2012). Die Antwort dieser Versorgungslücke in der Betreuung ist meist eine Beschäftigung von MigrantInnen aus Osteuropa. Derzeit arbeiten in Deutschland zwischen 115.000 und 300.000 Frauen aus Osteuropa. Das neue Versorgungsmodell ist weitgehend den offiziellen Strukturen des Arbeitsmarktes entzogen und weist deutliche Defizite auf. Ein Einblick in die Arbeitsbedingungen und Strukturen zeigt auf, wie prekär dieses Beschäftigungsmodell ist (ver.di 2011).

2.1 Einsatz von MigrantInnen Vorab ist anzumerken, dass eine genaue Einschätzung der Arbeitsbedingungen und Strukturen nur bedingt möglich ist, da sich diese Form der Beschäftigung dem offiziellen Arbeitsmarkt häufig entzieht und sich eher als eine „Grauzone“ beschreiben lässt. Deutlich wird, dass es sich vorwiegend um ein Live-in-Arrangement handelt. Dies bedeutet, dass die Arbeitnehmerin im Haushalt der pflegebedürftigen Person wohnt und somit 24 h „greifbar“ ist (Emunds und Schacher 2012, S. 11). Das bietet zum einen Schutz vor staatlichen Kontrollen, bedeutet aber auch einen Vorteil für die MigrantInnen, da sich durch das Live-in-Arrangement die Frage der Wohnungssuche und der damit verbundenen Kosten nicht stellt. So verlockend diese Form des Arbeitsverhältnisses sowohl für die Arbeitnehmerin als auch für die pflegebedürftige Person erscheint, umso deutlicher werden die Probleme bei genauer Beleuchtung der Arbeitsstrukturen. Das Live-in-Arrangement bedeutet nicht nur Bereitstellung von Logis, sondern auch eine permanente Verfügbarkeit der Arbeitskraft (ver.di 2011). Dies steht in keinem Verhältnis zu der sehr geringen monetären Entlohnung der MigrantInnen, welche im Durchschnitt 1400 EUR brutto monatlich beträgt (Emunds und Schacher 2012, S. 24). Verschärft wird dies durch die Tatsache, dass es sich häufig um eine 24-h-Bereitschaft handelt, da von den Arbeitgebern eine ständige Anwesenheit gefordert und gezielt mit einem „24-h-Sorglos-Paket“ geworben wird. Die Grenzen zwischen Arbeitsplatz

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und Privatleben verschwimmen und die ständige Anwesenheit bedeutet einen klaren arbeitsrechtlichen Verstoß. Hier werden MigrantInnen zunehmend als pflegende Haushaltshilfe angesehen und ausgebeutet. Wie bereits erwähnt, entzieht sich der Arbeitsplatz im Privathaushalt jeglicher öffentlichen Kontrolle und bedeutet sowohl für die Arbeitsnehmerin als auch für die pflegebedürftige Person ein „Ausgeliefert“-Sein. Ein Schutz vor eventuellen Pflegefehlern zulasten der Pflegebedürftigen fehlt gänzlich. Zudem haben die MigrantInnen keine Möglichkeit, sich rechtlich gegen Missstände zu wehren (ver.di 2011). Deutlich ist, dass MigrantInnen aus Osteuropa bislang einen Teil der Versorgung älterer Menschen übernehmen und dass der Bedarf perspektivisch steigen wird. Umso wichtiger sind im Zuge dessen klare Strukturen und Arbeitsbedingungen. Diese umfassen: 1. faire monetäre Entlohnung 2. Definition einer adäquaten Berufsrolle 3. faire und einklagbare Arbeitsbedingungen 4. Rechtssicherheit 5. Qualitätskontrollen Des Weiteren bedarf es eines transparenten und einfachen Informations-, Beratungsund Unterstützungsangebots für pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen, um eine mögliche Ausbeutung zu vermeiden (ver.di 2011; Schmid 2010).

2.2 Vorbild Skandinavien Eine der Herausforderungen des demografischen Wandels ist es, zukünftig ein stabiles, bedarfsgerechtes Pflegesystem in Deutschland zu etablieren. Um diese Hürden zu meistern, bedarf es Änderungen im Sozialversicherungssystem (Heintze 2015, S. 5). In diesem Abschnitt werden die skandinavischen Strukturen im Pflegeversicherungssystem analysiert und mit denen Deutschlands verglichen. Deutschland investiert jährlich ca. 1 % des Bruttoinlandproduktes (BiP) in die Pflege, in Skandinavien sind dies zwischen 2 und 3,5 % (OECD 2013). Dies schlägt sich in einer deutlich besseren Personalausstattung und einer höheren Professionalität nieder. Des Weiteren haben dort sowohl die Bereiche Prävention und Gesunderhaltung als auch die Inklusion älterer Menschen in die Gesellschaft hohe Priorität. In Deutschland verhindert die Pflegegrad-Einteilung eine Gesunderhaltung oder sogar einer Verringerung der Pflegebedürftigkeit, da eine ­niedrige ­Einstufung

Care – pflegewirtschaftliche Herausforderungen

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oder eine eventuelle Rückstufung weniger Pflegegeld für die pflegebedürftigen Menschen und ihre Angehörigen bedeuten. Dies ist aus finanzieller Sicht für die Betroffenen nicht erstrebenswert. In den skandinavischen Ländern existiert eine solche Pflegeeinstufung nicht, hier sind die Leistungen der Care-Ökonomie gesetzlich geregelt und werden durch die jeweiligen Kommunen umgesetzt. Die Bedarfe werden individuell an den Lebenslauf der jeweiligen Person angepasst und sind servicebasiert. Im Mittelpunkt stehen die Selbstständigkeit und der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben. Das Pflegesystem und das Altenpflegesystem sind auf diese Ziele hin angepasst und bieten über klassische Pflege hinaus Maßnahmen der sozialen, pädagogischen und physiotherapeutischen Unterstützungen an. In Deutschland ist im Gegensatz dazu eine Familienorientierung verankert, welche vorrangig die informelle Pflege fördert. Wie bereits erläutert wurde, wird die familiäre Pflege vorrangig von Frauen übernommen. Im Vergleich dazu wird in Skandinavien eher formelle Pflege angestrebt, was i. d. R. eine faire Bezahlung und professionelle Pflege bedeutet (Heintze 2015, S. 23 f.; Abb. 2). Servicebasiert ist dieser Ansatz auch deshalb, weil pflegende Angehörige keine „Anerkennungsprämie“ wie in Deutschland erhalten, sondern im Auftrag ihrer Kommune tätig sind und (abgesehen von Finnland) eine Lohnersatzleistung erhalten. Die Finanzierung der Pflegeleistungen erfolgt durch eine kommunale Einkommensteuer mit einer Zuwendung durch den Zentralstaat. Für die Leistungsempfänger gilt der Grundsatz der Kostenfreiheit. Ausschließlich für außergewöhnliche Leistungen können einkommensabhängige Gebühren

Grundsystem

Familienbasiertes System

Servicebasiertes System

(Vorrang informelle Pflege) (Vorrang formeller Pflege) Länder

Deutschland, Österreich

Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden

Professionalisierung

Gering bis mittel

Hoch

Professionalisierung Pflege Mittlere Bedeutung

Hohe Bedeutung

Leistungszugang

Schwierig

Niedrigschwellig

„Grauer Pflegemarkt“

Mittlere Relevanz

Geringe Relevanz

Öffentliche Finanzierung

>0,8% -1,2% des BIP

>1,8% bis 4% des BIP

Abb. 2   Die Abbildung zeigt deutlich die systemischen Unterschiede der Länder. (Quelle: Heintze 2015, Abb. 4)

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U. Bettig und M. Krüger

anfallen. Der Grundsatz der Kostenfreiheit besteht auch für Deutschland, jedoch nicht für Kost und Logis. Bei einer Unterbringung in einem Pflegeheim muss die Unterkunft und Verpflegung aus den eigenen Renteneinkünften finanziert werden. Ist dies aus finanzieller Sicht nicht möglich, müssen die anfallenden Kosten von den Angehörigen ersten Grades getragen werden. In Skandinavien werden Angehörige hierfür nicht herangezogen (Heintze 2015, S. 25). Da die skandinavischen Länder im Gegensatz zu Deutschland nachweislich keinen gravierenden Pflegenotstand zu verzeichnen haben, bietet sich das skandinavische Modell als Vorbild an. Konkret müssen in erster Linie auf politischer Ebene die Weichen gestellt werden. Notwendig ist: 1. ein Paradigmenwechsel – Hin zu einer Bedarfs- und Qualitätssteuerung 2. gezielte Prävention und Gesundheitsförderung 3. eine faire und einheitliche monetäre Entlohnung der Pflegekräfte 4. „Armut“ durch Pflege zu vermeiden 5. Reform und Ausbau einer Care-Ökonomie

3 Ausblick Die Ausführungen haben zwei wesentliche Aspekte beleuchtet. Zum einen wurde die Rolle der Frau als Leisterin unbezahlter Care-Arbeit beschrieben, zum anderen wurden zwei völlig verschiedene Lösungsansätze des Fachkräftemangels in der Pflege dargestellt. Wenn man am Status quo der unbezahlten Care-Arbeit festhalten möchte, wird dies in vielen Fällen zu Altersarmut von Frauen führen und das Problem weiter verschärfen. Der Einsatz von Arbeitskräften aus dem Ausland wird häufig als Lösung propagiert. Zu beachten ist jedoch, dass häufig prekäre Arbeitsverhältnisse entstehen und in den Herkunftsländern ein Fachkräftemangel ausgelöst bzw. verstärkt wird. Der Blick nach Skandinavien kann helfen, neue Lösungsansätze zu finden. Hier wird eher formale Pflege angewandt, was für die Pflegenden ein geregeltes Arbeitsverhältnis bedeutet. Um eine solche Lösung umsetzen zu können, bedarf es einer gesellschaftlichen Diskussion über den Wert der Pflege, gerechter Entlohnung von Pflegetätigkeiten, aber auch der Ausbildung von Pflegekräften. Der Beruf muss an Ansehen gewinnen, um künftige Generationen dafür gewinnen zu können. Die folgende Abbildung verdeutlicht die Aufgaben der relevanten Akteure, um die pflegerische Versorgung nachhaltig zu stärken (Abb. 3).

Care – pflegewirtschaftliche Herausforderungen

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Attraktivität des Pflegeberufes Berufsverbände: Bedeutung der Pflege herausstellen; Einsatz für Abgrenzung der Kompetenzen, Verantwortung, Rechte und Pflichten zwischen Medizin und Pflege als Grundlage für eine Neuverteilung von Aufgaben Hochschulen: Schaffung von Studienplätzen/-gängen, die den Bedarf an qualifizierten Fachkräften decken

Arbeitgeber: Schaffung attraktiver Arbeitsbedingungen, z.B. durch betriebliches Gesundheitsmanagement, „gerechte“ Vergütung

Politik: Reform der Ausbildung, Demografiefestigkeit der Pflegeversicherung, finanzielle Ausstattung der Träger

Gesellschaft: Diskussion um „Wert“ der Pflege und Bereitschaft, Vorsorge zu treffen

Abb. 3   Attraktivität des Pflegeberufes. (Quelle: Bettig 2012, Abb. 3)

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Care im bürgerschaftlichen Engagement und ziviler Partizipation mit Blick auf die neue Welt der Pflegestärkungsgesetze und die UstA-VO in Baden-Württemberg Ursula Weber

Zusammenfassung

Der vorliegende Text skizziert die Bedeutung des bürgerschaftlichen, freiwilligen Engagements und spitzt es auf das Engagement für Ältere von Älteren zu. Deren Potenzial ist im Kontext der Professionalisierung der Sozial- und Pflegeberufe im Visier ebenso wie in der Sozialgesetzgebung. Es soll beachtet und gefördert werden, insbesondere vor dem Hintergrund der Pflegekrise, was durchaus eine kritische Betrachtungsweise auslöst. Im Rahmen der Pflegestärkungsgesetze (PSG I-III) wird ein Paradigmenwechsel hin zum ressourcenbezogenen, auf Alltagskompetenz ausgerichteten Ansatz vollzogen. Um dies umsetzen zu können, müssen Angebote zur Unterstützung im Alltag für Pflegebedürftige und Pflegende geschaffen werden. Wesentlicher Bestandteil in der Realisierung ist das ehrenamtliche Engagement. Am Beispiel der neuen Unterstützungsangebote-Verordnung (UstA-VO) des Landes Baden-Württemberg, die 2017 in Kraft getreten ist, wird dies dargestellt und diskutiert.

