Diskurse - Körper - Artefakte: Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung [1. Aufl.] 9783839425527

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Diskurse - Körper - Artefakte: Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung [1. Aufl.]
 9783839425527

Table of contents :
Editorial
Inhalt
Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung – eine Annäherung
Diskurse
Zwischen Identitätsbildung und Selbstinszenierung. Ärztliches Self-Fashioning in der Frühen Neuzeit
Umkämpfte Erzählungen. Zur Selbst-Bildung eines jüdischen Offiziers in der preußischen Nachreformära
„Noch bleibt mir ein Augenblick Zeit um mich mit Euch zu unterhalten.“. Praxeologische Einsichten zu kaufmännischen Briefschaften des 18. Jahrhunder ts
Die relationale Gesellschaft. Zur Konstitution ständischer Ordnung in der Frühen Neuzeit aus praxeologischer Perspektive
Beyond the Sea. Praktiken des Reisens in Glaubenswechseln im 17. Jahrhundert
Szenen der Subjektivierung. Zu den Schriftpraktiken der Wallfahrt im 18. Jahrhunder t
Körper
Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen. Eine Geschichte der Inszenierung von Weiblichkeit zwischen körperlichem Eigensinn und sozialen Praktiken im ausgehenden 16. Jahrhunder t
„… daß mein leib mein seye.“. Selbstpositionierungsprozesse im Spiegel erzählter Körperpraxis in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652–1722)
„In Gelb!“. Selbstentwürfe eines Mannes im Fieber
Artefakte
Überlegungen zu einer Nationaltracht. „Social Imaginary“ im Schweden des späten 18. Jahrhunder ts
Was macht ein(en) Hausmann?. Eine ländliche Elite zwischen Status und Praktiken der Legitimation
Wie frühneuzeitliche Gesellschaften in Mode kamen. Indische Baumwollstoffe, materielle Politik und konsumentengesteuer te Innovationen in Tokugawa-Japan und England in der Frühen Neuzeit
„Zu Notdurfft der Schreiberey.“. Die Einrichtung der frühneuzeitlichen Kanzlei
„Ich schicke Dir etwas Fremdes und nicht Vertrautes.“. Briefpraktiken als Vergewisserungsstrategie zwischen Raum und Zeit im Kolonialgefüge der Frühen Neuzeit
Autorinnen und Autoren

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Dagmar Freist (Hg.) Diskurse – Körper – Artefakte

Praktiken der Subjektivierung | Band 4

Editorial Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert. Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen Zeit-Räumen entstehen. Die Reihe wird herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie und Sportsoziologie Prof. Dr. Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Neuere und Neueste Geschichte Prof. Dr. Dagmar Freist, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Frühen Neuzeit Prof. Dr. Gunilla Budde, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Prof. Dr. Rudolf Holbach, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte des Mittelalters Prof. Dr. Johann Kreuzer, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Philosophie

Prof. Dr. Sabine Kyora, Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche Literatur der Neuzeit Prof. Dr. Gesa Lindemann, Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie Prof. Dr. Ulrike Link-Wieczorek, Institut für Evangelische Theologie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Systematische Theologie und Religionspädagogik Prof. Dr. Norbert Ricken, Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Fachrichtung Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft Prof. Dr. Reinhard Schulz, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Philosophie Prof. Dr. Silke Wenk, Kulturwissenschaftliches Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Kunstwissenschaft

Dagmar Freist (Hg.)

Diskurse – Körper – Artefakte Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Dr. Joachim Tautz Satz: TypoGrafika | Anke Buschkamp Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2552-3 PDF-ISBN 978-3-8394-2552-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Diskurse – Körper – Artefakte Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung – eine Annäherung Dagmar Freist | 9

D iskurse Zwischen Identitätsbildung und Selbstinszenierung Ärztliches Self-Fashioning in der Frühen Neuzeit Michael Stolberg | 33

Umkämpfte Erzählungen Zur Selbst-Bildung eines jüdischen Offiziers in der preußischen Nachreformära Nikolaus Buschmann | 57

„Noch bleibt mir ein Augenblick Zeit um mich mit Euch zu unterhalten.“ Praxeologische Einsichten zu kaufmännischen Briefschaften des 18. Jahrhunder ts Lucas Haasis | 87

Die relationale Gesellschaft Zur Konstitution ständischer Ordnung in der Frühen Neuzeit aus praxeologischer Perspektive Marian Füssel | 115

Beyond the Sea Praktiken des Reisens in Glaubenswechseln im 17. Jahrhunder t Constantin Rieske | 139

Szenen der Subjektivierung Zu den Schriftpraktiken der Wallfahr t im 18. Jahrhunder t Eva Brugger | 161

K örper Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen Eine Geschichte der Inszenierung von Weiblichkeit zwischen körperlichem Eigensinn und sozialen Praktiken im ausgehenden 16. Jahrhunder t Christina Beckers | 187

„… daß mein leib mein seye.“ Selbstpositionierungsprozesse im Spiegel erzählter Körperpraxis in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652–1722) Mareike Böth | 221

„In Gelb!“ Selbstentwür fe eines Mannes im Fieber Annika Raapke | 243

A rtefak te Überlegungen zu einer Nationaltracht „Social Imaginary“ im Schweden des späten 18. Jahrhunder ts Mikael Alm | 267

Was macht ein(en) Hausmann? Eine ländliche Elite zwischen Status und Praktiken der Legitimation Frank Schmekel | 287

Wie frühneuzeitliche Gesellschaften in Mode kamen Indische Baumwollstoffe, materielle Politik und konsumentengesteuer te Innovationen in Tokugawa-Japan und England in der Frühen Neuzeit Beverly Lemire | 311

„Zu Notdurfft der Schreiberey.“ Die Einrichtung der frühneuzeitlichen Kanzlei Meg Williams | 335

„Ich schicke Dir etwas Fremdes und nicht Vertrautes.“ Briefpraktiken als Vergewisserungsstrategie zwischen Raum und Zeit im Kolonialgefüge der Frühen Neuzeit Dagmar Freist | 373

Autorinnen und Autoren  | 405

Diskurse – Körper – Artefakte Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung – eine Annäherung Dagmar Freist Diskurse, Körper, Artefakte – diese Begriffe umreißen vertraute Forschungs­ felder, die auf den ersten Blick nur wenige Gemeinsamkeiten aufweisen. Dis­ kurstheorien gehen seit den späten 1960er Jahren davon aus, dass es nicht möglich sei, „sich in der Wahrnehmung von Wirklichkeit jenseits der Sprache bzw. jenseits von Diskursen zu bewegen“,1 Formen des Wahren und Wirk­ lichen werden diskursiv ausgebildet.2 Die Körpergeschichte hat zumindest in ihren Anfängen gegen „eine kulturalistische Verflüssigung historischer Kate­ gorien“3 für die Unmittelbarkeit des Körpers oder dann doch wenigstens des Leibes als Ort unmittelbarer Erfahrungen und damit seiner Materialität jen­ seits von Diskursen plädiert,4 und Artefakte „als von Menschen gefertigte[n] Dinge[n]“ wurden interpretiert als direkte oder indirekte Manifestationen von Kultur.5 Seit diesen programmatischen Anfängen der jeweiligen Forschungs­ felder und Theorien hat sich das Bild unter dem Einfluss innerwissenschaft­ 1 | Sarasin, Philipp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, S. 31. 2 | Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2008. 3 | Tanner, Jakob: Wie machen Menschen Erfahrungen? Zur Historizität und Semiotik des Körpers, in: Körper Macht Geschichte. Geschichte Macht Körper. Körpergeschichte als Sozialgeschichte, hg. v. Bielefelder Graduiertenkolleg zur Sozialgeschichte, Bielefeld 1999, S. 16–34, hier S. 19. 4  |  Bynum, Caroline: Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin, in: Historische Anthropologie 4 (1996), 1, S. 1–33; vgl. dazu auch Tanner, J.: Wie machen Menschen Erfahrungen?, bes. S. 19–25. 5 | Bracher, Philip/Hertweck, Florian/Schröder, Stefan: Dinge in Bewegung. Reiseliteraturforschung und Material Culture Studien, in: Dies. (Hg.): Materialität auf Reisen. Zur kulturellen Transformation der Dinge (= Reiseliteratur und Kulturanthropologie, Bd. 8), Berlin/Münster 2006, S. 9–24, hier S. 12.

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licher und interdisziplinärer Methoden- und Theoriereflexion und der damit verbundenen Dynamisierung der Konzepte gewandelt und Gemeinsamkeiten hervorgebracht.6 Es ist nicht das Anliegen dieser Einleitung, diese Verände­ rungen wissenschaftsgeschichtlich in allen ihren Verästelungen nachzuzeich­ nen.7 Vielmehr soll aufgezeigt werden, wie sich diese Theoriediskussion mit praxis- und subjektivierungstheoretischen Denkstilen berührt und welche Re­ levanz eine solche Annäherung von Denktraditionen und Denkstilen für eine historische Praxeologie haben kann.

1.  D iskurse Den Ausgangspunkt diskursanalytischer Theoriebildung bildet das Verständ­ nis von Diskursen und diskursanalytischen Verfahren nach Foucault, auch wenn er nie ein einheitliches diskurstheoretisches Programm verfasst hat. Teil der Diskursanalyse sind die Bestimmung des Orts einer Reihe von ähn­ lichen Aussagen (im Sinne des historischen, sozialen und kulturellen Aus­ 6 | Vgl. dazu die verschiedenen turns in der Geschichtswissenschaft, den Kulturwissenschaften und den Sozialwissenschaften. Zum cultural turn vgl. Bonnell, Victoria/ Hunt, Lynn: Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of Society and Culture, Berkeley/Los Angeles 1999; Musner, Lutz/Wunberg, Gotthart/Lutter, ­C hristina (Hg.): Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften, Berlin/Wien 2001; Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2000, S. 15–57; zum practice turn Schatzki, Theodore/Knorr-Cetina, Karin/Savigny, Eike von (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London/ New York 2001; Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282– 301; Reichardt, Sven: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussions­a n­r e­ gung, in: Sozial Geschichte 22 (2007), 3, S. 43–65; zum performative turn: FischerLichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.): Theorien des Performativen, Berlin 2001; Stäheli, Alexandra: Materie und Melancholie. Die Postmoderne zwischen Adorno, L­ yotard und dem ‚pictorial turn‘, Wien 2004; Burke, Peter: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003; zum spatial turn: Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. 2. Aufl., Bielefeld 2009; zum emotional turn vgl. Schützeichel, Rainer: Emotionen und Sozialtheorie. Eine Einleitung, in: Ders. (Hg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze, Frankfurt a.M. 2006, S. 7–27. 7 | Für einen Überblick über die Entwicklung der Praxistheorie aus kulturtheoretischen Ansätzen vgl. Reckwitz, A.: Transformation der Kulturtheorien; Bachmann-Medick, ­D oris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3. neu bearb. Aufl., Hamburg 2009.

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gangspunkts), die Erfassung diskursiver Regelmäßigkeiten (Generierung von Ordnungsschemata durch miteinander verbundene Aussagen), Evidenzen des Denk-, Sag- und Machbaren (durch Wiederholung und Verdichtung be­ stimmter diskursiver Elemente) und schließlich die diskursive Tradition (Ar­ chiv), die sich aus den drei genannten Elementen bildet.8 Die entscheidende Grundannahme von Diskurstheorien ist die epistemische Unhintergehbarkeit der Sprache (sowie visueller oder architektonischer semiotischer Aussagesys­ teme), eine Prämisse, die mit dem „linguistic turn“ in den 1990er Jahren zum forschungstheoretischen Paradigma ausgerufen wurde.9 Diskurstheorien ge­ hen davon aus, dass es keine Wirklichkeit hinter den Diskursen gibt, die an sich erfahrbar wäre und der Diskurse gewissermaßen nur übergestülpt wurden.10 Einer der Hauptkritikpunkte gegen diese „Analysen von Aussagensyste­ men“ war die Setzung homogener Diskurskomplexe, die andere Diskurse und Mehrdeutigkeiten – „ein Geschwätz zwischen den Zeilen“ – ignorierten,11 die Reduktion von Konstruktionen bildlich auf ein verbales Handeln, die De­ thematisierung von Wandel und nach dem Verlust des Subjekts als Akteur die Verdinglichung von Diskursen zum Status eines Subjekts. Unbelichtet blieb weiter die Frage nach den Funktionsweisen von Diskursen und nach dem Ver­ hältnis diskursiver und nichtdiskursiver Elemente. Mit der Einführung des „Dispositiv“ als „Gesamtheit von Institutionen, Diskursen und Praktiken“,12 bietet Foucault selbst ein Konzept, um die Diskursanalyse durch die Frage der Wechselbezüge zwischen Diskursen, Institutionen und normierenden Wis­ sensordnungen zu erweitern13 und „Verhältnisse zwischen den diskursiven Formationen und nichtdiskursiven Bereichen“ sichtbar zu machen.14 Diskur­ se bringen nicht nur die Dinge hervor, die sie bezeichnen, sie generieren zu­ 8 | Die interne Dynamisierung des Diskursbegriffs lässt sich nachzeichnen in den drei folgenden Werken: Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M./Berlin/ Wien 1979; ders.: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981; ders.: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1987; ders.: Was ist Kritik, Berlin 1992. 9 | Schöttler, Peter: Wer hat Angst vor dem „linguistic turn“?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 134–151; Landwehr, A.: Historische Diskursanalyse. 10 | Sarasin, P.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 31. Landwehr, A.: Historische Diskursanalyse, S. 36. 11 | Sarasin, P.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 41–45. 12 | Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon, Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge, Paderborn 2007, S. 101. 13 | Bührmann, Andrea/Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv: Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008. 14  |  Foucault, M.: Archäologie des Wissens, S. 231; vgl. auch Füssel, Marian/Neu, Tim: Doing Discourse. Diskursiver Wandel aus praxeologischer Perspektive, in: Achim Landwehr (Hg.): Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010, S. 213–235, hier S. 217.

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gleich durch diskursive Regelmäßigkeiten die Grenzen des Denk-, Sag-, und Machbaren und sind damit untrennbar verbunden mit Effekten der Macht (das „regulierende Ideal“), verursachen Inklusion und Exklusion. Diskursive Praktiken werden dabei als Äußerungsmodalitäten, Handlungskontexte und Funktionsweisen von Diskursen verstanden, die sich in die Körper einschrei­ ben und so ihren Wahrheitsanspruch materialisieren. Mit den Begriffen Kritik und Genealogie gelingt es Foucault, Machtverhältnisse und die Bedingungen der Möglichkeit von Veränderung beschreibbar zu machen.15 Bei der Frage nach dem Verhältnis von Diskursen und Praktiken hat die Forschung zunächst die Frage aufgeworfen, ob es um eine „kausale Konstituti­ onsbeziehung“ zwischen Wissen und Handeln – erzeugen bestimmte kulturel­ le Schemata notwendigerweise bestimmte Handlungsmuster – oder eine „Ex­ pressionsbeziehung“ geht – kulturelle Schemata existieren allein dadurch, dass sie sich in Praktiken „ausdrücken“.16 Praxistheoretisch hat vor allem Andreas Reckwitz über seine Definition „kultureller Codes“ eine Annäherung von dis­ kurs- und praxistheoretischen Denkweisen vorgenommen,17 auch wenn er an anderer Stelle die Praxis- und Diskursanalyse als „zwei konträre Fundierungs­ strategien“ dargestellt hat.18 „Code-Ordnungen“, die den Rahmen dafür liefern, „was praktizierbar erscheint und was nicht“, sind „in sozialen Praktiken enthal­ ten und geben diesen ihre Form bzw. kommen in den Praktiken zum Ausdruck und ermöglichen diese“.19 Eine nichtdiskursive Praktik ist nach Reckwitz „eine sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens [...] und umfasst darin spezifische Formen des Wissens, des know how, des In­ terpretierens, der Motivation und der Emotion“.20 Diskurse als ein Netzwerk sprachlicher sowie visueller oder architektonischer semiotischer Aussagesyste­ me sind „selbst nichts anderes als spezifische soziale Praktiken der Produktion von geregelten Repräsentationen; sie sind Praktiken der Repräsentation, [...] 15 | Foucault, M.: Von der Subversion des Wissens. 16 | Reckwitz, A.: Transformation der Kulturtheorien, S. 590f. 17 | Vgl. dazu Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt, Weilerswist 2006, S. 36 u. 42 und ders.: Die Kontingenzperspektive der ‚Kultur‘. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm, in: Ders.: Unscharfe Grenzen – Perspek­ tiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 15–45, hier S. 17. 18  |  Reckwitz, Andreas: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation, in: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 2008, S. 188– 209, hier S. 191-194. 19  |  Jonas, Michael: The Social Site Approach versus the Approach of Discourse/Practice Formations, in: Reihe Soziologie/Sociological Series 92 (2009), S. 1–22, hier S. 10. 20 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 36 und Jonas, M.: The Social Site Approach, S. 11, dort auch die entsprechenden Verweise auf Reckwitz.

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die regeln, was wie darstellbar ist“.21 Praktiken und Diskurse als „umfassen­ de ‚Praxis-/Diskursformationen‘“22 sind durch ihren gemeinsamen Bezug auf kulturelle Codes, so die Argumentation, miteinander verbunden und institu­ tionalisieren so bestimmte Subjektivierungsweisen in je spezifischen Feldern (Politik, Wissenschaft). Subjektivierung aus dieser Perspektive bedeutet einen Unterwerfungsprozess des Einzelnen unter eine kulturelle Ordnung (codes), „die ihm körperlich und psychisch Merkmale akzeptabler Subjekthaftigkeit ‚einschreibt‘“.23 Theodore Schatzki hat kausale Zusammenhänge zwischen Diskursen und Praktiken negiert: „It is important to emphasize that the re­ lation of expression (manifestation, making present) is noncausal.“24 Es sind die Akteure selbst, die in praktischen Vollzügen mentale Wissensordnungen performativ hervorbringen und je spezifische Ausdrucksformen verleihen.25 Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive haben Marian Füssel und Tim Neu in Anschluss an Foucault und Bourdieu zwar betont, dass Diskurse und Praktiken ihren eigenen Logiken folgen, dass sich über die Inkorporierung und Performanz diskursiver Strukturen allerdings ein verbindendes Element zwischen Diskursen und Praktiken analytisch fruchtbar machen lässt.26 An die Stelle der Repräsentation von Praktiken in Diskursen bei Reckwitz tritt bei Schatzki die Erzeugung von Sinn im praktischen Vollzug.

2. K örper Kulturwissenschaftlich und historisch ausgerichtete Körperstudien haben sehr früh an diskurstheoretische Überlegungen angeknüpft und den Körper als eine invariante biologische Realität infrage gestellt. Die Folge war zum ei­ nen eine radikale Historisierung des Körpers verbunden mit der „Erforschung der Umformung von Leiblichkeit in verschiedenen Epochen, Kulturen und Gesellschaftsformen“,27 zum anderen eine Rekonzeptualisierung des Körpers 21  |  Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 43, und Jonas, M.: The Social Site Approach, S. 11f., dort auch die entsprechenden Verweise auf Reckwitz. 22 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 44. 23 | Reckwitz, Andreas: Subjekt/Identität: Die Produktion und Subversion des Individuums, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 75–92, hier S. 78, und Jonas, M.: The Social Site Approach, S. 14, dort auch die entsprechenden Verweise auf Reckwitz. 24 | Schatzki, Theodore R.: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996, S. 33. 25 | Ders., Kap. 2. 26 | Füssel, M./Neu, T.: Doing Discourse, S. 22–223. 27 | Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut, Stuttgart 1987, S. 14f.

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als diskursiv hervorgebrachte, soziale Konstruktion; Körpererfahrung und Kör­per­wahrnehmung werden in dieser Perspektive allein über Diskurse er­ möglicht.28 Durch diese Diskursivierung des Körpers entstand allerdings das analytische Problem, dass diesen Diskursen vorgängig eine Stofflichkeit (Leib) existiert, die die Frage nach der Materialität permanent aufwirft.29 Dieses er­ kenntnistheoretische Paradoxon findet sich wieder in der Unterscheidung der Geschlechterforschung von sex (biologischem Geschlecht) und gender (sozi­ aler Konstruktion von Geschlecht). Genau hier setzt Judith Butler an, wenn sie kritisch aufzeigt, dass „die Grenzen des linguistischen Konstruktivismus“ erreicht seien, wenn das biologische Geschlecht als unkonstruierbar apos­ trophiert werde30 und fragt zugleich, ob die Möglichkeit bestehe, „die Frage nach der Materialität des Körpers mit der Performativität der sozialen Ge­ schlechtsidentität zu verknüpfen“.31 Jene „ständig wiederholende Macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert“, hat Butler als Ausgangspunkt genommen für ihre „Reformulie­ rung der Materialität von Körpern“.32 Das „regulierende Ideal“ in der Lesart von Butler ist nicht nur eine regulierende Kraft, bezogen darauf, wie etwas zu bezeichnen, zu bewerten und zu unterscheiden sei (männlicher Körper, weiblicher Körper, das biologische Geschlecht), sondern „eine Art produkti­ ve Macht“, die durch ständige Wiederholungen Wahrheiten konstituiert (das biologische Geschlecht), die sich mit der Zeit zwangsweise materialisieren.33 Ständige Wiederholungen tragen zugleich ein Moment der Instabilität in sich als die dekonstituierende Möglichkeit des Wiederholungsprozesses selbst, was zu einer potentiell produktiven Krise in der Konsolidierung von Normen (der biologische Körper) und deren Naturalisierung führen kann.34 Die theoretischen Debatten um den Körper der 1990er Jahre haben nicht nur polarisiert, sondern auch zu einer Schärfung von Begrifflichkeiten und Theorieansätzen geführt und das Forschungsfeld über historische Körper­ diskurse hinaus geöffnet. Nicht zuletzt unter dem Einfluss von Theorien des

28 | Ellerbrock, Dagmar: Körper – Moden – Körper-Grenzen, in: Neue Politische Literatur 49 (2004), S. 52–84, hier S. 53; vgl. auch Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000. 29 | List, Elisabeth: Wissende Körper – Wissenskörper – Maschinenkörper. Zur Semiotik der Leiblichkeit, in: Die Philosophin 5 (1994), S. 9–26. 30 | Butler, Judith: Körper von Gewicht, Frankfurt a.M. 1997, S. 27. 31 | Ebd., S. 21. 32 | Ebd., S. 22. 33 | Ebd., S. 21. 34 | Ebd., S. 33.

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Performativen35 und Praxistheorien36 wird in jüngeren Studien nach Körper­ wissen und dem Embodiment sozialer Strukturen (Habitus), der Herstellung, Inszenierung, Internalisierung, Einübung und Performanz von Körper- und Geschlechteridentitäten, den Prozessen des Herstellens, des Einübens, der ­firmation, aber auch der Subversion von Körperpraktiken gefragt. Der Af Leib-Körper37, so diese Denktraditionen, konstituiert sich erst im praktischen Vollzug. Die körperlich-leiblichen Vollzüge als performative Akte (als körper­ liche Handlungen) stehen nach Judith Butler in einem historischen Kontinu­ um, in dem sie ein Repertoire von Bedeutungen aufrufen („Performativität als Zitatförmigkeit“).38 Soziale Praktiken wiederum sind material verankert: „primär in den Körpern [...], sekundär auch in den Artefakten“.39 Der „Körper steckt in den Praktiken“ und spielt von Anfang an eine zentrale Rolle in allen praxistheoretischen Ansätzen.40

3.  A rtefak te Dass sich die Bedeutung von Artefakten nicht aus ihrer materiellen Beschaf­ fenheit erschließen, noch wie ein Text als Zeichensystem decodieren lässt, gehört zu den Grundeinsichten der jüngeren „material-culture studies“, die sich in den angelsächsischen Ländern seit den 1980er Jahren etabliert haben.41 Mit dieser Neufokussierung verabschiedete sich die Dingforschung nicht nur

35 | Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012. 36 | Hirschauer, Stefan: Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 73–91. 37 | Für eine knappe Einführung in die Leib-Körper Problematik u.a. Gugutzer, Robert: Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports (= Materialitäten, Bd. 2), Bielefeld 2006. 38 | Butler, J.: Körper von Gewicht, S. 35. 39 | Reckwitz, A.: Praktiken und Diskurse, S. 191f. 40 | Hirschauer, S.: Praktiken und ihre Körper, S. 75. 41 | Für die Entwicklung der „material culture studies“ und zugleich für eine kritische Auseinandersetzung mit der Hybridformel „material“ und „culture“ vgl. Hicks, Dan: The Material-Cultural Turn. Event and Effect, in: Ders./Mary C. Beaudry (Hg.): The Oxford Handbook of Material Culture Studies, Oxford 2010, S. 25–98; vgl. auch Hahn, Hans Peter: Dinge als Zeichen – eine unscharfe Beziehung, in: Ulrich Veit/Tobias L. Kienlin/ Christoph Kümmel (Hg.): Spuren und Botschaften: Interpretationen materieller Kultur, Münster 2003, S. 29–51, hier S. 31.

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von der Vorstellung, dass Dingen und Artefakten42 aufgrund ihrer Materialität eine essentialistische, vordiskursive und atemporale Bedeutung zu eigen sei, sondern auch davon, „that objects merely symbolize or represent aspects of a pre-existing culture or identity“.43 Die Neuausrichtung der Materialitätsfor­ schung fokussiert stattdessen auf die materielle Beschaffenheit von Dingen und Artefakten und deren Potential in je spezifischen Kontexten.44 Entspre­ chend verschob sich die erkenntnistheoretische Frageperspektive von „ob­ ject-lessons“ zu „object-domains“45 und die Frage nach der Bedeutung von ­Dingen und Artefakten in sozialen Beziehungen gewann an Relevanz.46 Die­ se Grundannahme einer Polyvalenz von Dingen und Artefakten hat sowohl die empirische Forschung als auch die Theoriebildung inspiriert, völlig neue Forschungsfelder nicht zuletzt in der Geschichtswissenschaft eröffnet47 und zentrale Begriffe und Konzepte generiert. Zu den wichtigsten gehören die empirisch-theoretische Auseinandersetzung mit den Gebrauchsweisen von Dingen und Artefakten,48 Appadurais einflussreiche Studien zu den „social lives of things“,49 Studien zu der Wertigkeit von Artefakten als Folge sozialer

42 | Dinge bezeichnen die materielle Welt insgesamt, während Artefakte sich auf die von Menschen hergestellten Dinge beziehen. Mit „materieller Kultur“ werden die von Menschen hergestellten Dinge und die physisch-materielle Umwelt bezeichnet. 43 | Woodward, Sophie: Material Culture. Oxford Bibliographies (http://www.oxfordbibliographies.com/view/document/obo-9780199766567/obo-97801997665670085.xml vom 28. Juli 2014). 44 | Tietmeyer, Elisabeth u.a. (Hg.): Die Sprache der Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur, Münster 2010. 45 | Hicks, Dan/Beaudry, Mary C. (Hg.): The Oxford Handbook of Material Culture Studies, Oxford 2010, S. 29, 44f. u. 50, und insbesondere Miller, Daniel: Material Culture and Mass Consumption, Cambridge, Mass. 1991, S. 158–177. Miller verbindet Giddens’ Konzept der „object domains“ mit Bourdieus Habitus-Konzept. 46  |  Miller, Daniel: Why Some Things Matter, in: Material Culture. Why Some Things Mat­ ter, London 1998, S. 3–21. 47  |  Für eine gute Einführung siehe Harvey, Karen (Hg.): History and Material Culture. A Student’s Guide to Approaching Alternative Sources, London/New York 2009; programmatisch für die Geschichtswissenschaft Leora Auslander: Beyond Words, in: American Historical Review, 110 (2005), 4, S. 1015–1045, sowie AHR Conversation: Historians and the Study of Material Culture, in: ebd. 114 (2009), S. 1354–1404. 48 | Für eine Einführung vgl. Dant, Tim: Materiality and Society, Maidenhead 2005. 49 | Appadurai, Arjun: Introduction: Commodities and the Politics of Value, in: Ders. (Hg.): The Social Life of Things: Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, S. 3–63, bes. S. 3–13.

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Konventionen und Zuschreibungen,50 Arbeiten zu Dingen und Artefakten als Objekte der Distinktion und Marker von Zugehörigkeit 51 und die für die Pra­ xistheorie bedeutsamen Studien zu den „Umgangsqualitäten“ von Dingen,52 der Ästhetisierung des Sozialen53, dem Eigensinn der Dinge,54 der Affordanz von Dingen (dem Aufforderungscharakter von Dingen),55 der Handlungs­ macht von Dingen56 oder zu der affizierenden Wirkung von Dingen. Bei allen disziplinär bedingten und theoretischen Unterschieden kreisen die zentralen Fragen um die agency von Dingen. „A key area of contestation in the literature on material culture is the question of agency and the ways in which objects can produce particular effects or allow and permit certain behaviors or cultural practices.“57 Insbesondere Bruno Latour hat mit seiner Definition von „actor or actant“ („human, unhuman, nonhuman, inhuman“)58 eine Debatte nicht nur um den Subjektstatus von Dingen, sondern auch um den ontologischen Status

50 | Thompson, Michael: Rubbish Theory: The Creation and Destruction of Value, Oxford 1979; im Kontext transnationaler memory practices in der Frühen Neuzeit: Freist, Dagmar: Lost in Time and Space? Glocal Memoryscapes in the Early Modern World, in: Erika Kuijpers u.a. (Hg.): Memory before Modernity. Practices of Memory in Early Modern Europe, Leiden 2013, S. 203–221. 51  |  So beispielsweise Belk, Russel W.: Possessions and the Extended Self, in: Journal of Consumer Research 15 (1988), S. 139–168; McCracken, Grant: Culture and Consumption: A Theoretical Account of the Structure and Meaning of Consumer Goods, in: ebd. 15 (1988), S. 71–84. 52 | Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 11. Aufl., Berlin 1976, S. 170. Gehlen spricht von einem vorweggenommenen Antwortverhalten der Dinge, d.h. er geht davon aus, dass der Anblick von Dingen bestimmte Umgangsqualitäten zeigt. 53 | Böhme, Gernot: Contributions to the Critique of the Aesthetic Economy, in: Thesis Eleven 73 (2003), 1, S. 71–82; ders.: Atmosphäre. Essays zur Ästhetik. 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1997. 54 | Hahn, Hans Peter: Vom Eigensinn der Dinge, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (2013), S. 13–22. Hahn meint mit Eigensinn der Dinge die „Entfaltung von Sinnhorizonten in der Aktion zwischen Menschen und Dingen“, S. 14. 55 | Gibson, James J.: The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979; Jenkins, Harold S.: Gibson’s „Affordances“: Evolution of a Pivotal Concept, in: Journal of Scientific Psychology (2008), Dez., S. 34–45. 56 | Latour, Bruno: On Actor-Network Theory. A Few Clarifications, in: Soziale Welt 47 (1996), S. 369–381, hier S. 372f. und ders.: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford/New York 2005. 57 | Woodward, S.: Material Culture. 58 | Latour, B.: On Actor-Network Theory, S. 373.

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von Aktanten als Urhebern von Handlungen ausgelöst 59: „[A]n actor-network is the entity that does the inscribing“.60 Nach Latour ist ein Aktant „literally [...] anything provided it is granted to be the source of an action“.61 Mit der Konzep­ tualisierung von Dingen als „Partizipanden des Sozialen“62 wurde die Debatte um den Status von Dingen als Akteure mit quasi Subjektstatus erweitert um ein Verständnis von Dingen als Teilhaber in Praktiken. Die Materialität sozialer Praktiken und die „Sozialität von Artefakten“ ist in Praxistheorien vielfach betont worden.63 Besonders anschlussfähig für pra­ xistheoretische Ansätze sind die Überlegungen Theodore R. Schatzkis zu der Bedeutung von Artefakten und Dingen für die Hervorbringung des Sozialen. „The bearing of materiality on human activity and social life lies not just in the constitutive and causal relations that hold between individual actors and parti­ cular objects, but also in how material entities are connected with temporally and spatially extended manifolds of organized human actions.“ 64 Mit dem Kon­ zept des „arrangements“ umschreibt er die Art und Weise, in der Menschen, Artefakte, Organismen aller Art und Dinge aufeinander bezogen sind und in diesen Relationen spezifische Positionen besetzen und Bedeutungen aufwei­ sen. Die Bedeutungen dieser „arrangements“ werden in den beständigen Ak­ tualisierungen der Beziehungen in praktischen Vollzügen erzeugt.65

4. D iskurse – K örper – A rtefak te in pr a xeologischer P erspek tive Eine entscheidende Voraussetzung für die Annäherung der Forschungsfelder von Diskursen, Körpern, Artefakten, die sich in den bisherigen Ausführungen bereits angedeutet hat, bildet eine Denkbewegung innerhalb des Poststruk­ turalismus hin zu einem Verständnis des Sozialen, das erst in praktischen Vollzügen performativ erzeugt wird.66 Praktiken werden verstanden als kol­ lektive Handlungsgefüge (Praktik), die sich aus der Summe der sie konstitu­ 59 | Hirschauer, S.: Praktiken und ihre Körper, S. 74. 60 | Latour, B.: On Actor-Network Theory, S. 372. 61 | Latour, B.: On Actor-Network Theory, S. 373. 62 | Hirschauer, S.: Praktiken und ihre Körper, S. 74. 63 | Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012, S. 63. 64  |  Schatzki, Theodore R.: Materiality and Social Life, in: Nature and Culture 5 (2010), S. 123–149, hier S. 135. 65 | Schatzki, Theodore R.: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park, Pa. 2002, S. 20–25. 66 | Volbers, Jörg: Performative Kultur, Wiesbaden 2014.

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ierenden sozialen Praxis in ständig wiederholten Aneignungen bereits vor­ handener Möglichkeiten und immer wieder neuen Realisierungen von bereits Vorhandenem ergeben.67 Soziale Praktiken, so Karl Hörning, „begründen eine bestimmte Handlungsnormalität im Alltag“, die sich auf Handlungsroutinen, Erfahrungen und ein (implizites) Wissen von der Relevanz und Geeignetheit bestimmter Handlungsweisen gründet, die im Vollzug von Praktiken fortlau­ fend aktualisiert und erkennbar werden.68 In jüngerer Zeit wurde sowohl in der geschichtswissenschaftlichen69 als auch der soziologischen Debatte 70 Kri­ tik an einem so tendenziell deterministischen Verständnis sozialer Praktiken geübt und auf die Kontingenz der Praxis, die Kreativität des Handelns und das Miteinander von Routinen und Reflexivität in Praktiken verwiesen.71 Ins­ gesamt möchten praxistheoretische Ansätze die analytischen Perspektiven der Handlungstheorie mit ihrer Fokussierung auf die Rationalität sozialen Han­ delns oder der Systemtheorie, die von inhärenten Logiken von Systemen als handlungsleitend ausgeht, erweitern, indem sie den materiellen, also körper­ lichen und dinglichen Charakter sozialen Handelns und die Performativität der Praxis betonen. Dies bedeutet eine Abkehr sowohl von dem Primat des handelnden Subjekts als auch von der Wirkmächtigkeit von Strukturen. An die Stelle tritt ein Verständnis des Sozialen, das erzeugt, aufrecht erhalten und ver­ ändert wird im praktischen Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Akteure – Menschen, Körper, Artefakte, Dinge, Diskurse – in je spezifischen Settings.72 Diese Denkfiguren verbindet die Kritik an einem metaphysischen, subs­ tanzontologischen Verständnis von Subjekt, das Diskursen und diskursiven Praktiken vorgängig sei, oder von dem die Tätigkeit des Konstruierens – etwa 67 | Zur Einführung in die Praxistheorie Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282–301; Hillebrand, Frank: Praxistheorie, in: Georg Kneer/Markus Schroer (Hg.): Handbuch soziologische Theorien, Wiesbaden 2009, S. 369–394. 68 | Hörning, Karl: Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist 2001, S. 160. 69 | Reichardt, S.: Praxeologische Geschichtswissenschaft, S. 48; Füssel, M./Neu, T.: Doing Discourse, S. 228. 70 | Hörning, K.: Experten des Alltags, S. 163; Alkemeyer, Thomas: Handeln in Un­ sicherheit – vom Sport aus betrachtet, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.): Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden 2009, S. 183–202, bes. S. 190–192; Alkemeyer, Thomas/ Buschmann, Nikolaus: Praktiken der Subjektivierung – Subjektivierung als Praxis, in: Hilmar Schäfer (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2014 (i.E.). 71 | Insbesondere Alkemeyer, T./Buschmann, N.: Praktiken der Subjektivierung. 72 | In Anlehnung an Theodore R. Schatzkis Konzept von Arrangements als die Beziehungen zwischen Wesen und Dingen vgl. Schatzki, T.R.: The Site of the Social, S. 20–25.

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eines sozialen Geschlechts – ausgehen würde. An die Stelle tritt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten von Subjektwerdung und seines Wirkens und die Einsicht in die Dezentrierung des Subjekts.73 In diesem Zusammen­ hang macht Butler einen für praxis- und subjektivierungstheoretische Denk­ weisen grundlegenden gedanklichen Schritt, indem sie formuliert, es ginge weder um die Frage nach einem vordiskursiven Subjekt noch um dessen Ab­ schaffung, sondern um die „kulturelle Bedingung einer Möglichkeit“ der Sub­ jektwerdung als ein performatives Werden im körperlichen Vollzug.74 Damit ist eine erste Schnittstelle zu praxistheoretischen Ansätzen markiert, die da­ von ausgehen, dass sich soziale Ordnungen und ihre Subjekte in den Vollzü­ gen sozialer Praktiken bilden.

5. H istorische P r a xeologie als M ikro -H istorie Die in diesem Sammelband publizierten Beiträge befassen sich exemplarisch mit Selbstbildungsprozessen in der Frühen Neuzeit und fragen danach, wie sich Menschen in sozialen Praktiken zum einen entwerfen, verorten und An­ erkennung finden, zum anderen kulturelle Deutungsschemata im Vollzug sozialer Praktiken aktualisieren und zugleich verändern. In Anlehnung an Foucault und Butler werden Subjekte nicht ontologisch vorausgesetzt, sondern der Blick richtet sich auf den performativen Vollzugscharakter von Selbst-Bil­ dungen und den Eigenanteil der Akteure in diesem als offen und unsicher verstandenen Prozess. Praktiken sind damit immer zugleich Wiederholung und Neuerschließung,75 im praktischen Vollzug sozialer Handlungsmuster werden eingeübte und er­ wartbare Handlungsweisen reproduziert oder im Prozess der Reproduktion „überschrieben“76 und damit transformiert. Soziale Praktiken haben damit durchaus subversive Effekte, aber nicht im Sinne eines ereignisgeschichtlich geprägten historischen Denkens als Umsturz, sondern praxistheoretisch ver­ 73  |  So etwa Butler in: Körper von Gewicht, S. 29; konstitutiv für Foucaults Genealogie des modernen Subjekts ist dabei eine historisierende und praxeologische Perspektive. Vgl. Foucault, Michel: Technologien des Selbst, in: Ders.: Schriften. Dits et Ecrits, Bd. 4: 1980–1988, Frankfurt a.M. 2005, S. 966–999, hier S. 968. Vgl. auch Fischer-Lichte, E.: Performativität, S. 41. 74 | Butler, J.: Körper von Gewicht, S. 29. 75 | Hörning, K.: Experten des Alltags, S. 163. 76  |  Freist, Dagmar: „Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen“. Praktiken der Selbst­ bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 151–174, hier S. 164.

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standen als permanenter „Überschreibungsprozess“ sozialer Praktiken mit dem Effekt, eingeübte Seh-, Denk- und Handlungsweisen zu verändern und im praktischen Vollzug neu hervorzubringen.77 Die daraus entstehenden Spannungen werden verstanden als fruchtbare Reibungen, die Reflexivität und Kritik ermöglichen und somit eine Voraussetzung gesellschaftlichen Wandels bilden. Die Ursachen gesellschaftlichen Wandels werden in der Regel auf soge­ nannte „Basisprozesse“, auf „langfristige, evolutionäre Trends“, wie etwa die Industrialisierung, Modernisierung oder Staats- und Nationenbildung zurück­ geführt,78 für die die Frühe Neuzeit häufig als „Musterbuch der Moderne“ be­ müht wird79. Was bis heute in der Geschichtswissenschaft als historisch relevan­ te Gegenstände für die Erklärung von Wandel definiert wird,80 hat Hans Medick in einem 1994 erschienenen Aufsatz zu Recht als „Verwechselung der Größe des Erkenntnisgegenstandes mit einer Erkenntnisperspektive“ kritisiert. An die Stelle „universalisierender ‚Passe-partout‘ Kategorien“,81 wie Familie, Staat, Individuum, Moderne als „unterstellte makrohistorische Substanzen“, 82 müsse eine mikrohistorische Verfahrensweise treten, die der Unterschiedlichkeit und Fremdheit der Vergangenheit Rechnung trägt. Durch die „Verkleinerung des Beobachtungsmaßstabs“ werde zugleich eine „qualitative Erweiterung der his­ torischen Erkenntnismöglichkeiten erreicht“83 und historische Besonderheiten

77 | Vgl. dazu ebd. und die Kritik von Marian Füssel an dem Begriff der „Subversion“, der einem ereignisgeschichtlichen (Miss)Verständnis von Subversion als Umsturz geschuldet ist. „Überschreibungen“ meint die Gleichzeitigkeit von Reproduktion und Neuerschließung im Vollzug sozialer Praktiken. 78  |  Dipper, Christof: Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne, in: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur 37 (2012), S. 37–62, hier S. 58f. 79 | Schulze, Winfried: „Von den großen Anfängen des neuen Welttheaters“. Entwicklung, neuere Ansätze und Aufgaben der Frühneuzeitforschung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), S. 3–18, hier S. 9. 80 | So etwa Wolfgang Reinhard in seiner bekannten polemischen Abrechnung mit mikrohistorischen Ansätzen. Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, S. 18–34. Kritisch gegenüber unilinearen und zentristischen historischen Sichtweisen Hans Medick schon 1984. Vgl. Medick, Hans: Missionare im Ruderboot. Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 295–319, hier S. 302f. 81 | Ebd., S. 302. 82 | Ders.: Mikro-Historie, in: Winfried Schulze (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, Göttingen 1994, S. 40–53, hier S. 45. 83 | Ebd., S. 44.

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und Einzelheiten wie auch Kontingenzen und Möglichkeitsräume sichtbar.84 Anders als von einigen Kritikern mikrohistorischer Verfahren offensichtlich so verstanden, geht es dabei nicht um die Aneinanderreihung von „Fallstudien von unterschiedlichen Dimensionen“, deren Ergebnisse sich nicht verallgemei­ nern ließen und vor allem Abweichungen, die in dieser Lesart als rückständig definiert werden, thematisierten.85 Mikrohistorische Verfahren interessieren sich für die Bedingungen der Möglichkeiten von Handlungsweisen und ana­ lysieren „soziale Beziehungsnetze und Handlungszusammenhänge“ im Blick „auf die gesellschaftlichen, ökonomischen, kulturellen und politischen Bedin­ gungen und Verhältnisse, die in und mit ihnen, durch und auch gegen sie zur Äußerung und zur Wirkung kommen“.86 Die Fokussierung auf soziale Praktiken in Gegenwart und Vergangenheit erlaubt in Anlehnung an mikrohistorische Verfahren eine solche Verkleine­ rung des Beobachtungsmaßstabs, um unter der wissenschaftlichen Beob­ achterperspektive eines mikroskopischen Blicks die Komplexität sozialer Praktiken, die Kontingenzen in den Vollzügen sozialer Praktiken, die Gleich­ zeitigkeiten verschiedener Möglichkeitsräume und damit auch die Gestaltbar­ keit des Sozialen in je spezifischen „Praxisgegenwarten“87 sichtbar zu machen. Gerade die empirische Arbeit im DFG-Graduiertenkolleg 1608/1 „Selbstbil­ dungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“ an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg hat „im Kontrast zu einer soziologischen Tradition, die das reibungslose Funktionieren des So­ zialen ins Scheinwerferlicht rückt“ und einer historiographischen Tradition, die Wandel aus der Perspektive von Basisprozessen und unilinearen Entwick­ lungslinien beschreibt, die „Aufmerksamkeit auf Momente des Unerwarteten, der Beunruhigung, des Konflikts, der Unterbrechung und der Kritik, die in der Praxis auftauchen (können)“ gelenkt.88 Diese Aufmerksamkeitsverschiebung durch die empirische Arbeit hat eine Denkbewegung in der theoretischen Arbeit bewirkt, die zu einer Weiterentwicklung praxis- und subjektivierungs­ theoretischer Grundannahmen geführt hat. Der derzeit zu beobachtenden ­einseitigen Verlagerung des praxistheoretischen Interesses „von den Akteuren 84 | Vgl. Davis, Natalie Zemon: Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, München 1984. 85 | Reinhard, W.: Lebensformen Europas, S. 27. 86 | Medick, H.: Mikro-Historie, S. 45. 87  |  Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag zu „Gegenwarten“, 2. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 11–32, bes. S. 24–29. 88 | Neuantrag DFG-Graduiertenkolleg 1608/1 Selbstbildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive, Oldenburg, April 2014. Vgl. auch Alkemeyer, T./Buschmann, N.: Praktiken der Subjektivierung (i.E.).

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auf die Praktiken sowie die korrespondierende Tendenz zur Reduktion von Handeln auf Routinen“ wird eine Analyseperspektive entgegengesetzt, die die Unbestimmtheit praktischer Vollzüge fokussiert und somit auch die Bewäl­ tigungsstrategien im Umgang mit Kontingenzerfahrungen sichtbar macht.89 Aus dieser Perspektive zeigen sich Praktiken nicht nur als regelhafte, routinisierte und strukturierte Einheiten von Aktivitäten, sondern als offe­ ne Vollzüge, die von ihren Teilnehmern situationsadäquate Improvisationen und Bewältigungsstrategien erfordern. Mit dieser Neufokussierung wird eine makroanalytische bzw. makrohistorische Perspektive, in der Praktiken als scheinbar geordnet und regelhaft erscheinen und in die sich die Subjekte nur erfolgreich einfügen müssen, ja, in die sie gewissermaßen hineinrekrutiert werden, ergänzt durch die Teilnehmerperspektive der historischen Akteure, in der allein Momente der Überraschung, Irritation und Bewältigung in prakti­ schen Vollzügen beobachtbar werden.90 Damit wird nicht für eine Rückkehr des autonomen Subjekts plädiert91, sondern es geht vielmehr darum, zu einem „praxeologischen Neuverständnis dieser Subjektivität“ zu kommen.92 Die Beiträge dieses Sammelbandes greifen diese Denkbewegung in unter­ schiedlicher Weise auf und sind entlang der Trias von Diskursen – Körpern – Artefakten in praxistheoretischer Lesart gruppiert. Die überwiegende Zahl der Beiträge konzentriert sich auf das Heilige Römische Reich, ein Beitrag auf Deutschland im 19. Jahrhundert, und vier Beiträge betrachten globalhistori­ sche Phänomene aus praxeologischer Perspektive.

89 | Neuantrag DFG-Graduiertenkolleg 1608/1 Selbstbildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive, Oldenburg, April 2014, sowie die Beiträge von Buschmann, Freist und Raapke in diesem Band. 90 | Diese praxistheoretische Erweiterung der Beobachterperspektiven als ein systematischer Wechsel zwischen Theater- und Teilnehmerperspektive bildet ein Kernstück der Arbeit des Oldenburger Graduiertenkollegs, das hier für eine historische Praxeologie als Mikro-Historie fruchtbar gemacht wird. Für die Erweiterung der Beobachterperspektive vgl. Alkemeyer, T./Buschmann, N.: Praktiken der Subjektivierung (i.E.). 91  |  Füssel, Marian: Die Rückkehr des ‚Subjekts‘ in der Kulturgeschichte. Beobachtun­ gen aus praxeologischer Perspektive, in: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning (Hg.): Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin 2003, S. 141–159, bes. S. 156–159. 92 | Neuantrag DFG-Graduiertenkolleg 1608/1 Selbstbildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive, Oldenburg, April 2014, sowie Alkemeyer, Thomas: Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeo­ logischen Analytik, in: Ders./Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.): SelbstBildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 33–68, bes. S. 61–68 und Alkemeyer, T./Buschmann, N.: Praktiken der Subjektivierung (i.E.).

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Eine der zentralen Herausforderungen einer historischen Praxeologie be­ steht darin, dass vergangene Praktiken nicht im aktuellen Vollzugsgeschehen beobachtbar sind.93 Sie sind erstens gleichsam „eingefroren“ in historisch über­ lieferten Texten und Dingen und müssen aus dieser Überlieferung erschlossen werden, und sie sind zweitens beobachtbar in den Praktiken, die diese Texte und Dinge hervorgebracht haben. Soziale und kulturelle Praktiken zurücklie­ gender Epochen werden beobachtbar in jeweils spezifischen Materialisierun­ gen – etwa in Form von Briefen, Tagebüchern, Notizen, Bildern oder Dingen. Zugleich sind diese Materialisierungen das Ergebnis bestimmter Praktiken, etwa des Schreibens, der religiösen Praxis, der Improvisation oder des Sam­ melns. Für die Analyse von Praktiken aus historischer Perspektive sollen hier fünf Analyseebenen vorgeschlagen werden, die je nach Erkenntnisinteresse zum Tragen kommen. Erstens die Praktiken der Text-, Bild- und Dingherstellung in je spezifischen „sites“.94 Zweitens die routinisierten und regelhaften Praktiken kollektiver Handlungsmuster (Sprachstile, Kleidungsverhalten, Raumanord­ nungen), die sich makroanalytisch als geordnete Praktikenkomplexe zeigen, etwa frühneuzeitlicher Briefsteller, Ärzte, Wissenschaftler, adlige Frauen, Ka­ tholiken. Drittens die Momente der Irritation, Reflexion und Transformation, die im Vollzug von Praktiken zu Bewältigungsstrategien, Anpassungen oder Überschreibungen führen. Viertens die Umgangs- und Gebrauchsweisen von Dingen und dem Wissen – oder Nichtwissen über den Umgang mit Dingen; hier sind Bedeutungszuschreibungen und Wertigkeiten ebenso gemeint wie Verwendungszusammenhänge und Nichtpassungen. Und schließlich fünf­ tens im Sinne Foucaults ein Verständnis diskursiver Praktiken, die „systema­ tisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“.95 Die einzelnen Beiträ­ ge beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf diese Analyseebenen. Das Kapitel „Diskurse“ wird durch den Beitrag von Michael Stolberg mit dem Titel „Zwischen Identitätsbildung und Selbstinszenierung. Ärztliches Self-Fashioning in der Frühen Neuzeit“ eröffnet. Ärzte im 16. und 17. Jahrhun­ dert hatten einen regen Anteil an der Gelehrtenkorrespondenz ihrer Zeit, was sich nicht nur in zehntausenden von Briefen aus ärztlicher Feder und einer typischen gelehrten Aufschreibepraxis der Zeit niedergeschlagen hat, sondern 93 | Für eine Kontroverse um die Frage der „Öffentlichkeit von Praktiken“ als absolut gesetzte Voraussetzung, um überhaupt praxeologisch arbeiten zu können, und eine Kritik an dieser Haltung verbunden mit einem Plädoyer, die historische Dimension sozialer Praktiken einzubeziehen vgl. Schmidt, R.: Soziologie der Praktiken, S. 237–262 und Hillebrandt, Frank: Praktiken, in: Soziologische Revue 36 (2013), S. 300–303. 94 | Schatzki, T.: The Site of the Social sowie die Beiträge von Buschmann und Freist in diesem Band. 95 | Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1969, S. 74.

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auch in Ärzteporträts, die sie in Gelehrtenstuben zeigen. Dieser Gelehrten­ habitus, der von jungen Jahren an eingeübt wurde und als kollektives Hand­ lungsmuster von Ärzten zumindest in der Draufsicht im 16. und 17. Jahrhun­ dert sichtbar wird, stand allerdings in einem auffälligen, wie sich aber zeigen sollte, fruchtbaren Spannungsverhältnis zu der eigentlichen beruflichen Tä­ tigkeit, den Alltagspraktiken von Ärzten. Nicht das gelehrte Schreiben, so Stolberg, son­dern der kreatürliche, dahinsiechende Leib, der Umgang mit Ex­ krementen und handwerkliches Geschick standen im Mittelpunkt ­ihrer alltäg­ lichen Arbeit. Damit bewegten sich Ärzte in der Praxis nicht nur in einem Feld mit Wunderheilern und Heilpraktikern, sondern häufig auch in einer sozialen Schicht, die mit dem Gelehrtenhabitus wenig anfangen konnte. Vor diesem Hintergrund geht Stolberg der Frage nach, ob dieser öffentlichkeitswirk­sam inszenierte Anspruch auf Gelehrsamkeit als ein wesentliches Distinktions­ merkmal der Ärzte auf Anerkennung traf und was die jeweiligen Bedingun­ gen dieser Anerkennung waren. Zugleich kann Stolberg aufzeigen, wie die­ se Gelehrtenpraktik der Ärzte als kollektive, routinierte Handlungsmuster „überschrieben“ wurden in den praktischen Vollzügen einer empirisch tätigen Ärzteschaft, deren sinnliche und manuelle Fertigkeiten und praktische Erfah­ rungen zunehmend wertgeschätzt wurden. Nikolaus Buschmann eröffnet seinen Beitrag „Umkämpfte Erzählungen. Zur Selbst-Bildung eines jüdischen Offiziers in der preußischen Nachreform­ ära“ mit der These, dass die Erinnerungen Meno Burgs „als eine Reflexion darüber gelesen werden (können), wie und in welcher Form die Arbeit am ei­ genen Selbst zum subjektiven ‚Gelingen‘ dieses Lebens beitrug“.96 Während diese Erinnerungen in Anlehnung an Andreas Reckwitz’ Pilotstudie „Das hy­bri­de Subjekt“ als erfolgreiche Einpassung in die hegemoniale Normativi­ tät von Bürgerlichkeit gelesen werden können, weist Buschmann auf bedeu­ tungsvolle Ambivalenzen eines solchen Subjektbegriffs hin. Subjektwerdung sei eben nicht nur die Reproduktion kulturell präformierter Subjektformen, sondern gerade der so erfolgreiche Lebensweg des Juden Meno Burgs zeige die „Unverfügbarkeit und die Ungleichzeitigkeit dieses Lebensweges“. Damit treten die Bewältigungsstrategien des Protagonisten im Umgang mit unvor­ hergesehenen Entwicklungen in den Fokus, und der Prozess der Subjektivie­ rung wird lesbar als ein „Ringen um Handlungsfähigkeit und Anerkennung in einer kontingenten sozialen Praxis“. Der nächste Beitrag stammt aus der Feder von Lucas Haasis mit dem Ti­ tel „‚Noch bleibt mir ein Augenblick Zeit um mich mit Euch zu unterhalten.‘ Praxeologische Einsichten zu kaufmännischen Briefschaften des 18. Jahrhun­ derts“. Ausgehend von Etienne Wengers praxistheoretischem Konzept einer „community of practice“ analysiert Haasis, „wie Kaufleute des 18. Jahrhunderts 96 | Die Zitate stammen aus dem Beitrag von Nikolaus Buschmann in diesem Band.

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sich und ihre Aktivitäten, eingefangen in kollektiven Aushandlungsprozessen im Zeitverlauf, plausibilisierten, wie sich nicht nur Selbst-Entwürfe abbilde­ ten, sondern vielmehr Festschreibungen, Selbst-Verwicklungen im Zeitver­ lauf vollzogen und durch die Briefkorrespondenz materielle Beglaubigungen erfuhren“.97 Die Grundlage der Analyse bildet eine Abwerbungspraxis unter Kaufleuten, die sich über das komplett erhaltene Kaufmannsarchiv des Ham­ burger Kaufmanns Nicolaus Gottlieb Lütkens aus der Zeit seiner ersten kauf­ männischen Etablierungsversuche nachzeichnen lässt. In einem polyphonen Briefgespräch werden die Kontingenz der Praxis im kaufmännischen Mitein­ ander und die Bemühungen der Akteure sichtbar, in immer wieder neu zu er­probenden Briefpraktiken die gesetzten Ziele zu erreichen, Anerkennung zu finden und unerwartete Wendungen zu meistern. Ausgehend von der berechtigten Kritik an einem zu starren Modell der Ständegesellschaft, mit der die Dynamisierung der frühneuzeitlichen Ge­ sellschaft nicht erklärt werden kann, bietet Marian Füssel in seinem Bei­ trag „Die relationale Gesellschaft. Zur Konstitution ständischer Ordnung in der Frühen Neuzeit aus praxeologischer Perspektive“ eine alternative Lesart an. Er richtet den Fokus auf die permanenten Distinktionskämpfe unter­ schiedlicher sozialer Gruppen, die die Beziehungen der einzelnen Akteure untereinander immer wieder neu auszuhandeln und zu stabilisieren such­ ten. Den Kern seines Beitrags bildet ein relationales Verständnis ständischer Ordnung als soziale Praxis, das er in fünf Schritten entwickelt. An konkreten Bei­spielen wird die konstitutive Bedeutung von Artefakten und Körpern für die symbolische Hervorbringung von Status und gesellschaftlicher Position deutlich. Aus praxeologischer Perspektive kann Füssel zeigen, dass ständi­ sche Subjekte nicht den Ausgangspunkt sozialen Handelns bilden, sondern das Ergebnis einer Vielzahl von Praktiken sind. Abschließend wird die Frage nach gesellschaftlichem Wandel und Auf brüchen aus der Ständegesellschaft aufgeworfen. Der Beitrag von Constantin Rieske mit dem Titel „Beyond the Sea: Prak­ tiken des Reisens in Glaubenswechseln im 17. Jahrhundert“ richtet das Au­ genmerk auf das konstitutive Wechselspiel von Reisen und Konversion. Den Ausgang bildet nicht eine konfessionelle Identität, die gewechselt wird, also ein religiöses Ausgangs- und Endsubjekt, sondern die Aufmerksamkeit richtet sich auf den Glaubenswechsel als komplexen Prozess religiöser Subjektivie­ rung. Damit rücken die Praktiken des Glaubenswechsels, Beobachtungen von Glaubenspraktiken, Einübung und Inkorpierung mit all den dazugehörigen Irritationen des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses in den Mittelpunkt der Analyse, es geht kurz gesagt um das „Wie“ des Glaubenswechsels, weniger um das Warum. Durch eine praxeologische Relektüre von Konversionsberichten, 97 | Die Zitate stammen aus dem Beitrag von Lucas Haasis in diesem Band.

Diskurse – Körper – Ar tefakte

Briefen und Tagebüchern spürt Rieske den vielschichtigen Praktiken religiö­ ser Subjektivierung nach. Den Abschluss dieses Kapitels bildet der Beitrag von Eva Brugger „Szenen der Subjektivierung. Zu den Schriftpraktiken der Wallfahrt im 18. Jahrhun­ dert“. Im Mittelpunkt ihres Beitrags steht die Verschiebung von Wallfahrts­ praktiken vom Körper der Gläubigen hin zur Ordnung der Liste im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Ursache ist nicht nur die Kritik der Auf klärung an den körperbetonten Glaubenspraktiken der Altgläubigen, die detailliert in Reise­ berichten beschrieben werden, sondern auch die Entstehung von Nahwall­ fahrtsorten. Körperpraktiken werden ergänzt durch Praktiken des Verzeich­ nens und Darstellens in sogenannten Mirakel- und Guttatenlisten; damit erlangen Schrift und Artefakte, vor allem Gnadenbilder, durch eine neue ihnen zugeschriebene Wirkmächtigkeit eine besondere Rolle in der Vermitt­ lung göttlichen Heils und der heilenden Kraft göttlicher Gnade außerhalb der großen Wallhaftsorte. Zugleich, so Brugger, prägen die Aufzeichnungen von Wallfahrten und Gnadenerlebnissen den Rahmen, innerhalb dessen Gnade erwartet werden konnte, und erreichen damit auf gewisse Art und Weise eine disziplinierende Wirkung – als Antwort auf Bestrebungen der Gläubigen, sich durch veränderte Glaubenspraktiken eben dieser obrigkeitli­ chen Kontrolle zu entziehen. Das nächste Kapitel ist mit „Körper“ überschrieben und wird eröffnet mit dem Beitrag von Christina Beckers unter dem Titel „Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen. Eine Geschichte der Inszenierung von Weiblichkeit zwischen körperlichem Eigensinn und sozialen Praktiken im ausgehenden 16. Jahr­hundert“. Den Ausgangspunkt dieses Beitrags bildet der ungewöhn­ liche Fall vorgetäuschter Schwangerschaften und Totgeburten der Margare­ tha Kahlen, die mit diesen Inszenierungen versuchte, die gesellschaftliche Anerkennung als Mutter, zumindest doch ihrer Fruchtbarkeit zu gewinnen. Beckers vergleicht den Fall Kahlen zunächst mit ähnlichen, bereits bekann­ ten Fällen vorgetäuschter Schwangerschaft und den jeweils damit verbunde­ nen Körperinszenierungen und -wahrnehmungen, um dann den Fokus auf die Praktiken zu lenken, mit denen Margaretha ihre Schwangerschaften und Geburten darstellte. Beckers fragt zum einen danach, auf Grundlage welcher „‚Sehgewohnheiten‘ und diskursiv verankerter Wahrnehmungsdispositionen ihre Inszenierung glücken konnte“, und wie Margaretha in einer über die „ver­ schiedenen Korrelationen von Artefakten und Koakteuren in geteilten Prakti­ ken entstehenden Gemeinschaft“ von ihren gesellschaftlichen Mitspielern als Schwangere anerkannt wurde.98 In ihrem Beitrag „‚… daß mein leib mein seye‘: Selbstpositionierungspro­ zesse im Spiegel erzählter Körperpraxis in den Briefen Liselottes von der Pfalz 98 | Die Zitate stammen aus dem Beitrag von Christina Beckers in diesem Band.

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(1652–1722)“ befasst sich Mareike Böth zum einen mit der Formierung habi­ tueller Dispositionen und gewohnter Körperpraxis Liselottes von der Pfalz, in dem sie das Augenmerk auf das umfangreiche praktische Handlungsreper­ toire legt, mit dem Liselotte bereits als Kind konfrontiert wurde. Der Umgang mit dem kranken Leib/Körper wurde permanent eingeübt und findet Aus­ druck in den Briefen Liselottes. Zum anderen fungiert der gesunde Körper in den Briefpraktiken als narratives Muster einer gemeinsam erfahrbaren Kör­ per­konstitution, über die die familiäre Zugehörigkeit beglaubigt wurde. Die Selbstthematisierungen über den Körper und dessen Umgangsweisen umfass­ ten auch Vorstellungen von Tugend und angemessenen Verhaltensweisen, die eingeübt wurden und deren Irritationen durch fremde Körperpraktiken am französischen Hof körperlich erfahrbar waren. Böth kann zeigen, dass für Li­ selotte das Schreiben über ihren Körper eine Praxis der Selbstvergewisserung ihrer Zugehörigkeit zu ihrer Herkunftsfamilie darstellte. Den Abschluss dieses Kapitels bildet der Beitrag von Annika Raapke mit dem Titel „‚In Gelb!‘ Selbstentwürfe eines Mannes im Fieber“. Ausgangspunkt ihrer Studie sind die Briefe eines französischen Soldaten, Lelong, der nach zweimonatiger Schiffsreise auf Martinique eintraf, dort die ersten Anzeichen des weit verbreiteten Gelbfiebers verspürte und einem weiten Adressaten­ kreis seine körperliche Befindlichkeit in immer anderen Variationen per Brief schilderte. Alle Sinnstiftung, alle Bedeutung, so die zentrale These dieses Beitrags, nimmt ihren Anfang über den Körper Lelongs, dessen Praktiken, Wahr­nehmung und Umgangsweisen, die in den Briefen über Jahrhunderte festgehalten wurden. Raapke untersucht diese Gelbfieberepisode Lelongs in zwei­facher Weise praxeologisch. Zum einen analysiert sie anhand seiner de­ taillierten Krankheitsschilderungen die Praktiken der Krankheitsbewältigung in den Umgangsweisen von Ärzten und Patient und zeigt, dass Praktiken aus zurückliegenden Epochen auch außerhalb ihres Aufführungskontextes beob­ achtbar werden. Zum anderen geht es ihr darum, diskursive Praktiken – in Anlehnung an Reckwitz als Praktiken der sprachlichen Verarbeitung raum­ zeitlich und kulturell gebundener Denk- und Sagbarkeiten – des Schreibens über Gelbfieber zu identifizieren und hier insbesondere den mit Gelbfieber verbundenen Diskurs einer spezifischen Männlichkeit. Das dritte und letzte Kapitel steht unter der Überschrift „Artefakte“. Der erste Beitrag stammt von Mikael Alm mit dem Titel „Überlegungen zu einer Nationaltracht. ‚Social Imaginary‘ im Schweden des späten 18. Jahrhunderts“. Ähnlich wie Füssel fragt Alm danach, wie sich die Dynamik der frühneuzeit­ lichen Gesellschaft, die sich als komplexere Wirklichkeit hinter dem vertrau­ ten Bild der Ständegesellschaft abzeichnet, analytisch einfangen lässt. Den Ausgangspunkt seiner Studie bilden 73 Aufsätze aus unterschiedlicher Feder, die als Reaktion auf ein Preisausschreiben über die Vor- und Nachteile einer schwedischen Nationaltracht bei der Königlichen Patriotischen Gesellschaft in

Diskurse – Körper – Ar tefakte

Stockholm im Jahre 1773 eingereicht worden waren. Was die einzelnen Auf­ sätze bei allen Unterschieden vereint, sind die Reflexionen der Autoren und Autorinnen über die soziale Ordnung und die eigenen Beobachtungen über die Relevanz von Kleidung, Farben und Formen für die jeweiligen gesellschaft­ lichen Positionierungen einzelner Akteure und die gesellschaftliche Lesbar­ keit dieser Selbstentwürfe. Nicht die geburtsstandrechtliche Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Stand, sondern erst deren performativer Vollzug in Praktiken, die für alle lesbar sind, entscheiden über soziale Hierarchisierun­ gen und Differenzierungen im Alltag. Frank Schmekel befasst sich in seinem Beitrag mit dem Thema „Was macht ein(en) Hausmann? Eine ländliche Elite zwischen Status und Praktiken der Legitimation“ mit den je spezifischen Distinktionspraktiken ländlicher Ober­ schichten in Nordwestdeutschland. Der Beitrag geht davon aus, dass sich die herausgehobene gesellschaftliche Stellung dieser ländlichen Oberschichten, die so genannten Hausmänner, nicht allein mit der Übernahme bestimmter Ämter, mit ihrem Vermögen und dem Genuss bestimmter Privilegien erklä­ ren lässt. Erst im praktischen Vollzug kollektiver Handlungsmuster, die von den Zeitgenossen verstehbar waren als Anspruch auf eine herausgehobene gesellschaftliche Stellung und in Praktiken der Ehrerbietung anerkannt wur­ den, wird der Anspruch auf soziale Distinktion beobachtbar. Insbesondere in einer Region, die zum einen sehr ländlich geprägt und abgeschieden war, zum anderen insbesondere durch Wasserstraßen mit den großen Handelszentren bis nach Bremen, Amsterdam und London verbunden war, erhielten Artefakte eine besondere Bedeutung als Distinktionsmittel. Beverly Lemire eröffnet ihren Beitrag „Wie frühneuzeitliche Gesellschaf­ ten in Mode kamen. Indische Baumwollstoffe, materielle Politik und kon­ sumentengesteuerte Innovationen in Tokugawa-Japan und England in der Frühen Neuzeit“ mit der These: Kleidung ist politisch. Überzeugend kann sie aufzeigen, welche politische Wirkmächtigkeit Mode als eines der um­ strittensten Konsumgüter der Frühen Neuzeit entfalten konnte dank ihrer Fähigkeit, die Träger immer wieder neu körperlich und gesellschaftlich zu formen und die Sehgewohnheiten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Eine zentrale Rolle in diesen Praktiken des Zeigens und Sehens in Mode spielten indische Baumwollstoffe, die gesellschaftlich und politisch sowohl in Eu­ ropa wie auch in Japan die Eigenschaft von Katalysator-Gütern annahmen. Das gesellschaftlich irritierende dieses Artefaktes war dessen wandelbare Erscheinung, die simple Klassifizierungen als mondän oder luxuriös nicht zuließen. Lemire zeigt in ihrem Beitrag, wie indische Baumwollstoffe als Teilhaber an Praktiken in immer neuen Variationen kollektive Performan­ zen von Distinktion, Zugehörigkeit und Ausgrenzung ermöglichten und als beunruhigende Zeichen sozialer Positionierung politische und gesellschaft­ liche Abwehrhaltungen auslösten.

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Meg Williams zeigt in ihrem Beitrag „‚Zu Notdurfft der Schreiberey‘: Die Einrichtung der frühneuzeitlichen Kanzlei“, in welcher Weise die physischen und materiellen Settings die administrativen Schreib- und Kanzleipraktiken am Habsburger Hof im 16. Jahrhundert hervorgebracht haben. In ihrer Ana­ lyse geht es ihr weniger um den Idealtypus einer frühneuzeitlichen Kanzlei, sondern darum, wie die Techniken des Schreibens und die Materialität von Verwaltung die Arbeitsabläufe prägten. Mit ihrer Fokussierung auf die Bezie­ hungen zwischen Räumen, Menschen, Objekten und Praktiken kann Williams am Beispiel der Administration Ferdinands I. ein bemerkenswertes Inein­ andergreifen der habsburgischen Regierung und des habsburgischen Haus­ halts nachweisen und ein komplexeres Bild frühneuzeitlicher Administration zeichnen, als es aus der traditionellen Perspektive der Bürokratisierung oder administrativer Effizienz gelingt. Dabei thematisiert sie auf einer breiten Quel­ lengrundlage den Einfluss der materiellen Ausstattung der Kanzlei auf die praktischen und räumlichen Erfahrungen ihrer Mitglieder und analysiert die materiellen Konventionen und Alltagspraktiken der Kanzlei. Den Abschluss des Kapitels bildet der Beitrag von Dagmar Freist zu dem Thema „‚Ich schicke Dir etwas Fremdes und nicht Vertrautes‘: Briefpraktiken als Vergewisserungsstrategie zwischen Raum und Zeit im Kolonialgefüge der Frühen Neuzeit“. Ausgehend von der Wahrnehmung der außereuropäischen Welt als Ungewissheitsraum, in denen routinierte Handlungssicherheit verlo­ ren geht und vertraute Alltagspraktiken scheitern, analysiert der Beitrag, wie sich die Einlassungen mit diesen Ungewissheitsräumen zum einen in Prak­ tiken der Prävention, des Riskierens und der Improvisation, zum anderen in Praktiken der Erzeugung von Orientierung und Gewissheiten zeigen. Exemp­ larisch für diese Ungewissheitsräume steht in diesem Beitrag der Atlantik, der in Anlehnung an Theodore Schatzki praxistheoretisch rekonzeptualisiert wird als „social site“. Aus mikro-historischer Perspektive werden so die Kontingenz sozialer Praktiken und Bewältigungsstrategien der Akteure sichtbar und die vielschichtigen Verwendungszusammenhänge und Bedeutungszuschreiben von Dingen in Selbstvergewisserungsstrategien.

Diskurse

Zwischen Identitätsbildung und Selbstinszenierung Ärztliches Self-Fashioning in der Frühen Neuzeit Michael Stolberg Die Frühe Neuzeit gilt in der historischen Forschung als eine Zeit, in der sich insbesondere in den städtischen Gesellschaften vermehrt Freiräume für in­ dividuelle Lebenswege und Lebensentwürfe eröffneten.1 Die Geschichte der gelehrten Ärzte und des Arztberufs in der Frühen Neuzeit steht in mancher Hinsicht paradigmatisch für diese Entwicklung. Im 15. Jahrhundert waren die studierten Ärzte nördlich der Alpen noch eine kleine Minderheit. Selbst in bedeutenderen Städten war der Stadt„arzt“ oft ein Handwerkschirurg, ein „Meister“, kein promovierter physicus.2 Im Laufe des 16. Jahrhunderts änderte sich das grundlegend. Die Zahl der akademisch gebildeten Ärzte nahm stark zu und die Zahl der Orte, an denen wenigstens ein studierter Arzt tätig war, vervielfachte sich.3 Weiterhin wurde die große 1  |  Dülmen, Richard van: Die Entdeckung des Individuums 1500–1800, Frankfurt 1997. 2 | Guter Überblick bei Kintzinger, Martin: Status medicorum. Mediziner in der städtischen Gesellschaft des 14. bis 16. Jahrhunderts, in: Peter Johanek (Hg.): Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen vor 1800, Köln 2000, S. 63–92; zur ähnlichen Situation in den Niederlanden: Herwaarden, Jan van: Medici in de Nederlandse samenleving in de late Middeleeuwen (veertiende-zestiende eeuw), in: Tijdschrift voor Geschiedenis 96 (1983), S. 348–378; Frijhoff, Willem: Non satis dignitatis … Over de maatschappelijke status van geneeskundigen tijdens de Republiek, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 96 (1983), S. 379–406; Lieburg, Marius J. van: Over de stadsmedicus in de NoordNederlandse steden van de 16e eeuw, in: Hendrik Leonard Houtzager (Hg.): Pieter van Foreest. Een Hollands medicus in de zestiende eew, Amsterdam 1989, S. 41–72. 3 | Eine systematische prosopographische Analyse der frühneuzeitlichen Ärzteschaft bleibt ein dringendes Desiderat. Ich stütze mich hier unter anderem auf eine sondierende Analyse von Einträgen zu derzeit etwa 4.000 Ärzten in einer biobibliographischen Datenbank, die wir seit 2009 in Würzburg im Rahmen des Projekts „Frühneuzeitliche Ärztebriefe“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften aufbauen.

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Masse der Patienten von nicht-studierten Heilkundigen medizinisch versorgt, von handwerklich ausgebildeten Badern und Barbieren, von Apothekern und nicht zuletzt von zahlreichen „weisen Frauen“, Schäfern, Scharfrichtern, fah­ renden Händlern und anderen irregulären Heilern. Insbesondere unter den Gebildeten und Wohlhabenden aber, in jenen Kreisen also, deren Zuspruch und Vertrauen in erster Linie über ihr berufliches, wirtschaftliches und ge­ sellschaftliches Fortkommen entschieden, gelang es den studierten Ärzten zunehmend, die Überzeugung von der grundsätzlichen Überlegenheit ihrer Medizin durchzusetzen. Städtische Obrigkeiten besetzten freiwerdende Stadt­ arztstellen fast nur noch mit promovierten Ärzten und unternahmen zuweilen erhebliche Anstrengungen, um einen promovierten Arzt für diese Aufgabe zu gewinnen, der die Armen versorgen, die Seuchenabwehr sichern und als Ge­ richtsarzt wirken konnte. Adlige und Fürsten gaben den promovierten Ärzten weithin den Vorzug als Leibärzte. Promovierten Stadtärzten wurden in ihren Bestallungsverträgen Aufsichtsfunktionen über die Apotheken und das übrige Heilpersonal zugeschrieben. Einzelne Städte duldeten oder förderten gar nach italienischem Vorbild die Einrichtung von ärztlich besetzten Collegia medica, deren Mitglieder selbst darüber entschieden, wer in der Stadt praktizieren – und mit ihnen konkurrieren – durfte.4 Ihre beruflichen Tätigkeiten, ihre zentrale Position insbesondere in der medizinischen Versorgung der gebildeten Oberschichten und die damit ver­ bundenen Verdienstmöglichkeiten eröffneten vielen Ärzten den Weg zu Status und Ansehen. Manche Ärzte, wie Joachim Vadian in St. Gallen, übernahmen innerhalb der städtischen Gesellschaft sogar führende politische Ämter.5 Nur wenige Ärzte hatten wie Joachim Camerarius II einflussreiche und bestens vernetzte Väter oder entstammten womöglich gar einer lokalen Ärztedynastie wie jener der Occos in Augsburg oder der Bauhins in Basel. Die meisten Ärzte arbeiteten vielmehr fern von ihrer ursprünglichen Heimat. Höhere Schulbil­ dung, Medizinstudium und Doktorgrad wurden unter diesen Umständen zum alles entscheidenden Schlüssel, der selbst den Söhnen von Schustern, Gold­ schmieden oder Braumeistern das Tor zum sozialen Aufstieg öffnete. Die Ärz­ te stehen damit stellvertretend für jene wachsende Zahl von Gebildeten, die ihr Vermögen und ihre gehobene gesellschaftliche Stellung fast ausschließlich ihrer universitären Bildung und den Früchten ihrer Arbeit verdankten. 4 | Wichtigste frühe Beispiele nördlich der Alpen sind die Medizinalkollegien in Augsburg und Nürnberg. Zu den Auseinandersetzungen um ihre Ansprüche und Rechte vgl. Gröschel, Karl: Des Camerarius Entwurf der Nürnberger Medizinalordnung „Kurtzes und ordentliches Bedencken“ 1571, med. Diss., München 1977; für Augsburg sind die Aktivitäten des Collegiums in einem umfangreichen – derzeit wegen Schädlingsbefalls aber leider nicht zugänglichen – Aktenbestand dokumentiert. 5 | Milt, Bernhard: Vadian als Arzt, hg. v. Conradin Bonorand, St. Gallen 1959.

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Die Funktionen und Tätigkeitsfelder, welche die Ärzte dank ihrer akade­ mischen Ausbildung besetzen und ausfüllen konnten, waren vielfältig. Nicht wenige Ärzte wirkten im Laufe ihrer Karriere in unterschiedlichen Kontexten und hatten nacheinander – und manchmal auch gleichzeitig – diverse Posi­ tionen und Ämter inne. Am weitesten verbreitet war die freie Praxis, in der Regel in einer größeren Stadt, die eine ausreichend zahlungskräftige Klientel versprach. Viele Ärzte übernahmen zumindest vorübergehend auch das Amt eines Stadtarztes und/oder betreuten gegen ein festes Gehalt städtische Hospi­ täler, Lazarette, Franzosenhäuser und ähnliche Einrichtungen.6 Manche Ärzte wurden als Universitätsprofessoren berufen – teilweise unmittelbar nach dem Studium, wie der Breslauer Schuhmachersohn Daniel Sennert.7 Besonders lu­ krativ und begehrt, allerdings auch durch ein starkes Abhängigkeitsverhältnis geprägt, war eine Anstellung als Leibarzt einer hochrangigen Persönlichkeit, eines Königs oder eines Fürsten oder gar des Kaisers. Selbst ein Andreas Ve­ sal setzte seine Forschungen nicht mehr fort, nachdem ihn seine De humani corporis fabrica libri septem europaweit berühmt gemacht hatten. Er gab seine Professur auf und nahm statt dessen eine Stellung als kaiserlicher Leibarzt an. Als Forscher und Schriftsteller trat er so gut wie nicht mehr in Erscheinung.8 Gleich ob sie sich auf die private Praxis beschränkten, als höfische Leib­ärzte wirkten oder als Stadtärzte öffentliche Aufgaben wahrnahmen, hatten die meis­ten Ärzte, soweit dies aus den überlieferten Quellen erkennbar wird, eines gemeinsam: Sie pflegten und lebten zeitlebens einen gelehrten Habitus.9 Die Ärzte hatten insbesondere einen ganz wesentlichen Anteil an der regen brief­

6 | Zur Figur des Stadtarztes siehe die Beiträge in Russel, Andrew W. (Hg.): The Town and State Physician in Europe from the Middle Ages to the Enlightenment (= Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 17), Wolfenbüttel 1981; Schilling, Ruth/Schlegelmilch, Sabine/ Splinter, Susan: Stadtarzt oder Arzt in der Stadt? Drei Ärzte der Frühen Neuzeit und ihr Verständnis des städtischen Amtes, in: Medizinhistorisches Journal 46 (2011), S. 99– 133; breit recherchierte Nürnberger Fallstudien bieten König, Klaus G.: Der Nürnberger Stadtarzt Dr. Georg Palma (1543–1591), Stuttgart 1961, sowie Assion, Peter/Telle, Joachim: Der Nürnberger Stadtarzt Johannes Magenbuch. Zu Leben und Werk eines Mediziners der Reformationszeit, in: Sudhoffs Archiv 56 (1972), S. 353–421. 7 | Vita Danielis Sennerti, in: Daniel Sennert: Opera omnia, Lyon 1656 (ohne Seiten­ zählung). 8  |  Zur Biographie Vesals vgl. O’Malley, Charles D.: Andreas Vesalius of Brussels 1514– 1564, Berkeley, Cal./Los Angeles 1965. 9 | Zu beachten ist allerdings, dass die Quellenüberlieferung für die gelehrten, gut vernetzten Ärzte überdurchschnittlich gut sein dürfte, im Vergleich etwa zu dem einen oder anderen Stadtarzt, der sich im Wesentlichen auf seine Patienten konzentrierte.

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lichen Kommunikation innerhalb der zeitgenössischen Gelehrtenrepublik.10 Zehntausende von Briefen aus ärztlicher Feder sind aus dem 16. und 17. Jahrhundert überliefert.11 Manche Ärzte, wie Crato von Krafftheim (1519–1585) oder Caspar Peucer (1525–1602) unterhielten eine derart ausgedehnte Korrespondenz, dass das Briefeschreiben einen nicht unerheblichen Teil ihrer täglichen Arbeitszeit in Anspruch genommen haben dürfte.12 Nicht selten ging es in diesen Briefen um medizinische Fragen im engeren Sinne, womöglich gar um konkrete Fälle, um gemeinsame Patienten. In vielen Briefe befassten sich die ärztlichen Verfasser aber auch mit Themen, die weit jenseits der Grenzen ihrer Disziplin lagen und im weiteren Sinne der humanistischen Gelehrsamkeit zuzurechnen sind, von der Genealogie und Ortsgeschichte bis zu Sprachforschungen und Numismatik.13 So manch ein Arzt schrieb auch Gedichte. Oft waren das Lob- oder Widmungsgedichte und ähnliche Gelegenheitswerke, wie wir sie häufig als Paratexte in medizinischen Werken finden, aber es gab auch sehr erfolgreiche, berühmte Dichter unter den Ärzten, wie Johannes Posthius (1537–1597) und Petrus Lotichius (1528–1560). Selbst in ihren kurzen Einträgen in die damals verbreiteten Stammbücher oder Alba amicorum unterstrichen Medizinstudenten und Ärzte immer wieder ihre Kenntnis des antiken kulturellen Erbes, der Philosophen, Dichter und Historiker oder verewigten sich gar mit Zitaten in griechischer Schrift.14 Manche Ärzte sammelten gar entsprechende Stellen und Zitate für die spätere Verwendung in Briefen, Gedichten, Vorworten und dergleichen in Form von handschriftlichen Loci communes, der 10 | Exemplarische Fallstudie bei Walter, Tilmann: Ärztliche Selbstdarstellung im Zeit­ alter der Fugger und Welser. Epistolarische Strategien und Repräsentationspraktiken bei Felix Platter (1536–1614), in: Angelika Westermann/Stefanie von Welser (Hg.): Personen und Milieu. Individualbewusstsein? Persönliches Profil und soziales Umfeld, Husum 2013, S. 285–314. 11  |  Die Briefdatenbank des in Würzburg angesiedelten Projekts „Frühneuzeitliche Ärzte­ briefe“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erfasst momentan bereits circa 20.000 von Ärzten aus dem deutschsprachigen Raum geschriebene oder an diese ge­ richtete Briefe. Ungefähr 15.000 weitere sind bereits erschlossen (vgl. www.aerztebriefe. de). 12 | Gillet, Johann Franz Albert: Crato von Crafftheim und seine Freunde. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte. 2 Teile, Frankfurt am Main 1860; Hasse, Hans Peter/Warten­ berg, Günther (Hg.): Caspar Peucer 1525–1602. Wissenschaft, Glaube und Politik im konfessionellen Zeitalter, Leipzig 2004. 13 | Universitätsbibliothek Erlangen, Sammlung Trew, Brief von Adolph Occo III an Jo­ achim Camerarius II, Augsburg, 12.2.1575, mit Hinweis auf seine numismatischen For­ schungen und auf seine Absicht, die Ergebnisse zu publizieren. 14 | Vgl. z.B. National Library of Medicine, Bethesda, Ms E77, Album amicorum von Conrad Gessner.

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typischen gelehrten Aufschreibepraxis der Zeit.15 Rund 1.100 Seiten mit solchen Loci communes zu nicht-medizinischen Themen sind beispielsweise aus der Feder des böhmischen Arztes Georg Handsch (1529–1578?) überliefert.16 Auffällig viele Ärzte traten mit historischen Forschungen hervor.17 Manche Ärzte beschäftigten sich auch intensiv mit naturphilosophischen Themen oder wurden gar in erster Linie als gelehrte Naturforscher bekannt. Sie trieben mineralogische oder zoologische Studien, Georg Agricola (1494–1555) oder Konrad Gessner (1516–1565), oder beschrieben, wie der eben erwähnte Georg Handsch, moderne Methoden der Fischzucht.18 Andere machten sich als Astrologen und Astronomen einen Namen. Nicolaus Kopernikus (1473–1543) und Girolamo Cardano (1501–1576) sind zwei berühmte Beispiele. Der junge Johannes Magirus (1615–1697) beschäftigte sich mit Festungsbau.19 Heinrich Stromer alias Dr. Auerbach (1476–1542) war Autor eines mehrfach aufgelegten Mathematikbuchs.20 Der gelehrte Habitus, der Anspruch auf Teilhabe an der zeitgenössischen res publica litteraria, kam auch ikonographisch zum Ausdruck. Wenn sich promovierte Ärzten abbilden ließen, beispielsweise in Autorenporträts, zeigten sie sich regelmäßig nicht etwa am Krankenbett, dort also, wo sie in erster Linie ihrer ärztlichen Praxis nachgingen, sondern in der häuslichen Studierstube, umgeben von Büchern, Schreibgeräten und anderen Attributen der Gelehrsamkeit. Diese (Selbst-)Darstellung des Arztes, der hier als Auftraggeber auf die Gestaltung des Bildes Einfluss nehmen konnte, stand in einem deutlichen Gegensatz zu Darstellungen des Arztes in der zeitgenössischen Genremalerei. 15 | Staatsbibliothek Berlin, Ms. Lat. Qu. 41, humanistische loci communes von Salo­ mon Alberti; zum Genre vgl. Stolberg, Michael: Medizinische Loci communes. Formen und Funktionen einer ärztlichen Aufzeichnungspraxis im 16. und 17. Jahrhundert, in: NTM – Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 21 (2013), S. 37–60. 16 | Österreichische Nationalbibliothek, Wien (ÖNB), Cod. 9550, Promptuarium sive loci communes latinitatis von Georg Handsch (um 1550). 17  |  Pomata, Gianna/Siraisi, Nancy G. (Hg.): Historia. Empiricism and Erudition in Early Modern Europe, Cambridge, Mass. 2005; Siraisi, Nancy G.: History, Medicine and the Traditions of Renaissance Learning, Ann Arbor, Mich. 2007. 18 | Vgl. die Edition der betreffenden Abschnitte in seiner nur handschriftlich überlie­ ferten Historia animalium in Handsch, Georg: Die Elbefischerei in Böhmen und Meißen, bearb. v. Ottokar Schubert, Prag 1933. 19 | Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 392, Mathematische und sonstige Exzerpte des Arztes Johannes Magirus (Mitte 17. Jahrhundert). 20 | Stromer, Heinrich: Algorithmus linealis numerationem, additionem, subtractionem, duplationem, mediationem, multiplicationem, divisionem et progressionem una cum re­g ula de tri perstringens, Leipzig 1504.

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Sie zeigen den Arzt fast immer als harnschauenden und/oder pulsfühlenden Praktiker am Krankenbett.21

1.  Ä rz tliches S elf -F ashioning Das gelehrte Selbstverständnis und der gelehrte Habitus der damaligen Ärz­ te sind bei genauerer Betrachtung keineswegs selbstverständlich. Schließlich lebte die überwältigende Mehrheit der Ärzte von der ärztlichen Praxis, von der Behandlung von Kranken. Auch jene, die sich als Festungsbauer, Sternenkun­ dige oder Dichter profilierten, konnten davon nur in seltenen Ausnahmen eine Familie ernähren oder ihren Söhnen ein Studium ermöglichen. Von ihrem Einkommen aus der Praxis hing aufgrund der bescheidenen Besoldung in al­ ler Regel auch das wirtschaftliche Fortkommen von Stadtärzten und Professu­ ren ab. Mit jährlichen Gehältern von 60 oder selbst 120 Gulden, wie wir sie in stadtärztlichen Bestallungsurkunden finden,22 war nicht groß Staat zu machen – erst recht, wenn das Geld, wie manche Stadtärzte klagten, nicht zuverlässig ausbezahlt wurde. Anders als an den großen italienischen Universitäten ver­ sprach auch eine Professur nördlich der Alpen noch lange keine Reichtümer. Und selbst Leibärzte großer Fürsten wurden nicht immer auch fürstlich be­ zahlt.23 Warum also pflegten so viele Ärzte in dieser Situation dennoch einen ge­ lehrten Habitus? Warum verbrachten sie nach eigenem Bekunden viele nächt­ liche Stunden mit Korrespondenz und gelehrten Studien? War all das nur Selbstinszenierung? Hofften sie, auf diese Weise Anerkennung zu finden und, darauf gestützt, entsprechend lukrativere Positionen zu erringen, womöglich zum Leibarzt eines großen Fürsten aufzusteigen? Oder brachte dieser gelehrte Habitus vielmehr ihre „wahre“ Identität zum Ausdruck, war Ergebnis einer jahrelangen Selbstbildung? Konnten sie gewissermaßen gar nicht anders, als sich auf diese Weise als gelehrte, humanistische Subjekte zu entwerfen? 21 | Jurina, Kitti: Vom Quacksalber zum Doctor medicinae. Die Heilkunde in der deutschen Graphik des 16. Jahrhunderts, Köln 1985, bes. S. 34–37; Fürst, Susanne: Das Arztporträt in der Frühen Neuzeit, med. Diss., Regensburg 2009. 22 | Beispielsweise Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt, Dienstbriefe 978, Bestallungsurkunde für Bechtold Bach zum Stadtarzt mit 60 Gulden und 15 Batzen jährlich, 28.2.1589 (Datenbank des Projekts „Frühneuzeitliche Ärztebriefe“); Stadtarchiv Memmingen, Bestallungsurkunde (Konzept) für David Stegmann zum Stadtarzt, 1621, mit 60 Gulden jährlich und weiteren 15 Gulden vierteljährlich sowie Buchenholz. 23 | Staatsarchiv Würzburg, Standbuch 794, Bestallungsurkunde (Abschrift) für Johannes Posthius zum Leibarzt des Fürstbischofs vom 22.2.1569, mit 100 Talern (ca. 115 Gulden) jährlich (Datenbank des Projekts „Frühneuzeitliche Ärztebriefe“).

Zwischen Identitätsbildung und Selbstinszenierung

Für beide Annahmen lassen sich Belege finden, aber letztlich, das wird gleich noch deutlicher werden, implizieren diese Frage eine falsche Alterna­ tive. Selbstbildung und Selbstinszenierung waren untrennbar miteinander verknüpft. Sie waren zentrale und in mancher Hinsicht komplementäre As­ pekte ärztlichen „Self-Fashionings“, um einen Terminus aufzugreifen, den der amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt vor Jahren in die Forschung eingeführt hat.24 Im 16. Jahrhundert, so Greenblatts Ausgangsbe­ fund, wurde der Begriff des „fashioning“ weithin gebräuchlich „as a way of designating the forming of a self“. Darin sei ein neues Vertrauen in die Mög­ lichkeiten der eigenen Lebensgestaltung zum Ausdruck gekommen oder, all­ gemeiner gesprochen, „an increased self-consciousness about the fashioning of human identity as a manipulable, artful process“.25 Mit dem Konzept des „SelfFashioning“ suchte Greenblatt jene letztlich unauflösbare Verschränkung von Subjektivität und Gesellschaft zu fassen, welche die historische Erforschung bis heute umtreibt,26 zwischen dem Individuum, das sich als Gestalter der ei­ genen Identität erlebt, und dem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext, der unausweichlich schon die Ausformung dieser Identität oder Sub­ jektivität entscheidend bestimmt. „Fashioning oneself and being fashioned by cultural institutions – family, religion, state – were inseparably intertwined“, fasste Greenblatt die Ergebnisse seiner Untersuchung zusammen.27 In seiner Einschätzung der Autonomie selbst führender englischer Lite­ raten des 16. Jahrhunderts kam Greenblatt, der sich hier ausdrücklich auch auf die kulturanthropologischen Arbeiten von Clifford Geertz bezog, zu einem zeittypisch sehr skeptischen Fazit: „If there remained traces of free choice, the choice was among possibilities whose range was strictly delineated by the so­ cial and ideological system in force.“ 28 In der neueren historischen Forschung zeichnet sich dagegen, wie die Herausgeber eines Bandes zu „Selbstbildun­ gen“ es jüngst formuliert haben, „die Neigung ab, ein neues, revidiertes Sub­ jektverständnis zu entwickeln, das zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsmächtigkeit, Reflexionsvermögen, Selbstbezug und Identität (wieder) Rechnung trägt, ohne jedoch hinter die Einsicht in die Historizität 24 | Greenblatt, Stephen: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago/London 1980. 25 | Ebd. S. 2. 26 | Rezenter historiographischer Überblick bei Buschmann, Nicolaus: Persönlichkeit und geschichtliche Welt. Zur praxeologischen Konzeptualisierung des Subjekts in der Geschichtswissenschaft, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 125–149. 27 | Greenblatt, S.: Renaissance Self-Fashioning, S. 256. 28 | Ebd.

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und Gesellschaftsgebundenheit des Subjekts zurückzufallen“. 29 Für die his­ torische Untersuchung der Identität der Angehörigen einer Berufsgruppe wie der Ärzte ist Greenblatts Konzept des „Self-Fashioning“ aber nicht nur wegen des Bemühens interessant, die Verschränkung zwischen Identitätsbildung und Kultur genauer zu fassen. Es verweist zugleich auf ein zweites Wechsel­ verhältnis, das gerade für das Verständnis professioneller Identitäten zentral ist, nämlich jenes zwischen Selbstbildung und Selbstinszenierung. „Self-Fa­ shioning“ in Greenblatts Sinne bezieht sich nicht nur auf Prozesse der Sub­ jektivierung, sondern auch auf die Selbstdarstellung nach außen, auf die Aus­ formung eines öffentlichen „Selbst“, auf die „representation of one’s nature or intention in speech or actions“, ja auf „hypocrisy or deception“.30 Wenn wir aus praxeologischer Perspektive davon ausgehen, dass Selbstbildung maßgeblich über Praktiken vermittelt wird,31 dann heißt das aber: Jene – sprachlichen wie nicht-sprachlichen – Praktiken, derer sich Angehörige einer Berufsgruppe be­ dienen, um sich nach außen wirksam in Szene zu setzen, wirken entscheidend auch auf das eigene Selbstverständnis, die Identität der Betroffenen zurück, ja sind mit dieser untrennbar verwoben. In diesem Sinne möchte ich im Folgenden – im Wesentlichen für den deutschsprachigen Raum und die Zeit zwischen 1500 und 1650 – einen klei­ nen Überblick über wesentliche Aspekte des beruflichen Self-Fashionings frühneuzeitlicher Ärzte zwischen Selbstbildung und Selbstinszenierung ge­ ben und den subtilen, aber langfristig sehr wirkmächtigen Veränderungen nachgehen, die sich hier abzeichnen.

2. G elehrter H abitus Vieles spricht dafür, dass der von den Ärzten nachhaltig gepflegte gelehrte Habitus Ergebnis und Spiegel einer jahrelangen Sozialisation und der damit verbundenen Einübung einschlägiger gelehrter Praktiken war. Da war als we­ sentliche Grundlage, von Kindesalter an, die intensive Schulung in der lateini­ schen Sprache. „Formasti mihi ad altiora latos gressus“, dankte der böhmische Arzt Georg Handsch später seinem Lehrer im heimischen Leipa.32 An füh­ 29 | Alkemeyer, Thomas/Budde, Gunilla/Freist, Dagmar: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Selbst-Bildungen, S. 9–30, hier S. 9 (Hervorh. im Orig). 30 | Greenblatt, S.: Renaissance Self-Fashioning, S. 3. 31 | Vgl. Alkemeyer, Thomas: Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik, in: T. Alkemeyer/G. Budde/D. Freist (Hg.): Selbst-Bildungen, S. 33–68. 32 | ÖNB, Cod. 9821, fol. 24 r-26 v, autobiographisches Gedicht „ad praeceptorem“ („Agrestem quoniam imbuisti mentem praeceptis, rudimenta prima monstrans,

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renden Lateinschulen, wie der im schlesischen Goldberg, sollen die Schüler sogar in ihrer Freizeit Latein miteinander gesprochen haben.33 Es gab Väter wie den Arzt Wolfgang Reichart, der mit seinem Sohn schon in frühen Jahren auf Latein korrespondierte.34 Diese sprachliche Schulung vermittelte zugleich eine eingehende Kenntnis der Werke der maßgeblichen Schriftsteller der römischen und teilweise auch der griechischen Antike. Solche Kenntnisse und Fertigkeiten wurden an den artes-Fakultäten, im Studium der freien Künste, vertieft. Hier wurden weiterhin insbesondere sprachliche, logische und rhetorische Fertigkeiten geschult und die Vertrautheit mit dem klassischen Erbe nochmals intensiviert. Hinzu kamen, in je nach Universität unterschiedlicher Intensität, Musik, Naturphilosophie, Astronomie und Mathematik. Wenn zukünftige Ärzte schließlich – in der Regel mit gut 20 Jahren – das Baccalaureat oder den Magistergrad erwarben – hatten sie also bereits mehr als ein Jahrzehnt auf das Studium des gelehrten lateinischen Erbes verwendet. Sie waren „Humanisten“ – ausgebildet in den studia humanitatis. Ein Medizinstudium war an diesem Punkt nur eine Option von vielen – und eine Option, die nicht zuletzt aufgrund der hohen Kosten bei weitem nicht allen offen stand. Eine zunächst recht merkwürdig anmutende Liste mit Berufsbezeichnungen auf der ersten Seite eines der umfangreichen handschriftlichen Notizbücher, die der böhmische Arzt Georg Handsch (1529–1578?) hinterlassen hat, führt dies anschaulich vor Augen. Handsch, damals ein junger Mann von 19, 20 Jahren, reihte eine Reihe von unterschiedlichen Berufen oder Arbeitsbereichen untereinander: „poeta“ heißt es da, „orator“, „arithmeticus“, „musicus“, „grammaticus“, „de variis rebus (sic)“, „medicus“, „organista“ , „nigromanticus“. Weitere Begriffe hat Handsch offenbar später noch hinzugefügt: „dialecticus“, „lector“ und „praestigiator“. Der Sinn dieser Liste erhellt sich aus weiteren Eintragungen auf den folgenden beiden Seiten. Sein magister, heißt es da beispielsweise, wolle ihn als arithmeticus für die Metallhütte des Herrn Gendorf empfehlen. Der „Herr“ – vermutlich ist hier kein menschlicher Herr, sondern Gott gemeint – möge „ausrichten, das ich Lector zu Prag ynn der Universitet werde“ steht auf deutsch zwischen lateinischen Einträgen. „Stadtschreiber werden“, lautet ein weiterer Eintrag.35 Es kann kaum Zweifel f­ormasti mihi ad altiora latos gressus“); später korrigierte er „rudimenta“ zu „elementa“. 33 | Bauch, Gustav: Valentin Trozendorf und die Goldberger Schule, Berlin 1921. 34 | Ludwig, Walther: Vater und Sohn im 16. Jahrhundert. Der Briefwechsel des Wolfgang Reichart genannt Rychardus mit seinem Sohn Zeno (1520–1543), Hildesheim 1999; auch der Sohn, Zeno, wurde später Arzt. 35  |  ÖNB, Cod. 9666, fol. 1r; Handsch datierte den Beginn seiner Notizen in dieser Handschrift auf den 23.9.1547. Die Liste dürfte er später hinzugefügt haben, muss dies aber getan haben, ehe er sich 1551 auf den Weg nach Padua machte, um Medizin zu studieren.

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geben: Hier entwarf der junge Handsch mögliche berufliche Zukunftspers­ pektiven. Das Spektrum hätte kaum breiter sein können, aber mit Ausnahme des Zauberers (praestigiator) – er kannte einige Zauberkunststücke – und viel­ leicht noch des Schwarzkünstlers (nigromanticus), gründeten seine Optionen letztlich alle auf seiner Ausbildung in den freien Künsten. Medizin konnte er am Ende offenbar nur deshalb studieren, weil er das Wohlwollen des erzher­ zoglichen Leibarztes Andreas Gallus gewonnen hatte, der ihm das Studium bezahlte, weil er wollte, dass Handsch mit seinem Sohn nach Padua ging.36 Vom Sonderfall mancher Arztsöhne einmal abgesehen, waren die meisten späteren Ärzte keineswegs von vornherein zum Arzt bestimmt. Selbst jene, die an das Artes-Studium ein Studium in einer der drei höheren Disziplinen anschließen wollten und konnten, hatten die Wahl zwischen Medizin, Theolo­ gie und Jurisprudenz. In zeitgenössischen Briefwechseln finden wir entspre­ chende Diskussionen, ob der eigene Sohn oder ein anderer vielversprechender junger Mann den Arztberuf ergreifen oder vielleicht lieber Jurisprudenz oder Theologie studieren sollte.37 Und manch einer entschied sich erst später für ein Medizinstudium und arbeitete zunächst als Hofmeister oder Erzieher der Söhne von Fürsten und Adligen oder wirkte, wie Georg Agricola, in Zwickau als Schulmeister –, nicht zuletzt die protestantische Reformation eröffnete hier neue Perspektiven. Das Studium der Medizin baute dann über weite Strecken auf den bislang erworbenen gelehrten Kenntnissen und Fertigkeiten auf und trug insofern dazu bei, den erworbenen Habitus des Gelehrten noch zu verfestigen. Erstes Ziel waren eine umfassende Kenntnis der autoritativen medizinischen Texten der Antike und des Mittelalters und ihrer modernen Kommentatoren und die Fähigkeit, sich mit den Widersprüchen und offenen Fragen, die diese Texte aufwarfen, argumentativ auseinanderzusetzen. Vorlesungen waren regelmä­ ßig der ausführlichen Exposition und Kommentierung solcher Texte gewid­ met. In öffentlichen collegia und Disputationen wurden die Studenten in der Kunst der gelehrten Debatte geschult.38 36  |  Handschs (wenige) Biographen vermuteten bislang die Unterstützung durch einen Adligen, doch Handsch notierte in der zitierten Liste von Zukunftsoptionen: „Doctor Gallus vult me mittere in Italiam cum filio suis sumptibus“; nach der Rückkehr lebte und arbeitete er mit Gallus zusammen. Handsch war insofern untypisch, als er zwar offenbar an der Karls-Universität in Prag studierte, aber nie einen Abschluss erwarb; als er in Ferrara die Promotion erlangen wollte, täuschte er einen solchen nur erfolgreich vor. 37 | Ludwig, W.: Vater und Sohn, S. 224–227, Briefe von Wolfgang an Zeno Reichart, 22.2.1524 u. 24.2.1524. 38 | O’Malley, Charles Donald: Medical Education during the Renaissance, in: Ders. (Hg.): History of Medical Education, Berkeley, Cal./Los Angeles 1970, S. 89–102; Byle­ byl, Jerome J.: The School of Padua: Humanistic Medicine in the Sixteenth Century, in:

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3. G elehrte S elbstinszenierung Über ihre gesamte Jugend wurden die zukünftigen Ärzte also an die zeitge­ nössische Kultur der Gelehrsamkeit und ihre Praktiken herangeführt und eigneten sich einen gelehrten Habitus an – und das nicht selten ohne klare Vorstellungen über ihre berufliche Zukunft. Dieser gelehrte Habitus der pro­ movierten Ärzte, so dürfen wir annehmen, war entsprechend tief verwurzelt und ein wesentlicher Aspekt ihrer Identität. Er stand jedoch in einem bemer­ kenswerten Spannungsverhältnis zu ihrer beruflichen Tätigkeit. In ihrer all­ täglichen Arbeit, bei der Diagnose und Behandlung von Krankheiten, beweg­ ten sie sich in einer Welt, die sich in vielerlei Hinsicht sehr tiefgreifend von jener der akademischen Gelehrsamkeit unterschied. Nicht das gelehrte Schrei­ ben, sondern der kreatürliche Leib stand hier im Mittelpunkt und der – nur allzuoft vergebliche – Versuch, den Kranken von seinem Leiden zu befreien, sein Leben zu retten. Tagtäglich waren die Ärzte hier mit Klagen und Schmer­ zensschreien konfrontiert. Schlimmer noch, in einer Zeit, in der Umgang mit „Unreinem“ in hohem Maße stigmatisierend wirkte, mussten sie sich ständig mit ekelerregenden Ausflüssen auseinandersetzen, mit Geschwüren, Hautausschlägen und Eiter­ beulen und vor allem mit den übelriechenden Ausscheidungen der Patienten. Die meisten Krankheiten wurden damals nämlich auf faulige, verdorbene, verbrannte oder in anderer Weise schädliche Krankheitsstoffe zurückgeführt, die sich im Körper angesammelt hatten. Da sich der Körper nach allgemeiner Überzeugung von diesen Krankheitsstoffen über die Ausscheidungen zu be­ freien suchte, eröffnete der genaue Blick auf diese wertvolle Aufschlüsse über die Natur des betreffenden Krankheitsstoffes. Das mit Abstand wichtigste Di­ agnoseverfahren war die Harnschau. Bei der Betrachtung des Stuhls musste der Arzt diesen gar buchstäblich mit einem Stöckchen rühren und anheben, um beispielsweise Beimengungen von krankhaftem Schleim erkennen zu können. Die ärztliche Behandlung zielte in der Regel ihrerseits darauf, den Körper in diesem Bemühen zu unterstützen: Harntreibende Arzneien, Ab­ führmittel und/oder Brechmittel waren die Basis fast jeder Behandlung – und auch hier erforderte die Einschätzung der Wirksamkeit den sorgfältigen Blick

Charles Webster (Hg.): Health, Medicine and Mortality in the Sixteenth Century, Cambridge 1979, S. 335–370; Siraisi, Nancy: The Faculty of Medicine, in: Hilde de RidderSymoens (Hg.): A History of the University in Europe, vol. I: Universities in the Middle Ages, Cambridge 1992, S. 360–387; Nutton, Vivian: Medicine at the German Universities, 1348–1500. A Preliminary Sketch, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen (1997), S. 173–187; Siraisi, Nancy (Hg.): Medicine and the Italian Universities 1250– 1600, Leiden 2001.

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auf die Exkremente, die beispielsweise eine unappetitliche, stinkende Materie erkennen ließen, die dann mit dem Krankheitsstoff gleichgesetzt wurde. Mit der Würde eines gelehrten Arztes war solches Tun nur schwer ver­ einbar. Agrippa von Nettesheim legte den Finger in die Wunde: Die ärztliche Kunst sei „unflätig“, lautete sein vernichtendes Urteil. Die Ärzte gingen „um des Kranken Seichscherbel und Kackhäuser rum, nur wegen des schändlichen Gewinstes“. Sie seien „meistenteils ansteckend, und vom Harn und Kote der Patienten stinkend“, „ja unflätiger als die Hebammen selbsten, indem sie gars­ tige und unflätige Sachen mit ihren Augen ansehen, und der Patienten Gerülp­ se und Farzen [sic!] anhören und riechen müssen“.39 Zeno Reichart sei „nicht zu Kot und Urin geboren“, begründete ein befreundeter Apotheker seinen Rat, der junge Mann solle lieber Recht als Medizin studieren.40 Nicht nur die brutale Realität des kranken oder verwundeten Körpers und die unvermeidliche Beschäftigung mit den Exkrementen standen in einem augenfälligen Widerspruch zum gelehrten Selbstverständnis der Ärzte. Auch die Menschen, mit denen sie tagtäglich zu tun hatten, die Patienten und ihre Angehörigen, gehörten vielfach einer anderen Welt an. Lange Zeit glaubte die Geschichtsforschung, die studierten Ärzte hätten bis ins 18. Jahrhundert hi­ nein fast ausschließlich vornehme, reiche und damit entsprechend gebildete Patienten behandelt.41 Aber mittlerweile wissen wir aus Praxisjournalen, ärzt­ lichen Notizbüchern und publizierten Fallgeschichten, dass damals auch viele Handwerker, Bauern, Händler und Dienstleute den Rat eines studierten Arz­ tes suchten und häufig die große Mehrheit der Patienten bildeten. In ihrem beruflichen Alltag hatten die Ärzte also vielfach mit Menschen zu tun, die nicht einmal richtig lesen und schreiben konnten.42 Dieses „Publikum“ entschied über den Ruf eines Arztes und damit über sein wirtschaftliches Fortkommen. Denn auf dem weitgehend unregulierten frühneuzeitlichen Gesundheitsmarkt konnten die Patienten und ihre Ange­ hörigen jederzeit einen anderen Arzt oder einen anderen weniger gebildeten Heilkundigen hinzuziehen oder zu diesem wechseln, wenn sie mit der ärztli­ chen Behandlung und deren Erfolg unzufrieden waren. Und das taten sie auch. 39 | Nettesheim, Agrippa von: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaft und die Verteidigungsschrift, hg. v. Fritz Mauthner, Bd. 2, München 1913, S. 79. 40  |  Ludwig, W.: Vater und Sohn, Brief von Wolfgang an Zeno Reichart, 24.2.1524 („non ad stercora et lotia esse natum“). 41  |  Jewson, Nicholas D.: Medical Knowledge and the Patronage System in 18th Centu­ ry England, in: Sociology 8 (1974), S. 369–385. 42 | Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 96, Medizinisches Tagebuch von Johannes Magirus (um 1650); Stadtbibliothek Ulm, H Franc. 8a und 8b, gesammelte Fallgeschichten von Johannes Frank; ÖNB, Cod. 11183, Cod. 11205, Cod. 11206, Cod. 11207, Cod. 11238 und Cod. 11240, Aufzeichnungen zur medizinischen Praxis von Georg Handsch.

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Das liebgewonnene Bild vom väterlichen Hausarzt früherer Jahrhunderte, der seine Patienten von der Wiege bis zur Bahre begleitete, ist eine Fiktion. Solche Treue war die Ausnahme. In den ärztlichen Praxisjournalen tauchen die meis­ ten Patienten nur punktuell, mit einer einmaligen Konsultation, oder allenfalls über wenige Tage und Wochen auf. Die Regel war der häufige und nicht selten rasche Wechsel von einem Arzt oder Heilkundigen zum nächsten.43 In dieser Situation musste sich der Arzt das Vertrauen der Patienten und ihrer Angehörigen immer wieder aufs Neue erwerben. Idealerweise gelang das, indem er überzeugende Beweise seiner überlegenen Kunst vorlegte. An­ gesichts des vergleichsweise teuren Honorars des Arztes durften die Patienten erwarten, dass er bessere Heilerfolge erzielte als die weniger gelehrte Kon­ kurrenz. Genau an diesem Punkt stießen die Ärzte jedoch immer wieder an ihre Grenzen. Sie selbst waren von der grundsätzlichen Überlegenheit ihrer Medizin überzeugt, und sie bedienten sich ihrerseits anderer Ärzte, wenn sie krank wurden.44 Gestützt auf ein Wissen, das in Jahrhunderten medizinischer Gelehrsamkeit akkumuliert worden war, und auf den Gebrauch ihrer akade­ misch geschulten ratio, glaubten sie zu einer weitaus wirksameren, genauer an den betreffenden Patienten und seine Krankheit angepassten Therapie ge­ langen zu können als ihre weniger gebildete Konkurrenz.45 In der alltäglichen Praxis, in der Behandlung der Patienten, blieben sie den Beweis ihrer Über­ legenheit aber oftmals schuldig. Ihre Heilerfolge waren keineswegs für jeder­ mann offenkundig jenen anderer Heiler überlegen. Rückblickend, wenn wir für einen Moment die Maßstäbe der modernen Medizin anwenden, überrascht das nicht. Die Aderlässe und die starken Abführ- und Brechmittel, die bei den meisten Krankheiten zum Einsatz kamen, waren nach heutigem Urteil eher schädlich, und Mittel, denen wir rückblickend eine spezifische Wirkung bei einzelnen Krankheiten zuschreiben würden, gab es kaum. Zwar wurden viele Patienten unter der ärztlichen Behandlung wieder gesund. Vor allem akute, fieberhafte Krankheiten, wie sie damals verbreitet waren, nehmen bekanntlich häufig einen günstigen Verlauf, ganz gleich, wie sie behandelt werden, und was wir heute als Placebowirkungen kennen, mag einen solchen Verlauf geför­ dert haben. Gleiches dürfen wir rückblickend aber auch für die „Heil­erfolge“ anderer, weniger gebildeter Heilkundiger annehmen. Auch sie stützten sich in

43 | Kungliga Biblioteket, Stockholm, X 101, Medicinisches Receptur-Diarium von Doktor Petrus Kirsten 1612–1616; Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 96, Medizinisches Tagebuch von Johannes Magirus (um 1650). 44 | Georg Handsch schildert beispielsweise diverse Krankheiten, die er selbst oder ärztliche Kollegen durchmachten und bei denen sie ihrerseits andere Ärzte zu Rat zogen. 45 | Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 96, Medizinisches Tagebuch von Johannes Magirus (um 1650).

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besonderem Maße auf „entleerende“ Mittel und Verfahren und auch sie hatten viele zufriedene Patienten. Vor diesem Hintergrund bot der öffentlichkeitswirksam inszenierte An­ spruch auf Gelehrsamkeit ein wesentliches Distinktionsmerkmal. Mit seiner Hilfe konnten die studierten Ärzte hoffen, sich, unabhängig vom Erfolg ihrer Bemühungen am einzelnen Patienten, als Vertreter einer Berufsgruppe mit ei­ ner überlegenen Expertise von der zahlreichen Konkurrenz abzugrenzen. Der akademische Titel des doctor, der schließlich als „Herr Doktor“ zum Synonym speziell für den universitär gebildeten Arzt, den doctor medicinae, wurde, war das entscheidende Attribut, das solche Überlegenheit nach außen signalisierte – auch wenn die Prüfung, abgesehen von den hohen Kosten, in der Regel keine sonderlich schwierige Hürde darstellte. Mit gutem Grund fügten die Ärzte, beispielsweise auf Briefen, diesen Titel regelmäßig ihren Unterschriften hin­ zu. Ein fehlender Doktorgrad diente den neuen Medizinalkollegien umgekehrt als entscheidendes Kriterium für die Zurückweisung von auswärtigen Ärzten, die um die Erlaubnis zur Praxis nachsuchten.46 Nicht nur mit ihrem Titel, auch im konkreten Umgang mit den Patienten und ihren Angehörigen setzten sich die Ärzte als Gelehrte in Szene, zumin­ dest soweit sich dies aus den schriftlichen Ratschlägen erschließen lässt, die sie wohlhabenden Patienten im Rahmen der damals in den höheren Schichten recht verbreiteten brieflichen Fernbehandlung erteilten. Sie benutzten griechi­ sche und lateinische Fachbegriffe, von denen sie annehmen mussten, dass der Patient sie nicht verstand. Sie erläuterten den Kranken ihre Diagnosen mit komplizierten Theorien und streuten auch gern einschlägige, womöglich sogar in der Originalsprache gehaltene Zitate aus Hippokrates, Galen oder Avicenna ein, vermutlich wohlwissend, dass die Patienten diese nicht einmal entziffern, geschweige denn nachprüfen konnten.47 Manche Ärzte verstanden es auch, sich einer breiten Öffentlichkeit als Ex­ perten zu präsentieren. Einzelne Ärzte, wie der junge Basler Arzt Felix Platter, veranstalteten erfolgreich öffentliche Anatomien, die dem zahlreichen Publi­ kum eindrucksvoll ihre eingehende Kenntnis der Strukturen im geheimnis­ vollen Körperinneren vor Augen führte, dort also, wo die meisten Krankhei­ 46 | Stadtarchiv Augsburg, Akten des Medizinalkollegiums. 47 | Nur einige Beispiele aus einer Fülle von Schriften: Glaubitz, Michael von: Zwo Hauß­t affeln und Underricht fur die Reichen und Armen zur Sommer und Winterzeit ­w ider die fürstehende schrecklich end wegfressende Pestilentz, Mainz 1584; Starck, An­ dreas: Krancken Spiegel, Mülhausen 1598; Wittich, Johannes: Praeservator sanitatis. Ein nützlicher Bericht von den sechs unvormeidlichen Dingen, zur Gesundheit gantz ersprießlichen, wie man sich in denselben beydes zu Hause und auch über Land verhalten sol, Leipzig 1590; Beverwijk, Johan van: Schatz der Gesundheit, das ist, kurtzer Begrif der algemeinen Bewahrkunst, Amsterdam 1671.

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ten entstanden.48 Andere verfassten volkssprachliche Ratgeber zum richtigen Verhalten in Pestzeiten oder im Umgang mit der Franzosenkrankheit und überhaupt zu einer gesundheitsgerechten Lebensführung. Neben den from­ men Erbauungsschriften war die medizinische Ratgeberliteratur vermutlich das auf dem damaligen Buchmarkt erfolgreichste Genre überhaupt. Auch die oftmals ärztlichen Autoren der weitverbreiteten astrologisch-medizinischen Kalender und Almanache bedienten nicht nur einen lukrativen Markt, son­ dern präsentierten sich zugleich einer breiteren Öffentlichkeit als Träger eines überlegenen und für das Gemeinwohl wie für den einzelnen unverzichtbaren Wissens. Denn zunächst mussten die Planetenstände jeweils für den betref­ fenden Ort oder die betreffende Region berechnet und daraus die günstigen und ungünstigen Tage beispielsweise für einen Aderlass oder die Gabe von Arzneien bestimmt werden.49 Mit der Veröffentlichung von medizinischen Werken, die auch einen gewissen Nutzen für das Gemeinwohl versprachen, konnte man gegebenenfalls auch bei der Bewerbung um eine Stadtarztstelle punkten. So warb Marcus Banzer beim Augsburger Stadtrat damit, dass er nicht nur – im Gegensatz zu vielen anderen – unter anderem in Montpellier und Padua studiert, sondern auch eine Rezeptieranleitung, die „Fabrica Recep­ tarum“, herausgegeben habe.50 Der gelehrte Anspruch kam erst recht in den wissenschaftlichen Werken zum Ausdruck, mit denen manche Ärzte an die Öffentlichkeit traten.51 Mit Traktaten und Lehrbüchern konnten sie nicht nur ihren Platz in der res publica medica markieren, sondern sich auch im näheren Kollegenkreis einen Namen machen, was für die Weiterempfehlung von Patienten und die Beiziehung zu 48 | Stolberg, Michael: Eine anatomische Inszenierung. Felix Platter (1536–1614) und das Skelett der Frau, in: Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hg.): Spuren der Avantgarde: Theatrum anatomicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, Berlin/New York 2011, S. 147-167. 49 | Beispielsweise Melhofer, Philipp: Lasstafel oder Almannach […] Auff das MDXLIII Jare, Augsburg 1543; Magirus, Johannes: Alter und newer Schreib-Calender auff das Jahr [… ] M.DC.XVI. Auff den Berlinischen und der Marck Brandenburg […] Horizont fleissig und genau gerichtet, Altenburg 1646. 50 | Stadtarchiv Augsburg, Rat, Deputatio ad Collegium Medicum und die Apothekerordnung: CM VIII 54, Brief vom 7.3.1624 (Datenbank des Projekts „Frühneuzeitliche Ärztebriefe“); Banzer bezog sich auf sein Werk Fabrica receptarum. Id est: methodus brevis, perspicua ac facilis in qua quae sint remediorum compositorum formae, quae earundem differentiae, quae componendi & praescribendi ratio […] planissime edocetur, Augsburg 1622. 51 | Vgl. Stolberg, Michael: Frühneuzeitliche Heilkunst und ärztliche Autorität, in: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der Wissensgesellschaft, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 111–130.

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Konsilien wichtig sein konnte. Die Verfasser versahen ihre Texte in der Regel mit allen Attributen der Gelehrsamkeit, mit zahllosen lateinischen und manch­ mal auch griechischen oder gar hebräischen Zitaten, mit unzähligen Verweisen auf die medizinischen Autoritäten der Antike, und nicht selten auch mit viel­ fältig eingestreuten Belegen einer breiteren humanistischen Gelehrsamkeit, beispielsweise mit Zitaten lateinischer Dichter. Im medizinischen Humanis­ mus des 16. Jahrhundert und seinem Bemühen um eine möglichst präzise, philologisch geschulte Rekonstruktion der autoritativen Text der Antike traten diese gelehrten Elemente nochmals verstärkt in den Vordergrund.52 Selbst die Autoren von gesammelten Fallgeschichten, von curationes und observationes, ei­ nes neuen Genres, das in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend an Beliebtheit gewann, ergänzten ihre Fallgeschichten gerne durch gelehrte scholia, allen voran die beiden wichtigsten, einflussreichsten Vertreter dieser Genres, Amatus Lusitanus und Pieter van Foreest.53 Die öffentlichkeitswirksame Inszenierung ärztlicher Gelehrsamkeit war allem Anschein nach erfolgreich. In den Briefen beispielweise, die Patienten und Angehörige an Ärzte richteten, wurden diese häufig mit Anreden wie „hochgelehrter Herr Doctor“ adressiert.54 Allerdings waren der erfolgreichen Selbstinszenierung auch Grenzen gesetzt. Zumal angesichts der hohen Hono­ rare, welche die Ärzte forderten, war und blieb ihr häufiges (und im rückbli­ ckenden Urteil unvermeidliches) therapeutisches Scheitern am Krankenbett eine schwer zu überwindende Hürde auf dem Weg zu einer uneingeschränk­ ten Anerkennung ärztlicher Überlegenheit. Schlimmer noch, das gelehrte 52 | Zum medizinischen Humanismus siehe insbesondere Nutton, Vivian.: The Rise of Medical Humanism : Ferrara, 1464–1555, in: Renaissance Studies 11 (1997), S. 2–19; s.a. Bylebyl, Jerome: Medicine, Philosophy and Humanism in Renaissance Italy, in: John W. Shirley/F. David Hoeniger (Hg.): Science and the Arts in the Renaissance, Washington, D.C. 1985, S. 27–49; Kühlmann, Wilhelm/Telle, Joachim: Humanismus und Medizin im 16. Jahrhundert, in: Wilhelm Doerr (Hg.): Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986. Bd. I: Mittelalter und Frühe Neuzeit 1386–1803, Berlin 1985, S. 255–289. 53 | Lusitanus, Amatus: Curationum medicinalium centuria prima, multiplici variaque rerum cognitione referta, Florenz 1551; Foreest, Pieter van: Observationum et curationum medicinalium libri tres […] in quibus eorum caussae, signa, prognoses, curatio graphice depinguntur. Etiam adiectis scholiis, Leiden 1590; es folgten über 30 weitere Bücher mit medizinischen und chirurgischen Fallgeschichten. 54 | Bezeichnenderweise gilt das auch für Briefe an den kurfürstlich-brandenburgischen Leibarzt Leonhard Thurneisser, der – ohne je Medizin studiert zu haben – überaus erfolgreich das Gebaren eines gelehrten Arztes imitierte und damit ein großes Vermögen erwarb; vgl. z.B. Staatsbibliothek Berlin, Ms. germ. fol. 422b, Brief von Antonius Lubbersdorff an Thurneisser, 17.6.1578.

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Auftreten der Ärzte konnte sich an dieser Stelle sogar als kontraproduktiv erweisen und sie zur Zielscheibe beißenden Spotts machen. Die Ärztesatire hat eine jahrhundertealte Tradition – die Arztgestalten in den Dramen Moli­ ères sind nur das bekannteste Beispiel.55 Sie speiste sich vor allem aus der auch nach zeitgenössischem Dafürhalten augenfälligen Kluft, die sich zwischen dem gelehrten Anspruch der Ärzte, ihren hochtrabenden Begriffen, ihrem sprich­ wörtlichen Streit am Krankenbett einerseits und ihrem alltäglichen Scheitern bei der Diagnose- und Prognosestellung und bei der Behandlung der Krank­ heiten andererseits auftat. Die literarische Verhöhnung ließ sich verschmerzen, doch auch auf poli­ ti­scher Ebene, konnten die gelehrten Ärzte nur begrenzt die von ihnen be­ anspruchten Privilegien erlangen. Vor allem dort, wo sie ärztlich besetzte Medizinalkollegien etablieren konnten, erlangten sie zwar gewisse Aufsichts­ rechte, ihre lautstark vorgetragenen Forderungen aber, die Obrigkeiten möge energisch gegen all die „alten Weiber“, „Juden“, „Pfuscher“ und sonstigen un­ gebildeten Heilkundigen vorgehen,56 bei denen viele Kranke damals Rat such­ ten, verhallten weitgehend ungehört. Das kann nicht überraschen. Schließlich zogen auch Vertreter der Obrigkeit solche Heilkundigen hinzu, wenn sie selbst krank wurden, und auch manche Ärzte gestanden durchaus ein, dass Kranke unter der Behandlung eines ungebildeten Heilkundigen zuweilen eine merk­ liche Besserung erlebten. Selbst ein berühmter Medizinprofessor wie Vettore Trincavelli in Padua gab seinen Studenten die Botschaft mit auf den Weg, dass auch alte Weiber mit ihren Kräutertees Beachtliches bewirkten.57

4. S chmerzliche K ompromisse Um sich gegen die zahlreiche Konkurrenz auf dem frühneuzeitlichen Gesund­ heitsmarkt behaupten zu können, waren die Ärzte vor diesem Hintergrund immer wieder gezwungen, unliebsame Kompromisse einzugehen, gegen ihre moralischen und wissenschaftlichen Prinzipien und ihr gelehrtes Selbstver­ ständnis zu handeln. Das lässt sich an ganz unterschiedlichen Bereichen ärzt­ lichen Handelns festmachen. 55 | Slater, John/López Terrada, Maria Luz: Scenes of Mediation: Staging Medicine in the Spanish Interludes, in: Social History of Medicine 24 (2011), S. 226–243. 56 | Schon im Titel programmatisch: Horer, Ananius: Artzney-Teuffel, oder kurtzer Discurs, darinn diesem Ertzmörder seine Larve abgezogen, Ohne Ort 1634; s. a. Elkeles, Barbara: Medicus und Medikaster: Zum Konflikt zwischen akademischer und „empirischer“ Medizin im 17. und frühen 18. Jahrhundert, in: Medizinhistorisches Journal 22 (1987), S. 197–211. 57 | ÖNB, Cod. 11238, fol. 88r, Notiz von Georg Handsch.

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„Mentiris ut medicus“, „du lügst wie ein Arzt“, hieß es damals nicht ohne Grund. Der Arzt, so lautete nämlich ein verbreiteter Rat, solle seinen schwer­ kranken Patienten bis zum Schluss etwas vormachen – dafür aber den Dienst­ boten oder den Angehörigen den drohenden schlechten Ausgang drastisch vor Augen führen. Wenn sich der Gesundheitszustand des Patienten dann wider Erwarten besserte, erschien der Arzt in einem umso vorteilhafteren Licht – und wenn nicht, dann hatte er den ungünstigen Verlauf wenigstens vorherge­ sehen, dann war dieser der schweren Krankheit und nicht seinem mangelnden Können zuzuschreiben. Jenen, die dem Patienten beistünden, notierte Georg Handsch um 1550 in diesem Sinne, könne man so etwas sagen wie: „Es stehet warlich baufellig mit ym, sorglich, gefehrlich, auf der Wag“. Den Kranken aber solle man „allwegen trösten, nicht feyge machen, yn nicht verlassen.“58 Als ein 14-jähriges fieberkrankes Mädchen zunehmend verfiel, machte Handsch den Eltern folgerichtig weiter Hoffnung. Deren Magd aber sagte er, die Kranke wer­ de sterben. Als das Mädchen ihrer Krankheit tatsächlich erlag, erzählte die Magd den Eltern, dass Handsch den Tod vorhergesagt habe und, wie er aus­ drücklich notierte, „es gefiel ihnen.“59 Auch anerkannte Gebote der ärztlichen Pflichtenlehre ließen sich nicht ohne weiteres aufrechterhalten. So galt es weithin als die Pflicht eines jeden christlichen Arztes, auch Unheilbaren und Sterbenden beizustehen. In der Praxis mieden viele Ärzte aber solche Patienten offenbar, soweit sie es konn­ ten. Auffällig häufig ist in zeitgenössischen Fallgeschichten von Patienten die Rede, die von ihren Ärzten „aufgegeben“ wurden. Berufsanfänger gab man den Rat mit auf den Weg, sich nicht von den erfahreneren Ärzten gerade sol­ che Patienten auf bürden zu lassen. Zu groß war die Gefahr, dass man den unausweichlich schlechten Ausgang ihrem Unvermögen zuschreiben und ihr Ruf schweren Schaden nehmen könnte. „Ne suscipias morbos incurabiles, si famae tuae consultum esse cupis“ notierte sich der junge Handsch einen Rat des berühmten Giovanni Manardo (1462 – 1536), also in etwa: „Nimm keine un­ heilbaren Krankheiten in Behandlung, wenn du auf deinen Ruf achten willst.“ In seiner eigenen Praxis beherzigte er den Rat nicht immer – und bereute es bitterlich. Mehrfach rief er sich in Erinnerung, er solle nicht wieder unheilbar Kranke in Behandlung nehmen.60 Nicht zuletzt standen zuweilen die wissenschaftlichen Prinzipien der ärzt­ lichen Medizin als solche auf dem Spiel. Ein besonders anschauliches Beispiel für die Notwendigkeit, unter dem Druck des Marktes den eigenen Vorstellun­ 58 | ÖNB, Cod. 11206, fol. 100 v. 59 | ÖNB, Cod. 11183, fol. 140 r. 60 | ÖNB, Cod. 11205, fol. 690 v u. 691r ; auch sein Lehrer Ulrich Lehner habe das vermieden, notiert Handsch hier; ähnlich an prominenter Stelle, unter Hinweis auf einen konkreten Fall, ÖNB, Cod. 11183, fol. 1r.

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gen von einer rationalen, wissenschaftlichen Medizin zuwiderzuhandeln, ist die Harnschau.61 Die Krankheitsdiagnose aus dem Harn wurde in der gelehr­ ten Literatur des Mittelalters noch als das wichtigste und verlässlichste Dia­ gnoseverfahren und als Quelle ärztlicher Autorität gerühmt. In der Frühen Neuzeit aber machte sich im medizinischen Schrifttum Skepsis breit. Sie rich­ tete sich nur sehr begrenzt gegen die Harnschau an sich, wohl aber gegen die verbreitete Erwartung der Patienten, der Arzte müsse ohne weitere Informa­ tionen über den Patienten Krankheiten und Schwangerschaften, ja selbst Al­ ter und Geschlecht der Ratsuchenden allein aus dem Harn erkennen können. Zu groß schien den Kritikern hier die Gefahr einer blamablen Fehldiagnose oder Fehlprognose. Wie leicht konnte der Arzt eine tödliche Krankheit diag­ nostizieren, und der Patient lief nach der Behandlung durch einen Bader oder Schmied noch Jahre später gesund herum? Wie beschämend war es, wenn der Arzt eine gestörte Menstruation diagnostizierte und behandelte, und ein paar Monate später kam die Frau mit einem Kind nieder. Womöglich, so warnte die ärztliche Literatur, machten die Leute den Arzt sogar gezielt zum Gespött, indem sie ihm den Harn einer Kuh oder gar Malvasierwein unterschoben. Da war es immer noch besser, ganz auf die Harnschau zu verzichten. Doch die Ärzte standen vor einem Problem. Die weniger gelehrte Konkurrenz kam dem Wunsch bereitwillig nach, Krankheiten und Schwangerschaften allein aus dem übersandten Harn zu diagnostizieren, und sie taten dies oftmals zur Zufriedenheit der Patienten. Vergeblich versuchten die Ärzte, die „Tricks“ zu entlarven, derer sich die Konkurrenz dabei bediente – das geschickte Aushor­ chen der Boten oder das Lauschen hinter einem Vorhang, während die Ehefrau den Boten ausfragte. Letztlich blieb den meisten Ärzten nichts anderes übrig. Gegen ihre Überzeugung mussten auch sie Krankheiten vorwiegend – und manchmal ausschließlich – aus dem Harn diagnostizieren, wenn sie nicht ihre Patienten verlieren wollten. Dass sie es damit mehr als ihnen lieb sein konnte jenen Scharlatanen gleichtaten, deren „Betrügerei“ sie allenthalben lautstark an den Pranger stellten, mussten sie in Kauf nehmen.

5. V om gelehrten zum erfahrenen A rz t Weit attraktiver, als solche unangenehmen Kompromisse einzugehen, war es, alles zu tun, um die eigenen diagnostischen und therapeutischen Möglich­ keiten zu verbessern und das Vertrauen der Patienten durch überlegene Heil­ erfolge zu gewinnen. Diese Bemühen blieben zwar nach heutigen Maßstäben weitgehend erfolglos, es gab jedoch entscheidende Anstöße für zwei sehr 61  |  Vgl. zum Folgenden meine ausführliche Darstellung in Stolberg, Michael: Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte, Köln/Weimar 2009.

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wirk­mächtige Prozesse in der gelehrten Medizin des 16. Jahrhunderts, die lang­fristig auch das Bild des Arztes in der Öffentlichkeit und das ärztliche Selbstverständnis tiefgreifend verändern sollten: 1.) für eine wachsende Wert­ schätzung der empirischen Erfahrung und 2.) für eine deutliche Aufwertung der praktischen Medizin und der für die medizinische Praxis wesentlichen Kenntnisse und Fertigkeiten im Vergleich zu theoretischem, naturphilosophi­ schem Wissen. Die autoritativen Texte der Antike und des Mittelalters blieben im 16. und 17. Jahrhundert ein zentraler Bezugspunkt der ärztlichen Medizin. Mit ihnen musste der studierte Arzt vertraut sein. Zugleich machte sich aber in der Ärz­ teschaft – und zwar auch und gerade unter den humanistischen Ärzten – zu­ nehmend die Überzeugung von der Bedeutung der empirischen Erfahrung breit und, damit einhergehend, der Glaube an einen Fortschritt, der durch die innovativen Beobachtungen und Ideen einzelner Ärzte vorangetrieben wurde. In Teilbereichen wie der Bewertung von Heilquellen lässt sich eine solche ver­ stärkte Hinwendung zur Empirie bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen.62 Im 16. Jahrhundert gewann sie dramatisch an Dynamik. Die Botanik – damals auf­ grund der überragenden therapeutischen Bedeutung der Pflanzen vor allem von Ärzten gepflegt – wurde zu einem der wichtigsten Themen in der res publica medica. Die genauere Kenntnis der Pflanzen und ihrer Wirkungen, so die Hoffnung, werde die ärztliche Krankenbehandlung auf solidere Grundlagen stellen.63 Durch die eigenhändige Sektion von Leichen – und nicht nur durch die Lektüre der Werke von Galen – suchte man die geheimnisvollen Krank­ heitsvorgänge im Körperinneren zu ergründen. Vor allem aber bemühten sich viele Ärzte nun, am Krankenbett die Diagnose und Therapie von Krankheiten durch genaue persönliche Beobachtung zu verbessern. Detailliert verzeichne­ ten manche von ihnen in Praxisjournalen oder Notizbüchern die behandelten Fälle und die Wirkungen der einzelnen Medikamente. Die Wirkvermögen von Arzneien, diese Überzeugung machte sich zunehmend breit, ließen sich nicht allein aus theoretischen Vorannahmen oder aus den sinnlich wahrnehm­baren Qualitäten der betreffenden Pflanze – warm, kalt, trocken und feucht – ab­ leiten. Ihre Wirkvermögen bei bestimmten Krankheiten waren regelmäßig 62 | Park, Katherine: Natural Particulars: Medical Epistemology, Practice, and the Literature of Healing Springs, in: Anthony Grafton/Nancy Siraisi (Hg.): Natural Particulars: Nature and the Disciplines in Renaissance Europe, Cambridge/London 1999, S. 347– 367. 63 | Zu den einflussreichsten Werken gehörten Fuchs, Leonhard: De historia stirpium commentarii insignes, Lyon 1547; Mattioli, Pierandrea: Commentarii in sex libros Pedacij Dioscoridis Anazarbei de Medica Materia, Venedig 1570; früh erschienen einschlägige Werke auch in volkssprachlichen Ausgaben wie Brunfels, Otto: Contrafayt Kreüterbuch, Straßburg 1532.

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„okkulter“, spezifischer Natur, und man konnte sie nur aus den Wirkungen ableiten, die man am Patienten beobachtete.64 In den ärztlichen Stellengesuchen nahm der Hinweis auf die Kenntnis spezieller, bewährter und für besonders wirksame befundener Mittel zuweilen einen prominenten Platz ein. Er habe sich nicht nur von allerlei vornehmen Herren erfolgreich konsultieren lassen, erklärt beispielsweise Matthaeus Glo­ ning 1599, sondern auch „mancherlei fürtreffliche Sachen, deren ich mich auff zutragende Fäll mit der Zeit durch Gottes Hilff mit sonderm Nutzen meiner Patienten zugebrauchen getraue zusamen colligiert“.65 Eine Minderheit von Ärzten ging noch einen Schritt weiter: Manche versuchten die eigentlichen Wirkstoffe der Arzneien in Form von Quintessenzen im Labor zu isolieren und zu konzentrieren. Andere führten gar regelrechte Experimente durch, prüften beispielsweise an zum Tode Verurteilten die Wirkung von Gegenmitteln gegen Eisenhut und andere Gifte.66 Hier deutet sich ein langfristiger Wandel vom gelehrten, belesenen Naturphilosophen zum empirisch arbeitenden „Natur­ wissenschaftler“ an. Dieser Wandel setzte in der Medizin schon deutlich vor dem empirischen Programm eines Francis Bacon und der viel beschworenen „wissenschaftlichen Revolution“ des 17. Jahrhunderts ein, an der die Medizi­ ner, wie die jüngere Forschung deutlich gemacht hat, einen maßgeblichen An­ teil hatte.67 Die Hinwendung zur Empirie, zur persönlichen Beobachtung als zentraler Erkenntnisquelle, ging einher mit einer wachsenden Wertschätzung für die konkreten praktischen Kenntnisse und Fertigkeiten, die ein Arzt benötigte, wenn er angesichts der regen Konkurrenz auf dem zeitgenössischen Gesund­ heitsmarkt bestehen wollte. Diese Aufwertung der medicina practica spiegelte sich auch im Lehrbetrieb wider, zunächst an den europaweit führenden nord­ italienischen Universitäten, an denen auch viel zukünftige Mediziner aus Ge­ bieten nördlich der Alpen studierten. Die praktische Unterweisung am Kran­ kenbett – im Krankenhaus oder im Rahmen der Hausbesuche der Professoren 64 | Stolberg, Michael: Empiricism in Sixteenth-Century Medical Practice: The Notebooks of Georg Handsch, in: Early Science and Medicine 16 (2013), S. 487–516 [im Druck]. 65 | Stadtarchiv Augsburg, Collegium medicum, Karton 4; der – in diesem Fall vertröstende – Entscheid ist auf den 3.4.1599 datiert. 66 | ÖNB, Cod. 11183, fol. 125r-127r, 11.12.[1561?]; vgl. Matthioli, Pedro Andrea: New Kreutterbuch mit den allerschönsten und artlichsten Figuren aller Gewechsz, dergleichen vormals in keiner Sprach nie an Tag kommen, Venedig 1563, fol. 472r‑v. 67  |  Cook, Harold J.: Victories for Empiricism, Failures for Theory. Medicine and ­S cience in the Seventeenth Century, in: Charles T. Wolfe /Ofer Gal (Hg.): The Body as Object and Instrument of Knowledge. Embodied Empiricism and Early Modern Science, Dordrecht 2010, S. 9–32.

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bei ihren Patienten – wurde, neben den Vorlesungen zu autoritativen Texten, zu einem unverzichtbaren und von den Studenten geschätzten Teil der me­ dizinischen Ausbildung. Hier wurden sie in der Harnschau und im Fühlen des Pulses geschult und lernten, wie sie am einzelnen Krankenbett von der genauen Beobachtung der Symptome und Zeichen auf die mutmaßlich Krank­ heitsursache im Körperinneren schließen und darauf gegründet eine entspre­ chende kausal ansetzende Therapie verschreiben konnten.68 Selbst manuelle Tätigkeiten und Fertigkeiten, wie man sie bislang gern den Handwerkschirurgen überlassen hatte, gewannen zunehmend an Gewicht, im Studium und in der alltäglichen Praxis. Bereits im 16. Jahrhundert – das hat die historische Forschung bislang fast völlig ignoriert – betasteten viele Ärzte ihre Patienten, und auch das wurde schon im 16. Jahrhundert an manchen Universitäten gelehrt. Sie untersuchten sie auf Tumoren und Verhärtungen, führten Sonden ein, ja sie nahmen sogar eigenhändig gynäkologische Unter­ suchungen vor.69 Die Wertschätzung für sinnliche und manuellen Fertigkeiten und prak­ tischen Erfahrungen am Krankenbett lässt sich auch aus den Bewerbungs­ schreiben herauslesen, die Ärzte an städtische Obrigkeiten richteten.70 Nicht ihre Gelehrsamkeit, sondern ihre praktische Erfahrung – und natürlich ihre guten Heilerfolge – waren hier in der Regel das Pfund, mit dem sie die Stel­ lung eines Stadtarztes oder eine Anstellung an einem städtischen Hospital zu erlangen suchten. Er sei in seiner 14-jährigen ärztlichen Praxis „mit solchem Vleiß gebraucht unnd in ein solche Practic unnd Erfarnhait kommen“, erklärte beispielsweise der Wasserburger Arzt Georg Haindlacher 1549, dass er es mit anderen Leibärzten – gemeint waren insbesondere die in Augsburg – gut auf­ nehmen könne.71 Er habe nicht nur an diversen Universitäten studiert, pries Jacob Berckhmüller 1606 seine Erfahrung an, „sondern auch sowol in dem an­ sehenlichen und löblichen Hospital Sancta Maria Nova zu Florenz als anderer Orten, in gehörter facultet so weit practiciert dz ich nun mehr, durch göttlichen

68 | Stolberg, Michael: Bed-Side Teaching and the Acquisition of Practical Skills in Mid-Sixteenth-Century Padua, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 68 (2013) [i.E.]. 69 | Ders.: Examining the Body, c. 1500–1750, in: Sarah Toulalan/Kate Fisher (Hg.): The Routledge History of Sex and the Body, 1500 to the Present, Oxford 2013, S. 91– 105. 70  |  Hierzu demnächst auch ausführlich Schlegelmilch, Sabine: How to Become a Town Physician. Letters of Application to German Town Authorities (1500–1700) [in Vorbereitung]. 71  |  Stadtarchiv Augsburg, Collegium Medicum, Karton 4, Schreiben Haindlachers von 1549.

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Beystandt, mein talentum anzulegen Ursach habe.“72 Urban Schlegel verwies wiederum auf die praktischen Erfahrungen, die er sich in den Münchner Ho­ spitälern erworben habe.73 Andere Ärzte hoben die Erfahrungen hervor, die sie bereits während des Studiums sammeln konnten, indem sie sich, wie Johann Conrad Zwilling beispielsweise schrieb „sub directione Doctorum zwey biß dritthalb Jahr lang […] in Praxj neben Frequentierung der Collegien exercirt“ hatten.74 Frühere Dienstherren priesen Ärzte in ihren Empfehlungsschreiben ihrerseits mit Worten wie „ein wol erfahrner gelöbter Medicus“.75 Dieser Wandel im Selbstverständnis und in der Außenwahrnehmung der studierten Ärzte barg ein erhebliches Risiko. Mit der Betonung der Erfahrung und der praktischen Fähigkeiten näherte sich das Bild des promovierten Arztes dem des Handwerkers an. Schlimmer noch, der Arzt, der die Gabe eines Me­ dikaments bei bestimmten Krankheiten nicht mehr aus der Theorie ableitete, sondern aus den beobachteten Wirkungen bei Patienten mit ähnlichen Sym­ ptomen, kam dem ungebildeten „Pfuscher“, dem empiricus mit seinen angeb­ lich vielfach bewährten Geheimmitteln, gefährlich nahe. Doch langfristig war diese Öffnung ein Erfolg. Gerade in den wohlhabenderen, gebildeten Ständen, von denen das berufliche Fortkommen und der Wohlstand der Ärzte in erster Linie abhingen, sicherten die akademische Ausbildung und der gemeinsame kulturelle Horizont offenbar einen ausreichenden Vertrauensvorschuss. Das ärztliche Self-Fashioning – ärztliches Selbstverständnis wie die Selbstinszenie­ rung nach außen – begann einem neuen Leitbild zu folgen, dem des nicht nur akademisch gebildeten, sondern vor allem auch erfahrenen, bewährten – und auf seine Erfahrung stolzen – Praktikers.

72 | Ebd., Schreiben Berckhmüllers von 1606. 73 | Ebd., Schreiben Schlegels vom 15.11.1618. 74 | Stadtarchiv Lindau 49,6, undatiertes Schreiben, eingegangen am 20.12.1697. 75 | Stadtarchiv Augsburg, Collegium Medicum, Karton 4, Zeugnis von Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm zu Neuburg, 1615.

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Umkämpfte Erzählungen Zur Selbst-Bildung eines jüdischen Offiziers in der preußischen Nachreformära Nikolaus Buschmann

1. U nterworfene U nterwerfer : S ubjek tivierung im bürgerlichen Z eitalter „Diese stete Aufmerksamkeit auf sich selbst wird aber nach einer nicht allzu langen Praktik zur Gewohnheit, und man befindet sich zuletzt in der Ausübung derselben, ohne weiter daran zu denken, ohne sich irgendwie Rechenschaft davon zu geben.“1

Diese Anmerkung des preußischen Offiziers Meno Burg aus dem Schlussab­ schnitt seiner 1854 publizierten Geschichte meines Dienstlebens kann als eine Reflexion darüber gelesen werden, wie und in welcher Form die Arbeit am eigenen Selbst zum subjektiven „Gelingen“ dieses Lebens beitrug. Sie gibt zugleich Handlungsschemata und Orientierungsmuster zu erkennen, wie sie Andreas Reckwitz in seiner einschlägigen Studie über Das hybride Subjekt für die bürgerliche Subjektkultur des 19. Jahrhunderts analysiert hat. Demnach konstituierte sich das bürgerliche Subjekt in Abgrenzung zum Adel und zur bäuerlichen Volkskultur als Habitus einer sich selbst regierenden „Souveräni­ tät“, die sich durch Selbstkontrolle und Selbstzurichtung auszeichnete und auf diese Weise der hegemonialen Normativität von „Bürgerlichkeit“ entsprach.2 Das von Reckwitz beschriebene bürgerliche Ideal des selbsttätigen Indi­ viduums verweist auf die mit dem neuhumanistischen Bildungsbegriff ver­ knüpfte Vorstellung einer „Selbstverbesserung“ des Einzelnen, die auf dessen 1 | Burg, Meno: Geschichte meines Dienstlebens. Erw. Neudruck d. Ausg. von 1916, ursprüngl. 1854 erschienen, Berlin 1998, S. 168f. 2 | Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Wiesbaden 2006.

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vernunftgeleitete „Mündigkeit“ zielte.3 Institutionen wie Familie, Schule und Militär sowie die an Universitäten wie in der Öffentlichkeit geführten Debatten über eine zeitgemäße „Menschenerziehung“, so der titelgebende Leitbegriff des 1826 publizierten Standardwerks4 des Pädagogen Friedrich Fröbel, trugen zur institutionellen und diskursiven Verankerung dieses Bildungskonzepts in der zeitgenössischen Vorstellungswelt bei und stellten gleichermaßen die Er­ möglichungsbedingungen und den Kontext bürgerlicher Subjektwerdung her. Eine reflexive Form erhielt der darin mitformulierte Anspruch einer steten „Arbeit am Selbst“ durch entsprechende „Technologien des Selbst“,5 zu de­ nen etwa das Abfassen von Briefen, Tagebüchern und Lebenserinnerungen gehörte: Sie entfalteten eine sozial konstituierte „Innenwelt“, die das Subjekt zum Gegenstand einer moralisch angeleiteten und emotional sensibilisierten Selbstbeobachtung auf der Folie gesellschaftlich anerkannter Repräsentatio­ nen von Bürgerlichkeit machten. Meno Burgs Geschichte meines Dienstlebens ist gleichsam ein Modell dafür.6 Der Begriff des Subjekts macht in dieser Lesart auf eine bedeutungsvolle Am­ bivalenz aufmerksam: Er spricht einerseits Grunddimensionen des mensch­ lichen Selbst- und Weltverhältnisses an, die üblicherweise – genauer: im Rah­ men eines von der bürgerlichen Philosophie genährten Subjektverständnisses7 – mit Begriffen wie Handlungsfähigkeit, Reflexion und Kritikfähigkeit aus­ buchstabiert werden. Andererseits ist das Individuum in der Genese seiner Subjektivität in Machtbeziehungen politischer, ökonomischer und rechtlicher Natur eingebunden, die es gesellschaftlich verfügbar und regierbar machen.8 3 | Schulz, Andreas: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. Jahrhundert, München 2005, S. 19. 4 | Vgl. Giel, Klaus: Friedrich Fröbel (1782–1852), in: Hans Scheuerl (Hg.): Klassiker der Pädagogik, Bd. 1, München 1979, S. 249–273. 5  |  Vgl. dazu Foucault, Michel: Technologien des Selbst, in: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 966–998. 6 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 97–108 u. 155–158. Zur bürgerlichen Kultur und Lebensführung im 19. Jahrhundert vgl. Kocka, Jürgen: Das europäische Muster und der deutsche Fall, in: Ders. (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Einheit und Vielfalt Europas, Göttingen 1995, S. 9–75, hier S. 17–22; Hettling, Manfred: Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, in: Peter Lundgreen (Hg.): Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs, Göttingen 2000, S. 319–339. 7 | Vgl. dazu Nassehi, Armin: Theorie ohne Subjekt?, in: Oliver Jahraus u.a. (Hg.): Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2012, S. 419–424. 8 | Zur poststrukturalistischen Subjektanalyse vgl. Saar, Martin: Analytik der Subjektivierung. Umrisse eines Theorieprogramms, in: Ders./Thomas Alkemeyer/Norbert Ricken (Hg.): Techniken der Subjektivierung, München 2013, S. 17–27 und Reckwitz,

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So präsentiert sich das Subjekt auch und gerade im so genannten bürgerli­ chen Zeitalter, das sich die Befreiung des Individuums aus den Bindungen der ständischen Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben hat, als ein „unterworfe­ ner Unterwerfer“: Zwar steht es für das reflexive, kritikfähige und handlungs­ mächtige Individuum, das dazu in der Lage ist, sich im Denken und Handeln zu orientieren. Als solches stellt es jedoch, wie Reckwitz unterstreicht, immer schon ein Produkt spezifischer sozio-kultureller Strukturbedingungen dar, da der Einzelne erst dadurch zum vorgeblich autonomen, zweckrationalen oder moralischen Subjekt avanciert, dass er sich den jeweiligen Regeln und Kodes der vorherrschenden Subjektkultur unterwirft, diese verinnerlicht und sich so in die soziale Ordnung einfügt.9 In dieser „von der Kultur zum Subjekt“ verlaufenden Perspektive, wie sie Reckwitz prominent vertritt, gerät Subjektwerdung in erster Linie als Repro­ duktion kulturell präformierter Subjektordnungen und das Subjekt mithin als deren Produkt in den Fokus. Subjektivierung erweist sich dann folgerichtig als eine Art Einpassungsprozess, der selbst noch die immanente Widersprüch­ lichkeit des Subjekts einer Regulation unterzieht.10 Die Erinnerungen Meno Burgs werden auf dieser Folie als reproduzierendes Moment der bürgerlichen Subjektkultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lesbar, das sich auf seine Musterhaftigkeit und Typizität hin analysieren lässt. Sie erscheinen so als Repräsentation eines zeittypischen „Normallebenslaufes“, hier im Blick auf den Aufstieg des Bürgertums in das preußische Offizierskorps, den sozialen, rechtlichen und politischen Umbruch der Reformära sowie den langfristigen Strukturwandel des militärischen Raums im Zeichen eines funktional be­ dingten Professionalisierungsparadigmas. Vor dem Hintergrund der zeitspezifischen Normalität und Normiertheit von Lebensläufen und deren biographischer Reflexion tritt indes auch die Singulari­ tät, die Unverfügbarkeit und die Ungleichzeitigkeit dieses Lebensweges zutage: Burgs Karriere wies nach den Maßstäben seiner Zeit zwar kaum Besonderheiten auf und unterschied sich nur unmaßgeblich von den militärischen Laufbahnen seiner bürgerlichen Kameraden. Dennoch handelte es sich in diesem Fall um eine einzigartige Laufbahn, da es Burg als einzigem ungetauften Juden in der langen Andreas: Subjekt, Bielefeld 2008. Zur Genese des modernen Subjektverständnisses vgl. die diskursanalytische Untersuchung von Geyer, Paul: Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau, 2. Aufl., Würzburg 2007. Eine interdisziplinäre Perspektive bietet der im Oldenburger Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen“ entstandene Band von Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013. 9 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 9. 10 | Vgl. dazu die Kritik von Jonas, Michael: The Social Site Approach versus the Approach of Discourse/Practice Formations, Wien 2009.

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Zeitspanne zwischen den Befreiungskriegen und dem Ersten Weltkrieg gelang, zum Offizier der preußischen Armee aufzusteigen. Das scheinbar Gewöhnliche stellt sich hier als eine Ausnahme dar, die erklärungsbedürftig erscheint. Burgs Erinnerungen sind ein solcher Erklärungsversuch und formulieren zugleich ei­ nen politischen Appell. Wie sich ihrem Vorwort entnehmen lässt,11 bilden sie einen Gegenentwurf zu den 1842 publizierten Memoiren seines Vetters Salomo Sachs, der in dem Scheitern seiner Karriere als Zivilbeamter in der preußischen Bauverwaltung einen Beleg für die unverrückbaren Grenzen erkannte, die dem jüdischen Emanzipationsprozess gesetzt waren.12 Während Sachs die Situation der Juden in Preußen also eher in düsteren Farben malt, ist die Geschichte meines Dienstweges darauf angelegt, dem zeitgenössischen (jüdischen) Publikum vor Augen zu führen, wie Juden trotz ihrer Außenseiterstellung führende Positionen in Staat und Gesellschaft erlangen können. Sie lässt sich einerseits daraufhin befragen, unter welchen Rahmenbedingungen sich diese „unwahrscheinliche“ Karriere vollzog – Bedingungen, die im Fall seines Vetters trotz ebenfalls her­ ausragender fachlicher Qualifikation nicht gegeben waren. Andererseits gibt sie ihren Lesern Aufschluss darüber, welche Bewältigungsleistungen diese mit un­ absehbaren Wendungen geradezu gespickte Karriere ihrem Protagonisten abver­ langte. Dabei entwirft sie – sozusagen am gelebten Beispiel – eine Art Modell für die Emanzipation der Juden als Teil einer bürgerlichen Zukunftsgesellschaft, das die Verhaltensorientierungen eines selbsttätigen Subjekts skizziert und diese als erfolgsträchtig ausweist. Subjektwerdung zeigt sich in dieser Lesart nicht als eine bloße Reproduktion kultureller Muster, sondern wird auch als ein prekäres Be­ mühen um biographische Konsistenz erkennbar, als ein Ringen um Handlungs­ fähigkeit und Anerkennung in einer kontingenten sozialen Praxis, in denen sich je spezifische Möglichkeitsräume für das eigene Tun ergaben – kurzum: als das Vermögen, schicksalhafte Lebenswendungen produktiv zu wenden und ihnen einen biographischen Sinn zu verleihen. Um also sowohl die Strukturierungen des Handelns und der Einstellun­ gen der Handelnden als auch – über den Ansatz von Reckwitz hinaus – die vollzugsoffene Entfaltung eines Lebensweges durch ein sich darin selbst bil­ dendes Handlungssubjekt in den Blick zu bringen, erscheint es sinnvoll, die Entstehung sozialer Ordnungen und „ihrer“ Subjekte als wechselseitig konsti­ tutiven Verweisungszusammenhang zu entziffern.13 In diesem Sinne verfolgt 11 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 4f. 12 | Sachs, Salomo: Mein fünfzig jähriges Dienstleben und literarisches Wirken. Ein Beitrag zur tatsächlichen Beleuchtung der Frage: Sind Juden zum Staatsdienst geeignet?, Berlin 1842. 13 | Ausführlicher dazu vgl. Alkemeyer, Thomas/Buschmann, Nikolaus: Praktiken der Subjektivierung – Subjektivierung als Praxis, in: Hilmar Schäfer (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2014 (im Druck).

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der Beitrag das Anliegen, die Selbstbildung Meno Burgs zu einem königstreu­ en Offizier, aufgeklärten Bürger und glaubensfesten Juden als ein Geschehen zu beschreiben, das die Reproduktion sozio-kultureller Ordnungsschema­ ta ebenso in den Blick treten lässt wie die situative Ausformung subjektiver Handlungsbefähigung im Rahmen dieser Ordnungsschemata. Die Geschichte meines Dienstlebens wird so als eine Erzählung lesbar, die sozial konstituierte Verhaltens- und Rationalisierungsstrategien immer wieder neu entlang sich wandelnder sozialer Konstellationen zur Darstellung bringt, wobei das Verhal­ ten ihres Protagonisten ebenso zu einem Faktor wie zum Effekt dieses Wan­ dels wird. Dabei folgt sie dem genretypischen Telos eines gelungenen Lebens, bedient zeittypische Lektüreerwartungen und reproduziert kulturelle Muster, die den dargestellten Lebenslauf authentifizieren und sozial intelligibel ma­ chen. Sie gerät damit ihrerseits als eine Praktik der Subjektivierung in den Blick, die den „Judenmajor“ Meno Burg als öffentliche Person und Bezugs­ größe des jüdischen Emanzipationsdiskurses bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein sowie als Gegenstand des geschichtswissenschaftlichen Interesses nach dem Zweiten Weltkrieg mitkonstituierte.14

2. S ubjek tivierung und autobiogr aphisches S chreiben Eines der Grundprobleme, die mit der Frage nach dem Subjekt der Geschichte verbunden sind, liegt darin, wie die Wirkmächtigkeit historischer Akteure in den Blick genommen werden kann, ohne die unhintergehbare gesellschaftli­ che Bedingtheit menschlichen Verhaltens aus den Augen zu verlieren.15 Wie Menschen die historisch je spezifischen Situationen, Konstellationen und Er­ eignisse ihrer Zeit erfahren haben und diese Erfahrungen verarbeiteten, aber auch wie sie unter dem Eindruck von institutionell „sedimentierten“ wie in individuellen Lebensverläufen angeeigneten Erfahrungen gestaltend auf ihre 14 | Die später viel zitierte Bezeichnung „Judenmajor“ geht nicht auf Burg zurück, sondern taucht erstmals in einem Nachruf auf. Vgl. Major Burg. Ein Charakterbild, in: Jahrbuch für Israeliten, N.F. 2 (1856), S. 56–76, hier S. 75f. Weitere biographische Abrisse finden sich beispielsweise in: Geiger, Ludwig: Geschichte der Juden in Berlin, 2 Bde., Berlin 1871; Art. „Meno Burg“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, 3 (1876), S. 590f.; Wolbe, Eugen: Major Burg. Lebensbild eine jüdischen Offiziers, Berlin 1907. Die erste wissenschaftliche Biographie verfasste Rieger, Renatus: Major Meno Burg. Ein preußischer Offizier jüdischen Glaubens (1789–1853), Diss., Duisburg 1990. 15 | Vgl. dazu Füssel, Marian: Die Rückkehr des „Subjekts“ in der Kulturgeschichte. Beobachtungen aus praxeologischer Perspektive, in: Stefan Deines/Stephan Jäger/ Ansgar Nünning (Hg.): Historisierte Subjekte – subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit der Geschichte, Berlin 2003, S. 141–159.

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eigene Gegenwart einwirkten und damit zukünftigen Wandel ermöglich­ ten, wird sich einerseits nur ermessen lassen, wenn sich die rückblickende Beobachtung auf die Perspektive der historischen Akteure einlässt.16 Die eth­ nografische Einsicht, man müsse den Akteuren „über die Schulter“ schauen, um das „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe“ (Clifford Geertz), in das der Mensch verstrickt sei, entschlüsseln zu können, hat die kulturgeschichtliche Forschung der letzten zwei Jahrzehnte außerordentlich befruchtet.17 Anderer­ seits geraten solche Zugänge immer wieder unter den Verdacht, quellennahem „Nacherzählen“ theoretische Legitimität zu verleihen und darüber die struktu­ rellen Bedingungen geschichtlicher Verläufe auszublenden.18 Ob und inwie­ fern dieser Vorwurf dem Konzept einer „dichten Beschreibung“ gerecht wird, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Es muss jedoch klar sein, dass auch der rekonstruierende Nachvollzug von Teilnehmerperspektiven grundsätzlich eine Außenposition voraussetzt, da diese Perspektiven nie selbst zur Geltung gebracht werden können.19 Im Rahmen einer historiographischen Rekonstruk­ tion von Teilnehmerperspektiven wird dieser Umstand aufgrund der Abhän­ gigkeit von der Überlieferungslage besonders augenfällig: Die Praktiken, von denen die Geschichte meines Dienstlebens berichtet, sind nicht als ein synchro­ nes Geschehen, sondern ausschließlich durch die Brille zeitgenössischer Dar­ stellungen beobachtbar. Auch lassen sich die biographischen Wendemarken, die der Text hervorhebt, zwar „realgeschichtlich“ belegen, sie dienen aber zu­ gleich als dramaturgische Elemente einer politisch gerahmten Aufstiegserzäh­ lung und gewinnen erst dadurch ihre biographische Relevanz. Überdies liegen keine Briefe oder Tagebücher aus der Feder Burgs vor, die es erlauben würden, die Vielfalt und den Wandel von Selbst- und Weltdeutungen in unterschiedli­ chen kommunikativen Kontexten nachvollziehbar zu machen. Seine Erinne­ rungen stellen also eine höchst selektive Aktualisierung lebensgeschichtlicher 16 | Baberowski, Jörg: Gibt es eine historische Wirklichkeit und wie können Historiker von ihr erzählen? Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Ethnologie, in: Jens Hacke/Matthias Pohlig (Hg.): Theorie in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 2008, S. 109–129, hier S. 100. 17  |  Zu den kulturgeschichtlichen Kontroversen innerhalb der Geschichtswissenschaft vgl. Hardtwig, Wolfgang/Wehler, Hans-Ulrich (Hg.): Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996; Mergel, Thomas/Welskopp, Thomas (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997; Conrad, Christoph/Kessel, Martina (Hg.): Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998; Rublack, Ulinka (Hg.): Die Neue Geschichte. Eine Einführung in 16 Kapiteln, Frankfurt a.M. 2013. 18 | Füssel, M.: Die Rückkehr des Subjekts, S. 146. 19  |  Alkemeyer, T./Buschmann, N.: Praktiken der Subjektivierung – Subjektivierung als Praxis.

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Erfahrungszusammenhänge dar, die ein bestimmtes Erfahrungssubjekt in einem spezifischen kommunikativen Zusammenhang mit entsprechenden Identifikationsangeboten in Erscheinung treten lassen.20 Die Frage nach dem Subjekt unter praxeologischen Gesichtspunkten neu zu stellen, erscheint gerade deshalb vielversprechend, weil dieser Zugang seinen Gegenstand nicht als eine irgendwie verifizierbare ontologische Enti­ tät voraussetzt, sondern als ein historisch geformtes und damit wandelbares Phänomen entschlüsselt.21 Es handelt sich um ein analytisches Konzept, das die Ausbildung eines Selbst- und Weltverhältnisses als Prozess in kontextu­ ellen Rahmungen beobachtbar machen soll. So kann mit Andreas Reckwitz zum einen danach gefragt werden, wie hegemoniale „Subjektkulturen“ eine Art Einheit in der Differenz feldspezifischer Subjektformen organisieren. Zum anderen richtet sich der Blick auch auf die Irritationen, Konflikte und Brüche von Subjektivierungsprozessen und die damit verbundenen Bewälti­ gungsleistungen.22 Am Beispiel der Geschichte meines Dienstlebens lassen sich beide Momente rekonstruieren: Das Lebensbild, das die Erinnerungen Burgs entwerfen, weist einerseits die Charakteristika eines „normalen“ bürgerlichen Lebenslaufes auf. Andererseits bietet es Einblicke in die Befähigungen, über die ein gesellschaftlicher Außenseiter verfügen musste, um ein solches Nor­ malleben überhaupt führen zu können. Auch diese Befähigungen waren in kulturelle Muster eingefasst, doch formten sie sich unter Bedingungen, die nicht selten als krisenhaft erfahren wurden, immer wieder neu und keines­ wegs alternativlos aus. Genau darin liegt das Identifikationsangebot an die vorwiegend jüdische Leserschaft, die der Text adressierte: Indem er an Erfah­ rungen anknüpfte, die den Kreisen, aus denen der Autor stammte, bestens vertraut waren, präsentierte er ein lebensgeschichtlich untermauertes und des­ halb nachvollziehbares Verhaltensmodell, das Juden einen Weg in die Mitte der bürgerlichen Gesellschaft weisen sollte.

20 | Vgl. dazu die Studien von Günther, Dagmar: Das nationale Ich? Autobiographische Sinnkonstruktionen deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs, Tübingen 2004 und Depkat, Volker: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2010. 21 | Nassehi, A.: Theorie ohne Subjekt?, S. 421; ähnlich Reckwitz, Andreas: Subjekt, 2. Aufl., Bielefeld 2010, S. 147. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive vgl. Freist, Dagmar: „Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen“. Praktiken der SelbstBildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik, in: T. Alkemeyer/G. Budde/D. Freist (Hg.): Selbst-Bildungen, S. 151–174, hier S. 172. 22  |  Vgl. dazu Alkemeyer, Thomas: Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik, in: T. Alkemeyer/G. Budde/D. Freist (Hg.): Selbst-Bildungen, S. 33–68.

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Biographische Sinnbildungsleistungen werden in dieser Perspektivierung nicht als anthropologische Universalien aufgefasst, sondern als „kulturspezifi­ sche Formen möglicher Selbst- und Weltverhältnisse“.23 Ihre Erscheinungs­ form lässt sich als eine Reaktion auf die Erwartungsbildung in spezifischen historisch-gesellschaftlichen Konstellationen bestimmen, die auf diese Erwar­ tungsbildung zurückwirken.24 Für die Auswertung autobiographischer Texte ergeben sich damit zwei komplementäre Analyseperspektiven: Gelesen als Reflexion eines Lebensverlaufs geben sie zum einen Auskunft darüber, wel­ che Handlungsstrategien, Orientierungen und Situationen ein Ich-Erzähler als relevante Bausteine für die Ausformung seiner personalen Identität mar­ kiert. So stellen Burgs Erinnerungen einen Zusammenhang zwischen der Er­ fahrung, in bestimmten Alltagssituationen und institutionellen Kontexten zu einem Außenseiter gemacht zu werden, und der strategischen Umstellung des eigenen Verhaltens her, um gegen zukünftige Ausgrenzungen gewappnet zu sein. Einen Menschen als „Subjekt“ zu beobachten, würde dann bedeuten, das autobiographische Selbst als eine „Innensicht“ und die Beziehung zwischen dem „Außen“ der sozialen Umwelt und dem „Innen“ des Selbst als Subjektivie­ rungsprozess in den Blick zu nehmen.25 Autobiographische Praktiken bringen mit anderen Worten das, wovon sie sprechen, retrospektiv hervor: das Selbst als eine „fokussierbare und damit reflektierbare und gestaltbare Sinneinheit“.26 Zum anderen kann das Verfassen einer Autobiographie seinerseits als eine historisch situierte Praktik begriffen werden, die es ihrem Verfasser ermög­ licht, sich in soziale Strukturen einzuschreiben, um die eigene Individualität mit der Umwelt in Einklang zu bringen. Als Knotenpunkte eines komplexen sozialen Interaktionszusammenhangs geben Selbstzeugnisse wie die Geschichte meines Dienstlebens nicht einfach „Fakten“ preis, sondern sollten daraufhin befragt werden, warum überhaupt etwas mitgeteilt, wer dabei adressiert und mit welchen Mitteln die Selbstpräsentation authentifiziert wird. Die geschilder­ ten Fakten gewinnen also erst im Licht der jeweiligen Schreibsituation und der

23 | Straub, Jürgen: Temporale Orientierung und narrative Kompetenz. Zeit- und erzähltheoretische Grundlagen einer Psychologie biographischer und historischer Sinnbildung, in: Jörn Rüsen (Hg.): Geschichtsbewusstsein. Psychologische Grundlagen, Entwicklungskonzepte, empirische Befunde, Köln 2001, S. 15–44, hier S. 16. 24 | Nassehi, A.: Theorie ohne Subjekt?, S. 423. 25 | Etzemüller, Thomas: Der „Vf.“ als Subjektform. Wie wird man zum „Wissenschaftler“ und (wie) lässt sich das beobachten?, in: T. Alkemeyer/G. Budde/D. Freist (Hg.): Selbst-Bildungen, S. 176f. 26 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 167–171, Zitat S. 168.

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methodisch-systematischen Perspektivierung des Untersuchungsgegenstands ihre spezifische Bedeutung.27 Im Unterschied zu einer kulturhistorischen Diskursanalyse, die – wie das Untersuchungsprogramm von Reckwitz – letztlich einem strukturalistischen Paradigma verhaftet bleibt, betonen praxeologische Ansätze, dass erst der Ge­ brauch diskursiver Aussagesysteme klären kann, welche Bedeutung einem Diskurs im praktischen Wissen der Akteure zukommt.28 In diesem Sinne kann das von Reckwitz entwickelte Konzept der „Subjektkultur“ dahingehend reformuliert werden, dass sich die Gültigkeit einer Ordnung erst im prakti­ schen Vollzug herstellt und diese dabei bestätigt, verändert oder auch negiert wird. Die in den sozialen Feldern präsenten Subjektformate und die im Verlauf eines Lebens erfolgte Aneignung von Verhaltensorientierungen stehen dabei nicht zwangsläufig in einem „Passungsverhältnis“. Vielmehr sind die bereits angesprochenen Irritationen, Überraschungen und Brüche konstitutive Vor­ aussetzungen dafür, wie sich eine je spezifische Subjektivität ausformt. Die Analyse von Subjektivierungsprozessen muss ihren Fokus deshalb ebenso auf die strukturellen Voraussetzungen wie die situative Herstellung von Erfah­ rungswissen richten, das sich im Laufe einer Lebensgeschichte aufschichtet und aktualisiert, aber auch immer wieder umgeschrieben wird.29 Lebensge­ schichten gehen mit anderen Worten nicht in kollektiven Lebenslaufstruktu­ ren und Generationsprägungen auf, sondern ihr Verlauf wird – ebenso wie ihre Deutung – auch durch je spezifische Erfahrungen und die Handlungsres­ sourcen, die daraus erwachsen, angeleitet.30 Subjektivierung ist also nicht nur als ein Unterwerfungsgeschehen zu begreifen, das sich hinter dem Rücken so­ zialer Akteure vollzieht, sondern tritt auch als die Befähigung eines sich selbst bildenden Subjekts in den Blick, sich im Denken und Handeln zu orientieren: als ein permanentes Ertasten und Ertesten von Verhaltensoptionen im Hori­ 27 | Etzemüller, Thomas: Biographien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt a.M. 2012, S. 62–72. 28 | Reichardt, Sven: Praxeologie und Faschismus. Gewalt und Gemeinschaft als Elemente eines praxeologischen Faschismusbegriffs, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 129–153, hier S. 133. 29  |  Vgl. dazu Bourdieu, Pierre: Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis, in: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1974, S. 125– 158; ders.: Körperliche Erkenntnis, in: Ders.: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M. 2001, S. 165–209. Zur Kritik an der mechanistischen Auffassung Bourdieus über das Verhältnis zwischen Habitus und Feld vgl. Mautz, Christoph: Disposition und Dispositiv, in: Joachim Renn/Christoph Ernst/Peter Isenböck (Hg.): Konstruktion und Geltung, Wiesbaden 2012, S. 161–180. 30 | Etzemüller, T.: Biographien, S. 61.

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zont bereits gemachter Erfahrungen, das unter den jeweiligen Möglichkeits­ bedingungen einer kontingenten Praxisgegenwart das, was als Ordnung gilt, nicht nur reproduziert, sondern auch kreativ gestaltet oder sogar überschreiten kann.31 Normative Erwartungen an Lebenslaufmuster, die individuelle Lebens­ läufe stabilisieren, und das im Hier und Jetzt lokalisierte „Situationspotenzial“ eines sozialen Geschehens,32 das individuelles Handlungsvermögen heraus­ fordert, bilden dabei einen „zirkulären Zusammenhang“, der sich nicht auf die eine oder die andere Seite hin auflösen lässt.33 Um auf der Grundlage von autobiographischen Quellen der Frage nachge­ hen zu können, wie sich Menschen zu Subjekten ausformen, ist es hilfreich, analytisch zwischen „Lebenslauf“ als (unerschließbarer, aber gleichwohl ange­ nommener) Gesamtheit aller Lebensereignisse, Empfindungen und Erfahrun­ gen, die den Habitus einer Person ausmachen, und „Biographie“ als spezifisch modernem Format ihrer „selektiven Vergegenwärtigung“ zu unterscheiden.34 Da nur bestimmte lebensgeschichtliche Ereignisse zu Erfahrungsgegenstän­ den einer biographische Reflexion gemacht werden, geht es bei der Analyse einerseits darum, wie und warum sie für die Konstruktion des Selbst relevant gemacht werden. Wie schreiben Menschen ihre Lebensgeschichte in eine Sub­ jektordnung ein und werden dabei als Personen erkennbar? Andererseits muss Subjektwerdung immer auch über die Analyse des gesellschaftlichen Umfelds und der damit verknüpften strukturellen Möglichkeitsbedingungen erschlos­ sen werden: Welche dieser Möglichkeitsbedingungen werden wie als prägende Strukturen eines Lebenslaufs biographisch geltend gemacht? Für den wissen­ schaftlichen Beobachter stellt sich also die Frage, wie sich Biographie und Le­ benslauf in ein Verhältnis setzen lassen und welche biographische Relevanz bestimmten lebensgeschichtlichen Erfahrungen jeweils zugerechnet wird. Wie also machen Menschen ihren Lebenslauf in einer Biographie zu ihrem Thema – und weisen sich so als handlungsfähige und sozial anerkennbare Subjekte aus?

31 | Vgl. dazu Rieger-Ladich, Markus: Unterwerfung und Überschreitung. Michel Foucaults Theorie der Subjektivierung, in: Norbert Ricken/Ders. (Hg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden 2004, S. 203–223. 32 | Vgl. dazu Jullien, François: Über die Wirksamkeit, Berlin 1999. 33 | Etzemüller, T.: Biographien, S. 62. 34 | Hahn, Alois: Biographie und Lebenslauf, in: Ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt a.M. 2000, S. 97–115.

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3. S chreibsituation und R ezep tionskonte x t einer S oldatenbiogr aphie Auf welches Publikum die Erinnerungen Burgs zielen, welche Erzählung sie entfalten und welche Deutungsmuster sie dabei aufrufen, wird bereits aus der Einleitung ersichtlich. Zwar machen sie die „freundlichen Leser“ gleich im ersten Satz darauf aufmerksam, „daß sie in den folgenden Blättern keine Darstellung eines vielbewegten Kriegserlebens erwarten mögen“.35 Gleichwohl steht die Geschichte meines Dienstlebens im Kontext der militärischen Erinne­ rungsliteratur, die im Anschluss an die antinapoleonischen Kriege unter an­ derem in Form von Soldatenautobiographien die Bücherregale des gebildeten Bürgertums füllten.36 Entsprechend bedient sie die Erwartungshaltungen, die mit diesem Genre verknüpft waren, so etwa die Glorifizierung des preu­ ßischen Heeres, das Gemeinschaftspathos der Kameradschaft sowie die Kö­ nigstreue und den Patriotismus der Kriegsfreiwilligen von 1813, zu denen auch der damals knapp 24 Jahre alte Meno Burg zählte. Von Kampfhandlungen und heroischen Taten kann dieser aus eigener Erfahrung allerdings nicht berich­ ten, da er niemals an einer Schlacht teilgenommen hat. Um dennoch seine pa­ triotische Einstellung zu untermauern, betont er, die Versetzung an die Front sei sein „sehnlicher Wunsch seit meinem Eintritt in die Armee“ gewesen, aber „ungeachtet aller Bemühungen“ nie in Erfüllung gegangen.37 Das Bedauern über den nicht erfolgten Kriegseinsatz durchzieht den Text wie ein roter Faden. Für das übergeordnete Thema der Erinnerungen, näm­ lich die Frage nach der Stellung der Juden im damaligen Preußen, ist dieser Sachverhalt von zentraler Bedeutung, da er einen Verweisungszusammen­ hang zwischen der Emanzipation der Juden und ihrer Identifikation mit dem preußischen „Vaterland“ herstellt. Denn die Geschichte meines Dienstlebens soll­ te, wie es gleich im Anschluss heißt, insbesondere „den jüdischen Jüngling ermutigen, sie soll ihm zeigen, dass auch in unserm Vaterlande der Jude zu Staatsämtern gelangen kann“.38 Die Erinnerungen Burgs geben ihr Programm also deutlich zu erkennen: Bereits der Knabe will „Offizier oder öffentlicher 35 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 1. 36 | Vgl. dazu Berding, Helmut/Heller, Klaus/Speitkamp, Winfried (Hg.): Krieg und Erin­ nerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000; Carl, Horst: Der Mythos des Befreiungskrieges. Die „martialische Nation“ im Zeitalter der Revolutions- und Befreiungskriege 1792–1815, in: Dieter Langewiesche/Georg Schmidt (Hg.): Födera­t ive Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 62–83; Planert, Ute: Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden, Paderborn 2007. 37 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 1f. 38 | Ebd., S. 2.

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Lehrer“39 werden, strebt demnach Berufe an, die Juden üblicherweise ver­ schlossen waren (und die Burg dennoch ausübte). Es handelt sich mit anderen Worten um die Erzählung eines sozialen Aufstiegs innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft – nicht nur einer Einzelperson, sondern auch der gesellschaftli­ chen Gruppe, der sich Burg zurechnet. Seine militärische Lauf bahn soll der Leserschaft auf exemplarische Weise vor Augen führen, wie sehr sich die Si­ tuation der Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbessert habe, da die „Emanzipation jetzt zu einer Wahrheit geworden ist“.40 Zugleich weist der Text darauf hin, dass dieser Verbesserungsprozess keineswegs abgeschlossen sei: Die jüdische Jugend habe, wenn sie in den Staatsdienst eintreten wolle, „noch manchen Kampf zu bestehen“.41 Um diesen Kampf aufnehmen zu kön­ nen, bedurfte es bestimmter Verhaltensorientierungen – eben jener, die Burg in der autobiographischen Reflexion seines eigenen Kampfes vorführt. Indem die Geschichte meines Dienstlebens von der erfolgreichen Karriere eines Juden im preußischen Staatsdienst berichtet, stellt sie ein Kontrastbild zu eher pessimistischen Deutungen des jüdischen Lebens in Deutschland wie den Erinnerungen seines Vetters Salomo Sachs42 her, deren Lektüre Burg als die „spezielle Veranlassung“43 des eigenen autobiographischen Projekts be­ zeichnet. Der Architekt Salomo Sachs, bei dem Burg das Zeichnen und die Grundlagen der Architektur erlernt hatte, um die Berliner Bauakademie be­ suchen zu können, hatte es in seiner eigenen Lauf bahn zwar immerhin zum Regierungsbauinspektor gebracht, doch erlitt er in der Restaurationszeit einen Karrierebruch und wurde schließlich gegen seinen Willen in den vorzeitigen Ruhestand entlassen. Die seiner Qualifikation entsprechenden Positionen, die er auf seinen weiteren dienstlichen Stationen in Westpreußen und Potsdam anstrebte, blieben ihm verwehrt; auch konnte er den fachlichen Ruf, den er un­ ter anderem durch diverse Publikationen erworben hatte, nicht in beruflichen Erfolg ummünzen.44 Seine 1842 erschienenen Erinnerungen fielen zudem in eine Zeit, in der die rechtliche Gleichstellung der Juden in weite Ferne gerückt zu sein schien. Anders die Situation, in der Burg sich befand, als er 1849 seine Aufzeichnungen abschloss:45 Burg war zu diesem Zeitpunkt knapp 60 Jahre alt und stand am Ende seiner militärischen Lauf bahn; seine biographischen Reflexionen beziehen sich also auf ein bereits gelebtes Leben. Er hatte eine er­ folgreiche Karriere als Offizier absolviert, und angesichts der politischen Um­ 39 | Ebd., S. 164. 40 | Ebd., S. 168. 41 | Ebd., S. 168. 42 | Sachs, S.: Mein fünfzig jähriges Dienstleben. 43 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 4. 44 | Rieger, R.: Major Meno Burg, S. 221. 45 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 169.