U. Weber (*)  Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_14

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U. Weber

1 Einleitung Wir leben in einer Gesellschaft des langen Lebens. Fragen der Generationensolidarität stehen deshalb zunehmend auf der Agenda und werden nach und nach im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert. Der Begriff der „Caring Community“ (Klie 2014, S. 10) hat Konjunktur. Er steht dafür, Verantwortungsstrukturen auf regionaler und lokaler Ebene neu zu beleben und zu gestalten, die dann das Zusammenleben von Bürgerinnen und Bürgern sichern und neue Formen gegenseitiger Unterstützung etablieren helfen. Im Folgenden wird es darum gehen, den Eigensinn und die Größenordnung des bürgerschaftlichen Engagements aufzuzeigen. Ziel ist es, die Ausführungen auf den Aspekt von Care im bürgerschaftlichen Engagement zuzuspitzen und darzulegen, dass gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen eine wesentliche Rolle in der Ausgestaltung von Engagement-Strukturen spielen. An den Pflegestärkungsgesetzen und insbesondere an der aktuellen Unterstützungsangebote-Verordnung (UstA-VO) des Landes Baden-Württemberg wird dies exemplarisch dargelegt und diskutiert.

2 Bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt Albert Camus formulierte: „Die einfache ‚Sorge‘ ist aller Dinge Anfang“ (Camus 2013). Er sieht die Sorge um den Anderen als auch das Glück des Anderen als zentrale Dimensionen menschlicher Existenz. Um dies umzusetzen, braucht es die Bereitschaft, die Gesellschaft im Kleinen mitzugestalten. Das Interesse von Bürgerinnen und Bürgern trägt dazu bei, der Sorge Ausdruck zu verleihen und den Anderen Beachtung zu schenken. Das konkrete Tun im persönlichen Umfeld und die Gestaltung dieses Raumes gehört – bezogen auf das bürgerschaftliche Engagement – zu den ganz wesentlichen Motiven, um sich zu engagieren. Diese Verankerung von Mitverantwortlichkeit in den Motivstrukturen von Bürgerinnen und Bürgern sind in den Ergebnissen aus den Freiwilligensurveys in den Jahren 2010 und 2017 belegt (Abb. 1 und 2). Für die große Mehrheit der Engagierten steht also im Mittelpunkt, etwas zu tun, das ihnen Freude bereitet, dass sie sich mit anderen Menschen zusammentun können, Gesellschaft mitgestalten können und dabei einen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Dabei ist es ihnen weniger wichtig, ihre Stellung in der Gesellschaft oder auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern oder finanziell zu profitieren.

Care im bürgerschaftlichen Engagement und ziviler Partizipation …

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Abb. 1   Die Motive für ein freiwilliges Engagement 2009. (Quelle: vgl. Gensicke, Thomas und Geiss 2010)

Die Motive spielen zunächst für die Engagierten selbst als Kriterium für das Aktiv-Werden eine wichtige Rolle. Thomas Gensicke verweist auf eine weitere Komponente. Er betont in seinem Ansatz, dass die Qualität einer Gesellschaft sich unter anderem daran bemisst, in welchem Ausmaß die Bürgerinnen und Bürger sich an öffentlichen Aktivitäten beteiligen und inwiefern sie zu freiwilligem Engagement bereit sind. Je höher dieses ist, desto gefestigter ist die „Zivilgesellschaft“ als Kern einer modernen „Bürgergesellschaft“ (Gensicke 2006, S. 9). Mit ihrem Engagement wollen Bürgerinnen und Bürger etwas zum Gemeinwesen beitragen. Dieses Kernkriterium der Zivilgesellschaft schließt allerdings andere Motive, Zwecke und Wirkungen nicht aus. Dennoch muss die in guter Absicht erbrachte freiwillige Tätigkeit in der Praxis den Kriterien der Öffentlichkeit, Kooperativität und Toleranz gerecht werden, die neben der Orientierung am Gemeinwohl die Idee der Zivilgesellschaft bestimmen (Abb. 3). Das Spektrum der Betätigungsfelder ist breit gestreut und ebenso die Beweggründe derer, die sich zu einem freiwilligen Engagement entschließen. Ansgar Klein betont, dass es ein Gemisch aus verschiedenen Interessen und Erwartungen

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Abb. 2   Die Motive für ein freiwilliges Engagement 2017. (Quelle: vgl. Simonson et al. 2017, S. 427)

ist, welche die Menschen in ein Engagement bringt. Er verweist darüber hinaus auf den Eigensinn und den Eigennutzen, denn dieser stellt in dieser Gemengelage einen nicht zu unterschätzenden Faktor dar, der sich neben der Gemeinsinnorientierung und den altruistischen Motiven entfaltet (Klein 2011a, S. 37). Dabei steht der Wunsch, durch das eigene Engagement die Gesellschaft zumindest im Kleinen mitzugestalten. Über die Motive lässt sich der Blick auf die unterschiedlichen Begriffe richten, die eine freiwillige Tätigkeit charakterisieren oder auslösen.

3 Begriffsarbeit Der Begriff des bürgerschaftlichen Engagements kam in den 1990er Jahren auf und hat sich inzwischen fest etabliert. Mit ihm drückt sich gleichzeitig eine Abgrenzungstendenz zum Ehrenamt aus. Mit dem bürgerschaftlichen Engagement geht eine gesellschaftspolitische Dimension einher, die mit dem Begriff betont wird (vgl. Klein 2011a, S. 36; Ross 2014, S. 433 ff.). Die freiwillige Betätigung liefert aus dieser Perspektive heraus einen Beitrag „zu den demokratischen Qualitäten der Gesellschaft“ (Klein 2011a, S. 38).

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Ethisch-Moralische Motive:moralische oder religiöse Gebote, humanitäre Verplichung, Buße für Unrecht, Politisches Anliegen, Eigenes Wertekonzept

Altruistische Motive: Solidarität mit Notleidenden und Unterdrückten, Mitgefühl und Mitleid, Identiikation mit Menschen in Not, Anderen Hoffnung schenken und Menschenwürde zurückgeben

Instrumentelle Motive: Neue Erfahrungen, Erweiterung der Kompetenzen, Sinnvolle Freizeitgestaltung, Kontakte, Geselligkeit, Persönliche Zufriedenheit, Sinnvoller Einsatz von Talenten

Gestaltungsorientierte Motive: Wille zu Partizipation und Mitbestimmung, Kommunikation und soziale Integration, Beseitigung gesellschaftlicher Misstände, Erhaltung und Gestaltung der Umwelt

Abb. 3   Motive der Freiwilligen und potenziell Freiwilligen. (Quelle: in Anlehnung an Carola Reifenhäuser (2012, S. 21))

Der Begriff des Ehrenamts dagegen ist bis in die 1980er Jahre die klassische Bezeichnung für freiwillige, unbezahlte und uneigennützige Tätigkeiten, deren Lohn die „Ehre“ ist (vgl. Reifenhäuser 2012, S. 14). Im Ehrenamt scheint die Institutionalisierung des ehrenamtlichen Handelns im Rahmen eines Amtes im Vordergrund zu stehen. Dagegen betonen die Begriffe bürgerschaftliches und freiwilliges Engagement moderne Aspekte der demokratischen Partizipation und der Individualisierung (vgl. Hollstein 2015, S. 22). Greift man in der Historie weiter zurück, dann zeigen sich zwei unterschiedliche Entwicklungsstränge. Der eine Weg führt zu den Reformen der nach-napoleonischen Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts,

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als die „kommunale Selbstverwaltung“ in der Preußischen Städteordnung ­verankert wurde. Die Bürger waren von nun an verpflichtet, ggf. öffentliche Stadtämter zu übernehmen, ohne dafür eine Bezahlung erwarten zu können – das Ehrenamt hat hier seinen Ausgangpunkt. Der zweite Weg hat im sog. „Elberfelder System“ seine Geburtsstunde und weist auf die sozialen Reformen in der Mitte des 19. Jahrhunderts hin. Männer aus dem Bürgertum machten bei den „Armen“ Hausbesuche, um herauszufinden, ob die Hilfsbedürftigen würdig sind, die Armenhilfe durch die kommunale Verwaltung zu erhalten. Die entscheidende Qualifikation des Armenpflegers bestand in seiner Eigenschaft als Bürger und Nachbar, seiner lokalen Vertrautheit und Präsenz (Sachße 2011, S. 18). Die Entwicklungsgeschichte verweist darauf, dass es sich beim Ehrenamt um eine staatlich abgeleitete Tätigkeit handelt. Der Einzelne tut etwas für seine Gemeinde und hat dafür in gewisser Weise eine Art Beauftragung – und wird dafür mit der Ehre für das Geleistete belohnt. Heute kommt man üblicherweise durch Wahl, Berufung oder (noch immer) durch Beauftragung zu einem Ehrenamt. Die Positionen in Gremien wie Gemeinde- oder Stadtrat, Kirchengemeinderat, Elternbeirat, die Tätigkeit als Schöffe oder Vormund oder der Vorsitz in Vereinen werden mit Personen besetzt, deren Engagement als quasi selbstverständlich vorausgesetzt wird. Es klingt damit die besondere moralisch-ethische Verpflichtung an, die besondere Verbundenheit zu einem Amt und der Organisation, das innere Bedürfnis, sich einzusetzen – als Belohnung, als Ausgleich, als Gegenwert wird einem dann „Ehre“ zuteil. Von diesem etatistischen Verständnis von Ehrenamt, also auf die Interessen des Staates hin ausgerichtet, hat sich dagegen die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages in der Beschreibung der Formen des Bürgerschaftlichen Engagements wegweisend abgegrenzt. Im Begriff des bürgerschaftlichen Engagements (BE) bündeln sich unterschiedliche Formen von freiwilligen, nicht auf materiellen Gewinn ausgerichteten, gemeinsinnorientierten Tätigkeiten (vgl. Enquete-Kommission 2002, S. 86). Fünf Kriterien sind zentral, um das Feld des Engagements zu beschreiben • • • • •

Das Engagement ist freiwillig; Das Engagement ist nicht auf materiellen Gewinn ausgerichtet; Das Engagement erfolgt gemeinwohlorientiert; Das Engagement ist öffentlich bzw. findet im öffentlichen Raum statt und Wird in der Regel gemeinschaftlich/kooperativ ausgeübt.