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wälzung durch die Paulskirchenrevolution schien auch der jüdische Emanzi­ pationsprozess zumindest staatsrechtlich zum Abschluss gekommen zu sein.46 Publiziert wurden Burgs Erinnerungen 1854, ein Jahr nachdem ihr Autor als Opfer der zweiten großen Berliner Cholera-Epidemie gestorben war. Ob Burg neben offiziellen Schriftstücken wie beispielsweise Beförderungsurkun­ den und Dienstplänen, die er zur Authentifizierung des Gesagten einstreute, über weitere Aufzeichnungen wie etwa einem Tagebuch verfügt hat, lässt sich aufgrund der Überlieferungslage ebenso wenig rekonstruieren wie die Ent­ stehung des Textes selbst. Dem Nachwort der Herausgeber ist zu entnehmen, dass Burg die Publikation ins Auge gefasst hatte, an deren Vorbereitung aber nicht mehr beteiligt war.47 Besorgt wurde die Veröffentlichung von Mitglie­ dern des jüdischen Netzwerks, in welchem sich Burg bewegt hatte. Dafür gab es naheliegende Motive: Als zeitweiliges Vorstandsmitglied der jüdischen Ge­ meinde und eingeheirateter Angehöriger einer angesehenen Familie gehörte Burg einer gesellschaftlichen Elite an und war aufgrund seiner militärischen Karriere zugleich eine beispielgebende Ausnahmeerscheinung des jüdischen Emanzipationsprozesses. Schon zu Lebzeiten stand er im Fokus der jüdischen Öffentlichkeit, so etwa des liberalen Juristen, Journalisten und Politikers ­Gabriel Riesser, der 1833 seine Beförderung zum Hauptmann erwähnte, oder des Breslauer Physiologen Gabriel Gustav Valentin, der 1836 auf den „Professor an der Kriegsschule in Berlin“ hinwies.48 Dass sich der Ruf Burgs keineswegs auf die jüdische Gemeinde beschränkte, belegt die Aufmerksamkeit, die sei­ ner Beisetzung zuteil wurde. Sie fand am 29. August 1853 unter militärischen Ehren auf dem Friedhof der Jüdischen Gemeinde in der Schönhauser Allee statt: Nach Schätzungen der Berliner Polizei beteiligten sich etwa 60.000 Per­ sonen (eine gewaltige Zahl: Berlin hatte zu diesem Zeitpunkt etwa 400.000 Einwohner) an dem Trauerzug, dem auch eine Musikkapelle, eine Abordnung aus dem Regiment der reitenden Gardeartillerie sowie Fußartilleristen ange­ hörten.49 Die Geschichte meines Dienstlebens porträtiert Burg als einen königstreuen Offizier, aufgeklärten Bürger und glaubensfesten Juden und vereint so gleich drei aus damaliger Perspektive scheinbar unvereinbare Subjektformate in ei­ ner Person. Das „moralisch-souveräne Allgemeinsubjekt“, das Andreas Reck­ witz der bürgerlichen Kultur zuschreibt,50 stellt sich hier als ein Selbst dar, in 46  |  Dass dieser Status durch die revidierte preußische Verfassung von 1850 stark relativiert wurde, findet in den bis 1853 entstandenen Nachträgen zur Geschichte meines Dienstlebens bemerkenswerterweise keine Erwähnung. 47 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 182. 48 | Rieger, R.: Major Meno Burg, S. 337f. 49 | Ebd., S. 336. 50 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 97.

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dessen Herausbildung die gesellschaftlichen Widersprüche der Zeit aufeinan­ der prallen und biographisch gemeistert werden müssen. Die so hergestellte Einzigartigkeit dieses Lebenslaufes wird indes nicht auf die außerordentlichen Begabungen ihres Protagonisten zurückgeführt. Dem Leser tritt vielmehr eine Durchschnittpersönlichkeit „ohne eine besondere Begabtheit, ohne hervorste­ chende Talente, ohne mehr als den gewöhnlichen Grad von Wissen“ gegen­ über. Er habe seine Lauf bahn, wie Burg schreibt, „ohne Hast und ohne Preten­ sion“ verfolgt, dabei nie „einen zu weit getriebenen Ehrgeiz“ an den Tag gelegt oder nach „Bevorzugungen“ geschielt.51 Wenngleich diese Selbstbeschreibung angesichts der fachlichen Reputation Burgs reichlich untertrieben wirkt, un­ termauern Burgs Erinnerungen ihr emanzipatorisches Zukunftsversprechen gerade dadurch, dass die Singularität dieses Lebenslaufes im Gewand der Nor­ malität auftritt. Dieses Verspechen zukünftiger Normalität jüdischen Lebens in Deutsch­ land dürfte auch für die Rezeption der Geschichte meines Dienstlebens von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Wie Ludwig Geiger im Geleitwort zur 1916 publizierten Neuauflage betont, handle es sich bei den Erinnerun­ gen Burgs weder um ein „Buch seltsamer Abenteuer“ oder eine „Sammlung nervenreizender Erzählungen und Schwänke“ noch um ein „kostbares literari­ sches Juwel“. Seine „Wiederbelebung“ verdiene das Werk vielmehr „wegen der Schlichtheit des Ausdrucks, wegen der Bravheit der Gesinnung, wegen seiner kulturgeschichtlichen Merkwürdigkeit und wegen des Beispiels, das es der he­ ranwachsenden Jugend der gegenwärtigen und künftigen Generation“ gebe.52 Geiger schreibt die in Burgs Erinnerungen angelegte Erzählung fort, indem er ihren Protagonisten als „guten Sohn“, „trefflichen Bürger“, „Pfleger der Wis­ senschaft“ und „treues Mitglied seiner Glaubensgemeinschaft“ darstellt. Als „bieder, treu, der Sache ergeben, nie der Person“ wird Burg dem Leser präsen­ tiert.53 Dass Juden diese Attribute in einer völlig selbstverständlichen Weise verkörperten, war indes weder 1854 noch 1916 – als das preußische Kriegsmi­ nisterium eine „Judenzählung“ im Heer vornehmen ließ, um den Anteil der Juden an den deutschen Soldaten zu berechnen54 – eine konsensfähige Auffas­ sung in Deutschland. Darin lag, wenn man so will, die Pointe der Geschichte meines Dienstlebens: einen ganz „normalen“ Deutschen zu präsentieren, dessen Lebenslauf nur deshalb einzigartig erschien, weil die Mehrheitsgesellschaft nicht bereit war, diese Normalität auch für Juden anzuerkennen.

51 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 5. 52 | Geiger, Ludwig: Geleitwort, in: M. Burg: Geschichte meines Dienstlebens, S. XVI. 53 | Ebd., S. XVII. 54 | Vgl. dazu Rosenthal, Jacob: „Die Ehre des jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankfurt a.M. 2007.

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4. L ebensl auf und biogr aphische R efle xion Meno Burg hätte in anderen autobiographischen Genres sehr viel mehr und Anderes über seinen Lebenslauf berichten können, als die Geschichte meines Dienstlebens preisgibt. Seine Ehe streift der Text nur in einer kurzen Passage über die Krankheit und den Tod „meiner guten und engelgleichen Frau“,55 über private Interessen und Neigungen erfahren wir nur so viel, dass sich ein bil­ dungsbürgerliches Profil ergibt: Burg war literarisch und naturwissenschaft­ lich interessiert, besuchte Konzerte, war im Vorstand des Kulturvereins, sang im Chor der Berliner Singakademie und spielte ein Instrument. In seinem Weltbild stellten Wissenschaft und Fortschritt, Bildung und Aufklärung feste Größen dar, womit er ganz dem Scharnhorstschen Ideal des gebildeten Offi­ ziers entsprach.56 Entsprechend begegnete er antisemitischen Anfeindungen im Gestus aufgeklärter Vernunft: Die Emanzipation der Juden erscheint als unausweichliche Konsequenz einer gesellschaftlichen Fortschrittsbewegung, während judenfeindliche Vorurteile als „mittelalterlich“ entlarvt werden. Das Aufklärungsideal, dem sich Burg verpflichtet fühlte, bildete nicht nur einen wichtigen Maßstab dessen, was im liberalen Spektrum der jüdischen Minderheit unter Emanzipation verstanden wurde, sondern stand auch im Brennpunkt der gesellschaftlichen Kämpfe um Deutungshoheit über die eige­ ne Gegenwart und deren „Zeitgemäßheit“. Wie Achim Landwehr darlegt, leis­ tet die Temporalisierung von kulturellen Differenzerfahrungen, wie sie auch die Geschichte meines Dienstlebens vornimmt, einem normativ unterfütterten „Chronozentrismus“ Vorschub, der die fiktive Ungleichzeitigkeit von „Gegen­ kulturen“ – hier im Zeichen eines bürgerlichen Fortschrittsnarrativs – immer wieder neu hervorbringt.57 Die Verzeitlichung kultureller Unterschiede bildet so ein strukturbildendes Element moderner Subjektivität: Die Gefahr, aus der „Inklusionszone der geteilten Zeitgenossenschaft“ herauszufallen oder gar nicht erst in sie aufgenommen zu werden, konstituiert die Handlungsspiel­ räume des bürgerlichen Subjekts also immer schon mit.58 Für die deutschen Juden kehrte sich dieser Umstand gewissermaßen noch einmal gegen sie selbst: Der „Fluch der Ungleichzeitigkeit“ (Jacob Hessing), der die Juden in Deutschland zu gesellschaftlichen Außenseitern stigmatisierte, war ein Trieb­ 55 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 124. 56 | Rieger, R.: Major Meno Burg, S. 245. Zum Bildungsverständnis Scharnhorsts vgl. Stübig, Heinz: Gerhard von Scharnhorst – preußischer General und Heeresreformer. Studien zu seiner Biographie und Rezeption, Berlin 2009, S. 25–54. 57 | Landwehr, Achim: Von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, in: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1–34 58 | Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt/Main 2012, S. 209.

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mittel dafür, dass das „Projekt der Moderne“ in seinem Kern auch ein spezi­ fisch jüdisches Projekt war.59 An der Frage, wie weit die Preisgabe der eigenen Kultur gehen dürfe oder müsse, um sich gesellschaftliche Anerkennung er­ kaufen zu können, spalteten sich die Geister innerhalb wie außerhalb der jüdi­ schen Gemeinden. Ganz in diesem Sinne ist die Anmerkung Meno Burgs zu verstehen, wonach die „schöne Zeit der Anerkennung und Gleichheit“ für die Juden in Deutschland wohl erst dann eintreten werde, wenn sie das „manch­ mal wohlbegründete Vorurteil“ zu durchkreuzen in der Lage wären.60 Folgt man Shulamit Volkov, so scheiterte der Versuch, die eigene (religiöse) Tradi­ tion im Rahmen des Aufklärungsnarrativs umzuschreiben, unter anderem daran, dass dieses Projekt ebenfalls unter einer fundamentalen Ungleichzei­ tigkeit litt. Denn die deutschen Juden vertraten die Ideale der Aufklärung in einer Phase, in der sich diese bereits im Sinkflug befanden, und wurden so zur Zielscheibe der Aufklärungskritik.61 Die Ausgrenzung der Juden erfolgte also nicht nur entlang tradierter Vorurteile, sondern zielte auch gegen ein Gesell­ schaftsmodell, das darauf angelegt war, den Vorurteilen der Gegenwart den Nährboden zu entziehen. Die Geschichte meines Dienstlebens steht für ein solches Gesellschaftsmo­ dell. Sie präsentiert ihren Helden als eine flexible Persönlichkeit, die für neue Erfahrungen offen ist, eigene Vorurteile abstreift und Lernprozesse durch­ läuft. So weichen die Statuserwartungen, die Burg zunächst an seinen Status als Lehrer knüpft, einer Gemeinschaftsorientierung, die seiner militärischen Sozialisation zugeschrieben werden. Das schildert eine Episode aus dem Jahr 1815: Burg – mittlerweile Unteroffizier – ist bei der Feldartillerie in Magdeburg stationiert, wo ihn ein junger Mann „von feiner Bildung“ besucht, um mit dem „Professor der Mathematik“, von dem er in Berlin gehört hat, eine gepfleg­ te wissenschaftliche Konversation zu führen. Als er jedoch mit der einfachen Unterbringung und der rauen Gesellschaft Burgs (er logiert gemeinsam mit den ihm unterstellten Kanonieren auf einem Bauernhof) konfrontiert wird, reagiert der Besucher irritiert, da er wohl ein „angemesseneres“ Ambiente er­ wartet hat. Auch er selbst, schreibt Burg im Rückblick auf seine ersten Ein­ drücke als Rekrut, sei einmal der Auffassung gewesen, dass „die sich in den Wissenschaften befassenden Artilleristen sich einer besonderen Bevorzugung zu erfreuen hätten“.62 Dieser Satz signalisiert, dass hier ein Umdenken statt­ gefunden haben muss. Indem der Text die „kameradschaftliche Treue und Lie­ 59  |  Volkov, Shulamit: Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays, München 2001. Vgl. dazu die Rezension von Hessing, Jacob: Fluch der Ungleichzeitigkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 223 v. 25.9.2001, S. 56. 60 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 169. 61 | Volkov, S.: Das jüdische Projekt der Moderne, S. 133. 62 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 52.

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be“ zu einem zentralen Erfahrungsmoment des Soldaten Meno Burg erhebt, konstruiert er ein Gemeinschaftsideal, das die Distinktionserwartungen des Bürgers Meno Burg unterläuft.63 So vermittelt die Geschichte meines Dienstlebens einerseits die Botschaft, dass Burg seine Position in der militärischen Hie­ rarchie seiner fachlichen Qualifikation verdankt, während sie andererseits den Kameradschaftsmythos jenseits dieser Hierarchie befeuert. Auf diese Weise fügt der Text, der selbst ein performativer Ausdruck von „Bildung“ und „Bür­ gerlichkeit“ ist, Leistungsethos und Gemeinschaftsethos nahtlos zusammen. Burg entstammte einem bürgerlich-urban geprägten Milieu, er wurde 1789 in Berlin geboren und lebte dort, abgesehen von wenigen Unterbrechungen, bis zu seinem Tod im August 1853. Informationen über seine Familie sind in seinen Erinnerungen eher knapp gehalten: der früh verstorbene Vater ein „Buchhalter in einem reichen jüdischen Handlungshause“, die Mutter Leiterin einer „Töchterschule für feine weibliche Handarbeiten“, die Geschwister wer­ den erwähnt, aber namentlich nicht genannt.64 Über weitere verwandtschaft­ liche Verbindungen, insbesondere bezüglich der Familie, in die er einheira­ tet, schweigt sich der Lebensbericht aus. Ihre Kenntnis ist für die vorliegende Analyse jedoch relevant, da sie auf die Handlungsressourcen verweisen, die Meno Burg sich auf den Stationen seines Lebens erschloss. Julie Riess, die er 1824 ehelichte, entstammte einer einflussreichen Juweliersfamilie. Ihr Vater David Jacob Riess war einer der Begründer des Berliner Kassen-Vereins, der die Entwicklung des preußischen Bankenwesens entscheidend beeinflussen sollte.65 Julies drei Schwestern heirateten Männer aus dem assimilierten jüdi­ schen Bürgertum, die wie Burg außergewöhnliche berufliche Erfolge vorzu­ weisen hatten. Am Beispiel der Familie Riess lässt sich zeigen, dass der Weg vom jüdischen Außenseitertum in die Mitte der bürgerlichen Gesellschaft „absichtsvoll angetreten und bewusst verfolgt“ wurde, und dies nicht nur als eine Bestrebung Einzelner, sondern auch als ein viel diskutiertes kollektives Projekt.66 Meno Burg gehörte seit seiner Eheschließung endgültig der Elite des Berliner Bürgertums an, und genauso lebte er auch: Die junge Familie logierte in einer der besten Wohnlagen im gesellschaftlichen Zentrum Berlins, nach dem Tod seiner Frau bezog Burg eine Wohnung unweit des Schlosses Mon­ bijou, ebenfalls eine exquisite Adresse. Als gut dotierter Offizier mit diversen Nebeneinkünften gehörte er zur kleinen Gruppe der Wohlhabenden und zu den knapp sieben Prozent der Gesamtbevölkerung, die das volle Bürgerrecht 63 | Ebd., S. 6. 64 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 9. 65 | Rieger, R.: Major Meno Burg, S. 297. 66 | Volkov, Shulamit: Die Verbürgerlichung der Juden in Deutschland. Eigenart und Paradigma, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum in Deutschland, Bd. 3: Verbürgerlichung, Recht und Politik, Göttingen 1995, S. 105–133, hier S. 106.

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besaßen.67 Das Streben der Juden nach bürgerlicher Gleichberechtigung ma­ nifestierte sich also auch im Falle Burgs im Bildungsgang, in der Berufswahl und einem entsprechenden Lebensstil. Denn wer dem Bürgertum angehören wollte, musste sich den „Anforderungen einer bürgerlichen Lebensführung unterwerfen, um an der bürgerlich-ständischen Ehre teilhaben zu können“.68 Über die Gründe, warum die Geschichte meines Dienstlebens jedoch ihre Le­ ser über den sozialen Status ihres Protagonisten kaum ins Bild setzt, lässt sich nur mutmaßen. Einer davon könnte in dem Aufstiegsnarrativ liegen, das den Erinnerungen eingewoben ist. Der Text legt das Augenmerk gleich zu Beginn auf den Umstand, dass die Familie Burgs nach dem Tod des Vaters zwar nur über ein „sehr kleines, unbedeutendes Vermögen“ verfügt, aber dennoch die Unterstützung der „begüterten Verwandtschaft“ abgelehnt habe. Die Mutter habe es vielmehr vorgezogen, sich und ihre sechs Kinder „von ihrer Hände Arbeit“ zu ernähren.69 Sie ist es auch, die in dem Lebensbericht wiederholt Erwähnung findet: Mit ihrem „unausgesetztesten Fleiß“ und ihrer „gewis­ senhaften Pflichttreue“70 verkörpert sie die Tugenden, an denen sich der IchErzähler orientiert. Sie scheut „kein Opfer“ und sorgt dafür, dass Burg nach der jüdischen Elementarschule eine weiterführende Schule – das Gymnasium zum Grauen Kloster – besuchen kann, Privatunterricht im Fach Mathematik erhält und schließlich die Bauakademie zu Berlin besucht, wo er 1807 mit dem Examen zum Feldmesser die Eintrittskarte für die Anstellung im preußischen Staatsdienst löst. Ein weiterer Grund für die kargen Informationen über die fa­ miliären Hintergründe könnte darin zu suchen sein, dass sie der adressierten Leserschaft aufgrund seiner Prominenz innerhalb der jüdischen Gemeinde Berlins weitgehend bekannt waren. Schließlich dürfte das spezifische Genre der Soldatenerinnerung mit dazu beigetragen haben, dass bestimmte Zusam­ menhänge, die in anderer Hinsicht von biographischer Relevanz gewesen wä­ ren, in diesem Text unbeleuchtet bleiben.71

67 | Rieger, R.: Major Meno Burg, S. 287–305. 68 | Rahden, Till van: Von der Eintracht zur Vielfalt, in: Andreas Gotzmann/Rainer Liedtke/Till van Rahden (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933 (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. 63), Tübingen 2001, S. 9–32, hier S. 14. 69 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 9. 70 | Ebd., S. 10. 71 | Vgl. dazu Epkenhans, Michael/Förster, Stig/Hagemann, Karen (Hg.): Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen, Paderborn 2006; Carl, Horst/Planert, Ute (Hg.): Militärische Erinnerungskulturen vom 14. bis zum 19. Jahrhundert. Träger – Medien – Deutungskonkurrenzen, Göttingen 2012.

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Das inhaltliche Alleinstellungsmerkmal der Geschichte meines Dienstweges – und das Hauptmotiv für das öffentliche Interesse an ihr – bestand darin, dass ihr Autor die ihm wiederholt angetragene Konversion zum Christentum wider alle Opportunität verweigert hatte. Soziale Anerkennung und konfessionelle Selbstbehauptung, so ihre Botschaft, schlossen einander nicht aus, sondern be­ dingten sich vielmehr wechselseitig. Das den Erinnerungen unterlegte Selbst­ konzept ist das eines Pflichtmenschen, für den das religiöse Bekenntnis eine Frage des Gewissens darstellt. Es betrifft allein den Privatmenschen und hat mit dem Status des Berufsmenschen nichts zu tun: Dieses Argumentations­ muster, das eine spezifisch bürgerliche Auffassung von Religiosität zu erken­ nen gibt,72 bildet die Deutungsfolie, vor deren Hintergrund die Erzählung ihre Dramaturgie entfaltet. In einer Phase beruflicher Unsicherheit scheint Burg zwar kurz mit dem Gedanken der Konversion gespielt zu haben; er verwirft diesen Plan aber nach der Eheschließung mit Julie Riess. In der Folgezeit wird er zu einer festen Größe der jüdischen Gemeinde. Der Umstand, dass Konver­ sionen innerhalb der Familie Riess erst nach dem Ableben des Familienpat­ riarchen im Jahr 1849 üblich wurden, mag gut zwei Jahrzehnte zuvor mit zu seiner konfessionellen Standfestigkeit beigetragen haben.73 Was die Ausübung seines Glaubens betrifft, könnte man Burg als pragmatisch bezeichnen: In den Auseinandersetzungen um die Reform des Gottesdienst nimmt er eine eher orthodoxe Position ein, hinsichtlich der Zeremonialgesetze ist seine Haltung indifferent. Schon um an den gemeinsamen Mahlzeiten im Offizierskasino teilnehmen zu können, bricht er die Speisegebote, auch hat er keine Bedenken, christliche Symbole als Ordens- und Ehrenzeichen entgegenzunehmen.74 Burg ist bekenntnisfest, aber nicht fromm: An seinem jüdischen Glauben hält er bis zu seinem Lebensende fest. Am ausführlichsten setzt uns die Geschichte meines Dienstlebens über den Karriereweg des preußischen Offiziers Meno Burg in Kenntnis. Die biogra­ phische Reflexion folgt der Dramaturgie eines stets vom Scheitern bedrohten Gelingens, die den Ausbildungsgang, die unterschiedlichen Dienstorte und die Karrierestufen nachvollzieht, zu denen neben Beförderungen auch die Ver­ leihung von Orden und Ehrenzeichen zählen. Sie markiert „schicksalhafte“ Wendungen und Begegnungen, beschreibt das militärische Gemeinschaftsge­ füge sowie den Umgang mit judenfeindlichen Äußerungen innerhalb und au­ ßerhalb dieses Gemeinschaftsgefüges; sie zeichnet nach, wie Burg ein soziales Netzwerk knüpft, das ihn schließlich trägt, und demonstriert, mit Hilfe wel­ cher Verhaltensorientierungen und Strategien sich der in der Armee eigent­ 72 | Hölscher, Lucian: Die Religion des Bürgers. Bürgerliche Frömmigkeit und protestantische Kirche, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 595–630. 73 | Burg, M.: Geschichte eines Dienstlebens, S. 114. 74 | Rieger, R.: Major Meno Burg, S. 314.

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lich unerwünschte Jude als Offizier etabliert und anerkannt wird. Hier zeigt sich, dass sich der Stellenwert gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für die biographische Konstruktion eines Subjekts erst dann erschließt, wenn man danach fragt, wie welche lebensgeschichtlichen „Ereignisse“ als Rahmenbe­ dingungen eingebracht und bedeutsam gemacht werden. Burgs Eintritt in das Militär erfolgte in einer historischen Konstellation, die für das Projekt der jüdischen Emanzipation verheißungsvolle Möglichkeiten zu bieten schien: Das im März 1812 erlassene Emanzipationsedikt eröffnete Juden erstmals die Aussicht, als gleichwertige Mitglieder einer Rechtsgemein­ schaft anerkannt zu werden. Zuvor waren sie dem „Revidierten Generalpri­ vilegium und Reglement“ von 1750 unterworfen, das die „Vermehrung“ der Juden in Preußen einschränken sollte und die jüdische Bevölkerung erheb­ lichen Handels- und Berufsverboten unterwarf.75 Durch das Emanzipations­ edikt waren Juden erstmals „in der Lage, sich mit dem Staat, in dem sie lebten, als ihrem Vaterland zu identifizieren“, wie Michael Brenner konstatiert.76 Die 1814 gesetzlich festgeschriebene allgemeine Wehrpflicht, deren tatsächliche Einführung sich allerdings noch über Jahrzehnte erstrecken sollte, bildete aus ihrer Sicht ein zentrales Element dieses Gleichstellungsprozesses. Sie sym­ bolisierte den patriotischen Konsens, der zwischen dem König und seinem „Volk“ als einer imaginierten Gemeinschaft von Gleichen bestehen sollte.77 Dieses Egalitätsversprechen bestand jedoch lediglich auf dem Papier, denn das Emanzipationsedikt stellte den Militärdienst für Juden unter besondere Aus­ führungsbestimmungen, die den obrigkeitlichen Entscheidungsträgern im­ mensen Spielraum ließen.78 Hinzu kam, dass die preußischen Monarchen ihr Königreich weiterhin als einen „christlichen“ Staat begriffen. Entsprechend hoch war der Konversionsdruck auf die jüdische Minderheit: Wer eine Karrie­ re im Militär oder in der Staatsverwaltung anstrebte, war vor die Wahl gestellt, entweder den Glauben oder die Lauf bahn aufzugeben.79 Die Art und Weise, wie sich das Verhältnis zwischen Juden und Militär gestaltete, verweist auf die fragilen Bedingungen, die für die Emanzipation 75 | Fischer, Horst: Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert. Zur Geschichte der staatlichen Judenpolitik, Tübingen 1968, S. 8. 76 | Brenner, Michael: Vom Untertanen zum Bürger, in: Ders./Stefi Jersch-Wenzel/Michael A. Meyer: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München 2000, S. 260–284, hier S. 261. 77 | Vgl. dazu Frevert, Ute: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001. 78 | Fischer, H.: Judentum, Staat und Heer, S. 26f. 79 | Michael A. Meyer, Judentum und Christentum, in: M. Brenner/S. Jersch-Wenzel/ M. A. Meyer: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2, S. 177–207, hier S. 186–193.

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der Juden in Preußen wie anderswo in Deutschland herrschten. Bestanden in der preußischen Beamtenschaft um 1800 noch immense Vorbehalte gegen die Zulassung von Juden zum Militär, änderte sich diese Haltung nach der Nie­ derlage gegen Napoleon. In den Befreiungskriegen, als es die außenpolitische Bedrohungssituation nahelegte, das militärische Potential der Bevölkerung vollständig auszuschöpfen, griff die Wehrpflicht für Juden nur in dem auf die preußischen Stammprovinzen beschränkten Geltungsbereich des Eman­ zipationsedikts.80 Dokumentiert ist, dass bis zum Ende der Befreiungskriege mindestens 80 jüdische Soldaten in preußischen Uniformen Auszeichnun­ gen erwarben, mehr als die Hälfte von ihnen erhielt Beförderungen. Mit dem Kriegsende war die Karriere jüdischer Offiziere jedoch beendet, sofern sie sich nicht taufen ließen.81 Wie ein Hohenzollernprinz zu Protokoll gab, sollte nach dem Krieg wieder „abgestoßen“ werden, was „ohne standesmäßige Herkunft und Erziehung“ in die Armee gekommen und nicht „assimilierbar“ sei, um so die „alte Ordnung“ wiederherzustellen.82 In der Restaurationsära verschlech­ terten sich die Aufstiegsmöglichkeiten für Juden massiv: Zunächst mussten alle jüdischen Beamten ihre Stellen aufgeben, dann wurde die Beförderung jüdischer Soldaten untersagt, schließlich erwog der König sogar, die Militär­ pflicht für Juden zurückzunehmen. Erst im vorrevolutionären Jahrzehnt kehr­ te sich diese Entwicklung um, als die Wehrpflicht für Juden auf ganz Preußen ausgedehnt und die restriktiven Beförderungsbedingungen etwas gelockert wurden.83 Die skizzierten politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen der preußischen Nachreformära verdeutlichen, dass es für ungetaufte Juden nach dem Emanzipationsedikt so gut wie unmöglich war, eine Karriere in der preu­ ßischen Armee zu absolvieren. Anhand der Erinnerungen Meno Burgs lassen sich die Hindernisse nachvollziehen, die sich Juden in der überaus prekären „Emanzipationsphase“ (Arno Herzig) der deutsch-jüdischen Geschichte ent­ gegenstellten; zugleich führen sie ihren Lesern vor Augen, wie ihr Protago­ nist die immer enger werdenden Handlungsspielräume so für sich zu nutzen weiß, dass sich neue – unvorhersehbare – Optionen ergeben. Als Burg sich 1813 freiwillig bei der preußischen Garde meldet, wird er wegen seiner jüdischen Religionszugehörigkeit abgewiesen; er wechselt daraufhin zur Artillerie, wo er bald zum Sekondeleutnant aufsteigt. Zunächst verläuft seine Karriere in geordneten Bahnen, deren Richtung Burg allerdings keineswegs immer selbst bestimmt: Auf die Empfehlung eines Vorgesetzten hin wird er zunächst Ma­ 80 | Krüger, Christine G.: Kriege und Integration. Deutsche und französische Juden im Vergleich, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 12 (2013), S. 173–193, hier S. 178. 81 | Brenner, M.: Vom Untertanen zum Bürger, S. 280. 82 | Fischer, H.: Judentum, Staat und Heer in Preußen, S. 122. 83 | Krüger, C.: Kriege und Integration, S. 179.

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thematiklehrer, ab 1816 dann Zeichenlehrer an der Artillerie- und Ingenieur­ schule zu Berlin. Er konzipiert einen Lehrplan, der zwar auf die Ablehnung der Schulleitung, dafür aber auf die Wertschätzung Prinz August von Preußens stößt, der als Chef der Artillerie von nun an eine entscheidende Rolle in seiner Laufbahn spielt. Burg macht sich in der Folgezeit um die Schule verdient: Sein Unterricht gilt als vorzüglich, und er sorgt dafür, dass seine Schüler ihre Lernerfolge in Ausstellungen unter Beweis stellen. Parallel dazu tritt er als Lehrbuchautor in Erscheinung, sein an französischen Vorbildern orientiertes Buch Die geometrische Zeichnenkunst wird rasch zum Standardwerk.84 Nachdem er turnusge­ mäß zum Premierleutnant aufgerückt ist, wird ihm die 1830 anstehende Er­ nennung zum Hauptmann der Artillerie jedoch unter dem Hinweis auf seine Religionszugehörigkeit verweigert: Dass christliche Soldaten von einem Juden geführt werden, passt nicht in die Vorstellungswelt Friedrich Wilhelms III.85 Erst der Intervention seines Fürsprechers August von Preußen, der den Ver­ lust einer herausragenden Fachkraft vermeiden will, ist es zu verdanken, dass der Beförderung schließlich stattgegeben wird.86 Andernfalls wäre Burg aus dem Militärdienst ausgeschieden – und die Geschichte meines Dienstlebens hät­ te einen völlig anderen Tenor erhalten, so sie denn geschrieben worden wäre. Burg krönte seine Lauf bahn mit dem Rang eines Majors, allerdings ohne eine Planstelle einzunehmen und ein entsprechendes Gehalt zu beziehen. Auch bei der Verleihung militärischer Ehrenzeichen stößt er auf Vorbehalte, die unmit­ telbar mit seinem religiösen Bekenntnis zusammenhängen: Die Verleihung des goldenen Kreuzes am kornblauen Bande für 25-jährige Diensttätigkeit ver­ zögert sich ebenso wie die des Roten Adlerordens vierter Klasse, der ihm drei­ mal verweigert wird, bevor er ihn 1841 anlässlich des königlichen Geburtstags erhält. Für Burg sind diese Ehrenzeichen – ungeachtet ihrer christlichen Sym­ bolik – von so hoher Bedeutung, dass er während dieser Hängepartien erneut darüber nachdenkt, den Dienst zu quittieren.87 Die Erinnerungen Burgs sind jedoch nicht nur die eines Juden, der sich in einer feindlichen Umwelt behauptet, sondern auch die eines bürgerlichen 84 | Burg, Meno: Die geometrische Zeichnenkunst, oder vollständige Anweisung zum Linearzeichnen, zum Tuschen und zur Construction der Schatten. Für Artilleristen, Ingenieure, Baubeflissene und überhaupt für Künstler und Technologen, zunächst zum Gebrauche beim Unterricht der königlich preußischen Artillerie-Schulen, 2 Bde., Berlin 1822. 85 | Vgl. dazu Clark, Christopher: The Limits of the Confessional State: Conversions to Judaism in Prussia, 1814–1843, in: Past and Present 147 (1995), S. 159–179, hier S. 160. 86 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 112–127. 87 | Ebd., S. 136.

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Aufsteigers, der sich in einem Berufsfeld etabliert, das lange dem Adel vorbe­ halten war. Hier lohnt ein kurzer Blick auf den tiefgreifenden Wandel, den das Militär um 1800 durchlief. Die zunehmende Komplexität der Heeresorganisa­ tion, Neuerungen in der Waffentechnik und die Verwissenschaftlichung der Kriegführung begannen das Berufsbild des Offiziers von seiner ständischen Prägung zu lösen und fokussierten es auf Kriterien wie Bildung, Wissen und Fachkompetenz. Im Zuge der Professionalisierung des Offiziersberufs entkop­ pelte sich der Zugang zur Offizierslauf bahn von der sozialen Herkunft und öffnete sich für das Bürgertum.88 Diese Umstellung verlangte allen Beteiligten Anpassungsleistungen ab: Während bürgerliche Offiziere gehalten waren, sich einem aristokratisch geprägten Verhaltenskodex anzugleichen, hatte sich der Adel damit auseinanderzusetzen, dass die Zugehörigkeit zum Offizierskorps nicht mehr das Privileg eines einzelnen Standes bildete, sondern Kompeten­ zen voraussetzte, die individuell erworben werden mussten.89 Burg verfügte über diese Kompetenzen. Dass er sich in einer technischen Waffengattung etablierte, die hohe Bildungsanforderungen mit eher niedrigem Prestige kombinierte,90 macht seine Lauf bahn zu einem typischen Beispiel für ein bür­ gerliches Karrieremuster innerhalb des preußischen Offizierskorps. Entspre­ chend weist die Geschichte meines Dienstlebens ihren Protagonisten als ein „Expertensubjekt“ aus, dessen Denken und Handeln von wissenschaftlichen Prinzipien angeleitet werden. Dies geben insbesondere jene Passagen zu er­ kennen, in denen der didaktische Auf bau des von Burg entwickelten Lehrplans erläutert und die Entstehung seiner Lehrbücher nachgezeichnet wird: Hier ist ein Wissenschaftler am Werk, der Vorträge über die „Theorie des Zeichnens“91 hält, den didaktischen Auf bau seines Unterrichts ausführlich zu erläutern weiß und dessen Lehrbücher nicht nur innerhalb der preußischen Armee Ver­ breitung finden, sondern auch im Ausland wertschätzend zur Kenntnis ge­ nommen und zudem ins Französische übersetzt werden.92

88 | Zum Begriff der Professionalisierung vgl. Stichweh, Rudolf: Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft, in: Arno Combe/Werner Helsper (Hg.): Pädagogische Professionalität, Frankfurt a.M. 1996, S. 49–69. 89  |  Melichar, Peter: Metamorphosen eines treuen Dieners, in: Robert Hoffmann (Hg.): Bürgertum zwischen Tradition und Modernität, Wien 1997, S. 105–142. 90 | Walter, Dierk: Preußische Heeresreformen 1807–1870. Militärische Innovation und der Mythos der „Roonschen Reform“, Paderborn 2003, S. 115f. 91 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 76. 92 | Ebd., S. 166.

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5. P r ak tiken der S ubjek tivierung , S ubjek tivierung als P r a xis Nach dem bisher Gesagten kann festgehalten werden, dass die Geschichte meines Dienstlebens ein Subjekt entwirft, das sich durch permanente „Selbstbe­ obachtung“ und „Selbstverbesserung“ in die jeweils vorherrschenden Verhält­ nisse einpasst, diese aber auch individuell für sich zu nutzen weiß. Für den Ich-Erzähler stellt die „stete Aufmerksamkeit auf sich selbst“, von der eingangs die Rede war, ein unverzichtbares Mittel im Ringen um soziale Anerkennung dar. Er unterwirft sich einem Verhaltensregime, dessen Vollzug er selbsttätig anleitet. In einem regelrechten Trainingsprogramm eignet er sich neben fach­ lichen und sozialen Kompetenzen ein krisenfestes Verhaltensrepertoire an, das sich schließlich habituell verfestigt. „Stets und ständig gab ich auf mich selbst acht“, so lautet die Strategie, „suchte begangene Fehler zu verbessern und benutzte die sich mir darbietenden Vorbilder als Richtschnur meines Ver­ haltens und Betragens.“93 Die Befähigung zur Selbstführung stellt den Kern des hier präsentierten Subjektkonzepts dar. Die Erinnerungen Burgs erweisen sich so als eine Anleitung zur Herstellung einer sozial authentifizierbaren Per­ sonalität, deren Steuerungsinstanz das sich selbst bildende Subjekt ist. Wenngleich der Text das Protokoll eines gelungenen Lebens ausbreitet, tritt das Subjekt hier keineswegs als eine homogene Einheit auf. Seine biographische Konstruktion fördert nicht nur die Brüche zutage, die der bürgerlichen Subjekt­ kultur selbst immanent waren, etwa die Friktion „zwischen der Anforderung allgemeiner Menschlichkeit und der Selbstwahrnehmung singulärer Individua­ lität“, wie sie Reckwitz für die autobiographische Literatur des 19. Jahrhunderts annimmt.94 Denn obwohl Burg dem bürgerlichen „Referenzmodell der harmo­ nisch entwickelten und gebildeten Persönlichkeit“95 zweifellos bis in die Finger­ spitzen hinein entsprach, blieb er als Jude identifizierbar bzw. wurde – gegen sei­ ne erklärte Absicht – als solcher identifizierbar gemacht, etwa um seine Eignung als Offizier infrage zu stellen. Eine sozial anerkennbare Personalität aufzubauen, setzte in seinem Fall voraus, dass er dazu in der Lage war, seine Herkunft dort, wo sie unerwünscht war, unter Verschluss zu halten. Diese Verhaltensstrategie erforderte nicht nur die bloße „Einpassung“ in ein bestimmtes Subjektformat, sondern auch die Fähigkeit, zwischen widersprüchlichen Verhaltensprofilen zu wechseln und dennoch ein „authentisches“ Selbst zu verkörpern. Das gelang nicht ohne Reibungsverlust: Das Verhältnis zwischen dem „äu­ ßeren“ und dem „inneren“ Selbst, zwischen dem Offizier, dem Juden und dem 93 | Ebd., S. 5. 94 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 157. 95 | Lässig, Simone: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 616.

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Bürger ist immer wieder Irritationen ausgesetzt und muss reflexiv eingeholt werden. Wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt wurde, bedeutet der Ein­ tritt in den militärischen Raum eine Begegnung mit einer unbekannten Welt. Bereits das Anlegen der Dienstbekleidung löst eine Art Selbstkonfrontation aus: Eine Uniform zu tragen – „das Kostüm, in welchem ich mich erblick­ te“ – und als „Vaterlandsverteidiger“ durch die Straßen Breslaus zu schreiten, erscheint „sonderbar, neu und befremdend“.96 An anderer Stelle wird davon berichtet, wie Burg in Danzig als frisch ernannter Leutnant auf dem Weg von seinem Quartier in die Stadt einem orthodoxen Juden begegnet, der – offenbar beeindruckt von der Erscheinung des preußischen Offiziers im Paradeanzug – seinen Kopf entblößt und sich tief vor ihm verbeugt. Burg tadelt ihn für diese Demutsgeste und unterstreicht seine Missbilligung mit dem Hinweis, „ich sei so gut wie er ein Abkömmling Israels“. Mit dieser unerwarteten Selbstoffen­ barung löst er bei seinem Gegenüber eine Reaktion aus, die den Ich-Erzähler mit der kulturellen Distanz zwischen dem militärischen und dem jüdischen Selbst konfrontiert – ein offensichtlich verstörendes Erlebnis: „Doch als ich mich umsah und den Mann mit seinen ausgebreiteten Armen, das Auge nach oben gerichtet, in einer mich segnenden Stellung erblickte, da überfiel mich ein namenlos rührendes Gefühl, mein Mutwille war plötzlich dahin, und ge­ dankenschwer setzte ich meinen Weg [fort]“.97 Die Geschichte meines Dienstlebens entwickelt ihre Aufstiegserzählung vor dem Hintergrund der kollektiv geteilten Erfahrung, dass Juden immer schon als gesellschaftliche Außenseiter gekennzeichnet wurden. Diese Erfahrung habe bereits zu Beginn seiner Dienstzeit dazu geführt, „meinen Enthusias­ mus bedeutend abzukühlen“, wie Burg schreibt.98 Während er in der bereits geschilderten Konfrontation mit dem königlichen Machtapparat immerhin über die Möglichkeit verfügt, die Ablehnung von Beförderungsgesuchen mit Argumenten zu kontern, die in den Karriererichtlinien der preußischen Ar­ mee verankert sind, mobilisiert der alltägliche „Normalantisemitismus“ Vor­ urteile, die weit über die – von der militärischen Administration als Formalität ausgewiesene – Frage der Religionszugehörigkeit hinausgehen.99 Die Liste der Demütigungen ist lang: Mal ist es seine Vermieterin in Neiße, die sich über den „eigentümlichen, unangenehmen Geruch“ der Juden auslässt,100 mal ein

96 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 14. 97 | Ebd., S. 66. 98 | Ebd., S. 15. 99 | Zum Antisemitismus-Begriff vgl. Gräfe, Thomas: Antisemitismus in Deutschland 1815–1918. Rezensionen – Forschungsüberblick – Bibliographie, 2. Aufl., Norderstedt 2010, S. 101–111. 100 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 24.

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Professor der Berliner Universität, der die Juden für eine „böse Nation“ hält,101 mal ein Kamerad, der während eines Spaziergangs ganz unbefangen davon berichtet, „dass in der Provinz Posen die Juden zum Osterfeiertage christliche Kinder schlachteten, indem sie infolge ihres Gesetzes das Blut derselben zu ihren Osterkuchen gebrauchten“.102 Im Blick auf seine Offizierslauf bahn ist es bemerkenswert, wie das Außenseitertum Burgs selbst noch in dem Moment markiert wird, als er mit der Ernennung zum Hauptmann seinen wichtigsten Karriereschritt absolviert: Statt der eigentlich vorgesehenen Artillerieuniform muss er die Uniform der Zeugkapitäne anlegen, was als Diskriminierung ge­ meint und erkennbar ist. Zumindest im Rückblick ist sich Burg darüber im klaren, „dass der König mir als Juden dieses Abzeichen gegeben habe, um mich gewissermaßen von den anderen Offizieren zu unterscheiden“.103 Der Text beschreibt diese Vorfälle als Einbrüche in die Normalität des All­ tags und entwirft Strategien, um die normative Ordnung, die diese Einbrüche provoziert, zu unterlaufen. So müsse der Kampf um die Gleichstellung der Juden „mit Klugheit, Besonnenheit und möglichst kaltem Blut“ geführt wer­ den, da sich das „leider doch hin und wieder zeigende Vorurteil doch nicht mit einem Male und urplötzlich beseitigen“ lasse. Der jüdische Jüngling werde „deshalb auch fortan auf sein ganzes Benehmen, sein Tun und Lassen, auf sei­ ne ganze persönliche Erscheinung noch fortwährend sehr acht geben müssen, sich vorsichtig vor Übergriffen und Überschätzungen zu hüten haben, seine Handlungen, seine Sprache und Gebärden einer strengen und unparteiischen Kritik unterwerfen, sich anerkannt tüchtige Vorbilder zur Nacheiferung wäh­ len, und überhaupt mit einer um so größeren Bescheidenheit und Nachsicht auftreten müssen, als ihm jetzt vom Staat das Recht zu fordern gewisserma­ ßen eingeräumt worden ist.“104 Der Text leitet mit anderen Worten dazu an, die für den beruflichen Aufstieg unverzichtbare Leistungsorientierung mit einem Auftreten zu verbinden, das selbst noch die Affekte und die Ausdrucksweise, aber auch Mimik und Gestik strenger Selbstkontrolle unterzieht.105 So dürf­ ten Reaktionen auf Vorurteile zum einen nicht von einer „zu weit getriebenen Empfindsamkeit“ zeugen,106 zum anderen müsse das „Benehmen gegen Vor­ gesetzte, Kameraden und Untergebene sowohl im Dienst, als im geselligen Verkehr“ darauf zielen, das „Vorurteil zu beseitigen, zu tilgen und überhaupt den Juden möglichst ganz in Vergessenheit zu bringen“.107 101 | Ebd., S. 94. 102 | Ebd., S. 98. 103 | Ebd., S. 127. 104 | Ebd., S. 168. 105 | Ebd., S. 5. 106 | Ebd., S. 3. 107 | Ebd., S. 5.

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Diese Zeilen geben ein Verhaltensregime zu erkennen, das sich dem Verhältnis zwischen Juden und nicht-jüdischer Umwelt seit dem Beginn der jüdischen Emanzipation bis ins 20. Jahrhundert hinein einprägte: Die Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft war an die Bedingung geknüpft, die eigene Identität möglichst unsichtbar zu machen.108 Sie reduzierte sich auf das Wissen um die eigene Herkunft und das religiöse Bekenntnis, konstituierte das jüdische Selbst also gleichsam in der Innenwelt des Subjekts, während der nach außen sichtbare Mensch „in seinem persönlichen Auftreten und in seiner beruflichen Tätigkeit die Vermittlung des bürgerlichen Selbstverständnisses“ unternahm.109 Das Bestreben, die äußeren Kennzeichen der jüdischen Identität zu eliminieren, setzte sich auf der Ebene der visuellen Kultur fort. Wie Michaela Haibl zeigt, waren die zeitgenössischen Porträts jüdischer Persönlichkeiten darauf angelegt, gesellschaftlich konventionalisierte Wertvorstellungen zu transportieren. So vermittelt auch das Bildnis Meno Burgs, das ihn in seiner Offiziersuniform zeigt, das Ethos eines Staatsdieners, der seine Pflicht erfüllt. Frisur, Barttracht und Gestus entsprechen ganz den damaligen Vorstellungen eines schlichten, aber dennoch bürgerstolzen Auftretens, das „signalhaft das aufkommende jüdischdeutsche Selbstverständnis manifestiert“.110 Wie seine Erinnerungen präsentiert also auch die visuelle Darstellung Meno Burgs den emanzipierten Juden als ein bürgerliches Normalsubjekt, dessen Erscheinungsbild alles „Jüdische“ abgeht. Diese Beobachtung bestätigt zunächst die Reckwitzsche Annahme, dass hegemoniale Subjektordnungen bedient werden müssen, um innerhalb dieser Ordnungen anerkannt zu werden. Gleichwohl handelt es sich im Falle Burgs auch um eine subversive Ausgestaltung dieses Subjektformats, da sie die judenfeindlichen Klischees, die gleichsam die Kontrastfolie für die Geschichte meines Dienstlebens bilden, performativ unterläuft, indem sie das bürgerliches „Normalsubjekt“ eben auch als einen bekennenden Juden zur Darstellung bringt. Dass sein Kampf um soziale Anerkennung unter dem Strich erfolgreich ist, demonstriert die Geschichte meines Dienstlebens nicht zuletzt anhand der intensiven Beziehungen, die Burg zu Schülern, Kameraden und Vorgesetzten pflegt. Sie weisen ihn als eine in seinem unmittelbaren dienstlichen Umfeld – das um seine jüdische Herkunft weiß, wie der Text unterstreicht – geschätzte Persönlichkeit aus, die auf der Klaviatur der bürgerlichen Geselligkeit wie der militärischen Hierarchie gleichermaßen zu spielen weiß. Die Vorurteile der nicht-jüdischen Umwelt verlieren sich dort, wo der Ich-Erzähler in das Nahfeld 108 | Lässig, S.: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 79. 109 | Haibl, Michaela: Im Widerschein der Wirklichkeit. Die Verbürgerlichung und Akkulturation deutscher Juden in illustrierten Zeitschriften zwischen 1850 und 1900, in: Andreas Gotzmann/Rainer Liedtke/Till van Rahden (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche, S. 217–240, hier S. 220. 110 | Ebd., S. 220f.

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des militärischen Gemeinschaftsgefüges eintaucht. Dass die „Kameradschaft“ bisweilen freundschaftliche oder sogar intime Züge aufweist, schildern diver­ se Episoden, in denen geweint, umarmt und geküsst wird. So wird Burg in Koblenz, wo er sich Mitte der 1830er Jahre, wie er betont, als urlaubender Pri­ vatmann „in Zivilkleidern“ aufhält, zu einem Fest in das Offizierskasino einer dort stationierten Artilleriebrigade eingeladen. Man weist ihm einen „Ehren­ platz zwischen meinem Freunde und dem ältesten Hauptmann“ zu, und der Abend entwickelt sich zu einem rauschenden Fest, das schließlich „auch mir die Zunge und das vor Überraschung beengte Herz“ löst. Burg zeigt sich von diesem Ereignis so nachhaltig beeindruckt, dass er darüber schwärmt, wie glücklich ihn diese „so vorurteilsfreie und herzliche Zuneigung“ gemacht ha­ be.111 Persönliche Freundschaft im Rahmen militärischer Kameradschaft zu erfahren, wird im Deutungsrahmen dieser Autobiographie zum impliziten Beleg dafür, dass die zunächst so fragil anmutende Karriere Burgs am Ende doch auf einem – allerdings voraussetzungsvollen – Fundament sozialer An­ erkennung aufruht. Die Geschichte meines Dienstlebens konstruiert einen Lebensbogen, dessen Protagonist sich schlussendlich als ein vom Scheitel bis zur Sohle königstreuer Offizier erweist. Die mit dem Fahneneid geschworene Treue zum Monarchen steht im Zentrum eines Dienstverständnisses, das dem Leitbild des „unpo­ litischen“ Soldaten entspricht, der als Garant königlicher Macht allein dem Dienstherrn verpflichtet ist.112 Es konstituiert Burg als Mitglied einer imagi­ nierten Gemeinschaft, in der die gesellschaftlichen Brüche, an denen sich die Erinnerungen abarbeiten, normativ überwölbt werden. Die Vorstellung, einer unzerrüttbaren Treuegemeinschaft anzugehören, wird durch die lavierende Beförderungspolitik ebenso wenig infrage gestellt wie das Loyalitätsverhältnis zu Friedrich Wilhelm III. Die Revolution von 1848/49, in der Juden erstmals in großer Zahl als politisch Handelnde und nicht selten als politische Führer auftraten,113 stellt deshalb keine Verlockung dar, so sehr identifiziert sich der Offizier mit der Monarchie, der er vorbehaltlos dient. Revolutionäres Scheitern und biographische Vollendung greifen ineinander: „In dem verhängnisvollen 111 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 132–135. 112 | Vgl. dazu Busch, Michael: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!“ Militärgeschichte des deutschen Bundes 1815–1860, in: Karl-Volker Neugebauer (Hg.): Grundkurs deutsche Militärgeschichte, Bd. 1: Die Zeit bis 1914. Vom Kriegshaufen zum Massenheer, 2. Aufl., München 2009, S. 220–301, hier S. 248–252. 113  |  Rürup, Reinhard: Der Fortschritt und seine Grenzen. Die Revolution von 1848 und die europäischen Juden, in: Dieter Dowe/Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.): Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 985–1005, hier S. 997; Toury, Jacob: Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar, Tübingen 1966, S. 47–68.

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Jahre 1848, in welchem so viel Unheil über unser Vaterland gebracht worden“ sei, schreibt Burg in den Nachträgen zu seinen Erinnerungen, „blieb die Ar­ mee ihrem Eide, ihrem König und Kriegsherrn treu, hielt fest und unverbrüch­ lich an ihrer Pflicht, an dem Hohen Haus der Hohenzollern in Not und Tod, wie schlau, fein und lockend auch die Verführungskünste alle waren, welche angewendet worden, um sie in ihrer ehrenhaften Festigkeit, in ihrem Pflicht­ gefühl zu erschüttern.“114 Dem heutigen Beobachter mag sich hier ein Wider­ spruch auftun, denn es war eben diese Revolution, die erstmals in der deut­ schen Geschichte die rechtliche Gleichstellung der Juden, für die sich auch die Geschichte meines Dienstlebens einsetzt, in einer Verfassung festschrieb. Doch die Botschaft des Textes an das zeitgenössische Publikum ist eine andere: Sie führt ihren Lesern vor Augen, dass patriotische Gesinnung und Treue gegen­ über dem Dienstherrn keine Frage der Herkunft oder der Religionszugehörig­ keit sind – und eben deshalb auch die Emanzipation der Juden nicht an solche Kriterien gebunden werden darf. Rückblickend stellt sich das „Dienstleben“ Meno Burgs als ein gelungenes Beispiel für den Aufstieg eines jüdischen Außenseiters in die Mitte der bür­ gerlichen Gesellschaft dar. Folgt man den einzelnen Stationen dieses Weges, erweist sich dieser Aufstieg als äußerst prekär. In der autobiographischen Aus­ formung dieser Subjektivität bilden sich die gesellschaftlichen Widersprüche der Zeit nicht einfach nur ab, sie müssen auch bewältigt werden. Auf dieser Deutungsgrundlage entwirft der Text Verhaltensorientierungen, die Burg als selbsttätiges Individualsubjekt in Szene setzen. Indem die Geschichte meines Dienstlebens ihren Helden als eine Durchschnittspersönlichkeit präsentiert, der Außergewöhnliches gelingt, implementiert sie ein jüdisches Subjekt in eine feindliche Umwelt und schreibt dessen Lebensgeschichte in ein emanzi­ patorisches Zukunftsmodell um. Die „stete Aufmerksamkeit auf sich selbst“ bildet das Vademecum dieses autobiographischen Deutungsangebots: als Ver­ haltensimperativ einer hegemonialen Subjektkultur sowie als Handlungsres­ source dafür, um in den Kältezonen dieser Subjektkultur bestehen zu können.

114 | Burg, M.: Geschichte meines Dienstlebens, S. 176.

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„Noch bleibt mir ein Augenblick Zeit um mich mit Euch zu unterhalten.“ Praxeologische Einsichten zu kaufmännischen Briefschaften des 18. Jahrhunderts Lucas Haasis Prolog: Historische Communities of Practice „A perspective is not a recipe; it does not tell you just what to do. Rather, it acts as a guide about what to pay attention to, what difficulties to expect, and how to ap­ proach problems.“1

Kein Rezept oder Erkenntnisgarant, sondern Leitfaden und Angebot: Vor die­ sem Hintergrund versteht der Soziologe Etienne Wenger das Anliegen seines praxistheoretischen Konzeptes der Communities of Practice. Für Historiker spricht er damit eine Einladung aus. Es ist die Einladung, das soziologische Konzept als interdisziplinären Vorschlag anzunehmen. Für den der Praxis­ theorie bereits zugetanen Historiker reicht Wengers Maxime gleichwohl bereits weiter. Sie wird zum Maßstab. Praxeologische Ansätze bieten den Geschichts­ wissenschaften keine Musterlösungen, sie bieten neue Erklärungsangebote: Wegweiser. In welche Richtung diese Wegweiser zeigen, wird im Folgenden zur Frage stehen. Wengers Perspektive reiht sich betont in eine praxistheoretische Grundhal­ tung ein, die das Soziale nicht länger nur im Individuum, in Diskursen oder Strukturen verortet, sondern es in deren Bindeglied festmacht: in Praktiken.2 1 | Wenger, Etienne: Communities of Practice. Learning, Meaning, and Identity, Cam­ bridge 1998, S. 9. Vgl. weiterhin Wenger, Etienne u.a.: Cultivating Communities of Practice. A Guide to Managing Knowledge, Boston 2012. 2 | Vgl. Wenger, E.: Communities, S. 11–15. Vgl. dazu Alkemeyer, Thomas/Budde, Gunil­ la/ Freist, Dagmar: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 9–30, hier S. 15ff. Vgl. Reckwitz, An­

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Sie definieren sich als sowohl akteursgebundene wie auch kulturell typisier­ te, kollektiv vollzogene Bündel gerichteter Aktivitäten und Aussagen.3 Als der erklärte Ort dieser Sozialität fungiert in Wengers Verständnis die Community of Practice: „groups of people informally bound together by a shared expertise and passion for a joint enterprise“.4 Als konstitutiv für diese Communities gilt die geteilte Praxis der beteiligten Akteure, als deren Folge versteht sich der Ausweis von sozialer Teilhabe der Teilnehmer. Die Communities bilden sich dabei informell. Die Beteiligten finden sich über die gemeinschaftliche Hin­ wendung zu spezifischen Unternehmungen, die sich folglich innerhalb der Praxis realisieren oder als nichtig erweisen. Entscheidend dafür tritt der Ver­ lauf gegenseitiger Abstimmungen und Aushandlungen ein. Diese negotiations stehen im Mittelpunkt von Wengers Perspektive. Die Logik der Praxis rückt als Wegweiser in den Fokus der Betrachtung.5 Daran knüpfen sich zwei Grundannahmen: Erstens betont Wenger damit den Stellenwert von Praxis als Prozess. Mit den negotiations verbindet sich so­ wohl die Bedingung von anhaltender Verbindlichkeit und Routine, der „com­ munity maintenance“, durch die Teilnehmer als auch der Charakter einer generellen Offenheit des prozessualen Geschehens mit Raum für „disagree­ ments, tensions, and conflicts“.6 Zweitens wird dadurch zur alleinigen Instanz der Entscheidungsfindung der Vollzug der Praxis erhoben. Erst die Praxis als Sozialität entscheidet, erklärt und beglaubigt sich innerhalb ihrer spezifischen Eigenlogik ihrer Elemente. Wengers Verweis fällt dabei auf Diskurse, prak­ tisches Wissen, Machtkonstellationen und Identitäten, die sich sämtlich als praxisimmanente soziale Konturen erweisen.7 Schon 1998 erkannte Wenger damit die bis heute grundlegendste Prämisse der praxeologischen Forschung.8 dreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Pers­ pektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282–301, hier S. 287ff. 3  |  Wenger führt Praktiken als „medley of activities“, gleichsam als Ort der „negotation of meaning, participation, and reification“, siehe Wenger, E.: Communities, S. 49 u. 82. Seine Definition geht dabei in eins mit Theodore Schatzkis prominenter Definition von Praktiken als einem „nexus of doings and sayings“, siehe Schatzki, Theodore R.: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996, S. 89. 4 | Wenger, Etienne/Snyder, William: Communities of Practice: The Organizational Frontier, in: The Harvard Business Review (2000), S. 139–145, hier S. 139. 5 | Vgl. Wenger, E.: Communities, S. 52ff. u. 72ff. 6 | Ebd., S. 74 u. 77. 7 | Vgl. ebd. S. 72ff. u. 149ff. 8 | Zur Logik der Praxis als geprägt von Routinisiertheit bei gleichzeitiger Unberechen­ barkeit vgl. ebenso Reckwitz, A.: Grundelemente, S. 294f. Vgl. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987, S. 167f.

„Noch bleibt mir ein Augenblick Zeit um mich mit Euch zu unterhalten.“

Wenger untersucht mit seinem Ansatz moderne Arbeitsabläufe. Er be­ obachtet und berät Menschen. Sein Konzept historiographisch auszudeuten bedeutet, den Blickwinkel zu wenden. Die materiellen Überlieferungen – das historische Quellenmaterial – wird dabei zum Spiegel vergangener Prozessualitäten – Medialitäten –, ihr jeweiliger Personenbezug und Kontext, die Historizität des jeweiligen Geschehens zum gesetzten Konnex der Untersuchung. Als Kernelemente des practice turns, umgesetzt in eine historische Dimension, stellen diese drei Ebenen das Gliederungsprinzip dieses Artikels dar.9 Im Folgenden wird Wengers Konzept der Community of Practice in konver­ sationsanalytischer Erweiterung auf die Analyse eines kaufmännischen Brief­ bestandes des 18. Jahrhunderts angewandt.10 Die Quellengrundlage bilden Briefe aus dem Privatarchiv des Hamburger Kaufmannes Nicolaus Gottlieb Lütkens.11 Briefe bieten, so die These des Artikels, die Möglichkeit 1.) histori­ sche Communities of Practice dingfest zu machen, im Rahmen 2.) einer dich­ ten Rekonstruktion historischer Sozialitäten und in Folge dessen der Aussicht, 3.) nahbar Verhandlungsabläufe und deren Folgerichtigkeiten und Folgenich­ tigkeiten in den Blick zu nehmen.12 Im Mittelpunkt des Artikels steht dabei eine kaufmännische Episode der Abwerbung. Diese wird brieflich verhandelt. In der Natur der Sache liegt dabei die Anforderung an diese Unternehmung, Klarheit zu schaffen in Bezug auf gegenseitige Positionsbestimmungen der beteiligten Kaufleute. Zudem steht die Aushandlung eines gemeinsamen Wertekanons zur Disposition. Zuletzt bedingt sich zwangsläufig ein gegenseitiges Abfragen jeweiliger Eigenqualitä­ ten der Beteiligten. Über die gebotenen Einblicke in die Logik der hier walten­ den kaufmännischen negotiations erschließen sich dadurch Erkenntnisse über die Konstitution kaufmännischer Sozialität als Refugium kaufmännischer Selbst-Thematisierungen und Selbst-Aushandlungen. Die Episode bietet Ein­ blicke in kaufmännische Selbst-Bildungen.13 Kurz gefasst wird es das Konzept der Community of Practice erlauben, Rück­ schlüsse darüber zu gewinnen, wie Kaufleute des 18. Jahrhunderts sich und ihre Aktivitäten, eingefangen in kollektiven Aushandlungsprozessen im Zeit­ 9 | Vgl. Reckwitz, A.: Grundelemente, S. 290ff. 10 | Vgl. grundlegend Schegloff, Emanuel A.: Between Macro and Micro: Contexts and Other Connections, in: Jeffrey C. Alexander u.a. (Hg.): The Macro-Micro Link, Berkeley, Cal. 1987, S. 207–234. 11 | High Court of Admirality (im Weiteren: HCA), National Archives, London, HCA 30/ 232–236; Lütkens-Archiv. 12  |  Vgl. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Sys­ teme, Frankfurt a.M. 2007. 13 | Zum Begriff der Selbst-Bildung als prozessuale Selbstformungen innerhalb sozia­ ler Praktiken vgl. Alkemeyer, T. u.a.: Selbst-Bildungen, S. 21.

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verlauf, plausibilisierten, wie sich nicht nur Selbst-Entwürfe abbildeten, son­ dern sich vielmehr Festschreibungen, Selbst-Verwicklungen, im Zeitverlauf vollzogen und durch die Brief korrespondenz materielle Beglaubigungen er­ fuhren.14 Gleichsam gestattet es jedoch ebenso aufzuzeigen, wie sich über die Praxis der Korrespondenz letztlich auch gewollte oder weniger gewollte Wir­ kungen einstellten, die Abwerbung funktionierte oder nicht. Hier liegt der Mehr­wert der praxeologischen Forschungsoptik. Innerhalb einer Logik der Praxis sind Selbst-Bildungen und ihre Folgen prozessual verortbar. In historio­ graphischer Retrospektive sind diese Vorgänge zugänglich, und Wengers Kon­ zept bietet dazu die passende Folie.

1.  E pisode : D ie C ausa N antes In der zweiten Jahreshälfte 1743 bereist der Hamburger Jungkaufmann Ni­ colaus Gottlieb Lütkens (1716–1788) die Metropolen des westeuropäischen Atlantikhandels. Sein Anliegen: Neben der ausgiebigen Handelsaktivität im Ausland regt sich in ihm im Alter von 27 Jahren der Wunsch, sein Glück in der Etablierung eines eigenen Handelshauses zu suchen. Die Entscheidung, welcher Ort dabei zu des Glückes Schmiede erkoren wird, steht noch aus, trotz einer bereits deutlichen Neigung in Richtung der französischen Westküste. Die Reisetätigkeit soll ihm weitere Klarheit verschaffen. Auf der Durchreise von Bordeaux nach Amsterdam macht er im Oktober 1743 Halt in Rotterdam und trifft dort auf den Frankfurter Kaufmannssohn Simon Moritz Bethmann (1721–1782), seines Zeichens Angestellter ten huyze van John Furly, eines englischen Kaufmanns. Die Zusammenkunft verläuft „erquickungsvoll“ – nicht zuletzt, da Simon Moritz’ Bruder Johann Jakob (1717–1792), Kaufmannsbankier in Bordeaux und mit Lütkens bereits seit län­ gerem in brieflichem Kontakt, das Treffen anberaumt hatte. Die Unterredung verläuft so harmonisch, dass Simon Moritz nach Lütkens’ Abreise postwen­ dend ein paar Zeilen des Dankes nach Amsterdam nachfolgen lässt. In sei­ nem Brief vom 21. November 1743 verbleibt er seinem „treugesinte[n] neue[n] Freund [...] dankende für der geleistete liebreiche und erquickungsvolle Ge­ sellschaft“. Er versichert ihm zudem seine nun „vergrößerende[...] Hochach­ tung“ und daß die mitgeteilten Auskünfte bei ihm in „einem tiefen Meere der Verschwiegenheit verborgen“ bleiben würden.15 Für diesen Brief bedankt sich 14 | Zum plausible self des Kaufmanns vgl. Ditz, Toby L.: Formative Ventures: Mercanti­ le Letters and the Articulation of Experience, in: Rebecca Earle/Carolyn Steedman (Hg.): Epistolary Selves. Letters and Letter-Writers 1600–1945, London 1999, S. 59–78. 15 | Zitate sowie die Adresse aus HCA 30/233, Simon Moritz Bethmann, Rotterdam, an Nicolaus Gottlieb Lütkens, Amsterdam, 21. Okt. 1743.

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Lütkens noch aus Amsterdam. Zurück in Hamburg Mitte November erwar­ tet den Heimkehrer ein weiterer Brief, in diesem Falle von Johann Jakob aus Bordeaux. Er erfährt daraus, dass dessen „bruder in Rotterdam [...] viel gutes von [ihm] geschrieben [habe] und [er versichert zudem, sein jüngerer Bruder sei] [...] euer biß in den todt getreuer freund & saget mir 1000fachen dank vor die ihm procuirte Bekantschafft“. Er fügt der Zeile dabei den kurzen, aber entscheidenden Zusatz bei, Furly sei „ein Haaßenfuß & Narr“!16 Nicht zuletzt auf diese Einschätzung hin, kommt Lütkens nun auf einen „gedanken“. Er fasst den Plan, den er, wiederum eine Woche später, brieflich ins Rollen zu bringen gedenkt und der gleichsam den inhaltlichen Hintergrund dieses Ar­ tikels darstellt: die Abwerbung von Simon Moritz Bethmann aus Rotterdam zum Zwecke der Etablierung einer gemeinsamen Handelsniederlassung und Gründung einer „Sosietet“.17 Der angedachte Ort der Niederlassung: Nantes, einer der Hauptumschlagplätze für Kolonialwaren und das Eingangstor zum atlantischen Markt.18 Am 19. November 1743 teilt er Simon Moritz dement­ sprechend mit, er habe nunmehr bereits „halb beschloßen umb nach Nantes zu gehen und mir all da zu etablieren“ und wagt zudem den Schritt, da er „in gefall ich in Nantes etabeliren sollte gerne einen Assosirten hette [...] [Simon Moritz] zu proponiren ob lust sich mit mir in Nantes zu assosiren, circa auf sieben Jahre“.19 In den folgenden zwei Monaten entspinnt sich zwischen Nicolaus Gott­ lieb Lütkens, den Bethmann-Brüdern – Simon Moritz, Johann Jakob und dem ältesten Bruder Johann Philipp (1715–1793) – sowie Jakob Adami (1670–1745), dem ‚Ziehvater‘ der Bethmanns, eine lebhafte Diskussion über die Zukunft dieser Unternehmung, die im Folgenden als Rekonstruktion einer histori­ schen Community of Practice zur Auswertung kommt.20 Was diese Diskussion aus­zeichnet, ist dabei vorerst weniger das letztendliche Ergebnis der Unter­ 16 | Zitate aus HCA 30/234, Johann Jakob Bethmann, Bordeaux, an Nicolaus Gottlieb Lütkens, Hamburg, 9. Nov. 1743. 17 | Zur Compagnie-Handlung/Societät vgl. Krünitz, Johann Georg: Oekonomische En­ cyklopädie, Bd. 8, Berlin 1776, S. 276ff. 18 | Vgl. Fahy, Angela: Demographic Change and Social Structure: The Workers and the Bourgeoisie in Nantes, 1830–1848, in: Richard Lawton/W. Richard Lee (Hg.): ­P opulation and Society in Western European Port Cities 1650–1739, Liverpool 2002, S. 305–325, hier S. 306f. 19 | HCA 30/233, Nicolaus Gottlieb Lütkens, Hamburg, an Simon Moritz Bethmann, Rotterdam, 19. Nov. 1743, Briefbuch. 20  |  Zu den Bethmanns sowie Jakob Adami vgl. Henninger, Wolfgang: Johann Jakob von Bethmann 1717–1792. Kaufmann, Reeder und kaiserlicher Konsul in Bordeaux, Tl. 2, Bochum 1993. Vgl. Weber, Klaus: Deutsche Kaufleute im Atlantikhandel 1680–1830. Unternehmen und Familien in Hamburg, Cadiz und Bordeaux, München 2004, S. 179ff.

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redungen als vielmehr die Ebene, auf der die Verhandlungen ausschließlich und unhinterfragt geführt werden. Bis auf das anfängliche Aufeinandertreffen der beiden Hauptprotagonisten verläuft nahezu sämtliche Verständigung auf der Ebene des Briefwechsels.21 In zweifacher Hinsicht findet sich verbürgt, was für die Perspektive auf historische negotiations und Selbst-Bildungen für den Gang dieser Untersuchung den entscheidenden Ausgangspunkt darstellt. Erstens deutet sich die ‚Causa Nantes‘, wie sie im Folgenden Bezeichnung findet, dadurch als ein beachtliches Zeugnis der Tragweite, Autorität und Eig­ nung, wie sie dem Medium Brief im 18. Jahrhundert von dessen Zeitgenossen beigemessen wurde. Materiell beglaubigt wird hier die Praxis der Korrespondenz zu einem entscheidenden Träger und Standbein kaufmännischer Selbstund Weltverwicklung, zum anerkannten Spiegel „objektivierter Sozialität“ ver­ schiedener miteinander in Verbindung stehender kaufmännischer Akteure.22 Der Brief erklärt sich zum historisch spezifischen Mittel der Verständigung der Community. Zweitens bietet sich dem Historiker dadurch ein Kaleidoskop kaufmänni­ scher negotiations, die brieflich eingefroren bis heute die Zeit überdauert ha­ ben. Gestern wie heute liefern und bezeichnen die gewechselten Briefe und ihr Inhalt den jeweils eigentlichen Stand der Dinge kaufmännischer Verhand­ lungen, wodurch eben jene zur Rekonstruktion und zur dichten Beschreibung des Briefgeschehens freigegeben werden. Das selbstbildnerische Moment der Episode wird praxeologisch-konversationsanalytisch auswertbar. Im Folgenden wird vor diesem Hintergrund die Community of Practice der an der affaire Nantes beteiligten Korrespondenten über die Rekonstruktion ihres polyphonen schriftlichen Gespräches im Zeitverlauf dokumentiert.23 Es werden sich dabei Handlungsspielräume, ein Taktieren und Stilisieren, Plau­ sibilisieren und Positionieren verdeutlichen, die plastisch über die Umstände und Faktoren, Konstellationen und Komplikationen eines solch diffizilen Un­ terfangens wie einer Abwerbung auf klären. Gleichermaßen tritt dieses exemp­ larisch dafür ein, die gespannte Atmosphäre dieses für den sich etablierenden Kaufmann so bedeutungsvollen Moments des Auf bruchs zu vermitteln. Gera­ de im Blick auf die kaufmännische Etablierungsphase spiegelt sich, welchen 21 | Lediglich zwischen den verwandten Frankfurtern Jakob Adami und Johann Philipp Bethmann ist mit Sicherheit auch von mündlichen Abreden auszugehen. 22 | Zur objektivierten Sozialität siehe Hillebrandt, Frank: Sozialität als Praxis. Dimen­ sionen eines Theorieprogramms, in: Gert Albert u.a. (Hg.): Dimensionen und Konzeptio­ nen von Sozialität, Wiesbaden 2010, S. 293–307, hier S. 296. 23 | Vgl. Trivellato, Francesca: A Republic of Merchants?, in: Anthony Molho u.a. (Hg.): Finding Europe: Discourses on Margins, Communities, Images, Oxford/New York 2007, S. 133–158, hier S. 145. Vgl. Vellusig, Robert: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert, Wien 2000, S. 15ff.

„Noch bleibt mir ein Augenblick Zeit um mich mit Euch zu unterhalten.“

Querstreben eines kaufmännischen Selbstverständnisses im 18. Jahrhundert Bedeutung zugemessen wurde, wie diese in der kaufmännischen Gemein­ schaft jedoch nicht nur als fester Wertekanon dienten, sondern sich innerhalb der Praxis zu bewähren hatten.24 Es zeigen sich die Pfeiler des Selbstverständ­ nisses, die brieflich aufgerufen, aktualisiert oder vorausgesetzt, jedoch ebenso zur Disposition gestellt wurden.25 Für den frühneuzeitlichen Kaufmann war der briefliche Austausch ein entscheidendes Bewährungsfeld, für den Histori­ ker veranschaulicht sich dieses bis heute. Das Material selbst liefert damit den Aufruf, praxeologisch aktiv zu werden. Es wird zur materiellen sowie histo­ risch spezifischen Blaupause.

2.  M aterialität : B riefschaf ten „Tending to correspondence was a pressing demand and an ordinary fact of life for every merchant. [...] It remained the backbone of european long distance trade.“ 26 „In 18th century letters become the primary tool through which webs of commercial relations were woven across space and social groups.“27

Die Bedeutung, die der gekonnten Briefpraxis für den Aufstieg und das Fort­ kommen des Kaufmanns im 18. Jahrhundert beizumessen ist, ist kaum zu überschätzen. Francesca Trivellato benennt es hier mit prägnanten Worten. In der „atlantischen Phase der europäischen Wirtschaftsentwicklung“ war der Brief das grundlegende Medium, die Korrespondenztätigkeit das einzige Mit­ tel, das es erlaubte, der Weiträumigkeit der entstehenden „world economy in-

24 | Vgl. Ditz, Toby L.: Secret Selves, Credible Personas: The Problematics of Trust and Public Display in the Writing of Eighteenth-Century Philadelphia Merchants, in: Robert Blair St. George (Hg.): Possible Pasts: Becoming Colonial in Early America, Ithaca 2000, S. 219–242, hier S. 223ff. Zu kaufmännischen Selbstverständnissen vgl. Jacob, Marga­ ret C./Secretan, Catherine (Hg.): The Self-Perception of Early Modern Capitalists, New York 2008. 25 | Zum brieflichen in actu vgl. Couchman, Jane/Crabb, Ann: Form and Persuasion in Women’s Letters, 1400–1700, in: Dies (Hg.): Women’s Letter across Europe, 1400– 1700: Form and Persuasion, Aldershot 2005, S. 3–20, hier S. 5. 26 | Trivellato, Francesca: The Familiarity of Strangers. The Sephardic Diaspora, Livor­ no, and Cross-Cultural Trade in the Early Modern Period, New Haven/London 2009, S. 170. 27  |  Trivellato, Francesca: Discourse and Practice of Trust in Business Correspondence during the Early Modern Period. Unpublished Paper, Yale University 2004, S. 4.

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the-making“ zu begegnen.28 Nicht ohne Grund zeichnen sich kaufmännische Archive dadurch bis heute als die mitunter am umfangreichsten erhaltenen Zeitzeugen ihrer Jahrhunderte aus. Das Lütkens-Archiv liefert dafür einen weiteren Beleg – das Wort Zeitzeuge jedoch erfährt hier eine besondere Ak­ zentuierung. Entgegen üblicher Überlieferungszusammenhänge erfuhr dieses Privat­ archiv in den Folgejahrhunderten keine nachträgliche Bereinigung oder archi­ valische Bearbeitung. Es entstammt in Gänze dem Zeitmoment seiner origi­ nären ‚Aushebung‘ im 18. Jahrhundert. Warum? Erhalten haben sich Lütkens’ Geschäftsunterlagen als Teil englischen Kaperguts. Im Herbst 1745 zur Über­ führung von Brest nach Hamburg auf das Schiff „Die Hoffnung“ geladen, fiel Lütkens’ Archiv auf dem Seeweg einem englischen Kaperzug zum Opfer. Der Verdacht, der die Kaperung des Schiffes durch die Engländer zu Zeiten des Seekrieges legitimierte, lautete auf das Mitführen französischer und damit feindlicher Waren. Neben sämtlichem Schiffsgut wurden auch Lütkens’ Un­ terlagen beschlagnahmt, von englischer Seite eingelagert, in der Folge nicht wieder freigegeben und verharren dort dadurch bis heute – nun in den Nati­ onal Archives Kew – im nahezu ursprünglichen Zustand. Der Vorteil dieser Erhaltungssituation: Es erlaubt sich ein materiell gestützter Blick auf die zeitgenössisch vollzogene Art und den tatsächlichen Umfang von Korrespondenz und Archivierung kaufmännischer Unterlagen zu ihrem spezifischen Zeitmo­ ment. Anschaulicher ausgedrückt: Das heute erhaltene Archiv ist im Umfang das gleiche Archiv, das zuletzt Lütkens 1745 als Beleg seiner Handelsaktivitäten diente. Die Folge: Der Brief bestand ist nahezu lückenlos erhalten, zudem in beidseitiger Überlieferung. Lütkens verwahrte sämtliche eingehende Korres­ pondenz auf, die Briefe feinsäuberlich versehen mit Eingangs- und Ausgangs­ stempel und Beschriftung. Das Material erlaubte es ihm auf diese Weise, seine brieflichen Handelsvorgänge ausgefaltet durchzublättern, auf ein ‚Back‑up‘ zurückzugreifen, verschiedene Personengruppen, Orte und Zeiträume nach­ zuschlagen. Ebenso erhalten hat sich sein Kopialbuch der ausgehenden Briefe. Als dritte Absicherung dienten ihm zuletzt sorgsam geführte Brieflisten. Zusammengenommen zeugt das Archiv von penibel gehaltener Ordnung und Übersicht, dem Bestreben nach Vollzähligkeit und Nachvollziehbarkeit. Es entfächert sich ein auf den Tag hin rekonstruierbares Abbild tagtäglicher Kor­respondenztätigkeit. Noch entscheidender jedoch ist, dass sich in der Auf­ bewahrung und dem Anspruch nach Zugänglichkeit sämtlicher, die eigenen 28 | Zitate aus: Weber, K.: Deutsche Kaufleute, S. 21. Lindemann, Mary: The Anxious Merchant, the Bold Speculator, and the Malicious Bankrupt: Doing Business in Eighte­ enth-Century Hamburg, in: M. Jacob/C. Secretan, Self-Perception, S. 161–182, hier S. 163.

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Handelsvorgänge betreffender Unterlagen letztlich der Beleg findet, aus Sicht der Zeitgenossen die Relevanz der Praxis als Praxis bestätigt zu finden. Das dichte Bild des erhaltenen Lütkenschen Briefwechsels dokumentiert die Kor­ respondenz als betont im Laufe der Zeit erworbenes kaufmännisches Kapital und damit als materiellen Marker eines akkumulierten Selbstverständnisses.29 Markierte das Briefeschreiben die Zugangsberechtigung zu kaufmännischen Communities, bezeichnete die Archivierung der Briefe deren Unterpfand. Der herbe Rückschlag, den der Hamburger Kaufmann durch den Verlust seiner Unterlagen erlitten haben muss, ist unverkennbar. Für den Historiker jedoch bezeichnet es einen Glücksfall. Das Archiv ermöglicht eine abgesicher­ te, dichte, mehrdimensionale Rekonstruktion der vergangenen brieflichen Vorgänge. Für die praxistheoretische Ausrichtung dieses Artikels gilt dadurch: Materialisiert in gegenseitiger Briefschaft wird die Praxis des Kaufmanns als solche belegbar und vor zeitgenössischer Folie erklärbar.30 Für die Perspekti­ ve auf Communities of Practice schließt daran an: Durch die Beschriftung der Briefe durch den Hauptprotagonisten sind die Communities am Material selbst explizit gemacht, gleichermaßen der Rahmen, in dem eine jeweilige Unter­ nehmung stattfand. Die ‚Causa Nantes‘ ist dabei exemplarisch. Durch Lütkens’ Beschriftung sowie die Gegenüberstellung der jeweiligen Briefe lässt sich eine abgeschlos­ sene Einzelepisode ausmachen und abstecken, die einen bestimmten Per­ sonenkreis einbezieht, der innerhalb eines Zeitrahmens in Verhandlung zu einem bestimmten Thema mit verschiedenen Positionen tritt. Es veranschau­ licht sich eine in Briefpraxis geteilte Gemeinschaft medial kopräsenter histo­ rischer Akteure auf Zeit, in anderen Worten: eine historische Community of ­Practice. Als joint enterprise fungiert in der ‚Causa Nantes‘ die Diskussion um die Umsetzbarkeit der Abwerbung von Simon Moritz Bethmann. Verhandelt wird auf Briefebene, die verbindliche Partizipation voraussetzt. Hier findet sich ein zweites Grundaxiom Wengers, das „mutual engagement“.31 Dabei ent­ scheidend ist, „each participant finds a unique place [...], which is both further integrated and further defined in the course of engagement in practice“.32 In der ‚Causa Nantes‘ herrschen unterschiedliche Interessenslagen. Die gegen­ seitige Positionierung wird jedoch erst innerhalb des Vollzugs der Praxis im

29 | Vgl. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc D.: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M. 1996, S. 151f. 30 | Zur mutual accountability auf Seiten der Teilnehmer vgl. Wenger, E.: Communities, S. 77. Grundlegend Garfinkel, Harold: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, NJ 1967. 31 | Wenger, E.: Communities, S. 73. 32 | Ebd., S. 76.

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course of action wirkmächtig.33 Wodurch wir wieder bei Wengers Herzstück angelangt sind und bei der Begründung, warum sein Konzept dem grundle­ genden Moment der ‚Causa Nantes‘ gerecht wird. Die Community bestehe, „be­ cause ­people are engaged in actions whose meaning they negotiate with one another“.34 Dabei herrscht ein deutlicher „flavor of continuous interaction, of gradual achievement, and of give-and-take“.35 Mit dieser Charakterisierung von Verhandlungen trifft Wenger den Kern der hier waltenden Kommunikationssi­ tuation. Sein Konzept wird der Medialität der Quellenart Brief-Wechsel gerecht. Mit Wengers letzter Kategorie wird diese historiographische Öffnung letztlich unterfüttert. Den Konnex der Verständigung liefert die gegenseitige Kennerund Könnerschaft, „a set of shared resources: a repertoire“.36 Hier findet die spezifische Historizität des Briefgeschehens Bezeichnung. Briefe zu schreiben – gerade in Bezug auf Angelegenheiten wie eine Abwerbung – bedurfte einer Kompetenz zur fachgerechten Form, gleichsam bezeugen sich ebenso im In­ halt epochenspezifische Kompetenzen, Repertoires der Verständigung, Muster des gegenseitig zeitspezifisch intelligiblen Denk- und Schreibbaren.37 Wengers als resources definierte Komponenten dieser Matrix der Praxis halten der histori­ ographischen Einordnung dabei zur Gänze stand. Er fasst darunter „language, tools, documents, images, symbols, well-defined roles [...]. But it also includes all the implicit relations, tacit conventions , subtle cues, [...] recognizable intuitions, specific perceptions, well-tuned sensitivites, [...] and shared world views“.38 Zusammengenommen richtet sich der Blick damit bereits auf die Nuancen der schriftlichen Kommunikation. Denn als das Entscheidende an perceptions, well-defined roles oder well-tuned sensitivities in Wengers Konzept sowie inner­ halb der Briefpraxis fungiert: Bei all ihrer spezifischen Historizität erhalten die­ se Ressourcen der Selbst-Darstellung ihre Bewilligung wiederum erst vor dem Gegenüber. Der Vorteil von Wengers Konzept ist, dass sich der Brief einer ledig­ lich singulären Betrachtung verbietet. Er vermittelt sich nicht als Selbst-Zeug­ nis per se, als singuläre „Selbstthematisierung durch ein explizites Selbst“.39 Er 33 | Zum course of action als konversationsanalytischer Dimension vgl. Schegloff, E.: Between, S. 207. 34 | Wenger, E.: Communities, S. 73. 35 | Ebd., S. 53. Vgl. Reckwitz, A.: Grundelemente, S. 295. 36 | Wenger, E.: Communities, S. 82. 37 | Anlehnung an diskursive Praxis bei Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, S. 74. Vgl. Landwehr, Achim: Einführung in die Historische Diskurs­ analyse, Frankfurt a.M. 2008, S. 21ff. 38 | Wenger, E.: Communities, S. 47. 39  |  Krusenstjern, Benigna von: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quel­ lenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Histori­ sche Anthropologie 2 (1994), S. 462–471, hier S. 463.

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wird vielmehr erst aussagekräftig als Selbst-Zeugnis at stake, als Selbstthema­ tisierung vor dem Hintergrund gemeinsam geführter historisch spezifischer Konversationen, als Gesprächsangebot im Briefwechsel.

3. H istorizität : E ntfernte G espr äche Briefe öffnen Zeitfenster vergangener kommunikativer Praxis.40 Ihr Lesen gleicht einer Annäherung an vergangene Konversation. Sie erheben dabei die „illusion de l’oralité“,41 doch klar ist, die Stimmen der Vergangenheit sind ver­ siegt. Briefe sind ewig gestrig und doch ist ihr Ausdruck bis heute fixiert.42 Was letztlich bleibt sind schriftliche Gespräche, wie es Robert Vellusig so treffend formulierte, die über vergangene zer(r)dehnte Interaktionen berichten.43 Der Historiker weiß darum. Zum Entscheidenden wird jedoch, den Zeitgenossen war dieses Charakteristikum des Briefverkehrs durchaus ebenfalls bewusst. Zedlers Universal-Lexikon definiert demnach den Brief bereits 1733 als „eine kurze, wohlgesetzte, von allerley Sachen handelnde Rede, die man einander unter einem Siegel schriftlich zuschicket, wenn man sonst nicht mit einander mündlich sprechen kann oder will“.44 Alfred Krünitz fügt diesem Ausspruch 1760 in seinem kaufmännischen Lexikon hinzu, ein Brief sei „zwar eigentlich weiter nichts, als eine schriftliche Unterredung; aber doch würde man irren, wenn man glauben wollte, ein Brief müsste gerade so geschrieben seyn, als man mündlich zu sprechen pflegt“.45 In der Zwischenzeit war der Briefstil von ‚galant‘ zu ‚natürlich‘ übergegangen.46 In beiden Briefstilen des 18. Jahrhun­ derts galt das Briefeschreiben jedoch gleichbleibend als eine Form der Unterre­ dung, einer historisch bedingten und den Zeitgenossen als solchen bewussten schriftlichen Konversation. Auch in den Verhandlungen der ‚Causa Nantes‘ im 40  |  Dierks, Konstantin: In My Power. Letter Writing and Communications in Early Ame­ rica, Philadelphia 2009, S. XI. 41 | Chartier, Roger: La correspondance. Les usages de la lettre au XIXe siècle, Paris 1991, S. 229. 42 | Vgl. die gelungene Übersicht zur Briefforschung bei Stuber, Martin/Hächler, Ste­ fan/Steinke, Hubert: Forschungskontexte, in: Martin Stuber u.a. (Hg.): Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung, Basel 2005, S. 9–29, hier S. 10. 43 | Vgl. Vellusig, R.: Schriftliche Gespräche, S. 15ff. 44 | Zedler, Johann Heinrich: Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissen­ schaften und Künste, Bd. 4, Halle/Leipzig 1733, Sp. 1359. 45 | Krünitz, J.G.: Encyklopädie, Bd. 6, 1775, S. 663. 46  |  Vgl. Furger, Carmen: Briefsteller. Das Medium Brief im 17. und frühen 18. Jahrhun­ dert, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 56ff.

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Spätjahr 1743 findet sich diese Einschätzung. Zum Auftakt seines Briefes vom 9.11.1743 schreibt Johann Jakob Bethmann, ihm bliebe gerade „noch [...] ein Augenblick Zeit mich mit Euch zu unterhalten“.47 Später wird auch sein Bruder Simon an Lütkens vermeinen, sein „Herz und Sinnen weiden sich so offte an dem freundlichen Andenken dero liebenswürdigen Perßon mit welcher ich mich so zu sagen noch ein einem weit entfernten Gespräche befinde“.48 Der Brief fungiert hier als Ersatz der mündlichen Abrede, jedoch nicht als deren Doublette. Er gilt als eine eigens gewertete Ebene der kommunikativen Inter­ aktion.49 Zeitgenössisch diskursiv geebnet, öffnet sich damit auch diese Ebene der Briefkommunikation der methodischen Annäherung. Die Korrespondenz als ‚entferntes Gespräch‘ erklärt sich zum brieflich imaginierten Gesprächs­ raum mit eigenen Regeln vor dem Hintergrund der historischen Situiertheit des Briefgeschehens, den Ressourcen der schriftlichen Konversation.50 Die Fein­ heiten der Wengerschen negotiations lassen sich konversationsanalytisch aus­ differenzieren. Die Historikerin Toby L. Ditz liefert dafür den Ausgangspunkt: „When merchants articulated intentions and defined situations [in letters], they did so within the matrix of possibilities and constraints posed by the genre and nar­ rative conventions, symbolic repertoires, discourses, and vocabularies that they mobilized and reworked in their letters.“51 Ihre Einschätzung ist komplementär zu Wengers Betonung gemeinsamer shared resources der brieflichen Praxisge­ meinschaft. Gemeinsam betteten sich die Beteiligten der ‚Causa Nantes‘ in ihrem Ausdrucksvermögen in eine geteilte kommunikative Konvention und Grammatik, deren Mobilisierung und Aktualisierung im Schreibprozess den jeweiligen Aussagen und Intentionen die Gestalt verliehen.52 Die bereits seit Ende des 17. Jahrhunderts vorherrschenden Diskurse um Freundschaft, Höf­ lichkeit, die galante, höfisch orientierte Conduite finden unverkennbar ihren Widerhall in den Briefen.53 Den Hintergrund der Lütkenschen Korrespondenz bildete noch der galante Briefstil.54 Eine Annäherung an die benannte Matrix der Aussagemöglichkeiten lässt sich dabei bis heute vollführen. Briefsteller, die 47 | HCA 30/234, Johann Jakob Bethmann, Bordeaux, an Nicolaus Gottlieb Lütkens, London, 9. Nov. 1743. 48 | HCA 30/233, Simon Moritz Bethmann, Rotterdam, an Nicolaus Gottlieb Lütkens, Hamburg, 25. Nov. 1743. 49 | Vgl. Vellusig, R.: Schriftliche Gespräche, S. 22–31. 50 | Vgl. ebd., S. 137. 51 | Ditz, T.: Formative Ventures, S. 62. 52 | Vgl. Anm. 37 und Furger, C.: Briefsteller, S. 22ff. 53 | Vgl. Ditz, T.: Secret Selves, S. 223ff.; Vellusig, R.: Schriftliche Gespräche, S. 56ff. u. 77ff. 54 | Vgl. Furger, C.: Briefsteller, S. 26 u. 181ff.