Der Begriff des bürgerschaftlichen Engagements kam in den 1990er Jahren auf und hat sich inzwischen fest etabliert. Einerseits als Oberbegriff bei g­ leichzeitigen

Care im bürgerschaftlichen Engagement und ziviler Partizipation …

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Tab. 1   Traditionelles und neues Freiwilligenengagement Traditionelles Ehrenamt

Neues Freiwilligenengagement

Engagement in etablierten Organisationen

Engagement in Initiativen und Projekten

Langjähriges kontinuierliches Engagement

Zeitlich definiertes Engagement

Angefragt, gebeten, berufen oder gewählt

Eigener Entschluss

Altruistische Motivation und hohes Pflichtgefühl

Breit gefächerte Motivation: Spaß, Freude an der Tätigkeit, eigene Interessen und Nutzen, Geselligkeit

Diffuse Aufgabenstruktur

Konkrete Beschreibung der Tätigkeiten und Verantwortungsbereiche

Bereitschaft, sich in hierarchische und kom- Wunsch nach Transparenz der Strukturen plexe Strukturen einzufinden sowie Möglichkeiten der Teilhabe und Mitbestimmung Quelle: vgl. Reifenhäuser (2012, S. 36)

Abgrenzungstendenzen zum Ehrenamt und anderseits mit Betonung der gesellschaftspolitischen Dimension (vgl. Klein 2011a, S. 36; Ross 2014, S. 433 ff). Die freiwillige Betätigung liefert aus dieser Perspektive heraus einen Beitrag „zu den demokratischen Qualitäten der Gesellschaft“ (Klein 2011a, S. 38). Holzschnittartig wird nun in das sogenannte traditionelle Ehrenamt und das neuere Freiwilligenengagement voneinander unterschieden. Diese Trennung ist jedoch eher theoretischer Natur. Beide Engagementtypen sind in der Praxis vertreten und überschneiden sich in verschiedenen Organisationen (Tab. 1). Die Enquete-Kommission hebt den „Eigensinn“ des Engagements hervor und schließt ausdrücklich Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen und Selbsthilfegruppen in ihre Begriffsbestimmung mit ein: Bürgerengagement ist der Einsatz für das Gemeinwohl als unverzichtbare Bedingung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft (vgl. Enquete-Kommission 2002, S. 86). Der Eigensinn des Engagements ist zentraler Kern. Zunächst basiert die Tätigkeit in aller Regel auf der Selbstorganisation, auch wenn sie in gemeinnützigen Organisationen erbracht wird. Den sog. Eigensinn macht dann „all jenes aus, was Staat nicht ist und auch nicht sein kann“ (Alberg-Seberich et al. 2015, S. 18). Das erweiterte Verständnis von Engagement spiegelt sich im Ersten Engagementbericht wider. Es ist ein Verweis darauf, dass das bürgerschaftliche Engagement seine Rolle im Zusammenwirken von Staat, der Bürgergesellschaft und der Wirtschaft hat und sich erst in diesem Zusammenspiel die zeitgemäße Entwicklung des Gemeinwohls zeigt (vgl. Erster Engagementbericht 2012, S. 35).

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Daraus kann geschlossen werden, dass sich die aktuelle Debatte zum bürgerschaftlichen Engagement durch den Bezug auf die Zivil- bzw. Bürgergesellschaft als Rahmung auszeichnet. Diese neu gewonnene Perspektive führt zu der Erkenntnis, dass das politische und soziale Engagement in Verbindung zueinander zu betrachten ist und dass die häufige Abgrenzung voneinander nicht wegweisend ist. Die Engagementformen in ihrer Vielfalt und die verschiedenen Tätigkeiten sind durch ihren Beitrag Gestalter des Gemeinwesens. Es zählt der Einsatz der Feuerwehr ebenso wie der Besuchsdienst im Pflegeheim, die Tätigkeit als Jugendtrainer oder die Aktivität in einer Selbsthilfegruppe. Eine weitere Perspektive zur Bedeutung und zur Aktualität eröffnet sich hinsichtlich der Stärkung und Betonung der gesellschaftlichen, demokratischen Teilhabe, die mit der Befassung von bürgerschaftlichem Engagement verbunden ist. Gemeint ist hier die Bürgerbeteiligung bzw. Partizipation. Die Erweiterung des Blickwinkels „erlaubt es schließlich, freiwilliges Engagement einerseits und Bürgerbeteiligung andererseits zwar zu unterscheiden, aber nicht voneinander zu trennen“ (Ross 2014, S. 434).

3.1 Wie viele Menschen engagieren sich? Derzeit sind 43,6 % der Wohnbevölkerung Deutschlands im Alter ab 14 Jahren freiwillig engagiert. Das sind 30,9 Mio. Menschen, die im öffentlichen Raum aktiv sind. Offensichtlich in der Betrachtung des Zeitverlaufs wird, dass seit Beginn der Befragung 1999 die Quote der Engagierten stetig anstieg. 1999 waren es 34 %, im Jahr 2004 und 2009 waren es knapp 36 % (vgl. Freiwilligensurvey 2017). Das heißt, dass sich zunehmend mehr Menschen freiwillig engagieren (Abb. 4).

3.2 Wer engagiert sich? Was die Geschlechterverteilung beim Engagement betrifft, so zeigen die Ergebnisse, dass die Beteiligung am Engagement unterschiedlich ist. Frauen engagieren sich mit 41,5 % anteilig etwas seltener als Männer mit 45,7 %. Wird die Quote im Zeitverlauf betrachtet, dann ist festzustellen, dass sie sich angleicht. 1999 waren 29,9 % Frauen und 38,4 % Männer engagiert. Dies führen die Autoren des aktuellen Freiwilligensurveys auf die mittlerweile stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen zurück. Hier bieten die berufliche Tätigkeit und die sozialen

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Abb. 4   Anteile freiwillig engagierter Personen im Zeitvergleich. (Quelle: vgl. Simonson et al. 2016, S. 21)

Kontakte mehr Gelegenheitsstrukturen für ein freiwilliges Engagement. Dennoch bleibt die Differenz zwischen den Geschlechtern relativ gering. Deutlich größere Unterschiede gibt es dagegen zwischen den verschiedenen Altersgruppen und Bildungsgruppen. Sowohl in der Altersgruppe 14 bis 29 Jahre als auch in der Altersgruppe der 30- bis 49-Jährigen zeichnen sich mit 46,9 und 47 % die höchsten Beteiligungsquoten ab. Auch der Anteil der 50- bis 64-Jährigen liegt mit 45,5 % über dem Gesamtanteil. Wesentlich niedriger ist der Anteil der Personen im Alter von 65 und mehr Jahren mit 34 %. Die Beteiligung im freiwilligen Engagement unterscheidet sich somit deutlich nach Altersgruppen, die auch als Ausdruck verschiedener Lebensstile verstanden werden können. Personen im beruflichen Ruhestand sind vergleichsweise seltener freiwillig engagiert als Personen, die noch zur Schule gehen oder in der Ausbildung sind, und als Personen in der Erwerbs- und/oder der Familienphase (vgl. Simonson et al. 2016, S. 21) (Abb. 5).

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Abb. 5   Anteile freiwillig engagierter Personen nach Geschlecht und Alter. (Quelle: vgl. Simonson et al. 2016, S. 17)

3.3 Engagement in seiner Vielfalt – wofür engagiert man sich? Menschen engagieren sich in unterschiedlichen Bereichen. Die höchste Engagementquote liegt im Bereich des Sports und der Bewegung: 16,3 % der in Deutschland lebenden Personen ab 14 Jahren engagieren sich hier freiwillig. Weitere größere Engagementbereiche sind Schule und Kindergarten (z. B. Elternvertretung, Schülervertretung, Förderkreis) mit einer Quote von 9,1 %. Im Bereich der Kultur und Musik (z. B. Theater- oder Musikgruppe, Chor, kulturelle Vereinigung, Förderkreis) sind es 9 %. Der soziale Bereich (z. B. Wohlfahrtsverband, Hilfsorganisation, Nachbarschaftshilfe) hat eine Quote von 8,5 % und der kirchliche oder religiöse Bereich (z. B. Kirchengemeinde, kirchliche Organisation oder religiöse Gemeinschaft) zeigt sich mit einer Engagementquote von 7,6 %. Zu den kleinsten Engagementbereichen zählen der Bereich Justiz (z. B. als Schöffin oder Schöffe, Betreuung von Straffälligen oder Verbrechensopfern), der Gesundheitsbereich mit 2,5 % (z. B. als Helferin oder Helfer in der Krankenpflege, Besuchsdienste, Verband, Selbsthilfegruppe) sowie der Bereich der beruflichen Interessenvertretung, ebenfalls mit 2,5 % (z. B. Gewerkschaft, Berufsverband, Arbeitsloseninitiative). In einem sonstigen Bereich sind 2,7 % der Bevölkerung freiwillig engagiert. Dieser Bereich umfasst freiwilliges Engagement, das in keinem der genannten Bereiche stattfindet, aber auch sonstiges freiwilliges Engagement, das von den Befragten vorher nicht genannt worden war (Abb. 6).

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Abb. 6   Die Vielfalt des Engagements in 14 Feldern. (Quelle: vgl. Simonson et al. 2016, S. 30)

4 Care und bürgerschaftliches Engagement An das Engagementfeld mit Älteren richten sich hohe Erwartungen (vgl. Klie 2011, S. 391). Im Folgenden wird nun die Bedeutung des Engagements von Älteren sowie das Engagement für die Älteren thematisiert. Es werden die zwei Seiten des Engagements betrachtet: die Funktion als Altersmanagement, als Gestaltungsoption eines Lebens im Alter und den Beitrag, welches das Engagement zur Sicherung von Teilhabe und Integration für die Engagierten leistet. Die zweite Perspektive ist jene, die das Engagement für die Menschen, die auf die Unterstützung anderer angewiesen sind, fokussiert. Besonders Ältere engagieren sich für Ältere. In der älteren Bevölkerungsgruppe ist die Bereitschaft besonders hoch, sich in der Pflege freiwillig einzubringen. Zudem richten ältere Menschen ihr freiwilliges Engagement am häufigsten auf die eigene Wohnregion. Dabei werden informelle Pflegetätigkeiten von älteren Menschen häufiger geleistet als von Menschen im jüngeren und mittleren Lebensalter. Die Pflege und Betreuung von Verwandten wird anteilig am häufigsten von den 55- bis 64-Jährigen übernommen: 18,2 % pflegen jemanden außerhalb des eigenen Haushalts und 11,4 % im eigenen Haushalt. Nicht-­ Verwandte werden anteilig am häufigsten von den 65- bis 74-Jährigen gepflegt