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zeitgenössisch kursierenden Brieflehren und Musterbücher, liefern ein ganzes „Arsenal formelhafter Argumente“, die dem galanten Briefstil bis heute eine entsprechende Form verleihen.55 Höflichkeitsfloskeln, ausgeschmückte Kom­ plimente, ein „französisches Mäntelchen“ des Ausdrucks, sind in diesen Lehr­ büchern omnipräsent.56 Bezeichnenderweise finden sie ebenso häufig Eingang in die Briefe der Lütkens-Korrespondenz. Der zitierte tausendfache Dank, das Meer der Verschwiegenheit oder entrüstete Sinne – in der Forschung zuwei­ len als Negierung brieflicher Aufrichtigkeit geführt, diese Briefstellerphrasen erscheinen in praxeologischer Lesart nunmehr als das, was sie letztlich schon immer waren: als Kinder ihrer Zeit.57 Ihren jeweiligen Telos büßen die Aussa­ gen im symbolischen Repertoire ihrer Zeit mitnichten ein – ganz im Gegenteil. Gerade „formulaic expression operated to convey meaning“.58 Die Äußerungen folgten im jeweiligen Gebrauch einem notwendig einvernehmlichen zeitge­ nössischen Dekor und boten dem Adressaten dadurch innerhalb der Konver­ sation den notwendigen Ankerpunkt zur intendierten Aussagerichtung der je­ weiligen Äußerung.59 Briefstil und Brieffloskeln – in praxeologischer Deutung bezeichnen sie nicht Schablone, sondern Spiegel jeweiliger Ressourcen brief­ licher Praxis. Warum diese Annahme von Vorteil ist, bezeugen die Quellen ein weiteres Mal selbst: Der galante Briefstil bildet hier unmissverständlich die Matrix, die Aneignung dieser Matrix durch die Briefeschreiber jedoch fällt äußerst heterogen aus. Es herrschen in den Briefen unterschiedlichste Mobili­ sierungen der vorhandenen Ressourcen. Neben den briefstellerischen Abhän­ gigkeiten wirken dabei auch intertextuelle Bezüge zur spezifisch kaufmänni­ schen Ratgeberliteratur. Dieser Umstand liefert den Hinweis auf den zuletzt entscheidenden Punkt im Blick auf die Briefwechsel. Zur Frage steht: Welche Ressourcen erfahren letztlich eine Mobilisierung im Schreibprozess und zu welchem Zweck? Von welchen Ressourcen, vocabularies und symbolischen Repertoires wurde durch die Briefschreiber wie Ge­ brauch gemacht, um wen auf spezifische Weise zu erreichen? Relevant wird die jeweils situationelle und interpersonelle Einbindung der Briefe.60 Der Ver­ 55 | Vellusig, R.: Schriftliche Gespräche, S. 43. 56 | Furger, C.: Briefsteller, S. 165. 57  |  Gleich argumentiert Droste, Heiko: Briefe als Medium symbolischer Kommunikati­ on, in: Marian Füssel/Thomas Weller (Hg.): Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der städtischen Gesellschaft, Münster 2005, S. 239–256. 58 | Neuschel, Kirsten B.: Word of Honor. Interpreting Noble Culture in Sixteenth-Cen­ tury France, Ithaca/New York 1989, S. 103. 59 | Vgl. die konversationsanalytische Bedingung von recognizability in Schegloff, E.: Between, S. 209. 60  |  Vgl. bereits Mills, Charles Wright: Situated Actions and Vocabularies of Motive, in: American Sociological Review 5/6 (1940), S. 904–913.

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wendungszusammenhang der jeweiligen Briefzeilen kennzeichnet deren spe­ zifischen Aussagewert als Zeuge der Wengerschen Aushandlungsmomente. Und er ist es, der der Briefanalyse methodisch als Konversationsanalyse seine Kontur verleiht. Schon die Briefforscher Stuber, Hächler und Steinke betonten treffend den eigentlichen Anspruch an die Briefforschung, nie „bloße Sprach­ handlungsanalyse, sondern immer auch Situationsanalyse und Analyse der Partnerbeziehung“ zu sein.61 Praxeologisch-konversationsanalytisch ­bedeutet das, die Aussagen vor dem jeweiligen Gegenüber – der Community – als Angebot zu lesen. Gleichsam den jeweiligen Stand der Verhandlungen in der Aus­ wertung einzuholen, die Situation und ihre in den Äußerungen angelegte antizipierende Folgewirkung mit einzubeziehen, die wiederum im weiteren Prozess – bedingt durch den course of action – Bestätigung, Weiterführung oder eine Nachjustierungen erfährt. Welchen Angeboten, Aufforderungen und Anfragen wurde durch die beteiligten Kaufleute innerhalb ihrer briefli­ chen Konversation stattgegeben und in welche Richtung bewegte sich dadurch das schriftliche Gespräch? Für die folgende Analyse gelten daher die konversationsanalytischen Grund­ annahmen, den jeweils „rezipientenspezifischen Zuschnitt von Äußerun­gen“62 in den Blick zu nehmen. Dabei mobilisierte Ressourcen, „Orientierungsmuster und [...] Mechanis­ men zu rekonstruieren, die von den Interagierenden eingesetzt werden, um den Handlungs- und Sinngehalt einer Äußerung [vor der Community] erkenn­ bar zu machen bzw. zu erkennen“.63 Zuletzt zu prüfen, ob, wie und durch wen sich innerhalb des Briefwechsels als Frage-Antwort-Frage-Situation die jeweili­ gen Aussagen sequenziell sowie intertextuell bestätigen oder nicht.64 Selbst-Bildung wird praxeologisch-konversationsanalytisch als Austarie­ rungsprozess innerhalb von Briefpraxis beschreibbar. Im Querschnitt der Praxis bezeugt sich die Relevanz der Aussagen und der Wertemuster, der welldefined ‚Sensitivitäten‘, die es sich ins kaufmännische Feld zu führen lohn­ te. Wieder ist es Ditz, die die Eigenart der brieflichen Selbstbezeugung auf den Punkt bringt. Sie betont, „self-representations worked out with the help of existing cultural resources [...] that helped to define mercantile desire and interest“.65 „The writers’ strategies of self-presentation, including their nar­ 61 | Stuber, M./Hächler, S./Steinke, H.: Forschungskontexte, S. 10. 62 | Bergmann, Jörg R.: Ethnomethodologische Konversationsanalyse, in: Schröder, Peter/ Steger, Hugo (Hg.): Dialogforschung, Düsseldorf 1981, S. 9–51, hier S. 30. 63 | Bergmann, Jörg R.: Ethnomethodologische Konversationsanalyse, in: Fritz, Gerd/ Hundsnurscher, Franz (Hg.): Handbuch der Dialoganalyse, Tübingen 1994, S. 3–16, hier S. 8. 64 | Vgl. ebd. Vgl. Mills, C.W.: Situated Actions, S. 913. 65 | Ditz, T.: Formative Ventures, S. 62.

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rative and figurative devices, were [ultimately] yoked to practical claims on others.“66

4. P rozessualität : S tationen der affaire en question „The concept of negotiation [...] suggest[s] an accomplishment that requires sustained attention and readjustment, as in ‚negotiating a sharp curve‘.“67

Die Wengersche scharfe Kurve dessen, was verhandelt wird und dessen wie verhandelt wird, beschreibt treffend das Briefgeschehen der ‚Causa Nantes‘, die nicht ohne Grund hinter verschlossenen Briefumschlägen stattfand. Eine Abwerbung beschrieb eine heikle Angelegenheit. Bestehende Absprachen und Konstellationen galt es zu prüfen und zu hinterfragen, um etwaige Lücken ausfindig zu machen. Dabei war gegenüber den vermeintlich benachteiligten Parteien – dem Rotterdamer Kaufmann Furly – Stillschweigen zu bewahren. Das Medium Brief bot dafür eine Plattform, wie und ob es dabei jedoch macht­ voll genug war, die bestehenden Bande zu lösen, steht folglich zur Diskussion. Im Auftaktbrief an Simon Moritz vom 21.10.1743 legt Nicolaus Gottlieb die Gründe seines Interesses an einer gemeinsamen Etablierung in Nantes dar. Ihm wäre „einzig zu thun umb jemand der was gelernet und die Correspon­ dentie führen kan da ich nun ein solches von E.E. versichert bin und auch nicht zweyffelle [...] [daß] unsere humores miteinander übereinkommen werden. So habe meine Reflection auf E.E. geworfen. Nantes ist ein Platz wo noch was zu verdienen ist.“ Er zweifelt nicht daran, dass sie in kürzester Zeit einbringli­ che Geschäfte auf die Beine stellen können, „da außer hallb landes ein Junger Kaufman mit viell leuchten mühe sein brodt haben kan“ und lockt damit, den Großteil des Grundkapitals einzuschießen.68 Zuletzt besteht er darauf, daß – im Fall Simon Moritz’ hole sich Rat ein – dieser auf keinen Fall seinen Namen nennen solle. Einen Posttag später antwortet Simon Moritz mit „Gemüth und Sinnen gäntzlich entrüstet“. Eine ganze Briefseite widmet er in galant über­ schwänglichem Ton dem Dank über die „freymüthig gethane Diclaration, [...] die Zuneigung & Vertrauens“ und das „gute Concept“, das sich bei Lütkens von seiner „geringen Perßon sich formiret“ hat. Dabei beteuert er „mit Warheit“, er wäre nun so aufgewühlt, dass er „trotz verschiedenen mahlen überlesen“ des 66 | Ditz, Toby L.: Shipwrecked; or, Masculinity Imperiled: Mercantile Representations of Failure and the Gendered Self in Eighteenth-Century Philadelphia, in: Journal of Ame­ rican History 81 (1994), S. 51–80, hier S. 53. 67 | Wenger, E.: Communities, S. 53. 68 | Zitate aus Brief HCA 30/233, Nicolaus Gottlieb Lütkens, Hamburg, an Simon Mo­ ritz Bethmann, Rotterdam, 19. November 1743, Briefbuch.

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Briefes, es „mit Worten nicht außdrücken kann“, das „Schickßal [...] [treibe ihn] von einer Welle zu der andern.“ Innerhalb der Confirmatio des Briefes liefert er folglich dennoch die Replik auf das ihm unterstellte gute Concept. Ohne zu „raisoniren“ sondern durch „rapportieren“ auf das Zeugnis anderer bestätigt er, durch kaufmännische Tätigkeit seit seinem 14. Lebensjahre habe er „viel thunliche Experienz erlanget“, er betrage sich, gleich es „einem der Ehre er­ gebener Menschen anständig ist“ und wäre im Stande „sein Stückgen Brod mit Mühe und im Schweiße [seines] Angesichts zu verdienen“. Ist es „bey Gott beschlossen, das die Sache zum Stande komt“, ist er versichert ihre „Gemüther werden einmüthig gepaaret einhergehen“. Falls nicht, würde von seiner Seite dennoch keine „Erkaltung oder Verwiederung der Liebe“ zu erwarten sein. Vorerst habe er jedoch seinen zwei Brüdern zu schreiben und „davon Eröf­ nung zu thun,“ um „in einem Meer der Verschwiegenheit“ deren „Hertzens Meinung“ einzuholen, „ob es möglich ist, von seinem Patrons facilement weg zu kommen“.69 Die beiden Briefe der Hauptprotagonisten werden hier bewusst ausführ­ lich zitiert. Denn als erste Paarsequenz der Konversation beinhalten sie be­ reits die wesentlichen Bezugspunkte der negotiations, die die Folge der Un­ terhaltung der Community maßgeblich bestimmen sollten. Die gegenseitige Referenznahme, ein reziprokes Austarieren wird dabei offenkundig. Lütkens’ Angebot beinhaltet dabei in sich bereits angelegt die Erwartung einer anknüp­ fenden Bezugnahme durch den Rezipienten, der durch Simon Moritz vollends stattgegeben wird – auf eigene Art und Weise. Die Offerte Lütkens’ erschließt sich dabei als zuvorderst sachlich fundiert. Der Hamburger Jungkaufmann bedient einen kaufmännischen Brief-Stylo, wie er in den galanten Briefstellern der Epoche wie Hunolds Allerneueste Art Höflich und Galant zu schreiben von 1702 unter eben jener Überschrift kursierte.70 Er beschränkt sich auf das We­ sentliche, die Informationen zum Vorhaben, definiert sich selbst zuvorderst über das gehegte Ziel. Lütkens stellt dazu die Vorzüge der Unternehmung he­ raus, gerade in Bezug auf – und hier wiederum wirkt der Selbstbezug – die Aufstiegschancen junger Kaufleute. Das Ausland lockte als Goldgrube, ergo, das mit leichter Mühe erworbene Brot nimmt Rekurs auf die anhaltende Hoch­ konjunktur innerhalb der Städte des Atlantikhandels, zu denen er sich Zugang versprach.71 Die Anforderungen an seinen zukünftigen Kompagnon hält er da­ hingehend beachtlich gering. Er bindet sie lediglich selbstreferentiell zurück 69  |  Zitate aus HCA 30/233, Simon Moritz Bethmann, Rotterdam, an Nicolaus Gottlieb Lütkens, Hamburg, 25. Nov. 1743. 70 | Menantes[, Christian Friedrich Hunold]: Die Allerneueste Art Höflich und Galant zu Schreiben, Hamburg [1702] 1707, Funffzehenden Abtheilung: Kauffmanns=Briefe, S. 561ff. 71 | Weber, K.: Deutsche Kaufleute, S. 13ff.

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an jene Kompetenz, derer sie sich beide bereits bedienen. Seine Überzeugung des Gelingens der Unternehmung rührt jedoch aus der Überzeugung gleicher Humeurs der beiden Partner. Es fungiert als direkte Referenz zur zeitgenössi­ schen Kaufmannsliteratur. Für die Phase der Etablierung bzw. den Eintritt in eine Compagniehandlung zählte, so betonen es bekannte Ratgeber wie Mar­ pergers Geschickter Handels-Diener oder bereits zu seiner Zeit berühmte Bü­ cher wie Savarys vollkommenem Kauff- und Handelsmann, „einen solche [zu] erwehlen [...], der geschickt, erbar und seines humors ist, Dann gleiche Art ist unter Gemeindern [...] sehr nothwendig.“72 Die Schwelle, in der dem Gegen­ über noch zu Sittsamkeit oder Reinlichkeit zu raten ist, entsprechend seinem Stand als Lehrling oder Diener, wird damit bewusst hinter sich gelassen. Aus Lütkens’ Anfragebrief erschließt sich: Er spricht Simon Moritz in Form und Gehalt seiner Worte innerhalb des zeitgenössischen Dekors nicht mehr als Handelsdiener an, sondern bereits als kaufmännischer Partner. Simon Moritz’ Brief wiederum hält diesem Gesprächsangebot nur schwer stand. Der Frankfurter macht Lütkens stattdessen seine schriftliche Aufwar­ tung. Rhetorisch überladen äußert sich eine Wertschätzungsrhetorik, die in den Briefstellern zwischen Danksagungsschreiben und Anerbietungsschrei­ ben rangiert – dabei jedoch auf Höhergestellte verweist.73 Die Form wird da­ bei zur Geste, die die soziale Positionierung festschreibt. Damit lediglich eine briefliche Courtoisie oder den Ausdruck einer fachgerechten Reaktion auf Lüt­ kens’ lukratives Angebot bestätigt zu finden, greift in der Erklärung jedoch zu kurz. Denn Simon Moritz übertreibt letztlich die Form – zumal sich die Kor­ respondenzpartner zum Zeitpunkt ihres Kontakts wohlbemerkt weder im Al­ ter noch auf der Karriereleiter maßgeblich unterschieden. Was sich in seinen Zeilen stattdessen widerspiegelt, ist eine augenscheinliche Positionierung der Unentschlossenheit – die sich sowohl in verschleiernder Unverfänglichkeit als auch in der ausschweifenden, damit übervorsichtigen Demutsbekundung äu­ ßert. Der Zwiespalt, in dem sich Simon Moritz befand, findet seinen Ausdruck hier in einem Glanzstück brieflichen Taktierens – well-tuned sensitivities. Der Brief markiert ihn als zögernd. Durchaus herrscht bei ihm Interesse. Das Pro­ blem jedoch ist, dass er faktisch an Furly gebunden ist. Was also tun? Simon Moritz’ Antwort darauf besteht darin, sich – eingefasst in brieflicher Raffinesse 72 | Savary, Jacques: Der vollkommene Kauff- und Handelsmann [franz. Orig.: Parfait Negociant], Göttingen 1676, Das zwey und dreissigste Capitel, S. 281. Vgl. Marperger, Paul Jacob: Getreuer und Geschickter Handels=Diener, Nürnberg/Leipzig 1715, Caput XII. Was ein Kauffmanns=Diener/der seinen eigenen Handel/entweder vor sich selbst allein/oder in Compagnie mit einem andern anzufangen gedencket/dabey zu observiren habe, S. 427ff. 73  |  Vgl. Menantes: Allerneueste, Dancksagungs=Schreiben an einen Patron, S. 236ff.; Anerbiethungs=Schreiben an einen Patron, S. 286ff.; ebenso S. 25.

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– gänzlich auf ein Terrain zu begeben, das ihn und seine Entscheidungsgewalt, gewollt und ungewollt, zuvorderst aus der eigenen Verantwortung nimmt. Sei­ ne Situation wird den drei Instanzen Schicksal, Gott und letztlich der Hilfe sei­ ner Brüder unterstellt. Auf diese Ebene begibt er sich bereits im Ausdruck der Danksagung. Dem tatsächlichen Ausschlag der entrüsteten Gemüth und Sinnen wird die Eindeutigkeit genommen, in dem sie sich nachfolgend im Brieftext in das briefstellerisch omnipräsente Motiv des Ausdrucksdilemmas betten.74 In Worte kaum zu fassen ist das gemüth, in das ihn das Angebot Lütkens’ versetz­ te. Es fungiert sowohl als Ergebenheitsgeste als auch als Mittel zum Zweck, formvollendete Unverfänglichkeit. Die Betonung des mehrmaligen Lesens, ebenfalls Ergebenheitsgeste, tritt ebenso dafür ein, hier Unschlüssigkeit vor Ehrfurcht zu setzen. Ausgeliefert und passiv treibt er auf der metaphorischen Welle des Schicksals – mit ungewissem Ende. Diese instrumentalisierte Pas­ sivität zeichnet auch folglich seine Selbst-Darstellung aus. Die von Lütkens in Anschlag gebrachten Werthorizonte werden hierbei sämtlich rekursiv bestätigt – als ‚common sense‘ validiert – und dennoch findet eine Umformulierung in der Aussagerichtung statt: unterschiedliche Mobilisierungen. So bedienen sich beide Jungkaufleute in gegenseitiger Referenz des Motivs des Broterwerbes als protestantisches Vokabular für Arbeitseifer, jedoch in unterschiedlicher Wei­ se. Während Lütkens damit einen Vorteil herausstreicht, die leichte Mühe, die für die gemeinsame Unternehmung aufzuwenden wäre, bemüht Simon Moritz das Motiv des Fleißes umgekehrt. Nun im direkten Bibelzitat verweist er auf seine Kompetenz, den Dingen, die da kommen, im Schweiße seines Angesichts zu begegnen.75 Der leichten Mühe wird damit nicht stattgegeben. Dennoch sieht sich Simon Moritz dazu im Stande, die Herausforderungen zu tragen. Er untermauert seine kaufmännisch-protestantische Haltung dahingehend im Rekurs auf ehrbare Rechtschaffenheit, thunliche Experienz, zuletzt auf Gottver­ trauen, das wiederum dafür eintritt, dass wenn der Unternehmung ein gutes Ende beschienen sein wollte, die gepaarten Gemüther – Lütkens bemühte glei­ che humeurs – von Vorteil sein würden.76 Auch seines Zeichens fügt er sich damit in die Vorgaben eines geteilten standesgemäßen Verhaltenskanons, wie es ihn bereits die Hausväter-, Anstands-, vor allem aber die kaufmännische Rat­ geberliteratur vermittelte, die hier in intertextueller Referenz als Gewährsleute

74 | Vgl. Menantes: Allerneueste, Gratulation-Schreiben, „der Feder mangelt das Ver­ mögen“, S. 138. 75 | 1. Mose 3:19. Vgl. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapi­ talismus, Tübingen 1934, S. 30ff. 76 | Vgl. Menantes: Allerneueste, Empfehlungs=Schreiben, S. 36. Vgl. Savary, J.: Der vollkommene, Kap VII: Was sich Lehrjungen des Handkauffs in ihrer Herren Hauß verhal­ ten/ und was sie zeitwehrender ihrer Lehr-Jahre erlernen sollen, S. 64ff.

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dieser kulturellen Ressourcen fungieren.77 Die Bekräftigung seiner Qualitäten überstellt er nun jedoch dem Zeugnüß wildfremder Menschen – die ihm damit einen Leumund dienen, die ihn gleichzeitig jedoch von der Notwendigkeit einer eigenen Einschätzung und damit einem Versprechen entbinden. Im Brieftext: Um seine wenige Capacitat aufzuwiegen, wäre es ihm nicht möglich weiter zu raisoniren, sondern lediglich zu rapportiren – um letztlich widerruflich zu blei­ ben. Die Selbststilisierung funktioniert hier vor dem gleichen Hintergrund wie im Fall Lütkens’. Es werden die gleichen Register gezogen, offenkundig jedoch vor unterschiedlicher Berechnung. Die Ambivalenz der Situation wird aber­ mals mehr als deutlich. Simon Moritz unterlässt es nicht, seine Vorzüge – als Bekräftigung des Lütkenschen guten Concepts – hervorzuheben, dieses jedoch unter Vorbehalt. Das Moment der eigentlichen Passivität – eines letztlich unter­ worfenen Selbst – wird dadurch erneut aufgerufen. Was Simon Moritz’ Antwort von Lütkens’ Erwartungshaltung trennt, seine Äußerungen jedoch gleichsam zu diesem als Botschaft zurückspiegelt, ist: die Eventualität eines Scheiterns. Was den Brief jedoch besonders macht, ist, wie geschickt dennoch das gewisse Hintertürchen offen gehalten wird. Simon Moritz ziert sich. Ganz abgeschrie­ ben hatte er eine gemeinsame Zukunft jedoch noch nicht. Faktisch lag es nun an dem Wohlwollen seiner Brüder – wie er die eigentliche Bedingung der gan­ zen Sache nun schlussendlich am Ende der zweiten Seite benennt. Die ein­ zige Möglichkeit – und damit bestätigt sich die Abwerbung an diesem Punkt der Unterhaltung dezidiert als Option –, von Furly wegzukommen, bezeichnet die Anfrage bei seinen Brüdern. Sie bildet gewissermaßen den Strohhalm, an den es sich noch zu klammern lohnte und fungiert gleichsam als der Grund seiner Unbestimmtheit, wobei er dieses Mal nicht davor zurückschreckt, der Lösung bestehender Kontrakte das Beiwort facilement beizufügen. Es braucht die Familie, und es braucht die briefliche Community, um eine gemeinsame Entscheidungsfindung voranzutreiben und sich die Legitimierung einzuholen. In dieser Community, und erst in dieser Community, werden die gegenseitigen Positionsbestimmungen, die bereits in ihren Grundfesten markiert sind, folg­ lich weiter ausgelotet, genauso die Umsetzbarkeit der Unternehmung. Bei der Anfrage an seine Brüder den Namen Lütkens nicht zu nennen, verläuft als Vorgabe direkt ins Leere. In ein Meer der Verschwiegenheit – das kaufmännische und hier substantielle Gebot der Geheimhaltung im briefstel­ lerischen Mantel – jedoch würden sich auch Johann Jakob und Johann Philipp betten.78 Zu vermuten bleibt, da nicht nur Nantes als Etablierungsort, sondern 77 | Vgl. Münch, Paul: Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Ent­ stehung der bürgerlichen Tugenden, München 1984, S. 13ff. Zu den Kaufmannsratge­ bern immernoch anschaulich: Ruppert, Wolfgang: Bürgerlicher Wandel. Die Geburt der modernen deutschen Gesellschaft im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1983, S. 57–103. 78 | Vgl. Menantes: Allerneueste, Bitt-Schreiben, „getreues Stillschweigen“, S. 221ff.

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auch eine Bindung an die finanzstarke Kaufmannsfamilie Bethmann lockte, dass hier von Seiten Lütkens’ durchaus die Ausnahme von der Regel galt. Zwi­ schen den Zeilen liest sich, Lütkens spekulierte durch sein Angebot nicht zu­ letzt auf eine geteilte Zukunft mitsamt aller Bethmanns. Wenn Simon Moritz’ Antwort auch nicht ganz seinen Erwartungen entsprechen konnte, willigte Lütkens dahingehend folglich dennoch im Antwortbrief darin ein, dass Simon Moritz „bey seine Brüder ratts erhollet“.79 Unvermittelt zumindest hatte ihn die bezeigte Reaktion Simon Moritz’ nicht treffen können – ganz im Gegen­ teil. Er selbst hatte den Kreis der Beteiligten bereits brieflich erweitert, schrieb zeitgleich selbst schon an Johann Jakob. Die Rahmenbedingungen waren ihm demnach bereits durchaus bewusst – durch solche hatte ihm auch der Antwort­ brief von Simon Moritz letztlich als durchaus verstehbar erscheinen müssen. Dem weiterführenden Interesse abträglich war das jedoch zunächst einmal nicht. Man hatte auf beiden Seiten vorerst auf die Reaktion Johann Jakobs zu warten. In Nicolaus Gottliebs Briefen bestätigen sich dadurch von seiner Seite die Relevanz und die Entscheidungsgewalt der Community. Johann Jakobs Brief erreicht Lütkens schon Anfang Dezember. Er bereitet den Korrespondenten einen Hoffnungsschimmer. Der zweitälteste Bethmann zeigt sich gegenüber Lütkens’ Plänen „mit viel plaisir [...] und reussirt die Sa­ che, so wird es [ihn] sehr erfreuen“. Auch Nantes als Zielort und Lütkens’ Kapi­ taleinlage sprechen ihm sehr zu. Er bekräftigt zudem in nur allzu bekannten Worten die Vorzüge seines Bruders. „[D]aß du an Ihme einen rechtschaffenen braven, verständigen & hübschen [...] Associe finden wirst“, steht außer Frage, denn „faullentzen hat er nicht gelernet, er liebet zu arbeiten, und sein Stück Brodt mit Ehren zu gewinnen“. Tatkräftig würde er für derer beider „Sosietet“ in Zukunft „alles mögliche contribuiren“. In diesem Bezug fragt er zuletzt an, wie es denn um die Möglichkeit bestellt wäre, sich noch dazu nicht sogar zu viert in Compagnie zu setzen, „nehmlich dich, meinen bruder, Imbert, und mich zu associiren, und ein hauß in Nantes & hier [in Bordeaux] zu halten“. Er betont dabei als Vorteil für Lütkens, Imbert und er würden ihr „brodt“ bereits haben und „große Bekantschaft“ genießen.80 Das Briefgeschehen entfächert sich als eindrückliches polyphones Ge­ spräch, in dem die gegenseitige Bezugnahme zum hohen Gut erhoben wird. In Bezug auf die Qualität seines Bruders bedient Johann Jakob die gleichen Standards, die bereits vorher das Zwiegespräch geprägt hatten. Mehr noch, sie fungieren, obgleich oder gerade da wiederum Spiegel zeitgenössisch kaufmän­ nischer Grundmotive, als direkte Zitation, hatten ihn beide Gesprächpartner 79 | HCA 30/233, Nicolaus Gottlieb Lütkens, Hamburg, an Simon Moritz Bethmann, Rotterdam, 5. Dez. 1743, Briefbuch. 80 | Zitate aus HCA 30/234, Johann Jakob Bethmann, Bordeaux, an Nicolaus Gottlieb Lütkens, Hamburg, 3. Dez. 1743.

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doch zuvor jeweils auf den Stand der Verhandlungen gebracht. Das Brot wird Mittel zum Zweck – der gemeinsame Kanon zur anerkannten Spielart und zum Eingangstor zur Verhandlung. Das Problem an Johann Jakobs Antwort jedoch ist, beschreibt er ausführlich seine Zukunftspläne der gemeinsamen Unternehmung, trägt er dennoch nichts zur eigenlichen Krux der Verhand­ lung bei. Er bietet keinen Vorschlag, wie Simon Moritz letztlich bei Furly aus­ zulösen ist. Es wird vermittelt, obwohl ein deutliches Interesse vorherrscht und er gleichsam offenkundig selbststilisierend bereits aus der Position des Gönners und Förderers argumentiert, letztlich kann die Entscheidung in die­ sem Falle nicht ausschließlich in seiner Macht gelegen haben, oder besser: Er hatte sie nicht allein fällen wollen. Bethmann verpasst es, deutlich Stellung zu beziehen. Mit dieser brieflichen Botschaft bereitet er den Grund, auf dem sich vier Tage später die Gewissheit einstellen sollte. Bethmann ließ zu, das Veto hatte letztlich noch der älteste Bruder. Beide Selbstentwürfe der bisherigen Bethmanns fügen sich hier in eine Begründung. Ausführlich und in Originalabschrift, auf Französisch zitiert, meldet sich im Folgebrief des jüngsten Bethmann, Simon Moritz, besagter dritte Bruder im Bunde „zu questionirter affair“ zu Wort, Johann Philipp. Simon Moritz be­ gründet die betont eingefügte Copia des Briefes damit, dass er „die freyheit [nehme], um es denenßelben taliter qualiter mitzutheilen“, um keine Missver­ ständnisse aufkommen zu lassen. Mit dieser materiellen Geste treibt er jedoch die im vorangehenden Brief antizipierte eigentliche Unverfänglichkeit seiner eigenen Person auf die Spitze. Es bezeichnet das I-Tüpfelchen seiner devotisie­ renden Selbst-Verhandlung im Laufe des Briefwechsels. Und dennoch gilt: Im Brief seines Bruders findet sich gewissermaßen gerade deswegen die Plausi­ bilisierung seines Brief- und Selbstkalküls. Es fungiert letztlich als adäquate Technik. Denn Johann Philipp schreibt, in galanter „üblicher Offenheit“, er sehe „wenige Anzeichen dafür [...], dass Ihr es annehmen werdet“. Simon Mo­ ritz solle sich bewusst machen, „welche Menge an neuen Etablierten es seit einigen Jahren in den Häfen Frankreichs gibt, dass die Kommissionen dabei bereits fein aufgeteilt sind, die besten Coups bereits getan sind“. Zudem weile bereits ein Bruder der Familie in Frankreich, Johann Jakob. Zuletzt verweist er darauf, dass Simon Moritz mit den „Geschäften vor Ort“ noch nicht ver­ traut sei und, als der letztlich entscheidende Haken an der ganzen Geschichte, bringt er auf den Punkt: „abgesehen von all diesem wissen Sie genau, dass Sie bey Furly für 4 bis 5 Jahre engagiert sind & dass Sie gemäß der Konventionen mindestens 2 bis 2 ½ Jahre dort verbringen müssen.“81 Johann Philipps Antwort rückt die Machtkonstellationen der Community wieder in gewohnte Bahnen. Simon Moritz’ Zögern wird nachträglich berech­ 81  |  Zitate aus HCA 30/233, Simon Moritz Bethmann, Rotterdam, an Nicolaus Gottlieb Lütkens, Hamburg, 9. Dez. 1743 (Übersetzung: Annika Raapke).

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tigt. Geradezu mit dem sprichwörtlichen Holzhammer erklärt Johann Philipp die Unternehmung zur Illusion. Als Voraussetzung dafür fungiert seine Po­ sition als Dienstältester der Brüder. Gleichermaßen entscheidend ist jedoch, dass die Logik des bisherigen Verhandlungsablaufs, der Schwebezustand der bisherigen Konstellationen der ‚Causa Nantes‘, diesen Eingriff bereits vorab legitimierte, vorausdeutete, ihm seiner Relevanz bestätigte und ihm einen Ort zugesprochen hatte, auf den er jetzt mit voller Wucht einschlagen kann. Die Haltung beider jüngerer Bethmanns kennzeichnet in den bisherigen Ver­ handlungen ein Abwarten, für das sie nun die Rechnung tragen. Beachtlich ist dennoch, dass dem ältesten Bruder ebenso zugetraut worden war, Gegen­ teiliges, demnach eine Möglichkeit zur Abwerbung, zu verkünden. Erneut zeichnet sich die Unternehmung damit als Verhandlungssache aus – was sich auch im Fortgang von Simon Moritz’ Brief bestätigt. Bezeichnend dahinge­ hend jedoch zuvor ist nun Johann Philipps Einschätzung zu Simon Moritz’ Befähigung. Der älteste Bethmann willigt ebenso in sämtliche bisher benann­ ten Querstreben kaufmännischen Selbstverständnisses und die Grundfesten kaufmännischer Geschäftstüchtigkeit ein. Was seine Aussagen jedoch von den zuvor gewechselten brieflichen Abwägungen trennt, ist, dass er für seinen Teil, seinem Bruder nun die Eignung zur adäquaten Einlösung dieser Qualitäten in Bezug auf den gegenwärtigen Fall abspricht. Nicht nur füllt er dabei die zuvor ausgestellten Tugenden mit sachlichem Inhalt, auch gelingt es ihm dadurch, die vermeintlichen Vorteile der Unternehmung zu entkräften. Im galanten, je­ doch französischen und damit bereits gelösteren Ausdruck, gebraucht Johann Philipp deutliche Worte.82 Wie Lütkens bedient er sich eines sachlich kauf­ männischen Stils, nun aus der Perspektive des sesshaften Stammhalters. Die Simon Moritz ausgestellte Experienz wird dabei durch die fehlende Erfahrung der Geschäfte vor Ort für nichtig erklärt. Durch den Verweis auf die Schwem­ me neuer Etablierter, eine Andeutung – Wengers subtle cues – in Richtung der zahlreichen deutschen Handelshäuser, die sich dort zu dieser Zeit niederlie­ ßen, wird dem Vorteil gleicher humeurs ihre Bedeutung als Alleinstellungs­ merkmal genommen.83 Zumal das Risiko eines weiteren Unternehmens in Frankreich schon durch Johann Jakobs Etablierung dort der Notwendigkeit entbehrte. Weder leichte Mühen noch gehöriger Fleiß könnten dabei folglich kompensieren, dass unter diesen neuen Handelshäusern in Nantes die besten Coups bereits verteilt sind. Und letztlich erscheint die Aussicht, facilement von Furly wegzukommen, allein dadurch verstellt, dass Konventionen herrschten, die dieses verbieten. Johann Philipp belässt es demnach nicht bei einem erho­ benen Zeigefinger in der Rolle des ältesten Bruders, sondern verfolgt in sei­ ner Reaktion auf die bisherige Diskussion der gesamten Community das Ziel, 82 | Vgl. Stuber, M./Hächler, S./Steinke, H.: Forschungskontexte, S. 11. 83 | Weber, K.: Deutsche Kaufleute, S. 179ff. u. 287ff.

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auf alle bisherigen Fragen eine begründete Antwort zu liefern. Spannend ist, dass der gewissermaßen naheliegendste Grund wiederum erst an das Ende der Aufzählung rückt. Die gegenteilige Meinung zur vermeintlich günstigen Ausgangssituation, wie sie Lütkens zu Anfang der Verhandlung hervorhob, überwiegt die vertragliche Bindung als triftigsten Grund seiner Ablehnungs­ haltung. Zuletzt nicht ohne Grund bewegte sich Simon Moritz doch nun nach dieser Rechnung seines Bruders der betonten ‚Konvention‘ nach – den implicit rules – zumindest bereits in Richtung der bezeigten ‚Mindestdauer‘. Er war bereits über ein Jahr in Furlys Diensten.84 Dieses setzt hier dennoch den ver­ meintlich willkommenen Schlusspunkt. Spannend ist dabei weiterhin, dass Johann Philipp – mitunter mit einer gewissen verstimmten Note – es dabei zuletzt nicht unterlässt, den Ball seinem jüngsten Bruder zurückzuwerfen, der es gleich zu Anfang hätte eigentlich bereits besser wissen müssen. Simon Moritz jedoch liefert dieser Vorlage erneut nicht den zu erwarten­ den Ausschlag. Vielmehr nimmt er auch hier den ihm auf dem Silbertablett gelieferten letzten Strohhalm der Zuversicht zum Ausgang, doch vor Lütkens erneut uneindeutig zu bleiben. Er lässt sich als Kommentar zum Brief sei­ nes Bruder wiederum ein Hintertürchen offen. So „dencke [er], daß alle Dinge nicht unmüglich sind“, man müsse nur eine gewisse Zeit verstreichen lassen. Wenn er „noch ein Jahr oder minder durch geschlendert habe, wer weiß wie es der Himmel noch auf wunderbarliche Weise dirigiren kan“.85 Direkt instru­ mentalisiert er hier den Verweis seines Bruders zur besagten Konvention – die ihm offenkundig eine neue Perspektive aufzeigt –, um sie für seine Zwecke umzudeuten. Sein briefliches Taktieren am Zünglein der Waage stellt sich als Muster ein, gleichermaßen belegt es, dass seiner zögerlichen Haltung letztlich doch ein deutliches Interesse innewohnt. Er lässt nicht locker und die Logik der Briefpraxis liefert ihm dafür die Gelegenheit. Communities of Practice sind nicht im Generellen harmonisch. Verhand­ lungen beinhalten zwangsläufig unterschiedliche Standpunkte und tensions. An diesem Scheidepunkt der schriftlichen Unterhaltung der Korresponden­ ten wird dieses nur allzu deutlich. Es entsteht Irritation. Dementsprechend zeugen auch Lütkens’ Briefe von Verwunderung und Verwirrung über die neuen Entwicklungen. Auch bei ihm schleicht sich eine Verstimmung ein. Er schreibt gleichzeitig an Simon Moritz und Johann Jakob. In übereinstimmen­ dem Wortlaut verlangt er von beiden nach Klarheit, setzt nun Bedingungen. Aus Simon Moritz’ Brief „schliße [er] zwar das die Sache in was weitem fellde, aber am Ende von E.E. schreiben scheinet alls wer darzu noch apparentie es zum stande komt“. Er wünsche sich, daß Simon Moritz nun Gewissheit schaf­ 84 | Vgl. Henninger, W.: Bethmann, Tl. 1, S. 116ff. 85 | Zitate ebenfalls aus dem Brief von Simon Moritz Bethmann vom 9.Dez. 1743 (wie Anm. 81).

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fe, die „finale Resolution“ treffe und zeitnah kläre, ob er innerhalb von 4 Monaten von seinem Patron loskommen könne – im Einvernehmen mit seinen Brüdern. Er „könte mit leichter mühe einen [anderen] asosieten bekommen“, jedoch ohne den Vorteil der gleichen „humeures“.86 Das Argument der voran­ gehenden Briefe wird erneut bedient, bekräftigt und damit in der Verhand­ lung gegen Johann Philipp aufgestellt. Zudem gewährt er augenscheinlich eine Gnadenfrist, die nun Simon Moritz’ Angebot des Herumschlenderns auf eine gewisse, jedoch geregelte Weise entgegenzukommen vermag. Der Fokus auf die Vorzüge der Unternehmung weicht in der Darstellung nun – nicht zu­ letzt, da Johann Philipps Brief als direkter Angriff auch auf seine Urteilskraft zu werten ist – der Betonung eigener Qualitäten und des von Johann Philipp untergrabenen know-hows, die dem Unternehmen seiner unabänderlich posi­ tiven Zukunftsaussicht bescheinigen. Die Kehrtwende bedingt die innerhalb des course of action neu entstandene Gesprächskonstellation, die geradezu nach Rechtfertigung verlangt. Das erneute Motiv der leichten Mühe spricht Bände. Es wird nun gewendet in Richtung Lütkens’ betontem Wohlwollen gegenüber Simon Moritz. Er untermauert weiter seine betont integre Selbstdarstellung damit, dass in Nantes „noch was zu verdienen“, ihm wäre „die neegotie allda ohne dort [s]ich selbsten zu rühmen außer grunde bekant“, da er in Lorient bereits selbst „afferes“ getrieben und bereits „zimlige enterprises“ auf eigene Rechnung getätigt hatte.87 Dem Brief an Johann Jakob wiederum fügt er eine Kopie des Briefes von Simon Moritz als auch seines Antwortbriefes bei, wie­ derum Spiegel des einvernehmlich geteilten Briefraumes, gleichsam jedoch Druckmittel. Er kommentiert in bekannten Worten ernüchtert, „es stehet allso alles noch wie du selbsten siehest in weitem fellde, und merke woll dein bru­ der in f[rank]furth nicht groß lust dazu“.88 Die beidseitig bediente Floskel des weiten Feldes zur Verschleppung der Verhandlung umschreibt betont Lütkens’ ungewollten Verharrungszustand.89 Gegenüber beiden Gesprächspartnern lie­ fert sie für die anstehende Konversation eine antizipierende Folgewirkung. Si­ mon Moritz bedeutet er, er solle sich seiner selbst nun klar werden, Stellung beziehen und vor diesem Hintergrund mit seinen beiden Brüdern überein­ kommen. Er gibt ihm noch eine Chance. Auch Johann Jakob bietet er eine letz­ te Möglichkeit zur Intervention. Von der Idee einer „Sosietet“ zu viert jedoch 86 | HCA 30/233, Nicolaus Gottlieb Lütkens, Hamburg, an Simon Moritz Bethmann, Rotterdam, 17. Dez. 1743, Briefbuch. 87 | Zitate ebd. 88 | HCA 30/233, Nicolaus Gottlieb Lütkens, Hamburg, an Johann Jakob Bethmann, Bordeaux, 20. Dez. 1743, Briefbuch. 89 | Vgl. Taylor, Jeremy: Ductor dubitantium, oder Allgemeiner Gewissens-Lehrer, Lei­ ter und Fuehrer in gründlicher Entscheidung allerhand Casus und Gewissens-Fälle, Bre­ men 1705, S. 401.

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sieht er ab, es würde „Chalusie“ erwecken, jedoch könne man durchaus noch über zeitweilig geteilte Commissionen sprechen. Sollte letzteres als Köder fungieren, so zeigte es wieder nicht die erhoff­ te Wirkung. Das Blatt hatte sich bereits gewendet. Dieses Mal sollten die Ar­ gumente und Selbstdarstellung – obgleich wiederum vom Adressaten aufge­ griffen – ins Leere verlaufen. Sie sind ob der brieflich bezeigten vollendeten Tatsachen für den Fortgang der Unterhaltung unmaßgeblich. Johann Jakob verzichtet auf eine erneute Stellungnahme. Simon Moritz würde bei seinem „ältesten Bruder [zwar] nochmahlen anfragen, was seine Gedanken und nähe­ re Meinung deßwegen sind“ und in der Tat wisse er von den Vorzügen in Nan­ tes und davon, dass genügend Angebot an potentiellen Partnern vorherrsche, jedoch habe er nunmehr doch nur wenig Möglichkeit, die Zügel noch einmal herumzureißen. In der Tat bestehe kein Zweifel darin, dass es ein „sehr nütz­ licher artickel [...] [sei, bei der Wahl] behutsam zu Wercke zu gehen“, und auf gleiche „Humeurs“ achte. In seinem Fall jedoch läge der Ausschlag der Sa­ che daran, daß er seine „Brüder consultieren [muss], um daß ich noch nicht mein eigen Meister [...] bin“.90 Der gemeinsame Kanon wird erneut reanimiert und doch zieht Simon Moritz sich nun vollends zurück auf gewohntes Terrain. Dieses Mal jedoch wiederum, um sich bereits Nicolaus Gottliebs Wohlwollen auch über diese Eskapade hin zu bewahren. Wie es bereits sein erster Brief vorzeichnete, will er keine Erkaltung der Liebe verantworten, sondern Lütkens’ „Gunst und Wohlgewogenheit“ erhalten. Seine Selbst-Bildung innerhalb des vergangenen Gesprächablaufs hatte für dieses Argument zuletzt von Anfang an die Weichen gestellt – die sensitivities hatten sich bewährt. Letztlich entbin­ det die bewusst gesetzte Passivität ihn vermeintlich von jeglicher Schuld. Sie wird zuletzt auch als Begründung herhalten, im letzten Brief der Episode mit „Warheit bezeugen [zu können], daß kein undankbares Hertz in [s]einen adern wallet“.91 Den Schlusstrich der ‚Causa Nantes‘ bezeichnet nach knapp drei Mo­ naten Simon Moritz’ Brief vom 3.1.1745. Der Brief bezeugt, Simon Moritz hatte auch das letzte Angebot von Lütkens ernst genommen und war nach Johann Jakobs Urteil noch weiter bis vor die endgültig höchste Instanz der Commu­ nity gezogen – den Vormund der Bethmanns, Jakob Adami. Doch auch diese Mühe war umsonst gewesen. Im Brief bestätigt er lediglich das „bereits jüngst­ hin gemelte, derweilen mein Oncle J[akob] Adami so sehr darnieder lieget, und dießer mit meinem jetzigen Patron questionirtes Engagement gemacht hat, man mich nicht so geschwinde degagieren [lösen] könnte“, weil es „derseiti­ gen Chagrin“ erwecken könnte. „[F]ür das gegenwärtige [seien ihm] die Hände 90 | HCA 30/233, Simon Moritz Bethmann, Rotterdam, an Nicolaus Gottlieb Lütkens, Hamburg, 23. Dez. 1743. 91 | HCA 30/233, Simon Moritz Bethmann, Rotterdam, an Nicolaus Gottlieb Lütkens, Hamburg, 3. Jan. 1744.

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gebunden“.92 Gleichermaßen sollte dieses für Nicolaus Gottlieb Lütkens gelten, dessen weiteren Bemühungen dadurch endgültig der Wind aus den Segeln genommen wird. Er stellt die Verhandlungen am 10. Januar mit „sittsamer Ge­ nerositat“ ein.93

5.  E pilog : D ie N agelprobe Bereits zu Beginn des Jahres 1743 hatte sich die Compagnie Johann Jakobs „Bethmann & Imbert“ mit dem Rotterdamer John Furly und dessen Onkel in London zerstritten. Jakob Adami hatte dabei von Anfang an zur Aussöhnung gemahnt. Er pflegte bereits zuvor und auch weiterhin Kontakte mit Furly. Vor diesem Hintergrund versteht sich auch Simon Moritz’ Anstellung in dessen Haus.94 Mehr als ein drei viertel Jahr später kommt Lütkens’ Anfrage. Sie wird zur Nagelprobe der Verhältnisse. Auf ihrem Boden wird der Widerstreit aus­ getragen und die zukünftigen Konstellationen entschieden – auf Briefebene. Die dichte Beschreibung der schriftlichen Aushandlungen der beteiligten Community of Practice bezeugt diesen spannungsgeladenen Moment in ein­ drücklicher Weise. Sie belegt, dass die Abwerbung von Anfang an Verhand­ lungssache war – zwischen zwei Parteien, in deren Mitte sich Simon Moritz begreiflich zum Spielball deklarierte. Wengers Konzept in konversationsana­ lytischer Erweiterung wird eben hier in historischer Perspektive tragfähig. Auch wenn letztlich die Machtkarte ausgespielt wurde, zuletzt die vertragliche Bindung als vermeintliches Totschlagargument ins Feld geführt wurde, von Beginn an klar war dieser Ausgang der Geschichte für die Beteiligten nicht. Die negotiations waren der Gradmesser. Dafür spricht: Zunächst hatten Briefe geschrieben zu werden. Wengers Bild einer scharfen Kurve gemeinschaftli­ cher Aushandlungsprozesse bestätigt sich dabei in vollem Maße. Die Grat­ wanderungen entlang der zur Disposition gestellten Konstellationen bezeugen sich anschaulich im Aufgebot an vorherrschenden Selbst-Definitionen, die sich entlang des Gesprächsverlaufes und als jeweilige Reaktion auf diesen ent­ wickeln und nuancieren. Selbst-Bildung bezeugt sich aussagekräftig als Pro­ zess und in situations- und rezipientenbedingter Abhängigkeit. Für die Zeit der Etablierung des Kaufmanns findet sich dabei als Ressource der adäquaten Selbst-Stilisierung ein Wertekanon von Fleiß, Rechtschaffenheit, Gottvertrau­

92 | Ebd. 93 | HCA 30/233, Simon Moritz Bethmann, Rotterdam, an Nicolaus Gottlieb Lütkens, Hamburg, 17. Febr. 1744. 94 | Vgl. Henninger, W.: Bethmann, Tl. 1, S. 116.

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en, Vertraulichkeit, Solidarität und praktischer Kompetenz repräsentiert.95 Dieser entschlüsselt sich entlang des schriftlichen Gesprächs als Kit der Ver­ ständigung. Die Funktion des Kanons besteht dabei im Gespräch in mehr als in einer jeweils stumpfen Rezitation eines auswendig gelernten Tugendkatalo­ ges. Vielmehr definiert er innerhalb der Gruppe den nötigen gegenseitig ver­ stehbaren Rahmen, in dem die jeweiligen Selbst-Thematisierungen in jeweils unterschiedlichen Instrumentalisierungen Gewähr und Plausibilität erhalten: Er bildet den Hintergrund brieflicher Sozialität. Je nach Konstellation und Ge­ sprächsmoment finden sich entsprechend bei unterschiedlichen Beteiligten der Konversation unterschiedliche Mobilisierungen und Inanspruchnahmen der kaufmännischen Werte und Querstreben des Selbstverständnisses. Die Briefpraxis erlaubte die Reaktion auf Gruppendynamiken. Sie erlaubte in ihrer Medialität einen Schlagabtausch mit offenem Ausgang, der sich in der Causa Nantes letztlich in ein zugegeben absehbares Ende fügt. Entscheidend bleibt: Es hätte auch anders kommen können. Nicht ohne Grund zieht Simon Moritz mit seinem Interesse letztlich bis vor das große Familiengericht, wenn sich damit auch bereits das Motiv der Besänftigung gegenüber Lütkens verbindet. Und dennoch, bis dahin erscheint eine Abkehr vom bisherigen Kurs immer noch im Bereich des Möglichen. Den entscheidenden Moment der Verhand­ lung markiert zuvor Johann Philipps – freilich nicht unerwartetes – klares Bekenntnis zur Aussöhnungsstrategie Jakob Adamis bei gleichzeitig gebote­ ner Alternativlosigkeit, oder besser, letztlich einer Zurückhaltung auf Seiten Johann Jakobs, die Lütkens wiederum zur tragischen Figur der Verhandlung erhebt. Vor dem Hintergrund bereits verhärteter Fronten hätte Johann Jakobs – obwohl durchaus denkbare – Parteinahme für eine fast schon rabiate Abwer­ bung zum offenen Bruch mit der Familie geführt. Obgleich ob der gegebenen Situation reizvoll, in eine vierteilige Companie ohne Furly einzusteigen, er­ scheint dieses Angebot im Rückblick als Träumerei. Simon Moritz’ Positionie­ rung wiederum erschließt sich im Gesamtblick als Kalkül, das sich letztlich, obwohl mit nachteiligem Ausgang, auszahlte. Innerhalb der Logik der Praxis waren ihm dadurch im gesamten Ablauf die Türen zu beiden Seiten offen – bis das Veto des Familienoberhaupts der Unternehmung ein unwiederbringliches Ende bereitete.

95 | Vgl. Schulte Beerbühl, Margrit: Deutsche Kaufleute in London. Welthandel und Einbürgerung (1660–1818), München 2007, S. 203ff.

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Die relationale Gesellschaft Zur Konstitution ständischer Ordnung in der Frühen Neuzeit aus praxeologischer Perspektive Marian Füssel Die zentrale Bedeutung, die dem Begriff der ständischen Gesellschaft als so­ zialstruktureller Signatur der europäischen Vormoderne zukommt, steht in ei­ nem merkwürdigen Missverhältnis sowohl zur theoretischen Konzeption von „Stand“ als auch zur empirischen Erforschung des inneren Zusammenhalts ständischer Ordnung. Eine theoretische Fundierung in Sinne einer übergrei­ fenden ‚Theorie der Ständegesellschaft‘ steht weiter aus, und so fällt auf, dass die theoretischen Bezugsrahmen sich meist auf einige soziologische Klassiker wie Max Weber, Norbert Elias, Michel Foucault, Pierre Bourdieu oder Niklas Luhmann stützen.1 Ständische Ordnung basierte auf dem „Grundwert“ der Ungleichheit, das ist in der historischen Forschung unumstritten.2 Deutlicher gewandelt haben sich hingegen die empirischen Zugänge zum Phänomen ständischer Ungleichheiten. So rekonstruiert sich jede Zeit ihre eigene ständische Gesellschaft, ähnlich beispielsweise der Rezeption der Antike transformiert sich die Vergangenheit stets im Akt der historiographischen Aneignung der eigenen Gegenwart.3 Ge­ 1 | Füssel, Marian/Weller, Thomas (Hg.): Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. Theorien und Debatten in der Frühneuzeitforschung (= Zeitsprünge, Bd. 15/1), Frankfurt a.M. 2011; Schwinn, Thomas: Ständische Verhältnisse und die Ordnungsbildung vom Mittelalter bis in die Neuzeit, in: Ders. (Hg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung, Frankfurt a.M. 2004, S. 71–102. 2 | Münch, Paul: Grundwerte der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft? Aufriß einer vernachlässigten Thematik, in: Winfried Schulze (Hg.): Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität (= Schriften des Historischen Kollegs München, Kolloquien, Bd. 12), München 1988, S. 53–72; Oexle, Otto Gerhard/Conze, Werner/Walther, Rudolf: Stand / Klasse, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 155–284. 3 | Vgl. Böhme, Hartmut u. a. (Hg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011.

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rade angesichts des beschleunigten Wandels einer turn-geleiteten Historio­ graphie zeigt sich dies besonders deutlich.4 So stand die Erforschung der früh­ neuzeitlichen Ständegesellschaft von den 1960er bis in die 1980er vorwiegend im Zeichen einer an der empirischen Sozialforschung ausgerichteten Sozialge­ schichte.5 Man versuchte, mit quantifizierenden Methoden soziale Strukturen zu ermitteln, und griff dabei vielfach auf so genannte serielle Quellen zurück, wie etwa Tauf- oder Sterberegister, Universitätsmatrikeln, Musterungsrollen oder Testamente.6 Begleitend zu der sozialgeschichtlichen Ungleichheitsfor­ schung verlief eine Diskussion – in Frankreich etwa angeleitet von den Ar­ beiten Roland Mousniers – über die zeitgenössischen Ordnungsdiskurse, die wie Kritiker dieser Arbeiten später vermerkten, einerseits die Repräsentation von Ordnung vorschnell mit deren sozialer Wirklichkeit gleichsetzten, ande­ rerseits zu einer nostalgischen Verklärung sozialer Harmonie neigten.7 Ende der 1980er Jahre traten dann vor allem Fragen nach Möglichkeiten und Gren­ zen sozialer Mobilität in den Mittelpunkt, welche eine Dynamisierung von als zu statisch und empirisch wenig haltbar gewerteten soziologischen Modell­ bildungen einleiteten.8 Als klassische Kanäle vormoderner sozialer Mobilität gelten der Klerus, die Universität, das Militär, Handelsgesellschaften sowie

4 | Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29. 3.2010, http://docupedia.de/zg/Cultural_Turns?oldid=84593 vom 12.1.2014. 5 | So ist bezeichnenderweise das erste Heft der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft aus dem Jahr 1975 dem Thema „Soziale Schichtung und Mobilität in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert“ gewidmet. 6 | Kocka, Jürgen: Stand, Klasse, Organisation. Strukturen sozialer Ungleichheit in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Aufriß, in: Hans Ulrich Wehler (Hg.): Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, S. 137– 165; Hippel, Wolfgang von: Die Gesellschaftsordnung in Deutschland zur Zeit des Barock, in: Volker Press u. a. (Hg.): Barock am Oberrhein, Karlsruhe 1985, S. 107–131; Wunder, Bernd: Die Sozialstruktur der Geheimratskollegien in den süddeutschen protestantischen Fürstentümern (1660–1720). Zum Verhältnis von sozialer Mobilität und Briefadel im Absolutismus, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 58 (1971), S. 145–219. 7 | Vgl. Mousnier, Roland: Les hiérarchies sociales depuis 1450 a nos jours, Paris 1969; vgl. die eingehende Kritik an Mousniers Forschungen bei Burke, Peter: The Language of Orders in Early Modern Europe, in: Michael L. Bush (Hg.), Social Orders and Social Classes in Europe since 1500: Studies in Social Stratification, London 1992, S. 1–12. 8 | Schulze, W.: Ständische Gesellschaft.

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allgemein der Dienst im sich formierenden Staatsapparat.9 Wolfgang Reinhard kennzeichnete in einer Vorlesung des Wintersemesters 1982/83 die Situation mit Blick auf die eigene Gegenwart wie folgt: „Gleichheit ist das viel umstrittene, aber nichtsdestoweniger allgegenwärtige Leitbild unserer Gesellschaft, unbegrenzte soziale Mobilität eines der Mittel, das zur Erreichung dieses Ziels verordnet wird. Damit wird aber die Ungleichheit unter den Menschen zum Problem, zum wissenschaftlichen Problem. Soziologie könnte geradezu als die Wissenschaft von der Erklärung und Beseitigung menschlicher Ungleichheit aufgefasst werden. Entsprechend leistet auch die Geschichtswissenschaft ihren Beitrag, indem sie die Geschichte menschlicher Ungleichheit schreibt und damit die strukturellen Bedingungen für menschliche Ungleichheit aufdeckt.“10

Als Katalysator eines sich gerade im Bereich der Frühneuzeitforschung anbah­ nenden Übergangs von der Sozial- zur Kulturgeschichte wirkte dann seit den 1990er Jahren der Begriff der „Ehre“.11 Mit der heuristischen Aufwertung der Kategorie der Ehre trat die Soziologie als primärer theoretischer Impulsgeber in der deutschen Diskussion zunächst zurück gegenüber Bezügen aus Ethno­ logie und Kulturanthropologie.12 Der Fokus auf die Bedeutung von Ehre führte 9 | Schulz, Günter (Hg.): Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, München 2002; Andermann, Kurt/Johanek, Peter (Hg.): Zwischen NichtAdel und Adel, Stuttgart 2001; Weiss, Volkmar: Bevölkerung und soziale Mobilität: Sachsen 1550–1880, Berlin 1993; Mieck, Ilja (Hg.): Soziale Schichtung und soziale Mobilität in der Gesellschaft Alteuropas. Protokoll eines internationalen Expertengesprächs im Hause der Historischen Kommission zu Berlin am 1. und 2. November 1982, Berlin 1984; Malettke, Klaus (Hg.): Ämterkäuflichkeit. Aspekte sozialer Mobilität im europäischen Vergleich (17. und 18. Jahrhundert), Berlin 1980. 10 | Reinhard, Wolfgang: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, S. 305. 11 | Dinges, Martin: Die Ehre als Thema der Stadtgeschichte. Eine Semantik im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne, in: Zeitschrift für Historische Forschung 16 (1989), S. 409–440; Ders.: Ehrenhändel als „Kommunikative Gattungen“, kultureller Wandel und Volkskulturbegriff, in: Archiv für Kulturgeschichte 75 (1993), S. 359–393; Guttandin, Friedhelm: Das paradoxe Schicksal der Ehre. Zum Wandel der adeligen Ehre und zur Bedeutung von Duell und Ehre für den monarchischen Zentralstaat (= Schriften zur Kultursoziologie, Bd. 13), Berlin 1993; Schreiner, Klaus/Schwerhoff, Gerd (Hg.): „Verletzte Ehre“. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (= Norm und Struktur, Bd. 5), Köln/Weimar 1996; Backmann, Sybille u. a. (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit (= Colloquia Augustana, Bd. 8), Berlin 1997. 12 | Vgl. zum Verhältnis beider Fächer Mergel, Thomas: Geschichte und Soziologie, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek 1998, S. 621–651.

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auch zu einer stärkeren Berücksichtigung der Konfliktträchtigkeit ständischer Ungleichheitsverhältnisse im Alltag.13 Hier knüpften seit etwa den 2000er Jahren historisch-anthropologische Forschungen an, welche die ständische Gesellschaft vor allem von Seiten ihrer Distinktionspraxis her in den Blick nahmen.14 Reinhard kommentiert diese Entwicklung 2004 gewohnt bissig mit den Worten: „Die entsprechende anthropologische Wende in der Geschichtswissenschaft bedeutet, sich im Gegensatz zur politischen Gleichheitspädagogik der historischen Sozialwissenschaft mit der mikro- wie makrohistorisch begründeten, strukturellen wie individuellen Ungleichheit der Menschen abzufinden, sich auf die Untersuchung ihrer Aneignung durch einzelne Subjekte zu beschränken und Geschichten von deren Auseinandersetzung mit Ungleichheit zu schreiben.“15

Damit ist gewissermaßen eine praxeologische Wende der Erforschung sozi­ aler Ungleichheiten benannt, die Ungleichheiten nicht als statisch gegeben betrachtet, sondern in ihrem Vollzug ‚in actu‘ in den Blick nimmt.16 Jüngere Arbeiten etwa zur sozialen Praxis von Rangstreitigkeiten haben gezeigt, dass sich Statik und Dynamik ständischer Vergesellschaftung keineswegs wechsel­ seitig ausschließen.17 Gerade die permanente Anfechtung von Rangverhält­ 13 | Als wichtigste Studien zu frühneuzeitlichen Ehrkonflikten vgl. Dinges, Martin: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 105), Göttingen 1994; Minkmar, Nils: Ausgegossene Worte. Stadtbürgerlicher Ehrbegriff, Ehren­konflikte und Habitus im Colmar des 16. Jahrhunderts in historisch-anthropologischer Perspektive, Diss., Saarbrücken 1996; Fuchs, Ralf-Peter: Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht (1525–1805), Paderborn 1998. 14 | Vgl. Faudemay, Alain: La Distinction à l’Age Classique: Emules et Enjeux, Paris 1992; Füssel, Marian/Weller, Thomas (Hg.): Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft, Münster 2005; Carl, Horst/Schmidt, Patrick (Hg.): Stadtgemeinde und Ständegesellschaft. Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen Stadt, Berlin 2007. 15 | Reinhard, W.: Lebensformen, S. 305. 16 | Zur praxistheoretischen Diskussion in der Geschichtswissenschaft vgl. Reichardt, Sven: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial. Geschichte 22 (2007), 3, S. 43–65, sowie demnächst Füssel, Marian: Praktiken historisieren. Geschichtswissenschaft und Praxistheorie im Dialog, in: Anna Daniel/Frank Hillebrandt/Franka Schäfer (Hg.), Die Methoden einer Soziologie der Praxis, Bielefeld 2014 (im Druck). 17 | Stollberg-Rilinger, Barbara: Rang vor Gericht. Zur Verrechtlichung sozialer Rangkonflikte in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 28 (2001),

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nissen stellte den allgemeinen Anspruch hierarchischer Ordnung ja nicht in Frage, sondern manifestierte ihn immer wieder aufs Neue. So ist es insge­ samt wohl weder angebracht, im Sinne einer whig-history den statischen und durch Ungleichheiten geprägten Charakter der ständischen Gesellschaft als ein zu überwindendes Anderes kleinzuschreiben, noch die zeitgenössischen Imaginationen von Hierarchie und allumfassender Rangordnung allzu real zu nehmen. So macht es einen Unterschied, ob sich Statuskonflikte ereignen, welche die soziale Ordnung als solche in Frage stellen oder ob es sich um Prä­ zedenzstreitigkeiten und Verstöße gegen Kleiderordnungen handelt, die inner­ halb eines akzeptierten Rahmens stratifizierter Vergesellschaftung die eigene Position zu verbessern suchen. Angemessener scheint es, von einer relationa­ len Gesellschaft auszugehen, die sich durch permanente Distinktionskämpfe unterschiedlicher sozialer Gruppen auszeichnete und gerade deshalb von fort­ währender Dynamik geprägt war.18 Gerade die in diesem Band vorgestellten Selbst-Bildungen waren ebenso Motor wie Resultat dieser dynamischen Kräf­ teverhältnisse in der Gesellschaft der „feinen Unterschiede“. Was angesichts einer mittlerweile etwas unpopulär gewordenen und methodisch schwierig zu leistenden Quantifizierung nicht vergessen werden sollte, sind die Größenre­ lationen der unterschiedlichen ständischen Milieus, die sich in keiner Weise in der Intensität ihrer heutigen Erforschung widerspiegeln. So stand im Reich bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von 12 Millionen um 1500 und 24 Millionen um 1800 neben einer Adelsschicht von rund einem Prozent eine städtische Gesellschaft von rund 20 bzw. 24 Prozent. Der Löwenanteil von 80 bzw. 75 Prozent setzte sich jedoch aus den Bewohnern der ländlichen Gesell­ schaft zusammen.19 Auch in der ländlichen Gesellschaft griffen symbolische wie materielle Grenzziehungen, fanden Prozesse der Subjektivierung statt und stellte materielle Kultur einen identitätsbildenden Faktor dar. Doch stellt sich bisweilen der Eindruck ein – um ein klassisches Wort aus der Ethnologie zu verwenden –, dass zumindest Kulturhistoriker/innen mittlerweile, auch wenn S. 385–418; Weller, Thomas: Theatrum Praecedentiae. Zeremonieller Rang und gesellschaftliche Ordnung in der frühneuzeitlichen Stadt: Leipzig 1500–1800, Darmstadt 2006; Füssel, Marian: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006. 18 | Zum Begriff der „Relation“ bzw. des „relationalen Denkens“ vgl. Bourdieu, Pierre u. a.: Soziologie als Beruf. Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis, Berlin/New York 1991, S. 276; Beaufays, Sandra: Relation, in: Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hg), Bourdieu Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2009, S. 206–209. 19 | Saalfeld, Dietrich: Die ständische Gliederung der Gesellschaft im Zeitalter des Absolutismus. Ein Quantifizierungsversuch, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 67 (1980), S. 457–483, hier S. 464.

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sie nicht mehr „über“ sondern „in“ Orten forschen, sich lieber an die Höfe und in die Städte als auf die Dörfer begeben.20 Um ein relationales Verständnis ständischer Ordnung als sozialer Praxis zu entwickeln, gehe ich im Folgenden in fünf Schritten vor und diskutiere zunächst den Widerstreit zwischen Norm und Praxis (1), dann die Bedeutung von Subjektivierungspraktiken für die Entwicklung eines ständischen Habitus (2), verfolge performative Praktiken des öffentlichen Streitens um soziale Gel­ tungsansprüche (3), gehe viertens auf die Rolle von Dingen und Artefakten für ständische Distinktion ein (4), um schließlich fünftens Szenarien einer allmäh­ lichen Transformation ständischer Vergesellschaftung zu problematisieren (5).

1. D iskurse kultureller H egemonie und P r ak tiken der A neignung Die Vorstellung einer perfekt gegliederten ständischen Hierarchie unterlag während der Frühen Neuzeit zahlreichen Diskursivierungen.21 Das klassische Dreiständemodell erwies sich schon für die mittelalterliche Gesellschaft als ein Versuch der Komplexitätsreduktion, der wenig mit einer empirisch gesät­ tigten Repräsentation sozialer Ordnung gemein hatte.22 Es ist wohl kein Zufall, dass Georges Duby zum Einstieg in die Analyse des mittelalterlichen Ordo-Ge­ dankens mit Charles Loyseaus Traité des Ordres et Simples Dignitez (1610) einen frühneuzeitlichen Text wählt.23 Der Jurist Loyseau (1566–1627) ist bereits einer 20 | Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1983, S. 32; zur Übersetzung in die Geschichtswissenschaft vgl. Levi, Giovanni: On Microhistory, in: Peter Burke (Hg): New Perspectives on Historical Writing, Cambridge 1992, S. 93–113, hier S. 96. Zur Geschichte der ländlichen Lebenswelten in der Frühen Neuzeit vgl. die Überblicke von Trossbach, Werner: Bauern 1648–1806, München 1993; Holenstein, André: Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißig jährigem Krieg, München 1996; wichtige Sammelbände sind Prass, Reiner u. a. (Hg.): Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich, 18.–19. Jahrhundert, Göttingen 2003; Peters, Jan (Hg.): Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995. 21  |  Jouanna, Arlette: Ordre social: mythes et hiérarchies dans la France du XVIe siècle, [Paris] 1977; Burke, P. : Language; Landwehr, Achim: Foucault und die Ungleichheit. Zur Kulturgeschichte des Sozialen in: Füssel, M./Weller, T.: Soziale Ungleichheit, S: 64–84. 22 | Vgl. Oexle, Otto Gerhard: Die Funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters, in: Schulze, W.: Ständische Gesellschaft, S. 19–51. 23  |  Duby, Georges: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus, Frankfurt a.M. 1986, S. 11–23.

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der Vertreter eines wissenschaftlichen Diskurses der feinen Unterschiede, der von Rangrecht über Ständelehren bis zur Zeremonialwissenschaft reicht und versucht, die gesamte soziale Welt in eine hierarchische Ordnung zu bringen.24 Teil dieses Diskurses waren auch die zahllosen Policeyordnungen, angefan­ gen von den drei Reichspoliceyordnungen des 16. Jahrhunderts, über städti­ sche Kleiderordnungen, territoriale Hof-Rangordnungen oder Adressbücher.25 Wie zahlreiche Forschungen der letzten 25 Jahre gezeigt haben, war es um die tatsächliche Einhaltung dieser normativen Ordnungen in der Praxis schlecht bestellt. Dies macht sie als Quellen nicht weniger bedeutsam, erfordert aber andere Instrumente der Interpretation. Neben Deutungen als Ausdruck sym­ bolischer Politik, konzentrierten sich andere Zugänge auf Fragen der Justiz­ nutzung oder allgemeiner gesprochen der Aneignung obrigkeitlicher Vorga­ ben durch die Untertanen.26 Gerade für die Beantwortung der Frage nach der Funktionsweise ständischer Ungleichheit ist dieser Perspektivwechsel nicht ohne Folgen. Die Fürstengesellschaft bleibt der Ort der kulturellen Hegemo­ nie dieser Gesellschaft, denn die grundsätzliche Legitimität der Ordnungen wurde selten in Frage gestellt.27 Was zu Debatte stand, war stets die eigene Position innerhalb der Ordnung. Wir haben es also mit einem Ineinandergrei­

24 | Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara: Die Wissenschaft der feinen Unterschiede. Das Praezedenzrecht und die europäischen Monarchien vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Majestas 10 (2002), S. 125–150; Vec, Miloš: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation (= Ius Commune, Sonderheft 106), Frankfurt a.M. 1998. 25 | Vgl. Härter, Karl/Stolleis, Michael (Hg.): Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd. 1ff., Frankfurt a.M. 1996ff. 26 | Zur Rationalität der Normgebung vgl. den Ansatz von Schlumbohm, Jürgen: Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 647–663; zur Justiznutzung vgl. Dinges, Martin: Frühneuzeitliche Justiz. Justizphantasien als Justiznutzung am Beispiel von Klagen bei der Pariser Polizei im 18. Jahrhundert, in: Heinz Mohnhaupt/Dieter Simon (Hg.): Vorträge zur Justizforschung – Theorie und Geschichte, Frankfurt a.M. 1992, S. 269–292. Die beiden paradigmatischen Untersuchungen zum Umgang mit Policeyordnungen sind Landwehr, Achim: Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt a.M. 2000; Holenstein, André: „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), 2 Bde., [Epfendorf] 2003. 27 | Zu Gramscis Konzept „kultureller Hegemonie“ in historischer Perspektive vgl. Jackson Lears, T.J.: The Concept of Cultural Hegemony: Problems and Possibilities, in: American Historical Review 90 (1985), S. 567–593.

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fen obrigkeitlicher Ordnungsangebote und deren Aneignung zu tun.28 Diese Aneignung verlief jedoch auf eigensinnigen Wegen von Individuen und Grup­ pen, die auch zur Belastung werden konnte. So erließ manch ein Territorium wiederum ein Verbot der Supplikation in Rang- und Statusfragen, um den obrig­keitlichen Verwaltungsapparat zu entlasten.29

2. I nkorporierungen ständischer O rdnung : H abitus und S ubjek tivierung Für die Funktions- bzw. Reproduktionsweise ständisch-korporativer Verge­ meinschaftung dient die Kategorie des Habitus als ein zentraler heuristischer Schlüssel.30 Der Habitus fungiert als Scharnier zwischen Strukturen und Praktiken, als strukturierende Struktur, die soziale Unterschiede perpetuiert. Als Funktionsweise der Habitusgenerierung wird auf die körperliche Einverlei­ bung, auf das Übergehen in Fleisch und Blut bzw. die inkorporierte Geschichte verwiesen, doch beschreiben die allermeisten empirischen Habitusgeschich­ ten den Habitus in seiner fertigen, gewissermaßen ausgebauten Form.31 Selten wird die Frage problematisiert, wann und wie die entscheidenden Momente der Sozialisation erfolgten, die zur Formierung eines bestimmten ständischen Ha­ bitus geführt haben.32 Eng damit verknüpft ist die Frage der Abgeschlossenheit des Habitus. Nimmt man die historische Inkorporierungsarbeit ernst, kann 28 | Zum Begriff der Aneignung vgl. Füssel, Marian: Die Kunst der Schwachen. Zum Begriff der Aneignung in der Geschichtswissenschaft, in: Sozial.Geschichte 21 (2006), 3, S. 7–28. 29 | Füssel, M.: Gelehrtenkultur, S. 228. 30 | Vgl. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987, S. 97–121. Zur Rezeption in der Geschichte vgl. zuletzt den Überblick von Reichardt, Sven: Bourdieus Habituskonzept in den Geschichtswissenschaften, in: Alexander Lenger u. a. (Hg.), Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2013, S. 307–323. 31 | Vgl. exemplarisch anhand des Professors Füssel, Marian: Die zwei Körper des Professors. Zur Geschichte des akademischen Habitus in der Frühen Neuzeit, in: Horst Carl/Friedrich Lenger (Hg.): Universalität in der Provinz – die vormoderne Landesuniversität zwischen korporativer Autonomie, staatlicher Abhängigkeit und gelehrten Lebenswelten, Darmstadt 2009, S. 209–232. 32  | Gadi Algazi versucht dies beispielsweise einzufangen, indem er sich vom Habitusbegriff distanziert und von einer „gelernten Lebensweise“ spricht, um damit den Prozesscharakter der Formierung hervorzuheben, vgl. Algazi, Gadi: Eine gelernte Lebensweise: Figurationen des Gelehrtenlebens zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007), 2, S. 107–118.

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der Habitus einerseits nicht einfach abgestreift werden wie ein schmutziges Hemd, und er kann auch nicht gewählt werden wie eine Maske. Andererseits ist der Habitus nicht so statisch, dass er nicht nach der Sozialisationsphase im Kindesalter noch weiter geformt würde. Hier kann die Kategorie der Subjekti­ vierung im Anschluss an Louis Althusser, Michel Foucault und Judith Butler weiterhelfen.33 Ständische Subjekte werden, wie der Wortstamm von Subjekt bereits besagt, einerseits durch Unterwerfung, andererseits durch die Aner­ kennung der damit indizierten Identität gemacht.34 Insofern hat das Subjekt einen „zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein.“35 Die soziale Praxis der unterwerfenden Adressierung hat Althusser mit der Unterscheidung von zwei Subjektbegriffen expliziert.36 Nach dieser wird das Individuum durch ein subjekt (bei Althusser großge­ schrieben) wie Reich, Kirche, Stand, Universität, Zunft usw. als Subjekt (bei Althusser kleingeschrieben), das heißt als Deutscher oder Franzose, als Lehrer oder Schüler, als Gemeindemitglied oder gläubige Seele über den Vollzug der vom subjekt verordneten institutionellen Praktiken und Rituale konstituiert. Althusser beschreibt diese Konstituierung als das Wechselspiel von Anrufung (Nennung des Namens, des Titels oder nur in Form eines trivialen „Hallo, Sie da“) und Anerkennung dieser Anrufung in Form des Vollzugs des damit bezeichneten Rituals. So konstituiert zum Beispiel die Begrüßung mit einem „Grüß Gott, Herr Pfarrer“ sowohl den Angesprochenen als Pfarrer wie auch den Ansprechenden als Schäflein seiner Herde. Die permanente Wiederho­ lung der Praktiken schafft im Individuum die Disposition, sich beim nächsten Anruf als Subjekt wiederzuerkennen. Häufiger als von Subjektivierung ist in der Frühneuzeitforschung bis­ lang von Selbstbildung die Rede, im Sinne der deutschen Übersetzung des 33  |  Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Berlin 1977; Butler; Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001. 34  |  Die Subjektivierungstheorie für die Analyse ständischer Vergesellschaftung frucht­ bar macht Freist, Dagmar: „Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen“. Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 151–174. Anders als Freist vermag ich jedoch keine „subversive“ Wirkung der Distinktionspraktiken zu erkennen (ebd., S. 159ff.), sondern konträr eher eine Machtverhältnisse stabilisierende. 35 | Foucault, Michel: Warum ich die Macht untersuche. Die Frage des Subjekts, in: Hubert L. Dreyfuss/Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, 2. Aufl., Weinheim 1994, S. 243–250, hier S. 246f. 36 | Althusser, L.: Ideologie, S. 144ff.

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Greenblattschen „Self-fashioning“.37 Stephen Greenblatts Idee der Selbstbil­ dung ist den Subjektivierungstheorien durchaus verwandt bzw. von Foucaults Subjektkonzept beeinflusst, wird jedoch in der Forschung häufig synonym mit Selbstinszenierung verwandt. Für Greenblatts Gestalten der Renais­ sance beinhaltet Selbstbildung jedoch „die Unterordnung unter eine absolute Macht oder Autorität, die zumindest teilweise außerhalb des Selbst besteht – Gott, ein heiliges Buch oder eine Institution wie Kirche, Hof, Kolonial- oder Militärverwaltung.“38 Die Geschichte des Selbst ist so verstanden immer auch eine Geschichte der Macht, „self-fashioning“ nicht mit einem modischen Identitätswechsel zu verwechseln. Gerade innerhalb der alten Debatte um die Ursprünge der modernen Individualität in der Renaissance haben jüngere Ar­ beiten den Charakter eines „relationalen Zeitalters“ herausgearbeitet.39 Das In­ dividuum entstand nicht aus sich selbst heraus, sondern stets in Vergleich mit anderen, in Akten des sich in Beziehung setzen. Ein Bereich, in dem die Mechanismen einer ständischen Subjektbildung besonders plastisch hervortreten, ist die rituelle Konstitution von Zugehörig­ keit. Die einzelnen ständischen Korporationen und Milieus verfügten über eine Vielzahl von Einsetzungsriten, welche nicht nur Inklusion und Exklusion regulierten, sondern ihre Mitglieder auch subjektivierten, indem sie die Zuge­ hörigkeit zu einem bestimmten Stand performativ herstellten. Egal ob Geist­ liche, Soldaten, Handwerker, Ratsherrn oder Studenten – sie alle durchliefen diverse Einsetzungen.40 Der militärische Drill der stehenden Heere etwa, der 37 | Greenblatt, Stephen: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago/London 1980; vgl. die deutsche Übersetzung der Einleitung als Ders.: Selbstbildung in der Renaissance. Von More bis Shakespeare (Einleitung), in: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism, 2. Aufl. Tübingen/Basel 2001, S. 35–47. 38 | Ebd., S. 45. 39 | Vowinckel, Annette: Das Relationale Zeitalter. Individualität, Normalität und Mittelmaß in der Kultur der Renaissance, Paderborn 2011. Vowinckels Denken in Relationen ist dem hier entwickelten Ansatz recht ähnlich zielt jedoch auf einen etwas anders gelagerten Gegenstand. 40 | Zum Handwerk vgl. mit weiterer Literatur Füssel, Marian: Von der Visitation zur Feldforschung? Praktiken „zeremonial“-wissenschaftlicher Informationsgewinnung in Friedrich Frieses „Ceremonial-Politica der Künstler und Handwerker“, in: Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, Münster 2008, S. 237–256; zur Studentenkultur vgl. ders.: Riten der Gewalt. Zur Geschichte der akademischen Deposition und des Pennalismus in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 32 (2005), 4, S. 605–648; zum Militär vgl. Winkel, Carmen: Eid, Uniform und Wachdienst: Initiationsrituale im frühneuzeitlichen Offizierkorps, in: Ralf Pröve/Carmen Winkel (Hg.): Übergänge schaffen. Ritual und Performanz in der frühneuzeitlichen Militärgesellschaft, Göttingen 2012,

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nicht von ungefähr einen der Kernpunkte der Sozialdisziplinierungsthese aus­ macht, stellt eine massive und massenhaft erfahrene Subjektivierungspraxis dar, die vor allem auf die Körper der zu disziplinierenden zielte.41 Doch auch in vermeintlich weniger körperfixierten Institutionen, wie den Universitäten, spielten ähnliche Praktiken der rituellen Produktion von Subjekten eine Rolle. Anlässlich eines studentischen Einsetzungsrituals, der so genannten Depositi­ on im Rahmen der Immatrikulation, die aus allerlei materiellen Kosten sowie physischen wie psychischen Erniedrigungen bestand, hat Martin Luther in ei­ ner seiner das Ritual begleitenden Tischreden den Akt der Unterwerfung auf das ganze weitere Leben des Deponierten ausgeweitet.42 „Diese Ceremonie wird darum also gebraucht, auf daß ihr gedemüthiget werdet, nicht hoffährtig und vermessen seyd, noch euch zum Bösen gewöhnet. Denn solche Laster sind wünderliche ungeheure Thier, die da Hörner haben, die einem Studenten nicht gebühren und ubel anstehen. Darum demüthiget euch und lernet leiden und Geduld haben, denn ihr werdet euer Lebenlang deponiret werden. In großen Aemtern werden euch einmal die Bürger, Baurn, die vom Adel, und eure Weiber deponiren und wohl plagen. Wenn euch nun solches widerfahren wird, so werdet nicht kleinmüthig, verzagt und ungedüldig, dieselbigen lasset euch nicht uberwinden; sondern seyd getrost, und leidet solch Creuz mit Geduld, ohne Murmelung: gedenkt dran, daß ihr zu Wittenberg geweihet seid zum Leiden, und könnt sagen, wenn’s nun kommt: Wohlan, ich habe zu Wittenberg erstlich angefangen deponirt zu werden, das muß mein Leben lang währen. Also ist diese unser Deposition nur eine Figur und Bilde menschlichs Lebens, an allerley Unglück, Plagen und Züchtigung“. 43

Der Verweis auf die „großen Ämter“ sowie die Familie zeigt, dass die ­soziale Logik der Unterwerfung eine das ganze Leben durchziehende Funktion ist. Während für Luther deren theologische Legitimation als Leidensweg im Vor­ S. 25–44, vgl. auch die Hinweise bei Stollberg-Rilinger, Barbara: Rituale, Frankfurt a.M. 2013, S. 69–73. 41 | Vgl. Sikora, Michael: Die Mechanisierung des Kriegers, in: Rebekka von Mallinckrodt (Hg.): Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit (Ausstellungskatalog Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel), Wolfenbüttel 2008, S. 143–166, 317–327; Bröckling, Ulrich: Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München 1997. 42 | Füssel, M: Riten der Gewalt. 43 | Luther, Martin: Von der Deposition, in: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden, Bd. 4, Weimar 1916, Nr. 4714, S. 444. Zur Deposition in Wittenberg vgl. Gößner, Andreas: Die Studenten an der Universität Wittenberg. Studien zur Kulturgeschichte des studentischen Alltags und zum Stipendienwesen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Leipzig 2003, S. 40ff.

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dergrund steht, ist die Rede gleichzeitig eine aufschlussreiche Deutung von ständischen Subjektivierungsprozessen als Praktiken der Unterwerfung. Kaum ein soziales Milieu der frühneuzeitlichen Gesellschaft ist jedoch in ver­ gleichbarer Drastik von sozialen Ungleichheiten gekennzeichnet wie das Mili­ tär. Mit dem Zeitalter der „stehengebliebenen Heere“ (J. Burkhardt) steigerten sich sowohl die Subjektivierungsprozesse als auch die internen Ungleichheits­ verhältnisse noch. Einem von adeligem Lebensstil geprägten Offizierskorps stand die breite Masse der Gemeinen gegenüber. Innerhalb der militärischen Lebenswelten bildeten adelige Offiziere und Gemeine gleichsam zwei getrenn­ te soziale Welten.44 Gerade unter den Extrembedingungen des Krieges zeigten sich die Auswirkungen der Ungleichheit besonders hart. Während Offiziere mit allen Ehren beerdigt wurden, ja deren Leichname zum Teil in die Heimat­ orte überführt wurden, verscharrte man die Gemeinen zu Tausenden in an­ onymen Massengräbern oder ließ sie einfach auf dem Schlachtfeld liegen.45 Auch die Erinnerungskultur trug dieser Trennung Rechnung, indem sie dem Adel aufwendige Denkmäler und Begräbnisstätten errichtete, während von den Gemeinen noch nicht mal die Namen dauerhaft sichtbar blieben. Schätzun­ gen von bis zu sechs Millionen Toten in den europäischen Kriegen des 17. und 18. Jahrhunderts sprechen hier eine deutliche Sprache.46 Krieg und Militär bildeten keine Ausnahmeerscheinungen der frühneuzeitlichen Gesellschaft, sondern einen zentralen sozialen Faktor, vom Prozess der Staatsbildung bis zur alltäglichen Erfahrung von Einquartierungen. Mit diesem Hinweis sollen nicht längst überwundene Diskussionen über Sozialdisziplinierung oder so­ ziale Militarisierung erneuert werden, sondern die historischen Alteritätsmo­ mente anderer gesellschaftlicher Bühnen ins Bewusstsein gerückt werden, die ähnlich der ländlichen Bevölkerung in der jüngeren Fokussierung auf Foren symbolischer Interaktion zunehmend aus dem Blick geraten sind. Subjektivierende Unterwerfung musste dabei keine gewaltsame Anrufung beinhalten, um sozial wirksam zu werden, das Hutziehen auf der Straße, das 44 | Zum Stand der „neuen“ Militärgeschichte in Deutschland vgl. Kroener, Bernhard R.: Kriegerische Gewalt und militärische Präsenz in der Neuzeit. Ausgewählte Schriften, Paderborn 2008; Pröve, Ralf: Lebenswelten. Militärische Milieus in der Neuzeit. Gesammelte Abhandlungen, Berlin 2010; Müller, Christian Th./Rogg, Matthias (Hg.): Das ist Militärgeschichte! Probleme – Projekte – Perspektiven. Für Bernhard R. Kroener zum 65. Geburtstag, Paderborn 2013. Für Frankreich vgl. Chagniot, Jean: Guerre et société à l’époque moderne, Paris 2001. 45 | Füssel, Marian: Der inszenierte Tod. Militärische Sterbe- und Beerdigungsrituale im Kontext des Siebenjährigen Krieges, in: Pröve, R./Winkel, C. (Hg.): Übergänge schaffen, S. 127–152. 46  |  Urlanis, Boris Zesarewitsch: Bilanz der Kriege. Die Menschenverluste Europas vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 1965, S. 43–49 u. 60.

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Niederknien in der Kirche oder die Einübung von Tischsitten konnten ebenso wirksam sein, um soziale Relationen zu inkorporieren.47 Hier kann bereits an eine ganze Reihe von Arbeiten der frühen 1980er Jahre angeknüpft werden, die mittlerweile fast vergessen scheinen, wie etwa zu den Wahlverwandtschaften zwischen Kloster- und Fabrikdisziplin oder den räumlichen Verflechtungsord­ nungen von Kontoren und Kanzleien.48 Arbeiten, deren modernisierungsthe­ oretischen Duktus man heute vielleicht aufgeben würde, die aber konsequent den Blick auf die Praktiken richten. Vor diesem Hintergrund lösen sich Selbst­ bildungen von Geistlichen, Protoindustriellen oder Beamten auf in eine Viel­ zahl von Praktiken, ständische Subjekte sind nicht länger „souveräne Aus­ gangspunkte sozialen Handelns“, sondern deren Ergebnis.49 Als solche sind sie jedoch nie in einem Status quo ‚eingefroren‘, sondern zur permanenten praktischen Aktualisierung ihrer Geltungsansprüche nicht nur disponiert, sondern auch auf- bzw. herausgefordert.

3. U mstrit tene O rdnungen : P erformanz und K onflik t Die Konsequenzen eines relationalen Denkens hat der Althistoriker Paul Veyne mit Bezug auf die Arbeiten Michel Foucaults in ein treffendes Bild gebracht: „In dieser Welt spielt man nicht Schach mit den ewig gleichen Figuren, dem König, dem Bauern; sondern hier sind die Figuren das, was die wechselnden Konfigurationen auf dem Schachbrett aus ihnen machen“. 50

Auf den Alltag ständischer Ungleichheit übertragen heißt dies, dass die sozia­ len Gruppen ihren Rang und Status stets aufs Neue in Beziehung zueinander konstituieren. Das Schachbrett ist in diesem Fall der sich in konkrete physi­ 47 | Corfield, Penelope J.: Ehrerbietung und Dissens in der Kleidung. Wandel der Bedeutung des Hutes und des Hutziehens, in: Klaus Gerteis (Hg.): Zum Wandel von Zeremoniell und Gesellschaftsritualen in der Zeit der Aufklärung (= Aufklärung, Bd. 6/2), Hamburg 1992, S. 5–19. 48 | Treiber, Hubert/Steinert, Hans: Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen. Über die Wahlverwandschaft von Kloster- u. Fabrikdisziplin, München 1980; Fritz, Hans-Joachim: Menschen in Büroarbeitsräumen. Über langfristige Strukturwandlungen büroräumlicher Arbeitsbedingungen mit einem Vergleich von Klein und Großraumbüros, München 1982, S.15–55. 49 | Alkemeyer, Thomas/Budde, Gunilla/Freist, Dagmar: Einleitung, in: Dies. (Hg.), Selbst-Bildungen, S. 9–30, hier S. 17. 50 | Veyne, Paul: Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt a.M. 1992, S. 67.