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oder betreut: 6,9 % pflegen jemanden außerhalb des eigenen Haushalts (4,8 % im eigenen Haushalt). Ältere Frauen üben sowohl die Pflege oder Betreuung von Verwandten als auch von Nicht-Verwandten häufiger aus als ältere Männer (vgl. BMFSFJ 2017b, S. 8). Bereits im 5. Altenbericht (BMFSFJ 2006) der Bundesregierung erhält das Engagement älterer Menschen besondere Aufmerksamkeit. Hier werden die Potenziale des Alters in den Mittelpunkt gerückt. Es wird die aktive, mitverantwortliche Gestaltungsrolle älterer Menschen hervorgehoben, das sich in unterschiedlichen Formen des bürgerschaftlichen Engagements findet. Das Bild des passiven Ruhestandes ist überholt und Altern wird zu einer unterstützenden Gestaltungsaufgabe, die öffentlich von Bedeutung ist. In der Folge haben sich die Angebote für Ältere in den Kommunen ausgeweitet und sind bedeutsamer geworden. Aber das gilt eher für das sog. dritte Lebensalter. Für die hochbetagten Menschen ist die Verwiesenheit auf die Unterstützung anderer und eine besondere Verletzlichkeit festzuhalten. Einschränkungen sind in dieser Lebensphase wahrscheinlicher und stellen Anforderungen an die Betroffenen, die Angehörigen sowie an die Gesellschaft. Ein Aspekt der Altenhilfe-Politik zielt auf die Förderung bürgerschaftlichen Engagements älter Menschen ab – als eine Form der Lebensgestaltung und Erhaltung der Möglichkeiten im Alter als auch auf den Schutz vulnerabler älterer Menschen. Die Bedeutung des Themas bleibt in der kontinuierlichen Beachtung. So rückte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) die wachsende Gruppe aktiver und leistungsfähiger älterer Menschen und deren Potenziale in den gesellschaftlichen Fokus und initiierte in den Jahren 2015 bis 2017 einen Runden Tisch „Aktives Altern – Übergänge gestalten“ (RTAA). Die zentrale Zielsetzung war, die Gruppe der über 55-jährigen Bürgerinnen und Bürger mehr als bisher und rechtzeitig vor dem Übergang in den Ruhestand anzusprechen, zu aktivieren und deren Potenzial hervorzuheben. Von besonderem Interesse waren die Herausforderungen, die der Übergang der sogenannten „Babyboomer“ für sie selbst, die Gesellschaft und für die sozialen Sicherungssysteme nach sich zieht. Gemeint sind damit die geburtenstarken Jahrgänge von Mitte der 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre. Von 2018 bis 2031 werden in Deutschland circa 13 Mio. Babyboomer die Berufstätigkeit verlassen, das sind etwa 37 % aller derzeitig Erwerbstätigen. Das BMFSFJ hat sich gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern aus Ländern und Kommunen, Verbänden und Organisationen der Zivilgesellschaft sowie aus anderen Bundesressorts vor diesem Hintergrund zum Ziel gesetzt, defizitären Alter(n)sbildern entgegenzuwirken, die Öffentlichkeit für die Potenziale eines „Aktiven Alterns“ – sei es im Bereich gemeinwohlorientierten, freiwilligen Engagements in der ­ nachberuflichen

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Lebensphase oder im Rahmen von Möglichkeiten einer ­ alternsgerechten Gestaltung verlängerter Lebensarbeitszeiten – zu sensibilisieren und diese Potenziale zu erschließen (vgl. Simonson 2013).

5 Das neue Ehrenamt in der Pflege Das Ehrenamt in der Pflege ist kein neues Phänomen. Ehe der Beruf der Altenpflege in den 1960er Jahren eingeführt wurde, waren zumeist bürgerliche Frauen als sogenannte Diakonissen und Ordensschwestern unentgeltlich in der Alten- und Krankenpflege tätig. Das sog. Normalarbeitsverhältnis war für den Pflegebereich, historisch betrachtet, nie charakteristisch, die Abgrenzung zwischen professioneller Fach- und Laienpflege immer prekär und umkämpft. Die Diffusität von beruflichen Tätigkeitsprofilen und qualifikationsbasierten Zuständigkeiten spielt auch heute eine zentrale Rolle, wenn Freiwillige für pflegerische Betreuungsleistungen mobilisiert werden sollen. So erfasste die Wiederentdeckung des bürgerschaftlichen Engagements seit den 1990er Jahren auch den Pflegebereich, wo freiwillige Gratisarbeit durch die Professionalisierung der Sozial- und Gesundheitsberufe zwischenzeitlich an den Rand gedrängt worden war. Der Einsatz von Freiwilligen wird seither vor allem durch die Sozialgesetzgebung gestärkt und ausgeweitet. Das Pflegeleistungsergänzungsgesetz von 2001 zielte mit der finanziellen Förderung niedrigschwelliger Betreuungsangebote auf die Stärkung häuslicher Betreuung auch durch Ehrenamtliche ab. Das Pflegeweiterentwicklungsgesetz ergänzte 2008 Fördermöglichkeiten für Selbsthilfe und Ehrenamt auch für körperlich Kranke. In dieser Zeit wurde auch der Spitzenverband der Pflegekassen dazu verpflichtet, niedrigschwellige Betreuungsangebote und ehrenamtlich Pflegende mit 25 Mio. EUR jährlich zu unterstützen. Das Pflege-Neuausrichtungsgesetz von 2012 gestattete stationären Einrichtungen, Aufwandsentschädigungen an Ehrenamtliche zu zahlen. Tine Haubner (vgl. 2016) hält in diesem Zusammenhang kritisch fest, dass die Verschärfung der Pflegekrise ihren Teil dazu beitrug und dazu führte, bürgerschaftliches Engagements zu fördern. Auf kommunaler, Landes- und Bundesebene finden sich mittlerweile viele Modellprojekte und Initiativen zur Förderung des Engagements in der Pflege. Verstärkt wurde dies durch die Aufnahme der Förderung bürgerschaftlichen Engagements in der Pflege, insbesondere für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, d. h. überwiegend Menschen mit Demenz. Im neuen Leistungsund Förderrecht (Pflegestärkungsgesetze) der Pflegeversicherung ist damit sowohl die Aufmerksamkeit auf die Förderaktivitäten noch einmal verstärkt worden als

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auch Geld in die Hand genommen worden (vgl. Klie 2013, S. 16), um die bislang keineswegs flächendeckend erfolgte Förderung ehrenamtlicher Aktivitäten in der Pflege auszuweiten. Das Statistische Landesamt geht davon aus, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in Baden-Württemberg allein aus demografischen Gründen von heute bis zum Jahr 2030 um 103.000 zunimmt. Das wären dann rund 402.000 Pflegebedürftige (vgl. Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg 2017b, S. 1). Die meisten Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, möchten möglichst lange und möglichst eigenständig zu Hause in ihrem vertrauten Umfeld leben. Hierzu benötigen sie Unterstützung, Betreuung und Versorgung. Dafür braucht es die Politik, die Gesellschaft, die Familien, Nachbarschaften, Hauptamt und Ehrenamt. Es braucht ein Spektrum an vielfältiger und ineinander vernetzter Angebote und Strukturen, damit Pflegebedürftige und Pflegende Unterstützung finden.

6 Die neue Welt der Pflegestärkungsgesetze und die UstA-VO Nach langer Diskussion u. a. die ungleiche Verteilung der Pflegeleistungen für körperlich Kranke und Menschen mit Demenz hat die CDU-SPD-Bundesregierung im Jahr 2014 und 2015 die Pflegestärkungsgesetze (PSG I und II) verabschiedet. Damit stärkt der Bundesgesetzgeber die Leistungen für die häusliche Pflege und vollzieht im Pflegebedürftigkeitsbegriff einen Paradigmenwechsel in der Orientierung vom verrichtungs- und defizitbezogenen Ansatz hin zum ressourcenbezogenen auf Alltagskompetenz ausgerichteten Ansatz (vgl. Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg 2017b). Viele sprechen deshalb von der „größten Pflegereform aller Zeiten“. Seit dem 01.01.2017 sind die zweite Stufe des PSG II und das PSG III in Kraft getreten. Die Angebote zur Unterstützung im Alltag selbst sind grundsätzlich im § 45a des neu gefassten Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) geregelt. Sie sollen pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige entlasten und dazu beitragen, dass die Pflegebedürftigen möglichst lange und selbstständig zu Hause leben und soziale Kontakte unterhalten können. Mit den neuen Bestimmungen schafft der Gesetzgeber die Voraussetzungen für eine vielfältige Angebotslandschaft zur Unterstützung von Pflegebedürftigen und deren An- und Zugehörigen. Die Angebote zur Unterstützung im Alltag sind eine Weiterentwicklung der bisherigen niederschwelligen Betreuungsangebote. Mit der Neuregelung sollen die Betroffenen einen passgenauen Unterstützungsmix zusammenstellen können und

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dafür Leistungen aus der Pflegeversicherung einsetzen können (vgl. Alzheimer Gesellschaft 2017, S. 2). Dafür erhalten die Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege einen Entlastungsbetrag nach § 45b SGB XI von 125 EUR monatlich für die Inanspruchnahme der anerkannten Angebote zur Unterstützung im Alltag. Erhöht hat sich außerdem die Flexibilität zur Inanspruchnahme von Leistungen. Mit der sog. Umwandlungsmöglichkeit stehen den Pflegebedürftigen für Angebote zur Unterstützung im Alltag nun zusätzlich Gelder in Höhe von bis zu 40 % der Pflegesachleistungen zur Verfügung. In Baden-Württemberg gibt es seit dem 09.02.2017 mit der Unterstützungsangebote-Verordnung (UstA-VO) (vgl. Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg 2017a) eine landesrechtliche Grundlage für die Förderung, Anerkennung, Qualitätssicherung, Transparenz und finanzielle Förderung. Die Angebote zur Unterstützung im Alltag beziehen sich aktuell auf • • • •

alle Pflegebedürftigen und deren pflegende An- und Zugehörige Betreuungs- und/oder Entlastungsangebote Ehrenamtliches, bürgerschaftliches Engagement und/oder beschäftigtes Personal

Hier lässt sich nun wieder der Bogen zum Bürgerengagement schlagen, denn die UstA-VO bezieht das bürgerschaftliche Engagement zentral in seine Struktur ein. Sie regelt u. a. die • Förderung des Auf- und Ausbaus von ehrenamtlich getragenen Angeboten zur Unterstützung im Alltag nach § 45c Absatz 1 SGB XI, • Förderung von Initiativen des Ehrenamts und entsprechender ehrenamtlicher Strukturen nach § 45c Absatz 1 SGB XI, • Förderung von Modellvorhaben zur Weiterentwicklung von Versorgungsstrukturen und -konzepten nach § 45c Absatz 1 SGB XI sowie • Förderung der Selbsthilfe nach § 45d SGB XI. (vgl. Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg 2017b, S. 2). Die Betonung in der neuen Verordnung liegt auf dem Vorrang von ehrenamtlichen Angebotsprofilen bei den Angeboten zur Unterstützung im Alltag. Damit orientiert sich die UstA-VO des Landes an der bürgerschaftlichen und ehrenamtlichen Engagement-Kultur, wie sie im Land bereits eine wichtige Rolle spielt und Förderung erfährt – auch im Vor- und Umfeld von Pflege. Im Einzelnen können dies sein: Betreuung für Pflegebedürftige; Alltagsbegleitung für Pflegebedürftige; Pflegebegleitung für pflegende An- und Zugehörige.