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sche Räume übersetzende soziale Raum einer frühneuzeitlichen Stadt, eines Dorfes oder der höfischen Gesellschaft.51 Räumlichkeit wird zu einem zentra­ len Medium der symbolischen Statuskonstitution, wie an zwei Beispielen kurz verdeutlicht werden kann: dem Kirchenraum und der Prozession.52 Religiöse Feste zählten in der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu den zen­ tralen Ereignissen, innerhalb derer sich ein Großteil der sozialen Gruppen des Gemeinwesens in eine hierarchische Ordnung einzufügen hatten. Diese relationale Ordnung wurde jedoch nicht, wie häufig in der Frühneuzeitfor­ schung zu lesen, „ausgehandelt“, sondern erstritten und das mit rechtlichen wie symbolischen Strategien bis hin zur blanken physischen Gewalt.53 Bereits seit dem späten Mittelalter waren Kirchenräume zum Teil bestuhlt, aber erst der konfessionalisierte Kirchenraum der Frühen Neuzeit wurde zum Medium einer ausgefeilten Statustopologie.54 Der Streit um den „Platz in der Kirche“ entwickelte sich in Stadt und Land zu einem fortwährenden Quell von Konflik­ ten.55 Kirchstuhlstreitigkeiten verweisen explizit auf die Bedeutung der Ma­ 51 | Innerhalb der Stadtgeschichtsforschung zur Vormoderne nehmen Fragen von Rang- und Distinktion inzwischen eine wichtige Rolle ein, vgl. Blockmanns, Wim/Janse, Antheun (Hg.): Showing Status: Representation of Social Positions in the Late Middle Ages, Turnhout 1999; Carl, Horst/Schmidt, Patrick (Hg.): Stadtgemeinde und Ständegesellschaft. Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen Stadt, Berlin 2007; Deutschländer, Gerrit u.a (Hg.): Symbolische Interaktion in der Residenzstadt des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin 2013. 52 | Füssel, Marian: Rang und Raum. Gesellschaftliche Kartographie und die soziale Logik des Raumes an der vormodernen Universität, in: Christoph Dartmann/­M arian Füssel/Stefanie Rüther (Hg.): Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster 2004, S. 175– 197; Hochmuth, Christian/Rau, Susanne (Hg.): Machträume der frühneuzeitlichen Stadt (= Kon­f likte und Kultur, Bd. 13), Konstanz 2006. 53 | Dass der Begriff die genannten agonalen Machtbeziehungen jedoch nicht ausschließen muss, zeigen etwa die Beiträge in Braddick, Michael J./Walter, John (Hg.): Negotiating Power in Early Modern Society: Order, Hierarchy, and Subordination in Britain and Ireland, Cambridge 2001. 54 | Vgl. Wex, Reinhold: Ordnung und Unfriede. Raumprobleme des protestantischen Kirchenbaus im 17. und 18. Jahrhundert (= Kulturwissenschaftliche Reihe, Bd. 2), Marburg 1984. Zum Mittelalter vgl. Signori, Gabriela: Umstrittene Stühle. Spätmittelalterliches Kirchengestühl als soziales, politisches und religiöses Kommunikationsmedium, in: Zeitschrift für Historische Forschung 29 (2002), S. 189–213. 55 | Als Pionierstudie kann hier gelten Peters, Jan: Der Platz in der Kirche. Über soziales Rangdenken im Spätfeudalismus, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 28 (1985), S. 77–106; den Forschungsstand fasst zusammen und erweitert durch neue Deutungen grundlegend Weller, Thomas: Ius Subselliorum Templorum. Kirchenstuhl-

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terialität von Räumen für die Herstellung von Distinktion. Der Streit um das Besitzen war einerseits ein Streit um die legitime performative Statuskonsti­ tution unter Anwesenden, konnte als Streit um den Anspruch auf Stuhl, Bank oder Empore, aber auch unter Bedingungen der Abwesenheit geführt werden. So verteidigten Inhaber von Kirchenstühlen immer wieder ihr Gestühl vor Usurpation, auch wenn sie selbst gar nicht im Kirchenraum anwesend waren und den Gottesdienst in einer anderen Kirche oder überhaupt nicht besuch­ ten.56 Wie Hierarchien buchstäblich räumlich in Bewegung gerieten, macht fer­ ner das frühneuzeitliche Prozessionswesen deutlich. In manchen katholischen Städten der Frühen Neuzeit verging kaum ein Jahr, in dem es nicht zu Prä­ zedenzstreitigkeiten anlässlich der alljährlichen Fronleichnamsprozession ge­ kommen wäre.57 Je mehr Korporation und ständische Gruppen in einer Stadt versammelt waren, desto höher war die Anfälligkeit für Statuskonflikte. Eine Stadt wie Freiburg im Breisgau etwa besaß nicht nur eine breite Gruppe von Handwerken und religiösen Ordensgemeinschaften, sondern unter anderem auch eine Universität, unter deren Studenten sich wiederum junge Adelige befanden.58 Jedes ständisch-korporative Milieu verfügte wiederum über wei­ tere Binnendifferenzierungen, wie etwa die Universität anhand der Rangfolge der vier Fakultäten von Theologie, Jurisprudenz, Medizin und Philosophie. So kam es nicht nur zu Rivalitäten zwischen den korporativen Gemeinschaften und Ständen, etwa zwischen Bürgermeister und Universitätsrektor oder Adel und Nicht-Adel, sondern auch innerhalb der einzelnen Korporationen. Auch waren die korporativen Grenzen zum Teil beweglich. Die Universitätsmit­ glieder taktierten geschickt zwischen einer kirchlichen und einer säkularen Zugehörigkeit. Versprach der Klerus den höheren Rang, sah sich das corpus academicum als Teil der Geistlichkeit, entstanden daraus Nachteile, gab man sich weltlich. Auch im protestantischen Raum gab es, trotz Ausbleiben eines gemeinsamen Großereignisses wie der Fronleichnamsprozession, ebenso streitigkeiten in der frühneuzeitlichen Stadt zwischen symbolischer Praxis und Recht, in: C. Dartmann/M. Füssel/S. Rüther (Hg.): Raum und Konflikt, S. 199–224. 56 | Weller, T.: Ius Subselliorum, S. 214f. u. 221; Füssel, M.: Gelehrtenkultur, S. 316f. 57 | Füssel, Marian: Hierarchie in Bewegung. Die Freiburger Fronleichnamsprozession als Medium sozialer Distinktion in der frühen Neuzeit, in: H. Carl/P. Schmidt (Hg.): Stadtgemeinde, S. 31–55; vgl. allg. auch Gengnagel, Jörg/Horstmann, Monika/Schwedler, Gerald (Hg.): Prozessionen, Wallfahrten, Aufmärsche. Bewegung zwischen Religion und Politik in Europa und Asien seit dem Mittelalter, Köln 2008; Ikari, Yuki: Wallfahrtswesen in Köln vom Spätmittelalter bis zur Aufklärung, Köln 2009, S. 165; Löther, Andrea: Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit (= Norm und Struktur, Bd. 12), Köln/Weimar/Wien 1999. 58 | Füssel, M.: Hierarchie.

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zahlreiche Gelegenheiten, die wechselseitigen Statusansprüche in einer räum­ lichen Konfiguration sichtbar zu machen, wie bereits der Kirchenraum deut­ lich belegt. In protestantischen Städten waren es häufig Leichenbegängnisse oder korporative Festlichkeiten wie Ratseinsetzungen oder Universitätsfeiern, die Anlass zu Konflikten boten.59 In allen geschilderten Situationen handelte es sich zunächst um Formen der Anwesenheitskommunikation, wie sie für die Konfliktlogik der frühneu­ zeitlichen face-to-face Gesellschaft charakteristisch war.60 Die Betonung der Kopräsenz von Akteuren ist gerade im Rahmen einer praxeologisch ausgerich­ teten Zugangsweise mehr als nur medienhistorischer Kontext. Erst die Situ­ ationen öffentlicher Interaktion führten ja in vielen Fällen zu einer Aktuali­ sierung von Geltungsansprüchen und Konkurrenzen, die ansonsten vielleicht latent geblieben wären. Mit den Worten Pierre Bourdieus bestätigt dies die dif­ ferenztheoretische Einsicht, dass man „sich nicht nicht unterscheiden [kann], und zwar unabhängig von jedem gesuchten Unterschied“.61

4.  D ie M aterialität der D istink tion Ständische Distinktion vollzog sich nicht nur in Interaktionen, sondern mate­ rialisierte sich auch in konkreten Artefakten. Das Beispiel des Kirchengestühls hat bereits gezeigt, wie wichtig die Materialität für den Vollzug distinktiver Praktiken war. Vor allem Kleidung und deren ständische Normierung zäh­ len seit langem zu den klassischen Gegenständen in der Erforschung der „fei­ nen Unterschiede“.62 Mittlerweile ist jedoch im Zuge eines kulturhistorischen Trends zur Erforschung materieller Kultur die Dinglichkeit der Kleidung wie­ 59 | Weller, T.: Theatrum Praecedentiae; Rügge, Nicolas: Im Dienst von Stadt und Staat. Der Rat der Stadt Herford und die preußische Zentralverwaltung im 18. Jahrhundert, Göttingen 2000. 60 | Laslett, Peter: The Face to Face Society, in: Ders. (Hg.), Philosophy, Politics and Society, Oxford 1967, S. 157–184. Die Problematik der face-to-face Interaktion aufgegriffen und mit der gepflegten Semantik der Systemtheorie kodiert, hat prominent Schlögl, Rudolf: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155–224. 61 | Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M. 1998, S. 66. 62 | Weller, T.: Theatrum Praecedentiae, S. 82–119 u. 359–382, Dinges, Martin: Der „Feine Unterschied“. Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 19 (1992), S. 49–76; Roche, Daniel: La culture des apparences. Une histoire du vêtement (XVII e –XVIII e siècle), Paris 1989; Eisenbart,

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der verstärkt in den Fokus gerückt.63 An drei kurzen Beispielen kann gezeigt werden, dass die Materialität explizit zum Thema zu machen mehr bedeuten kann, als eine kulturwissenschaftliche Aufwertung von Textilkunde und der Rekonstruktion von Wohninterieurs. Über den Humanisten Hermann von dem Busche (1468–1534) ist die Anekdote überliefert, dass, als er einmal in seiner Alltagskleidung über den Marktplatz gegangen sei, ihn niemand gegrüßt habe. Als er später jedoch sein Festtagsornat angelegt habe, habe jeder vor ihm den Hut gezogen. Wieder da­ heim, habe er sich wütend ausgezogen und seine Kleidung mit Füßen getre­ ten, indem er fragte: „Bistu dann der Doctor Busch, oder bin ich er?“64. Über die gelehrte Variante der klassischen „Kleider machen Leute“-Problematik hi­ naus zeigt die Episode zweierlei.65 Die Kleidung wird als eigener Akteur ange­ sprochen und als solcher körperlich gestraft, zum anderen stellt das Kleid die ständische Identität seiner Person in Frage, nicht etwa Recht, Geld oder ge­ lehrte Kompetenz. Ständisches „Self-Fashioning“ scheint sich somit regelrecht zum Fetisch zu vergegenständlichen, das Objekt selbst wird durch rhetorische Anrufung subjektiviert. Der Zusammenhang zwischen der performativen Praxis der Umzüge und Prozessionen und der distinktiven Bedeutung der Dinge wird 1629 in einer Radierung karikiert, die einen Leichenzug der Alamode-Anhänger zeigt.66 Mit der Unterschrift „O we der grossen noht, Der a la mode ist todt“ werden an Stangen befestigte Kleidungsstücke zu einem castrum doloris getragen. Im Gefolge des auch als Person aufgebahrten Herrn A la mode befinden sich u. a. seine Profiteure in Gestalt von Schneidern, Druckern, Kupferstechern und Balbierern, die aus einem Haus geschritten kommen, in dessen erster Etage Liselotte Constanze: Kleiderordnungen deutscher Städte zwischen 1350 und 1750, Göttingen 1962. 63 | Vgl. die anregende Studie von Rublack, Ulinka: Dressing up: Cultural Identity in Renaissance Europe, Oxford 2010. 64 | Zincgref, Julius Wilhelm: Teutsche APOPHTHEGMATA / as ist / der Teutschen / Scharf­s innige kluge Sprüche […], Amsterdam 1653, S. 198, weitere Nachweise zur Rezeption bei Füssel, Marian: Talar und Doktorhut. Die akademische Kleiderordnung als Medium sozialer Distinktion, in: Barbara Krug-Richter/Ruth Mohrmann (Hg.): Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa, Köln 2009, S. 245–271. 65 | Vgl. Hülsen-Esch, Andrea von: Kleider machen Leute. Zur Gruppenrepräsentation von Gelehrten im Spätmittelalter, in: Otto Gerhard Oexle/Andrea von Hülsen-Esch (Hg.): Die Repräsentation der Gruppen: Texte – Bilder – Objekte (= Veröffentlichungen des Max-Planck Instituts für Geschichte, Bd. 141), Göttingen 1998, S. 225–257. 66 | [Zausch, Bärbel] (Hg.): Frau Hoeffart & Monsieur Alamode. Modekritik auf illustrierten Flugblättern des 16. und 17. Jahrhunderts, Halle 1998, S. 15.

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die „a la mode Junckfrau“ in sechs Wochen die jüngste Mode entbinden wird. Hier wird nicht nur in für das 17. Jahrhundert charakteristischer Manier die Vergänglichkeit von Äußerlichkeiten symbolisiert, sondern insbesondere die Schnelllebigkeit der Mode, welche die Standesgrenzen aufzuweichen droht. Die Dinge haben hier etwas von Opfergaben und werden zu den eigentlich betrauerten Toten des Bildes. In einer anonymen Scherzdisputation aus der Zeit um 1700 wird über die Rivalitäten zwischen so genannten Professoren-Burschen und Bürger-Bur­ schen bzw. Communitätern räsoniert, also den Studenten, die im Haus eines Professors Kost und Logis genossen, und solchen, die bei Bürgern wohnten oder in der Mensa an Freitischen verpflegt wurden.67 Innerhalb der behandel­ ten symbolischen wie materiellen Grenzziehungen spielt vor allem der Tisch als Ort des gemeinsamem Mahles und der geselligen Interaktion eine zentrale Rolle. Und so kommt u. a. die Frage auf, ob denn „in dem Tische keine eige­ ne Krafft verborgen“ sei, welche die Ehre der Menschen auf wundersame Art vermehre, und ob demselben daher nicht eine „virtus Magica oder magnetica“ beizulegen sei. Doch dem Tische sei „nichts magisches eingesetzt / auch keine Characteres drunter geschrieben / so wird man auch keine Magnet-Capsul drinnen finden. Das aber eine occulta qualitas drinnen stecke / ist nicht zu läugnen / welche den effect hat einen Menschen geehrt und groß zu machen. Wer es nicht glauben will / der mag es schmieren / muß man doch die andern occultas qualitates in der gantzen natürlichen Philosophie auch glauben / ob man sie gleich weder gesehen / noch gefühlet / geschmecket / noch gerochen hat“. 68

Hier ist nicht nur die Aneignung barocker Wissenskultur im Bereich des Mag­ netismus aufschlussreich, sondern vor allem die „soziale Magie“, die von ei­ nem Artefakt in Gestalt des Tisches ausgeht. Zum eigentlichen Medium der Vergesellschaftung wird der Tisch, nicht die Sitzenden. Alle drei Beispiele zei­ 67 | Vgl. dazu Füssel, Marian: Der magische Tisch. Soziale Raumbezüge studentischen Lebens der Barockzeit im Spiegel einer Scherzdisputation, in: Karin Friedrich/Patrice Veit (Hg.), Die Erschließung des Raumes: Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter, Wiesbaden 2014 (im Druck); zur höfischen Gesellschaft vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara: Ordnungsleistung und Konfliktträchtigkeit der höfischen Tafel, in: Ulrich Schütte u. a. (Hg.), Zeichen und Raum. Ausstattung und höfisches Zeremoniell in den deutschen Schlössern der Frühen Neuzeit (= Rudolstädter Forschungen zur Residenzkultur, Bd. 3), München/Berlin 2006, S. 103–122. 68 | [Schlingschlangschlorum, Coecius Tappius]: Curiöse Inaugural-Disputation von dem Recht Privilegiis und Praerogativen Der Atheniensischen Professoren-Burschen / wider die Bürger-Bursche und Communitäter […], Athen [d.i. Leipzig] o. J. [um 1690], S. 22.

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gen zum einen, dass die Dinge nicht als Staffage wahrgenommen werden, son­ dern als konstitutiv für die symbolische Konstitution von Statusfragen, zum anderen, dass die Zeitgenossen offenbar bereits ein ausgeprägtes Bewusstsein von der Wirkmächtigkeit der Materialität der Distinktion entwickelt hatten. Erst als Verbindungen von Menschen und Dingen werden die Praktiken in ihrer komplexen Vollzugswirklichkeit somit analytisch fassbar.69

5.  A ufbrüche aus der S tändegesellschaf t ? Gerade wenn man ständische Ungleichheitsregimes als dynamisch begreift, stellt sich neben der Frage der Reproduktion von Ungleichheit immer auch die Frage des Wandels.70 Die Formen des Wandels sollen an zwei Feldern an­ gedeutet werden, dem Sozietätswesen und der Geschichte des Konsums. Ent­ sprechend dem Schwerpunkt der Forschung der 1970er und 1980er Jahre, eher die Auflösungserscheinungen als die Funktionsweise ständischer Hierarchie in den Blick zu nehmen, wurden neuartige Vergesellschaftungsprozesse im 18.  Jahrhundert als dem „geselligen Jahrhundert“ zunächst stark im Sinne einer Erosion von Standesschranken gelesen, wie es u. a. die einflussreichen Thesen von Reinhart Koselleck und Jürgen Habermas nahe gelegt hatten.71 Wie sich diese Einschätzungen jedoch mittlerweile gewandelt haben, zeigt exemplarisch ein Blick in die Erforschung von Freimaurerlogen.72 Bereits 1982 hatte Norbert Schindler auf die „Strategie der Selbstaufwertung durch Assi­ milation“ hingewiesen, mit der die Maurer sich zum Teil so sehr an höfische 69 | Vgl. Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282–301, hier S. 290f. 70 | Vgl. exemplarisch anhand der ständischen Gelehrtenkultur Füssel, M.: Gelehrtenkultur, S. 332–417. 71 | Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962; Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 2. Aufl., Freiburg/München 1969; Im Hof, Ulrich: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982. Zum allgemeinen Kontext des frühneuzeitlichen Sozietätswesens vgl. Hardtwig, Wolfgang: Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution, München 1997. 72 | Vgl. als Forschungsüberblick Agethen, Manfred: Dreißig Jahre deutsche Freimaurerforschung zum 18. Jahrhundert. Eine Bilanz, in: Heinz Duchhardt/Claus Scharf (Hg.): Interdisziplinarität und Internationalität. Wege und Formen der Rezeption der französischen und der britischen Aufklärung in Deutschland und Rußland im 18. Jahrhundert, Mainz 2004, S. 257–280.

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Interaktionsformen annäherten, dass „freimaurerisches und höfisches Zere­ moniell oft fast vollständig ineinander“ aufgingen.73 Auch Forschungen zu französischen und englischen bzw. schottischen Logen kommen zu ähnlichen Befunden hinsichtlich der Formierung neuer sozialer Exklusionsmechanis­ men.74 Die auf der Ebene des Kategoriensystems der ökonomischen Theorie etwa von Winfried Schulze diskutierten Transformationen ständischer Un­ gleichheit lassen sich mit neueren Forschungen zur Rolle der Freimaurerei als Sozialisationsagentur einer bürgerlichen Marktgesellschaft gut in Einklang bringen.75 Rascher ökonomischer Wandel setzte Entwicklungen frei, die neue soziale Mechanismen der Einbettung erforderten. Solche konnte das europä­ ische Sozietätswesen in hohem Maße bieten. Ziel der Freimaurer war nicht die Aufhebung der Ständegesellschaft, sondern die „Harmonisierung ihrer Widersprüche“.76 Die freimaurerische „Habitusethik“ ist ein hervorragendes Beispiel für die Bedeutung von körperlichen Praktiken bei der Einübung neu­ er Verhaltensideale.77 In der Logenkultur wurden neue Selbst-Bildungen vor­ genommen, Körper rituell subjektiviert und als bürgerliche Individuen ange­ sprochen sowie neue meritokratische Wertordnungen sozialen Aufstiegs im Gradsystem des Arkanums eingeübt. Zu diesen Zwecken bediente man sich angestammter Techniken der Subjektivierung, wie sie aus der Kirche, dem Handwerk oder der Adelsgesellschaft bekannt waren.78 Die Effekte dieser An­ 73 | Schindler, Norbert: Freimaurerkultur im 18. Jahrhundert, in: Robert M. Berdahl u. a. (Hg.), Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 1982, S. 205–262, hier S. 212; Berger, Joachim: Festarbeit, Tafelloge, Zeremonial. Freimaurerei und höfische Gesellschaft, in: Majestas 12 (2004), S. 129–160. 74  |  Gayot, Gérard: War die französische Freimaurerei des 18. Jahrhunderts eine Schule der Gleichheit?, in: Hans Erich Bödeker/Etienne François (Hg.): Aufklärung / Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung, Leipzig 1996, S. 235–248. 75 | Schulze, Winfried: Die ständische Gesellschaft des 16./17. Jahrhunderts und die moderne historische Forschung, in: Hans Erich Bödeker/Ernst Hinrichs (Hg.): Alteuropa – Ancien Régime – Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung, StuttgartBad Cannstatt 1991, S. 51–77; Jacob, Margaret C.: Money, Equality, Fraternity: Freemasonry and the Social Order in Eighteenth Century Europe, in: Thomas Haskell/Richard Teichgraeber (Hg.): The Culture of the Market, Cambridge 1993, S.102–135. 76 | Berger, J.: Festarbeit, S. 160. 77 | Hasselmann, Kristiane: Die Rituale der Freimaurer. Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2009. 78  |  Vgl. Füssel, Marian: Societas Jesu und Illuminatenorden. Strukturelle Homologien und historische Aneignungen, in: Zeitschrift für Internationale Freimaurerforschung 10 (2003), S. 11–63.

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eignung waren jedoch nicht subversiv, sie lösten Ungleichheiten nicht auf, son­ dern führten vielmehr zu deren langsamer Transformation. Eng mit dem Wandel der Soziabilitätsformen im 18. Jahrhundert verknüpft war ein Prozess, der in der englischen Forschung als „consumer revolution“ firmiert.79 Das Aufkommen neuer, oftmals aus den Kolonien stammender Ge­ nussmittel, wie Kaffee, Tee, Tabak oder Schokolade, brachte nicht nur Globa­ lisierungsprozesse in Gang, sondern förderte auf lokaler Ebene auch neue so­ ziale Konsumgewohnheiten und Interaktionsforen, wie etwa das Kaffeehaus.80 Auch hier zeigt sich, dass Konsum über die ständischen Grenzen hinweg nicht unbedingt als Subversion gelesen werden kann, denn über Konsumgewohn­ heiten wurden wieder neue Unterschiede produziert. Insgesamt trug der Wan­ del der Konsumpraktiken allerdings massiv zur Erosion ständischer Ordnung bei. Die Höfe verloren ihre Funktion als Orte kultureller Hegemonie an andere Orte und soziale Gruppen, wie das städtische Bürgertum, und selbst die länd­ liche Gesellschaft emanzipierte sich in ihrem Konsumverhalten allmählich aus traditionellen Ordnungsvorstellungen.81 Wie Kulturkonsum im 18. Jahr­ hundert zur Aneignung neuer Subjektpositionen beitragen konnte, zeigt ex­ emplarisch die Werther-Mode, die nicht mehr primär vom Hof, sondern vom literarischen Diskurs ausging.82 Gerade im Reich versuchten die Obrigkeiten durch Luxusverordnungen und Besteuerung regulierend auf das Konsum­ verhalten einzuwirken, was sich in der Praxis jedoch immer wieder als kaum 79 | McKendrick, Neil/Brewer, John/Plumb, John H.: The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-century England, London 1983; Bermingham, Anne/Brewer, John (Hg.): The Consumption of Culture 1600–1800. Image, Object, Text, London 1997; McKendrick, Neil: Der Ursprung der Konsumgesellschaft. Luxus, Neid und soziale Nachahmung in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hg.): Europäische Konsumgeschichte, Frankfurt a.M./New York 1997, S. 75–107; Beck, Rainer, Luxus oder Decencies? Zur Konsumgeschichte der Frühneuzeit als Beginn der Moderne, in: Reinhold Reith/Torsten Meyer (Hg.): „Luxus und Konsum“ – eine historische Annäherung, Münster 2003, S. 29–46; Prinz, Michael (Hg.): Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn 2003. 80 | Hochmuth, Christian: Globale Güter – lokale Aneignung: Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak im frühneuzeitlichen Dresden, Konstanz 2008; Bödeker, Hans Erich: Das Kaffeehaus als Institution aufklärerischer kommunikativer Geselligkeit, in: Étienne Francois (Hg.): Sociabilité et societé bourgeoise en France, Allemagne et en Suisse 1750–1850, Paris 1986, S. 65–79. 81 | Vgl. Prinz, Michael: Konsum, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Stuttgart/Weimar 2007, Sp. 1129–1135. 82 | Vgl. North, Michael: Genuß und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, Köln 2003, S. 71f.

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durchsetzbar erwies. Anders als in den relationalen Statuskämpfen der symbo­ lischen Ordnungen konnten die Mikropraktiken des Konsums möglicherwei­ se tatsächlich langfristig „subversive“ Wirkungen gegenüber der ständischen Ordnung entfalten.83

6. F a zit Abschließend fasse ich meine Überlegungen in fünf Punkten zusammen: 1) Der praxeologische Zugang ist weder eine Methode noch eine reine The­ orie, er ist vielmehr eine Art „modus operandi des Forschens“.84 Eine Disposi­ tion, die für die Anlage entsprechender Forschung die Konsequenz hat, dass nicht mehr Institutionen, Gruppen oder Subjekte den Ausgangspunkt bilden, sondern Praktiken. Nicht länger der Hof oder das Dorf, nicht der Adel oder die Bauern, nicht der Staat oder die Stände bilden den Gegenstand, sondern Schenken, Prozessieren, Streiten, Initiieren, Konsumieren, Entscheiden oder Unterscheiden. 2) Die ständische Gesellschaft war eine relationale Gesellschaft. Ihre Grund­ werte waren hierarchische Ordnung und Distinktion.85 Doch anders als der Anspruch auf umfassende soziale Hierarchisierung vielleicht nahe legen mag, war die ständische Gesellschaft damit auch eine dynamische Gesellschaft, in der über soziale Status- und Geltungsansprüche permanent gestritten wurde. Die Hierarchie stand selten eindeutig fest, sondern wurde in der sozialen Pra­ xis stets aufs Neue konstituiert. Diese interne relationale Dynamik der stän­ dischen Ordnungsproduktion sollte jedoch nicht mit deren Subversion oder Aufhebung verwechselt werden. 3) Die sozialen Ungleichheiten moderner Gesellschaften bestimmen sich im Wesentlichen durch distributive und relationale Ressourcen.86 Unter dis­ tributiven Faktoren versteht man die unterschiedliche Verfügungsgewalt über materiellen Reichtum (Geld) und über „symbolisches Wissen“ (Abschlüsse etc.) bzw. institutionalisiertes kulturelles Kapital im Sinne Bourdieus. Relati­ onale Ungleichheit definiert sich über die Position innerhalb einer hierarchi­ 83 | Zur produktiven, allerdings temporären Widerständigkeit von Praktiken des Konsums vgl. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin 1988. 84 | Bongaerts, Gregor: Soziale Praxis und Verhalten. Überlegungen zum Practice Turn in Social Theory, in: Zeitschrift für Soziologie 36 (2007), 4, S. 246–260, hier S. 258. 85 | Füssel, M./Weller, T.: Ordnung und Distinktion. 86 | Vgl. Kreckel, Reinhard: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt a.M./New York 1997, S. 75, S. 78ff.; zu den Juden vgl. Laux, Walter Stephan: Gravamen und Geleit. Die Juden im Ständestaat der Frühen Neuzeit (15.–18. Jahrhundert), Hannover 2010.

Die relationale Gesellschaf t

schen Organisation (Rang) oder über „selektive Assoziation“. Überträgt man entsprechende Unterscheidungen auf die frühneuzeitliche Gesellschaft, kann von einer Dominanz relationaler Ungleichheiten gesprochen werden. Die sozi­ ale Geltung der Standeszugehörigkeit als Form des „verrechtlichten Zwangs“ wog schwerer als die des ökonomischen Kapitals, was besonders drastisch die soziale Stellung der Juden vor Augen führt.87 4) Über der Erforschung der „feinen Unterschiede“ sollte man daher nicht die Geschichte der klassischen groben Unterscheidungen entlang etwa von Religion, Geschlecht oder Ethnizität vernachlässigen. Im Sinne der Intersekti­ onalität sozialer Differenzen kommt es in der Praxis stets zu einer Bündelung unterschiedlicher Differenzkriterien.88 Nicht nur die hierarchische Ordnung als Ganze funktioniert relational, sondern auch die einzelnen Differenzgene­ ratoren. Eine Frau von Adel genoss zweifellos mehr Vorrechte als eine Magd, innerhalb des Adels wie innerhalb der Dienstboten spielte jedoch wiederum Geschlecht als „mehrfach relationale Kategorie“ der Differenzierung eine zen­ trale Rolle.89 5) Ständische und korporative Hierarchien bildeten einen wichtigen Re­ ferenzrahmen zur Selbstverortung und Selbst-Bildung der Akteure. Sich neu formierende Gruppen, seien es Gelehrte, Soldaten oder Kaufleute, waren in einer relationalen Gesellschaft immer darauf angewiesen, ihre Subjektposi­ tion in Beziehung zu anderen Positionen zu begründen und zu legitimieren, ebenso wie die traditionellen Gruppen sich neuen Herausforderungen und Konkurrenzen ausgesetzt sahen. Zur empirischen Sichtbarmachung dieser Dynamiken haben praxeologische Ansätze bereits viel beigetragen, sollten sich aber auch ihrer Grenzen bewusst sein, um nicht selbst dem theoretischen Dog­ matismus zu verfallen, gegen den sie sich positionieren.

87 | Kreckel, R.: Ungleichheit, S. 91. 88 | Vgl. Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009. 89 | Griesebner, Andrea: Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit, in: Veronika Aegerter u. a. (Hg.): Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte, Zürich 1999, S. 129–137.

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Beyond the Sea Praktiken des Reisens in Glaubenswechseln im 17. Jahrhundert Constantin Rieske

Saint-Omer, im Juli 1622: Der achtzehnjährige Katholik James Wadsworth er­ fährt von dem Vorhaben der jesuitischen Priester des Englischen Kollegs, ihn gemeinsam mit elf weiteren Kindern englischer Rekusanten auf eine Mission nach Sevilla zu schicken. Anfang August wird sie ein Schiff in die spanische Hafenstadt Sanlúcar de Barrameda bringen. Erfreut von der Aussicht, seine Eltern in Madrid besuchen zu können, ahnt Wadsworth noch nicht, auf wel­ che verschlungenen Wege ihn seine Reisen führen und wie sie ihn verändern werden. Genf, Ende des Jahres 1676: Im Anschluss an lange Reisen quer durch das frühneuzeitliche Europa entschließt sich John Sidway nach England zu mi­ grieren. Dort will er sich zum anglikanischen Glauben taufen lassen, da nach eigenen Aussagen seine französischen Sprachkenntnisse für das Besuchen protestantischer Gottesdienste in Genf nicht ausreichen würden. Diese letzte Reise soll nicht nur der Schlusspunkt seiner Grand Tour, sondern auch der Suche nach dem für ihn wahren Glauben werden. Ohne Zweifel unterschei­ den sich die Lebensläufe beider Männer hinsichtlich ihrer Glaubenswechsel signifikant voneinander. Dennoch weisen ihre historischen Schicksale eine Gemeinsamkeit auf, die die Geschichten ihrer Konversionen miteinander ver­ bindet: Die Praktik des Reisens durch das Europa des 17. Jahrhunderts. Dieser Artikel verfolgt die Spuren, die James Wadsworth und John Sidway hinterließen und widmet sich dem Tun und Sprechen reisender Konvertiten im 17. Jahrhundert. Dazu geraten im ersten Teil diejenigen englischen Konver­ titen in den Blick, die wie James Wadsworth in einem Englischen Kolleg auf dem europäischen Festland ausgebildet wurden und für die Englische Mission der Gesellschaft Jesu vorgesehen waren. Es wird zu zeigen sein, in welchem Spannungsfeld von Manifestation und Transformation religiöser Selbst-For­ mung, von Verharrung in den Kollegs und Bewegung auf der Mission, sich die adoleszenten Katholiken befanden, und wie ihre Reisen die Prozesse religiö­ ser Subjektivierung beeinflussten. Anschließend wird die Reisepraktik junger englischer Gentlemen wie John Sidway untersucht, die im Verlauf oder nach

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ihrer Grand Tour den Glauben wechselten. Auf ihren Bildungsreisen bewegten sich diese Akteure zwischen den Ländern, Regionen und Städten des Mittel­ meers und wurden in ihrem religiösen Selbst von den auf sie einströmenden fremden religiösen Praktiken bewegt. Ausgelöst durch die vielen Alteritätser­ fahrungen aufgrund ihrer Reisen wurden jahrelang ausgeübte religiöse Prak­ tiken fragwürdig, veränderten Konvertiten wie John Sidway ihre alltäglichen Handlungsweisen und verwickelten sich in einem neuen religiösen Selbst.

1.  I n pra xi , oder : D as „W ie “ entscheide t Fast scheint die von Historikerinnen und Historikern vor einigen Jahren ge­ äußerte Kritik am unsystematischen und dürftigen Forschungsstand zum Thema „Konversion und Religionswechsel in der Frühen Neuzeit“1 wie ein Schatten der Vergangenheit. In der internationalen und deutschen Geschichts­ schreibung hat, wie Ricarda Matheus erst kürzlich betonte, das „Thema re­ ligiöser und speziell innerchristlicher Konversionen intensive Beachtung erfahren [und] zur Etablierung eines eigenen Forschungsfeldes zu frühneu­ zeitlichen Konversionen geführt“.2 Sie verweist dabei zu Recht auf zahlreiche Tagungs- und Publikationsaktivitäten der älteren und jüngeren Vergangenheit sowie abgeschlossene und laufende Forschungsprojekte.3 Beim Blick auf die Arbeiten in diesem Themenbereich ist festzustellen, dass das 2007 von Jörg Deventer konstatierte Innovationspotential der „sich gegenwärtig in einem Stadium der inhaltlichen und methodischen Neuorientierung befindenden historischen Konversionsforschung“4 erkannt und produktiv genutzt wurde bzw. wird. Dies liegt auch im zunehmend interdisziplinären Austausch mit anderen Fachgebieten, wie zum Beispiel der Religionspsychologie,5 Literatur­

1  |  Lotz-Heumann, Ute/Mißfelder, Jan-Friedrich/Pohlig, Matthias: Konversion und Kon­ fession in der Frühen Neuzeit. Systematische Fragestellungen, in: Dies. (Hg.): Konver­ sion und Konfession in der Frühen Neuzeit, Heidelberg 2007, S. 11–33, insbes. S. 11f. 2  |  Matheus, Ricarda: Konversionen in Rom in der Frühen Neuzeit. Das Ospizio dei Convertendi 1673–1750, Berlin 2012, S. 3f. 3 | Ebd., S. 3–18. 4 | Deventer, Jörg: Konversionen zwischen den christlichen Konfessionen im frühneuzeitlichen Europa, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 7 (2007), 2, S. 8–24, hier S. 23. 5 | Vgl. die Zusammenfassung der unterschiedlichen Forschungsansätze in Popp-Baier, Ulrike: Konversion als Thema gegenwärtiger Religionspsychologie, in: Christian Henning/Erich Nestler (Hg.): Konversion. Zur Aktualität eines Jahrhundertthemas, Frankfurt a. M. 2002, S. 95–117.

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wissenschaft6 und besonders der Religionssoziologie,7 begründet. Gleichwohl steht die gegenwärtige historische Konversionsforschung noch immer unter dem Einfluss akteurstheoretischer und strukturgeschichtlicher Ansätze und weist bei näherer Betrachtung blinde Flecken auf. Selbst jüngere Untersu­ chungen verorten Konversionen überwiegend „im Spannungsfeld von subjek­ tiven (Gewissens-)Entscheidungen und europäischen Konfessionalisierungs­ prozessen“8 und verengen den Blick entweder auf ein souverän-autonomes In­di­v iduum, das im Konversionsprozess initiativ agierte, oder auf „eigenstän­ dige verhaltensdeterminierende Mächte vor, hinter oder außerhalb [von Glau­ benswechseln als] sozialer Praxis“.9 Ohne Zweifel muss nach dem Verhältnis von historischen Akteuren und den ihr Handeln präfigurierenden Strukturen gefragt und die „obrigkeitliche Ebene und die Ebene der historischen Indivi­ duen zusammengedacht“10 werden. Kai Bremers These vom „fundamentalen Ineinander von Konversion und Konfession“11 ist daher vollauf zuzustimmen, auch wenn sein Plädoyer für eine kulturwissenschaftliche Konversionsfor­ schung strukturgeschichtlich anmutet. Insgesamt jedoch überspringen Fragestellungen, die nach dem Stellenwert von Glaubenswechseln für Konfessionen als „Ordnungs- und Identifikations­ 6 | Vgl. auszugsweise Carl, Gesine: Zwischen zwei Welten? Übertritte von Juden zum Christentum im Spiegel von Konversionserzählungen des 17. und 18. Jahrhunderts, Hannover 2007; Bremer, Kai: Konversion und Konvertiten auf dem Theater der Frühen Neuzeit, in: U. Lotz-Heumann/J.-F. Mißfelder/M. Pohlig (Hg.): Konversion und Konfession, S. 431–446. 7 | Vgl. die Zusammenfassungen des Forschungsstandes der Religionssoziologie in Wohlrab-Sahr, Monika: Religiöse Bekehrung in soziologischer Perspektive. Themen, Schwerpunkte und Fragestellungen der gegenwärtigen religionssoziologischen Konversionsforschung, in: Dies./Volkhard Krech/Hubert Knoblauch (Hg.): Religiöse Konversion. Systematische und fallorientierte Studien in soziologischer Perspektive, Konstanz 1998, S. 7–43. 8  |  Matheus, R.: Konversionen, S. 3.; vgl. Bock, Heike: Konversionen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft: Zürich und Luzern im konfessionellen Vergleich, Epfendorf 2009, S. 13; Luebke, David M.: The Politics of Conversion in Early Modern Germany, in: Ders. u. a. (Hg.): Conversion and the Politics of Religion in Early Modern Germany, New York 2012, S. 1–13. 9  |  Alkemeyer, Thomas/Budde, Gunilla/Freist, Dagmar: Einleitung, in: Dies. (Hg.): SelbstBildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 16. 10 | Bock, H.: Konversionen, S. 13. 11 | Bremer, Kai: Konversionalisierung statt Konfessionalisierung? Bekehrung, Bekenntnis und das Politische in der Frühen Neuzeit, in: Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, Berlin 2011, S. 369–408, hier S. 375.

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prinzipien frühneuzeitlicher Gesellschaften“,12 den individuellen Glaubens­ vorstellungen und religiösen Identitäten mitsamt ihrer schwer zu fassenden Motive für den Übertritt zu einer anderen Kirche13 sowie den höchst diver­ genten Repräsentationen von Konversionen in Kunst, Literatur und Theater­ stücken in den verschiedenen zeitgenössischen Diskursen14 fragen, einen entscheidenden Schritt. Sie blenden den Blick auf die konkrete alltägliche Praxis historischer Akteure weitestgehend aus und fragen nicht danach, was Menschen taten, wenn sie in der Frühen Neuzeit ihren Glauben wechselten. Religiöse Subjekte werden in den Analysen als gegeben vorausgesetzt und das Konversionsgeschehen folglich als Überführung des Akteurs in einen ande­ ren konfessionellen Zustand interpretiert. Entscheidend wären demnach nur das religiöse Ausgangs- und Endsubjekt und weniger der komplexe Prozess religiöser Subjektwerdung. Entsprechend leicht fällt dann die Positionierung frühneuzeitlicher Glaubenswechsel zwischen den so genannten Polen von frühneuzeitlicher Konfessionsbildung und Konfessionalisierung auf der einen und von „Transkonfessionalität, Interkonfessionalität und binnenkonfessionel­ ler Pluralität“15 auf der anderen Seite. Werden Konfessionen und Religionen je­ doch als „soziale Praxis […] und nicht nur als Ausdruck religiöser Doktrinen“16 verstanden und im Anschluss an John Bossy als „a body of believers rather than a body of beliefs“17 ernst genommen, verändert sich der Blick auf den Glauben wechselnden Menschen. Frühneuzeitliche Glaubenswechsel lassen sich dann als prozessuale Veränderungen individueller Selbst- und Weltverhältnisse in actu fassen. Jahrelang ausgeübte religiöse Praktiken wurden für Konvertiten aus verschiedenen Gründen fragwürdig und verlangten nach einer Verände­ rung im Handlungsvollzug. Es stellt sich nun die Frage, mit welcher Analyse­ optik die Praktiken von Konvertiten in der Frühen Neuzeit betrachtet werden können.

12 | Bock, H., Konversionen, S. 13. 13 | Vgl. Questier, Michael C.: Conversion, Politics and Religion in England, 1580– 1625, Cambridge 1996, S. 1–11. 14  |  Vgl. Stelling, Lieke/Hendrix, Harald/Richardson, Todd M. (Hg.): The Turn of the Soul: Representations of Religious Conversion in Early Modern Art and Literature, Leiden 2012. 15 | Greyerz, Kaspar von u. a. (Hg.): Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Gütersloh 2003. 16  |  Corpis, Duane: Mapping the Boundaries of Confession: Space and Urban Religious Life in the Diocese of Augsburg, 1648–1750, in: Will Coster/Andrew Spicer (Hg.): Sacred Space in Early Modern Europe, Cambridge 2005, S. 302–325. 17 | Bossy, John: Christianity in the West, 1400–1800, Cambridge 2005, S. 170f.

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In den letzten Jahren wurden in der Geschichtswissenschaft, anknüpfend an ältere Debatten in der Soziologie,18 zunehmend praxistheoretische Ansät­ ze rezipiert und ihre Anwendungspotenziale für historische Analysen disku­ tiert.19 Ausgehend von der Grundannahme, dass soziales Handeln, also auch religiöses Handeln frühneuzeitlicher Akteure, Teil von kollektiven Handlungs­ gefügen ist und nicht primär intentionalem Handeln entspricht, ist danach zu fragen, wie sich Menschen bei ihrem alltäglichen Tun und Sprechen in den Komplexen sozial geregelter und typisierter Handlungsmuster verwickelten.20 Die an diesem Prozess beteiligten Körper, Artefakte, Räume und Zeitordnun­ gen rücken dabei ebenso ins Zentrum des Interesses wie die verschiedenen Arten menschlichen Wissens, praktischer Verständnisse und Sinnstrukturen. Das Soziale wird mit Hilfe einer praxistheoretischen Analyseoptik als „field of embodied, materially interwoven practices centrally organized around shared practical understandings“21 betrachtet. Praxistheorien bilden daher einen deut­ lichen Kontrast zu Ansätzen, die Individuen, Sprach- und Symbolsysteme so­ wie Institutionen und Strukturen fokussieren. Diese fundamental veränderte Auffassung von menschlichem Handeln in sozialen Gefügen haben Karl H. Hörning und Julia Reuter prägnant zusammengefasst: „Die gesellschaftliche

18  |  Vgl. unter anderem Schatzki, Theodore R.: Introduction: Practice Theory, in: Ders./ Karin Knorr-Cetina/Eike von Savigny (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York 2001, S. 1–14; Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Sozio­logie 32 (2003), S. 282–301. 19 | Vgl. die Diskussionen in Buschmann, Nikolaus: Persönlichkeit und geschichtliche Welt. Zur praxeologischen Konzeptualisierung des Subjekts in der Geschichtswissenschaft, in: T. Alkemeyer/G. Budde/D. Freist (Hg.): Selbst-Bildungen, S. 125–149, bes. S. 132–136.; Reichardt, Sven: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial. Geschichte 22 (2007), S. 43–65; Füssel, Marian: Die Rückkehr des Subjekts in der Kulturgeschichte. Beobachtungen aus praxeologischer Perspektive, in: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning (Hg.): Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin 2003, S. 141–159. 20 | Vgl. dazu unter anderem Schatzki, Theodore: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996, bes. S. 168–209; Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012; Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2012, bes. S. 33–96; Hörning, Karl H.: Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissen, Weilerswist 2001. 21 | Schatzki, T.: Introduction, S. 3.

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Wirklichkeit ist keine ‚objektive Tatsache‘, sondern eine ‚interaktive Sache des Tuns‘.“22 Eine historisch-praxeologische Untersuchung frühneuzeitlicher Konversi­ onsprozesse fragt folglich danach, was die Menschen im Verlauf ihrer Glau­ benswechsel taten, und wie sie es taten. Sie spürt den Praktiken in sozialen Spielzügen miteinander verflochtener Handlungsträger nach und interessiert sich für die religiösen Subjektivierungen der historischen Akteure. Konverti­ ten wurden in einem so gearteten historisch-praxeologischen Verständnis we­ der nur durch religiöse Instruktion und konfessionelle Ordnungen zu einem neuen Glauben bekehrt, noch bildeten sie ihr neues spirituelles Selbst allein durch sorgsam geplante und vorsichtig umgesetzte Handlungen aus. Viel­ mehr bewegten sie sich innerhalb verschiedener alltäglicher Kontexte, traten in Interaktion mit anderen Akteuren und „Ko-Akteuren des Sozialen“23 und konstituierten sich als religiöse Subjekte und die in den sozialen Praktiken er­ zeugten Ordnungen in einem andauernden wechselseitigen Prozess.24 Konver­ titen gewannen in den Spielräumen der sozialen Praxis des Glaubenswechsels durch die Verstrickung mit der Welt ein Verständnis von dieser und von sich selbst. Sie wurden erst im und durch das „praktische Handlungswissen und die Realisierung kultureller Schemata im Vollzug der Praktiken zu erkennba­ ren und anerkannten Mitspielern“.25 Doch auf welches Material lässt sich eine Analyseoptik, die wie beschrie­ ben die verschiedenen Praktiken historischer Akteure im Verlauf ihres Glau­ benswechsels in den Blick nimmt, anwenden? In erster Linie bieten sich Ego22 | Hörning, Karl H./Reuter, Julia: Doing Culture: Kultur als Praxis, in: Dies. (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 10. 23 | Vgl. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007; Rammert, Werner: Technik in Aktion. Verteiltes Handeln in soziotechnischen Konstellationen, Opladen 2003; Schatzki, Theodore: Materiality and Social Life, in: Nature + Culture 5 (2010), S. 123–149; Hirschauer, Stefan: Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns, in: K.H. Hörning/J. Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 73–91.; Reckwitz, A.: Grundelemente, S. 290f. 24 | Dieses Verständnis von der sinnhaft spezifischen Kontextualisierung menschlichen Handelns durch soziale Praktiken und Arrangements hat vor allem Theodore R. Schatzki in seiner praxeologischen Sozialontologie ausgeführt. Vgl. dazu Schatzki, Theodore R.: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park, Pa. 2002. 25 | Freist, Dagmar: „Ich will dir selbst ein Bild von mir entwerfen“. Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik, in: T. Alkemeyer/G. Budde/D. Freist (Hg.): Selbst-Bildungen, S. 158.

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Dokumente an, die Auskunft über die Konstruktion und die unterschiedlichen Selbst-Modelle des einzelnen Konvertiten geben können.26 Anhand von Kon­ versionserzählungen, Briefen und Tagebüchern der historischen Akteure, aber auch normativen Quellen wie Gerichtsakten oder Reisepässen werden einzelne soziale Praktiken von Konvertiten im Verlauf ihres Glaubenswechsels aus mul­ tiplen Perspektiven sichtbar. Diese Momente gilt es dann in tiefen Beschrei­ bungen27 zu erfassen und im Hinblick auf ihre spezifische Historizität zu ana­ lysieren. In einem zweiten Schritt werden die Praxisformationen individueller Glaubenswechsel komparativ übereinander gelegt, um Regelmäßigkeiten und Unterschiede der Konversionspraktiken zu erkennen und Schnittpunkte und -menge in der religiösen Subjektivierung zu benennen. Zunächst wird nun zu zeigen sein, wie James Wadsworth und andere eng­ lische Konvertiten in den jesuitischen Priesterseminaren ausgebildet wurden und wie ihre Aufenthalte innerhalb der Kollegsmauern sowie ihre im Auftrag der Mission durchgeführten Reisen die Prozesse der religiösen Subjektivie­ rung beeinflussten.

2. „The E nglish S panish P ilgrime “: V erharrung und B e wegung im G l auben 1618 kam James Wadsworth der Jüngere nach einer langen Reise im Engli­ schen Kolleg in Saint-Omer in den Spanischen Niederlanden an.28 Dorthin war er von seinem Vater aus Spanien geschickt worden, um seine theologi­ sche Ausbildung zu beenden. Gleichzeitig sollte das katholische Selbst des jungen Mannes im streng reglementierten, jesuitischen Alltag gefestigt wer­ 26 | Vgl. Ulmer, Bernd: Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattung. Erzählerische Mittel und Strategien bei der Rekonstruktion von Bekehrungserlebnissen, in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988), S. 19–33. 27 | In Anlehnung an Hillebrandt, Frank: Poststrukturalistischer Materialismus. Neue Wege zu einer Soziologie der Praxis, Antrittsvorlesung an der FernUniversität Hagen (21.11.2012), S. 18; sowie ders. in seinem Vortrag „Vergangene Praktiken. Wege zur ihrer Identifikation“ auf der 10. Arbeitstagung der AG FNZ „Praktiken der Frühen Neuzeit“ an der LMU München (12.9.2013). 28 | Für Hintergrundinformationen zum Englischen Kolleg in Saint-Omer s. Chadwick, Hubert: St. Omers to Stonyhurst. A History of Two Centuries, London 1962; Whitehead, Maurice: English Jesuit Education: Expulsion, Suppression, Survival and Restoration, 1762–1803, Farnham 2013, S. 23–40. Für eine ausführliche Biographie James Wadsworths vgl. Loomie, A. J.: Wadsworth, James (b. 1604), Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004, http://www.oxforddnb.com/view/article/28390 vom 13.10.2013.

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den. Als Konvertit vom Anglikanismus zur römisch-katholischen Kirche im spanischen Exil wusste der Vater um die prägende Wirkung der katholischen Bildungsstätten junger englischer Adeliger und Bürger, die seit der Gründung des ersten Englischen Kollegs 1569 in Douai auch in Rom, Valladolid, Sevilla sowie Lissabon und eben Saint-Omer entstanden waren.29 Die Kollegs dienten überwiegend der Aus- und Weiterbildung für Priester aus England und Wales, die ihre Ausbildung in Oxford und Cambridge aufgrund ihrer religiösen Über­ zeugungen nicht vollenden konnten. Entsprechend waren viele Kollegiaten Angehörige der englisch-katholischen Minderheit, die von ihren Eltern über den Ärmelkanal geschickt wurden.30 Gleichwohl waren die Kollegs auch für protestantische Engländer attraktiv, die den Kontinent bereisten und auf der Suche nach intellektueller Bereicherung sowie spiritueller Erneuerung waren. Sie wechselten dann bei der Ankunft in einem der Kollegs oder im Verlauf ihrer Ausbildung zum Katholizismus.31 Die jesuitischen Geistlichen erzogen ihre vierzehn- bis vierzigjährigen Schüler im katholischen Glauben und berei­ teten sie ab 1580, neben dem eigentlichen akademischen Programm, zuneh­ mend für ihre Aufgaben als Missionare in England vor. Die Kollegs wurden damit immer stärker zu Fixpunkten in der englisch-katholischen Diaspora im 16. und 17. Jahrhundert, „a position marked by distance from an English homeland as well as opposition to the nation’s dominant Protestant culture“.32 Schließlich wurde ihre Attraktivität für englische Katholiken so groß, dass vie­ le von ihnen um die Jahrhundertwende England verließen und nach Douai oder Saint-Omer reisten.33 Nachdem die Priesteranwärter in den Kollegs angekommen waren, erwar­ tete sie ein streng reglementiertes und formalisiertes Aufnahmeritual, das, je 29  |  Bossy, John: The English Catholic Community, 1570–1850, London 1979; Netzloff, Mark: The English Colleges and the English Nation: Allen, Persons, Verstegan, and Diasporic Nationalism, in: Ronald Corthell (Hg.): Catholic Culture in Early Modern England, Notre Dame, Ind. 2007, S. 236–260, hier S. 237f. 30 | McCoog, Thomas: The Society of Jesus in Ireland, Scotland, and England, 1589– 1597: Building the Faith of Saint Peter upon the King of Spain’s Monarchy, Burlington, Vt. 2012, S. 95–142, bes. S. 130f.; Kuzniewski, Anthony J.: Thy Honored Name. A History of the College of the Holy Cross, 1843–1994, Washington, D.C. 1999, S. 10f. 31 | Vgl. Kenny, Anthony (Hg.): The Responsa Scholarum of the English College, Rome, London 1962; Allen, William: An apologie and true declaration of the institution and endeuours of the two English Colleges, Reims 1581, sig. D r. 32 | Netzloff, M.: English Colleges, S. 237. 33 | Vgl. Beales, Arthur C. F.: Education under Penalty: English Catholic Education from the Reformation to the Fall of James II, 1547–1689, London 1963, S. 128; Warneke, Sara: Images of the Educational Traveller in Early Modern England, Leiden 1995, S. 160–190.

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nach religiösem Ist-Zustand des Neuankömmlings, mindestens eine Beichte, die feierliche Aufnahme in das Kolleg im Rahmen eines Gottesdienstes, eine Neueinkleidung mit der entsprechenden Kollegkleidung, die Zuweisung der eigenen Kammer sowie eine erste Führung durch die Anlage beinhaltete.34 Diejenigen jungen Männer, die im Vorfeld noch nicht gläubige Mitglieder der römisch-katholischen Kirche gewesen waren, wurden zusätzlich vor ihrem Eintritt in das Kolleg getauft und in ihre neue spirituelle Gemeinschaft auf­ genommen.35 Schnell wurden die neuen Kollegiaten so in ihrem katholischen Selbstverständnis festgeschrieben und in den rigiden Ausbildungsalltag in den Erziehungsanstalten eingeführt, den James Wadsworth in seiner Konver­ sionserzählung eindringlich beschrieb: „At six they go all to study in a large Hall under the first Gallery, where […] they study one houre, and in the midst walkes Father Thunder, and see they all keepe silence and bee diligent at their books; all are bound to bee there without budging at seven, which is their houre of breakfast […] and after some short disputations, one of one side reads the Latine Martyrologe, and another after him the English, which containes the Legend of our English Martyrs […] The Students heare out the relation with admiring and Cap in hand to the memory of Champion, Garnet, Thomas Becket, and Moore. After this until seven and a halfe, musicke until eight, they recreate themselves together, thence to their studies againe […] thus passe they their dayes and yeeres […].“ 36

Das Englische Kolleg in Saint-Omer sowie die Partnerkollegs als eigenständi­ ge und institutionell zusammengefasste Organisationen waren Orte der Glau­ bensfabrikation. Sie gaben in ihrer materiellen und inhaltlichen Gestaltung einen spezifischen kulturellen Nutzungs- und Bedeutungskontext vor, der das Ziel hatte, die religiösen Praktiken der im neuen katholischen Glauben noch unerfahrenen und ungeübten Konvertiten ganzheitlich zu routinisieren. Das Ziel der Schüler war dabei in vielen Fällen die Rückkehr nach England als katholische Prediger und Missionare. Da diese Tätigkeit durchaus ein Risiko darstellte und mit dem gewaltsamen Tod als Hochverräter bzw. Märtyrer en­ den konnte, war es umso entscheidender, Abweichungen von den normativen 34  |  Wadsworth, James: The English Spanish Pilgrime …, London 1629, sig. C2r–v ; Dana Sutton (Hg.): Unpublished Works by William Alabaster (1568–1640), Salzburg/Oxford 1997, S. 164f. 35  |  So konvertierte zum Beispiel James Wadsworths Vater, James Wadsworth (1572?– 1623), in Valladolid zum katholischen Glauben, nachdem er dort unter jesuitischen Einfluss geraten war. Vgl. dazu Murphy, Martin G.: Wadsworth, James (c.1572–1623), Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004, http://www.oxforddnb.com/view/ article/28389 vom 13.10.2013. 36 | Wadsworth, J.: Pilgrime, sig. C3 v –D r.

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Handlungsweisen durch eine vollständige Verwicklung des Konvertiten im Gewebe von religiöser Praxis auszuschließen.37 Das Englische Kolleg als institutionelles Ganzes war ein geschlossenes Ensemble materieller Entitäten, dessen Präsenz auf die jungen Konvertiten wirkte, katholische Objekt-Akteur-Netzwerke bildete38 und die Kollegiaten so im katholischen Glauben subjektivierte. Die mehrjährigen Aufenthalte in den Kollegs stabilisierten das religiöse Selbst häufig auch deshalb so effektiv, weil sich die Akteure lediglich innerhalb der Mauern der jeweiligen Priestersemi­ nare aufhielten. Selbst kurze Ausflüge in das nähere Umland waren geprägt von der ständigen Überwachung und Kontrolle durch jesuitische Priester.39 Wadsworth und andere Kollegiaten beschrieben in ihren Berichten zudem die Bemühungen der Jesuiten, Fluchtmöglichkeiten zu minimieren und ihre Schützlinge an die Ausbildungsorte zu binden.40 Die Kollegs sollten engli­ schen Katholiken, vor allem den bei ihren Besuchen konvertierten Reisenden, eine „Zuflucht“ fern der „geliebten Heimat“ bieten.41 Eingebunden in einen durchorganisierten Tagesablauf akademischer und religiöser Praktiken und verbunden durch rigorose Instruktion und Disziplin transformierten und ma­ nifestierten die Kollegs das religiöse Selbst der Schüler. Jedoch reichte in vielen Fällen die Wirkmächtigkeit der Englischen Kollegs nicht über ihre Mauern hinaus. James Wadsworth und andere Konvertiten ver­ hielten sich nach ihrem Austritt aus den katholischen Ausbildungsanstalten in ihrer religiösen Praxis durchaus widerständig. In vielen Fällen rekonvertierten ehemalige Kollegiaten, wurden religiös indifferent oder übten andere Tätigkei­ ten als die ihnen zugesprochene Missionierung der englischen Bevölkerung aus.42 Die zuvor jahrelang eingeübten religiösen Praktiken wurden plötzlich 37 | Vgl. Schatzki, T.: Site; ders.: Materiality; Jonas, Michael: The Social Site Approach versus the Approach of Discourse/Practice Formations, in: Reihe Soziologie 92 (2009). Zur religiösen Instruktion durch die jesuitischen Priester und materiellen Anordnung der Kollegs vgl. Beales, A. C. F.: Education; Chadwick, H.: St. Omers. 38 | Zum Begriff der Präsenz und zur Bedeutung von Dingen in Relation zu anderen Dingen, natürlich-physischen Objekten und den Körpern handelnder Subjekte vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004; Hilgert, Markus: ‚Text-Anthropologie‘: Die Erforschung von Materialität und Präsenz des Geschriebenen als hermeneutische Strategie, in: Ders. (Hg.): Altorientalistik im 21. Jahrhundert. Selbstverständnis, Herausforderungen, Ziele, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 124 (2010), S. 1–30, hier S. 9. 39 | Wadsworth, J.: Pilgrime, sig. D r–v. 40 | Ebd., sig. E2 v, sig. I3 v –I4 r. 41 | Allen, W.: Apologie, sig. B8 v, sig. B r–v. 42 | Als Beispiele sind neben James Wadsworth Theophilus Higgons (1578–1659), John Copley (ca. 1577–1662), Richard Sheldon (1570?–1651?) sowie Thomas Gage

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fragwürdig und verlangten nach einer Transformation. Ein wichtiger Grund dafür waren die Reisepraktiken, die von den Katholiken nach ihrem Ausschei­ den aus den Kollegs ausgeübt wurden. Wie bereits erwähnt, brach James Wadsworth gemeinsam mit elf anderen jungen Männern, die ihre Ausbildung in Saint-Omer beendet hatten, nach Spa­ nien auf. Dort sollten sie im jesuitischen Kolleg in Sevilla die finale Vorberei­ tung für ihren Auftrag im Rahmen der Englischen Mission erhalten. Während ihre Reise über Calais und Dünkirchen anfangs noch reibungslos vonstatten ging, wurde sie im weiteren Verlauf zu einer mehrmonatigen Odyssee durch den östlichen Atlantik und Nordafrika.43 Am 16. August 1622 wurde die Grup­ pe zunächst von einem Kriegsschiff unter holländischer Flagge aufgegriffen und an ein hamburgisches Handelsschiff übergeben. Dieses wiederum wurde am 3. September von marokkanischen Piraten geentert, und Wadsworth geriet mit den anderen in ihre Gefangenschaft. Sie wurden bis zur Zahlung ihrer Ablöse in Salé festgehalten, und konnten schließlich Mitte November ihren ur­ sprünglichen Zielort Sevilla erreichen. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass diese Reisebedingungen im Lebenslauf der jungen Männer einen tiefen Einschnitt bedeuteten. Ein genauerer Blick auf die Schilderungen in John At­ kins’ und James Wadsworths Erzählungen zeigt darüber hinaus, wie die Er­ fahrungen auf der Reise Wadsworths katholisches Selbst destabilisierten und er sich durch die Reisen zunehmend von der katholischen Kirche entfernte. Es scheint, dass Wadsworth zu Beginn der Überfahrt nach Spanien noch gut in die Gruppe integriert war und mit den anderen jungen Katholiken weiterhin, je nach Möglichkeit, die bekannten religiösen Praktiken ausübte. Zum einen machte sich die Gruppe bereits auf der Überfahrt die spanischen Sprachfertigkeiten Wadsworths zu Nutze, die sich dieser seit seiner Immigrati­ on nach Spanien 1610 in Madrid und Sevilla angeeignet hatte. So vertrat Wads­ worth die Gruppe vor den spanischsprechenden Barbaresken auf dem Schiff und in Salé44 und verhandelte mit dem Statthalter des Königs von Marokko

(1603?–1656) zu nennen. Vgl. dazu die entsprechenden Artikel im Oxford Dictionary of National Biography. 43 | Sowohl James Wadsworth als auch William Atkins, ein weiteres Gruppenmitglied, beschrieben in ihren Berichten die Reise von Saint Omer nach Sevilla. Nur in einigen wenigen Punkten weichen die Berichte inhaltlich voneinander ab. Vgl. Wadsworth, J.: Pilgrime, sig. F r–I3 r ; Atkins, William: A Relation of the Journey from St Omers to Seville, 1622, in: Martin Murphy (Hg.): Camden Miscellany, Bd. 32, London 1994, S. 191–288. 44 | Ebd., S. 238 u. 247; Für detaillierte Informationen zu den Barbaresken und ihrer Piratentätigkeit vgl. Atkins, W.: Relation, S. 204–206; Tinniswood, Adrian: Pirates of Barbary, London 2011; Matar, Nabil: Britain and Barbary, 1589–1689, Gainesville, Fla. 2005.

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um Erleichterung ihrer Gefangenschaft.45 Zum anderen beschrieb Atkins an mehreren Stellen, wie Wadsworth sich an den gemeinsamen Gebeten beteilig­ te46 und sogar zusammen mit den anderen Fürbitte für den in Salé erkrankten französischen Kaufmann Jehan de la Goretta hielt.47 Als dieser nach der geleis­ teten Ablöse auf der Überfahrt nach Spanien verstarb, nahm Wadsworth auch an seinem Begräbnis nach katholischem Ritus in Mamora teil.48 Insgesamt überwiegt der Eindruck, dass sich durch die Erfahrungen der gefahrvollen und schwierigen Überfahrt mit der sich anschließenden Versklavung das katho­ lische Selbst Wadsworths zunächst stabilisierte. Die geleisteten körperlichen und seelischen Entbehrungen der Reise führten zu einem starken spirituellen Empfinden und einer tiefen Frömmigkeit, wie Atkins’ Beschreibung der Teil­ nahme Wadsworths und seiner Mitstreiter an katholischen Glaubenspraktiken in Mamora beweist: „[…] the joye we tooke in being after a long banishment gotten amongst Catholicks ­a gaine and to a place where wee might freelie and publicklie professe and practise our religion, but certeinlie we all of us felt such singuler devotion in ourselves as wee never had found the like before. Now wee went all to the holie sacraments of confession and communion, wee were daylie present at all three masses, wee watched before the altar whensoever the chaple door was open […].“49

Von langer Dauer sollte diese religiöse Versunkenheit im Fall Wadsworths al­ lerdings nicht sein. Nachdem die Gruppe nach einem viertägigen Aufenthalt von Mamora aus die marokkanische Küste in nördlicher Richtung hinaufgese­ gelt war, wurde sie auf der Höhe von Larache erneut für mehrere Tage aufge­ halten. James Wadsworth und ein Reisegefährte beschlossen irgendwann am 25. oder 26. November, also fast drei Monate nach ihrem Auf bruch in SaintOmer, ihre Reise jetzt auf eigene Faust fortzusetzen: „James Wadsworth and Peter Edwards, impatient of our long delayes, daylie dangers both of sea and enemies, and hard usage, findinge a boate upon its journey thence for Spaine, stept into it and contrarie to all faith & former constancie to one another without

45 | Ebd., S. 253f.; Wadsworth, J.: Pilgrime, sig. F4v –G3 r. 46 | Atkins, W.: Relation, S. 215, 225f. u. 232. 47 | Ebd., S. 256f. 48 | Ebd., S. 258–260; Wadsworth, J.: Pilgrime, sig. G2r–G3 r. Marmora, das heutige Mehdia, in Marokko liegt am Fluss Sebu 18 Meilen nördlich von Rabat, und war von 1614 bis 1681 von Spanien besetzt. 49 | Atkins, W.: Relation, S. 260.

Beyond the Sea ever a farewell ungratefullie left us and went along with this lighte and speedie boat for Spaine.“50

Irgendwann in dieser Zeit muss Wadsworth auch erkannt haben, dass er sich ein weiteres Leben als katholischer Geistlicher schlecht vorstellen und sein Ziel damit nicht mehr das jesuitische Kolleg in Sevilla sein konnte. Die auf der Reise gesammelten Erfahrungen hatten zunehmend zu einer Destabili­ sierung seines religiösen Selbst geführt. Sowohl Wadsworth als auch Atkins beschrieben in ihren Erzählungen eine Vielzahl an verstörenden Kontakten mit andersgläubigen Menschen und ihren religiösen Praktiken. So wurde die Gruppe nach ihrer Kaperung durch die Holländer an ein hamburgisches Han­ delsschiff übergeben, deren protestantische Besatzung Wadsworth und die anderen irritierte.51 Auch die Befragung durch den niederländischen Admiral Hillebrandt Quast und der sich anschließende Streit über die jesuitische Missi­ on nach Spanien zwischen John Robinson und Wadsworth hatten Einfluss auf sein religiöses Selbstverständnis.52 Insbesondere die Gefangenschaft in Salé und viele Eindrücke, die Wadsworth im täglichen Umgang in der muslimisch geprägten Hafenstadt sammeln konnte, veränderten seine Sicht auf die Welt und das eigene Schicksal.53 Es überrascht daher nicht, dass Wadsworth nach der Ankunft in Sevilla beschloss: „[…] where also ten daies after, the rest of our company arrived, with whom being furnished for my journey accompanied them to their Colledge in Siuill, whence taking my leave I left them, being not willing to tast any more of their discipline […].“54

Die Abwendung von einem am jesuitischen Priesterberuf und englischer Mis­ sion inspirierten Lebensentwurf bedeutete jedoch noch nicht Wadsworths völ­ ligen Abfall vom Katholizismus. Vielmehr bewegte er sich im Zeitraum nach seiner Ankunft in Sevilla, der Weiterreise zu seinen Eltern nach Madrid und dem erneuten Auf bruch als Armeebeauftragter des spanischen Königs nach

50 | Ebd., S. 264f.; Wadsworth, J.: Pilgrime, sig. G3 r–v. 51 | Atkins, W.: Relation, S. 223f.; Wadsworth, J.: Pilgrime, sig. F2r. 52 | John Robinson war ein älterer Teilnehmer der Mission und erregte sich vor allem über das lose Mundwerk und überhebliche Verhalten Wadsworths, die dieser vor allem in den Auseinandersetzungen mit den protestantischen Niederländern zeigte (Vgl. Atkins, W.: Relation, S. 229f. u. 284). 53 | Wadsworth, J.: Pilgrime, sig. F3 v –G3 v ; Atkins, W.: Relation, S. 232–234, 240 u. 253f. 54 | Ebd., sig. G3 r.

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Flandern zwischen katholischen und indifferenten Glaubenspositionen.55 Die Destabilisierung seines religiösen Selbst schritt dann durch Gespräche mit Engländern, die Wadsworth in Madrid und auf dem Weg nach Flandern führ­ te, weiter voran. Mit diesen diskutierte er über katholische und protestantische Glaubenspraktiken, erhielt von diesen Reisenden Kenntnis über ihre Erfah­ rungen im katholischen Spanien und reflektierte dabei kritisch seine eigene religiöse Vergangenheit.56 Spontan, resolut und ohne ausführliche Rechtferti­ gung vor sich und anderen, ähnlich dem Entschluss, seine Mitreisenden vor der spanischen Küste zu verlassen, fasste Wadsworth schließlich England als sein neues Ziel ins Auge. In seiner Konversionserzählung, geprägt durch die narrativen Muster des Genres, begründete er sein Vorgehen mit folgenden Worten: „All which I hauing well considered with my selfe, and also obseruing the cozenages and impostures of the Iesuits, Priests and Monkes in S. Omers, Doway, Flanders, Spaine, France, and else-where […] I at my owne disposal, I came for England, where intending to declare my selfe a Protestant […].“57

Ende des Jahres 1625 kam er in London an, schwor öffentlich dem katholischen Glauben ab und trat als Spion in die Dienste des Kronrates ein.58 Seine Aktivi­ täten blieben mäßig erfolgreich, und so ließ sich Wadsworth in London nieder, verfasste seine Memoiren und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als „pur­ suivant“ mit dem Verrat englischer Katholiken an die Gerichte in London.59 Der Weg bis zu seiner Konversion zum Protestantismus hatte sich, wie in vielen anderen Glaubenswechseln im 17. Jahrhundert, als ein schleichender Prozess gestaltet. Dieser war in seinem Fall von einer ständigen Rastlosigkeit geprägt, die vor dem Hintergrund der Stetigkeit der religiösen Ausbildung James Wadsworths im Englischen Kolleg besonders deutlich hervorsticht. Verharrend zwischen den Klosterwänden in Saint-Omer beschritt Wadsworth zunächst den ihm zugedachten Weg mit dem Ziel, als jesuitischer Priester die vom katholischen Glauben abgefallene protestantische Mehrheitsgesell­ schaft in England zu missionieren. Ohne Zweifel an den eigenen katholischen Überzeugungen begab er sich schließlich vom Ärmelkanal aus auf die in der Rückschau verhängnisvolle Reise nach Spanien. Die zahlreichen religiösen 55 | Ebd., sig. G4v –I3r. 56 | Ebd., sig. M1r–v. 57 | Ebd., sig. M1v. 58 | Loomie, A.J: Wadsworth. 59 | Vgl. Atkins, W.: Relation, S. 284; Vgl. auszugsweise PRO, SP 16/126 f.130, SP 16/500 fol. 5, SP 21/7 fol. 97 sowie HMC Fifth Report Appendix, S. 102 und Journal of the House of Lords, 4 (1629–42), S. 27.

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Alteritätserfahrungen, die erlittenen Entbehrungen und Gefahren sowie ge­ nügend Zeit für Reflexionen an Deck und an Land veränderten seine Sicht auf die eigene Zukunft. Ein erneutes Leben innerhalb religiöser Mauern kam für James Wadsworth nicht mehr in Frage, und so begab er sich auf weitere Reisen, die ihn schließlich nach England führten. Dort schlug er, wie viele an­ dere religionspolitische Opportunisten vor und nach ihm, Nutzen aus seinem gesammelten Wissen über katholische Missionare in England und die jesu­ itischen Tätigkeiten auf der Insel und dem Kontinent. Seine Reisepraktiken hatten ihn zwar zu einem neuen Glauben, aber letztendlich nicht zu einem besseren Schicksal geführt, wie ein Zeitgenosse 1656 bestätigte. Er beschrieb den mittlerweile verarmten James Wadsworth als „renegade, proselyte, turn­ cote of any religion“, der in Westminster als „common Hackney to the basest catchpole Bayliffs“60 leben würde. Im Folgenden sollen die Reisen John Sidways genauer betrachtet werden, die er knapp sechzig Jahre nach James Wadsworth im Rahmen seiner Grand Tour unternahm, die ihn wie Wadsworth nach England führten und die maß­ geblichen Einfluss auf seinen Glaubenswechsel zum Anglikanismus hatten.

3. „A gre at desire to tr avel“: G r and Tour und G l aubenswechsel „[…] and seriously considering of what I had heard and seen in my Travels, I greatly admired the Grand Diversity, I had observed in Religion. [...] and moreover finding they had all much to say for themselves, that in all things I could not believe them all [...] I burst forth into these words: Good God! In what a miserable Condition is a Man in his Life [...] that would be, knoweth not what to be.“61

Mit dieser Äußerung umschreibt der in Dublin geborene Katholik John Sid­ way in seiner Konversionserzählung von 1681 den Höhepunkt einer langen, von Zweifeln und kritischer Selbstreflexion geprägten Reise hin zum wahren Glauben. Auf dem Weg zur Taufe nach protestantischem Ritus und der damit vollzogenen Konversion in England diskutierte er mit Rabbinern in Rom, be­ suchte protestantische Gottesdienste in Genf und ließ keine Gelegenheit aus, sich intensiv mit anderen Glaubensrichtungen auseinanderzusetzen. Begon­ nen und maßgeblich beeinflusst wurde Sidways Konversionslauf bahn durch

60 | Sanderson, William: A compleat history of the lives and reigns of Mary queen of Scotland and of her son and successor James the Sixth, London 1656, sig. Ttt2r. 61  |  Sidway, John: The reasons of the conversion of Mr. John Sidway from the Romish to the Protestant religion …, London 1681, sig. H3 v.

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seine Reisen, die ihn in verschiedene Länder des östlichen Mittelmeerraumes und Kleinasiens brachten. Auf ihren Bildungsreisen bewegten sich diese Akteure zwischen den Län­ dern, Regionen und Städten des Mittelmeers.62 Häufig erweiterten sich dadurch nicht nur ihre Kenntnisse von Fremdsprachen und den kulturellen Eigenhei­ ten fremder Nationen. Von den auf sie einströmenden fremden religiösen Ein­ drücken wurden sie auch in ihrem religiösen Selbst bewegt und wechselten im Verlauf der Grand Tour ihren Glauben. Bereits während der ersten Welle englischer Bildungsreisender gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurden in der Heimat, vor allem in Regierungskreisen, Stimmen laut, die vor dem Abfall loyaler englischer Untertanen von anglikanischer Kirche und englischer Kro­ ne auf dem Kontinent warnten.63 Dass die Befürchtungen nicht unbegründet waren, wurde zum Beispiel in Briefen der englischen Diplomaten Sir Hen­ ry Wotton und Sir Charles Cornwallis aus Spanien deutlich, in denen beide Männer detailliert den folgenreichen Einfluss der katholischen Kirche und ihrer Vertreter auf junge Engländer beschrieben.64 Auch wenn der politische Diskurs in England um die massenhaft konvertierenden „young scholars and gentlemen’s sons“65 die Realität nicht widerspiegelte und zum Zeitpunkt der Reisen John Sidways Ende des 17. Jahrhunderts keine große Bedeutung mehr besaß, konnten die mannigfaltigen Erlebnisse der Akteure im Ausland den Blick auf die Welt und das Selbst verändern. Ausgelöst durch die vielen Alte­ ritätserfahrungen aufgrund von Reisen wurden jahrelang ausgeübte religiöse Praktiken fragwürdig, und Zweifel am eigenen Glauben stellten sich ein. Sidway schilderte in seiner Erzählung unter anderem seine Verwirrung nach Besuchen von Pilgerstätten im Heiligen Land. Selten fand er diese Orte so vor, wie sie ihm im Rahmen seiner katholischen Ausbildung in Bologna 62 | Vgl. auszugsweise Stoye, John: English Travellers abroad 1604–1667: Their Influence in English Society and Politics, New Haven 1989; Babel, Rainer: Grand Tour: Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005; Nolde, Dorothea: Religion and the Display of Power: A Wuerttemberg Prince Abroad, in: C. Scott Dixon/Dagmar Freist/Mark Greengrass (Hg.): Living with Religious Diversity in Early Modern Europe, Farnham 2009, S. 267–279, hier S. 269. 63 | Warneke, S.: Images, S. 160f. 64 | Vgl. auszugsweise Sir Henry Wotton to Sir Robert Cecil (18.8.1605 u. 18.6.1609), in: Logan Pearsall Smith (Hg.) The Life and Letters of Sir Henry Wotton, Bd. 1, Oxford 1907, S. 330–333 u. 456f. sowie Sir Charles Cornwallis to Sir Robert Cecil (2.6.1605, 18.8.1605 u. 15.9.1605), in: Sir Ralph Winwood (Hg.): Memorials of Affairs of State in the Reigns of Q. Elizabeth and K. James I, Bd. 2, London 1725, S. 76, 109 u. 136; Für weitere Belege vgl. die Darstellungen in Warneke, S.: Images, S. 166–171. 65 | Don Juan d’Idiaques to Sir Thomas Englefield, in: Thomas Honyman to Sir William Cecil (7.5.1598), CSPD Elizabeth (1598–1601), Bd. 267, S. 46–48.

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beschrieben worden waren oder wie die katholische Kirche sie darstellte. In Nazareth musste Sidway beispielsweise feststellen, dass die Einwohner noch nie von einer Überführung der Santa Casa der Heiligen Familie nach Italien, genauer gesagt nach Loreto, gehört hatten und diese Legende der katholischen Kirche als „meer cheat“ bezeichneten.66 Unabhängig davon, dass Sidway diese Episode rhetorisch geschickt und genretypisch in seiner Rechtfertigung für den Übertritt zum protestantischen Glauben nutzte, um die Fehlbarkeit des Papstes und die Unaufrichtigkeit des Katholizismus gegenüber vermeintli­ chen Wundern zu beweisen, zeigt seine Darstellung auch die Irritationen der eigenen religiösen Überzeugungen auf seinen Reisen. Sein religiöses Wissen67 wurde im Praktikvollzug aktualisiert und führte zu einem Nachdenken über die eigenen, im Tun und Sprechen brüchig gewordenen religiösen Gewisshei­ ten. Die Welt- und Selbstverhältnisse John Sidways waren ins Wanken geraten; die entstandene Spannung zwischen vormals stabiler religiöser Praxis und Selbstbild musste in letzter Konsequenz über eine Transformation des eigenen Handelns aufgelöst werden. Der Weg dorthin war für Sidway nach den ersten verwirrenden Erfahrungen in der Fremde allerdings noch weit und der Ent­ schluss zur Abkehr vom katholischen Glauben lag entsprechend fern. Zunächst führten die sich durch seine Reisen intensivierenden Glaubens­ zweifel dazu, dass er an fast jedem von ihm besuchten Ort Gespräche mit Ver­ tretern der dort ansässigen Religionen suchte. So sprach er im Franziskaner­ kloster in Sery, einem Ort im heutigen Kroatien, mit einem Mönch: „[…] being at Sery […] I had a great desire to have some Private Discourse with him [the Franciscan Priest], And the better to have his Advice, and safer to Relate my Doubts, I went to him […] and declared, that by reason of my Travels, I have been brought even to doubt of the Truth both of Christ and Christianity.“68

Im Gespräch versuchte Sidway, die Gründe für seine Zweifel zu erkennen und zu verstehen. Die zufällige Begegnung mit dem Franziskanermönch bot ihm eine Gelegenheit, seine Erfahrungen und Zweifel zu erinnern, wahrzuneh­ men und mitzuteilen, um sie anschließend zu verarbeiten: „And now (through my discourse with this Fryar) I was more convinced if the truth of Christianity, that with whatever before, I had either read or seen.“69 Durch den Austausch mit einem theologisch gut ausgebildeten Katholiken ließ sich Sidway für den 66 | Sidway, J.: Reasons, sig. H1v. 67 | Vgl. Schatzki, T.: Site, S. 59–122, bes. S. 77–79; Alkemeyer, Thomas: Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik, in: T. Alkemeyer/G. Budde/D. Freist (Hg.): Selbst-Bildungen, S. 33–68, hier S. 58–61. 68 | Sidway, J.: Reasons, sig. H4 r. 69 | Ebd., sig. I4 r.

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Moment in seinem Glauben bestärken. Er erkannte in dem Mönch einen ad­ äquaten Gesprächspartner, zu dem er sich in seinem verunsicherten religiösen Selbst ins Verhältnis setzen konnte. Sidway beschränkte die Gespräche über seinen Glauben aber nicht nur auf Vertreter des Christentums. In Rom kam er während eines Spaziergangs zu­ fällig in Kontakt mit einem Rabbiner: „Having a desire to see some Remote Parts in Rome, which then I had not seen, I took my way toward Via Flumina […] they [the Jews] took me to Rabbi Salvator in via flumina; a man exceeding well Learned, and of a very courteous, obliging Behaviour […] The Rabbi invited me to come in, and caused me to sit down, after some small discourse with me, caused me to go with him into his Study, where desiring to know of me, what it was in which I was disatisfied […].“70

Der Konvertit begegnete dem Vertreter einer anderen Religion in dieser Szene ohne Vorurteil und erkennbare Scheu. Vielmehr war er interessiert an einem Gespräch über religiöse Unterschiede zwischen seinem christlichen und dem fremden jüdischen Glauben. Sidway hatte zwar keine klaren Vorstellungen über den Ausgang des Gesprächs, dennoch wusste er um das religiöse Exper­ tenwissen seines Gegenübers. Dadurch wurde der Rabbi zu einem ernsthaften Mitspieler im Konversionsprozess. Sidway und andere Konvertiten erwarben über Gespräche mit Vertretern anderer Religionen das Wissen um entspre­ chende religiöse Inhalte und ihre Verhaltensmuster. Die oft abstrakten Glau­ bensinhalte wurden durch ihre Diskussion für den Konvertiten erst greif bar und erfahrbar. Gleichzeitig konnte Sidway wie im Franziskanerkloster in Sery seine Glaubenszweifel verbalisieren und sich seines unsicheren Selbst verge­ wissern. Wie in Sery war der Ausgang der Begegnung aus seiner Sicht erfolg­ reich: „[…] this discourse did so fully convince me […] he told me that at any other time, did I please to come to him, he would very willingly and gladly satisfie me in any other thing: Upon this I came to him several times afterwards […].“71

Sidway und andere Konvertiten wurden in ihrer gewohnten religiösen Praxis auf ihren Reisen mehrfach irritiert und konnten über die Konversationen mit Geistlichen und Laien diese Irritationen auflösen. Diese Gespräche dienten somit auch der Wiederherstellung der eigenen Handlungsmacht und der re­ ligiösen Selbstpositionierung in der Praktik. Sidway wurde sowohl von dem Franziskaner in Serj als auch dem Rabbi in Rom als zweifelndes religiöses 70 | Ebd., sig. K1r–v. 71 | Ebd., sig. K3 r.

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Subjekt adressiert und verwickelte sich mit den beiden Akteuren im Kommunikationsgeschehen in zwei unterschiedlichen Selbstverhältnissen.72 In Serj erfuhr er eine Bestärkung im katholischen Glauben, während der Rabbi seine Ablehnung wichtiger katholischer Doktrinen bestätigte und Sidway in der Abkehr von seinem „alten“ Glauben unterstützte. Getrieben von dem Begehren, die eigene, täglich erlebte Nichtpassung alter religiöser Praxis nachzuvollziehen und aufzulösen, suchte Sidway auf seinen Reisen die Möglichkeit zur kommunikativen Interaktion mit Geistlichen. Er erlangte in der kommunikativen Auseinandersetzung einen tiefen Einblick in die für ihn überraschenden und verwirrenden Reiseerfahrungen. Sidway „begann ein ‚anderes‘ Welt- und Selbstverhältnis auszubilden und Spielräume auszuloten“,73 wie sich in Genf zeigen sollte. Sidway war in die eidgenössische Stadt gereist, um dort protestantische Glaubenspraktiken in Gottesdiensten zu sehen und in Gesprächen mit protestantischen Geistlichen mehr über diese Praktiken zu erfahren: „[I] had a great desire to see the Practice of some Protestant Church and therefore […] I went for Geneva, purposely to see the practice and discourse with them of the Geneva Church.“74 Sidway wollte, auch aufgrund seiner umfangreichen, auf den Reisen gesammelten religiösen Vorerfahrungen, sich selber „vor Ort“ ein Bild vom protestantischen Glauben machen und sich nicht nur auf zeitgenössische Urteile verlassen. Nachdem er seine Glaubenszweifel in Gesprächen mit verschiedenen Geistlichen verarbeitet hatte, war der Entschluss zum Glaubenswechsel gereift. Doch vor der endgültigen Konversion stand die Erprobung des neuen Glaubens im Alltag. Um die einzelnen religiösen Handlungen möglichst genau zu erfahren und mit den Geistlichen in Kontakt zu kommen, bemühte sich Sidway daher in Genf um ein angemessenes Auftreten: „And to the end I might do it the more securely, I again put my self into a Secular Habit, in which appearing at Geneva, and being an English Man, the Clergy never mistrusted that I was a Protestant […].“75 Mehrere Tage lang besuchte er protestantische Gottesdienste und bekam Einblick in die für ihn fremde Glaubenspraxis. Verändert durch seine Reisen und die vielen religiösen Erfahrungen mit unterschiedlichen Glaubensrichtungen konnte John Sidway sich langsam dem Glauben nähern, zu dem er 72 | Vgl. Ricken, Norbert: Anerkennung als Adressierung. Über die Bedeutung von Anerkennung in Subjektivationsprozessen, in: T. Alkemeyer/G. Budde/D. Freist (Hg.): Selbst-Bildungen, S. 69–99, bes. S. 92–99. 73 | Alkemeyer, T.: Subjektivierung, S. 41. 74 | Sidway, J.: Reasons, sig. K3 r–v. 75 | Ebd., sig. K3 v.

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später wechseln sollte. Aufgrund seiner fehlenden Sprachkenntnisse war eine dauerhafte Residenz in Genf für ihn jedoch nicht möglich, und so befolgte er den Ratschlag der protestantischen Geistlichen, nach England zu migrieren. Dort würde er einen der Genfer Kirche ähnlichen Protestantismus vorfinden.76 Durch die Erprobung des protestantischen Glaubens in Genf stand für Sidway fest, dass seine spirituelle Suche und damit auch seine Reisen nun zu einem Ende kommen konnten. Erschöpft von seiner monatelangen Grand Tour und wohl auch erschöpft in seinen finanziellen Mitteln, schiffte er sich nach Eng­ land ein, erreichte 1681 London und wurde im Stadtteil Clerkenwell zum Ang­ likanismus getauft. John Sidway beschrieb den Höhepunkt seiner Grand Tour, der zugleich den Moment seiner stärksten Glaubenszweifel darstellte, retrospektiv in seiner Konversionserzählung mit den Worten: „In what a miserable Condition is a Man in his Life [...] that would be, knoweth not what to be.“ Nach zahlreichen Erfahrungen mit den fremden Kulturen verschiedener Länder des Mittelmeer­ raums auf seinen Reisen hatten sich zunehmend Zweifel am eigenen katholi­ schen Glauben breit gemacht und sein religiöses Selbst destabilisiert. Mit der Erprobung der protestantischen Glaubenspraxis am Ende seiner Bildungsreise fand Sidway schließlich einen Weg zur Beseitigung der Zweifel und erkann­ te das Ziel seiner spirituellen Suche. Über seine Reisen und die Ausübung anderer Praktiken des Glaubenswechsels, wie den Gesprächen mit Vertretern anderer Religionen und den Besuchen von Gottesdiensten jenseits der eigenen Konfession, hatte er sich in einem neuen religiösen Selbst verwickelt. Sidway bewegte sich auf seiner Grand Tour und wurde im Glauben bewegt. Oder wie es der Konvertit mit seinen eigenen Worten ausdrückte: „Upon this, leaving my Friends and Fortunes beyond sea, I came presently for England, where appro­ ving well of the English Church, I was at length […] reconciled thereunto […].“77

4. S elves in flux – R eisepr ak tiken in G l aubenswechseln Mit dem Anstieg der Mobilität von Personen und Gütern in der Frühen Neu­ zeit verschoben sich politische, soziale und ökonomische Relationen in einem wechselseitigen Prozess, der sich auf den alltäglichen religiösen Handlungs­ vollzug der historischen Akteure auswirkte. Immer mehr Menschen sahen sich im Zuge ihrer Reisen durch das frühneuzeitliche Europa mit einem kon­ fessionellen und religiösen Alternativangebot konfrontiert und setzten sich mal mehr, mal weniger intensiv mit den religiösen Praktiken und ihren Akteu­

76 | Ebd., sig. K4 r–L1r. 77 | Ebd., sig. L3 v.

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ren auseinander. Nicht selten verwickelten sie sich dabei in einem veränderten religiösen Selbst, das zum Wechsel des eigenen Glaubens führte. Im Falle John Sidways war die situative Konfrontation mit religiösen Alte­ ritätserfahrungen der Auslöser für eine ständige Vergewisserung des eigenen religiösen Selbst. Während sich Sidway durch den östlichen Mittelmeerraum bewegte, wurde er immer wieder in seinem routinisierten katholischen Hand­ lungsvollzug irritiert, bis er sich schließlich zur endgültigen Transformation der eigenen religiösen Praxis, dem Wechsel zur anglikanischen Kirche, ent­ schloss. Die Beobachtungen fremder religiöser Praxis, die Aktualisierung der Wissensformen in der Praktik des Reisens veränderten die Selbst- und Welt­ bezüge Sidways und anderer Reisender. Verarbeitet wurden diese Verände­ rungen, die sich häufig in starken Zweifeln am eigenen Glauben bemerkbar machten, in Gesprächen mit religiösen Experten „vor Ort“ sowie in der Erpro­ bung differenter religiöser Praxis. Sich zu einem neuen Glauben in Taufe und Konversionserzählung zu bekennen, bildete dann den Schlusspunkt des durch die Reisen auch religiös mobilisierten Subjekts. Die Destabilisierung der eigenen religiösen Überzeugungen im Verlauf von Reisen erlebte auch James Wadsworth, nachdem er die Mauern des Eng­ lischen Kollegs in Saint-Omer und somit auch den strukturierten religiösen Alltag der Jesuiten verlassen hatte. Dieser Prozess verlief jedoch nicht linear, da Wadsworth über die Einbindung in seine jesuitische Reisegruppe die ver­ schiedenen Herausforderungen der Überfahrt nach Spanien mit einer Verstär­ kung seines Katholizismus meisterte. Je länger die Reise aber dauerte und je zahlreicher die Auseinandersetzungen mit fremden religiösen Doktrinen und ihren Vertretern wurden, desto stärker verloren die ehemals sinnbehafteten religiösen Praktiken an Bedeutung. Über die Veränderung seines religiösen Alltags, die Auflösung des Verharrens im religiösen Umfeld des Kollegs, wur­ de der Prozess seines Glaubenswechsels angeschoben. Der Wegfall des insti­ tutionalisierten Praxisarrangements durch die Reise nach Spanien löste bei James Wadsworth einen Zerfall der katholischen Überzeugungen aus, der die Voraussetzung für seine Konversion in England war. Bewegung auf Reisen und Bewegung im Glauben – die unterschiedlichen Reisepraktiken von Menschen im 17. Jahrhundert beeinflussten besonders ihr religiöses Tun und Sprechen nachhaltig. Der Auf bruch zu neuen Ufern im Rahmen einer Reise endete daher für viele historische Akteure im 17. Jahrhun­ dert in einem Auf bruch zu neuen spirituellen Ufern.

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Constantin Rieske

Szenen der Subjektivierung Zu den Schriftpraktiken der Wallfahrt im 18. Jahrhundert Eva Brugger

1. Z um Auftakt : Fremdbeobachtung katholischer ­Frömmigkeit in zeitgenössischen R eiseberichten 1 Der Vollzug katholischer Frömmigkeit in bayerischen und österreichischen Gebieten wird in aufklärerischen Reiseberichten im 18. Jahrhundert als eine bizarre, körperbezogene Praktik beobachtet: „Die große Menge von geistlichen Herren aller Art, die große Menge von Mönchen in Masken und Gestalten, die Bilder der Heiligen und ihre Verehrung, die Reliquien, die Gnadenbilder und ihre vermeintlichen Wunder, die Messen, die Transsubstantiation, die Segen, die Litaneyen, die Wallfahrten, Processionen und Leichenceremonien, die Brüderschaften von so mancherley Art, die Gebete und Andachten, welche zum Theil auf ganz seltsame Gegenstände fallen, die Ohrenbeichte, die Ablässe, die Bußen, die Kasteyungen, die Fasten, die Bekreuzungen, die Verdrehungen der Augen, das Schlagen an die Brust, das mechanische Gebeteplappern, die Skapuliere, Gürtel, und Messgewande, die Beleuchtungen, und Musiken, Besprengungen mit Weihwasser, das Rosenkranzbeten, das Begrüßen mit: gelobt sey Jesus Christus, das beständige Läuten mit den Glocken; und wer weiß was sonst noch zum geistlichen katholischen Pompe und zum katholischen Aberglauben gehört[...].“2 1 | Der vorliegende Aufsatz will keinen Wandel katholischer Schriftpraktiken im 18. Jahr­ hundert nachzeichnen, sondern vielmehr das spezifische Verhältnis von Schrift und Sub­jektivierung herausarbeiten. Aus diesem Grund werden nicht nur Mirakel- und Gnadenbücher der 1770er- und 1780er-Jahre in die Analyse einbezogen, sondern auch Quellen aus den zurückliegenden wie folgenden Jahrzehnten. 2 | Nicolai, Friedrich: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, 5. u. 6. Bd., Faksimileausgabe der Gesammelten Werke, hg. v. Bernhard Fabian u. Marie-Luise Spieckermann, Hildesheim 1994 (1785), S. 16f.

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Eva Brugger

In den Schilderungen des Berliner Verlegers und Reiseschriftstellers Fried­ rich Nicolai sind die katholischen Religionsübungen durch ihre Performanz gekennzeichnet: Unaufhörlich bewegen sich die Körper der Altgläubigen durch die sakralen Räume Wiens, in denen Heilige und Reliquien durch im­ mer wiederkehrende Gebets- und Andachtspraktiken verehrt werden.3 Der Vollzug von Frömmigkeit wird als Praktik der Vielen beschrieben, die sich in Formation(en) organisieren und durch Körperbewegungen wie Gehen und Stehen, durch Niederknien und Bekreuzigen das Stadtbild prägen. Dabei be­ steht nie ein Zweifel, wie sehr Nicolai die mechanischen wie abergläubischen Praktiken der Katholiken ablehnt. Mit seinen Beschreibungen altgläubiger Frömmigkeit steht der Berliner Protestant in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts keineswegs allein, denn Kritik an der katholisch-barocken Frömmigkeit findet sich verbreitet und kon­ fessionsübergreifend in den zeitgenössischen Reiseberichten insbesondere der 1770er- und 1780er-Jahre.4 Parallel zur Entstehung der Volkskunde im späten 18. Jahrhundert richten die Autoren ihren Blick mit vermeintlich ethnogra­ phisch-distanziertem Interesse auf den Frömmigkeitsvollzug der Altgläubigen, beobachten Körperhaltungen, Gnadenbilder und Übertragungspraktiken.5 Dem (Er)Leuchten der Aufklärung stellen die reisenden Schriftsteller in ihren Texten ein Katholikenbild gegenüber, das – sozusagen im Dunkeln stehend – alles Rückständige und Rückwärtsgewandte in sich versammelt.6 Ihre Beob­ 3 | Diese Beschreibung Wiens lasse sich, so ihr Autor Friedrich Nicolai, ohne weiteres auch auf die bayerischen Gebiete übertragen: „Da Wien der erste ganz katholische Ort war, wo ich mich aufhielt; so gestehe ich gern, daß mir das katholische Wesen äußerst auffiel und mir zu sehr vielen Betrachtungen Gelegenheit gab. Ich will daher hier etwas ausführlicher darüber seyn, und mich künftig bey anderen katholischen Ländern darauf beziehen.“ Ebd., S. 13ff. 4 | Weitere Reiseschriftsteller sind etwa G. Hufeland, Heinrich Sander, Johann Caspar Riesbeck oder Johann Pezzl. 5  |  Zu den Parallelen zwischen Reiseberichten und der Entstehung der Volkskunde siehe Stagl, Justin: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800, Wien 2002. Zur Entstehung der Ethnologie Kohl, Karl-Heinz: Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden, München 1993. 6 | Die Reiseberichte beschreiben allerdings immer nur eine spezifische, lokal verlinkte Form katholischer Frömmigkeitspraktiken, die sozusagen als Puzzleteil die abergläubischen Tendenzen im Ganzen repräsentieren soll. Die Verschränkung von Konfession und Region, welche die katholisch-barocke Frömmigkeit mit ihrer Körperbezogenheit einerseits und ihrer Dingkultur andererseits untrennbar mit Bayern und Österreich verknüpft, geht unter dieser Perspektivierung über eine „binäre Codierung“ konfessioneller Vorstellungen hinaus, denn die beobachtete Rückständigkeit binden die Autoren nicht allgemein an die katholische Konfession. Das Konzept der Überwindung binärer

Szenen der Subjektivierung

achtungen gehen dabei über die Kontrastierung zweier Konfessionen hinaus, gerade indem ein regionaler Katholizismus mit abergläubischen Praktiken ver­ netzt wird und als defizient, naiv und rückständig auftritt.7 Auf Ablehnung stoßen die katholischen Frömmigkeitspraktiken insbeson­ dere dort, wo die Vermittlung und Übertragung göttlicher Gnade im perfor­ mativen und dingbezogenen Vollzug sichtbar gemacht wird und mittels Kör­ perhaltungen und materiellen Artefakten, die meist ebenfalls einen starken Körperbezug aufweisen, Gestalt gewinnen. Dies trifft speziell auf die Wall­ fahrt im 18. Jahrhundert zu, die sich in der Regel um ein Gnadenbild formiert und vielfältige Praktiken zur Verfügung stellt, um am und durch den Körper der Gläubigen das gelungene Gespräch mit Gott zu bezeugen.8 Unter einem Gnadenbild habe man, so erklärt Friedrich Nicolai seinen Lesern an einer an­ deren Stelle, „solche Heiligenbilder“ zu verstehen, „von welchen vorgegeben wird, daß sie Gnaden ausgetheilt, d. i. Wunder gethan, und in verschiedenen Krankheiten und andern Gebrechen Hülfe geleistet hätten. […] Die elenden Leute, welche sich einbilden, sie hätten von den Bildern Hülf erlangt, bringen denselben auch Opfer, welche an dem Altare des Heiligen aufgehängt werden. Z. B. wenn einer vermeintlich durch die Fürbitte des Heiligen am Fuße ist kuriert worden, so hängt Codierungen zugunsten konfessioneller oder nationaler Konflikte entwickelt Susanna Burghartz für den kolonialen Diskurs um 1600. Vgl. Burghartz, Susanna: Mehrdeutigkeit und Superioritätsanspruch. Inszenierte Welten im kolonialen Diskurs um 1600, in: zeitenblicke 7, 2. http://www.zeitenblicke.de/2008/2/burghartz vom 28. Nov. 2013. 7 | Schindler, Norbert: Spuren in die Geschichte der „anderen“ Zivilisation. Probleme und Perspektiven einer historischen Volkskulturforschung, in: Ders./Richard van Dülmen (Hg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.–20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1984, S. 13–77, hier S. 27. Um das andere zu perspektivieren, verorten die aufklärerischen Autoren diese spezifische Form katholischer Frömmigkeit vor allem in der bayerischen Landbevölkerung, die einer aufgeklärten Bildungsschicht gegenübergestellt wird. Indem sich die Autoren selbst eben jener aufgeklärten Bildungsschicht zuordnen, bringen sie die Differenz zum Beobachteten hervor. Diese Spannung erschöpft sich aber nicht in einer einfachen Zentrum-Peripherie-Dichotomie: Das Ländliche oder Naive bezieht sich aus diesem Grund weniger auf die Einwohnerzahl einer Stadt als vielmehr auf das abergläubische Potential der Frömmigkeitspraktiken, die dort zu beobachten sind. 8 | Zu den wenigen Wallfahrtsorten, die nicht über ein Gnadenbild verfügen, gehört im 18. Jahrhundert etwa der niederbayerische Wallfahrtsort Maria Steinbach. Siehe hierzu Brugger, Eva: Figuren und Gestalten. Lokale Narrativierungen göttlicher Gnade in den Mirakel- und Gnadenbüchern bayerischer Wallfahrtsorte im 18. Jahrhundert, in: Joel B. Lande/Rudolf Schlögl/Robert Suter (Hg.): Dynamische Figuren. Gestalten der Zeit im Barock, Freiburg 2013, S. 121–143.

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Eva Brugger er die Abbildung eines Fußes von Silber oder Wachs am Altar auf. Ist jemand im Viehkauf glücklich gewesen, so hängt er das Bild eines Ochsen oder Pferdes auf. Glaubt eine Frau durch Fürbitte des Heiligen schwanger geworden zu seyn, so schenkt sie das Bild eines Kindes. Auch silberne und wächserne Bäuche, Herzen, Lungen und […] Gebährmutter in Menge sieht man auf den Altären zu Verherrlichung des Gnadenbildes ausgestellt. Unter den Opfern hängt gemeiniglich ein Täflein, worauf die Hülfe oder Gnade, die man glaubt empfangen zu haben, verzeichnet ist, mit den Worten: Ex Voto.“9

Die körperlichen Heilungen der Gläubigen, so vermitteln die Reiseberichte, materialisieren sich in Votiven und Votivtafeln, die das Ereignis einer Heilung bildlich darstellen oder durch ein aus Holz, Wachs oder Silber gefertigtes Ar­ tefakt auf ein genesenes Körperteil verweisen. Schilderungen dieser Art, die ihre Kritik an der Frömmigkeitspraktik der Wallfahrt durch detaillierte und ausschmückende Beschreibungen ausdrücken, werden in den Reiseberichten der 1770er- und 1780er-Jahren häufig und in unterschiedlicher Ausgestaltung beschrieben. Schenkt man ihren Beobachtungen, wie etwa bei Johann Pezzl in seiner Reise durch den baierischen Kreis von 1784, Glauben, so sind die In­ nenräume der katholischen Barockkirchen mit Votiven komplett ausgestaltet: „Nebst einer Menge silberner Lampen, Leuchter, Kruzifixe, und übrigen Altarputz, der in allen katholischen Kirchen gewöhnlich ist, führe ich ihnen nur das auszeichnende der Wallfahrtskirchen an. Es sind in demselben Augen, Hände, Ohren, Füsse, Herzen, Weiberbrüste, Manns- und Weibsfiguren, auch ganz kleine Städte von Silber auf eignen Tafeln, unter denen allemal Ex Voto steht. Dann kommen ganze Stellen voll wächserner Opfer: Männer, Weiber, Kinder, Ochsen, Rinder, Schafe, Schweine, Pferde, Augen, Ohren, Nasen, Brüste, Hände, Bruststücke, Unterleiber, Schenkel, Füsse, Kleidungsstücke, und noch eine Menge anderer Dinge, die ich gar nicht kannte, sind ohne alle Ordnung Ex Voto unter einander gemacht. Die ganze Kirche ist mit Tafeln Ex Voto austapezirt: Auf diesen Tafeln ist oben der oder die Heilige gemalt, deren Bild in der Kirche Wunder wirkt; unten daran ist der Zufall gemalt, der Anlaß gab, warum die Tafel hieher verlobt ward: Hier fällt einer ins Wasser; dort brennt ein Haus; nebenbei ist ein Stall voll kranken Viehs & &. Ueberhaupts findet man in derlei Kirchen alle möglichen Unfälle, die im menschlichen Leben begegnen können; denn die Baiern haben sich von den Pfaffen durchgehends die Gewohnheit beibringen lassen, daß sie sich bei jeder wahren oder vermeintlichen Gefahr oder Unglücksfalle ihrer Seelen, ihres Körpers, ihrer Familie, ihrer Güter, ihres Viehes zu einem Wunderbild verloben, welches Gelübde in einem Besuch bei dem Wunderbild, in ein paar Messen, einem Opfer in den Kirchenstock und in einer solchen Ex Voto Tafel besteht. [...] Im Hintergrund solcher Kirchen hangen verschiedne Krücken, Schemmel, Bandagen, hölzerne Aerme und Beine, auch eiserne Fesseln, von

9 | Nicolai, F.: Beschreibung einer Reise, S. 47f.

Szenen der Subjektivierung Krummen, Lahmen, Verwundeten und Gefangenen, die durch Hilfe des Wunderbildes vor ihren Nöthen erlöset worden.“10

Um die regional spezifische Ausprägung des Katholizismus in Bayern und Österreich zu beschreiben – so lässt sich zusammenfassen –, entwickeln die Autoren der Reiseberichte in den 1770er- und 1780er-Jahren eine Erzählung, die auf die Performanz, Dingbezogenheit und Sichtbarkeit des altgläubigen Frömmigkeitsvollzuges abzielt. Verinnerlichungs- und Subjektivierungsprak­ tiken, wie sie der Protestantismus zur Verfügung stellt, tauchen in den Schil­ derungen nicht auf. Im Gegenteil, die Verwendung und Funktion von Schrift werden in diesem Narrativ weitestgehend verdeckt. Vergleichbar mit Votiven tauchen Bücher als religiöse Objekte auf, die in den Frömmigkeitsvollzug in­ tegriert werden resp. diesen unterstützen und erleichtern.11 Etwa, wie Nicolai an einer Stelle erneut schildert, um die „unsägliche Menge kleiner Heiligenbil­ der“ aufzubewahren.12 Dabei entgeht ihm die massenhafte Anzahl altgläubiger religiöser Bücher nicht.13 Besonders hebt er die umfangreiche Produktion von Mirakel- und Gnadenbüchern an Wallfahrtsorten und Gnadenstätten hervor. Die Literatur der Altgläubigen enthalte jedoch „unglaubliche[n] Unsinn“14 und werde in erster Linie in den performativen Vollzug von Frömmigkeit eingebun­ den und weniger gelesen.15 Die Bücher würden geküsst, geweiht oder durch 10  |  Pezzl, Johann: Reise durch den baierischen Kreis, Salzburg/Leipzig 1784, S. 187f. 11 | In Nicolais Schilderungen bleiben die katholischen Bücher allgemein, wie die Mirakel- und Gnadenbücher im Besonderen, stets auf ihre Materialität und Dinghaftigkeit beschränkt. Als Zeugnisse eines noch immer vorherrschenden Aberglaubens sammelt Nicolai die Bücher ebenso wie andere Exponate der katholischen Frömmigkeitspraktik, wie etwa Devotionalien: „Ich habe nebst andern merkwürdigen kleinen Schriften, die ich auf meiner Reise gesammelt habe, auch aus verschiedenen katholischen Ländern eine kleine Bibliothek von seltsamen katholischen Pfaffereyen Gebetbüchern, Bruderschaftsbüchern, Heiligenbildern, Gesängen und dergleichen mitgebracht, und damit verschiedene von meinen Freunden in Erstaunen gesetzt.“ Nicolai, F.: Beschreibung einer Reise, S. 42. 12 | Ebd., S. 38. 13 | Besonders „Gebetsbücher und ascetische [ ] Bücher sind in Wien eine unzählige Menge,“ schreibt Nicolai und belegt seinen Befund mit dem „Trattnerischen Verlagsverzeichnis“, das auf „zwölf Seiten [und in] sehr kleiner Schrift“, die verlegten Gebets­ bücher auflistet. Ebd., S. 114. 14 | Ebd. 15 | Nicolai bemerkt lediglich kurz, unter Mirakel- und Gnadenbücher habe man „[k] leine Bücher von den Legenden und Wundern der Heiligen zu verstehen“. In protestantischen Gebieten sei diese Art religiöser Literatur fremd und unbekannt. Man glaube dort gar nicht, „daß solche Dinge noch jetzt existieren können“. Ebd., S. 42. In Bezug

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Kontaktpraktiken sakral aufgeladen und könnten daher letztlich nur als einer von vielen Gegenständen beschrieben werden, der die abergläubischen Aus­ wüchse katholischer Frömmigkeit charakterisiere.16 Eben jene Mirakel- und Gnadenbücher, die in den zeitgenössischen Beob­ achtungen der Reiseberichte weitestgehend als religiöse Objekte beschrieben werden, geben jedoch – wie der vorliegende Beitrag im Folgenden ausführen möchte – Einblicke in die Medienpraktiken der Wallfahrt im 18. Jahrhundert: Auf oftmals mehreren hundert Seiten erzählen sie von der Entstehung einer Gnadenstätte, zeichnen die Geschichte eines Wallfahrtsortes bis in die zeitge­ nössische Gegenwart hinein nach, berichten von ihrer großen, oftmals über­ regionalen Bekanntheit und enthalten umfangreiche Auflistungen von Mira­ keln und Guttaten, die dem Wallfahrtsort und dem dort verehrten Gnadenbild zugeschrieben werden und häufig mehrere hundert Einträge umfassen.17 Entgegen bis heute gebrauchten volkskundlichen Interpretamenten dient ge­ rade der zunehmende Einsatz von Schrift in der Wallfahrt des 18. Jahrhun­ derts allerdings nicht zur Reflexivmachung subjektiver Gnadenerlebnisse. Be­ schreibungen, die vom Verdrängen eines körper- und dingbezogenen wie auf Performanz ausgerichteten Frömmigkeitsvollzuges und einer Umstellung auf schriftbasierte Praktiken der Verinnerlichung ausgehen, greifen aus diesem Grund nur unzureichend, um die spezifische Situation der Wallfahrt zu unter­ suchen. Der Einsatz von Schrift in der Wallfahrt des 18. Jahrhunderts macht vielmehr – so die These – die vielfache Verschränkung einer sich wandeln­ den Frömmigkeitspraktik, neuer medialer Formen obrigkeitlicher Kontrolle und des subjektiven Gnadenerlebnisses der Wallfahrerinnen und Wallfahrer sichtbar. Denn – so soll im Folgenden zunächst gezeigt werden – nicht nur die Kritik von Seiten der Aufklärung verändert die Frömmigkeitspraktik der auf Bruderschaften wird Nicolai noch konkreter: „Sie [die Bruderschaften, E.B.] lassen Bruderschaftsbüchlein drucken, worinn die kindischsten Pralereyen von der Kraft des Ablasses der Bruderschaft gemacht, und zum Theil die unsinnigsten Legenden von falschen Wundern fortgepflanzt werden.“ Ebd., S. 82. 16 | Nicolai betont gerade die „Menge abergläubischer Dinge“ im altgläubigen Frömmigkeitsvollzug: „Dergleichen sind z. B. allerhand Amulete oder kleine seidene Küssen, worinn irgend ein Spruch oder auch geweihte Dinge, als: Wachs, Kräuter, Leinwand, Messing, Haare u. s. w. eingenähet sind, die man um den Hals hängt oder in der Tasche trägt. Ferner: geweihte Agnus Dei; geweihte Palmkätzchen, oder Blumenknospen einer Art weisen; geweihtes Opferwachs, Ignazibleche, Ignazibohnen, Nikolausbrodt, Lukaszettel, Konceptionszettel u. s. w.“ Ebd., S. 115f. 17 | Zu Aufbau, Inhalt und Gestaltung der Mirakel- und Gnadenbücher grundlegend aus literaturhistorischer Perspektive: Bach, Hermann: Mirakelbücher bayerischer Wallfahrtsorte. Untersuchung ihrer literarischen Form und ihrer Stellung innerhalb der Li­ teratur der Zeit, Nürnberg 1963.

Szenen der Subjektivierung

Wallfahrt, sondern vor allem die Entwicklung der Nahwallfahrten sowie die zunehmenden weltlichen wie kirchlichen Beschränkungen und Restriktionen verändern die Rolle und den Einsatz von Schrift im altgläubigen Frömmig­ keitsvollzug, wie der vorliegende Beitrag anhand von so genannten Mirakel- und Guttatenlisten untersucht. Diese teilweise sehr umfangreichen Sammlungen werden in den Mirakel- und Gnadenbüchern abgedruckt und berichten über Unglücksfälle, die Umstände eines Verlöbnisses, die körperlichen Heilungen der Gläubigen und die hinterlassenen Votive. Obwohl die Wallfahrerinnen und Wallfahrer in den Mirakel- und Guttatenlisten mit Namen, Herkunftsort und Datum genannt werden, bilden die Verzeichnisse, so soll gezeigt werden, keine subjektiven Gnadenerlebnisse Einzelner ab. Vielmehr werden Szenen der Sub­ jektivierung erkennbar, in denen sich die Interessen der Wallfahrtsorte unter den Bedingungen der zeitgenössischen Gegenwart mit den Gnadenerfahrun­ gen der Gläubigen decken.

2. K onkurrierende N ahwallfahrten . Z um W andel der F römmigkeitspr ak tik im 18. J ahrhundert Die Frömmigkeitspraktik der Wallfahrt ist in der Frühen Neuzeit grundlegen­ den Veränderungen unterworfen. Insbesondere die flächendeckende Durch­ setzung der Nahwallfahrten und die Verbreitung der Gnadenbildverehrung, aber auch Restriktionen, die den Vollzug der Frömmigkeitspraktik in Dauer, Umfang und Häufigkeit einschränken, bedingen den Wandel der Wallfahrt nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges maßgeblich. Zunächst werden bereits ab dem Spätmittelalter die Fernwallfahrten zu bekannten, aber entfern­ ten Gnadenstätten wie Rom, Jerusalem oder Santiago de Compostela von so genannten Nahwallfahrten abgelöst.18 Die sozialen Folgen dieses Wandels sind weitreichend, denn die Wallfahrerinnen und Wallfahrer begeben sich nicht länger auf ein „Abenteuer[ ] mit ungewissem Ausgang“, das sie im Rahmen

18 | Zur Veränderung des Wallfahrtswesens im Spätmittelalter siehe Schreiner, Klaus: „Peregrinatio laudabilis“ und „peregrinatio vituperabilis“. Zur religiösen Ambivalenz des Wallens und Laufens in der Frömmigkeitstheologie des späten Mittelalters, in: Gerhard Jaritz/Barbara Schuh (Hg.): Wallfahrt und Alltag in Mittelalter und Früher Neuzeit, Wien 1992, S. 133–163. Zu den damit einhergehenden etymologischen Veränderungen siehe Brückner, Wolfgang: Zur Phänomenologie und Nomenklatur des Wallfahrtswesens und seiner Erforschung. Wörter und Sachen in systematisch-semantischem Zusammenhang, in: Dieter Harmening u.a. (Hg.): Volkskultur und Geschichte. Festschrift für Josef Dünninger zum 65. Geburtstag, Berlin 1970, S. 384–424.

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einer Pilgerfahrt in fremde Länder und Kontinente führt.19 Sondern sie suchen vielmehr die nahen, in nächster Umgebung liegenden Gnadenstätten auf.20 Als „neue religiöse Attraktion[ ]“ trägt darüber hinaus vor allem die flächen­ deckende Gnadenbildverehrung, insbesondere der Gottesmutter Maria,21 zum Wandel der Wallfahrt bei.22 Aus medien- und kommunikationstheoretischer Perspektive lässt sich die­ ser Wandel der Wallfahrt im 18. Jahrhundert als ein Effekt beschreiben, der zur Nahvergegenwärtigung göttlicher Gnade in den katholischen Gebieten führt. Denn mit der Entstehung und Durchsetzung der Nahwallfahrten kommt vor allem, wie gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit völlig gegen­sätzlichem Impe­ tus in den aufklärerischen Reiseberichten beobachtet wird, den Gnadenbildern eine zentrale Rolle im Frömmigkeitsvollzug zu. Im altgläubigen Verständnis wird ihnen als Vermittlern die Fertigkeit zugeschrieben, sich in die Kommu­ nikation mit Gott einzuschalten und diese zu befördern.23 Von anderen Bil­ dern und Statuen, die etwa im Kircheninnenraum platziert sind, den Weg zum Wallfahrtsort säumen oder auf andere Weise in den Frömmigkeitsvollzug inte­ 19 | Schneider, Bernhard: Wallfahrtskritik im Spätmittelalter und in der „Katholischen Aufklärung“. Beobachtungen zu Kontinuität und Wandel, in: Ders. (Hg.): Wallfahrt und Kommunikation – Kommunikation über Wallfahrt, Mainz 2004, S. 281–316, hier S. 316f. 20 | Dass sich die Wallfahrerinnen und Wallfahrer dabei aus „sehr konkretem Anlass“ auf den Weg machen, betont Gockerell, Nina: Glaube und Bild. Sammlung Rudolf Kriss, Passau 2009, S. 156f. Zu den Gründen, eine Wallfahrt zu unternehmen, ausführlich Freitag, Werner: Volks- und Elitenfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster, Paderborn 1991, S. 259ff. 21 | Sie bleibt aber nicht auf die Verehrung der Gottesmutter beschränkt, sondern kann sich in unterschiedlicher Weise materialisieren und vielfältige Gestalt annehmen. In den allermeisten Fällen handelt es sich um Gemälde oder Statuen, die Jesus, Maria oder verschiedene Heilige darstellen. 22  |  Hengstler, Wilhelm/Stocker, Karl: Wallfahrt. Wege zur Kraft. Steiermärkische Landesausstellung im Stift Pöllau, 30. April bis 30. Oktober 1994, Graz 1994, S. 145. Die Gnadenbildverehrung geht aus dem Reliquienglauben hervor und ist daher eng mit dem Glauben verschränkt, „ein Bild oder ein Gegenstand könne ein Wunder oder Heilung von einer Krankheit oder Schutz vor dem Bösen bewirken“. Da die Gottesmutter „leiblich in den Himmel aufgefahren“ ist, gibt „es von ihr keine sterblichen Überreste, also auch keine Reliquien.“ Kälin, Detta: Zauberwahn & Wunderglauben. Amulette, Ex Voto und Mirakel in Einsiedeln. Ausstellung Museum Fram 30. April 2011 bis 6. Januar 2012, Einsiedeln 2011, S. 15. 23 | Ich folge hier dem von Sybille Krämer entwickelten Ansatz, der „das Medium nicht als Mittel und Instrument, [sondern] vielmehr als Mitte und als Mittler“ begreift. Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M. 2008, S. 40.

Szenen der Subjektivierung

griert werden, grenzt sich das Gnadenbild damit durch seine kommunikative Fähigkeit ab, zwischen der Wirkmächtigkeit göttlicher Gnade einerseits und den Bedürfnissen der Gläubigen andererseits zu vermitteln.24 Im Resultat wird göttliche Gnade, die es bisher als außeralltäglich, entfernt und meist nur unter den Anstrengungen einer Pilgerfahrt zu erlangen galt, in enger Verschrän­ kung mit einer „neuwertigen Medialität“, das heißt durch „neue Arten einer zeichengestützten Mitteilung und Vermittlung in jenem Kommunikationsge­ schehen, durch das göttliche Gnade an den Menschen herangetragen wird und durch das er Zugang zum Heil sucht“, in eine „nahe, mühelos verfügbare Gna­ de vor Ort“ übersetzt.25 Genau diese Nahvergegenwärtigung dynamisiert und befördert die Fröm­ migkeitspraktik der Wallfahrt im 18. Jahrhundert. Verstärkt wird diese Entwick­ lung paradoxerweise durch obrigkeitliche Beschränkungen und Restriktio­nen. Die religiösen wie politischen Obrigkeiten reagieren auf die Veränderung der Wallfahrt, sie greifen verstärkt in den Vollzug von Frömmigkeit ein und ver­ suchen die Gnadenerlebnisse der Gläubigen zu kontrollieren. Kirche und Staat stehen dabei in einer „symbiotischen Konkurrenz“, sie unterstützen, kombi­ nieren und beschränken ihre Durchsetzungskompetenz, verhandeln Riva­ litäten oder festigen gemeinsam ihre territorialen Grenzen.26 Die flächende­ ckende und quer durch alle Bevölkerungsschichten reichende Durchsetzung der Trienter Beschlüsse ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert,27 in deren Folge die Wallfahrt im 18. Jahrhundert in ihrem Umfang, ihrer Häufigkeit und der Entfernung zum Heimatort der Wallfahrerinnen und Wallfahrer beschränkt wird, lässt sich vor allem deshalb realisieren, weil die Restriktionen auch durch weltlichen Exekutiven getragen und teilweise sogar initiiert werden. Spätestens ab den 1770er-Jahren greift schließlich der bayerische Kurfürst Max III. Joseph in die Organisation, Durchführung und Kontrolle der Wallfahrt ein und be­ legt die Frömmigkeitspraktik mit Beschränkungen und Verboten.28 So werden 24 | Siehe hierzu auch, Henkel, Georg: Rhetorik und Inszenierung des Heiligen. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zu barocken Gnadenbildern in Predigt und Festkultur des 18. Jahrhunderts, Weimar 2004, S. 37. 25 | Hamm, Berndt: Typen spätmittelalterlicher Gnadenmedialität, in: Ders./Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff (Hg.): Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2011, S. 43–83, hier S. 43. 26 | Schlögl, Rudolf: Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1740–1850, Frankfurt a.M. 2013, S. 28ff. 27 | Hubensteiner, Benno: Bayerische Geschichte, 16. Aufl., Rosenheim 2006. 28 | Zu den Wallfahrtsverboten in Bayerns siehe Goy, Barbara: Aufklärung und Volksfrömmigkeit in den Bistümern Würzburg und Bamberg, Würzburg 1969, S. 54ff. u. 146ff. sowie Hartinger, Walter: Kirchliche und staatliche Wallfahrtsverbote in Altbayern, in:

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die Wallfahrten auf eine bis maximal fünf pro Jahr eingeschränkt, und man versucht, mehrtägige Kirchfahrten zu verhindern oder in Andachten in der eigenen Pfarrkirche umzuwandeln.29 Allerdings nimmt die Popularität der Wallfahrt in Bayern im 18. Jahr­ hundert durch die erlassenen Restriktionen nicht ab. Vielmehr befördern die Beschränkungen des Frömmigkeitsvollzuges letztlich entgegen ihrer Inten­ tion die Frömmigkeitspraktik, führen ebenso zu einer Dynamisierung der Wallfahrt, zur Gründung neuer Gnadenstätten und zur Wiederbelebung in Vergessenheit geratener Wallfahrtsorte. Die obrigkeitlichen Eingriffe in die Durchführung einer Wallfahrt und die Nahvergegenwärtigung der göttlichen Gnade bedingen sich im 18. Jahrhundert somit gegenseitig und führen zu grundlegenden Veränderungen der Frömmigkeitspraktik, denn immer häu­ figer machen sich die Wallfahrerinnen und Wallfahrer zeitgenössisch allein oder in Kleinstgruppen und ohne Anleitung auf den Weg zu den umliegenden Gnadenstätten.30 Auf diese Weise entziehen sich die Gläubigen zunehmend den Möglichkeiten einer obrigkeitlichen Kontrolle: Die Wallfahrerinnen und Wallfahrer werden seltener durch (Wallfahrts-)Priester, Gemeindeverbünde oder Bruderschaftsverbände begleitet, und so müssen die Gnadenstätten und Klöster neue Formen der Anweisung entwickeln, um sich in das Gnadener­ lebnis des Einzelnen einzuschalten. Mit einem spezifisch katholischen Ein­ satz von Schrift, so möchte ich im Weiteren anhand von so genannten Mirakel- und Guttatenlisten exemplarisch zeigen, versuchen die Verantwortlichen der Wallfahrtsorte, „Unordnung [zu] verhüte[n]“,31 indem sie die Praktiken des Frömmigkeitsvollzuges in ihren Mirakel- und Gnadenbüchern stabilisieren, Winfried Becker/Werner Chrobak (Hg.): Staat, Kultur, Politik, Beiträge zur Geschichte Bayerns und des Katholizismus. Festschrift zum 65. Geburtstag von Dieter Albrecht, Kallmünz 1992, S. 119–132. Zu den Wallfahrtsverboten im vornehmlich österreichischen Raum in jüngerer Zeit erschienen: Scheutz, Martin: Andacht, Abenteuer, Aufklärung. Pilger- und Wallfahrtswesen in der Frühen Neuzeit, in: Österreich in Geschichte und Literatur 49 (2005), S. 2–38, bes. S. 31. 29 | Hier und im Folgenden Hausberger, Klaus/Hubensteiner, Benno: Bayerische Kirchengeschichte, München 1985, S. 253ff. 30 | Zu diesem Wandel im 16. und 17. Jahrhundert siehe Holzem, Andreas: Religiöse Orientierung und soziale Ordnung. Skizzen zur Wallfahrt als Handlungsfeld und Konflikt­ raum zwischen Frühneuzeit und Katholischem Milieu, in: Reinhard Blänker/Bernhard Jussen (Hg.): Institution und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998, S. 327–354, hier bes. S. 329ff. 31 | Wahrer Ursprung und Fortgang Der in Oberbaiern / Augspurger Bißthums, und einem löblichen Prämonstratenser Chorherren Stift Steingaden einverleibten Wallfahrt des gegeiselten Heilands auf der Wies. Neue / und verbesserte Auflage, Kempten 1779, S. 3.

Szenen der Subjektivierung

verbreiten und den Erfolg einer Wallfahrt dabei an das aufrichtige Verhalten ihrer Gläubigen binden.

3.  A ufgezeichne te G nade In ihren gedruckten Mirakel- und Gnadenbüchern berichten die bayerischen Wallfahrtsorte im 18. Jahrhundert in Listen, Registern und Berichten von erhal­ tenen Guttaten, Gnaden und Wohltaten. 32 Chronologisch sortiert, alphabetisch angeordnet oder nach thematischen Schwerpunkten zusammengefasst geben die Mirakel- und Guttatenlisten kurze Einblicke in das Treiben am Wallfahrtsort und die Umstände einer Genesung.33 Ein Mirakel- und Gnadenbuch des Mari­ enwallfahrtsortes Dorfen von 1727 listet etwa eine Auswahl der vor Ort erlang­ ten Gnaden auf und führt zu einhundert Krankheitssymptomen je mindestens einen Gnadenbericht auf: „Magen= und Kopff=Wehe. 60. ANna Zigerin / Lebzelterin von WEgschaid erlitte etlich Jahr grosse Magen und Kopff=Schmertzen / also zwar / daß sie in Gefahr gestanden / die Gedächtnuß gantz und gar zu verblühen / hat allerhand Mittel angewendt / so aber nichts geholffen / verlobt sich dahero mit vestem Vertrauen zu U.L.Fr. nach Dorffen / mit einer H. Meß / Gebett und Wahlfahrt / und gleich nach gethanen Gelübd haben die Schmertzen des Magen und Kopffs nachgelassen. Nadl geschluckt. 61. MAria Joanna Widmanin ledigen Stands von Gräfing / hatte im Essen ein Nadl hinunter geschluckt / welche sie 5. Tag in dem Halß gehabt / und habe die Bader solche mit ihren Instrumenten nit können heraus bringen / verlobte sich demnach zu Maria nach 32 | Auf die skizzierten Veränderungen wie auf die Kritik von außen reagieren die Wallfahrtsorte und Gnadenstätten mit den gedruckten Mirakel- und Gnadenbüchern: Die wallfahrtsbegleitende Literatur setzt sich zum einen mit dem veränderten Frömmigkeitsvollzug, der auf obrigkeitliche Restriktionen zurückzuführen ist, auseinander. Die Mirakel- und Gnadenbücher enthalten darüber hinaus auch Abhandlungen über den Wunderbegriff oder detaillierte Beschreibungen etwaiger Untersuchungen, denen die Gnadenbilder unterzogen werden. Gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts finden sich auf katholischer Seite außerdem vielfältige Wallfahrtsanleitungen, die implizit wie explizit zur aufklärerischen Kritik in Korrespondenz treten. 33 | Mirakel- und Guttatenverzeichnisse, Listen und Berichte sind gleichermaßen zeitgenössische Begriffe und werden in den Mirakel- und Gnadenbüchern synonym verwendet. Als konzeptionellen Begriff hat Jack Goody Listen eingeführt. Vgl. Goody, Jack: Woraus besteht eine Liste? in: Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2013, S. 338–396.

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Eva Brugger Dorffen mit einer Kirchfahrt / 3. Rosenkräntz auf der Raiß zu betten / und 3. Rosenkräntz in der Kirchen ausgespannter: wie auch mit Wasser und Brod anhero zugehen / auf welches Gelübd in einem Vatter Unser lang sie angefangen sich zubrechen / und die Nadel ohne eintzigen Schaden hervorgekommen. Offener Schaden. 62. MIchael Sedlmayr von Weissenbrunn [...] hatte 3. Jahr einen offenen Fuß / biß 10 Löcher daran / hat ihme Niemand helffen können / hat auch von dem Castein=Bad / so er gebraucht / kein Besserung bekommen: Nademe er nun von denen Gutthaten U.L.Fr. von Dorffen vil reden gehört / hat er sich auch mit einer Wahlfahrt dahin verlobt / worauf der Fuß in 10. Tagen zugeheilet / und er nit den mindesten Schmertzen mehr gespühret. 63. Salome Hintereckerin von Wäging / hatte 4. Jahr am rechten Fuß einen offnen Schaden / wendete unterschidliche Mittel an / aber alle vergebens / verlobte sich also zu der Gnaden=Mutter nacher Dorffen / worauf in kurtzer Zeit der Schaden zugeheilet. Ohren=Schmertzen. 64. MAria Petterin von Oberföring erlitte über 8. Tag grosse Schmertzen an den Ohren / wie auch an dem Kopff / verlobte sich zu Mariam nach Dorffen / mit einer Kirchfahrt / wäxenen Haubt und Opffer in Stock / welchen Gelübd sie noch selben Tag Besserung verspühret / auch bald darnach der Schmertzen gäntzlich vergange.“34

Aufgeführt werden die Gläubigen unter der Nennung ihres Namens und ih­ res Herkunftsortes. Auf das exakte Datum der Heilung wird im Dorfener Mi­ rakel- und Gnadenbuch von 1727 verzichtet, alle aufgeführten Gnadenerleb­ nisse hätten sich jedoch – dem Titel folgend – in den Jahren 1724 und 1725 ereignet. In den einzelnen Berichten wird von Unglücksfällen, Katastrophen und Heilungen ebenso berichtet wie von den Körper- und Dingpraktiken ei­ nes Verlöbnisses. Hilfe können die Gläubigen, so verspricht das Mirakel- und Gnadenbuch, vom verehrten Gnadenbild erwarten – sowohl bei chronischen Beschwerden als auch bei Unfällen. Häufig, so scheint es, wird eine Wallfahrt als letztes mögliches Mittel angewendet, denn mehrere Schilderungen beto­ nen, dass zuvor keine Hilfe bei Ärzten, Badern oder durch die Verabreichung von Medikamenten erhalten wurde. Neben den biographischen Angaben der Wallfahrerinnen und Wallfahrer und der Skizze ihres Krankheitsbildes berich­ tet das Mirakel- und Gnadenbuch ausführlich über die Verlöbnispraktiken der Gläubigen. So materialisieren sich die Verlöbnisse der Wallfahrerinnen und Wallfahrer in gehaltenen Messen, hinterlassenen Votivgaben und Spenden im Opferstock. Außerdem werden unterschiedliche Vollzugspraktiken einer 34 | Das dritte CENTUPLUM MARIANUM . Das ist: Hundert Aus viel tausenden / Durch Hülff MARIÆ , der wunderbarlichen Mutter GOttes / In ihrem Wunderthätigen Gnaden= Bild / Auf dem Rupprechts=Berg nächst Dorfen / Ihrer Zuflucht ergebenen / andächtigen Diener und Dienerinnen entsprossener Gutthaten de Anno 1724 biß 1725, Freysing 1727.

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Wallfahrt zitiert: Gläubige beten eine bestimmte Anzahl von Rosenkränzen auf dem Weg zur Gnadenstätte oder versehen ihre Wallfahrt mit bestimmten Auflagen und ernähren sich beispielsweise nur von Wasser und Brot. Abbildung 1: Magnus Straub: Neu=entsprossene Gnaden=Blum Auf der WIS / Das ist Kurtzer Unterricht des Ursprungs, und Gnaden=vollen Fortgangs der in Obern=Bayrn, Augspurger Bistums, und einem Löblichen Closter Steingaden Sacri Candidi Canon, ac Exempti Ord. Præmonstratensis einverleibten Wallfahrt auf der WIS genannt. Allwo der allergütigste GOtt in einer Bildnuß Deß gegeisleten JESU Ubergrosse Gnaden und Gutthaten barmherzigst erweiset. […] Erster Theil, Augspurg 1746.

Quelle: Auszug aus einem Mirakel- und Gnadenbuch des Wallfahrtsortes Steingaden, 1746

Die detaillierte und informative Ausgestaltung der Gnadenerlebnisse in den Mirakel- und Gnadenbüchern kann jedoch nicht über den Umstand hinweg­ täuschen, dass der Aufnahme eines Gnadenberichtes in die gedruckten Bü­ cher eines Wallfahrtsortes mehrere mediale Transformationen vorausgehen, im Zuge derer die Gnadenerlebnisse der Wallfahrerinnen und Wallfahrer aus ihrem subjektiven Kontext herausgelöst und in die von den Mirakel- und Gut­tatenlisten vorgegebene Ordnung integriert werden: In mehreren Überset­ zungsprozessen werden die mündlichen Gnadenschilderungen der Wallfah­ rerinnen und Wallfahrer, „so angegeben […] alle und jede in einem eigenen

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Buch ordentlich“35 an der Gnadenstätte „aufgezeichnet“36 und „in der Sacristey auffgehalten“37, zunächst in handschriftliche Mirakel- und Guttatenlisten und schließlich in die gedruckten Mirakel- und Gnadenbücher übertragen.38 Damit geht der publizierten Wallfahrtsliteratur stets eine Phase des Abschreibens und Übertragens voraus, während der eine lose Sammlung von mündlichen Aussa­ gen, bildlich gestalteten Votivtafeln und handschriftlichen Protokolleinträgen in eine systematische Form transformiert wird. Im Zuge dieser verschiedenen medialen Übersetzungen wird es möglich, die ursprünglich mündlich oder als Votiv vorgebrachten Gnadenschilderungen der Gläubigen in ein (an)geordne­ tes und an der Gnadenstätte präsentiertes Wissen zu verwandeln.39 Durch die Praktiken des Aufschreibens und Übertragens in die gedruckten Mirakel- und Gnadenbücher werden die zu Protokoll gegebenen Schilderungen der Gläu­ bigen aus dem situativen Kontext eines Gnadenerlebnisses herausgelöst und in die vom Wallfahrtsautor entworfene und verwaltete Klassifikation der Mi­ rakel und Guttaten eingeordnet. Die Aufschreibepraktiken eines Wallfahrts­ 35 | Das anderte CENTUPLUM MARIANUM . Das ist: Hundert Aus viel Tausenden / Durch Hülff MARIÆ , der Wunderbarlichen Mutter GOttes / In ihrem Wunderthätigen Gnaden= Bild / Auff dem Ruprechts=Berg nächst Dorffen / Ihrer Zuflucht ergebenen / andächtigen Diener= und Dienerinnen entsprossenen Gutthaten, Freysing 1723, S. 50. 36  |  So in der Überschrift zum Mirakel- und Guttatenkapitel eines Heiligenstätter Mirakel- und Gnadenbuches. Gailler, Franciscus Salesius: Allezeit ausgestreckte Gnaden= Hand des heiligen Johannis des Tauffers / In seinem würdig / und uralten GOtts=Hauß zu Heiligenstätten auf dem Feld nächst Raisting / Allwo die Wallfahrt auf ein Neues durch vilfältige Wunder=WErck / und Gutthaten begünnet herfür zu blühen, München 1729. 37 | CENTUPLUM MARIANUM Das ist: Hundert aus viel Tausenten / Durch Hülff MARIÆ , der Wunderbarlichen Mutter GOttes / In ihrem Wunderthätigen Gnaden=Bild auf dem Ruprechts=Berg nebst Dorffen / Ihrer Zuflucht ergebenen / andächtigen Diener= und Dienerinnen entsprossenen Gutthaten, Freysing 1718, S. 48. 38  |  Über die Aufschreibepraktiken derjenigen, die an den Wallfahrtsorten die Gnaden­ erlebnisse aufzeichnen, ist in den Mirakel- und Gnadenbüchern kaum etwas zu erfahren. Volkskundliche Untersuchungen widerlegten jedoch bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die These des naiven Berichtes, der wortwörtlich in die gedruckten Bücher übersetzt wurde. Vgl. Schreiber, Georg: Deutsche Mirakelbücher. Zur Quellenkunde und Sinngebung, Düsseldorf 1938. 39 | Am weitesten verbreitet sind chronologische oder alphabetische Anordnungssystematiken. Zum Teil entwickeln die Mirakel- und Gnadenbuchautoren aber auch thematische Taxonomien. Insbesondere die Nähe zu enzyklopädischen Darstellungsformaten, die zeitgenössisch gemeinhin dazu dienen, Inhalte als Wissen auszuweisen, ist dabei augenscheinlich – und unterstreicht nochmals, dass die Mirakel- und Guttatenlisten keine subjektiven Gnadenerlebnisse einzelner Gläubiger abbilden.

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ortes bringen dabei – so lässt sich in Anlehnung an den Medientheoretiker Jack Goody formulieren – immer auch die Möglichkeit hervor, „das Gesagte auf vielfältige Weise zu überprüfen, zu manipulieren und neu zu ordnen“.40 Denn indem die Vielzahl der heterogenen Gnadenerlebnisse in eine Mirakelund Guttatenliste übersetzt wird, wird die Kontrolle über die Gnadenberichte auf die Wallfahrtsorte mit ihren Priestern, Pfarrern und Ordensgeistlichen übertragen.41

4. W allfahrtsanweisungen Die Mirakel- und Guttatenlisten gehen weit über die Darstellung der am Wall­ fahrtsort erlangten Gnaden hinaus. Jenseits eines „reinen Informa­ tions­ speicher[s]“ resp. einer bloßen Wissensdarstellung dienen sie immer auch als „Anleitungen zur selbstständigen Wissensaneignung und Verarbeitung“.42 Sie „veranlaiten“43 – wie die Quellen zeitgenössisch formulieren – die Wallfahre­ rinnen und Wallfahrer über die Bedingungen, unter denen ein Gnadenerleb­ nis aufgezeichnet werden kann. Wie sich bereits in den eingangs zitierten Auszügen des Dorfener Mira­ kel- und Gnadenbuches von 1727 andeutet, unterrichten die Mirakel- und Gut­ tatenlisten nicht nur über die Aufzeichnungspraktiken, sondern immer auch über die Verlöbnispraktiken und den Gebrauch religiöser Artefakte. Besonders ausführlich wird die Anwendung devotionaler Objekte jenseits des Wallfahrts­ ortes geschildert. Auf diese Weise unterstreichen die einzelnen Listeneinträ­ ge, dass die Verbindung zum verehrten Gnadenbild auch dann zu bestehen scheint, wenn die Heilung einer Wallfahrerin oder eines Wallfahrers abseits 40 | Goody, J.: Liste, S. 341. 41 | Die Übersetzung kann damit als „Prozess“ verstanden werden, „in dessen Verlauf die Identität der Akteure, die Möglichkeiten der Interaktion und der Handlungsspielraum ausgehandelt werden“ und im Zuge dessen die Wallfahrtsorte als legitime „Sprecher“ eingesetzt werden. Callon, Michel: Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung. Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 137–174, hier S. 146 u. 169. 42 | Damit weisen die Mirakel- und Guttatenlisten gewisse Parallelen zur frühneuzeitlichen Enzyklopädie auf, die nicht nur ein „selbstständiges Wissensmanagement“ ermöglichen, sondern zu diesem gleichermaßen erziehen. Zedelmaier, Helmut: Facilitas inveniendi. Zur Pragmatik alphabetischer Buchregister, in: Theo Stammen/Wolfgang E.J. Weber (Hg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädie, Berlin 2004, S. 191–203, hier S. 193. 43 | CENTUPLUM MARIANUM, 1718, Zuschrift.

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der Gnadenstätte, etwa am Heimatort, erfahren wird. Problemlos scheinen ver­ schiedene Kontaktpraktiken göttliche Gnade im Raum zu verteilen. In regel­ rechten Kontaktketten führen die einzelnen Einträge die unbegrenzte mediale Verfügbarkeit göttlicher Gnade aus. Auf einen Ursprungskontakt am Gnaden­ bild folgen weitere taktile Übertragungen, die beliebig weitergesponnen wer­ den können: In einem Mirakel- und Gnadenbuch des niederbayerischen Mari­ enwallfahrtsortes Haindling von 1738 ist beispielsweise die Schilderung einer Bäuerin verzeichnet, die berichtet, das Kind ihrer Nachbarin scheinbar leblos aufgefunden zu haben.44 Da die Mutter des Kindes vor lauter Schreck nicht in der Lage gewesen sei zu helfen, habe sie das Kind nach Haindling verlobt. Zur Bekräftigung „nahme [sie] ein an das dises Gnaden=Bild berührtes und geweythes Zeichen, legte es in ein Wasser, und gabe den dem An­sehen nach schon verstorbenen Kind etliche Tropffen ein, worauf das Kind mit gröster Verwunderung und Trost der Gegenwärtigen zu sich selbst kam, das Frau­ el aufruffte, und dem Augenblick besser ware“.45 Gnadenberichte dieser Art, die sich verbreitet in den Mirakel- und Guttatenlisten der Wallfahrtsliteratur im 18.  Jahrhundert finden, zeigen nicht nur die potentiell unendliche Über­ tragbarkeit göttlicher Gnade, sondern unterrichten die Wallfahrerinnen und Wallfahrer gleichermaßen über die scheinbar endlosen Kombinationsmög­ lichkeiten unterschiedlicher Verlöbnispraktiken. Diese Anpassungsfähigkeit göttlicher Gnade kann nicht losgelöst vom sozialen Kontext der Wallfahrt im 18. Jahrhundert untersucht, sondern muss als Reaktion der Wallfahrtsorte auf die zeitgenössischen Veränderungen der Frömmigkeitspraktik verstanden werden. Denn durch die Entwicklung der Nahwallfahrten verändert sich, wie oben gezeigt, die Zusammensetzung der Wallfahrtsgruppen, und die einzel­ nen Gläubigen begeben sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend al­ lein oder in Kleinstgruppen zu umliegenden Gnadenstätten. Im Zuge des grundlegenden zeitgenössischen Wandels unterrichten die gedruckten Mirakel- und Gnadenbücher die Gläubigen nicht nur über die Ver­ löbnispraktiken und Übertragungsformen göttlicher Gnade. Unter den verän­ derten Bedingungen des Frömmigkeitsvollzuges verlagert sich besonders ab der Mitte des 18. Jahrhunderts der Ort des Gnadenerlebnisses vom Körper der Gläubigen auf die schriftlichen Aussagen derer, die bereit sind, für das Ge­ schilderte mit ihrem Namen einzustehen. Ausführlich werden in den Mirakelund Guttatenlisten daher Zeugen, Atteste und schriftliche Anzeigen zitiert resp.,

44 | Schachtner, Bonifacius: Heiliges und Gnaden=volles Haindling / Das ist: Kurtze Beschreibung des uralten wunderthätigen Gnaden=Orth Und Wallfahrt Der Ubergebenedeytisten Jungfrauen und wunderbarliche Mutter GOT TES MARIÆ zu Haindling / Sambt denen Mirackeln und wunderthätigen Gutthaten […], o.O. 1738, S. 140f. 45 | Ebd.

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wie folgendes Beispiel eines Pollinger Exemplars belegt, in den Mirakel- und Gnadenbüchern wortwörtlich abgedruckt: „Ich Georg Graßmüller, Pfarrer zu Obersöchering, bezeuge mit meiner Handschrift den 17. July 1729. daß Rosina Fiermanninn ledigen Stands, von gedachten Obersöchering, mir bekennet habe: daß sie vor 15. Jahren, als noch ein kleines Mädchen, unversehens über einen Steg gefallen, und zwar so unglückselig, daß sie 2. ganze Jahre ungemeine Schmerzen an einem Fuße erlitten; während welcher Zeit sie von einem Orte zum andern mußte getragen werden, und nur diesen einzigen Vortheil noch hatte. Daß sie sich auf ihre Händ, und Stecken steuernd, einen armseligen Gang an den Bänken machen konnte. Alle angewandten Mittel haben nichts verfangen. Einsmals kam ihr im Schlafe vor das heil. Kreuz von Polling (welches sie mit einem theuren Eide zu bekräftigen urbietig) mit der Ermahnung: Sie soll mit ihrer Mutter nach Polling kirchfarten gehen, eine Landmünz in den Stock legen, und 3. Rosenkränze unterwegs bethen. In diesem erwachet sie, und voll Freuden wecket sie ihre Aeltern auf, und erzählet ihnen, daß sie keine Schmerzen mehr empfinde: es sey ihr das heil. Kreuz zu Polling erschienen, und sie müßen mit einander dahin wallfahrten gehen. Wie sie dann auch hernach mit ihrer Mutter, ohne allen Anstand, nach Polling gegangen, und alles fleißig verrichtet, auch bishero jederzeit ihre Weg und Steg gehen können. Uebrigens bezeuge auch, daß dieses Mägdlein eine gottsfürchtige Person sey, und ihre Aussage Glauben verdiene. m.p.“46

Im Zuge der Verschiebung vom Körper der Gläubigen hin zur Ordnung der Liste, in denen Zeugen und Fürsprecher für die Authentizität des Berichte­ ten mit ihrem Namen und Stand einstehen, wird deutlich, dass das Bedürfnis der Wallfahrerinnen und Wallfahrer, sich registrieren und verzeichnen zu las­ sen, stets ein konstruiertes bleibt und durch die Mirakel- und Gnadenbücher kommuniziert wird. Nicht Verinnerlichungspraktiken, die sich als Effekt des Frömmigkeitsvollzuges ergeben, stehen im Vordergrund.47 Vielmehr sind die Wallfahrer und Wallfahrerinnen durch die gedruckte Wallfahrtsliteratur im­ mer bereits dazu aufgefordert, Zeugnis von der erfolgreichen Kommunikation mit dem Transzendenten zu liefern: „Wann du bey disem Gnaden=Bild oder durch Verlobung zu selbem eine offenbare merckliche Gnad erhalten“, formu­ liert beispielsweise eine Anleitung zur Wieswallfahrt in Steingaden, Oberbay­

46 | Kurzer Bericht von dem wunderbarlich erfundenen Heil. Kreutze, welches nebst zahlreichen Reliquien der Heiligen in dem löbl. Gottshause der regulierten Chorherren des H. Augustin der Lateranischen Congregation zu Polling in obern Baiern augspurgischen Bißthums aufbehalten und verehret wird, München 1772, S. 117f. 47 | Solche Verinnerlichungspraktiken könnten etwa das Aufschreiben von Gnaden­ erlebnissen oder das Verfassen von Tagebüchern darstellen.

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ern, von 1749, „so zeige es auf der Wis oder zu Steingaden in dem Kloster der Ehrwürdigen Geistl. an, damit man selbe aufzeichnen könne“.48 In diesen Praktiken des Verzeichnens und Darstellens spiegelt sich erneut der Wandel der Wallfahrt im 18. Jahrhundert wider, denn wird das Gedächtnis der Praktiken auf Schrift und Artefakte ausgelagert, manifestiert sich die Wirkmächtigkeit eines Gnadenbildes und somit der Erfolg einer Wallfahrt nicht länger am Körper der Gläubigen allein. Aus medientheoretischer Perspektive können die Mirakel- und Guttatenlisten daher als ein „Mittel der Kon­trol­le“ und eine „Methode der Beherrschung“ verstanden werden, denn sie machen die Ein- und Übergriffe der Wallfahrtsorte sichtbar, die die Erfassung der Gnaden­ erlebnisse an bestimmte Modalitäten binden.49

5.  D ie O rdnung der L iste Die Gnadenschilderungen der Gläubigen werden – unabhängig davon, ob sie mündlich vorgetragen, als Votiv eingereicht oder mittels eines Attestes bezeugt sind – im Zuge mehrerer Übersetzungen in die gedruckten Mirakel- und Guttatenlisten übersetzt. Indem die Autoren der Mirakel- und Gnadenbücher die einzelnen Berichte nach Jahreszahlen, als Auswahl oder nach Krankheiten anordnen,50 verschwindet das subjektive Gnadenerlebnis der Einzelnen in der Ordnung der Liste. Diejenigen Berichte, die letztlich in einem Mirakel- und Gnadenbuch abgedruckt werden, stehen damit nicht für die Gnadenerfahrung Einzelner, sondern vielmehr exemplarisch für ein von der Taxonomie der Liste vorgegebenes Themenfeld. Die in den 1720er Jahren im Abstand weniger Jahre publizierten Mirakel- und Gnadenbücher des bereits genannten Marienwallfahrtsortes Dorfen werben in ihren Titeln etwa damit, ihren Leserinnen und Lesern eine aussagekräftige Auswahl von Hundert Aus viel Tausenden zu bieten.51 Der selektive 48 | Kurtzer Unterricht Wie ein frommer Wallfahrter Das auf der Wis in Ober=Bayern Steingadischer Pfarr berühmt die Geislung Christi vorstellende Gnaden=Bild recht nutzlich besuchen solle, Kauffbeyren 1749, S. 43f. 49 | Siegert, Bernhard: Passagiere und Passagen. Schreibakte auf der Schwelle zwischen Spanien und Amerika, München 2006, S. 34. 50 | Hermann Bach bezeichnet etwa als den kleinsten gemeinsamen Nenner der ansonsten recht unterschiedlichen Mirakelsammlungen „die Nennung und Herkunft des Votanten, Ursache des Gelöbnisses, Erhörung und Dank.“ Bach, H., Mirakelbücher, S. 28. 51 | Die einzelnen Gnadenberichte sind nach Krankheitsbildern und Symptomen geordnet und alphabetisch sortiert. Diese Kombinationen aus alphabetischen und thematischen Taxonomien gliedern verbreitet die bayerischen Mirakel- und Gnadenbüchern

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Charakter der Guttatenlisten wird in den Vorreden und Zuschriften der Mi­ rakel- und Gnadenbücher unterstrichen, die angeben, lediglich die eindrück­ lichsten und außergewöhnlichsten Berichte aus der Vielzahl der archivierten Gnadenerlebnisse „heraus zu ziehen“.52 In der Vorred des Dorfener Mirakelund Gnadenbuches von 1723 wird betont, es handle sich um „einen kleinen Außzug von den unzahlbaren Gnaden / und Gutthaten Mariä der wunderbar­ lichen / und grossen Gnaden=Mutter zu Dorffen“.53 Auch die Autoren anderer bayerischer Wallfahrtsorte unterstreichen stets, nur eine Selektion besonders einprägsamer Guttaten und Wunder abzudrucken. Bonifacius Schachtner, der Autor des Mirakel- und Gnadenbuches des Marienwallfahrtsortes Haind­ ling, bezeichnet seine Auflistung der erlangten Mirakel und Guttaten von 1738 als eine Auswahl, denn „[a]llhier kunten noch vil andere grosse Gnaden und Wohlthaten gesetzt werden, welche durch Vorbitt Mariä allhier seynd erhalten worden, allermassen kaum eine Kranckheit, oder was immer vor ein Anligen zu finden ist, allwo man bishero allhier nicht Hülff gefunden“ habe.54 Ebenso versteht Dominicus Gollowitz seine Kurze Beschreibung (1791) des Wallfahrtsor­ tes Bogenberg als Komposition aus jenen „Schriften, die [im] Stifte Oberalteich aufbewahret werden“.55 In anderen Fällen, so zeigt abermals das Haindlinger Mirakel- und Gnadenbuch von 1738, geben die Autoren vor, keine Mirakel oder Guttaten aufzunehmen, die „in dem vorigen Sæculo geschehen“ seien, schließ­ lich könne man diese in einem alten „Mirakel-Büchel“ bereits finden.56 In ähn­ licher Weise begründet auch der Neueste Bericht über den oberbayerischen Ma­ rienwallfahrtsort Vilgertshofen von 1750 seine Mirakel- und Guttatenauswahl, denn es „seynd schon verschidene theils lateinisch, theil teutsche Büchlein

im 18. Jahrhundert und lösen rein chronologische Sortierungen, die den Ordnungen der handschriftlichen Mirakel- und Gnadenbücher am Wallfahrtsort folgen, ab. 52 | Johann Philippus Sadeler: ARGUMENTA INEFFABILIS & INCESSABILIS MARIANÆ BONITATIS . Das ist: Vilfältige wunderbarliche Gutthaten So die vnendliche Majestät GOTTES erwiesen hat / In ansehung der Glorwürdigsten Verdiensten Und barmherzigisten Fürbitt Seiner Gebenedeytesten Jungfräwlichen Mutter MARIÆ . Vor hundert vnnd fünffzig Jahren / Als ersten Ursprung biß anhero Jährlich vnd vnaußsetzlich Bey dem weitberühmbten GOttshauß AuffKirchen. Gelegen am Wirmsee […], München 1666, Vorred An den guthertzigen Leser, o.S. 53 | Das anderte CENTUPLUM MARIANUM, 1723, Vorred. 54 | Schachtner, B.: Heiliges und Gnaden=volles Haindling, S. 357. 55 | Gollowitz, Dominicus: Kurze Beschreibung der in Niederbaiern gelegenen, berühmten Wallfahrt zu der wunderthätigen Mutter Gottes Maria auf dem Bogenberge, Straubing 1791, S. 6. 56 | Schachtner, B.: Heiliges und Gnaden=volles Haindling, S. 120.

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herausgegangen von denen Marianische Gutthaten, welche zu Vilgertshoven erhalten worden“.57 Der selektive Charakter der Listen legitimiert sich in den gedruckten Mi­ rakel- und Gnadenbüchern dadurch, dass die Vielzahl der erlangten Guttaten und Mirakel am Wallfahrtsort in der Kombination von Gnadenberichten und Votivgaben archiviert wird und zugänglich ist. Zwischen die Zeugnisse göttli­ cher Gnade, die am Wallfahrtsort in ihrer Gesamtheit auf bewahrt werden, und den exemplarischen Auszügen in den gedruckten Mirakel- und Guttatenlisten schieben die Wallfahrtsautoren jedoch paradoxerweise weitere Überblicksdar­ stellungen. Ein Dorfener Mirakel- und Gnadenbuch von 1718 setzt sich etwa, so steht in den Anmerckungen zu lesen, zum Ziel, den Buchinhalt nochmals auf­ zubereiten und die in der Mirakel- und Guttatenliste aufgeführten Gnadenerleb­ nisse zusammenzufassen. Die einzelnen Distinktionen, die nach Krankheiten und Symptomen klassifiziert sind, werden in ihrer summarischen Häufigkeit angegeben: „Uber 80 Krumm / und Lahmen. 20. Blinden. 200. Gehörlosen. 60 Hinfallenden. 40. Närrisch / und Corrupten. 60. Von Schläg getroffenen. 300. Von Leibschäden behafften. 200. Fraißsüchtigen. 150 Gliedersüchtigen. 30. Wassersüchtigen. 13. Dörr= und Lunglsüchtigen. 20. Kindern, welche in tieffe Wässer und Bronnen gefallen / eine Zeitlang unter dem Wasser gewesen / und schon für todt gehalten worden. 25. Persohnen / so von hochen Bäumen / und Tächeren bey 16. 20. 50. Sprißl hoch herunder gefallen. 15. Persohnen / welche seynd von dem Pferden 4. bis 500. Schritt geschleipffet worden. 16. Kindern / und anderen Persohnen / über welche gantz beladne Wägen gangen. 4. Stummen Persohnen. Vil tausende / so mit underschiedliche Zuständen / als mit hitzigen Kranckheiten / rothen Ruhr / Pedecken / Stain / Gries / Kopff= Zähn= und Grimmen Schmertzen / wie auch mit Gschwulsten seynd behafft gewesen. 300. Hartgebährenden Frauen. 57 | Neuester Bericht Von Der berühmten Walfahrt zu der Schmertzhafften und wunderbahren Mutter Gottes Mariae Zu Vilgertshoven In Ober-Land Bayrn zwischen Landesperg und Weilheim am oberen Lechrain gelegen, Landsberg 1750, o.S.

Szenen der Subjektivierung 70. Weibs Persohnen / so den Blutgang / und Mutter=Schmertzen gelitten. 7. Kindern / so nach der Geburt ein viertl oder halbe Stund für todt gehalten worden. Vill hundert Todt=Kranken / Blinden / Hinckenden / Verzaubert / und von der leidigen Pest inficirten Menschen / nit weniger auch denen Pferden / und Vich geholffen.“58

Allerdings bleibt im Dorfener Überblick offen, nach welcher Klassifikation und Systematik die einzelnen Einträge geordnet sind.59 Denn auch wenn typogra­ phische Elemente, wie Absätze, die Darstellung der Mirakel und Guttaten zu strukturieren scheinen, bleibt unklar, welche Ganzheit mit diesem Überblick dargestellt werden soll.60 Weder bezieht sich die Auflistung auf die Hundert aus viel Tausenten aufgeführten Gnadenerlebnissen, noch wird dieser Überblick den am Wallfahrtsort angegebenen Berichten und Votiven gerecht. In ihrer Vielfalt, so wird im Anschluss daran deutlich, wird die Wirkmächtigkeit gött­ licher Gnade nur in der Verschränkung von Körper-, Schrift- und Dingmedien fassbar, und so schließen die Anmerckungen des Dorfener Mirakel- und Gna­ denbuches von 1718 mit dem Verweis auf die „über 1000. Klein= und grosse Votiv=Taflen / mit denen zu unaußsprechlichen Trost aller Wallfahrtern seit­ her wenigen Jahren das Gottshaus allda über die Helffte von unten an bis an

58 | CENTUPLUM MARIANUM, 1718, S. 48ff. 59 | Michel Foucault verdankt seinem Unbehagen gegenüber frühneuzeitlichen Klassifikationen die Entstehung seines Buches Die Ordnung der Dinge. Siehe Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971, S. 17. 60 | Summarische Zusammenstellungen, wie exemplarisch die Anmerckungen aus einem Dorfener Mirakel- und Gnadenbuch von 1723, verzichten im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer häufiger darauf, die Anzahl der jeweils erhaltenen Heilungen und Genesungen in synoptischen Zusammenstellungen dieser Art zu nennen, vielmehr scheint in ihren Darstellungen die Mannigfaltigkeit göttlicher Gnade am Wallfahrtsort in den Vordergrund gerückt: „ ES zeigt sich aus denen Bücheren / worinnen die Bene­f icia eingeschrieben werden / daß durch Verehrung / und Anruffung der Wunderbahr­l ichen Mutter GOttes under ihrer Gnadenreichen Bildnus in der Kirchen auff dem Ruprechts=Berg zu dorffen seye geholffen worden / unzahlbaren Menschen in verschiedenen / auch schweris­t en Zuständen / und Nöthen / als Krumpen / und Lahmen / Blinden / Stummen / Gehörlosen / Hinfallenden / Unsinnig= und Corrupten / von Schlag getroffenen / mit Leib=Schäden behafften / Fraißsüchtigen / Gliedersüchtig= und Wasser­s üchtigen / Dörr= und Lungensüchtigen: Item in hitzigen Kranckheiten / Pedecken / rothen Ruhr / Blutgang / und Mutter=Schmertzen / in Kinds=Nöthen / in Verzauberung / in Wasser= Gefahren / in Todts=gefährlichen Fällen / in anhaltender Verzweifflung / in würcklichen Todts=Gefahren / in Stein und Grieß / Kopff= Zähn= und Grimmen=Schmertzen.“ Das anderte CENTUPLUM MARIANUM, 1723, S. 52.

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die Höche meist mehristen theils überhängt / und gleichsamb außspallieret ist“ und die den Gläubigen „zur Zeugnus“ dienen sollen.61 Der Auszug aus dem Dorfener Mirakel- und Gnadenbuch unterstreicht die Unzulänglichkeit schriftlicher Darstellungsformen, deren Klassifikationen die Gnadenerlebnisse immer nur teilweise abbilden können. Zwar transformieren die Praktiken des Aufschreibens und Übersetzens, wie Jack Goody in seinem Aufsatz zu Listen treffend formuliert, die „aufgeschriebenen Wörter“ bereits in den handschriftlichen Mirakellisten in „beständige Objekte“.62 Die Un­ erschöpflichkeit göttlicher Gnade jedoch, so lässt sich zuspitzen, kann durch die „Materialisierung des Gesprochenen“ nicht in ihrer Gesamtheit dargestellt werden, sondern zeigt sich gerade in der Unzählbarkeit wie Unfassbarkeit der erlangten Mirakel und Guttaten.63 „Unzahlbar vil andere“ Mirakel und Gut­ taten bleiben deshalb in den gedruckten Büchern stets ungenannt.64

6. S zenen der S ubjek tivierung In diesem Dickicht aus handschriftlichen Gnadenberichten, Überblicksdar­ stellungen, deren Referenzpunkt unklar bleibt, den thematisch, chronologisch und/oder alphabetisch geordneten Mirakel- und Guttatenlisten ebenso wie durch die Verflechtung von Aufschreibe- und Übersetzungspraktiken ver­ läuft sich die Spur der subjektiven Gnadenerlebnisse der Wallfahrerinnen und Wallfahrer. Denn die verzeichneten Guttatenberichte verweisen nicht auf die Gnadenerfahrung der einzelnen Gläubigen, sondern werden einerseits in ein Indiz transformiert, das die lokale Wirkmächtigkeit eines Gnadenbildes am Wallfahrtsort belegt. Die Mirakel- und Guttatenlisten der gedruckten Bücher beleuchten damit andererseits eine spezifische Konstellation, in der sich die Erfahrung göttlicher Gnade durch Einzelne mit den obrigkeitlichen Interessen einer Gnadenstätte trifft. So stellen die Mirakel- und Guttatenlisten zunächst die Möglichkeit zur Verfügung, Spuren überhaupt zu hinterlassen. Sie ver­ zeichnen „Leben von wenigen Zeilen oder wenigen Seiten, zahllose Unglücke und Abenteuer, zusammengefasst in einer Hand voll Wörter“65 und werden zu Orten, „an denen das Erzähltwerden, das Registriertwerden, das Beschrieben­

61 | CENTUPLUM MARIANUM, 1718, S. 50. 62 | Goody, J.: Liste, S. 340. 63 | Ebd. 64 | Gailler, F. S.: Allezeit ausgestreckte Gnaden=Hand, S. 70. 65 | Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen, in: Ders.: Schriften, Bd. 3 (1976–1979), hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Frankfurt a.M. 2003, S. 309–332, hier S. 310.

Szenen der Subjektivierung

werden aufhört, ein Privileg der Mächtigen zu sein“.66 Denn wären aus den Bürgern, Bauern und Handwerkern, den Ehemännern, Ehefrauen und Kin­ dern nicht Wallfahrerinnen und Wallfahrer geworden, die ihr Gnadenerlebnis am Wallfahrtsort zu Protokoll gegeben und geprüft hätten lassen, hätten sie weiter „zu jenen Milliarden Existenzen gehör[t], denen es bestimmt ist, ohne Spur zu vergehen“.67 Aufgeschrieben werden die Gnadenerlebnisse dabei jedoch nur, weil sich die Begehrlichkeiten des Einzelnen mit denen des kirchlichen Apparates in einem bestimmten Augenblick decken und die Momentaufnahme einer Bio­ graphie auf Papier festgehalten wird. Mit ihren gedruckten Mirakel- und Gnadenbüchern reagieren die Wall­ fahrtsorte im 18. Jahrhundert, wie gezeigt werden konnte, auf die Veränderun­ gen des Frömmigkeitsvollzuges und die Tatsache, dass sich die Wallfahrerin­ nen und Wallfahrer zunehmend der obrigkeitlichen Kontrolle zu entziehen scheinen. Dabei geht die Funktion der Bücher über diejenige eines reinen In­ formationsmediums hinaus. Vielmehr knüpfen die Gnadenstätten den Erfolg einer Wallfahrt an Praktiken des Verzeichnens und Protokollierens und werden als Anleitungsmedien schließlich selbst in den Vollzug der Frömmigkeitsprak­ tik integriert. Die Verwendung von Schrift in der Wallfahrt im 18. Jahrhundert dient damit nicht zur Reflexivmachung einzelner Gnadenerlebnisse, sondern vielmehr zur Stabilisierung vorhandener Frömmigkeitspraktiken. Dies hat Aus­w irkungen auf die Praktiken der Subjektbildung: Denn die Mirakel- und Guttaten­listen, die Atteste und (Über-)Prüfungen im Kontext der Wallfahrt re­ gistrieren lediglich Übergänge und Ereignisse, die für eine erfolgreiche Kom­ munikation mit dem Transzendenten stehen. Das Interesse liegt dabei nicht auf den Biographien der Gläubigen, sondern vielmehr auf dem Moment, an dem göttliche Gnade durch Authentifizierung evident wird. Verzeichnet wer­ den auf diese Weise keine Subjekte, sondern Szenen der Subjektivierung, denn das Kommunikationsereignis der Heilung reicht aus, um die Interessen eines Wallfahrtsortes mit dem Gnadenerlebnis des einzelnen Gläubigen zusammen­ fallen zu lassen.

66 | Siegert, B.: Passagiere und Passagen, S. 21. 67 | Foucault, M.: Das Leben der infamen Menschen, S. 314.

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Körper

Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen Eine Geschichte der Inszenierung von Weiblichkeit zwischen körperlichem Eigensinn und sozialen Praktiken im ausgehenden 16. Jahrhundert Christina Beckers Auf dem Friedhof der Alexandri-Kirche in Eldagsen im heutigen Niedersach­ sen kam es im Oktober 1596 zu ungewöhnlichen und Aufsehen erregenden Vorgängen. Im Beisein der örtlichen Autoritäten und Borchemänner [Burg­ männer] Conrad Wedemeyer und Johann von Jeissen barg der Totengräber ei­ nen Kasten, in dem sich das fünf Wochen zuvor totgeborene Kind der Margare­ tha Kahlen und ihres Mannes Hans befinden sollte. Die Öffnung bestätigte den Verdacht, der den Rat der Stadt zu der Exhumierung veranlasst hatte: In der Kiste befand sich „kein kindt, mit fleisch, vnd knoken“1, sondern eine Pup­ pe. Margaretha wurde daraufhin inhaftiert, sie und weitere Zeugen befragt und schließlich auch der Sarg eines im Dezember zuvor bestatteten Kindes der Margaretha ausgegraben, welches ebenfalls als Puppenkind identifiziert wurde.2 Die Beisetzungen der beiden Puppen sind im Kirchenbuch der Stadt bis heute ohne Korrekturen oder Kommentare nachgewiesen: „Dezember [1595] den [11] hans kalen ein [aborti] kind so abend geboren begraben worden“ und „September [1596] den [8.] ist hans kalen [ein ...] geboren kindt begraben worden.“ Ebenfalls findet sich dort für den 13. August 1596 die Eintragung über den Tod Hans Kahlens unehelicher Tochter Anna, auf die sich auch Mar­ 1  |  Niedersächsisches Landesarchiv – Hauptstaatsarchiv Hannover (im Weiteren: HStA Hannover), Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596. 2 |  Die Beisetzungen der beiden Puppen sind im Kirchenbuch der Stadt bis heute ohne Korrekturen oder Kommentare nachweisbar: „Dezember [1595] den [11] hans kalen ein [aborti] kind so abend geboren begraben worden“ und „September [1596] den [8.] ist hans kalen [ein ...] geboren kindt begraben worden.“ Kirchenbuch der Gemeinde Eldagsen, Evang. Kirchenbuchamt Hannover.

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garetha im Rahmen der Untersuchung als ihre „Stiefftochter, so nicht allzu vernunfftig“3 bezog. Zum Zeitpunkt der Täuschung befand sich Margaretha demnach in der Situation der von ihrem Mann betrogenen Ehefrau, die selbst aber „von Godt dem allmechtign nicht mit leibbfruchten gesegnett“ worden war. Dem Spott der Nachbarn ausgesetzt, zog Margaretha den Schluss, „dass sie dadurch nicht allein bey ihrem Eheman, sondern auch den nachbarrn inn Verachtung kom­ men“ sei. Da ihr Mann mit seiner außerehelichen Tochter Anna den Beweis seiner Fruchtbarkeit erbracht hatte, lag die Verantwortung für die ausbleiben­ de Schwangerschaft offenkundig bei Margaretha. Um zumindest die Mög­ lichkeit einer Mutterschaft und gemeinsamer Nachkommen für die Zukunft erwartbar erscheinen zu lassen, wählte Margaretha den kreativen, wenngleich irrational erscheinenden Weg, ihre Fruchtbarkeit anhand der fingierten Tot­ geburten vorzutäuschen. Sie riskierte so ein Verfahren, das ihr eine monate­ lange Inhaftierung einbrachte, eine Inquisition zahlreicher Zeugen durch den Großvogt in Anwesenheit des Scharfrichters notwendig machte, ihre Mutter und ihren Bruder sowie ihre Heimatgemeinde in Aufruhr versetzte und erst im Januar 1597 durch einen Schiedsspruch der juristischen Fakultät der Uni­ versität Helmstedt und eine Begnadigung im Namen des Herzogs Julius zu Braunschweig und Lüneburg4 zu einem Ende kam. Der soziale Druck, der sich aus der ausbleibenden Schwangerschaft für Margaretha zu ergeben schien, lässt sich als Indiz dafür werten, dass in der frühneuzeitlichen Wahrnehmung „eine wirkliche Frau [...] eigentlich nur die­ jenige [sei], die Mutter geworden sei“5; Fruchtbarkeit, Schwangerschaft und Mutterschaft mithin als Bedingung verstanden werden können, die für Aner­ kennung und Prestige von Frauen in einer Gemeinschaft notwendig waren.6 Der ähnlich gelagerte Fall der Isabella de Moerloose stützt diese These, wie u. a. Olwen Hufton herausgestellt hat: Die vermutlich aus Gent stammende Isabella heiratete einen älteren Witwer mit mehreren Kindern, ihre gemein­ same Beziehung blieb hingegen ohne Nachkommen. Nach dem Tod ihres Gat­ 3  |  HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Protokoll zum Verhör der Zeugen im Fall Margareta Kahlen durch den Großvogt Daniel Ludowig am 17. Nov. 1596, hier Margareta Kahlen. 4 | Heinrich Julius Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, Fürst von BraunschweigWolfenbüttel, siehe Brüdermann, Stefan: Heinrich Julius, Herzog zu Braunschweig-Lüneburg (Wolfenbüttel), in: Horst-Rüdiger Jarck u. a. (Hg.): Braunschweigisches Biographisches Lexikon: 8.–18. Jahrhundert, Braunschweig 2006, S. 324f. 5 | Opitz, Claudia: Zwischen Fluch und Heiligkeit. Kinderlose Frauen im späten Mittelalter, in: Barbara Neuwirth (Hg.): Frauen, die sich keine Kinder wünschen. Eine liebevolle Annäherung an die Kinderlosigkeit, Wien 1988, S. 78–120, hier S. 109. 6 | Siehe u. a. Labouvie, Eva: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln/Weimar/Wien 1998, insbes. S. 103ff u. 198ff.

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ten trat dessen Nichte an Isabella heran und bat sie, ihr den Windeltrockner aus dem Brautschatz zu überlassen, da sie ihn aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit wohl nicht mehr benötige. Diese Bezichtigung wog für Isabella so schwer, dass sie der Nichte gegenüber die Loyalität zu ihrem verstorbenen Ehemann brach und über dessen kontrazeptive Sexualpraktiken berichtete.7 Die ausbleibende Schwangerschaft in der Ehe setzte die Nichte mit Unfruchtbarkeit gleich, wel­ che Isabella als ehrschädigend empfand. Dass Fruchtbarkeit in der Ehe nicht allein Bedingung für soziale Anerken­ nung sein konnte, sondern Fruchtbarkeit und Schwangerschaft von Frauen auch als Kapital eingesetzt wurden, zeigen drei weitere spektakuläre Fälle aus Köln8, Esslingen9 und Rothenburg ob der Tauber10. In Köln täuschte 1558 Drutgin, die Frau des Weinhändlers Hans Weins­ berg, ihrem Mann eine aus nassem Papier in ihrem Nachttopf improvisierte Fehlgeburt vor, die vermeintlich auf einen zwei Tage zurückliegenden Streit zurückzuführen war. In der frühneuzeitlichen Körpervorstellung wirkten Er­ fahrungen, Erlebnisse und Eindrücke einer werdenden Mutter direkt auf die Leibesfrucht; dementsprechend galt es, Schwangere vor negativen Einflüssen zu bewahren. Die vermeintliche Fehlgeburt und der vorangegangene Streit legten den Schluss nahe, die Auseinandersetzung habe den das Ungeborene nährenden Blutfluss zum Stocken gebracht und zum Abort geführt. Zwar ent­ 7 | „En zij bekent dat Hoogentoren haar nooit ‚saet gegeven heeft‘ en dat zij hem vaak had gebeden ‚met gevouwen handen en gebogen knien, dat hy my liever niet meer aen roeren sou, als so verre brengen en dan verlaeten‘. Als de vrouw vraagt: ‚hoe verre?‘, antwoordt Isabella: ‚tot de intfanckenisse‘ en zij vervolgt: ‚Nicht, ’t is de meeste smerte of smaet die men een vrouw aen doen kann‘. Elders beklaagt Isabella zich opnieuw. Het was verkeerd wat haar man deed: ‚eerst de natuer opwecken en dan het saet wegsmijten.‘“ Isabella de Moerloose, Tractate, zit. nach Roodenburg, Hermann: De autobiografie van Isabella de Moerloose. Sex, opvoeding en volksgeloof in de zeventiende eeuw, in: Tijdschrift voor sociale geschiedenis 9 (1983), S. 311–342, hier S. 331f. Siehe auch Hufton, Olwen: The Prospect before Her. A History of Women in Western Europe, 1500– 1800, New York 1996, S. 262. 8 | Rublack, Ulinka: Pregnancy, Childbirth and the Female Body in Early Modern Germany, in: Past and Present 150 (1996), S. 84–110. 9 | Siehe u. a.: Jerouschek, Günter: Die Hexen und ihr Prozeß. Die Hexenverfolgung in der Reichsstadt Esslingen, Esslingen 1992; Pulz, Waltraud: Nahrungsenthaltung – ein gefundenes Fressen: Anna Ulmer (1527–1564) aus Esslingen und die anderen, in: Esslinger Studien 43 (2004), S. 81–103; Spinks, Jennifer: Monstrous Births and Visual Culture in Sixteenth-Century Germany, London 2009. 10  |  Rowlands, Alison: Monstrous Deception: Midwifery, Fraud and Gender in Early Modern Rothenburg ob der Tauber, in: Ulinka Rublack (Hg.): Gender in Early Modern History, Cambridge 2002, S. 71–101.

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deckte Hermann Weinsberg den Betrug seiner Frau, doch erkannte er die Täu­ schung als ihren Versuch, ihn auf sein gewalttätiges Verhalten ihr gegenüber aufmerksam zu machen und respektvollen Umgang einzufordern.11 Die als „Jungfrau von Esslingen“ bekannt gewordene Anna Ulmer täuschte mit einem übergroßen, aus Lumpen gefertigten Bauch gemeinsam mit ihrer Mutter eine Schwangerschaft mit einem „seltsam Monstrum vnnd Meer­ wunder“12 vor. Der Betrug, der sowohl auf das erwähnte Körperverständnis als auch auf den frühneuzeitlichen Wunderglauben gründete13, brachte der Fami­ lie zunächst zahlreiche Besucher und Almosen. Letztlich doch überführt, fand die Mutter als Hexe verurteilt 1551 auf dem aus dem Holz des eigenen Hauses errichteten Scheiterhaufen den Tod. Die Tochter wurde gebrandmarkt, einge­ sperrt und starb 1564 im Kindbett.14 Ebenfalls aus ökonomischen Gründen fingierte 1569 die Hebamme Anna Mullerin mit der schwangeren Anna Seitterin mehrere „Monstergeburten“, de­ nen Frauen der Nachbarschaft beiwohnten. Mullerin präsentierte die als „little sows and calves“15 bezeichneten Totgeburten in den Straßen der Stadt, sodass ein nicht unerheblicher Gewinn von Mullerin, Seitterin und ihrem Mann Hans Elmer erzielt werden konnte, bis auch sie überführt, gebrandmarkt und der Stadt verwiesen wurden. Aus den soweit skizzierten Fällen möchte ich zunächst zwei Schlüsse zie­ hen: Zum einen geben sie Einblick in frühneuzeitliche Körpervorstellungen, wie die Durchlässigkeit des (weiblichen) Körpers, die Verbindung zwischen dem Geschehen im (weiblichen) Körper mit der ihn umgebenden Welt bis hin zu transzendentalen Ereignissen sowie schließlich in die daraus resultieren­ den Konsequenzen für das gemeinschaftliche Leben. Diese kulturspezifischen Vorstellungen und zugrunde liegenden epistemologischen Schemata sind in der Forschung zu frühneuzeitlicher Körper- und Weltwahrnehmung viel­ fach aufgearbeitet und bilden die Folie für die Analyse der Betrugsver­suche 11 | Rublack, U.: Pregnancy, S. 84. 12 | Scherer, Georg: Christliche Erinnerung Bey der Historien von jüngst beschehener Erledigung einer Junckfrawen [...], Ingolstatt 1584, S. 54. 13 | Siehe hierzu Pulz, Waltraud: Tabula rasa? Vergeistigung des Fleisches und Materialisierung von Spirituellem, in: Peter Burschel/Christoph Marx (Hg.): Reinheit, Köln/ Weimar/Wien 2011, S. 177–196, hier S. 182: „Im Fall Anna Ulmers wurde der dicke Bauch analog zu einer mystischen Schwangerschaft als Teufelsschwangerschaft gedeutet und mit dem Interim in Verbindung gebracht, dem Eindringen falscher Lehre in die jungfräuliche Stadt.“ Zum frühneuzeitlichen Wunderglauben siehe Küppers-Braun, Ute/ Nowosadtko, Jutta/Walz, Rainer: Anfechtung der Vernunft. Wunder und Wunderglaube in der Neuzeit, Essen 2006. 14 | Spinks, J.: Mounstrous Births, S. 126. 15 | Rowlands, A.: Monstrous Deception, S. 75.

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Druitgens, Anna Ulmers und Anna Seitterins. Zum anderen zeigen die Fälle, dass Fruchtbarkeit und Schwangerschaft nicht allein als performative Wahr­ nehmungsakte einzelner Frauen zu verstehen sind,16 sondern soziale Bedeut­ samkeit erst dadurch erlangen, dass sie – eingebettet in ein komplexes System beobachtbarer und beobachteter Verhaltensweisen, Ereignisse und Zeichen – Schwangere, Artefakte und Koakteure zueinander ins Verhältnis setzten. Im Zusammenspiel der Artefakte, Akteure und Bedeutungssysteme werden Fruchtbarkeit und Schwangerschaft zu einem „Kapital“, das auf sozialer Ebene genutzt wurde, um Positionen zu verhandeln – sei es durch die Instrumen­ talisierung und Überführung des „körperlich“-symbolischen Kapitals in öko­ nomische Vorteile (Anne Ulmer und Anna Seitterin) oder in Bezug auf eine Frauengemeinschaft (die Herabwertung Isabellas durch die Nichte) und den Ehepartner (die unkorrekte Behandlung Druitgens durch Hermann) und – wie in Margarethas Fall – die gesamte soziale Umgebung.

1. F r agestellung und theore tischer A nsat z Während sich die bisherige Forschung vor allem auf die epistemologischen Be­ zugssysteme und Fragen nach weiblicher Körpererfahrung konzentriert hat, möchte ich im Folgenden den kreativen Umgang der Margaretha Kahlen mit ihrer anzunehmenden Unfruchtbarkeit als eine Form von agency 17 analysie­ ren, mit der sie als Teilhaberin, Beobachterin und Kennerin verschiedener in 16  |  In der Forschung wird oftmals die Bedeutung der Wahrnehmung der Kindsregungen durch die werdende Mutter für ihre Konstituierung als Schwangere in der prä-medikalen Gesellschaft hervorgehoben. M. E. ist diese Annahme zu einseitig. Sie berücksichtigt nicht die Relevanz beobachteter Verhaltensweisen und körperlichen Veränderungen der Frauen durch andere Gemeinschaftsmitglieder, die zur Annahme von Schwangerschaft führten. Ähnlich hierzu: Labouvie, E.: Umstände, S. 24f. 17 | „Ein sozialtheoretisch aufgeklärter Begriff [der agency, C.B.] im Horizont relationalen Denkens [...] bietet einen Zugang zu den dynamischen Prozessen, durch die Menschen ‚individual agency‘ in sozialen Praktiken produzieren – und damit gleichzeitig ermöglichende wie beschränkende ‚social structures‘ schaffen bzw. umsetzen. In solchen Praktiken spielen ‚embodiment‘, Dinge und Emotionen eine große Rolle. Die ‚Ordnungen‘, die in solchen Praktiken vorgenommen werden, können daher nicht – oder zumindest nicht nur – auf einen mentalen ‚inneren Ursprung‘ zurückgeführt werden.“ Raithelhuber, Eberhard: Ein relationales Verständnis von Agency. Sozialtheoretische Überlegungen und Konsequenzen für empirische Analysen, in: Stephanie Bethmann/ Cornelia Helfferich (Hg): Agency: Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit, Weinheim/Basel 2012, S. 122–154, hier S. 142.