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Das heißt, die UstA-VO will die Entwicklungen im Sinne sorgender ­ emeinschaften im Quartier berücksichtigen und mit einem Unterstützungsmix aus G ehrenamtlichen Aktivitäten und aus gewerblichen Angeboten realisieren. Somit soll die häusliche Versorgungs-, Betreuungs- und Pflegesituation stabilisiert werden. Die Angebote zur Unterstützung im Alltag auf der Ebene des Engagements sehen vor, Pflegepersonen zu entlasten, damit Pflegebedürftige möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können, soziale Kontakte aufrechterhalten werden können und der Alltag weiterhin möglichst selbstständig bewältigt werden kann. Der aktuelle 7. Altenbericht der Bundesregierung unter dem Titel „Sorge und Mitverantwortung in der Kommune“ (2016) macht dazu deutlich, dass die Bedingungen zum Leben und zur Lebensqualität im Alter in erster Line vor Ort im lokalen Raum gestaltet werden. In der Gesundheitsversorgung und Pflege etwa braucht es dafür die Koproduktion von Kommune, Wohlfahrtsverbänden, Wirtschaft und Zivilgesellschaft (Vorholz 2018, S. 131). Das heißt, freiwilliges Engagement und Selbsthilfepotenziale spielen bei der Bewältigung der Herausforderungen, die demografische Alterungsprozesse mit sich bringen, eine weiterhin bedeutende Rolle für die Pflegeinfrastruktur. Der Vorsitzende der Sachverständigenkommission zum 7. Altenbericht, Andreas Kruse, sieht die Marktprinzipien der ambulanten (und stationären) Einrichtungen nicht als die einzige und dominante Komponente, sondern er stellt heraus, dass der bürgerschaftliche Beitrag für die Sorgestruktur zunehmen wird und sie als Ergänzung zur familiären und hauptamtlichen Pflege zu sehen ist (vgl. Kruse 2018, S. 134). Die anhaltende Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements entfaltet Thomas Klie ebenfalls, warnt jedoch davor, dessen quantitative Bedeutung zu überschätzen und die Engagierten nicht als Lückenbüßer einzuplanen (vgl. Klie 2018, S. 138). Diese kritische Sicht, die auch im 7. Altenbericht 2016 niedergelegt ist, zeigt sich auch in der UstA-VO in Baden-Württemberg. Einerseits erfährt das freiwillige Engagement grundlegende Bedeutung und andererseits stellt es nur eine von weiteren Möglichkeiten im Pflege-Mix dar. Es ist zurecht nur eine Komponente im Angebots-Mix, denn Pflege und Sorge sind nicht ausschließlich Angelegenheit der Bürgerinnen und Bürger füreinander, sondern der Staat hat dafür Sorge zu tragen und Rahmenbedingungen zu erhalten, zu gestalten und zu gewährleisten (vgl. Klie 2018, S. 137). Das spiegelt sich auch in der kritischen Sicht der Soziologin Tine Haubner (2017) wider. Sie analysiert und bezeichnet die gegenwärtige Situation in der deutschen Pflege als Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft. Die Ausgebeuteten sind in ihrer Untersuchung die ungeschulten Kräfte in der Altenpflege. Nutznießer ist der Staat, der stattdessen das Geld nicht in die professionelle Pflege investiert. Sie spricht sich nicht gegen die

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„­ Laienpflege“ aus, sieht sie jedoch im Feld der Betreuung nicht als Ersatz für ­fehlende Pflegerinnen und Pfleger. Wie ist die UstA-VO Baden-Württembergs in diesem Kontext zu bewerten? Wie sieht nun die junge und nicht erprobte Verordnung die Position des Ehrenamtes und wie sieht gemäß der Verordnung die Umsetzung der Unterstützung der Engagierten aus? In § 6 Absatz 1 (UstA-VO) (Ministerium für Soziales und Integration 2017a, S. 51) wird zunächst einmal unterschieden zwischen ehrenamtlichen Engagierten und aus der Bürgerschaft Tätigen, die im Sinne eines freiwilligen Einsatzes aktiv werden. Mit der begrifflichen Unterscheidung soll die Praxis abgebildet werden sowie die Unterschiedlichkeit von Engagementformen deutlich werden. Es ist ein Nebeneinander von Engagierten. Von diesen, die den erbrachten Einsatz quantifizieren, und jenen, die den Zeiteinsatz im Engagement nicht berechnen. Ehrenamtlich Engagierte erhalten eine Aufwandsentschädigung, die sich ausschließlich nach den tatsächlich entstandenen Auslagen richtet. Die Höhe der Übungsleiterpauschale ist dafür die monetäre Obergrenze. Konkret heißt das, dass nicht die erbrachten Stunden abgerechnet werden, sondern nur entstandene Aufwendungen wie etwa Fahrtkosten etc. Die Abrechnung erfolgt entweder als Auslagenersatz oder als Pauschalbetrag, um einen großen bürokratischen Aufwand zu vermeiden. Die bürgerschaftlich Tätigen hingegen übernehmen einen Einsatz, den sie dann aufgrund ihres tatsächlichen Zeitaufwandes anerkannt bekommen. Die Grenze der abzurechnenden Aufwendungen – oder anders ausgedrückt, der Honorierung – markiert ebenfalls die Übungsleiterpauschale. Sie liegt bei 2400 EUR pro Jahr (§ 3 EStG). Wird ein Angebot auf diese Weise von einem Freiwilligen erbracht, ist die Tätigkeit jedoch nicht im Sinne eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses mit Weisungsgebundenheit über Art, Ort und Zeit charakterisiert (vgl. Ministerium für Soziales und Integration 2017b, S. 14). Ein Träger, der dieses Angebot auf dem Markt anbietet, muss sich allerdings nur dann an die Obergrenze der Übungsleiterpauschale halten, wenn er diese Kosten mit den Pflegekassen abrechnen möchte. In der Handreichung des Ministeriums zur UstA-VO wird die Gleichsetzung mit einem Minijob – den eine Weisungsgebundenheit auszeichnet – als nicht vereinbar mit den Charakteristiken des Ehrenamtes angesehen. Es wird darin auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes hingewiesen, wonach sich Ehrenamtlichkeit dadurch auszeichnet, dass eine Vergütung grundsätzlich nicht erwartet wird, vielmehr Ausdruck einer inneren Haltung gegenüber den Belangen des Gemeinwohls ist. Bei den Angeboten zur Unterstützung im Alltag werden als weitere Varianten die Serviceangebote für haushaltsnahe Dienstleistungen aufgeführt. Hier wird beschäftigtes Personal eingesetzt, das bezahlt wird und einer Sozialversicherungspflicht unterliegt. Aus den künftigen Konzepten der Anbieter

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muss diese Trennung von Ehrenamt und Hauptamt ersichtlich sein, um eine ­entsprechende Genehmigung für das Angebot vom Landkreis oder der ­Kommune zu erhalten und um die Leistungen aus der Pflegeversicherung ersetzt zu bekommen. Eine wichtige neue Voraussetzung für die Engagierten ist die Pflicht zur Qualifizierung. Sie gilt sowohl für die ehrenamtlich Engagierten als auch die aus der Bürgerschaft Tätigen. Dazu sieht die UstA-VO in § 10, Absatz 6 (vgl. Ministerium für Soziales und Integration 2017a, S. 53) Mindestanforderungen an die Qualifizierung der Engagierten vor. Fakt ist, dass die Engagagierten ohne Schulung nicht zum Einsatz kommen können bzw. die Leistungen von den Trägern dann nicht mit der Pflegekasse abgerechnet werden können. Sie greift damit eine landesspezifische Herangehensweise auf, die sich in diesem Bundesland bereits früh etabliert hat. Weiterbildung ist als unterstützendes Instrument seit dem Beginn der Förderung von bürgerschaftlichem Engagement im Blickfeld (vgl. Helmer-Denzel und Weber 2016, S. 5). Im Rahmen, den die UstA-VO vorgibt, ist die Qualifizierung nicht als einheitliches landesweites Schulungsprogramm angelegt, sondern die Träger der Wohlfahrt und die Anbieter müssen die Qualifizierung innerhalb eines Orientierungsrahmens eigenständig organisieren. Der Vorschlag ist ein modulares Schulungsprogramm, das einen Schulungsumfang von 30 h für die ehrenamtlich Engagierten und die Tätigen aus der Bürgerschaft vorsieht. Das gilt auch für jene, die bereits in diesem Zusammenhang aktiv sind. Die UstA-Verordnung setzt den bundesrechtlich gegebenen Rahmen nach §§ 45a, 45c und 45d SGB XI in landesrechtliche Regelungen um. Sie gilt seit Februar 2017 und setzte damit die Betreuungsangebote-Verordnung vom 28. Februar 2011 außer Kraft, bzw. die Empfehlungen zum Übergangsverfahren aus dem Jahr 2015. Bis zum Ablauf der Übergangsfrist am 31. Dezember 2018 müssen sich alle niedrigschwellige Angebote, die nach der bisherigen Betreuungsangebote-Verordnung anerkannt wurden oder als anerkannt galten, auf der Grundlage der neuen UstA-VO anerkennen lassen. Entsprechend arbeiteten die Träger und künftige Anbieter von Angeboten zur Unterstützung im Alltag im Jahr 2018 an Zulassungsverfahren und Qualifizierungskonzepten. Das zeigte sich etwa exemplarisch an der Lebenshilfe in Tübingen. Die Einrichtung traf Vorbereitungen dafür, dass u. a. ein Schulungsprogramm konzeptioniert wurde, Angebote entworfen wurden und Engagierte in ausreichender Zahl zur Verfügung standen (vgl. Axnick 2018, S. 4). Die Chancen und Herausforderungen, wie die Ausgestaltung durch die Verordnungsgeber der Länder erfolgt, wurde aktuell von Beyer und Rosenkranz für die Seniorengenossenschaften analysiert. Sie zeigen, dass es durch die Verordnung zu neuen Impulsen kommen kann (vgl. Beyer und Rosenkranz 2018, S. 41). Jedoch wird im Zuge der Aufwandsentschädigungen

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die Frage virulent, wie sich der Eindruck einer Zweiklassengesellschaft (Beyer und Rosenkranz 2018, S. 41) unter den Helferinnen und Helfern vermeiden lässt. Das ist ein Aspekt, der für die Ausgestaltung der UstA-VO in BadenWürttemberg ebenfalls interessant ist – insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich alle Engagierten mit einer 30 h umfassenden Schulung qualifizieren müssen. Erst nach der Schulung können sie weiterhin zum Einsatz kommen und darüber hinaus den Betrag von maximal 2400 EUR im Jahr für Angebote zur Unterstützung im Alltag erhalten. Es stellt sich die Frage, ob die Gruppe derjenigen Engagierten, die bisher ohne Bezahlung aktiv waren, auch in Zukunft auf diese Möglichkeit verzichten wollen, oder ob sie nach der Qualifizierung eine Vergütung einfordern. Denn die Qualifizierung, die nunmehr für alle verpflichtend ist, schafft eine gleichförmige Basis, die den Anspruch auf diese Honorarmöglichkeit auch für die Engagierten nahelegt und nicht nur für diejenigen, deren Akzent auf der monetären Honorierung liegt. Das heißt, ohne es intendiert zu haben, könnte die neue Regelung die Monetarisierung im Pflegekontext befeuern. Will man ein weiteres Szenario entwerfen, könnte die Schulungspflicht dazu führen, dass Engagierte, die bisher nur punktuell z. B. für Freizeitbegleitung von Menschen mit Behinderung aktiv waren, den Aufwand der Schulung scheuen und dieses Engagement nicht mehr ausüben. Das heißt, auch hier kann es zu der nicht intendierten Nebenfolge kommen, dass die Qualifizierung bereits Engagierte von ihren zukünftigen Aktivitäten abhält, weil sie den Aufwand für die Schulung nicht im Verhältnis zum eingesetzten Engagement sehen. Wie sich das Engagement in diesen Bereichen tatsächlich weiterentwickelt, wird sich in der Umsetzung zeigen.

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Care im informellen Sektor Ludger Kolhoff

Zusammenfassung

In dem Aufsatz wird die bundesdeutsche Adaption des in der entwicklungspolitischen Diskussion geprägten Begriffes informeller Sektor skizziert und auf Careansätze im informellen Sektor am Beispiel der Pflege, dem Aufbau von Unterstützungsnetzwerken und der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen eingegangen.

1 Ursprünge – Die entwicklungspolitische Diskussion Der Begriff Informeller Sektor beschreibt als „ökonomische Restkategorie“ die Lebensbereiche, die außerhalb formeller Strukturen, also außerhalb von „Markt“ und „Staat“ und somit frei von Fremdsteuerungsansätzen existieren. Der Begriff stammt aus der Diskussion zu Problemlagen in den Entwicklungsländern. Anfang der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts entstand das Dualismuskonzept. Boeke (1953) konstatierte einen sozialen und ökonomischen Dualismus in den Entwicklungsländern. Eckaus (1955) sprach von einem „technologischen“ Dualismus. Hierunter verstand er eine Teilung der Wirtschaftsstruktur in den Entwicklungsländern in einen modernen und einen traditionellen Sektor. Zum modernen Sektor wurden L. Kolhoff (*)  Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Hochschule Braunschweig/Wolfenbüttel, Wolfenbüttel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0_15

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die neu entstandenen, an den Mustern der Industrieländer orientierten Wirtschaftsstrukturen gezählt, zum traditionellen Sektor herkömmliche Strukturen wie die Subsistenzwirtschaft und traditionelle Produktionsstrukturen. Diese Unterscheidung suggerierte einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozess. Auch die Wissenschaftler der „International Labour Organisation“ (ILO) orientierten sich am Dualismuskonzept (Hart 1973). Auch sie gingen von dualen Strukturen der Ökonomien der Entwicklungsländer aus, stellten deren zwei Teilbereiche jedoch nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bezogen sie funktional aufeinander und sprachen nicht von „modern“ und „traditionell“, sondern von „formell“ und „informell“. Sie prägten den Begriff „informeller Sektor“ und fassten hierunter sehr heterogene Aktivitäten, deren gemeinsamer Nenner die Tatsache ist, dass sie sich weitgehend „staatlicher“ Kontrolle entziehen. Die ILO charakterisiert folgende Merkmale des informellen Sektors: „(a) Ease of entry, (b) reliance on indigenous resources, (c) family ownership of enterprises, (d) small scale of operation, (e) labour intensive and adapted technology, (f) skills acquired outside the formal school system; and (g) unregulated and competitive markets“. „Informal-sector activitities are largely ignored, rarely supported, often regulated and sometimes actively discouraged by the Governement“ (ILO 1972, S. 6). Unter die ILO- Definition des informellen Sektors fallen u. a. die Strukturen des traditionellen Sektors, aber auch neu entstehende, formell so nicht vorgesehene Möglichkeiten der Existenzsicherung, die außerhalb und oftmals auch gegen staatliche Kontrolle und Lenkung entstanden. Hierzu gehören u. a. vielfältige Aktivitäten in den Slums der Städte, mit denen dort lebende Menschen ihr Überleben sichern, z. B. durch Tätigung von kleinen Geschäften oder die Durchführung von Reparatur- und Produktionstätigkeiten. Die ILO-Definition des formellen Sektors entspricht weitgehend der des vormaligen modernen Sektors. Während durch die Bezeichnung traditionell und modern ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungsprozess suggeriert wird, in dem die modernen die traditionellen Strukturen ablösen, wird mit der Begrifflichkeit informeller Sektor die Realität besser beschrieben, denn die als modern bezeichneten, industriegeprägten Strukturen haben sich in den Entwicklungsländern nur partiell etablieren und die traditionellen Strukturen nicht ablösen können. Nicht moderne, sondern traditionelle und neu entstandene Strukturen im informellen Sektor sichern für das Gros der Menschen in den Entwicklungsländern das Überleben. Die im informellen Sektor in den Entwicklungsländern Tätigen arbeiten meist selbstständig allein oder beschäftigen überwiegend Familienangehörige. Auch wenn eine monetäre Entgeltung der Arbeit erfolgt, sind die Lohnarbeitsverhältnisse nicht vertraglich abgesichert. Die Arbeitsproduktivität ist im informellen Sektor geringer als im formellen. Es wird arbeits- und nicht kapitalintensiv gearbeitet.

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Abb. 1   Anteil der weltweit informell Beschäftigten. (Quelle: http://www.oecd.org/berlin/presse/anstiegderinformellenbeschaftigungwirdzumehrarmutfuhren.htm. Zugriff: 15.11.2018)

Im Vergleich zur modernen Industrie ist das erforderliche Qualifikationsniveau gering. Der informelle Sektor spielt einen bedeutenden Beitrag bei der Lösung der Beschäftigtenprobleme in den Entwicklungsländern. Laut der Studie „Is Informal Normal?“ des OECD Development Centers aus dem Jahr 2009 ist mit 1,8 Mrd. Menschen mehr als die Hälfte der weltweiten Erwerbsbevölkerung im informellen Sektor tätig (OECD 2009; Abb. 1).

2 Adaption der Diskussion in Deutschland Die Diskussion zum informellen Sektor wird in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland adaptiert. Schettkat benutzt die Begriffe formeller und informeller Sektor als ökonomische Kategorien und versucht sie anhand des Begriffspaares „Eigenarbeit“ und „Erwerbsarbeit“ voneinander abzugrenzen. Der Begriff „Eigenarbeit“ bezeichnet alle produktiven Leistungen, die ohne

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monetäres Entgelt von den Mitgliedern eines Haushaltes für sich oder für andere Mitglieder dieses Haushaltes erbracht werden. Der informelle Sektor ist durch „Eigenarbeit“, der formelle Sektor durch „Erwerbsarbeit“ gekennzeichnet. Die Besonderheiten der „Eigenarbeit“ im Unterschied zur „Erwerbsarbeit“ befinden sich zum einen im Motiv der Leistungserstellung. Die Motivation zur Leistungserbringung ergibt sich laut Schettkat im informellen Sektor nicht aus der Produktion für den anonymen „Markt“ und der Gewinnerzielung, sondern aus der Bedürfnisbefriedigung. Es werden Werte für den eigenständigen Ge- oder Verbrauch und nicht für den Tausch produziert. Schettkat findet auch im Transaktionsmechanismus eine Besonderheit. Der Leistungsaustausch erfolgt im informellen Sektor nicht nach dem Äquivalenzprinzip, Leistung gegen Leistung, sondern wird vom Prinzip der Solidarität getragen, d. h. denen, die Hilfe brauchen, wird Hilfe gewährt (Schettkat 1984). Auch Vonderach spricht von einem „informellen Arbeitssektor“. Hierzu zählt er die drei Bereiche Hauhaltsökonomie, Gemeinschaftsökonomie und Untergrundökonomie (Vonderach 1984). Gretschmann/Mettelsiefen grenzen den informellen Sektor anhand von drei Kriterien vom formellen Sektor ab. 1. Der Geldvermitteltheit ökonomischer Aktivitäten. Im formellen Sektor dominiert „working for money“, im informellen eine „no money production of services“. 2. Der Organisationsform der Arbeit. In der formellen Wirtschaft wird bezahlte und fremd bestimmte „Lohnerwerbsarbeit“ über fest institutionalisierte Arbeitsmärkte vermittelt. Die Arbeit im informellen Sektor hat stärker den Charakter einer eigenbestimmten und nicht erwerbswirtschaftlich motivierten Tätigkeit. 3. Der Organisationsform und Zielrichtung der ökonomischen Produktion allgemein. Das formelle Wirtschaften ist durch das Erwerbsprinzip und eine Tauschwertorientierung bestimmt. Im informellen Sektor herrscht das Bedarfsdeckungsprinzip und eine Gebrauchswertorientierung (Gretschmann und Mettelsiefen 1984). Die Überlegungen zum informellen Sektor in Deutschland waren in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Diskussion zur Alternativ- und Gemeinschaftsökonomie verbunden. Häußermann/Siebel formulieren 1987 vier Thesen. 1. Wertwandelthese: Informelle Arbeit sei eine humane Alternative zur „Erwerbstätigkeit“. Das Zentrum der Identität verlagere sich in den außerbetrieblichen Lebensbereich. An die Stelle alter, berufszentrierter Werte treten

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neue Orientierungen, wie die Verschiebung der ökonomischen zur sozialen Wertschöpfung. 2. These vom „Markt- und Staatsversagen“: Zentralisierung, Bürokratisierung, Massenproduktion und fehlende Partizipation hätten zu wachsenden Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage geführt, was Haushalte veranlasse, in Selbsthilfe und Eigenarbeit ihre Bedürfnisse zu befriedigen. 3. Rationalitätsthese: Informelle Arbeit erlaube die billigere und effizientere Befriedigung von Bedürfnissen. Steigende Preise für Dienstleistungen und zunehmende Belastung des Lebenseinkommens durch Steuern und Abgaben würden den Kauf von Gütern und Dienstleistungen erschweren. Billigere, kleinere und einfacher zu handhabende Werkzeugmaschinen, kombiniert mit besonderer Ausbildung, würden die Qualität von „Do-it-yourself“ erhöhen. Beleg hierfür sei die Expansion des „Do-it-yourself“ und die Rückverlagerung bestimmter Versorgungsfunktionen, wie etwa das Wäschewaschen aus Wäschereien in die mit Waschmaschinen und Trocknern ausgestatteten Haushalte. 4. Krisenthese: Aufgrund krisenbedingter Steuerausfälle würden „staatliche“ Leistungen verteuert, eingeschränkt oder abgeschafft. Es erfolge eine Dualisierung des Arbeitsmarktes. Niedrig qualifizierte, konfliktschwache Gruppen würden an den schlecht bezahlten Rand des Arbeitsmarktes geraten oder ganz aus ihm herausgedrängt. Weniger Sozialleistungen, niedrigere, unstete Löhne und längere, lohnarbeitslose Zeiten veranlassten dazu, informelle Formen der Arbeit zu suchen. Die Thesen 1 und 2 zeigen einen Wandel der subjektiven Prioritäten an, die beiden anderen beschreiben einen Wandel der objektiven Bedingungen, eine Kombination aus Zwang (Arbeitsplatzverlust, Verteuerung sozialer Dienste) und neu eröffneten Chancen (Do-it-yourself, Haushaltsinvestitionsgüter) (Häußermann und Siebel 1987, S. 171 ff.).

3 Care im informellen Sektor Für Evers wird „keine der Basisinstitutionen der Gesellschaft, weder der (Sozial) Staat noch der Markt noch der von freien Trägern gebildete Dritte Sektor, so eng mit Care assoziiert wie die Familie“ (Evers 2018). Unter Care im informellen Sektor wird insbesondere die unbezahlte, zumeist von Frauen geleistete Versorgungsarbeit verstanden, zu der z. B. die Pflege und Versorgung von Kindern und anderen Familienangehörigen gehört. Allgemein kann man sagen, dass der

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informelle Sektor in der Form der Versorgungsarbeit immer schon da war und der formelle Sektor mit der Entwicklung von „Markt“ und „Staat“ in den Bereich des informellen Sektors eindrang. Die gesellschaftliche Bedeutung des informellen Sektors in der auf Tauschwert und Erwerbsstreben basierenden Gesellschaft ging zurück. Die informelle Arbeit wurde als nicht bezahlte Arbeit zur Nichtarbeit und aus der Berechnung der gesellschaftlichen Wertschöpfung ausgeklammert. Die Industrialisierung beschleunigte diesen Prozess. Zur dominanten Form der Arbeitsverausgabung wurde die Lohnarbeit. Die formelle Erwerbstätigkeit besetzte zunehmend auch Bereiche der Reproduktion und der Rest verblieb als informelle Arbeit in der periphären Sphäre und wurde der „Nichterwerbsarbeit“ zugerechnet. Mit der Einführung der Pflegeversicherung erfolgte eine graduelle Veränderung, denn die vormals unbezahlte Pflege wurde in den Leistungskatalog der Sozialversicherungen aufgenommen.