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Zusammenhang mit Ehe, Fruchtbarkeit, Körperlichkeit und Schwangerschaft stehenden Praktiken ausgestattet war. Gleichzeitig verfügten auch die ande­ ren Akteure über Kenntnisse und Erfahrungen im Rahmen dieser Praktiken, ohne welche sie nicht in der Lage gewesen wären, die Inszenierung als das Inszenierte zu erkennen. In Anschluss an den Praxisbegriff von Theodore Schatzki18 und Elisabeth Shove19 verstehe ich menschliche Akteure in Praktiken als in unterschiedli­ chen Relationen (arrangements) von Vorgehensweisen und Sinnzuschreibun­ gen (competences), Bedeutungen (meanings) und Dingen (materials) sozialisiert und situiert. Damit unterscheidet sich die hierin vorgenommene Subjektivie­ rung und Selbstbildung von der Foucaultschen Selbstunterwerfung und der Butlerschen Reifizierung von Diskursen insofern, als dass Akteure im erfah­ rungsgeleiteten Umgang mit materiellen und immateriellen Gegebenheiten (Artefakten, Normen und Routinen), sensorischen Eindrücken (Geräuschen, Gerüchen, taktilen und Geschmackswahrnehmungen) und im Wechselspiel mit Koakteuren innerhalb eines sozio-materiellen Arrangements zeitlich und räumlich situierte Handlungsoptionen haben und -entscheidungen treffen können. Dabei können Artefakte, Körper und Mitspieler sich wechselseitig ­irritieren oder sogar „eigensinnig“ agieren; die Praxis entzieht sich dann den subjektiven Sinnzuschreibungen und fordert Anpassungsleistungen seitens der Akteure heraus.20 In Margarethas Fall kann die ausbleibende Schwanger­ schaft als Eigensinn ihres Körpers verstanden werden, der Margaretha die Möglichkeit nimmt, sich ‚natürlich‘ als das zu gestalten, was sozial von ihr als Ehefrau seitens der Gemeinschaft und ihres Mannes erwartet wird. Glei­ chermaßen können Akteure Artefakte als einem Ereignis innerhalb einer Pra­ xis zugehörig werten, der sie nicht entstammen. Dieser ‚situierte Affordanz­

18 | Schatzki, Theodore R.: The Site of the Social: A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park, Pa. 2002; ders.: Social Practices: A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996. 19 | Shove, Elizabeth/Pantzar, Mika/Watson, Matt: The Dynamics of Social Practice. Everyday Life and How It Changes, London 2012, bes. S. 23f. 20 | Siehe Schatzki, T. R.: Social Site, S. 73f., aber auch Villa, Paula-Irene: Subjekte und ihre Körper. Kultursoziologische Überlegungen, in: Monika Wohlrab-Sahr (Hg.): Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Fragestellungen, Wiesbaden 2010, S. 251– 276, hier S. 253f.: „Praxis ist keine Verkörperung von kulturellen Diskursen. Menschen sind keine wandelnden, zu Fleisch gewordenen Codes oder Semantiken. Die Lebendigkeit des Tuns fordert die Ordnung der Diskurse immer heraus. [...] Mir geht es damit um die manchmal produktive, auf jeden Fall aber systematische, immanente, unausweichliche Kluft zwischen kulturellen Codes einerseits und konkreten Praxen andererseits.“

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charakter‘21 einzelner Gegenstände, aber auch Geräusche und Gerüche werden im Zusammenhang mit Betrugsversuchen insofern bedeutsam, als beteiligte Akteure in der Einschätzung der Gebrauchs- bzw. Bedeutungseigenschaft übereinstimmen müssen:22 Die Identifikation der verunstalteten Welpen als Monstergeburten der Anna Seitterin funktioniert nur vor dem Hintergrund ihrer durch anwesende Nachbarinnen bezeugte Geburten sowie der Vorstel­ lung, dass Monstergeburten als Zeichen Gottes möglich sind und auftreten. Die ungewöhnliche Inszenierung der Monstergeburten zeigt die agency der Anna Seitterin und ihrer Hebamme; in ihr kommen die Erfahrung der ökono­ mischen Verwertbarkeit abnormer Geburten (knowledge), das Wissen um die Bedeutung wunderlicher Zeichen (meaning), die stoffliche Gegebenheit der Schwangerschaft und der toten Welpen (material) und schließlich die Fähig­ keit zur Gestaltung der „Monster“ und zur Vortäuschung der für eine glaub­ hafte Geburt notwendigen Abläufe (skills) zusammen und verdichten sich im Rahmen eines spezifischen sozio-materiellen Arrangements (und durch die­ ses hervorgebracht) zu einer gleichsam strategischen Handlung. Im Fall der Margaretha wird zu zeigen sein, dass aufgrund ihrer im Ort be- und anerkannten vermeintlichen Schwangerschaft und Fehlgeburt seitens ihrer Koakteure Sinnzuschreibungen körperlicher Merkmale der Margaretha und weiterer Artefakte vorgenommen werden, die keiner Suggestion ihrerseits mehr bedürfen. Darüber hinaus gestaltet und manipuliert Margaretha die sinnliche Wahrnehmung ihrer Koakteure so erfolgreich, dass sie in der Unter­ suchung ihres Falls große Schwierigkeiten hat, die Belegkraft dieser dinglichräumlich authentifizierenden Inszenierung zu entkräften. Umgekehrt kann so gezeigt werden, wie in Praktiken rund um Schwangerschaft und Geburt Dinge über Teilhabe, Erfahrbarkeit und Sinneswahrnehmungen Gemein­ schaft stiften und festigen. Hierin folgt der Ansatz neueren Forschungen zu Schwangerschaft und Geburt, in der

21 | „Affordanzen sind die funktionalen Eigenschaften von Dingen, Orten und Ereignissen für den Organismus, wobei jede dieser drei Umwelt-Kategorien meist mehrere Affordanzen hat. [...] Die für das Handeln eines Lebewesens relevanten Informationen über Umwelt-Eigenschaften sind in der umgebenden optischen, akustischen, olfaktorischen usw. Anordnung enthalten, sie brauchen nur entdeckt zu werden.“ Guski, Rainer: Wahrnehmen. Ein Lehrbuch, Stuttgart 1996, S. 46. 22 | Siehe in Rückgriff auf Gibson Nohl, Arnd-Michael: Pädagogik der Dinge, Bad Heilbrunn 2011, S. 190: „Vielmehr fordere der Briefkasten das ‚Versenden von Briefen von einem Briefe schreibenden Menschen in einer Gesellschaft mit einem Postsystem‘, seine Affordanz bezieht sich also […] auf den konjunktiven Transaktionsraum von Briefeschreiber(inne)n. Bei Dingen, die der Verwicklung mit den Menschen entkleidet sind, […] bleibt die Affordanz also wesentlich unbestimmter.“

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Da jedoch gerade in der Körpergeschichtlichen Genderforschung Schwanger­ schaft als weibliche Erfahrung stets gegen dekonstruktivistische Genderthe­ orien ins Feld geführt wurde,24 soll die Kategorie „Geschlecht“ in ihrer (An) Ordnungswirkung innerhalb der Praktiken auf der Ebene des Betrugs und auf der Ebene des Prozesses Berücksichtigung finden. Obwohl Margarethas Fall aufzeigt, dass sich im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt Geschlechterräume und -vorstellungen auf normativer Ebene nicht eindeutig trennen lassen, dokumentiert das Verhalten der beteiligten Akteure erkenn­ bare Hierarchien der Geschlechter und deutlich unterscheidbare Verhaltenser­ wartungen, denen man und frau entsprach. Schließlich lassen sich Praktiken als „temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings“25 beschreiben, die in dem Moment ih­ rer Durchführung Akteure und Dinge zueinander ins Verhältnis setzen, die wiederum in anderen Praxiszusammenhängen involviert waren, sind und sein werden. Daraus ergibt sich „at any moment [...] a gigantic, intricate, and con­ stantly metamorphosing web that forms the overall site of social existence.“26 Entsprechend muss dieses gigantische, komplexe und sich ständig verändern­ de Netz als transsituativer Kontext des jeweiligen Geschehens stets mitgedacht und in die wissenschaftlichen Untersuchung einbezogen werden. Diesem theoretisch-methodologischen Anspruch kann die Forschung kaum entspre­ chen, in der historischen Forschung kommt die Überlieferungssituation er­ schwerend hinzu. Dennoch lassen sich in der Auseinandersetzung mit dem Fall der Margaretha kulturelle Konventionen und sozial geteilte Vorstellungen (meanings), Wissensbestände und Fähigkeiten (competences) sowie Objekte und Strukturen (materials) nachweisen, die als Normen im erbaulich-theologischobrigkeitlichen Ehediskurs bzw. als (soziale) Praktiken des frühneuzeitlichen Bettelwesens, der Frauengemeinschaft in Zusammenhang mit Fruchtbarkeit 23 | Schlumbohm, Jürgen u. a.: Einleitung, in: Dies. (Hg): Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte, München 1998, S. 11–29, hier S. 13. 24  |  Duden, Barbara: Die Frau ohne Unterleib: Zu Judith Butlers Entkörperung. Ein Zeitdokument, in: Feministische Studien 11 (1993), S. 24–33. 25 | Schatzki, T. R.: Social Practices, S. 89. 26 | Schatzki, Theodore R.: The Timespace of Human Activity: On Performance, Society, and History as Indeterminate Teleological Events, Plymouth 2010, S. 209, siehe auch Schatzki, T. R.: Site.

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und Geburt oder Zauberei herausgearbeitet wurden.27 Ihr Zusammenspiel im zunächst irrational anmutenden Betrugsversuch der Margaretha geben diesen als ein sozial intelligibles und in diesem Sinne beobachtbares und sinnvolles Verhalten innerhalb einer sozio-kulturellen Gemeinschaft zu verstehen, die über diese Akte konstituiert wird. Vor diesem Hintergrund möchte ich aus einer praxeologischen Perspektive analysieren, wie Margaretha Kahlen ihre Schwangerschaften und Geburten darstellte, auf Grundlage welcher „Sehgewohnheiten“ und diskursiv veranker­ ten Wahrnehmungsdispositionen ihre Inszenierung glücken konnte und sie in einer über die verschiedenen Korrelationen von Bedeutungen, Artefakten und Koakteuren in geteilten Praktiken entstehenden Gemeinschaft von ihren Koakteuren als Schwangere anerkannt wurde. In einem ersten Schritt wende ich mich den kulturellen Konventionen und sozialen Vorstellungen zu, wie sie sich aus dem Fall rekonstruieren lassen und werde diese mit der oftmals in der Forschung herausgestellten frühneuzeit­ lichen Normativität der weiblichen Berufung zur Mutterschaft, der Ehe als Ort der Reproduktion sowie der Geschlechterhierarchie in Texten zum didaktischobrigkeitlichen Ehediskurs konfrontieren. Die Texte, die selbst als materiale Manifestationen einer Konfessionalisierungspraxis zu lesen sind, lassen Ko­ härenz im Verständnis einer modernen Rationalität oftmals vermissen 28 und belegen die Aushandlung zwischen praxisgebundenem Verstehen und dog­ matischen Normen. Die Analyse der Fall- und Prozessschilderung der Mar­ garetha Kahlen im Spiegel der normierend gedachten Eheliteratur zeigt so das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Normen und den Praktiken inne­ wohnenden kulturellen und sozialen Auffassungen (meanings). Im zweiten Schritt untersuche ich die im Betrugsversuch verwendeten Objekte und Strukturen sowie – soweit zugängig – die Wissensbestände und Kompetenzen der beteiligten Akteure. Es ist zu zeigen, wie Margaretha und ihre Mitspieler im Umgang mit Artefakten über die situative Deutungsüber­ einstimmung, aber auch ihre Erfahrbarkeit in Praktiken Authentizität und Ge­ meinschaft erzeugen und verstärken.

27 | Weitere relevante Praxiszusammenhänge sind anzunehmen, können aber in der Untersuchung keine Berücksichtigung finden. 28 | Siehe Braun, Manuel: Disziplinierung durch disziplinlose Texte? Der moraltheologische Ehediskurs und ein Leitparadigma der Frühneuzeitforschung, in: Daphnis 31 (2002), S. 413–467.

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2. D ie normierenden V orgaben und S pielr äume in G ebe ts - und E rbauungsliter atur Untersuchungen zu Ehe- und Familienbild in der Epoche der Frühen Neu­ zeit betonen den besonderen Stellenwert der Ehe für die gesellschaftliche Ord­ nung.29 Während in Gebets- und Erbauungsliteratur Geschlechterverhältnisse etabliert, verschoben und verhandelt wurden,30 sorgten obrigkeitliche Erlasse zu Eheanbahnungen, Eheverboten und Ehekonflikten sowie Scheidungen für gesellschaftliche Regulierungen des sozialen Miteinanders. Die Ehe wurde als einziger Ort legitimer Reproduktion etabliert, die aufgrund zahlreicher Heiratsbeschränkungen nur einem Teil der Bevölkerung möglich wurde.31 Daher kam es „nicht von ungefähr, dass fruchtbare, kinderreiche Ehefrauen von ihren Zeitgenossinnen beneidet wurden“.32 In theologisch-obrigkeitlichen Diskursen zu Ehe und Reproduktion nahmen Schwangere und Kindbetterin­ nen im alltäglichen Erleben eine privilegierte Position ein, die das Erleben von Schwangeren in der Gemeinschaft darstellt und die Verantwortung der Ge­ meinschaft gegenüber Schwangeren hervorhebt. Auch die für Calenberg re­ levante Kirchenordnung Grubenhagens mahnt beispielsweise nicht allein die Ehemänner, sondern die ganze Gemeinde, Schwangere nicht mit Arbeit und

29  |  Siehe Lanzinger, Margareth u. a.: Aushandeln von Ehe: Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 11. 30 | Siehe u. a. Schnell, Rüdiger (Hg): Text und Geschlecht. Mann und Frau in Eheschriften der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1997. 31  |  Siehe u. a. Westphal, Siegrid/Schmidt-Voges, Inken/Baumann, Anette: Venus und Vulcanus. Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit, München 2011; Schmugge, Ludwig: Ehen vor Gericht. Paare der Renaissance vor dem Papst, Berlin 2008; Roper, Lyndal: Das fromme Haus, Frauen und Moral in der Reformation, Frankfurt a. M. 1999, insbes. Kap. 4: Hochzeiten und Heiratskontrolle; Wunder, Heide: ‚Er ist die Sonn’, sie ist der Mond‘, Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 59; Roper, Lyndal: Hexen­ wahn. Geschichte einer Verfolgung, München 2007, S. 188: „Die Fortpflanzung ­w urde ganz in die Ehe verlagert, und eine wachsende Bevölkerungsgruppe – man schätzt zwi­ schen zehn und 20 Prozent – musste den Kinderwunsch aufschieben oder ganz auf­g eben.“ 32 | Roper, L.: Hexenwahn, S. 188.

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schweren Dingen zu belasten.33 Es ist anzunehmen, dass diese gesellschaftlich erwartete Haltung auch Margaretha bekannt und geteilt haben dürfte.34 In den Texten zur Gebets- und Erbauungsliteratur findet die Wertschätzung für Fruchtbarkeit ihren Ausdruck.35 Schwangerschaft wird als „ein Geschenk Gottes“ dargestellt, für welches die Frauen dankbar sein sollten. Damit dienen die Texte auch der konfessionellen Abgrenzung und insofern einer Aufwertung der Fruchtbarkeit und des Reproduktionsaktes, als zunächst die protestanti­ sche Literatur in Anschluss an Luther sich gegen die altkirchliche Vorstellung, „Frauen stünden bei der Geburt unter der Macht des Teufels“,36 wandten. 37 33  |  „XLI. Von den schwangern frauen und der ganzen gemeine und ihrer menner christlichem mitleiden. Es sol insonderheit ein ider parner die schwangern frauen und ihre menner, auch die gauze gemeine vermanen, alas sie mit stettigen gebett und sonsten die noch ungebornen kinder in mutterleibe dem Hem Chr[ist]o zutragen, und das sie die frauen in der zeit der reinigung mit arbeit und andern schweren dingen nicht benottigen und etwan zur mißgeburt und anderm ursach geben, immassen wie die kirchenordenung ausweisset.“ Zit. nach Sehling, Emil: Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Bd. 6, Tl. 2, Tübingen 1957, S. 1038 34 | Siehe hierzu z. B. Rublack, U.: Pregnancy, S. 2: „Clearly, women enjoyed a privileged position during pregnancy and lying in.“ In der Folge führt Rublack aus, wie auch Labouvie, E.: Andere Umstände; Wunder, H.: Sonn, wie stark Schwangerschaft und Mutterschaft gesellschaftlich und obrigkeitlich berücksichtigt wurden. Schwangere Straftäterinnen blieben von der peinlichen Befragung verschont, Galgen wurden aus Städten entfernt, um Schwangeren den Anblick zu sparen; die Anwesenheit von Schwangeren konnte die Vollstreckung von Todesstrafen verhindern, u. dgl. mehr. 35 | Eckhard Struckmeier stellt in seiner Untersuchung frühneuzeitlicher Seelsorge fest, dass in nahezu allen von ihm untersuchten Gebets- und Erbauungsbüchern Abschnitte und Kapitel zum Thema abgedruckt sind. Struckmeier, Eckhard: Vom Glauben der Kinder im Mutter-Leibe. Eine historisch-anthropologische Untersuchung frühneuzeitlicher lutherischer Seelsorge und Frömmigkeit im Zusammenhang mit der Geburt, Frankfurt a. M. 2000. 36 | Roper, L.: Hexenwahn, S. 207; hierzu auch Schormann, Gerhard: Hexenprozesse in Deutschland, Göttingen 1996, S. 70f: „Die gläubige Frau kann nach lutherischer Auffassung in keiner anderen Lebensphase ihrer Unbeflecktheit vor Gott sicherer sein als während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. [...] Den Altgläubigen wird vorgeworfen, sie behafteten die Kindbetterin mit dem Makel der Unreinheit, belasteten dadurch ihr Gewissen und schlössen sie als Unreine aus der Gemeinschaft der Gläubigen aus. Die Auffassung von der Unreinheit der Frau im Zusammenhang mit der Geburt wird als Inbegriff der katholischen Frauen-, Kinder- und Familienfeindlichkeit verurteilt. Die lutherische Hervorhebung des Heils der Kindbetterinnen soll zur Befreiung der Zeugungsfunktion der Frau vom Makel des Sündhaften und zur höheren Wertschätzung des Kindergebärens beitragen.“ 37 | „Wenn eine kindelbetterinne nach gehaltenen Sechs Wochen zur kirchen gehet, sol sie nicht, wie im Bapstumb geschehen, der meinung eingeleitet, aus oder eingeseg-

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Aus geschlechterhistorischer Perspektive ist hervorzuheben, dass Frucht­ barkeit nicht zu einem zwingend weiblichen Thema erklärt wird. Zwar wer­ den Schwangerschaft und Mutterschaft sowie die Geburtsarbeit als „Beruf der Frau“ dargestellt und gewürdigt, doch ist es das Paar, welches in der gestifte­ ten Ehe Nachkommen zeugen soll: Als Mann und Frau geschaffen, soll der Mensch sich fruchtbar mehren und die Erde Untertan machen. In Fortsetzung dieses Gedankens führt die natürliche Unfruchtbarkeit eines der Ehepartner in frühen reformatorischen Texten zur Nichtigkeit des Ehevertrags: „Hierauff wo ein Ehegemahel der natur halb zu der Ehe vntüchtig vnd vngeschickt ist/ So kan das selb kein rechte natürliche Ehe mit einem andern besitzen [...].“38 Zu diesem nachdrücklichen Schluss, der Margarethas Vortäuschung der Fruchtbarkeit als vorbeugende Maßnahme gegen die Grundlage einer mögli­ che Annullierung ihrer Ehe deuten ließe, kommen nicht alle Texte. Der Lehrspiegel von Gabriel Gunter aus dem Jahr 1595 erklärt auch für den Fall der Un­ fruchtbarkeit gelte es Geduld zu üben und sich der eigenen Fehler bewusst zu werden, mit denen man und frau sich gegenseitig zur Last fallen.39 Ausführlich widmet Heinrich Salmuth in seiner Haustaffel von 1583 ein ganzes Kapitel dem Thema der Unfruchtbarkeit, aus dem hervorgeht, dass die­ se Problematik offenbar kein seltenes Problem war. Er schreibt: „Das aber offt die Ehe nicht fruchtbar ist/ vnd Gott der Herr den Eheleuten nicht alzeit Kinder beschert/ das ist ein schweres Creutz. Denn es ist recht gesagt/ Coniugem fine prole, eft einftar mundi fine Sole, Gleich wie es ein elend vnd trawig ding were umb diese Welt/ wenn keine Sonne/ sondern eitel finsternis darinnen were: Also ist es ein

net werden, als were der Ehestand ein vnreiner Stand, und Kinder geberen ein Grewel für Gott, daß dadurch ein armes Weib von der Gemeine Gottes abgeschnitten würde: Sondern es sol allein ein erinnerung seyn, der grossen Wolthaten, so der liebe Gott, beyde Mutter und Kinde erzeiget hat, vnd ein Vermahnung zur Dancksagung. [...]“, KirchenOrdnung, Unnser von Gottes Gnaden, Julii, Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg, publicirt 1569 vnd 1615 revidirt, Hannover 1853, S. 146f. 38 | Brenz, Johannes: Wie yn Ehe=sachen/ vnd jn den/ fellen/ [...], Wittenberg 1531, S. 70. 39 | „[...] das it/ das sie beydes theils/ irer gebrechlichkeit sich erinnern/ Eines vber das andere sich nicht ergebe/ soltzire vnd prage/ keines dem andern seine gebrechen/ seine armuth/ seine geringe ankunfft/ sein nicht schön sein/ seines geschlechts Fall/ seine Kranckheit/ seine Unfruchtbarkeit/ vnd dergleichen auffrücke vnd fürwerffe: Sondern gedult trage/ gurre vnd bewinsele auch offte seinen Gebrachen/ besehe vnnd bespiegele sich wol/ so wird es an ihn so fiel finden/ das hinwiderumb auff andere wege auch sein Ehegenos/ mit ihn ein Creutz hat.“ Gutner, Gabriel: Lehrspiegel/ Braut und Breutigams/ Auch aller fromer Christlicher Eheleute [...], Freyberk 1595, S. 489.

Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen groß/ elend vnd schwer Creutz/ wenn vnser liber Herr Gott den Ehleuten keine kinder bescheren.“ 40

Die Unfruchtbarkeit ist als Werk Gottes zu verstehen und auch nach Salmuth besteht die Aufgabe der Eheleute darin, sich in Geduld und Gottergebenheit zu üben.41 Die Thematisierung der Unfruchtbarkeit, die Betonung der gegenseitigen Rücksichtnahme und Geduld und schließlich der Aufruf zum Verzicht des Vor­w urfes gegeneinander lassen sich „gegen den Strich“ als Indiz dafür le­ sen, dass in der Praxis mit eben jenem Verhalten zu rechnen war. So lässt Mar­garethas radikale Entscheidung, sich gegen die in den Texten propagierte Geduld und das Gottvertrauen in der Erfahrung ihres eigensinnigen Körpers selbst zur schöpferischen Gestalt zu figurieren, auf die fehlende Ordnungs­ wirkung der Texte schließen.42 Ähnlich scheint es sich mit der in der normativen Literatur angemahnten Ehehierarchie zu verhalten, welche Margaretha allerdings für sich zu nutzen weiß: Ihre zweite Fehlgeburt sei ihr widerfahren, als sie auf der Rückkehr aus dem Gerichte Lauenstein gewesen sei, ein Ausflug, den sie „ohne Ihres Mahn­ nes mitwissen, vnd willen“43 unternommen hatte. Sie sei krank geworden und habe das Bewusstsein verloren. Wieder erwacht, sei von dem Kind, welches sie trug, nichts mehr zu sehen gewesen „vnd da ja ein kindt verhanden gewesen sein muchte, wehr es vielleicht von den Hunden verschleifft wurden [...]“.44 Da­ nach, schildert Margaretha, seien ihr einige Leute zur Hilfe gekommen, unter anderem eine Ärztin, deren Namen sie nicht erinnert. Diese habe ihr angebo­ ten, sie „wolte das woll machen, das Ihr man solches [von dem vermeintlichen 40 | Salmuth, Heinrich: Christliche vnd Nützliche Erklerung, Der Haustaffel [...] Mit angehentem nötigem Vnterricht vnd Trost/ für vnfruchtbare Eheleute [...], Leipzig 1583. 41 | „So geschichts auch aus Gottes verhengnis/ das Eheleute offt vnfruchtbar sein/ darmit sie ihren glauben gegen Gott vnd seiner verheissung vben mögen/ desto fleissiger beten/ vnd Gott anruffen/ auch gedultig sein/ vnd sich dem gnedigen vnd väterlichen willen Gottes mit kindlichem gehorsam ergeben/ vnd sich in aller Gottseligkeit vben.“ Ebd., S. 353. 42 | Manuel Braun konstatiert die aus Perspektive einer modernen Rationalität widersprüchliche Ordnung in den frühen Ehelehren und führt diese auf die mündliche Situierung der Texte und ihren Bezug zur Praxis zurück. Daher besteht „[i]m 16. Jahrhundert [...] die Notwendigkeit, Kompromisse mit der Lebenswelt der Angesprochenen einzugehen, Traditionsbestände zu respektieren und gegenläufige Aussagen aufzunehmen.“ Braun, M.: Disziplinierung, S. 467. 43 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596. 44 | Ebd.

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Unfall, C.B.] nicht zuwissen kriegen solte, vnd die Arztin hab ihr solch kind gemacht.“45 Margarethas Ungehorsam gegenüber ihrem Mann, der ehrschädigend wir­ ken müsste,46 wird von ihr instrumentalisiert, um die Schaffung des Puppen­ kindes zu erklären. Gleichzeitig hält Margaretha weiterhin an ihrer vermeint­ lichen Fruchtbarkeit fest – sie gesteht zu diesem Zeitpunkt schließlich nicht, dass Schwangerschaft und Geburt vorgetäuscht waren, sondern erzählt die Geschichte der von Hunden verschleppten Fehlgeburt. Die Unfruchtbarkeit aber wäre den Ehelehren zufolge weniger ehr- und beziehungsschädigend ein­ zustufen. Hierin erinnert Margarethas Verhalten und Ehrwahrnehmung an den Fall der Isabella de Moerloose, beide wenden sich gegen die Vorstellungen der Eheliteratur, nach der sie sich nicht gegen den Willen ihres Ehemannes als ihren „Kopf“ richten oder übel gegen ihn reden dürften und zeigen so die fehlende normierende Wirkung der einschlägigen Literatur. Andererseits lassen sich auf der Prozessebene Unterschiede erkennen, die im Einklang mit der in der normativ-obrigkeitlichen Literatur skizzierten Geschlechterhierarchie stehen. An den Ermittlungen waren ausschließlich männliche Personen beteiligt: der Rat der Stadt, der Scharfrichter, die Amts­ personen vom Großvogt bis zum Landfiscal sowie Dechant und Doctores der juristischen Fakultät zu Helmstett. Frauen traten nur als Zeugen auf, auch die Hebamme wurde nicht als Sachverständige zu Rate gezogen, sondern le­ diglich zu den Vorgängen befragt.47 Von den sieben Männern, die Margaretha und andere Zeuginnen in ihren Schilderungen zu den Betrugsfällen erwähn­ ten, wurden lediglich ihr Mann, der Kaplan und ein Futterschneider befragt; 45 | Ebd. 46 | Zur Autorität in der Ehe und innerehelichen Machtbalance siehe Westphal, S./ Schmidt-Voges, I./ Baumann, A.: Venus, S. 132f. 47 | Labouvie, Eva: Beistand in Kindsnöten: Hebammen und weibliche Kultur auf dem Lande (1550–1910), S. 66 stellt für ländliche Hebammen heraus: „[V]ielfach fungierten sie als Zeuginnen von Geburten oder für Geburtsverläufe, selten als Gutachterinnen vor Gericht.“ Beispiele für Gutachterfunktionen finden sich u. a. bei Gleixner, Ulrike: „Das Mensch“ und „der Kerl“ Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtverfahren der Frühen Neuzeit (1700–1760), Frankfurt a. M./New York 1992, S. 55; auch in dem von Adriano Prosperi geschilderten Fall eines Kindsmordes untersuchen Hebammen als „Sachverständige“ die Beklagte, ob diese vor kurzem ein Kind geboren habe. Prosperi, Adriano: Die Gabe der Seele: Geschichte eines Kindsmordes, Frankfurt a. M. 2007, S. 19. Dülmen, Richard von: Frauen vor Gericht. Kindsmord in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1991, S. 40 weist allgemein auf die gängige Praxis der Konsultation von Hebammen in einschlägigen Gerichtsverfahren hin. HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596.

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benannte Frauen wurden außer der namentlich unbekannten Ärztin und der inzwischen verstorbenen Frau des Hein Heiffel aus Elze sämtlich in den Er­ mittlungen berücksichtigt, eine von ihnen, „Hans Raggen Frauen“, sogar mit Margaretha als potentielle Komplizin inhaftiert.48 Den Obrigkeiten ging es offenkundig nicht um die Aufklärung der Beweggründe der Margaretha, son­ dern um die Klärung, ob Margaretha möglicherweise lebende Kinder gehabt hatte, deren ungewisser Verbleib den Verdacht des Kindsmordes oder anderer unchristlicher (Zauber)Praktiken erweckte. Dringlich erschien ebenfalls die Frage nach der Täterschaft: Handelte Margaretha allein oder hatte sie Kompli­ zen? Das begangene Verbrechen gegen die „froliche Ufferstehung“ ließ eine Destabilisierung der örtlichen Gemeinschaft fürchten. Mit der den Fall im Januar 1597 abschließenden Feststellung der alleinigen Täterschaft der Mar­ garetha genügte zur Sühne und Wiederherstellung dieser Ordnung allein ihre öffentlichen Buße. Bis es zu dieser Feststellung kam, folgte das Verhalten der Akteure gän­ gigen Vorstellungen von Geschlechterrollen: Ähnlich dem Fall der Druitgen Weinsberg wusste Margaretha die in normativen Texten angemahnte Schutzund Mitleidsfunktion, die ihr Mann ihr gegenüber als ihr gemeinsamer Leib schuldig war, für sich zu nutzen. Als sie schließlich ihren Betrug zugab, nann­ te sie als Gründe zum einen die Lästereien der Nachbarn, die sie beenden woll­ te, und die Hoffnung, über den gemeinsam mit ihrem Mann erfahrenen Ver­ lust die Zuneigung ihres Mannes zu stärken: „[...] bey Ihrem Ehemann desto mehr gunst erwer=ben müste, daß sie auch darüber [den Verlust der Kinder] leiden [...].“49 Ähnlich argumentierte auch Margarethas Mutter Dorthia Kramer, die sich während deren Inhaftierung mit zwei Briefen an den Landfiscal wandte. Sie appellierte an die väterlich-fürstliche Barmherzigkeit des Landesherren,50 er möge aus fürstlicher Gnade und Barmherzigkeit „das arme Weib“ aus dem Gefängnis entlassen und in die Hände von Bürgen übergeben. Ihre Bitte unterstrich Dorthia in einer dreiteiligen „Verteidigungsstrategie“: Sie berief sich auf ihre Witwenschaft als weiblich-passive Schutzbedürftigkeit, die Ver­ dienste ihres verstorbenen Mannes, der „seit Kindesbeinen“ in den Diensten 48 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596. 49 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Gnadengesuch Dorthia Kramers an Landfiscal Conradt Heinemann vom 10. November 1596. 50 | Zur Verbindung zwischen Haus- und Landesvater siehe z. B. Harrington, Joel F.: Hausvater and Landesvater: Paternalism and Marriage Reform in Sixteenth-Century Germany, in: Central European History 25 (1992), 1, S. 52–75, Opitz, Claudia: Aufklärung der Geschlechter, Revolution der Geschlechterordnung. Studien zur Politik- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Münster 2002, insbes. S. 24ff.

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der Herzoge Erich des Älteren und des Jüngeren stand, als männlich-aktive und Verpflichtung generierende Handlungsmacht und schließlich die sozia­ le Einbindung und Sicherung in Form der potentiellen Bürgen.51 Diese mit der normativ-obrigkeitlichen Literatur übereinstimmende geschlechterspezi­ fische Unterscheidung zwischen weiblich-passiver Schutzbedürftigkeit und männlich-aktiver Handlungsmacht sowie die Bedeutsamkeit des sozialen Eingebunden-Seins zeigen sich auch im Auftreten des Frederich Kramer, der als Bruder der Margaretha beim Landfiscal vorstellig wurde (männlich-aktiv), die Sache seiner Schwester darlegte (weiblich schwach und sogar dumm) und Gnade auch im Namen der „gesamten Freundschaft“ einforderte.52 Die Einnahme der weiblich-schutzbedürftigen und untergeordneten Rolle bedeutete zwar eine Entlastung für Margaretha, doch nur im Tausch mit der Belastung ihres Mannes, der als ihr „Kopf“ für die Ereignisse verantwortlich zu machen sei.53 Daher sprach Margaretha selbigen explizit von jeder Schuld und Mitwissen frei und führte – hierin folgte auch die Argumentation ihrer Mutter – Unwissenheit, Verwirrtheit, Dummheit, Krankheit bis hin zum Wahnsinn ins Feld, um ihr Handeln zu erklären und somit sich und ihren Mann zu ent­ lasten und das Geschehene letztlich auf höhere Gewalt zurückzuführen: „[...] wann nun leider diese that auß lauter einfalt auch zum theil thumheit vnd wahnwitz begangen [...] darzu hatt sey vnser hergodt gekrenckett, das sey nicht gantz weiß gewesen [...]“54

51 | „Demnach gelangt Ihr E.h.g. meine gantz demutigen umb [Gotts] willen bitt, dieselbige mir armen wittwe gonstig enscheinen, dienst mein Zustandes[erland] vnd erbermlich wesen in meinem Alter gonstig erwegen.“ und „[…]dan ihr seliger Vatter benedic Kramer hatt [werlandt] herrzogen Erichen dem Eltern vnd Herrzogen Erichen dem Jüngern gedechtniß von Kindesbein auff gedienett […]“; in der Calenbergischen Musterungsrolle von 1585 ist in Gronau, dem angegebenen Wohnort der Mutter, Benedict Kramer als Bürgermeister geführt. Burchard, Max: Die Bevölkerung des Fürstentums Calenberg-Göttingen gegen Ende des 16. Jahrhunderts. Die Calenbergische Musterungsrolle von 1585 und andere einschlägige Quellen, Leipzig 1935, S. 272. 52 | Dorthia berichtet von diesem Besuch Frederichs, vgl. HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Gnadengesuch Dorthia Kramers an Landfiscal Conradt Heinemann v. 21. Nov. 1596. 53 | Westphal, S./Schmidt-Voges, I./ Baumann, A.: Venus, S. 106 f. Zum Spannungsverhältnis zwischen normativer Ehehierarchie und partnerschaftlichen Ehe als Ideal der Epoche siehe Lutz, Alexandra: Ehepaare vor Gericht: Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2006, insbes. S. 372 ff. 54 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Gnadengesuch Dorthia Kramers an Landfiscal Conradt Heinemann v. 21. Nov. 1596.

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und „Jn dem grasweg sey sie krank gewurden vnd ganz vnd gar thodt gewesen, vnd nirgendts was gewust [...] vnd Hein Heiffels frawe von Elze [...] wehre erstlich bey sie gekomen, vnd habe sie wieder erqicket“55

Soweit kann festgehalten werden, dass Margarethas Täuschungsversuch nicht auf dem Diskurs der Ehelehren fußte, welcher ihr – sofern er überhaupt nor­ mierend wirkte – Gottergebenheit abgefordert hätte. Auch ist die ausbleiben­ de Schwangerschaft nicht zwingend als weiblicher Makel zu verstehen. Eher lässt sich durch die angeführten Lästereien der Nachbarn die soziale Erwar­ tung an das Ehepaar greifen, welches sich reproduzieren und Nachkommen zeugen sollte. Die geschlechterspezifische Dimension der Vorgänge lässt sich vielmehr in den Rechtfertigungsstrategien und im Prozessverhalten erkennen, die den Normen in der Literatur durchaus folgen.

3.  M aterialität des B e trugs Die Bedeutung der Frauengemeinschaft in der Sorge für Schwangere, die An­ wesenheit von Nachbarinnen und die sich an Geburten anschließende nach­ barschaftliche Fürsorge oder Begleitung bei der Kindsbestattung ist in der For­ schung bereits dargestellt.56 Die Geburt war ein „Event“, an dem Nachbarinnen unter Leitung der Hebamme die Schwangere begleiteten; die „Geburtsarbeit“ hatte allgemeinen Vorstellungen und Mustern zu folgen, Abweichungen konn­ ten – sofern die Geburt in einer Totgeburt resultierte – zu Verfolgung und Verurteilungen führen. Um ihre Täuschung als Schwangere und damit fruchtbare Person zu eta­ blieren, benötigte Margaretha Kahlen Zeugen, die ihre Selbstformatierung als Schwangere anerkannten. Mehr noch, da „die Wahrheit einer gegenwär­ tig vermuteten Schwangerschaft [...] sich erst in der Zukunft, in der ‚Geburt‘ 55 | Ebd. 56 | Siehe hierzu Labouvie, E.: Beistand in Kindsnöten. Labouvie hebt die Frauen als „Begleiterinnen jener beiden besonderen ‚rites de passage‘ des Kindergebärens und der Kinderbestattung“ hervor: „Die Frauen des Dorfes, die schon bei den Geburten anwesend waren, waren zugleich Trägerinnen und Akteurinnen eines besonderen Totenbrauches, welcher für alle Kindbetterkinder, ob getauft oder ungetauft, ehelich oder unehelich, nachweislich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, wohl aber schon zuvor, galt.“ (Labouvie, Eva: Geburt und Tod in der Frühen Neuzeit. Letzter Dienst und der Umgang mit besonderen Verstorbenen, in: J. Schlumbohm u. a. (Hg.): Rituale, S. 289–307) – zu diesem Totenbrauch zählte auch die Bestattung frühgeborener Kinder, ebd. S. 297.

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erweisen [musste]“,57 brauchte Margaretha „Kinder“, die als solche anerkannt wurden. Um die Geburt selbst hatte Margareta die größte Schwierigkeit, die Frau­ engemeinschaft und Zeugenschaft der Geburten angemessen zu fälschen. Im Unterschied zu Anna Seitterin, bei deren „Monstergeburten“ die Anwesenheit mehrerer Frauen notwendig für das Gelingen des Betruges war,58 wäre Mar­ garethas Betrugsversuch durch die Anwesenheit von anderen stark gefährdet gewesen. Margarethas Ausweg aus dieser „Beglaubigungsproblematik“ doku­ mentiert die authentifizierende Wirkung der wechselseitigen Einbindung un­ terschiedlicher Akteure: Bereits bei der Schilderung der Geburt des zweiten Kindes59 auf dem Heim­weg aus Lauenstein benennt Margaretha die bereits erwähnte Frau Hein Heiffels aus Elze, die Ärztin, deren Namen sie nicht kennt, nebst deren Mann und Kinder, den Wagenlenker Redemeyer, der sie bis nach Eldagsen brachte und der aus „Holtensen bey Bredenbegk“60 kam, sodass er nicht zu den Ermitt­ lungen herangezogen wurde. Zuhause ließ sie dem üblichen Gang folgend die Raggische und die Bade­ mutter zu sich rufen. Diese erschienen nicht gleichzeitig, sondern berichten 57 | Duden, Barbara: Zwischen ‚wahrem Wissen‘ und Prophetie: Konzeptionen des Ungeborenen, in: Dies./Jürgen Schlumbohm/Patrice Veit (Hg.): Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, Göttingen 2002, S. 11–48, hier S. 17. 58 | Rowlands, A.: Monsterous Deception, S.73f.; auch im Beispiel der Monstergeburten zeigt sich die fehlende Affordanz der Dinge. Der Kontext der aufgeführten Geburt legte die Deutung der zerrissenen Welpen als Monstergeburten nahe, so nahe, dass auch der Blick des zur Untersuchung beauftragten Mediziners gelenkt wurde; ebd. S. 74. 59 | Das am 8. September 1596 bestattete Puppenkind. Diese zweite Beisetzung hatte wohl die Untersuchungen in Gang gesetzt, weshalb es in der Befragung zuerst be­ handelt wird. 60 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596; Holtensen, Bredenbeck liegt heute etwa 12 km nördlich von Eldagsen; auf dem Weg zwischen Eldagsen und Mehle liegt ebenfalls ein Ort Namens Holtensen, dessen Kirchbucheintragungen ebenfalls in denen der Gemeinde Eldagsen verzeichnet sind. Dort finden sich auch Einträge zu Personen mit dem Namen „Redemeyer“. Da Margaretha ihre Aussage, bis wohin sie Redemeyer mitgenommen hatte, zwei Mal korrigiert (zunächst bis zu den Wullfinghauser Teichen, dann bis zu den Hopfengärten, welche bei Holtensen vor den Toren Eldagsens liegen, und schließlich bis Eldagsen), kann man vermuten, dass sie auch die Korrektur, Redemeyer stamme aus dem weiter entfernt liegenden Holtensen ebenfalls nachträglich vorgenommen hat. Es ist nicht zuletzt diese mehrfache Korrektur ihrer Aussage, die den Rat an selbiger zweifeln und in Calenberg um Unterstützung bitten lässt.

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jeweils von unabhängigen Besuchen bei der Kahlischen. Jeder einzelnen und auch ihrem Mann Hans Kahlen versicherte Margaretha, die jeweils anderen hätten das Kind gesehen: Die Raggesche sagt aus, Margaretha habe ihr erzählt, das auf der Reise geborene Kind habe die Ärztin gesehen und versorgt, sie selbst beobachtete nur, wie Hans Kahlen den Sarg verschloss.61 Er wiederum gibt an, seine Frau habe ihm bei seiner Heimkehr am Nachmittag die Fehlge­ burt gestanden, die Raggische und die Bademutter hätten beide das Kind ge­ sehen, welches „so nicht geschaffen, das es Mennern gepüerete zu sehenden“. Kahlen fertigte einen Sarg an, den seine Frau zu sich in die Kammer nahm, das Kind hineinlegte, während er das Haus bis zum Morgen verlassen sollte. Nach seiner Rückkehr vernagelte er den bereits geschlossenen Sarg, was die Raggesche wiederum beobachtete.62 Die Fehlgeburt kommentiert Hans Kah­ len, er habe davon „mit schmertzen vernommen“. Im Fall des ersten Kindes63 berichtet die Hebamme, sie sei zunächst bei der Kahlischen gewesen, von dort weggerufen worden, da sie bei einer anderen Geburt gebraucht worden sei. Bei ihrer Rückkehr wäre es der Kahlen bereits „ungerade“ gegangen und diese habe ihr erzählt, das Kind „sey auch nicht ge­ wesen wie es woll hette sein sollen, vnd sie hab es selbst beneiget“. Im weiteren Verlauf bindet die Kahlische wiederum die Raggische und die Welosche in die Geschehnisse um die Geburt ein, ohne die Beziehung zu ihrem Mann zu vernachlässigen: Sie schickte die Raggische anstelle ihres Mannes, der zu sehr unter dem Verlust litt, zum Kaplan, um die Beisetzung zu bestellen und anzu­ geben, „das sie [die Raggesche] das kindt gestauffet, vnd wehr ein wacker Junge geweset, vnd hette ein Hoch Andlatt mit schwartzen Haren, gleich seinem Vater Hans Kahlen“.64 Die Welosche war Margaretha behilflich, den „Fluss“ zusammenzukehren. Margaretha gelingt es so, den beteiligten Akteuren handelnd Anteil an den Vorgängen zu verschaffen. Darüber hinaus beobachten sie Mitakteure und Ar­ tefakte (den Sarg, den Fluss) und erleben so Margarethas Erzählung bestätigt. Auch wird die geschlechterspezifische Beteiligung deutlich, die zwischen der Frauengemeinschaft und Hans Kahlen als Ehemann und Vater auch räum­ lich teilt: Während die Raggesche, die Hebamme und die Welosche Zutritt zum vermeintlichen Geburtsraum hatten, betrat Hans Kahlen diesen nicht 61 | Aussage der Raggischen nach HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596. 62 | Aussage Hans Kahlen nach ebd. 63 | Das am 11. Dezember 1595 beigesetzte Puppenkind, welches nach der Aussage der Hebamme ebenfalls exhumiert wird. 64 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596.

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einmal, um den Sarg hineinzubringen, sondern wurde sogar aufgefordert, das Haus selbst zu verlassen. Die Beschreibung des Kindes, welches sich angeblich nicht in einem Zu­ stand befand, dass es Männern zu sehen gebührte, mag als Ausrede gedient haben, Hans Kahlen an der Aufdeckung des Betruges zu hindern oder um vor den Obrigkeiten die Unwissenheit Hans Kahlens glaubwürdig erscheinen zu lassen. In beiden Fällen setzt dies die Annahme über die wahrscheinliche Akzeptanz dieser Aussage voraus und belegt weibliche Exklusivität der Erfahr­ barkeit von Geburt und an der Geburt beteiligter Körper. Nicht exklusiv ist hin­ gegen die Emotionalität in Bezug auf das Kind, wie die selbst getroffene Aus­ sage Hans Kahlens über den von ihm empfundenen Schmerz verdeutlicht.65 Verstärkt wird die oftmals in älterer Forschung in Frage gestellte Erwartbarkeit einer emotionalen Vater-Kind-Beziehung durch die erzählte Ähnlichkeit zwi­ schen dem vermeintlichen Kind und Hans Kahlen. Auch dies ist nur dann sinnvoll, wenn die Narration auf Margarethas Annahme beruhte, dass ihr Mann zu einem eigenen, ihm ähnlichen Kind eine besondere Bindung auf­ bauen müsste. Die Geschehnisse um die Geburt herum und die Sorge um die (vorge­ täuschte) Kindbetterin blieb dem Brauchtum entsprechend innerhalb der Frauengemeinschaft. Während im Fall der Anna Seitterin die Hebamme diese über die Vorgänge und den Verlauf einer Geburt genau aufklärte, damit sie das Vorgehen glaubwürdig inszenieren konnte,66 scheint Margaretha Kahlen genaue Vorstellungen davon und auch von Anzeichen einer Schwangerschaft gehabt zu haben, die – entgegen der häufigen Darstellung in der Forschung 65 | Literatur und Forschung zur emotionalen Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern sind umfangreich, für einen Überblick siehe Opitz-Belakhal, Claudia: PflichtGefühl. Zur Codierung von Mutterliebe zwischen Renaissance und Aufklärung, in: Ingrid Kasten/Gesa Stedman/Margarete Zimmermann (Hg.): Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung, Bd. 7), Stuttgart 2002, S. 154–170. Für Eltern-Kind-Beziehungen siehe auch Beer, Mathias: Eltern und Kinder des späten Mittelalters in ihren Briefen. Familienleben in der Stadt des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit mit besonderer Berücksichtung der Stadt Nürnberg, Nürnberg 1990. Bulst, Neithard u. a. (Hg.): Familie zwischen Tradition und Moderne. Studien zur Geschichte der Familie in Deutschland und Frankreich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 1981; Ozment, Steven: When Fathers Ruled. Family Life in Reformation Europe, Cambridge, Mass. 1983; Trepp, Anne-Charlott: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996. 66 | Rowlands, A: Monsterous Deception, S. 74: „She [Mullerin, C.B.] instructed Seitterin to hold the manufactured monstrosity between her legs in front of the opening of her vagina and pretend to be in the throes of childbirth.“

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– nicht allein auf ihre Zuschreibung hin Realität wurde, sondern von der Ge­ meinschaft beobachtet und anerkannt werden musste.67 Neben den Puppenkindern manipulierte Margaretha ihre körperliche Er­ scheinung und simulierte Körpervorgänge, die bei einer Schwangeren beob­ achtbar zu sein schienen: Zur Vortäuschung der Schwangerschaft hatte sie sich „als wen sie schwanger wehr gewesen, gestaldt, vnd eine Mützen neben einem Pelzlappen für den Leib gestochen“,68 um die Rundungen des schwangeren Körpers nachzuahmen. Die Geburt stellte sie vermutlich mit „Farbe von ei­ ner geschlachten Kuehe“ nach, wenn sie der eintreffenden Raggischen „Ihre Kleider vfgelichret vnd Ihr das hembt gezeiget, das dan dermassen gesehen, alswen sie ein Kindt gehabt hette, vnd wehre ein Vbel Geruch In der Cammer gewesen“.69 Ihre Erklärung zu den Vorgängen belegt ebenfalls Margarethas umfassendes Wissen um Schwangerschaft und Geburt und ihr gekonntes Spiel der zugehörigen Narrative und Praktiken, denn so sei es ihr ungerade gegangen, nachdem sie sich bei harter Arbeit verletzt hatte. Diese Darstellung bezieht sich wie der Fall der Druitgen Weinsberg auf die frühneuzeitliche Kör­ pervorstellung, nach der sich Ereignisse von der Schwangeren auf ihr ungebo­ renes Kind übertrugen. Neben diesen Zurichtungen ihres Körpers auf die Affordanz als gebärender Körper imitierte Margaretha den Milchfluss einer Gebärenden. Zwar erschien der Umstand, dass sich vor und nach einer Früh- bzw. Fehlgeburt selbiger ein­ 67  |  Zum Beispiel Lorenz, Maren: „als ob ihr ein Stein aus dem Leibe kollerte...“ Schwan­ ger­s chaftswahrnehmugen und Geburtserfahrungen von Frauen im 18. Jahrhun­d ert, in: Richard von Dülmen (Hg.): Körper-Geschichten (= Studien zur historischen Kulturforschung, Bd. 5), Frankfurt a. M. 1996, S. 99–121, hier S. 101: „Sie [die Schwangere] allein entschied, ob sie sich schwanger fühlte oder nicht und konnte gegenüber Hebammen und Ärzten auf ihrer Meinung beharren, während heute durch einen Schwangerschaftstest, oft schon nach wenigen Tagen, eine Definition zuerst von außen vorgenommen wird, die die Selbstwahrnehmung dann in die ‚richtigen‘ Bahnen lenkt.“ Michael Stolberg weist in Zusammenhang mit der von Barbara Duden angestoßenen Debatte über die Medikalisierung der weiblichen Schwangerschaftserfahrung und einer damit einhergehenden Entmündigung der Schwangeren darauf hin, dass auch Frauen vor dem 18. Jahrhundert sich nicht allein „auf ihre subjektive, leibliche Wahrnehmung [verließen], um zu entscheiden, ob sie schwanger waren oder nicht. Im Gegenteil: Sie erhofften sich von der Harnschau eine möglichst frühe Feststellung der Schwangerschaft – oder deren Ausschluss.“ Stolberg, Michael: Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 109f. 68 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596. 69 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Protokoll zum Verhör der Zeugen im Fall Margareta Kahlen durch den Großvogt Daniel Ludowig am 17. Nov. 1596, hier die Raggische.

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stellte, ihren Mitbürgern und den untersuchenden Beamten als seltsam, doch hinderte dies nicht daran, dass verschiedene Artefakte als Belege bewertet und vielleicht gerade deshalb Gerüchte gestreut wurden: „Wir [Rat und Bürgermeister der Stadt] haben auch von ander Leutten enn bericht, das sie gesehen, das die kalische nach dem ersten Kind, Ihre bruste ausgemelket vnd reine milch bekommen habe, woher solches geschehen konte, haet ein Jeder Leichtlich abzunehmen.“70

Diesen Berichten, die als hieb- und stichfeste Belege einer tatsächlich bestan­ denen Schwangerschaft gewertet wurden, wurde im Laufe des Verfahrens dezidiert nachgegangen, und Margaretha hatte erkennbar Mühe, ihre selbst kreierte Geschichte zu widerlegen.71 So erzählte die Raggische von einer Un­ terhaltung mit der Senischen, bei der letztere geschildert habe, „[s]o hette sie auch einsmahls zur bestrigkten [Margaretha] ins haus komen, vnd gesehen, das Ihr die milch für der geburt, durch den halsthuech gelauffen. darauf sie die Raggesche geandtwurttet: Solchs wehre Ihr seltzamb vnd wunderbahrlich, zuver=nehmen, das Ihr der Kahleschen die milch also für der geburt endtlieffe.“72

Dennoch erklärte auch die Raggische, „[w]ie sie den auch einsmahls glechsfals gesehen, das die ge=fangene frawen milch geklopffet, vnd davon Butter ma­ chen wollen“.73 Die Beobachtung des nassen Tuches erfährt durch verschiede­ ne Protagonisten Ausschmückungen. Bereits die Aussage des Rates verweist auf Berichte verschiedener Akteure, die das Ausmelken der Brüste beobachtet haben wollen. Im Laufe der Verhandlungen wurden vor allem die Raggische, aber auch zwei weitere Frauen befragt, ob die Kahlische ihnen die entblößte Brust gezeigt und Milch daraus gekommen sei. Keine der Frauen bestätigte dies, sondern verwies jeweils auf die Erzählung einer anderen. 70 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596. 71 | „Es hetten gleichwoll etliche Leutte gesehen, das sie nach dem ersten Kinde, Ihr bruste aus=gemolgken, vnd reine milch bekomen haben solle? Die gefangene kahlische negirt solches [steiff], vnd Veste, vnd wolle sich delfals vf alle frawen, welche mit Ihr Vmbgangen, gezogen haben“, HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Protokoll zum Verhör der Zeugen im Fall Margareta Kahlen durch den Großvogt Daniel Ludowig am 17. Nov. 1596, hier Margareta Kahlen. 72 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Protokoll zum Verhör der Zeugen im Fall Margareta Kahlen durch den Großvogt Daniel Ludowig am 17. Nov. 1596, hier die Raggische. 73 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Protokoll zum Verhör der Zeugen im Fall Margareta Kahlen durch den Großvogt Daniel Ludowig am 17. Nov. 1596, hier die Raggische.

Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen

Doch nicht allein Frauen beobachteten Margarethas Anzeichen der Schwan­ gerschaft. Das durchnässte Tuch der Kahlischen fiel auch Hans Wever, einem Futterschneider, der in ihrem Haus Futter geschnitten hatte und von Margare­ tha mit einem Frühstück versorgt wurde, auf und auch er führte es auf Milch­ fluss zurück.74 Dass die Interpretation der durchnässten Brustbekleidung nur in Verbindung mit dem durch Margaretha hergestellten Kontext funktionier­ te, also einer der Praxis immanenten Bedeutungszuschreibung folgt, die den Rahmen für die Interpretierbarkeit bot, zeigt die Aussage der Wöhlischen. Die­ se berichtet, sie sei einst mit der Kahlischen gemeinsam auf dem Rückweg vom Amt Calenberg gewesen, bei welcher Gelegenheit sich diese „beklagt, das die milch sie sehr drengte“. Gleichzeitig beobachtete die Wöhlische, „das Ihr der Halsthuch für den brüsten naß gewesen“.75 Ein expliziter Hinweis auf ei­ nen Zusammenhang seitens der Kahlischen war überflüssig. Ähnlich verhält es sich mit dem von Hans Wißels Frau geschilderten Ereig­ nis. Albert Erholz aus Hildesheim habe ihr nämlich erzählt, „das die kalische die [nacht] so große pheyn wegen der milch gehabt, das sie die ganze nacht gewinget hette“. Auf diese Kunde hin, schickt sie der Kahlischen „ein wenig derbe milch [...] darauf zuleggen“. Ihrer Aussage nach berichtete ihr Hans Kah­ len später, diese Umschläge hätten seiner Frau „woll gehollfenn“.76 An den Beispielen zum Milchfluss wird deutlich, dass Margaretha Kahlen – möglicherweise durch eine ursprüngliche Falschzuschreibung eines Beob­ achtenden – lediglich den Kontext der Schwangerschaft herstellen musste, um eine entsprechende Sinnzuschreibung durch ihre Umgebung zu beeinflussen. Selbst die Skepsis, die die Raggische äußerte, wog nicht schwer genug, um die Zuschreibung in Frage zu stellen.77 Erst in der Befragung durch den Landvogt und in Anwesenheit des Scharfrichters deckt Margaretha das „Geheimnis“ des nassen Busens auf, welches nach ihrer Meinung gar kein Geheimnis gewesen 74  |  HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Dokumentation der vom Rat der Stadt eingeholten Zeugenaussagen im Fall Margaretha Kahlen v. 22. Nov. 1596. 75  |  HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Großvogts Daniel Ludowig an Landfiscal Conradt Heinemann über von ihm eingeholte Zeugenaussagen v. 9. Dez. 1596. 76  |  HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Dokumentation der vom Rat der Stadt eingeholten Zeugenaussagen im Fall Margaretha Kahlen v. 22. Nov. 1596. 77 | Vor dem Hintergrund der frühneuzeitlichen Vorstellungen von Schwangerschaft ist dies wenig verwunderlich. Zwar dürfte ein ungefährer Normalverlauf von Schwangerschaften bekannt gewesen und erwartet worden sein, doch erschüttern abweichende Schwangerschaftsverläufe nicht zwingend den Glauben an dieselben. Siehe hierzu u. a. Lorenz, M.: Schwangerschaftswahrnehmungen, S. 107: „Schon vor Monaten hatte das Ehepaar Kindsregungen mit bloßem Auge gesehen und durch Handauflegung gespürt. [...] Der Ehemann wies noch nach 32monatiger Schwangerschaft alle Vermutungen über eine Mola entrüstet zurück.“

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sei und daher eine andere, richtige Zuschreibung seitens ihrer Umgebung er­ laubt hätte: „das sie hiebeuoren einen schwereren schaden, so Ihr der Balbirer Zue zween vnterschiedtlichen mahlen, [eroffnen] müssen, (Inmassen solchs etzlichen leutten bewust), vnters brüsten getragen, vnd daraus viel eyters gan=gen wehre. Darauf sie das [laess] wie mans nemet, gelegt, welchs sich durch den brust: od halstuch also gezogen.“78

Margaretha gibt zu, zunächst die Interpretation selbst geliefert zu haben, in­ dem sie der Raggischen bei einem Besuch neben dem durchnässten Tuch eine Schale Milch und Butter gezeigt und behauptet habe, dabei handle es sich „fra­ wen milch, vnd die butter, frawenbutter“.79 Neben ihren körperlichen Manipulationen, die für Koakteure beobachtbar waren, bot Margaretha also materiale Impulse, ihre Schwangerschaft für ihre Mitspieler physisch erfahrbar werden zu lassen. Diese Erfahrung der Schwan­ gerschaft wird bei Hans Kahlen am deutlichsten. In seiner ersten Aussage entschuldigt er sein Unwissen zu den Vorgängen und beteuert, „das er sei­ ner frawen dabevor die frucht ihres leibes gefölet, das sie ein lebendig kindt getragen“.80 Zu einem viel späteren Zeitpunkt des Verfahrens dazu befragt, bestätigt Margaretha diese Erfahrung ihres Mannes, doch weiß sie diese auch anders zu bewerten: „Solchs wehre so, es hette aber dasselbe die Mutter, wie dan des Weibers offt begegenen solle, sie es auch von andern frawen gehöret, vnd als empfunden, gethan.“81 Soweit kann festgehalten werden, dass Margaretha über die Verbindung von Deutungsangeboten (meanings), Wissen um angemessene Handlungen und notwendige soziale Einbettung (competences) sowie Artefakten ein Inter­ pretationsangebot schuf, dass durch die Anerkennung ihrer Mitspieler zur so­ zialen Realität wurde, innerhalb derer Ereignisse (ihr Wehklagen), Artefakte (Frauenbutter, Tuch, Hemd) und sensorische Eindrücke, wie der üble Geruch in der Kammer, so selbstverständlich interpretiert wurden, dass sogar Wissen um mögliche Gegenbeweise ausgeblendet wurden. So wusste beispielsweise die Raggische, dass die Kahlische am Tag bevor diese ihr das von der vermeint­ 78  |  HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Großvogts Daniel Ludowig an Landfiscal Conradt Heinemann über von ihm eingeholte Zeugenaussagen v. 9. Dez. 1596. 79  |  HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Großvogts Daniel Ludowig an Landfiscal Conradt Heinemann über von ihm eingeholte Zeugenaussagen v. 9. Dez. 1596. 80 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596. 81 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Protokoll zum Verhör der Zeugen im Fall Margareta Kahlen durch den Großvogt Daniel Ludowig am 17. Nov. 1596, hier Margareta Kahlen.

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lichen Geburt lädierte Hemd zeigte, Blut von einer Kuh geholt hatte und den­ noch schürte dies ihr Misstrauen nicht.82 Auch wird deutlich, dass nicht die Anzeichen allein zu einer glaubwürdi­ gen Verkörperung der Schwangerschaft und damit Fruchtbarkeit genügten; Margarethas Inszenierung bedurfte einer Einbettung, die über die Frauenge­ meinschaft hinausgehend ihres Mannes und weiterer männlicher Beobachter bedurfte.83

4. T äuschungspr ak tiken und Z auberei Es stellt sich die Frage, woher Margaretha die Kenntnisse für eine solche um­ fassende Täuschung beziehen konnte, Kenntnisse als das „Wissen um“ (know­ ing that) und „Wissen wie“ (knowing how).84 Dass Margaretha ohne Hilfestel­ lung diese Täuschungen vorgenommen haben sollte, erstaunte vor allem die männlichen Ermittler – zumal Margaretha und ihre Mutter im Verfahren ge­ konnt die Karte der verwirrten, kranken, unwissenden und gar von Geburt an dummen Weibsperson zu spielen wussten.85 Allerdings lassen sich verschiedene Praxiszusammenhänge denken, inner­ halb derer Margaretha Erfahrungen sammelte, Kenntnisse über Deutungen, Abfolgen und involvierte Mitspieler erlangte. Zum einen ist die bereits er­ wähnte Frauengemeinschaft und Integration hierin zu nennen. Zwar wird von Margaretha und auch ihrer Mutter das Gerede der Leute über ihre Unfrucht­ barkeit als maßgeblicher Grund für ihren Betrug angeführt, doch legen Initi­ ationsrituale für frisch verheiratete Ehefrauen eine theoretische Einführung 82 | Wobei festgehalten werden muss, dass nicht bekannt ist, wer den Fall zur Anzeige brachte. Mindestens einem der Mitspieler müssen doch Zweifel gekommen sein. 83 | Siehe hierzu Labouvie, E.: Andere Umstände, S. 33, wenngleich für dörfliche Gemeinschaften: „Die Dorfgemeinschaft übernahm vielfach die Funktion der Beobachtung, Reglementierung und Kontrolle, der Diagnose und Hilfe, der Befragung und Zeugen­s chaft, der Vermittlung und Konfliktregelung zugleich.“ 84 | Ryle, Gilbert: Knowing How and Knowing That: The Presidential Address, in: Proceedings of the Aristotelian Society 46 (1945/46), S. 1–16. 85  |  So z. B. Dorthia: „[…] wann nun leider dieese that auß lauter einfalt auch zum theil thumheit vnd wahnwitz begangen, vndt durchaus zu keinem bosen ende oder schrechlicher meinung fürgenoohmen […]“HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Gnadengesuch Dorthia Kramers an Landfiscal Conradt Heinemann v. 10. Nov. 1596 und „[…]So mügen wir Eurer […] gunst nicht verhalten, das die frauwe ist vor zweye Jahren […] irre vndt krank […] gewesen, das sie nicht gewust waß sie gethan hatt, […] darzu hatt sey vnser hergodt gekrenckett, das sey nicht gantz weiß gewesen […]“ HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Gnadengesuch Dorthia Kramers an Landfiscal Conradt Heinemann v. 21. Nov. 1596.

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in die Thematik nahe.86 Noch deutlicher weisen wiederum die Kirchenbücher der Stadt darauf hin, dass Margaretha durchaus in Geburtspraktiken anderer Frauen eingebunden war. So tritt Margaretha in wenigstens zwei Fällen zwi­ schen 1593 und 1597 als Patin in Erscheinung.87 Dass Margaretha Anteil hatte am Austausch über Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt als Teil einer female sex culture, zeigt die Aussage der Bademutter, die im ersten Täuschungs­ fall die Beteiligung von mindestens drei Frauen an Margarethas „Fehlgeburt“ über einen Zeitraum von drei Tagen dokumentiert.88 Die materiale Gestaltung der Puppenkinder und die Angabe zum Zeit­ punkt der Fehlgeburt etwa 13 Wochen vor dem erwarteten Geburtstermin be­ legen Margarethas Vertrautheit mit Vorstellungen embryonaler Entwicklung, dem üblichen Umgang mit Neugeborenen und auch der Anteilnahme ihres Ehemannes am Fortschritt der Schwangerschaft – schließlich war er es, der den Zeitpunkt der Geburt in Bezug auf den Fortschritt der Schwangerschaft benannte.89 Die überlieferte Beschreibung der Puppen gewähren Einblick in Marga­ rethas Kenntnisse und Vorstellungen über die embryonale Entwicklung: Sie sind aus unterschiedlichem Material gefertigt, aus Stöcken die erste, aus Schä­ ben, holzartige Bruchstücke der Stängelrinde, die bei der Entholzung von Pflanzenstängeln in der Erzeugung von Bastfasern anfallen,90 und Tüchern 86 | Siehe Labouvie, E.: Andere Umstände, S. 36. 87 | Kirchenbuch der Gemeinde Eldagsen, Evang. Kirchenbuchamt Hannover. 88  |  HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Dokumentation der vom Rat der Stadt eingeholten Zeugenaussagen im Fall Margaretha Kahlen v. 22. Nov. 1596. Dazu Jütte, Robert: Lust ohne Last: Geschichte der Empfängnisverhütung von der Antike bis zur Gegenwart, München 2003, S. 104: „Wie die neuere Geschlechterforschung herausgefunden hat, gab es nicht nur in der Vormoderne eine von Frauen geprägte Lebenswelt, zu der auch eine ‚female sex culture‘ (Patricia Crawford) gehört, in der offen über Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt gesprochen wurde. Das galt insbesondere für die verheirateten Frauen. Aber auch Ledige hatten an diesem Informationsfluß durchaus Anteil, wie zahlreiche Quellen belegen.“ 89 | „[...]das Hans Kahlen sie gebetten, das Leutten zubestellen, vnd Ihr gesaget, das das kindt vf 13 Wochen nach die rechte Zeitt erreichet [...]“,HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Protokoll zum Verhör der Zeugen im Fall Margareta Kahlen durch den Großvogt Daniel Ludowig am 17. Nov. 1596, hier die Raggische. 90 | Siehe u. a. Waskow, Frank: Hanf & Co: Die Renaissance der heimischen Faserpflanzen, Göttingen 1995, S. 119–124. In zeitgenössischer Literatur und Lexika findet sich die „Schefe“ oder „Schebe“ hauptsächlich in Zusammenhang mit der Flachsproduktion. Die Schefe diente (und dient heute noch) als Düngemittel und Einstreu in Viehställen. Siehe u. a. Bernhard, Johann E.: Auszüge aus den hannoverischen Beiträgen von 1760, in: Ders.: Physikalisch-oekonomische Auszüge aus den neuesten und besten

Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen

das andere. Mindestens eine der beiden Puppen stattete Margaretha mit einem künstlichen Nabel aus („ein Wersell so dem Kind der Nabell sein soll“), den Kopf der zweiten Puppe fertigte sie aus einer halben Walnuss. Beide Puppen waren mit Garn umwunden, gekleidet und eingewickelt.91 Die Kleidung und das Wickeln der Puppenkinder belegen, dass Margaretha wusste, wie mit Neu­ geborenen umzugehen war, um den Betrug möglichst authentisch erscheinen zu lassen. Auch die Imitation des Nabels mag dem Bemühen um Authentizität geschuldet sein. Die herausragende Rolle des Nabels im Geburtsvorgang füh­ ren unter anderem Gerichtsprozesse zu Kindsmorden vor Augen, bei denen die Ursache für die Durchtrennung desselben als Indiz für oder gegen einen Mord sprechen konnte.92 Allerdings rücken Nabel und die Umwicklung der Puppen mit Schnur die Imitation auch in die Nähe beschwörender Rituale und Praktiken im Volksglauben, auf die ich weiter unten zurückkommen werde. Die Authentizität der Puppen in Bezug auf Größe und Proportionen lässt sich nicht eindeutig einschätzen, da die als Kopf verwendete Walnuss zwar einen groben Anhaltspunkt gestattet, doch variieren Walnüsse, zumal vor der Einführung landwirtschaftlichen Qualitätsnormen, in Länge und Durchmes­ ser. Ausgehend von einer solchen Norm93 bewegt sich der Kopfumfang der Walnusspuppe zwischen 76 und 108 mm, d. h. eine kleine Walnuss entspräche Schriften, Bd. 5, Stutgart 1763, S. 195.) Auch in der Verarbeitung von Ginster, bei der sich Margaretha nach Aussage der Senischen verletzt haben will (HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Großvogts Daniel Ludowig an Landfiscal Conradt Heinemann über von ihm eingeholte Zeugenaussagen v. 9. Dez. 1596), fiel Schefe als Abfallprodukt an. 91 | Das spätere Puppenkind: „[...] von stocken, platten, vnd einem kluen gahrens [Knäuel Garn] daraus das heubt gemacht, neben einem wersell so dem kinde der nabell sein soll [...]“, Beschreibung des früheren Puppenkindes: „[...] von schefe, mit leinen Tüchern vnd eine halbe welsche Nusschalen, so mit garn auch bewunden gewesen [...]“ (beides HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596) und „[...] hernach die angezogenn Puppen Kinder nach einwickeln vndt be=graben laßen, [...]“, HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Schreiben der Juristischen Fakultät Helmstedt mit Empfehlungen zum weiteren Vorgehen v. 4. Nov. 1596. 92 | Lorenz, Maren: Kriminelle Körper, gestörte Gemüter: Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychatrie der Aufklärung, Hamburg 1999; Michalik, Kerstin: Kindsmord: Sozial- und Rechtsgeschichte der Kindstötung im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert am Beispiel Preußen, Pfaffenweiler 1997; Faig, Christiane: Gerichtsmedizinische Betrachtungen zur Kindstötung im Wandel der Gesellschaftsstrutur, Tübingen 1976. 93 | Die UNECE-Norm DDP-01 für die Vermarktung und Qualitätskontrolle von Walnüssen in der Schale, Genf 2002 unterscheidet „frische Walnüsse“ oder „Schälnüsse“ und

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durchaus dem heute als normal geltenden Kopfumfang eines Kindes in der 27. Schwangerschaftswoche, in der Margaretha ihren vermeintlichen Abort erlitt. Über diese eher klassischen Kontexte für Schwangerschaft und Geburt finden sich weitere Praxisbereiche, die Margarethas Fähigkeiten zur Vortäu­ schung ihrer Schwangerschaft erklären, wenngleich ihnen andere Bedeutun­ gen zugeschrieben werden und ökonomische Absichten, wie in den Fällen der Anna Seitterin und Anna Ulmer, zugrunde liegen. Die im Liber vagatorum geschilderten Bettelpraktiken, die dazu dienen soll­ ten, Mitleid bei den Mitmenschen zu erregen, zeigen erstaunliche Ähnlichkei­ ten mit Margarethas Körperformatierungen auf: „Von den Dützbetterin Das xv capitel von Dützbetterin/ das seind betlerin die sich im land umb vnd umb fur die kirchen lege/ vnd spurre ein leilach vber sich/[...] Es seind auch etlich weiber die neme sich an wie dz sie seltzam fihur getragen vn an die welt geboren haben [Hervorhebung C.B.]/.“94

und „Von Biltregerin Das xviii capitel ist von den biltregerin/das seind die frawen die binden alte wames oder bletz oder küssen vber den leyb vnd die cleider/ vmb das man menen sol sie gangen mit kinden [Hervorhebung C.B.]/ vnd hand inn xx iaren oder mer nie keyns gemacht. Das selb heyßt mit der beullen gangen.“95

Neben diesen Klassifizierungen umfasst das Liber vagatorum Fallbeispiele, die eine Nähe zur Praxis annehmen lassen. Die Berücksichtigung und Schilde­ rung ähnlicher Fälle in verschiedenen Bettelordnungen legen die Vermutung nahe, dass diese Bettelpraktiken zur Anwendung kamen und damit auch zu Margarethas Erfahrungshorizont gehört haben können.96 Bildliche Darstel­ „getrocknete Walnüsse“; für Trockennüsse werden die zulässigen Durchmesser mit 24 bis 34 mm und mehr angegeben (S. 6). 94 | Liber vagatorum, Der Betler orden, S.l., [1510] [VD16 L 1543], http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00009344/image_14 vom 15. April 2014. 95 | Ebd., http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00009344/image_15 vom 15. April 2014. 96 | Auch Rowlands, A.: Monsterous Deception, S. 79 führt das Liber vagatorum als mögliche Inspiration für den Betrug an. Allerdings ist die Übereinstimmung zwischen Margarethas Vorgehen und den geschilderten Bettelpraktiken deutlich frappierender als im Falle der Seitterin. Weiteres zu Bettelpraktiken: Jütte, Robert: Dutzbetterinnen und Sündfegerinnen. Kriminelle Bettelpraktiken von Frauen in der Frühen Neuzeit, in:

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lungen wie die zwölf Vaganten des Barthel Behaim oder Hieronymus Bosch Allerlei Arten der Kunst des Bettelns, die zahlreiche Arten der Vortäuschung kör­ perlicher Defekte illustrierten, belegen das Bewusstsein der frühneuzeitlichen Gesellschaft für diese „Täuschkultur“.97 Die Darstellungen der Bettelpraktiken waren als Aufklärung für die Bevöl­ kerung gedacht und verbreiteten gleichzeitig die Idee formatierbarer Körper als „Anzeigetafel bzw. ‚Display‘ [...], auf denen sich eine Praktik großenteils im­ plizit regierenden Normen der Anerkennbarkeit als Subjekt ablesen lassen“.98 Biltregerin und Margaretha verfolgten das Ziel, als Schwangere anerkannt zu werden – doch während die Bilträgerin in ihren Bettelpraktiken das Telos einer quasi kommerziellen Nutzung in sich trug (wie Anna Seitterin und Anna Ul­ mer) mit dem Wissen um besonders mildtätige Unterstützung für Schwange­ re, verfolgte die Täuschungspraktik von Margaretha das Ziel der Anerkennung als fruchtbare Frau – dieses fehlt in den Bettelpraktiken. Eine Beeinflussung Margarethas durch die Trugkultur der Landstreicher und Vaganten ist anzunehmen, allerdings belegen die Verhörprotokolle dies nicht explizit. Anders verhält es sich mit dem Bereich des Aberglaubens und der Zauberei, dessen vermutete Einwirkung zwischen den Zeilen deutlich und zum unausgesprochenen Gegenstand der Untersuchungen wurde. In der frühneuzeitlichen Vorstellungswelt war das Übernatürliche fest ver­ ankert und bildete nicht zuletzt Grundlage für die eingangs beschriebenen Betrugsversuche der Anna Seiterin und Anna Ulmer. Von Margaretha wird das Übersinnliche in Person der Toverschen im Prozess angeführt, um das Verschwinden der vermeintlich beerdigten Kinder zu erklären: Sollte man bei der Exhumierung kein echtes Kind finden, so müssten es diese norddeutschen Hexen ausgetauscht haben: „vnd was würde ein kindt finden, oder die Tover­ sche hetten Ihr solches außgebeutet“.99

Otto Ulbricht (Hg): Von Huren und Rabenmüttern, Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 117–137; ders.: Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut, Weimar 2000; Rheinheimer, Martin: Arme, Bettler und Vaganten: Überleben in der Not 1450–1850, Frankfurt a. M. 2000; Dubler, Anne-Marie: Armen- und Bettelwesen in den Gemeinen Herrschaften ‚Freie Ämter‘ (16.–18. Jahrhundert), Basel 1970. 97 | Reinhard, Wolfgang: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, S. 326. 98 | Alkemeyer, Thomas: Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik, in: Ders./Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen: Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 33–68, hier S. 65. 99 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596.

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Vor dem Hintergrund der Inquisitionsvorschriften der Elisabeth von Ca­ lenberg ist diese Äußerung mehr als unvernünftig, da sie die Visitatores dazu anhält, in Verdachtsfällen abergläubischer Praktiken besondere Erkundigun­ gen einzuholen.100 Dementsprechend verwundert die in der Folge der Vernehmung eindring­ lich erörterte Frage „wohin die rechten menschlichen kinder geplieben“101 we­ nig, denn „Leichenteile Neugeborener sind im Bereich der schwarzen Magie als Ingredienzen der Hexentränke und Zaubersalben bekannt, dienten aber auch der Geisterbannung, dem sich unsichtbar oder hieb- und stichfest machen oder der Rückverwandlung vom Werwolf zum Menschen. In der weißen, heilenden Magie sollte das Bestreichen eines Leberflecks oder Muttermals mit der Hand eines verstorbenen Neugeborenen deren Verschwinden bewirken.“102

Die Verwendung von Puppen, Faden und Wams im Zusammenhang mit schwarzem Zauber ist vielfach belegt. So schildert Dagmar Unverhau die Ver­ wendung von Wachspuppen oder Rachepuppen in Norddeutschland: „Este Andersenn und Kay Mollerkun hatten ein wächsernes Kindchen, welches sie von Herrn Johann Brade empfangen hatten. [...] Wem die Frauen etwas Böses zufügen wollten, in dessen Namen steckten sie die Wachspuppe voll Nadeln.“103

100 | „[...] unsre visitatores sich auch bei den pfarrhern, kaplan und andern erkundigen, wie es umb die, [die] bevehl haben, und andere beambten, auch andere unrere diener fur eine gelegenheit habe, ob die reiner lehr sein, ob sie christlich leben oder verechter Gottes und der heiligen sacramenten sein, ob sie den leuthen beschwerung zuschieben, in unzucht leben oder sonsten mit offentlichen lastern behaft, dem predigambt die hand pieten, fluchen, segnerei, warsagerei, christallenkuckerei unzucht etc. straffen“ zit. nach: Sehling, E.: Kirchenordnungen, S. 882. 101 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Protokoll zum Verhör der Zeugen im Fall Margareta Kahlen durch den Großvogt Daniel Ludowig am 17. Nov. 1596, hier Margareta Kahlen. 102  |  Labouvie, Eva: ‚Gauckeleyen‘ und ‚ungeziemende abergläubische Seegensprüch­ leyen‘. Magische Praktiken um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, in: Eva ­K reissl (Hg.): Kulturtechnik Aberglaube. Zwischen Aufklärung und Spiritualität. Strategien zur Rationalisierung des Zufalls, Bielefeld, 2013 S. 284. 103 | Unverhau, Dagmar: Von Toverschen und Kunstfruwen in Schleswig, 1548–1557. Quellen und Interpretationen zur Geschichte des Zauber- und Hexenwesens, Schleswig 1980, S. 43. Siehe auch: Beck, Rainer: Mauselmacher: oder die Imagination des Bösen. Ein Hexenprozess 1715–1723, München 2012, S. 572: „Hexengeständnisse [...] berich-

Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen

Ähnlich verhält es sich im Falle der Lady Christence Kruckow in Aalborg, Dä­ nemark. Nachdem sie bereits unter Verdacht gestanden hatte, ihre Konkur­ rentin zu behexen, doch durch Einwirken ihrer Verwandtschaft frei kommen konnte, wurde ihr nachgewiesen, bei einer Geheimveranstaltung anwesend gewesen zu sein, „where a woman gave birth to a wax child. It was christened and given the name Maren in order to harm a neighbouring woman with that name.“104 Während diese „Bildzauber“ als Schadenszauber fungierten, konnten sie auch gegenteilige Wirkung beabsichtigen. Als „Liebeszauber“ machten manche „sich Bilder aus Erde, Wachs, Edelsteinen oder Mischungen von gewissen Dingen, taufen dieselben mit dem Namen der Person, der sie Liebe einflößen wollen [...] Alsdann schmelzen sie dieselben, und zu gleicher Zeit wird das Herz des bis dahin nicht Liebenden, dessen Name das Bildnis trägt, mit Liebe entzündet.“105

Inwiefern die bereits geschilderte Ähnlichkeit, die Margaretha zwischen der Puppe und ihrem Mann erzählt, allein als Narrativ zu deuten ist, oder von ihr tatsächlich gedacht und als Form des Bildzaubers interpretiert werden kann, muss offen bleiben.106 Allerdings existieren rund um Schwangerschaft und Ge­ burt zahlreiche Rituale, die sich zum Beispiel auf die nachkommenden Kinder auswirken sollen, darunter die Beerdigung der Nachgeburt unter bestimmten Bäumen, um das Geschlecht des nächsten Kindes zu beeinflussen und die Verwendung des getrockneten und pulverisierten Nabels, der als förderliche Medizin dienen sollte.107

ten von ganz direkten Angriffen, zu der man etwa Nadeln beherzt und mit dem festen Willen zu töten in einen seinen Feind darstellende Puppe stach.“ 104 | Ankarloo, Bengt/Clark, Stuart (Hg.) The Athlone History of Witchcraft and Magic in Europe, Bd. 4: The Period of the Witch Trials, London 2002, S. 82. 105 | Wolf, Johann Wilhelm (Hg.): Niederländische Sagen, Leipzig 1843, S. 367f. 106 | Francoise Loux betont die symbolische Anwesenheit des Vaters in Geburtsritualen durch die Einbeziehung von Kleidungsstücken des Vaters: „Sie waren Erkennungszeichen: Zeichen der Vaterschaft und gleichzeitig wirkmächtige Symbole der Sozialisation. Das Hemd des Vaters verlieh dem Kind so von der Geburt an – trotz seiner Abwesenheit – dessen Eigenschaften.“ Loux, Françoise: Frauen, Männer, Tod in den Ritualen um die Geburt, in: J. Schlumbohm u. a.: Rituale, S.50–65, hier S. 61. 107 | Siehe hierzu u. a.: Labouvie, E.: ‚Gauckeleyen‘; dies.: Lebensfluss – Schwangerschaft, Geburt und Blut (16.–19. Jahrhundert) in: Christina von Braun/Christoph Wulf (Hg): Mythen des Blutes, Frankfurt a. M. 2007, S. 204–226, hier S. 218ff.

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Eduard Kück verweist für die Lüneburger Heide auf einen in unserem Zu­ sammenhang interessanten Brauch in Anspielung auf erhofften Kindersegen, zu dem „[w]ie an anderen Stellen Deutschlands [...] auch in der Heide von jungen Mädchen nach vergeblichen Verhinderungsversuchen der Kistenfüller eine kleine Puppe unter die Aussteuer geschmuggelt [wurde].“108

Auch von ihrer ersten Puppe berichtet Margaretha, die Ärztin habe diese „[...] woll ein Jahr in der kisten gehabt, vnd die als darzu gebracht“.109 Wenngleich die soweit zusammengetragenen Hinweise die Einordnung der Puppenbestattungen als Fruchtbarkeitsritual oder Liebeszauber nicht ein­ deutig erlauben, ist es wiederum eine Aussage der Margaretha, die diese Ver­ mutung stützt: „Die Artztin aber hette Ihr der Kalischen gesagtt: was sie die kinder also 2. mahll zur erden bestettigen lassen würde. Das [alsdan] Gott Ihr danegst woll kinder gebe.“110 Dabei muss die Ärztin, sofern sie existierte, gewusst haben, dass es sich bei den beiden Kindern um Puppen handelte.

5. S chluss Der Fall der Margaretha Kahlen zeigt eindrücklich, wie „Schwangerschaft“ und „Fruchtbarkeit“ in gemeinschaftlichen Praktiken erfahrbar wurden. Es sind nicht eigene Erzählungen von Kindsregungen, die Margarethas Schwanger­ schaft für die Koakteure glaubhaft werden lassen, sondern das geteilte Erleben der „Schwangerschaft“, der „Fehlgeburten“ und der körperlichen Nachwirkun­ gen. Da die beobachtenden Koakteure in den Zuschreibungen der Gebrauchsund Bedeutungseigenschaften verschiedener Artefakte (Milch, Butter, Blut, das feuchte Halstuch und das von der vermeintlichen Geburt beschmutzte Hemd) übereinstimmen, wird Margarethas Schwangerschaft und damit Fruchtbarkeit authentisch und schafft eine Gemeinschaft, die in den Sinnzuschreibungen unabhängig von Margarethas Suggestionen ist. Geräusche, Gerüche und Ge­ fühle, wie das Wehklagen der Margaretha über ihre schmerzende Brust, der 108 | Kück, Eduard: Das alte Bauernleben der Lüneburger Heide, Leipzig 1906, Neuaufl., Bremen 2012, S. 171. 109 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596. 110 | HStA Hannover, Cal. Br. 8 Nr. 119, Protokoll zum Verhör der Zeugen im Fall Margareta Kahlen durch den Großvogt Daniel Ludowig am 17. Nov. 1596, hier Margareta Kahlen.

Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen

Gestank aus dem vermeintlichen Geburtszimmer und die Kindsregungen, die Hans Kahlen fühlt, werden von verschiedenen Koakteuren erlebt, gegenseitig erzählt und stabilisieren die Anerkennung Margarethas als fruchtbare Frau. Das Erleben und die Beteiligung der Männer spielen eine nicht unerhebliche Rolle. Sie fungieren als Mittler zwischen dem Inneren des Hauses und dem Außen, wie der Futterschneider, der den Bericht über die Frauenbutter streut oder Albert Erholz, der das Wehklagen der Margaretha zu einer Nachbarin trägt. Indes ist die Geburt selbst in der Frauengemeinschaft situiert, in die Margaretha eingebunden war, wie die Gestaltung der Puppenkinder, die Be­ schreibung der Geburten, der Austausch mit anderen Frauen und die im Kir­ chenbuch eingetragene Patenschaften der Margaretha für zwei Mädchen und ihre Inszenierung ausschließlich weibliche Beteiligung im Geburtsraum nahe legen. Der Kinderwunsch, die emotionale Bindung zum Kind und die Erwartung zur Reproduktion hingegen sind nicht geschlechtsspezifisch kon­ notiert. Neben der partiellen räumlichen Trennung lassen sich vor allem für mög­ liche Verhaltensweisen gegenüber den Obrigkeiten Geschlechterunterschiede erkennen. Margarethas Verhalten, wie das ihrer Mutter und ihres Bruders, im Ermittlungsverlauf belegen ihr Wissen um normative Hierarchien und Verhaltenserwartungen, deren Bedeutungen (meanings: die fürstliche Für­ sorgeverpflichtung gegenüber untertäniger Schutzbedürftigkeit; weibliche Unterordnung gegenüber männlicher Schutzfunktion) sie für sich zu nutzen wissen. Bettel- und Zauberpraktiken bieten – ohne dies sicher nachweisen zu kön­ nen – Bezugspunkte für Margarethas Idee eines formbaren Körpers entgegen der in der Eheliteratur geforderten Gottergebenheit und weiblich-passiven Ver­ haltenserwartungen, sowohl für das Wissen – wie im Sinne der competence – als auch für Bedeutungen in Form von meanings als zu erwartende Zauber­ wirkungen. In ihren Handlungen ist Margaretha nicht frei und selbstbestimmt, ihre Handlungsmöglichkeiten erwachsen aus ihr bekannten Artefakten, Bedeu­ tungszuschreibungen und Vorgehensweisen, die sie, aber nicht sie allein, neu arrangiert. Die sich verselbstständigende Erzählung über ihre laktierenden Brüste und die vermeintliche Beweiskraft der Frauenbutter im Verfahren zei­ gen, dass Margaretha dieses Arrangement nicht allein und intentional auf bau­ en und wieder auflösen kann, sondern nur im Verflechtungszusammenhang mehrerer Akteure bis hin zu den untersuchenden Autoritäten. Da Margaretha letztendlich doch scheitert und zur Strafe „von offentlicher Cantzell durch den Prediger zu Eldagesen bei der gemein umb ver=ziehung der ergernuß, welche sie mitt solchen werken gegeben, verbitten zu laßen

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schuldig“111 ist, wird ihre Handlung vermutlich keine Auswirkungen auf die allgemeine soziale Praxis in Zusammenhang mit Fruchtbarkeit, Schwanger­ schaft und Geburt gehabt haben – die Sorge schien aber bestanden zu haben, da der Fall nicht zuletzt „der Jungen Jugent zum Abscheiv“112 öffentlich ausge­ tragen wurde.113 Trotz ihres Scheiterns dürfte Margaretha mit dem Ausgang ihres Prozesses zufrieden gewesen sein – immerhin fiel er gerade in eine Zeit, in der auch in ihrer Region die Hexenprozesse loderten.114

111 | HStA Hamburg, Cal. Br. 8 Nr. 119, Rechtsbelehrung der Juristischen Fakultät Helmstedt an Landfiscal Conradt Heinemann v. 4. Jan. 1597. 112 | HStA Hamburg, Cal. Br. 8 Nr. 119, Bericht des Bürgermeisters und des Rats zu Eldagsen an den Großvogt und das Amt zu Calenberg v. 9. Okt. 1596. 113 | In den Kirchenbüchern findet sich lediglich für den Januar 1597 der Hinweis, dass ein sehr jung verstorbenes Kind zusätzlich untersucht wurde – möglicherweise um die Beisetzung eines weiteren Puppenkindes zu verhindern. Ähnliche Reaktionen sind für die getauften Wachspuppen bekannt: „To prevent this [die Taufe von Wachspuppen] it was prescribed in 1554 by the Bishop of Roskilde that children being baptized should be brought naked to church, ‚so that people versed in magiic shall not be able to hide their wax dolls with the cild to have it baptized and then use it for witchcraft.‘“ Ankarloo, B./Clark, S (Hg.): Witchcraft, S. 59. 114 | Schormann, G.: Hexenprozesse, spricht für die Jahre vor und nach dem Prozess gegen Margaretha von umfangreichen Prozesswellen in der Gegend.

„… daß mein leib mein seye.“ Selbstpositionierungsprozesse im Spiegel erzählter Körperpraxis in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652–1722) 1 Mareike Böth „[…] daß meine gesundheit und mein leib mein seye, wolle ihn also gouverniren, wie ichs selber apropo finde.“2 Mit diesen Worten, so berichtet die verheiratete Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans – in Deutschland weit besser bekannt als Liselotte von der Pfalz – im Mai 1705 ihrer Halbschwester Luise, habe sie ihren Leibarzt, Raymond d’Arlot,3 bei seinem Amtsantritt empfan1 | Die hier präsentierten Ergebnisse beruhen auf meiner derzeit in Druckvorbereitung befindlichen Dissertationsschrift. Böth, Mareike: Erzählweisen des Selbst. Körper-Wissen und Leib-Praktiken in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652–1722), unveröff. Diss., Kassel 2012. 2  |  Elisabeth Charlotte an Raugräfin Luise, Marly, 2.5.1705, in: Wilhelm Ludwig Holland (Hg.): Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans, Bd. 1: Aus den Jahren 1676 bis 1706, Bd. 88), Stuttgart 1867, Nr. 245, S. 392: „Letzte post habe ich Ewer undt Ewer schwester briff zugleich bekommen, auch beyde vor 8 tagen beantwortet. Mein husten ist weg gangen, wie ichs gedacht hatte. Ich bekümere mich wenig umb der docktoren ungedult. Wie ich meinen gewehlt, habe ichs ihm zum vorauß gesagt, dass ich ihm zwar erlaube, seine meinung zu sagen, sich aber nicht zu ärgern, wen ich sie nicht allemahl folge, daß meine gesundtheit und mein leib mein seye, wolle ihn also gouverniren, wie ichs selber apropo finde.“ 3 | Raymond sieur d’Arlot war bis zu seinem Tod 1709 Leibarzt der Herzogin. Vgl. Elisabeth Charlotte an Christian Friedrich von Harling, St. Cloud, 29.5.1721, in: Hannelore Helfer (Hg.): Liselotte von der Pfalz in ihren Harling-Briefen. Sämtliche Briefe der Elisabeth Charlotte, duchesse d’Orléans an die Oberhofmeisterin Anna Katharina von Harling, geb. von Offeln, und deren Gemahl Christian Friedrich von Harling, Geheimrat und Oberstallmeister, zu Hannover (= Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Bd, 102), Hannover 2007, Nr. 405, S. 717, Anm. 11.

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gen. Von Beginn an habe sie deutlich gemacht, so Elisabeth Charlotte weiter, dass sie ihm zwar durchaus gestatte, in Belangen der Krankheitsbehandlung wie der alltäglichen Lebensführung seine Meinung zu äußern, dass er jedoch kaum blinden Gehorsam von ihr zu erwarten habe und sich nicht ärgern solle, wenn sie seinen Ratschlägen nicht folge. Und tatsächlich weiß einer der Chronisten des Versailles Hofes, der Marquis de Sourches, anlässlich des Todes d’Arlots im Januar 1709 zu berichten: Elisabeth Charlotte bedauere diesen Verlust sehr, „obwohl sie in ihren Krankheiten niemals seinen Ratschlägen noch denen irgendeines anderen Arztes gefolgt war.“4 Als ihr eigener premier médecin5, wie sie in einem Brief an ihre Tante, Sophie von Hannover, im November 1705 formuliert hatte, bestimmte Elisabeth Charlotte offenbar vollkommen eigenverantwortlich, nach welchen Maßgaben mit ihrem Körper umzugehen war. In diesen Aussagen sind Körper bzw. in der frühneuzeitlichen Diktion ‚Leib‘ und Selbst unauflöslich miteinander verwoben. Denn die Integrität einer Person zeigte sich für Elisabeth Charlotte offenbar vor allem daran, dass diese uneingeschränkte Handlungsmacht über ‚ihren Leib‘ besaß. Das immer schon über das affektive leibliche Spüren an den materiell existenten Körper gebundene ‚Selbst‘6 erscheint dabei als hochgradig abhängig von denjenigen Handlungen, die sowohl passiv an ihm als auch aktiv von ihm vorgenommen werden: Es entsteht sogar der Eindruck, dass das Selbst überhaupt erst im Vollzug bestimmter Praktiken als solches erfahrbar wird.