3.1 Pflege Mit der Einführung der Pflegeversicherung wurde ein Paradigmenwechsel in der Sozialwirtschaft eingeleitet, da Leistungsberechtigte hier zwischen Sach- und Geldleistung wählen können. Allerdings beträgt die Geldleistung nur ca. 50 % der Sachleistung. Wofür sie allerdings genutzt wird, wird nicht kontrolliert. Mit der Geldleistung kann die Pflege durch Familienangehörige, Freunde oder Nachbarn, aber auch durch preiswerte osteuropäische Pflegekräfte finanziert werden, sodass sich im Laufe der Zeit ein informeller Pflegemarkt herausgebildet hat. Vornehmlich Frauen aus Osteuropa sind zu Hunderttausenden nach Deutschland gekommen, um sich um pflegebedürftige Menschen zu kümmern (ver.di 2011). „In 10% der Haushalte arbeiten osteuropäische Frauen in Schwarzarbeit, so schätzt das Institut für angewandte Pflegeforschung. Ohne die Schwarzarbeit der osteuropäischen Frauen würde die ambulante Pflegestruktur zusammenbrechen und die zu Hause Gepflegten müssten in ein Pflegeheim“ (FAS 08.08.2010, S. 5). Die osteuropäischen Pflegekräfte haben häufig fragwürdige Beschäftigungsmodelle und schlechte Arbeitsbedingungen, wie am Beispiel der Pflegerin Monika gezeigt wird. „Monika ist Mitte fünfzig – wie viele Polinnen, die in Deutschland mit den Alten leben … Monika arbeitete schwarz, „ohne Papiere“, sagt sie dazu, bekam 500 Euro im Monat. Im Jahr 2004 war das für polnische Verhältnisse sehr viel Geld. Dreizehn Monate am Stück blieb sie einmal bei dem gebrechlichen Ehepaar. Mehr als

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ein Jahr ohne Ferien, ohne die eigene Familie zu sehen. Und irgendwie ständig im Dienst. … Monika arbeitete nicht mehr schwarz, sondern ließ sich nun von einer polnischen Agentur vermitteln … Monika schwört auf die Agentur. Sie finde für sie neue Familien, sagt sie, organisiere, mit wem sie sich alle zwei Monate bei der Arbeit abwechseln könne, zahle die Rentenversicherung (15 Euro im Monat), biete Sprach- und Pflegekurse an. Und die Agentin rufe immer an und frage, ob alles in Ordnung sei. Monika hat kein Netzwerk wie andere Kolleginnen, ist nicht der Typ der Einzelkämpferin. Agenturen behalten oft gut die Hälfte des Pflegeverdienstes ein. Wenn eine Familie beispielsweise 1850 Euro an die Agentur zahlt, bleiben in manchen Fällen für die Frauen 900 übrig. Bei Monika wird es nicht viel anders sein. Sie hat unterschrieben, mit niemandem über das Finanzielle zu reden“ Pflegerin Monika (FAZ 05.08.2017b)

Emunds und Schacherer (2012) gehen davon aus, dass es in 100.000 bis 300.000 Haushalten nicht reguläre Arbeitsverhältnisse gibt und der Anteil der Frauen, die über die Wohlfahrtsverbände oder die Agentur für Arbeit vermittelt werden, minimal ist. Bestimmungen wie das deutsche Arbeitszeitgesetz werden nicht eingehalten, da man bei einer maximalen Wochenarbeitszeit von 48 h für eine 24 Stundenpflege zwei bis drei Pflegekräfte einstellen müsste, mit regulären Kosten in Höhe von 5000 bis 10.000 EUR im Monat. Stattdessen arbeiten osteuropäische Frauen rund um die Uhr für umgerechnet „einen Stundenlohn von zwei bis drei Euro, Verpflegung und Unterkunft eingerechnet“ (FAZ 05.08.2017b).

3.2 Unterstützungsnetzwerke Neben den irregulären sind auch reguläre Careformen im informellen Sektor zu nennen, die durch die Aktivierung sozialer Ressourcen in Familien und Nachbarschaften gestärkt werden können. Um reguläre Careformen zu aktivieren, gilt es, professionelle und nichtprofessionelle Hilfen miteinander zu kombinieren und Unterstützungsnetzwerke aufzubauen und zu pflegen. Netzwerke lassen sich in natürliche und künstliche oder in primäre, sekundäre und tertiäre Netzwerke unterscheiden (Bullinger und Nowak 1998). In primäre Netzwerke wird man hinein geboren oder man wählt sie. Es geht um persönliche Beziehungen von Menschen zu anderen Menschen. Beispiele sind Familien, Freundschaften oder Nachbarschaften. In sekundäre Netzwerke wird man hinein sozialisiert. Beispiele sind Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Arbeitsstellen etc., aber auch Selbsthilfekreise und Nachbarschaftszentren. Die tertiären Netzwerke sind künstliche Netzwerke.

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Um reguläre Careformen im informellen Sektor zu unterstützen, sollten vorhandene Netzwerke stabilisiert und geschützt und neue Netzwerke aktiviert und unterstützt werden. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den natürlichen sozialen Netzwerken, auf persönlichen Beziehungen in Familien und Nachbarschaften. Die Familie, der Freundes- und Bekanntenkreis, aber auch der heimatliche Stadtteil oder ländliche Nahraum ist ein wichtiger Faktor. Eine wichtige Rolle beim Aufbau von Unterstützungsnetzwerken haben professionelle Mitarbeiter, die im Rahmen einer sozialraumorientierten Carearbeit im Nahraum Kontakte herstellen, Vertrauen stiften, soziale Unterstützungsmöglichkeiten aufzeigen und mithelfen können, Nachbarschaften im Sinne sozialer Beziehungen zu entwickeln. Doch Nachbarschaften ergeben sich nicht einfach, weil Menschen nebeneinander wohnen. Das gilt insbesondere für sozial heterogene Quartiere (Häußermann und Siebel 2004, S. 111). Zwar werden Menschen, wenn sie sich mögen, etwas miteinander anfangen können und wollen. Dann entwickelt sich auch eine aktive Nachbarschaft, doch in anderen Fällen eben nicht (Häußermann und Siebel 2004, S. 115). Nachbarschaft entsteht durch Interaktionen, die sich an sozialer Homogenität, an sozialem Status, Lebenszielen usw. orientieren. In sozial homogenen Quartieren ist die Wahrscheinlichkeit intensiver Nachbarschaftsbeziehungen höher als in heterogenen Quartieren, während unerwünschte Kontakte Distanz fördern (Häußermann und Siebel 2004, S. 111 f.). Dieses Phänomen wird durch Veränderungen der Gemeinschaftsstrukturen verstärkt. Während im 19. und 20. Jahrhundert Gemeinschaft durch den räumlichen Bezug definiert wurde – die Kommunikation erfolgte von Tür zu Tür, man unterhielt sich mit dem Nachbarn und baute räumliche Gemeinschaftsstrukturen auf (door-to-door community) –, können heute durch Kommunikations- und Transportmittel Gemeinschaften losgelöst vom räumlichen Bezug entstehen. Der Kontakt zu Nachbarn verliert an Bedeutung. Gleichzeitig gewinnt der eigene Haushalt an Gewicht (Straus 2004, S. 8). Zu Hause kann man fernsehen, essen, trinken, schlafen. Doch die Freizeit muss man nicht unbedingt mit dem Nachbarn verbringen, sondern kann sie mit den Personen gestalten, die man sich aussucht. Folglich gewinnen Transportmöglichkeiten an Bedeutung. Diese Veränderungen haben auch Auswirkungen auf öffentliche Plätze. Sie verlieren ihren Charakter als gemeinschaftsstiftende Orte und werden zu Verkehrsknotenpunkten oder zu Einkaufsorten. Doch der Prozess geht weiter. Während mit Telefon und Auto noch Orte verbunden wurden (place-to place community), lösen moderne Kommunikationsmittel wie Handys, Internet und soziale Netzwerke den Raumbezug vollkommen auf, denn die Menschen können an den unterschiedlichsten Orten sein, im Auto, im Zug, und dennoch miteinander kommunizieren (person-to-person-communitys). Dieser Trend führt dazu, dass nicht der Raum, sondern das Netzwerk zunehmend im Mittelpunkt sozialer Kontakte steht (Straus 2004).

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Dies hat auch Auswirkungen auf eine sozialraumorientierte Carearbeit. So fordert bspw. Seifert für die Behindertenhilfe, entlokalisierte Nachbarschaften zu fördern. Ihr geht es nicht so sehr um die räumliche Struktur, sondern um die Qualität und Freiwilligkeit persönlicher Beziehungen (Seifert 2010, S. 158). Sie fordert, persönliche Netzwerke statt Nachbarschaften zu entwickeln, und Handlungsansätze zu praktizieren, die mit den Stichwörtern „Vernetzung“ und „Betroffene aktivieren“ knapp umrissen werden können (Seifert 2010, S. 174). Reguläre Carearbeit im informellen Sektor ist Netzwerk- und Beziehungsarbeit. Ein Beispiel ist die Arbeit der Netzwerkagentur Generationen Wohnen der Berliner Stattbau GmbH. Sie bringt am gemeinsamen Wohnen Interessierte aus der Generation der 40- bis 60-Jährigen zusammen, die sich auf das Alter vorbereiten und später nicht in einem Pflegeheim versorgt werden wollen. Gemeinsam werden neue Wohn- und Unterstützungsformen außerhalb formeller Strukturen entwickelt (Kolhoff 2012).

3.3 Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen Viele Flüchtlinge haben in ihren Herkunftsländern im informellen Sektor gelebt und sie stoßen in Südeuropa teilweise auf vergleichbare Strukturen. In den meisten südeuropäischen Ländern existiert kein ausgebautes System der sozialen Grundsicherung. Da die Arbeitsmärkte stark reguliert sind und Sozialleistungen an Insiderbeschäftigungsverhältnisse gebunden sind, zu denen Flüchtlinge keinen Zugang haben, hat sich in Südeuropa ein informeller Arbeitssektor, insbesondere in der Landwirtschaft gebildet, in dem Flüchtlinge relativ schnell Beschäftigung finden, bei schlechter Bezahlung und weitgehend ohne sozialen Schutz. „Bezahlt wird auf den Feldern nicht nach Stunden, sondern im Stücklohn. Die Tomaten werden in große Transportkisten gefüllt, die rund 300 Kilogramm fassen. Pro gefüllter Transportkiste werden gegenwärtig 3,50 Euro bezahlt. Ein kräftiger und im Tomatenpflücken geübter Mann schafft es an einem zwölfstündigen Arbeitstag, sechs bis sieben Kisten zu füllen. Für das Ernten von rund zwei Tonnen Tomaten erhält ein Tagelöhner mithin zwischen 20 und 25 Euro Lohn. Davon gehen neben den fünf Euro für Fahrtkosten 3,50 Euro für die Verpflegung auf den Feldern und 1,50 Euro pro Flasche Wasser ab. Der gesetzliche Mindestlohn für einen Achtstundentag liegt bei 56 Euro. Der Tariflohn für Landarbeiter beträgt 7,80 Euro. Wer zwölf Stunden schuftet, müsste einschließlich Überstundenzuschlag auf gut hundert Euro Tageslohn kommen“ (FAZ 10.08.2018).

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Die Strukturen in Deutschland unterscheiden sich von denen in Südeuropa. So existiert ein System der Grundsicherung und die Strukturen der hoch automatisierten deutschen Landwirtschaft bieten wenig informelle Arbeitsverhältnisse. Da die meisten Menschen aus armen oder von Bürgerkriegen heimgesuchten Ländern nicht für die Anforderungen in der wirtschaftlich hoch entwickelten bundesdeutschen Gesellschaft ausgebildet worden sind, landen sie in den sozialen Sicherungssystemen. Die Bundesagentur für Arbeit gibt für den Monat April 2017 an, dass ca. eine Million Arbeitssuchende aus Drittstaaten (nicht EU-Staaten oder nicht aus Staaten des europäischen Wirtschaftsraums) im Bezug von Leistungen des SGB II und SGB III sind. Dabei handelt es sich zur Hälfte um Geduldete, subsidiär Schutzbedürftige und Asylberechtigte, die in den letzten Jahren Asyl beantragt hatten, und auch um andere Personen aus Drittstaaten, die ähnliche Integrationsproblematiken aufweisen (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2017). Viele der Flüchtlinge, die jetzt in Deutschland sind, haben vorher im informellen Sektor ihrer Herkunftsländer gelebt. In der Folge vermuten Friedrich Schneider von der Universität Linz und Bernhard Boockmann vom Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung in Tübingen (2016), dass auch in Deutschland viele Flüchtlinge in der Schattenwirtschaft, also im informellen Sektor tätig sind. Schneider und Boockman können nicht mit Daten aufweisen und arbeiten stattdessen mit einer Projektion, „die eine Einschätzung über die Größenordnung der zuwanderungsbedingten Schattenwirtschaft ergeben soll.“ Schneider/Bockmann benennen für das Jahr 2016, 385.000 Personen mit laufenden Asylverfahren, „die aufgrund ihres Alters Schwarzarbeit leisten könnten“. Hinzu kommen für sie „diejenigen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, die jedoch (noch) nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Da 2015 ca. ein Drittel der Anträge auf Asyl abgelehnt wurden, rechnen wir mit ca. 130.000 Personen in der genannten Altersgruppe.“ (Schneider und Bockmann 2016) Schneider/Bockmann entwickelnd drei Szenarien und nehmen in einem mittleren Szenario an, dass 200.000 Flüchtlinge in der Schattenwirtschaft tätig werden. Die Aussagen von Schneider/Bockmann lassen sich nicht überprüfen und sind mit Vorsicht zu genießen. Doch die Zahl der im formellen Arbeitsmarkt Beschäftigten ist gering. Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit bemerkt, dass viele Flüchtlinge nicht ausreichend qualifiziert sind, um am deutschen Arbeitsmarkt zu bestehen (vgl. IAB 2015, S. 6 ff.), da ein großer Teil keine formale Qualifikation hat, weder einen Bildungsabschluss noch eine berufliche Qualifizierung.

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Nach Aussagen des IAB dauert es ca. 20 Jahre, bis Flüchtlinge am Arbeitsmarkt integriert werden. In den ersten fünf Jahren sind nicht einmal 50 % der Flüchtlinge am Arbeitsmarkt integriert und beschäftigt (Abb. 2). Ein großer Teil der Flüchtlinge bringt keine günstigen Voraussetzungen mit, um auf dem formellen deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Den meisten Flüchtlingen fehlt die erforderliche Qualifikation. In der Folge sind die Beschäftigungsquoten auf dem formellen Arbeitsmarkt niedrig. „Von den Erwerbsfähigen aus den acht wichtigsten Zugangsländern waren Anfang 2018 weniger als 25 Prozent sozialversicherungspflichtig oder zumindest geringfügig beschäftigt. Zum Vergleich: Die Beschäftigungsquote aller anderen Ausländer in Deutschland beträgt annähernd 43 Prozent, die der Bundesbürger liegt sogar bei fast 68 Prozent.“ (iwd 29.05.2018; Abb. 3).

Abb. 2   Flüchtlinge und andere Migranten am deutschen Arbeitsmarkt. (Quelle: IAB – SOEP – Migrationsstichprobe)

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Abb. 3   Anteil der Flüchtlinge am formellen Arbeitsmarkt. (Quelle https://www.iwd.de/ artikel/die-integration-von-fluechtlingen-erfordert-einen-langen-atem-389406/. (Zugriff: 15.11.2018)

Flüchtlinge, die im formellen Arbeitsmarkt einen Platz gefunden haben, arbeiten überproportional in der Zeitarbeit. So waren von allen sozialversicherungspflichtig beschäftigten Syrern und Irakern „Ende 2017 fast 16 Prozent in der Zeitarbeitsbranche tätig – bei den Beschäftigten deutscher Herkunft betrug der Anteil nur 2 Prozent“ (iwd 27.07.2018; Abb. 4). Auf der einen Seite wollen viele Flüchtlinge sofort arbeiten und sind hoch motiviert, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, auf der anderen Seite suchen Unternehmen qualifizierte Fachkräfte. Doch sie tun sich schwer damit, Migranten eine Chance zu geben, solange sie ihre Fähigkeiten und beruflichen Interessen kaum beurteilen können. Dieser Zwiespalt ist – neben objektiven Bildungslücken – eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur Integration in den Arbeitsmarkt. In diese Lücke tritt die Zeitarbeit. Die Migranten können sofort arbeiten und das Risiko der

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Abb. 4   Flüchtlinge in Zeitarbeit. (Quelle https://www.iwd.de/artikel/zeitarbeit-sprungbrett-fuer-fluechtlinge-398965/. Zugriff: 15.11.2018)

Arbeitgeber ist begrenzt. Insbesondere Menschen mit geringer Qualifikation finden über Zeitarbeit ihren Einstieg in Arbeit. Von den Zeitarbeitern hatte jeder Vierte keinen Berufsabschluss. Unter den 307.000 Zeitarbeitern ausländischer Herkunft galt dies für 36,4 % (FAZ 7.8.2018). Es stellt sich die Frage, ob sich die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen nicht stärker an der Lebenswelt der Flüchtlinge orientieren sollte, ob nicht Angebote entwickelt werden sollten, die anschlussfähig an eine Lebenswelt sind, die für viele Flüchtlinge durch ihre Erfahrungen im informellen Sektor geprägt war.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Uwe Bettig lehrt Management und Betriebswirtschaft für Gesundheits- und Sozialeinrichtungen an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, deren Rektor er von 2014 bis 2018 war. Schwerpunkte in der Forschung sind Integriertes Personal- und Qualitätsmanagement, Arbeitsbedingungen in der Pflege sowie ökonomische Bewertungen. Er ist Vorsitzender des Vorstandes des Hochschulverbundes für Gesundheit e. V. E-Mail: [email protected]. Prof. Dr. Susanne A. Dreas lehrt Projektmanagement, Finanzierung und Personalmanagement in Nonprofit-Organisationen am Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung an der Hochschule Neubrandenburg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Management, Führung und Diversity in sozialen Organisationen. Sie ist Prodekanin und u. a. Mitglied im erweiterten Vorstand der BAG Sozialmanagement/Sozialwirtschaft. E-Mail: [email protected]. Prof. Dr. Ludger Kolhoff vertritt an der Fakultät Soziale Arbeit der Ostfalia (Hochschule Braunschweig/Wolfenbüttel) das Lehrgebiet Soziales Management mit den Schwerpunkten Organisation, Finanzierung, Personalmanagement, Existenzund Unternehmensgründung. Er leitet den Masterstudiengang „Sozialmanagement“ und ist Vorsitzender der Bundearbeitsgemeinschaft Sozialmanagement/ Sozialwirtschaft an Hochschulen e. V. E-Mail: [email protected]. Maria Krüger gelernte Gesundheits- und Krankenpflegerin im Fachbereich Intensivmedizin, Studentin im Bachelorstudiengang Gesundheits- und Pflegemanagement an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, studentische Mitarbeiterin im Bereich Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsökonomie. E-Mail: [email protected]. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Kolhoff (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft II, Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25915-0

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Andreas Langer vertritt die Sozialwissenschaften am Department Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg mit den Schwerpunkten Sozialpolitik, Sozialmanagement, insbesondere Innovationsforschung, Dienstleistungstheorie, Professionalisierung. Er leitet den Bachelor-Studiengang „Soziale Arbeit“ und ist stellvertretender Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialmanagement/Sozialwirtschaft an Hochschulen e. V. Mail: [email protected]. Als geschäftsführender Direktor des Deutschen Instituts für Sozialwirtschaft (DISW) berät er Reform-, Veränderungsund Entwicklungsprojekte deutschlandweit. E-Mail: [email protected]. Prof. Dr. Sebastian Noll lehrt Sozialmanagement und Sozialwirtschaft an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule Mittweida. Seine Schwerpunkte sind u. a. Finanzierung, Organisations- und Personalentwicklung sowie Qualitätsmanagement. Zuvor war er u. a. als Referent für Finanzen/Entgelte beim Lebenshilfe-Landesverband Bayern tätig. Er ist Mitglied im erweiterten Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialmanagement/Sozialwirtschaft. E-Mail: [email protected]. Prof. Dr. phil. Dr. rer. hort. habil. Herbert Schubert lehrte bis 2018 Soziologie und Sozialmanagement in der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Köln und war Gründungsdirektor des Instituts für Management und Organisation in der Sozialen Arbeit. Im Forschungs- und Beratungsbüro „Sozial • Raum • Management“ behandelt er die Themen Netzwerkorganisation in Kommune und Sozialwirtschaft, integrierte kooperative Sozialplanung sowie soziale und räumliche Quartierentwicklung. E-Mail: [email protected]. Prof. Dr. Jürgen Stremlow  leitet das Institut für Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Zudem ist er für die Forschung im Fachbereich zuständig. Er forscht und lehrt zu Sozialplanung sowie zur Steuerung und Gestaltung sozialer Dienstleistungen, aktuell in den Bereichen der gemeinschaftlichen Selbsthilfe und der Alterspolitik. Er engagiert sich im Vorstand eines Mehrspartenhilfswerks und ist u. a. Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialmanagement/Sozialwirtschaft. E-Mail: [email protected]. Prof. Dr. Frank Unger  lehrt am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda Sozial- und Bildungsmanagement mit den Schwerpunkten Personalführung, Personal-/Organisationsentwicklung sowie arbeitsmarktliche Teilhabe. Er leitet den Bachelor-Studiengang „Soziale Sicherung, Inklusion, Verwaltungsmanagement“

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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und ist u. a. Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialmanagement/Sozialwirtschaft an Hochschulen e. V. E-Mail: [email protected]. Prof. Dr. rer. pol. Susanne Vaudt  lehrt Sozialwirtschaft am Department Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg mit den Schwerpunkten Sozialökonomie und Sozialmanagement und ist u. a. Mitglied im erweiterten Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialmanagement/Sozialwirtschaft an Hochschulen e. V. E-Mail: [email protected]. Prof. Dr. Ursula Weber  lehrt an der Fakultät Soziale Arbeit der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart, im Lehrgebiet Politik in der Sozialen Arbeit. Prof. Dr. Wolf Rainer Wendt  lehrt zur Theorie und Geschichte Sozialer Arbeit sowie zur Sozialwirtschaft an der Dualen Hochschule BW Stuttgart und an anderen Hochschulen. Er ist im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management, Sprecher der Fachgruppe Sozialwirtschaft der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit und Mitglied im erweiterten Vorstand der BAG Sozialmanagement/Sozialwirtschaft. E-Mail: [email protected]. Prof. Dr. Holger Wunderlich lehrt an der Fakultät Soziale Arbeit der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Braunschweig/Wolfenbüttel mit den Schwerpunkten Empirische Sozialforschung, Public Management, Kommunale Sozialpolitik, Sozialplanung, Sozialberichterstattung, Sozialraumorientierung. Er ist Studiengangsleiter für den Masterstudiengang Präventive Soziale Arbeit. Zudem ist er wissenschaftlicher Leiter der Faktor Familie GmbH in Bochum. E-Mail: [email protected].