Vgl. auch Van der Cruysse, Dirk: „Madame sein ist ein ellendes Handwerck“. Liselotte von der Pfalz – Eine deutsche Prinzessin am Hof des Sonnenkönigs, 8. Aufl., München 2002, S. 491; Funck-Brentano, Franz: Liselotte. Duchesse d’Orléans. Mère du Régent, Paris 1936, S. 153. 4 | Vgl. Cosnac, Gabriel-Jules de/Pontal, Edouard (Hg.): Mémoires du Marquis de Sourches sur le règne de Louis XIV, t. 11: Janv. 1708–Juin 1709, Paris 1891, Eintrag v. 25.1.1709, S. 256: „On sut aussi qu’Arlot, premier medecin de Madame, étoit mort à Versailles d’une fluxion de poitrine, et Madame le regretta extrêment, quoiqu’elle ne suivit jamais ses conseils, ni ceux d’aucun médecin, dans ses maladies.“ 5  |  Elisabeth Charlotte an Sophie von Hannover, Versailles, 11.11.1705, Niedersächsisches Landesarchiv – Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 91 Sophie Nr. 1/25 fol. 615 r : „[…] Ich sage alß zu meinem doktor je suis mon premier médecin vous estes le second, tant que le premier saura me gouverner je ne consulteres pas le second […].“ 6 | Vgl. zur Differenzierung von Leib und Körper etwa Lindemann, Gesa: Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib, in: Annette Barkhaus u.a. (Hg.): Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt a. M. 1996, S. 146–175; Jäger, Ulle: Der Körper, der Leib und die Soziologie. Entwurf einer Theorie der Inkorporierung, Königsstein i. Ts. 2004, S. 99–107.

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In meinem Beitrag möchte ich diesen Zusammenhängen zwischen Prozessen der Selbst-Bildung 7 bzw. der Selbstpositionierung8 und Praktiken im Umgang mit dem Körper am Beispiel der Briefe Elisabeth Charlottes nachgehen. Im ersten Teil des Textes wird die konzeptionelle Rahmung sowie die theoretische Grundlegung expliziert, bevor ich in einem weiteren Schritt nach der Relevanz erzählter Körperpraktiken für die angesprochenen Prozesse frage.

1. Theore tische G rundlegung und konzep tionelle R ahmung Bereits die einführend zitierten Passagen lassen erahnen, dass es sich bei den Schätzungen zu Folge ca. 6.000 überlieferte Briefe umfassenden Nachlass der Kurprinzessin und Herzogin Elisabeth Charlotte9 um eine ideale Quellengrundlage für die Untersuchung der angesprochenen Zusammenhänge von Leib/Körper und Selbst in der Frühen Neuzeit handelt. Über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren, von ihrer Verheiratung und Übersiedlung an den französischen Hof 1671 bis zu ihrem Tod im Jahr 1722, richtete Elisabeth Charlotte lange Briefe an die unterschiedlichsten Personen: von familiär Vertrauten, wie ihrer bereits erwähnten Tante Sophie, ihren Halbgeschwistern, den sogenannten Raugräfinnen und Raugrafen, oder ihrer früheren Hofmeisterin Anna Katharina von Harling bis hin zum frühneuzeitlichen Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716).10 Daneben sind zahlreiche weitere 7  |  Vgl. zum Begriff Freist, Dagmar: „Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen“. Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 151–174, hier S. 173. 8 | Vgl. dazu Anm. 18. 9 | Zu den variierenden Schätzungen der überlieferten Briefe Elisabeth Charlottes vgl. Van der Cruysse, D.: Madame, S. 5; Cordes, Heike: „Ich schreibe, wie ich rede …“. Ein Literaturverzeichnis anlässlich des 350. Geburtstages der Liselotte von der Pfalz, 4. Aufl., 2006, http://www.ub.uni-heidelberg.de/wir/Literaturauswahllisten/­L iselotte. html vom 24.11.2013; Mattheier, Klaus J.: Madame als Briefschreiberin, in: Sigrun Paas (Hg.): Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellung der Stadt Heidelberg zur 800-Jahr-Feier, 21. September 1996 bis 26. Januar 1997 im Heidelberger Schloss, Heidelberg 1996, S. 95–97, hier S. 95; Helfer, H. (Hg.): Liselotte, S. 14. 10  |  Helfer, H. (Hg.): Liselotte, S. 15; Mattheier, K.-J.: Madame, S. 95; Van der Cruysse, Dirk: Du constat de carence au revivrement prometteur. Etat présent de la LiselotteForschung, in: Klaus J. Mattheier/Paul Valentin/H. Peter Schwake (Hg.): Pathos, Klatsch

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Korrespondenzen ihrer Verwandten, Erziehungsinstruktionen und chronikale Aufzeichnungen aus dem höfischen Kontext überliefert, die Elisabeth Charlottes Lebenslauf zu einem der bestdokumentierten des 17. Jahrhunderts werden lassen.11 Wichtiger noch als die quantitative Dichte und die Multiperspektivität des überlieferten Quellenmaterials erscheint jedoch die qualitative Charakteristik der Korrespondenzen. Denn Elisabeth Charlotte betrieb in ihren Briefen nicht allein Kontaktpflege mit räumlich entfernten explizit adressierten Personen, sondern sie setzte sich intensiv und detailreich sowohl mit sich selbst und ihren Mitmenschen als auch mit den Vorstellungen und dem Wissen ihrer Zeit auseinander. Über diese vielfältigen, im Schreiben ausagierten Relationen konstituierte sie sich, so der Ausgangspunkt meiner Überlegungen, als Person: Im wahrsten Sinne des Wortes gab sie sich selbst in ihrem Schreiben immer wieder einen symbolischen Ort im sozialen wie diskursiven Raum.12 Methodisch einholen lassen sich diese brieflichen Verortungen des Selbst aus meiner Sicht am besten durch einen praxeologischen Zugang zum Quellenmaterial. Denn die Briefe lassen sich in einem doppelten Sinn als Praxis verstehen: Zum einen sind sie materieller Ausdruck der sozialen Praxis des Erzählens bzw. des Schreibens, die wiederum als wesentliche Form frühneuzeitlicher Selbstbildungsprozesse verstanden werden kann. Gleichzeitig erlauben die Briefe als (Quellen-)Texte aber auch, den Fokus darauf zu richten, wie Menschen handelten, kommunizierten, miteinander interagierten und wie sie diesem alltäglichen ‚Tun‘ Bedeutung verliehen. So sind etwa die Briefe Elisabeth Charlottes nicht nur Artefakte des Erzählens bzw. Schreibens als einer vorgängigen kommunikativen Praxis der Selbstbildung, sondern sie entwerfen gleichzeitig Bilder einer ganzen Reihe konkreter Alltagspraktiken ihrer Schreiberin, die wiederum den Blick auf die Prozesse der Selbstbildung in und mit der sozialen Praxis ermöglichen. Denn nicht allein die expliziten Selbstreflexionen, die eine schreibende Person den Lesenden offeriert, stehen mit einem solchen Ansatz im Zentrum, sondern vielmehr die Frage, auf welche Weise Praktiken in der Erzählung sozialer Sinn beigemessen wird und wie diese Sinnzuschreibungen dazu beitragen, Menschen als Personen zu konsti­ tuieren. In dieser Konzeptualisierung fungieren Praktiken als Bindeglied zwischen individueller und kollektiver Ebene, gleichsam als Schlüssel zur Überwindung und Ehrlichkeit. Liselotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs (= Romanica et Comparatistica, Bd. 14), Tübingen 1990, S. 1–20, hier S. 6. 11 | Vgl. Van der Cruysse, D.: Madame, S. 14. 12 | Zum ‚sozialen Raum‘ als einem „mehrdimensionalen Raum von Positionen“ vgl. Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen, in: Ders.: Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frakfurt a. M. 1985, S. 9–46, hier S. 11.

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der unproduktiven Trennung von Individuum und Gesellschaft, wie der Kultursoziologe Andreas Reckwitz in seiner Studie ‚Das hybride Subjekt‘ hervorhebt.13 Denn Praktiken werden als „geregelte und typisierte Handlungen“14 nicht nur von einzelnen Personen oder Personengruppen ausgeführt, sondern sind vielmehr als „sinnhafte Komplexe“ zu verstehen, in die spezifische Wissensbestände15 sowie kulturelle Codierungen von überindividueller Geltung eingelassen sind. Indem Personen handeln, beziehen sie sich – ob bewusst oder unbewusst, willentlich oder unfreiwillig – auf diese codierten kulturellen Bedeutungsdimensionen.16 Als normative Scripts von angemessenem Verhalten korrelieren Praktiken dabei nicht nur mit bestimmten Handlungssituationen und diesen impliziten Handlungserwartungen, sondern in besonderer Weise auch mit den sozialen Positionierungen derjenigen Akteure und Akteurinnen, die sie ausführen.17 Die Aus- und Aufführung sozialer Praktiken verweist also 13  |  Vgl. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Göttingen 2010, S. 33; Ders.: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2006, S. 568–596, hier S. 568. Vgl. aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Füssel, Marian: Die Rückkehr des Subjekts in der Kulturgeschichte. Beobachtungen aus praxeologischer Perspektive, in: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning (Hg.): Historisierte Subjekte – subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin 2003, S. 141–159, hier S. 141 u. 157. 14 | Vgl. Reckwitz, A.: Subjekt, S. 38 u. 40 im Anschluss an die Arbeiten des amerikanischen Soziologen Theodore R. Schatzki: Introduction. Practice Theory, in: Ders./ Karin Knorr-Cetina/Eike von Savigny (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York 2001, S. 1–14, hier S. 3; Schatzki, Theodore R.: Social Practices. A Witgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996, S. 89. 15 | Wissen lässt sich einem sozialkonstruktivistischen Ansatz folgend als „Konglomerat von kontingenten Sinnmustern, die auf kulturspezifische Weise alltägliche Sinnzuschreibungen und somit ein Verstehen ermöglichen wie regulieren, somit als notwendige Bedingungen des Handelns wie des Sozialen“ definieren. Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 40–54, hier S. 42. 16 | Vgl. Reckwitz, A.: Subjekt, S. 38. Vgl. zu einem ähnlich fundierten Praxisbegriff Hörning, Karl H.: Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Ein Erkenntnis- und Theorieproblem, in: K. H. Hörning/J. Reuter (Hg.): Doing Culture, S. 19–39, hier S. 33. Vgl. dazu auch Freist, D: „Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen“, in: T. Alkemeyer/G. Budde/D. Freist (Hg.): Selbst-Bildungen, S. 157. 17 | Zum Zusammenhang von sozialen Normen und Praktiken aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive vgl. Freist, D.: „Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen“, in: T. Alkemeyer/G. Budde/D. Freist (Hg.): Selbst-Bildungen, S. 158.

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unmittelbar auf die soziale Positioniertheit von Personen wie auf die dynamischen Prozesse der Positionierung,18 also der Annahme und Ablehnung zugeschriebener Positionen in und mit der Praxis. Als zentrale praxeologisch orien­ tierte Forschungsfragen in Bezug auf Selbstpositionierungsprozesse ließen sich formulieren: Wie weisen Menschen sich selbst und anderen durch den Bezug auf Praktiken, die sie ausführen, Positionen in sozialen Interaktionen sowie im diskursiven Gefüge zu? Wie werden Personen und Praktiken auf der Ebene der Quellentexte markiert – und in welcher Weise interagieren diese Zuweisungen miteinander? An dieser Stelle erweist sich eine Verknüpfung von praxeologisch gewendeter Subjekttheorie mit den in der interdisziplinären Geschlechterforschung seit Längerem diskutierten Forschungsansätzen um das Stichwort ‚Intersektionalität‘ als äußerst produktiv, reflektiert die intersektionale Forschungsagenda doch die grundsätzliche Mehrdimensionalität sozialer Positioniertheit.19 Diese ist entlang zentraler, sich überschneidender Dimensionen wie Geschlecht, Alter, Stand bzw. Klasse, Religiosität und Konfessionalität, Nationalität und 18 | Der Begriff bezieht sich auf Helmuth Plessners Studien zur ‚Positionalität‘, verstanden als Form der Umweltbeziehung lebendiger Wesen, durch die sie sich von unbelebten Körpern unterscheiden. Vgl. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch (= Sammlung Göschen, Bd. 2200), 3. Aufl. Berlin 1975, S. 127–132; Lindemann, G.: Überlegungen, S. 152; Jäger, U.: Körper, S. 129f. 19  |  Aus der Fülle der Literatur zu Intersektionalität vgl. hierzu v.a. Kerner, Ina: Alles intersektional? Zum Verhältnis von Rassismus und Sexismus, in: Feministische Studien 1 (2009), S. 36–50, hier S. 36 u. 46–48; Kerner, Ina: Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 35–42; Villa, Paula-Irene: Verkörperung ist immer mehr. Intersektionalität, Subjektivierung und der Körper, in: Helma Lutz/Maria Theresia Herrera/Linda Supik (Hg.): Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts (= Gesellschaft und Geschlecht, Bd. 47), Heidelberg 2010, S. 203–221, hier S. 218: „Das würde bedeuten, den Blick darauf zu richten, wie außerordentlich komplexe körperliche Praktiken von den AkteurInnen selbst innerhalb dieser Kategorien interpretiert werden. Wie verleihen Menschen ihren Praktiken in spezifischen sozialen Situationen Sinn und welche Kategorien verwenden sie dafür?“ Vgl. Phoenix, Ann: Psychosoziale Intersektionen. Zur Kontextualisierung von Lebenserzählungen Erwachsener aus ethnisch sichtbar differenten Haushalten, in: H. Lutz/M. T. Herrera Vivar/L. Supik (Hg.): Fokus Intersektionalität, S. 165–182, hier S. 167, derzufolge die Art und Weise, wie eine Person „in ihren Narrativen intersektionelle ‚Ich‘-Stimmen orchestriert, gleichzeitig Einblicke in ihre soziale Positionierung und in ihre Identitäten gewährt“. Aus Sicht der frühneuzeitlichen Selbstzeugnisforschung Ulbrich, Claudia: Einführung: Person. Text und Kontext, in: C. Ulbrich/H. Medick/A. Schaser (Hg.): Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven (= Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 20), Köln/Weimar/Wien 2012, S. 31.

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Ethnie, Sexualität bzw. Begehren, ability und disability – und je nach Handlungskontext möglicherweise anderer Faktoren – organisiert und wird in je unterschiedlicher Weise an und mit dem Körper als zentralem Träger bestimmter Praktiken von sozialen Akteure und Akteurinnen20 sichtbar oder auch unsichtbar gemacht. Damit scheint der Körper bzw. genauer die körperbezogene Praxis als idealer Fokus für die Analyse von Vergesellschaftungsprozessen.21 Dabei sollten die am und mit dem Körper aufgeführten sozialen Positionierungen – im Sinne einer offenen Forschungsfrage – im Spannungsfeld ihrer Beharrungskraft, mit Bourdieus Frühwerk, ihrer Habitualisierung,22 zugleich aber auch ihrer Wandlungsfähigkeit durch Aneignungsprozesse,23 die auf die Erfordernisse eines – auch und vielleicht besonders in der Frühen Neuzeit – grundlegend dynamisch zu denkenden gesellschaftlichen (Um-)Feldes reagieren, untersucht werden.24

20 | Vgl. Reckwitz, A.: Reproduktion, S. 44; Schatzki, T. R.: Introduction, S. 2, Ders.: Practices, S. 22. Mentale Haltungen, zu denen auch Selbstverhältnisse gehören, kommen sehr häufig in körperlichen Praktiken zum Ausdruck. Diese Konzeption wird auch in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion aufgegriffen. Vgl. Füssel, M.: Rückkehr, S. 154f. 21 | Vgl. Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001, S. 171f.; Bourdieu, Pierre: Leçon sur la leçon, in: Ders.: Sozialer Raum, S. 47–81, hier S. 69. 22 | Als Habitus definiert Bourdieu bekanntermaßen die spezifischen verkörperten „Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“, die im konkreten Umgang mit dem Körper ausgeführt und damit stetig aktualisiert werden. Vgl. Bourdieu, Pierre: Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis, in: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1994, S. 125–158, hier S. 143. Vgl. zum Begriff auch Bourdieu, P.: Meditationen, S. 177; Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, Frankfurt a. M. 2005, S. 63. 23 | Vgl. zum Begriff Anm. 57. 24  |  Bourdieu hat sich in seinen späteren Schriften explizit mit der Wandlungsfähigkeit des Habitus auseinandergesetzt. Dennoch wird der Begriff primär mit Bezug auf sein Frühwerk und damit in der beharrungskräftigen Konzeption des Habitus rezipiert. Vgl. Bourdieu, P.: Meditationen, S. 206; Ders.: Antworten auf einige Einwände, in: Klaus Eder (Hg.): Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt a. M. 1989, S. 395–410, hier S. 406f.; Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc: Die Ziele der reflexiven Soziologie, in: Dies. (Hg.): Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M. 1996, S. 95–249, hier S. 167; dazu auch die Überlegungen von Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, S. 187, sowie die Diskussion bei Freist, D: „Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen“, in: T. Alkemeyer/G. Budde/D. Freist (Hg.): Selbst-Bildungen, S. 156.

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Diesen theoretisch-konzeptionellen Überlegungen möchte ich mich im Folgenden am Beispiel der Briefe der Kurprinzessin und verheirateten Herzogin von Orléans Elisabeth Charlottes empirisch annähern, indem ich das Material in Hinblick auf das Verhältnis von wissensförmigen Körperpraktiken und leiblich spürendem Selbst zwischen Beharrungskraft und Dynamisierung befrage.

2. L eib/K örper -P r ak tiken und S elbst z wischen B eharrung und D ynamik Betrachtet man den Lebenslauf der 1652 geborenen pfälzischen Kurprinzessin Elisabeth Charlotte, so ist das dynamische Element schnell ausgemacht: die Verheiratung mit dem Bruder Ludwigs XIV., Philippe d’Orléans (1640–1701), und die anschließende Übersiedlung an den französischen Hof im Jahr 1671. Es handelt sich dabei um eine tiefgreifende Veränderung des Lebensumfeldes, die nicht allein im physikalisch-räumlichen Sinne als Grenzüberschreitung verstanden werden kann. Vielmehr zog Elisabeth Charlotte an den kulturell wie politisch hegemonialen Ort des frühneuzeitlichen Europa, der mit seiner distinguierten Etikette auch eine ganz eigene Soziabilität hervorbrachte. Dies wirft die Frage auf, ob es sich bei der ehelichen Verbindung zwischen Elisabeth Charlotte und Philippe d’Orléans um eine ‚standesgemäße Heirat‘ handelte. Im genealogischen Sinne war Elisabeth Charlotte als Kurfürstentochter mit königlichen Wurzeln (über ihre Großmutter, die englische Prinzessin Elizabeth Stuart) wenn auch nicht ebenbürtig so doch standesgemäß für den jüngeren Bruder eines Königs. Keinesfalls gelten kann dies jedoch in Bezug auf die poli­ tische Macht, die ökonomischen Ressourcen sowie die sich darin begründenden soziokulturellen Lebensformen im pfälzischen Kurfürstentum, in denen sie sozialisiert worden war.25 Vor dem Hintergrund einer kombinierten Lektüre retrospektiver Äußerungen aus Elisabeth Charlottes Briefen, den von ihrem Vater verfassten Erziehungsinstruktionen (1663) und den Korrespondenzen ihrer Verwandten wende ich mich zunächst diesen sozialisatorischen Prozessen in Elisabeth Charlottes erster Lebensphase zu und frage nach der Aktualisierung gewohnter Leib-/ Körper-Praktiken in ihrem neuen Lebensumfeld am französischen Hof.

25 | Vgl. Van der Cruysse, D.: Madame, S. 124.

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2.1 „daß hatt mir der churfürst noch ma tante nicht gelernt“: 26 Körper und Selbst in Beharrung Einen Ansatzpunkt für die Frage nach der Formierung habitueller Dispositionen und gewohnter Körperpraxis in Elisabeth Charlottes erster Lebensphase stellen die erwähnten Erziehungsinstruktionen dar, die Karl Ludwig (1617– 1680) der Gouvernante seiner Tochter, Ursula Marie Kolb zu Wartenberg, im Jahr 1663 diktiert hatte. Im dreizehnten Paragraphen etwa hatte der Kurfürst in Bezug auf die Krankheitsbehandlung seiner Tochter verfügt: „Wenn unsere Tochter krank wird, soll die Gouvernante nicht erlauben, dass man ihren Körper mit Medizin überlädt, und dass man ihr irgendein Medikament oder präventives Mittel gibt, wenn wir nicht anwesend sind, ohne unser Wissen und Konsultation unseres Hofarztes.“27

Die praktische Relevanz dieser normativen Handlungsanweisung zeigte sich, als die 11-jährige Elisabeth Charlotte im Frühsommer desselben Jahres an einem Geschwür am Rücken litt. In den beiden an seine zweite Ehefrau ­Luise von Degenfeld (1634–1677) gerichteten Briefen vom 5. und 14. Juni 1663 berichtete der sich selbst als Dr. Carl Ludwig bezeichnende Vater, wie er sich selbst an der offenbar äußerst schwierigen Diagnose versucht und die Behandlung seiner Tochter mit einem nicht näher bezeichneten Pulver beaufsichtigt ­habe.28 Sein ungewöhnlich erscheinendes väterliches Engagement in Fragen 26 | An Luise, St. Cloud, 18.7.1722, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 6: Briefe aus dem Jahre 1720, Tübingen 1879, Nr. 1345, S. 431. Vgl. dazu auch An Amalie Elisabeth, Versailles, 17.12.1705, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 1, Nr. 284, S. 431. 27 | Vgl. Weech, Friedrich von: Zur Geschichte der Erziehung des Kurfürsten Karl von der Pfalz und seiner Schwester Elisabeth Charlotte, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 8 (1893), S. 101–119, hier S. 116: „13.) Si notre fille tomboit malade, ladite gouvernante ne permettra pas qu’on luy gaste le corps avec beaucoups de medecines, et qu’on luy donne aucun medicament ni preservatif, lorsque nous serons presens, sans notre sceu et l’avis du medecin de nostre cour.“ Vgl. dazu auch Forster, Elborg: From the Patient’s Point of View. Illness and Health in the Letters of Liselotte von der Pfalz (1652–1722), in: Bulletin of the History of Medicine, 60 (1986), S. 297–320, hier S. 297 u. 308; Winkelmann, A[lfred]: Aus Liselottes Jugendzeit. Ein Beitrag zur Erziehungs- und Kulturgeschichte des XVII. Jahrhunderts, in: Veröffentlichungen der Großherzoglich Badischen Sammlungen für Altertums- und Völkerkunde in Karlsruhe 3 (1902), S. 71–86, hier S. 79. Daneben hatte Karl Ludwig auch besondere Vorsicht bei ansteckenden Krankheiten seiner beiden Kinder angeordnet. Vgl. Weech, F. von: Erziehung, S. 113. 28 | Vgl. Karl Ludwig an Luise von Degenfeld, Alzey, 5.6.1663, in: Wilhelm Ludwig Holland (Hg.): Schreiben des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz und der Seinen (= Bib-

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der Krankheitsbehandlung seiner Kinder muss vor dem Hintergrund seiner persönlichen Abneigung gegen die zeitgenössischen medizinischen Behandlungsmethoden gesehen werden,29 die vor allem die Ausleitung krankheitsverursachender Stoffe aus dem Körper durch künstliche Eingriffe, wie Aderlässe und Purgationen, vorsahen.30 Karl Ludwigs negative Haltung gegenüber den ausleitenden Behandlungsmethoden beruhte auf einem paracelsisch geprägten Medizinverständnis, das auf die Heilkraft der körperlichen Natur setzte.31 Dieses schien sich auch nachhaltig auf die Einstellung seiner Tochter und ihr praktisches Handlungsrepertoire in medikalen Fragen ausgewirkt zu haben. Noch in ihrem Todesjahr 1722 bekannte sich Elisabeth Charlotte gegenüber ihrer Halbschwester Luise zu diesen offenbar durch aktives Erziehungshandeln explizit vermittelten Handlungsmaximen im Umgang mit dem kranken Leib/ Körper: „Ahn medecinen, noch aderläß werde ich mein leben weder glauben, noch vertrawen haben; daß hatt mir I.G. s. [Ihro Gnaden, selig, MB] der churfürst, unßer herr vatter, noch ma tante, unßere liebe churfürstin, nicht gelernt.“32

Neben ihrem Vater bezieht sich Elisabeth Charlotte hier auch auf ihre Tante Sophie, seit 1662 Kurfürstin von Braunschweig-Lüneburg, bei der sie in ihrer liothek des Litterarischen Vereins Stuttgart Bd, 167), Tübingen 1884, Nr. 141, S. 127f.; Karl Ludwig an Luise von Degenfeld, Frankenthal 14.6.1663, in: W. L. Holland (Hg.): Schreiben, Nr. 142, S. 128f.; dazu auch Forster, E.: Illness, S. 297. 29  |  Kurfürst Karl Ludwig an Herzogin Sophie, Friedrichsburg, 5./15.4.1679, in: Eduard Bodemann (Hg.): Briefwechsel der Herzogin Sophie von Hannover mit ihrem Bruder dem Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz und des Letzteren mit seiner Schwägerin, der Pfalzgräfin Anna (= Publicationen aus den k. Preußischen Staatsarchiven, Bd. 26), Leipzig 1885, Nr. 357, S. 355. 30  |  Vgl. dazu etwa Jütte, Robert: Das Zepter der heroischen Medizin. Das Klistier in der medikalen Alltagskultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Gertrud Blaschnitz u.a. (Hg.): Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, Graz 1992, S. 777–803, hier S. 780. 31 | Vgl. dazu etwa auch Karl Ludwig an Elisabeth Stuart, Heidelberg, 29.9.1660, in: Sir George Bromley (Hg.): A collection of original royal letters, written by King Charles the First and Second, King James the Second, and the king and queen of Bohemia; together with original letters, written by Prince Rupert, Charles Louis, count palatine, the Duchess of Hanover, and several other distinguished persons; from the year 1619 to 1665, London 1787, Nr. XCII, hier S. 211f. 32 | An Luise, St. Cloud, 18.7.1722, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 6, Nr. 1345, S. 431. Vgl. dazu auch An Amalie Elisabeth, Versailles, 17.12.1705, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 1, Nr. 284, S. 431.

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Kindheit prägende Jahre verbracht hatte, und verortet ihre Abneigung gegen die ausleitende Medizin ihrer Zeit als familienspezifische medikale Strategie.33 Nicht nur in dieser Passage liest sich Elisabeth Charlottes Korrespondenz als (durchaus gelungener) Versuch, ihre unverbrüchliche Zugehörigkeit zum Familienbund gegenüber ihren verwandten Bezugspersonen an und mit dem Körper zu beglaubigen – sie im wahrsten Sinne des Wortes zu verkörpern. Insbesondere das narrative Muster von der in der kurpfälzischen Familie gemeinsam geteilten gesunden körperlichen Konstitution, der starcken gesunden Natur 34, zieht sich durch Elisabeth Charlottes Briefe wie ein roter Faden. Im Jahr 1703 resümierte Elisabeth Charlotte beispielsweise über die Genesungen ihrer hochbetagten Tanten Sophie (1630–1714) und Louise Hollandine (1622–1709): „Dieße fürstinnen haben, gott lob, starcke naturen, hoffe, daß sie es weit bringen werden.“35 Auch in der Korrespondenz Sophies wird die robuste körperliche Konstitution und Gesundheit der kurpfälzischen Familie in genealogischem Rekurs hergeleitet. Als ihr Bruder Ruprecht sich von einer schweren Krankheit erholen konnte, obwohl man ihn fast schon tot geglaubt hatte, schrieb sie im Januar 1678 an Karl Ludwig: „Die körperliche Gesundheit ist ein Erbstück von der verstorbenen Königin, unserer Mutter.“36 Als Ahnherrin der starken körperlichen Natur der Familienmitglieder rief auch Elisabeth Charlotte ihre Großmutter Elizabeth Stuart (1596–1662) auf. Als ihr Vater Karl Ludwig im Alter von 63 Jahren gestorben war, schrieb sie, der Kurfürst sei „von einer solchen gutten undt gesunden constitution“ gewesen, dass er das Alter seiner Mutter ebenso mühelos hätte erreichen können, wäre er gegen Ende seines Lebens nicht mit so viel kummer und hertzeleydt über den politischen Konflikten mit Ludwig XIV. konfrontiert gewesen.37

33  |  Auf Geheiß ihres Vaters, der seine Tochter aus den Ehestreitigkeiten zwischen ihm und seiner Gattin heraushalten wollte, verbrachte Elisabeth Charlotte die Jahre 1659 bis 1662 bei ihrer Tante in Hannover und Osnabrück. Vgl. Van der Cruysse, D.: Madame, S. 75. 34 | Vgl. beispielsweise An Luise, Versailles, 7.5.1699, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 1, Nr. 81, S. 139. 35 | An Luise, Versailles, 5.4.1703, in: ebd., Nr. 189, S. 320. 36 | Herzogin Sophie an Kurfürst Karl Ludwig, Osnabrück, 5.1.1678, in: E. Bodemann (Hg): Briefwechsel, Nr. 313, S. 309: „La santé du cors [sic!] est un heritage de la feue Reyne nostre mere, que personne vous pourra disputer, et le meilleur que nous en ayons eu, dont le Prince Rupert à esté fort bien partage aussi, sans cela il n’auroit pas peu resister à des accidants terrible, dont il est pourtant eschapé presentement. Tout le monde a creu, qu’il devoit mourir; cependant il s’est remis par un effort de la nature.“ 37 | Vgl. dazu An Sophie, St. Germain, 11.12.1680, in: Eduard Bodemann (Hg.): Aus den Briefen der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans an die Kurfürstin Sophie von

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In ihren Briefen schrieb Elisabeth Charlotte den Familienmythos fort und sich selbst – mit zahllosen Beteuerungen ihrer eigenen gutten Natur 38 – förmlich in diesen hinein. Aus der genealogisch begründeten Teilhabe an der ‚guten Natur‘ resultierte gleichzeitig die Handlungsverpflichtung, diese durch eine an den Maximen der Familie orientierten Körperpraxis auch zu erhalten. Im Dezember 1703 bekräftigte Elisabeth Charlotte in diesem Sinne gegenüber ihrer Halbschwester: „Ich mache es wie I.L. [Ihrer Liebden, ihre Tante Sophie, MB]; muß sehr kranck sein, wen ich die kammer hütte. Ich bin auch persuadirt, daß man eher courirt, wen man sich weniger schondt. Ma tante hatt gott lob, eine gutte starcke natur. Gott erhalte I.L. noch lange jahren darbey!“39

In den zitierten Passagen erscheint der Familienverbund als zentrale Instanz, die medikale Vorstellungen, den praktischen Umgang mit dem Körper sowie den z. B. Schwäche oder Heilungsprozesse empfindenden Leib prägt. Dabei wird das Wesen der kurpfälzischen Familie bzw. ihrer Mitglieder in einer ge­meinsamen materiell existenten und gottgegebenen gesunden ‚Natur‘ des Kör­pers ausgemacht. Verwandtschaftliche Beziehungen und genealogische Abkunft schreiben sich in direkter Weise in die materielle Beschaffenheit des Körpers ein. Gleichzeitig aber prägen sie auch den alltagspraktischen Umgang mit dem Leib/Körper. Denn gleich einer ‚zweiten Natur‘, eine Formulierung die Elisabeth Charlotte häufig verwendete,40 sollten die Gewohnheiten im Umgang mit dem Körper die familiär geteilte gesunde und kräftige Disposition erhalten und stärken. Das Selbst erscheint hier mit Natalie Zemon Davis als im Modus der Verkörperung vergemeinschaftetes Selbst, das die Zugehörigkeit zu seiner Bezugsgruppe in der alltäglichen Auf- und Ausführung gemeinschaftlich geteilter Körperpraktiken sichert.41 Die leibliche Erfahrung repräsentiert dabei in direkter Weise die sozial konstruierte gesellschaftliche Ordnung, die

Hannover. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Bd. 1, Hannover 1891, Nr. 33, S. 35. 38 | Vgl. beispielsweise An Luise, Versailles, 13.11.1703, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 1, Nr. 198, S. 330. 39 | An Luise, Versailles, 30.12.1703, in: ebd., Nr. 202, S. 337. 40 | Vgl. beispielsweise An Luise, Versailles, 6.3.1704, in: ebd., Nr. 206, S. 343. 41 | Vgl. Davis, Natalie Zemon: Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers, Berlin 1986, S. 10.

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sich wesentlich in den Bezügen zur segmentären Gliederung von Familie und Verwandtschaft äußert.42 Die Bedeutung der Herkunftsfamilie für die Formierung gewohnter Körperpraktiken zeigt sich allerdings nicht allein in Bezug auf Vorstellungen der körperlichen Konstitution und entsprechenden Gesundheitspraktiken, sondern manifestiert sich ebenso in bestimmten Auffassungen von Tugend und Sittlichkeit sowie deren alltagspraktischer körperlicher Aufführungen. So hatte Karl Ludwig ebenfalls bereits in den Erziehungsinstruktionen die Bedeutung von moralischen und christlichen Tugenden betont, in deren Geist Elisabeth Charlotte erzogen werden sollte.43 Im Paragraph 10 der Instruktionen heißt es, die Gouvernante solle „auch Sorge tragen, dass unsere Tochter und genauso die anderen Fräulein in ihrem Umfeld, von allen Gesprächen und Intrigen, die einen schlechten Einfluss haben und schlechte Affektionen auslösen können, ferngehalten werden […] sowie von der Lektüre von Büchern, die dem religiösen Pflichtgefühl und dem artigen Benehmen einer Person von ihrer Geburt und ihres Geschlechts zuwiderlaufen.“44

Die in der zeitgenössischen Moral- und Tugendphilosophie als schlechte Eigenschaft von Frauen geltende Koketterie45 stellte aus Sicht des Vaters also eine ernstzunehmende Gefahr dar. Elisabeth Charlottes persönliche Vorstellungen, was als angemessenes Verhalten einer Frau ihrer standesmäßigen Abkunft zu 42 | Vgl. Lindemann, Gesa: Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl, Frankfurt a. M. 1993, S. 32. 43 | Vgl. Weech, F. von: Erziehung, S. 114. Schon in den Erziehungsinstruktionen von 1661 findet sich ein solcher Passus. Vgl. Weech, Friedrich von (Hg.): Instructionen des Kurfürsten und Pfalzgrafen Karl Ludwig für die Erzieher seiner Kindern, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 26 (1874), S. 407–413, hier S. 410. 44 | Vgl. Weech, F. von: Erziehung, S. 115: „10.) Elle aura soin de faire eviter à nostre fille, aussi bien qu’aus autres demoiselles qui sont sous sa conduite, toutes les conservations et intrigues qui peuvent donner mauvaises impressions, et s’emparer des mauvaises affections, sous quel pretexte de liaision ou autre consideration qui se puisse estre; et les lectures des livres qui peuvent detourner de la pieté et sage conduite une personne de sa naissance et de son sexe.“ 45 | Die Konnotation von Koketterie und Weiblichkeit findet sich beispielsweise bei La Rochefoucauld. Vgl. Tuchet, Jacques (Hg.): François de La Rochefoucauld. Maximes suivies des Réflexions diverses, du Portrait de La Rochefoucauld par lui-même et des Remarques de Christine de Suède sur les Maximes, Paris 1967, Nr. 241, S. 62: „La coquetterie est le fond de l’humeur des femmes. Mais toutes ne la mettent pas en pratique, parce que la coquetterie de quelque-unes est retenue par la crainte ou par la raison.“ ; ebd., Nr. 332, S. 80: „Les femmes ne connaissent pas toute leur coquetterie.“

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gelten habe, orientierten sich stark an den Ansprüchen ihres Vaters und damit an den Gewissheiten des zeitgenössischen maskulin geprägten KoketterieDiskurses. Für Elisabeth Charlotte war Koketterie mit einer durchweg als unstandesgemäß, weil unehrenhaft konnotierten weiblichen Eitelkeit und Gefallsucht verknüpft,46 von der sie sich selbst in ihren Briefen scharf abgrenzte. In einem Brief an Luise vom April 1695 stellte sie etwa klar, diejenigen, die „viel von butzen undt moden halten“, könne man „mitt einem wort“ beschreiben: „coquet“.47 Die bewusste Pädagogik des Kurfürsten hatte jedoch nicht allein zu solcher Art verbaler Urteile geführt, sondern fand ihren Ausdruck vor allem in Elisabeth Charlottes alltäglichem Umgang mit ihrem Körper sowie ihren emotionalen Bewertungen bestimmter Körperpraktiken. So lehnte sie etwa die in ihren Augen koketten Praktiken der Schönheitspflege ab. An Luise schrieb sie im Februar 1711: „[…] will lieber sein mitt meinen runtzellen, alß weiße sachen auf mein gesicht schmiren, den ich haße allen schminck, kan kein rohdt vor mich selber leyden“.48 Die Tugend der adeligen Frau musste an und mit dem Körper verteidigt werden,49 so zeigt es sich auch in Elisabeth Charlottes Haltung gegenüber freizügiger Damenbekleidung sowie der Praxis des Trinkens und Tabakschnupfens. In einem Brief vom August 1706 an ihre Tante Sophie fand sie deutliche Worte:

46 | Vgl. etwa An Amalie Elisabeth, Versailles, 18.8.1702, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 1, Nr. 179, S. 308: „Coquetten weiber seindt nichts rares, ich glaube man findt deren überall.“ 47 | An Luise, Marly, 12.4.1695, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 6, Nachträge, Nr. 27, S. 529f.: „Wie ihr mir dieße fürstin [Henriette Dorothea v. Oettingen, verheiratete Fürstin von Nassau-Idstein 1672–1728, MB] beschreibt, gefiehl sie mir beßer, alß ihre tanten; den die, so viel von butzen undt moden halten undt, mitt einem wort zu sagen, coquet sein, stehen mir gar nicht ahn, drumb gehe ich auch hir mitt gar wenig damens umb, bin lieber allein, alß in geselschafft, die mir nicht gefelt, den ich bin zu naturlich, umb mich zu zwingen zu können.“ 48 | An Luise, 28.2.1711, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 2: Aus den Jahren 1707 bis 1715, Tübingen 1871, Nr. 514, S. 233. Vgl. dazu auch An Caroline von Wales, o.O., 29.10.1717, in: [August Ferdinand von Veltheim (Hg.)]: Anekdoten vom Französischen Hofe vorzüglich aus den Zeiten Ludewigs des XIV. und des Duc Regent: aus Briefen der Madame d’Orleans Charlotte Elisabeth Herzog Philipp I. von Orleans Witwe Welchen noch ein Versuch über die Masque de Fer beigefügt ist, Straßburg (d.i. Braunschweig) 1789, Nr. 21, S. 225. 49 | Vgl. Bastl, Beatrix: Tugend, Liebe, Ehre. Die adelige Frau in der Frühen Neuzeit, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 381.

„… daß mein leib mein seye.“ „Mich wundert nicht mehr, daß die mannsleütte die weiber verachten undt sich unter einander lieben; die weiber seindt halt zu verachtliche creaturen itzunder mitt ihrer tracht, mitt ihrem sauffen undt mitt ihrem taback, welches sie greslich stinkend macht.“50

Die Aktualisierung ihrer gewohnten Körperpraxis am französischen Hof sollte Elisabeth Charlotte also in Konflikt mit ihrem neuen Lebensumfeld bringen. So wirkte beispielsweise ihre grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Ärzten und deren Behandlungsmethoden auf die Menschen in ihrem Umfeld offenbar befremdlich. Schon wenige Monate nach Elisabeth Charlottes Ankunft etwa hatte Madame de Sévigné ihrer Tochter von deren merkwürdigen Gesundheitspraktiken berichtet. Diese habe erklärt, sie benötige keinen Leibarzt, denn sie sei niemals zuvor zur Ader gelassen oder purgiert worden. Ihre Unpässlichkeiten kuriere sie stattdessen mit körperlicher Bewegung. „Soll sie doch gehen – wir wünschen ihr eine gute Reise!“ – so der spöttische Kommentar Madame de Sévignés.51 Als Elisabeth Charlotte 1672 das erste Mal an ihrem neuen Lebensort krank wurde, weigerte sie sich standhaft, einen Aderlass vornehmen zu lassen.52 Und selbst als sie 1693 so schwer an den Pocken erkrankt war, dass man sie dem Tod geweiht glaubte, lehnte sie die Behandlung mit den gängigen ausleitenden Methoden ab. Sie vertraute dagegen ganz auf die natürliche Heilkraft ihres Körpers. Den paracelsistisch-helmontisch geprägten medikalen Auffassungen ihrer Herkunftsfamilie folgend, unterstützte sie diese allein mit diätetischen Praktiken und einem mild wirkenden Schwitzpulver. Den Ärzten am französischen Hof erschien diese Selbstbehandlung – vom Marquis de Sourches in seinem Hofjournal als regime à l’allemande53 bezeichnet – als ein an Selbstmord grenzendes Unterfangen. Elisabeth Charlotte jedoch war überzeugt davon, genau zu wissen, was ihr Körper in dieser gefähr-

50 | An Sophie, Versailles, 1.8.1706, in: E. Bodemann (Hg.): Aus den Briefen, Bd. 2, Hannover 1891, Nr. 611, S. 140f. 51  |  Madame de Sévigné an Madame de Grignan, Rochers, 2.12.1671, in: Roger Dûchene (Hg.): Madame de Sévigné. Correspondance, t. 1: (mars 1646–juillet 1675) (= Bibliothèque de la Pléiade t. 97), Paris 1972, Nr. 222, S. 386: „On dit qu’elle ne fait pas cas de médecins et encore moins des médecines. [...] Quand on lui présenta son médecin, elle dit qu’elle n’en avait que faire, qu’elle n’avait jamais été ni saignée, ni purgée; quand elle a quelque incommodité, elle se promène et s’en guerit par l’exercise: Lasciamo la andar, che fara buon viaggio.“ 52 | An Anna Katharina von Harling, St. Germain, 4.2.1672, in: H. Helfer (Hg.): Liselotte, Nr. 22, S. 98. 53 | G.-J. Cosnac/É. Pontal (Hg.): Mémoires, t. 4: Janv. 1692–Juin 1695, Paris 1885, Eintrag v. 16./17.7.1693, S. 223. Vgl. Lebigre, Arlette: Liselotte von der Pfalz. Eine Biographie, Düsseldorf 1988 S. 163; Van der Cruysse, D.: Madame, S. 395.

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lichen Krankheitssituation benötigte. Binnen weniger Wochen genas sie vollständig – „zur Schande der Ärzte“, wie der Marquis de Sourches vermerkte.54 In den nächsten Jahren war Elisabeth Charlottes anhaltend gute Gesundheit wiederum Gesprächsthema bei Hof, wie sie ihrer Tante nicht ohne Stolz mitteilte. Die Damen, die im Unterschied zu ihr nie an der frischen Luft spazierten und stattdessen auf Aderlässe und Purgationen oder die im Adel allseits beliebten Sauerbrunnenbäder setzten, „ruffen all über meine gesundtheit. Ich sag ihnen alle tag, daß, wenn ich wie sie leben sollte, würde ich nicht allein kräncker werden wie sie, sondern auch daß ich gesundt bin, weillen ich nichts brauch undt offt in die lufft gehe undt mich bewege.“55

In diesen durchaus konfliktreichen Passagen aus Elisabeth Charlottes Briefen ist offensichtlich, dass ihre aus der Herkunftsfamilie gewohnte und die in ihrem aktuellen Lebensumfeld am französischen Hof akzeptierte Körperpraxis in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen. Mit Bourdieuschem Vokabular gesprochen, wichen die Bedingungen, unter denen sich Elisabeth Charlottes habituelle Dispositionen und Gewohnheiten formiert hat­ ten, erheblich vom (Um)Feld ab, in dem sie sich nun aktualisierten.56 Die Ehe­ schließung mit Philippe d’Orléans verlangte von Elisabeth Charlotte also nicht nur Mobilität im räumlichen Sinne, sondern ebenso in Bezug auf ihre Alltagspraktiken. Für Töchter aus dem Hochadel war ein solch tiefgreifender Wechsel des kulturellen Lebensumfeldes im Zuge heiratspolitischer Erwägungen keineswegs eine Seltenheit. Standes- und Geschlechtszugehörigkeit wirkten dabei in ihrer Verwobenheit als gesellschaftlicher Platzanweiser, als strukturell dynamisches Element in den Lebensläufen adeliger Frauen.

54 | G.-J. Cosnac/É. Pontal (Hg.): Mémoires, Bd. 4, Eintrag v. 16./17.7.1693, S. 223: „[…] Madame […] continuant toujours son même regime à l’allemande, se portoit mieux et mieux à la honte des medecins.“ 55 | An Sophie, 1.8.1706, in: E. Bodemann (Hg.): Aus den Briefen, Bd. 2, Nr. 611, S. 140. Vgl. dazu auch An Sophie, Marly, 9.5.1711, in: ebd., Nr. 758, S. 275. Vgl. dazu auch Forster, E.: Illness, S. 308. 56 | Vgl. Bourdieu, P.: Meditationen, S. 206.

„… daß mein leib mein seye.“

2.2 „das mich schir niemandes mehr kent“: Körper und Selbst in dynamischen Aneignungsprozessen 57 Über weite Strecken hinweg können Elisabeth Charlottes Briefe als Projekt der Selbstvergewisserung ihrer Zugehörigkeit zur Herkunftsfamilie mit Hilfe des Schreibens über eine entsprechende Körperpraxis gelesen werden. Dennoch sind sie meiner Meinung nach mit dem Verweis auf diese Beharrungskraft nur unzureichend charakterisiert. Wie Bourdieu in seinem Essay ‚Ziele der reflexiven Soziologie‘ betonte, dachte er selbst habituelle Dispositionen keineswegs als absolut starr und unveränderlich: „Der Habitus ist nicht das Schicksal, als das er manchmal hingestellt wurde. Als ein Produkt der Geschichte ist er ein offenes Dispositionssystem, das ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und damit unentwegt von ihnen beeinflusst wird.“58

Die Konfrontation mit einem aus Elisabeth Charlottes Sicht differenten Lebensumfeld ermöglicht den Blick auf einen in diesem Sinne herausgeforderten frühneuzeitlichen Habitus. Möglicherweise ist dies sogar die eigentliche Antriebsfeder für Elisabeth Charlottes häufig als exzessiv bezeichnetes Schreiben. Bei genauem Lesen allerdings entdeckt man hinter selbstvergewissernden Narrationen und rhetorischen Figuren, die vom Willen geprägt sind, die Vorstellung eines kontinuierlichen Selbstbildes zu bewahren, nicht wenige Dynamisierungen. Im Zuge dieser Wandlungsprozesse können Praktiken – und mit ihnen die diskursiven Kontexte, auf die deren soziale Sinnzuschreibungen rekurrieren – Modifikationen und Umdeutungen erfahren – bis hin zu ihrer vollkommenen Neuschöpfung.59 Der wohl auffälligste dieser dynamischen Wandlungsprozesse in Elisabeth Charlottes Korrespondenz ist der von ihr im Laufe der Jahre immer wieder thematisierte Wechsel ihrer humoralen Disposition bzw. ihres Temperaments. So fasste sie etwa 1715 in einem Brief an ihre Halbschwester Luise zusammen: 57  |  Zum Begriff der ‚Aneignung‘ De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin 1988; Lüdtke, Alf: Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Geschichte ein Grundkurs, 2. Aufl., Hamburg 2001, S. 557f.; Ashley, Kathleen/Plesch, Véronique: The Cultural Processes of „Appropriation“, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 32, 1 (2002), S. 1–15; Füssel, Marian: Die Kunst des Schwachen. Zum Begriff der Aneignung in der Geschichtswissenschaft, in: Sozial. Geschichte 21, 3 (2006), S. 7–28. 58 | Vgl. Bourdieu, P./Wacquant, L.: Ziele, S. 167. 59 | Vgl. Ashley, K./Plesch, V.: Processes, S. 6; De Certeau, M.: Kunst, S. 14f.; Lüdtke, A.: Alltagsgeschichte, S. 563; Freist, D.: „Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen“, in: T. Alkemeyer/G. Budde/D. Freist (Hg.): Selbst-Bildungen S. 159.

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„Mein lustiger humor, so mich vor dießem alles leicht machte, ist mir greü­lich hir im landt vergangen.“60 Hatte die Humoralpathologie im Verlauf der Frühen Neuzeit ihre Bedeutung als zentrales Erklärungsmodell für die Entstehung von Krankheiten sukzessive eingebüßt, so wurde sie nun stärker als Beschreibungsmodus für die Lebenserfahrungen und die Persönlichkeit der Kranken in den Vordergrund gerückt.61 In diesem Sinne hatte sich Elisabeth Charlottes eigentlich „von Natur aus lustiger“62 Humor in eine melancholische Disposition verändert, so glaubte sie.63 In ihrer Korrespondenz fasste sie diese Veränderung zunächst als Prozess des Fremd-Werdens auf – vor sich selbst und anderen gegenüber. Nach dem Tod ihres dreijährigen Sohnes Alexandre Louis 1676 berichtete sie in einem Brief an ihre frühere Hofmeisterin Anna Katharina von Harling „vber den unversehnen fall – wo mitt [...] gott der allmächtige“ sie „heimgesucht“ habe. An Frau von Harlings Ehemann, Christian Friedrich, ließ sie ausrichten, sie fürchte „daß wan er mich jetzt sehen würde, so würde er mich nicht mehr kenen“,64 denn die unbeschwerte (Bewegungs- und Lebens-) Freude, für die sie bekannt war, habe sie vollkommen eingebüßt. Eine ähnliche Metapher verwendete Elisabeth Charlotte in einem Brief an ihren Halbbruder Karllutz, dem sie an Neujahr 1682 anvertraute, die Querelen mit den Günstlingen ihres Gatten Philippe zu Beginn der 1680er Jahren hätten sie „so reveux vndt melancolisch gemacht, das mich schir niemandes mehr kent“.65 Die Erfahrungen des Lebens hatten also ihre Spuren in der humoralen Verfasstheit 60 | An Luise, Paris, 8.10.1715, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 2, Nr. 732, S. 645. 61 | Dies hebt Stolberg, Michael: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln/Wien/Weimar 2003, S. 117–119 kritisch gegenüber Lindemann, Mary: Medicine and Society in Early Modern Europe, 2. Aufl., Cambridge 2010, S. 13 hervor. 62  |  An Anna Katharina von Harling, St. Cloud, 20.4.1676, in: H. Helfer (Hg.): Liselotte, Nr. 42, S. 130; An Karllutz, St. Germain, 1.1.1682, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 1, Nr. 11, S. 21. 63 | Vgl. zur Melancholie Elisabeth Charlottes Forster, E.: Illness, S. 303; Baumgartner, Karin: Illness and Health as Strategies of Resistance and Identity Formation in the Letters of Liselotte von der Pfalz, in: Women in German Yearbook 17 (2001), S. 57–75, bes. S. 63; Albert, Mechthild: „Une ermite au milieu de la cour“. La mélancholie de Madame Palatine, in: Frank Rutger Hausmann/Christoph Miething/Margarethe Zimmermann (Hg.): „Diversité, c’est ma devise“. Studien zur französischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Festschrift für Jürgen Grimm zum 60. Geburtstag, Tübingen 1994, S. 27–41, bes. S. 18. 64  |  An Anna Katharina von Harling, St. Cloud, 20.4.1676, in: H. Helfer (Hg.): Liselotte, Nr. 42, S. 130. 65 | An Karllutz, St. Germain, 1.1.1682, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 1, Nr. 11, S. 21.

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des Körpers wie in den leibbezogenen Empfindungen Elisabeth Charlottes hinterlassen. Der Bezug auf die Melancholie, eine Krankheit, die dem zeitgenössischen Wissen nach sowohl physisch als auch psychisch therapiert werden konnte,66 fungierte dabei als leib- bzw. körperbezogener Verarbeitungsmodus biographischer Veränderungen. Auch der in späteren Briefen gebetsmühlenartig wiederholte und in der Historiographie des 19. Jahrhunderts deutlich überbetonte Bezug Elisabeth Charlottes auf die teütsche nation stellt sich bei genauerer Betrachtung als Prozess der Umdeutung und Überschreibung dar. In einem der ersten Briefe nach der Übersiedlung an den französischen Hof hatte Elisabeth Charlotte ihre Differenzwahrnehmungen noch auf die Unterschiedlichkeit zwischen den Höfen als Kulturräume bezogen. So schrieb sie beispielsweise Anfang des Jahres 1672 über die Praktiken körperlicher Bewegung am französischen Hof an ihre Tante Sophie: „Es ist nicht, daß ich hir mehr spatzire oder stercker, alß ich bey unß pflegte, aber die leütte hir sein so lam wie die gänße undt ohne den König, mad. de Chevreuse undt ich, ist kein seel, so 20 schriett thun kan ohne schwitzen vndt schnauffen.“67

Während sie in dieser Passage also mit räumlichen und personenbezogenen Zuschreibungen zwischen hir und bey unß unterschied, sind ihre späteren Briefe von einer nationalisierten Rhetorik durchdrungen. Die Zugehörigkeit zur Nation ersetzte gewissermaßen den Bezug zur Familie, schließlich waren ihr Vater, ihre Tante sowie zwölf ihrer 13 Geschwister bereits verstorben, als Elisabeth Charlotte an Luise, ihre einzige verbliebene Bindung an die Herkunftsfamilie, schrieb: „Ich bin in allem, auch in eßen undt drincken, noch gantz teütsch, wie ich all mein leben geweßen.“68 Die Selbstbezeichnung als ‚deutsch‘ und die Behauptung einer lebenslangen Kontinuität ihres ‚DeutschSeins‘ ist als Ergebnis eines Aneignungsprozesses zu verstehen. Elisabeth Charlotte übernahm hier eine spezifische diskursive Position, die in der zeit66 | Vgl. dazu etwa Weber, Wolfgang: Im Kampf mit Saturn. Zur Bedeutung der Melancholie im anthropologischen Modernisierungsprozeß des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung 17 (1990), S. 155–192, hier S. 172–174. 67 | An Sophie, St. Germain, 5.2.1672, in: E. Bodemann (Hg.): Aus den Briefen, Bd. 1, Nr. 1, S. 1. 68  |  An Luise, St. Cloud, 3.5.1721, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 6, Nr. 1225, S. 99. Vgl. dazu auch Voss, Jürgen: 52 unbekannte Briefe der Liselotte von der Pfalz an die Gräfin Johanna Sophie von Schaumburg-Lippe, in: Klaus-J. Mattheier/Paul Valentin/H. Peter Schwacke (Hg.): Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Liselotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs (= Romanica et Comparatistica Bd. 14), Tübingen 1990, S. 201–209, hier S. 201.

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genössischen Kritik an der Nachahmung französischer Moden eine Entsprechung fand.69 Der Bezug auf nationale Differenzen stellt jedoch zu keiner Zeit die einzige narrative Strategie in den Briefen dar. Vielmehr existieren, wie so häufig in der Frühen Neuzeit, verschiedene Deutungsmuster offensichtlich problemlos nebeneinander. Bekundungen, wie unangenehm es ihr sei, gegen Ende ihres Lebens nun doch häufiger „nach frantzöscher manir tractirt undt zur precaution aderlaßen undt purgiren“70 zu müssen, schließen keineswegs Elisabeth Charlottes Partizipation an der französischen medikalen Kultur aus. Im Gegenteil äußerte sie sich mehrfach anerkennend über gute remedes 71 am französischen Hof und nutzte ihren privilegierten Zugang, um ihren Briefpartnerinnen diese Heilmittel zu beschaffen. In ihrem Todesjahr 1722, nach über 50 Jahren am französischen Hof, verspürte Elisabeth Charlotte sogar erstmals die aufsteigenden Dämpfe (die so genannten vapeurs), die sich am französischen Hof zu einer Modekrankheit entwickelt hatten.72 Damit eignete sie sich konzeptionelles Wissen wie auch die entsprechenden leiblichen Empfindungen ihres Umfeldes an: „So lang Ich in Teütschlandt geweßen – habe Ich niemahlen keine [vapeurs, MB] verspürt; Ich hette es vor eine naredey gehalten – wen man mir gesagt hette wie es ist […].“73 Solche Hinweise auf Aneignungsprozesse, die habituelle Dispositionen, leibliche Empfindungen, eingeschliffene Gewohnheiten wie Überzeugungen verändern, finden sich in den Briefen Elisabeth Charlottes vielfach. Sie schlagen sich jedoch selten in expliziten Selbstreflexionen nieder, sondern lassen sich primär auf der Ebene der erzählten Handlungspraktiken beobachten. Somit unterstreichen die hier präsentierten empirischen Annäherungen an die Selbst-Bildungen in der voluminösen Korrespondenz der Kurfürstentochter und Herzogin die besondere 69 | Vgl. zu sog. ‚Alamode-Kritik‘ Fink, Gonthier Louis: Vom Alamodestreit zur Frühaufklärung. Das wechselseitige deutschfranzösische Spiegelbild (1648–1750), in: Recherches germaniques 21 (1991). S. 3–47, bes. S. 19–25; Badelt, Brigitte: Die Alamode-Kritik im gesellschaftlichen Kontext neu gelesen, in: Frühneuzeitinfo 7, 1 (1996), S. 9–17, hier S. 13f. 70 | An Christoph Martin von Degenfeld, St. Cloud, 21.5.1720, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 6, Nachträge, Nr. 61, S. 578. 71  |  An Luise, St. Cloud, 5.10.1719, in: W. L. Holland (Hg.): Briefe, Bd. 4, Nr. 1058, S. 262. 72  |  Vgl. dazu Appelt, Beate: Les vapeurs: Eine literarische Nosologie zwischen Klassik und Romantik. Kulturgeschichtliche Untersuchung, literarische Analyse und bibliographische Dokumentation (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XIII Französische Sprache und Literatur Bd. 254), Frankfurt a. M. 2000, bes. S. 51 u. 69; Stolberg, M.: Homo patiens, S. 194. 73 | An Christian Friedrich von Harling, St. Cloud, 21.5.1722, in: H. Helfer (Hg.): Liselotte, Nr. 462, S. 805.

„… daß mein leib mein seye.“

Relevanz praxeologischer Zugänge zum Subjekt bzw. zu den Prozessen der Subjektpositionierung, die sich nur im Zusammenspiel ihrer beharrungskräftigen Dimension und ihrer grundlegenden Dynamiken adäquat konzeptualisieren lassen.

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„In Gelb!“ Selbstentwürfe eines Mannes im Fieber Annika Raapke

„… I’ll stake my wig there’s fever here.“1

Als R.L. Stevenson seinen Dr. Livesey diese Worte sprechen lässt, hat dieser die Schatzinsel noch nicht einmal betreten – schon vom sicheren Deck der „Hispaniola“ aus erkennt der erfahrene Arzt jedoch an Hitze, Feuchtigkeit und Verwesungsgeruch die Fiebergefahr auf dem legendären Eiland. In der Folge suchen der Doktor und seine Freunde Schutz auf trockenem, sandigem Boden und in guter Luft, während die Piraten gemäß den unbekümmerten Gewohnheiten echter „Gentlemen of Fortune“ in den Fiebergebieten kampieren. Ein Fehler, dessen Folgen sich als durchaus relevant für die finale Niederlage der Bukaniers erweisen. Alexandre Moreau de Jonnès, der spätere Abenteurer, Wissenschaftler und Begründer des Bureau de la Statistique générale de la France, erlebt als 24-jähriger Aide-de-Camp die Landung französischer Truppen auf Martinique2 im Herbst 1802. Seine Beobachtungen erinnern an die Szenen der „Schatzinsel“. Jedoch sind es hier keine Piraten, sondern französische Soldaten, die allen Warnungen über das auf der Insel grassierende Gelbfieber zum Trotz unvorbereitet und unbesorgt an Land gehen: „Der Großteil der Soldaten und Offiziere war jung, aktiv, robust, und zehn Jahre Krieg hatten sie unglücklicherweise davon überzeugt, dass es keinerlei Gefahren gäbe, die ihnen nicht vertraut wären und die sie nicht bereits überwunden hätten.“3 Wie Stevensons Piraten zahlen auch die französischen Soldaten bald den Preis für ihre Sorg­ 1 | Stevenson, Robert Louis: Treasure Island, Mailand 2013, S. 91. 2 | Das Ziel dieser Expedition ist die Wiederübernahme der Kolonie nach einer sechsjährigen britischen Besatzung. Schloss, Rebecca Hartkopf: Sweet Liberty. The Final Days of Slavery in Martinique, Philadelphia 2009, S. 17. 3  |  Die Zitate aus den französischen Texten wurden von der Vf.in übersetzt. – Alexandre Moreau de Jonnès: Monographie historique et médicale de la fièvre jaune des Antilles, et recherches physiologiques sur les lois du développement et de la propagation de cet-

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losigkeit, erleben „alle Schrecken der Epidemie“, wie Moreau de Jonnès Anfang April 1803 in einem Brief nach Frankreich schreibt.4 Fast ein Jahr lang dauert der katastrophale Gelbfieberausbruch in der Karibik,5 dem sie in immensen Zahlen zum Opfer fallen. Einer derjenigen, die von der Krankheit erfasst werden, ist E. Lelong, „agent comptable“ der Brigg „Épervier“, die am 28. Oktober 1802 6 nach fast zweimonatiger Reise in Martinique eintrifft. Am 28. Frimaire des Jahres 11, dem 19. Dezember 1802, verspürt Lelong „Kopf- und Rückenschmerzen, klare Symptome des Gelbfiebers“.7 Sofort lässt er sich von Bord des Schiffes bringen und begibt sich in die Obhut Madame Saurels, der Ehefrau eines Freundes von der Marineverwaltung in Nantes, die ihm bereits angeboten hat, ihn im Falle seiner Erkrankung zu pflegen. Sechs Wochen lang bleibt Lelong in ihrem Haus. Dreizehn Tage lang liegt er im Fieber, ist mehrfach an der Schwelle zum Tod und kann doch schließlich am 2. Floréal des Jahres 11, dem 22. April 1803, seinen Eltern in Versailles per Brief von seinem „wundersamen“ Überleben berichten. Auch einem Freund bei der Marineverwaltung schildert Lelong brieflich die knapp überstandene Erkrankung.8 Die Briefe, die übrigens gemeinsam mit dem oben zitierten Brief Moreau de Jonnès’ auf die Reise gehen, werden auf Kaperzügen der Engländer abgefangen und erreichen ihr Ziel niemals.9 In beiden Briefen erhält der kranke Körper Lelongs bemerkenswerten Raum: Krankheit und Pflege werden vom Körper wahrgenommen und über den Körper geschildert. Der kranke Körper wird auf dem Papier entworfen, festgehalten und versandt. Die Entwürfe dieses Leibes fallen jedoch entsprechend den Adressaten der Briefe ganz unterschiedlich aus, so dass zwei te maladie pestilentielle, lues à l’Académie Royale des Sciences de l’Institut de France, dans les séances du 6 Décembre 1819, 17 Avril et Juin 1820, Paris 1820, S. 90. 4 | National Archives, London, High Court of Admirality (im Folgenden HCA) 32/995, Alexandre Moreau de Jonnès an Monsieur Amelin, 20. Apr. 1803. 5 | Du Casse, Albert: Les rois frères de Napoléon I.er: documents inédits rélatifs au premier empire, Paris 1883, S. 173; Girard, Philippe: The Ugly Duckling: The French Navy and the Saint-Domingue Expedition, 1801-1803, in: International Journal of Navy History 7 (2008), 3, http://www.ijnhonline.org/issues/volume-7-2008/dec-2008-vol7-issue-3 vom 12. Okt. 2013; Léti, Geneviève: Santé et société esclavagiste à la Martinique (1802–1848), Paris 1998, S. 123f. 6 | Lamar, Glenn J.: Jérôme Bonaparte: The War Years, 1800–1815, Westport, Conn. 2000, S. 6. 7 | Alle Zitate aus dem Brief an die Eltern: HCA 32/995, E. Lelong an Monsieur Lelong in Versailles, 22. Apr. 1803. 8 | Alle Zitate aus dem Brief an den Freund: HCA 32/995, E. Lelong an Unbekannt, Brest, 23. Apr. 1803. 9 | Siehe die ausführlicheren Erläuterungen zum Kaperbriefbestand der National Archives im Beitrag von Lucas Haasis in diesem Band.

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stark differierende „Gelbfieberkörper“ für Lelong ausgemacht werden können. In diesem Aufsatz soll die Gelbfieberepisode des E. Lelong in zweifacher Weise praxeologisch untersucht werden: Zum einen erlaubt die spezifische, detailgetreue Schilderung der Krankheitsphase im Brief an die Eltern die Rekonstruktion von Praktiken10 der Interaktion zwischen Arzt und Patienten und kann so aufzeigen, dass historische Praktiken auch außerhalb ihres unmittelbaren Aufführungskontextes rekonstruierbar sind. Zum anderen unterscheiden sich die Darstellungen des kranken Körpers im Eltern- und im Freundesbrief so stark voneinander, dass sich die Möglichkeit bietet, ausgehend von den Briefen Lelongs ebenso diskursive Praktiken11 des Schreibens über Gelbfieber zu identifizieren. Diskursive Praktiken verstehe ich hier als Praktiken der sprachlichen Verarbeitung raumzeitlich und soziokulturell gebundener Wahrnehmungsund Deutungsschemata bzw. Denk- und Sagbarkeiten.12 Besonders interessant ist diese Perspektive, da Gelbfieber in zeitgenössischen Diskursen sehr schnell mit bestimmten Formen von Männlichkeit13 konnotiert wird, wie schon das Zitat Moreau de Jonnès’ zu Eingang dieses Textes zeigt. Wenn Gelbfieber und Praktiken des Berichtens über Gelbfieber jedoch an Männlichkeitsdiskurse gekoppelt sind, dann wird die Kommunikation der Krankheitserfahrung, der Entwurf des kranken Körpers auch zum Selbstentwurf innerhalb einer spezi­ fischen Männlichkeit, die durch diskursive Praktiken vollzogen wird. Zeitge10 | Der Praktikenbegriff dieses Aufsatzes orientiert sich an Theodore S. Schatzkis Verständnis von Praktiken als „‚bundle‘ of activities, that is to say, an organized nexus of actions. […] The actions involved, moreover, are, first, bodily doings and sayings.“ Schatzki, Theodore S.: The Site of the Social: A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park, Pa. 2002, S. 71f. Praktiken sind „sinnhaft regulierte Körperbewegungen, die von einem entsprechend impliziten, inkorporierten Wissen abhängen“. Reckwitz, Andreas: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation, in: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschaue/Gesa Lindemann: Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 2008, S. 188–209, hier S. 192. 11 | Siehe auch Füssel, Marian/Neu, Tim: Doing Discourse. Diskursiver Wandel aus praxeologischer Perspektive, in: Achim Landwehr (Hg.): Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010, S. 213–235. 12 | Als Konzeptionsgrundlage dieser Definition dient Reckwitz, Diskurse, S. 191ff. 13 | Unter „Männlichkeit“ verstehe ich für das 18. Jahrhundert Komplexe von Diskursen und Praktiken, in denen konstituiert wird, wie und was ein erwachsener Mann in Abgrenzung zum männlichen Kind und Jugendlichen, zum Greis, aber insbesondere zur Frau in allen Altersstufen „sein“ muss, um als solcher anerkannt zu werden. Dieses Verständnis schließt ein, dass es unterschiedliche Formen des „Mannseins“ gibt, ebenso wie das Ausbleiben von „Mannsein“. Siehe zum Thema etwa: Martschukat, Jürgen/ Stieglitz, Olaf: Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt a.M. 2008.

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nössische Darstellungen des Gelbfiebers auf Martinique, etwa Alexandre Moreau de Jonnès’ „Monographie historique et médicale de la fièvre jaune des Antilles“ oder auch „De la fièvre jaune en general, et particulièrement de celle qui a regné à la Martinique en l’an XI et XII (1803 et 1804)“14 aus der Feder des Militärarztes Antonio Savarésy, sollen einen Zugang zu den Männlichkeitsdiskursen des Gelbfiebers bieten, um diesem Aspekt auf die Spur zu kommen. Ausgangspunkt ist jedoch zunächst der Bericht eines einzelnen Mannes über seinen kranken Körper. „What then“, fragt Paul Goring in seinem Werk über die Rhetorik der Sensibilität im 18. Jahrhundert,15 „is the significance of this intense record of a moved body?“ Gerade das „intense recording“, die adressatenspezifische Aufzeichnung des bewegten Körpers und seiner Wahrnehmungen, bietet den primären Zugriff für die Untersuchung eines männlichen Selbstentwurfes im 18. Jahrhundert. In diesem Aufsatz nimmt alle Sinnstiftung der Akteure, alle Bedeutung ihren Anfang bei eben diesem bewegten Körper, seinen Wahrnehmungen und seinen Interaktionen mit seiner Umwelt, die Papier über Jahrhunderte für uns festgehalten hat. Es soll versucht werden, durch das „close reading“ der Schilderung eines in Antizipation ganz bestimmter Adressaten entworfenen historischen Körpers die zur Intelligibilität eben dieses spezifischen Körpers notwendigen Praktiken zu identifizieren und – womöglich – über die Praktiken, Wahrnehmungen und Selbstverortungen dieses Körpers auf Formen, Diskurse und Situationen einer spezifischen männlichen Selbstbildung rückzuschließen. Entscheidend ist hierbei die Frage, welche Art von Körper E. Lelong benötigte, um das Gelbfieber zu überleben, und zu welcher Art von Mann ihn der Besitz oder das „Sein“ eines solchen Körpers macht? Bevor jedoch historisch-theoretische Ausflüge in die Selbstentwürfe Lelongs im Brief unternommen werden, sollen die faktischen Grundlagen dieser Entwürfe erst einmal genauer vorgestellt werden, oder, wie der Protagonist dieses Artikels selbst zu Recht bemerkt: „Kommen wir nun wieder auf mich zu sprechen!“

1.  A uf der S uche nach E. L elong Die zwei erhaltenen Briefe liefern nur ein sehr spärliches Gerüst von Informationen über das Leben E. Lelongs: Er ist „agent comptable“ oder auch „commis“ 14 | Savarésy, Antonio M.T.: De la fièvre jaune en general, et particulièrement de celle qui a regné à la Martinique en l’an XI et XII (1803 et 1804), avec des observations sur les autres maladies de cette Ile ou des Antilles, et un essai sur son histoire naturelle, Naples 1809. 15  |  Goring, Paul: The Rhetoric of Sensibility in Eighteenth-Century Culture, Cambridge 2004, S. 5.

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auf der Brigg „Épervier“, ein Beamter der Marineverwaltung in der 4. DemiBrigade d’artillerie de Marine, dem an Bord die Kontrolle von Material und Munition, Schiffspersonal, Sold und Lebensmitteln zufällt.16 Seine Eltern leben in Versailles. Basierend auf Gilles Proulx’ Statistiken zur Altersstruktur der französischen Marine im 18. Jahrhundert lässt sich schätzen, dass Lelong 1802 zwischen 24 und 29 Jahre alt ist,17 vielleicht ein wenig jünger. Sein Vorname bleibt unbekannt, auch in den französischen Marinearchiven18 finden sich keine weiteren Angaben über seine Person oder seine Reise. Doch es fällt in Lelongs Briefen immer wieder ein Name, dessen Prominenz es uns zumindest erlaubt, die Karibikreise des Zahlmeisters genauer zu datieren und nachzuvollziehen: Jérôme Bonaparte. Napoleons jüngster Bruder reist als achtzehnjähriger Aspirant auf der „Épervier“ nach Martinique,19 wo er schnell zum Kapitän befördert wird und das Kommando über die Brigg erhält, die Lelong verwaltet. Das Verhältnis zwischen Lelong und Bonaparte spielt in den Briefen eine große Rolle. Schon vom Beginn der Reise im August 1802 an besteht ein Konflikt zwischen den beiden Männern, die vor der Abreise offensichtlich die gleichen Kreise in Nantes frequentiert haben: Lelong bezichtigt Jérôme, „gutgläubige Damen“ aus eben diesen Kreisen, „die sich von dem Glanz, mit dem er sich umgibt, blenden lassen“, ins „Unglück gestürzt zu haben; Jérôme erfährt von diesen Anschuldigungen und bringt Lelong fortan wenig Zuneigung entgegen.20 Lelong sieht sich in den folgenden Ereignissen immer wieder als Opfer vermeintlicher Racheintrigen Jérômes. Im Brief an den Freund verwebt Lelong 16 | Romme, Charles: Dictionnaire de la Marine FrançaiseParis 1813, Stichwort: „Commis“; Savérien, Alexandre: Dictionnaire Historique, Théorique et Pratique de Marine, t. 1, Paris 1758, Stichwort „Commis“; Comte Willaumez/Jean-Baptiste-Philibert: Dictionnaire de Marine, Paris 1831, Stichwort „Comptable“. 17 | Proulx, Gilles: Between France and New France. Life Aboard the Tall Sailing Ships, Toronto 1984, S. 86f. 18 | Ich danke dem Service Historique de la Défense (Toulon), dem Centre des Archives du Personnel Militaire (Pau) und dem Service Historique de la Défense, Division Nord-Ouest für ihre engagierte Hilfe bei der Spurensuche. 19 | Lamar, G.J.: Jérôme Bonaparte, S. 6; Sergeant, Philip W.: The Burlesque Napoleon. Being the Story of the Life and Kingship of Jerome Napoleon Bonaparte, Youngest Brother of Napoleon the Great, London 1905, S. 43f. 20 | Ältere Biographien Jérômes schwanken zwischen milder Euphemisierung von Jérômes Verhalten in Nantes (Du Casse, A.: Rois frères, S. 172f.); und missbilligender Schwarzmalerei des späteren „König Lustig“ (Sergeant, P.W.: Burlesque Napoleon, S. 43.) Glen J. Lamar würdigt in seiner neueren Publikation durchaus Jérômes intellektuelle und militärische Fähigkeiten, räumt ihm aber sachlich verantwortungsloses und vergnügungsorientiertes Verhalten in jungen Jahren ein. Lamar, G.: Jérôme Bonaparte, S. 3ff.

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explizit seine Feindschaft mit Bonaparte und die Gelbfiebersequenz, so dass dieses spezifische Verhältnis hier noch von Relevanz sein wird. Zunächst gilt die Aufmerksamkeit jedoch dem Brief an die Eltern, den Lelong am 22. April 1802 verfasst.

2.  L elong im F ieber 2.1   Chroniken der Passivität Die Schilderung der Krankheit im Brief an die Eltern beginnt mit einem Kommentar zu den Verwüstungen, die das Gelbfieber seit Monaten auf Martinique anrichtet und denen „ohne Übertreibung […] die Mehrheit der Europäer“ zu Opfer gefallen sei.21 Sein eigenes Überleben schuldet Lelong nicht nur Gott, seiner Pflegerin und dem behandelnden Arzt, sondern auch sich selbst, der „die Folgsamkeit besaß“, alle vom Arzt verordneten Medikationen auch anzunehmen. Lelong lässt sich, wie bereits erwähnt, bereits bei den ersten Anzeichen der Krankheit von Bord der „Épervier“ bringen. Im Hause seiner Pflegerin angekommen, wird er zu Bett gebracht und unverzüglich vom Arzt besucht, der ihm „einen hübschen kleinen Aderlass“ setzt, aus dem „ganz schwarzes, dickes Blut austrat, was im selben Moment den heftigen Kopfschmerz minderte.“ Daraufhin bringt der Arzt noch zwei Zugpflaster an und verabschiedet sich. In der Nacht hat Lelong „Fieber wie ein Pferd“, am nächsten Tag kommt der Doktor zweimal zu ihm, untersucht ihn, verabreicht ihm Chinarinde und „noch ein schönes Zugpflaster zwischen den Schultern. Ich litt schon sehr an den beiden auf den Armen.“ Nach einer weiteren Nacht kommt der Doktor erneut früh: „Er untersucht meinen Puls, lässt mich die Zunge herausstrecken wie gewohnt.“ Dies ist die erste von mehreren Stellen im Brief, an denen Lelong explizit eine bestimmte Behandlungsroutine des Arztes an seinem Körper formuliert. Der Körper wird schnell auf eine bestimmte Behandlungschoreographie trainiert, deren ritualhafte Abfolge Lelong immer wieder thematisiert, er nennt sie unter anderem „das übliche Kompliment: (der betastete Puls, die herausgestreckte Zunge)“: Der Doktor kommt, betastet den Körper, dreht und beugt ihn, versucht, über die Mundhöhle in sein Inneres 21 | Im Dezember 1802, als Lelong erkrankt, sterben den Statistiken Geneviève Létis zufolge allein in den Krankenhäusern Martiniques 125 Menschen am Gelbfieber. Im Jahr 1802 sind es insgesamt 505 Gelbfieberopfer, alle Fälle ereignen sich zwischen Oktober und Dezember. Patienten, die nicht in den Krankenhäusern gepflegt werden, sind nicht erfasst, die tatsächliche Zahl wird somit wesentlich höher angesiedelt sein. In Lelongs Brigade, der 4.Demi-Brigade d’artillerie de Marine, sterben 1802 allein 126 Männer. Léti, G.: Santé, S. 124f.

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zu blicken, öffnet die Haut mit Zugpflaster, flößt ihm Chinarinde ein. Was Lelong hier beschreibt, ist die Entwicklung zeitlich und situativ gebundener, gerichteter körperlicher Vollzüge: Zwischen Arzt und Patient etablieren sich Behandlungspraktiken, die zwar außerhalb des Briefes aufgeführt werden, jedoch eindeutig im Brief nachvollziehbar sind. Zwar haben diese Praktiken einmal die Feder eines Schreibenden passiert und sind somit, wie Daniel Teysseire es nennt, „pratiques théorisées“.22 Dennoch zeigt Lelongs Darstellung der Interaktion zwischen ihm und seinem Arzt, wie eindeutig auch außerhalb der Briefsituation stattfindende Praktiken im Brief überlieferbar und noch nach Jahrhunderten verstehbar sind. Zu den Vollzugsbedingungen der hier nachvollziehbaren Behandlungspraktiken gehört als wichtiger Faktor die völlige Ergebenheit und Passivität des kranken Körpers. Diese Ergebenheit wird in Lelongs Briefsprache intensiv herausgestrichen, indem Lelong sein wahrnehmendes Körperselbst in der dritten Person dem Arzt gleichsam vollständig überantwortet: „Nur zu, Doktor! Beugen Sie erneut den Rücken dieses armen Unglücklichen, reißen Sie die Haut auf! Kein Mitleid! Sie verursachen ihm große Schmerzen, doch es ist zu seinem Besten.“ Lelong kann seinen Körper nicht mehr als eine aktive Entität verwalten, der Körper ist zu einem dezentrierten Resonanzobjekt geworden, an dessen Einzelteilen der Doktor jeweils die Wirksamkeiten von Krankheit und Behandlung ablesen kann. Lelongs Blut, Arme, Zunge, Rücken, Brust und Schultern sind nun stumme Botschafter einer doppelt ausgelieferten Existenz. Am vierten Tag ist die Krankheit auf ihrem Höhepunkt: „Ich begann, mich zu erbrechen, ein nahezu unfehlbares Zeichen des Todes“, der Doktor kommt sogleich und führt die übliche Behandlungschoreographie durch: Betasten, Drehen, die Zunge herausstrecken, und „ausführliche Befragung über alles, was ich empfand“. Der Arzt beruhigt und tröstet Lelong, teilt dann jedoch dessen Gastgeberin mit, dass während der Nacht mit Lelongs Ableben zu rechnen sei – Lelong erfährt dies erst nach überstandener Krankheit. Auch diese Sequenz unterstreicht Lelongs passive Rolle in der Bekämpfung der Krankheit, sein Körper und seine Wahrnehmungen sind vor allem Bereiche der Kampfzone zwischen Arzt und Krankheit. Der Doktor kommt am nächsten Morgen schon um fünf Uhr zu Lelong, findet ihn am Leben, vollzieht die Behandlungschoreographie und stellt dann fest, dass Lelong eine „gelbe Brust hatte und den Hals in derselben Farbe […], ich blieb zwei Tage lang in dem Zustand, den ich beschrieben habe (in Gelb!). Ich nahm viel Chinarinde ein, der Doktor besuchte mich häufig, und es ging mir nicht viel besser. Am siebten Tag jedoch befand der Doktor meinen Zustand für et22 | Teysseire, Daniel: Qu’est-ce qu’un médecin des lumières? Portraits et discours croisés de quelques contemporains de Tissot, in: Barras, Vincent/Louis-Courvoisier, Micheline (Hg.): La Médecine des Lumières: Tout autour de Tissot, Genf 2001, S. 223– 244, hier S. 224.

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was weniger schlecht, obwohl meine Schwäche derart war, dass ich mich nicht verständlich machen konnte (mein Puls war also mein Dolmetscher).“ Das schwarze Erbrechen, gefolgt von der Verfärbung des Oberkörpers, markiert in der Darstellung der Krankheit im Brief an die Eltern einen Höhepunkt. Der Doktor hat trotz seiner Warnungen an Lelongs Pflegerin eine „glückliche Vorahnung“ in der Krisennacht vom vierten auf den fünften Krankheitstag, findet diese jedoch angesichts des verfärbten Körpers am nächsten Morgen noch nicht bestätigt, auch die Pflegerin bleibt „besorgt“ – Lelong hat das Wort unterstrichen. Auch in dieser Situation ist der Körper gänzlich passiv: Von der Krankheit verfärbt und durch das Erbrechen erschöpft, kann er sich vokal nicht mehr äußern. Wenn Lelong seinen Puls als seinen Dolmetscher beschreibt, so erscheint hier der Körper als eine aktive, vermittelnde Instanz – es bedeutet jedoch lediglich, dass der Doktor über gezieltes Befühlen und Bemessen des Körpers diesem Informationen über den Status quo der Krankheit entlocken kann, der Körper ist somit ebenso passiv wie zuvor. Das Heraustreten aus der Passivität und die damit einhergehende Beendigung des Kräftemessens zwischen Krankheit und Arzt erlebt Lelong vor allem über die Rückgewinnung der verschwundenen Stimme: „Am 10. Tag schließlich begann ich, wie ein Er­käl­ teter zu sprechen, am 11. wurde meine Stimme ein wenig heller, am 12. konnte man mich verstehen, und von Tag zu Tag gewann ich an Kraft, bis ich am 20. Tag meiner Krankheit in meinem Zimmer umherging.“ In der gesamten Krankheitssequenz entwirft Lelong für seine Eltern einen ausgelieferten, passiven Körper, der sich den Weisungen und Eingriffen des Doktors fügsam ergibt. Alle Kompetenz und Handlungsmacht liegt bei seinem Arzt. Lelong als agierendes, nicht mehr auf die reine Wahrnehmung beschränktes Selbst tritt erst mit der Wiedererlangung der Stimme erneut zu Tage. Für das Erkenntnisinteresse dieses Aufsatzes ist es wichtig zu notieren, dass der Moment, als Lelong in seinem Zimmer herumlaufen kann, der einzige der gesamten Schilderung ist, in dem implizit Lelongs Beine eine Rolle spielen. Während sein Kopf, Hals und Rücken, sein Bauch, die Arme und die Brust zu Schauplätzen der Krankheit und Behandlung werden, sind die Beine und ihre Fähigkeiten vom Gelbfieber gänzlich außer Kraft gesetzt und werden auch in die ärztlichen Behandlungen nicht einbezogen. Stimme und Beine, als Körperteile, die auf ganz besondere Weise Aktivität und Handlungsmacht durch Vokalisierung, Fortbewegung und somit durch die selbstorganisierte Nutzung des Raumes erlauben, gehören nicht zu Lelongs passivem „Gelbfieberkörper“, ebenso wenig wie die Hände, die in gleicher Weise Zentren der körperlichen Selbstverwaltung sind. Gerade der Verlust der Stimme, durch den Lelong buchstäblich sprachlos und aller Fähigkeit zur verbalen Teilnahme am sozialen Leben beraubt wird, ist ein machtvolles Diskursargument, das die Passivisierung des Körpers verdeutlicht. Die Wiedererlangung von Stimm- und Gehfähigkeit markiert die Ablösung des „Gelbfieberkörpers“ durch Lelongs genesenden, aktiven, fähigen

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Körper. Mit der Wiedereroberung des Raumes und des verständlich gemachten Wortes endet nach fünf engbeschriebenen Seiten Lelongs Darstellung der Gelbfiebersequenz. Am nächsten Tag jedoch, dem 23. April 1802, schreibt er den zweiten hier zu untersuchenden Brief an seinen Freund – und stellt dort erneut die Gelbfiebersequenz dar, wenngleich auf eine „alternative“ Weise.

2.2   Mit Gott gegen Bonaparte Lelongs Brief an seinen – leider nicht namentlich genannten – Freund bei der Marineverwaltung in Brest verfügt mit insgesamt sechs Seiten nur über ein Drittel des Umfangs, der das Schreiben an die Eltern auszeichnet. Auch der Anteil der Krankheitsbeschreibung ist geringer – während etwa ein Viertel des Briefes an die Eltern der Gelbfiebersequenz gewidmet ist, kann der Brief an den Freund hier nur eine von sechs Seiten geltend machen. In diesem Brief ist das Gelbfieber klarer Verlierer hinter dem Thema Jérôme Bonaparte. Lelong beginnt mit der Beschreibung von Bonapartes Verhalten in Nantes, der Verschlechterung des Verhältnisses zwischen ihm und Napoleons Bruder während der Überfahrt nach Martinique, stets garniert mit allgemeinen Auslassungen über dessen Charakter. Dann beschreibt er einen spezifischen Vorfall im Detail, in dessen Rahmen auch die Gelbfiebererkrankung fällt: Der Kolonialpräfekt Bertin23 lädt Lelong zu sich ein, um ihm den Posten des Unterkommissars der Marine auf Martinique anzubieten, ein sehr verheißungsvolles Angebot, das Lelong gern annehmen möchte. Bonaparte als zuständiger Kapitän wird eingeschaltet und erklärt im Beisein des Präfekten Bertin, er könne auf Lelong nicht verzichten und wolle diesem bei der Rückkehr nach Frankreich, die sehr bald anstehe, einen noch viel vorteilhafteren Posten verschaffen: den eines „Commissaire Principal“ der Marine. Lelong sagt die Stelle entsprechend ab, erkrankt direkt im Anschluss und ist sechs Wochen lang nicht einsatzfähig. Seine Abwesenheit wird, so Lelong, von Bonaparte genutzt, um im engeren Umfeld des Präfekten gezielt üble Gerüchte über Lelongs Charakter zu streuen. Die Krankheit wird explizit in die Bonaparte-Episode eingebunden, ihre Darstellung in diesem Sinne gerechtfertigt: „Ich habe Dir nicht ohne Grund die Details meiner Krankheit berichtet, um nun zu jenem Thema zurückzukehren, das zu unterbrechen sie mich gezwungen hat, ich nehme es nun wieder auf …“ Diese Kontextualisierung der Krankheit schwärzt effektiv den Charakter Bonapartes, der durch das Ausnutzen der Schwäche seines Gegners jeden Anspruch verliert, als Ehrenmann zu gelten. Doch die weitere Darstellung der Gelbfiebersequenz zeigt, dass Lelong auch sein krankes Selbst 23 | Charles Henri Bertin, der 1802 den Dienst auf Martinique angetreten hat, überwacht die Finanzen und Buchhaltung der Kolonie und ist in der Tat für die Einstellung neuen Verwaltungspersonals zuständig. Schloss, R.: Sweet Liberty, S. 17.

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hier ganz anders entwirft, als er es für die Eltern getan hat. „Am 28. brach die Krankheit aus und war am übernächsten Tag auf dem Höchststand; am 4. Tag meiner Krankheit begann ich, mich zu übergeben und erschreckte meine Pflegerin sehr, denn dieses Erbrechen ist das fatale Zeichen des Todes.“ Nicht nur die komprimierte Darstellung des Krankheitsverlaufs fällt ins Auge: Es werden zudem – in der gesamten Schilderung – nur sehr wenige Körperteile direkt genannt. Auch der Doktor, von immenser Präsenz im Brief an die Eltern, ist im Schreiben an den Freund gänzlich abwesend. Lelong bestreitet die Krankheit allein, nur unterstützt durch seine Pflegerin, die in der Briefschilderung allerdings nur dazu dient, den Schrecken des schwarzen Erbrechens zu unterstreichen, und über die er kein weiteres Wort verliert. In dieser Schilderung wird offensichtlich der Gewalt der Krankheit, ihrem machtvollen Angriff auf den Körper, gegenüber dem langen Leiden Lelongs der Vorzug gegeben. Ein einziger Satz bringt Lelong vom Ausbruch der Krankheit hin zu seinem anstehenden Tod, hier soll augenscheinlich das rasante, gnadenlose Fortschreiten der Krankheit betont werden. Die mirakulöse Wendung im Krankheitsverlauf wird entsprechend schnörkellos eingeleitet: „Bei mir verlief es jedoch ganz anders, und setzte an mir einen ganz gegenteiligen Effekt durch; von diesem Moment an war ich etwas abwesend, und obgleich es keine sichtbare Besserung gab, so war diese doch wirklich vorhanden, allein dadurch, dass ich an den Anstrengungen, die ich durchgestanden hatte, noch nicht gestorben war.“ Diese Aussage ist sehr interessant, denn es stellt sich die Frage, ob und wie der aktive Widerstand gegen die Krankheit, den im Brief an die Eltern vor allem der Arzt leistet, in diesem Brief überhaupt zutage tritt, oder ob Lelong sich gegenüber seinem Freund ausschließlich in Gottes Hand gibt? In einer einleitenden Passage zur Gelbfiebersequenz schreibt er: „Ich bin beinahe versucht zu glauben, dass wir nur sterben, wenn das größte Wesen24 es will, und dass es nicht gewollt hat, dass ich von der Neuen Welt in die Andere Welt gehe, ohne diejenigen, die in der Alten wohnen, noch einmal gesehen zu haben.“ Lelongs Ausführungen über seine „unsichtbare Besserung“ könnten in diesem Sinne als Eingriff einer göttlichen Schutzinstanz betrachtet werden. Andererseits könnte hier auch die Grundannahme eines starken, stabilen inneren Kerns des Körpers implizit sein, welcher der Krankheit Widerstand leistet – weshalb dann schließlich die Besserung des Gesundheitszustandes schlicht darin bestehen kann, noch nicht an den Anstrengungen des Fiebers und des Erbrechens verstorben zu sein. Die eine Deutung schließt jedoch die andere nicht aus: Sofern Gott die finale Entscheidung über Tod und Leben seiner Kreaturen zukommt, ist das Gelbfieber nicht unbedingt eine Prüfung des Glaubens, sondern eher der wahren „Substanz“ des Selbst. Diese Überlegung ist interessant im Hinblick auf zeitgenössische diskursive Praktiken des Verhandelns von Gelbfieber, 24 | Im Original hat Lelong „das größte Wesen“ unterstrichen.

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worauf im nächsten Punkt näher eingegangen werden soll. Der Kampf zwischen Arzt und Krankheit um den Körper, der aus dem Brief an die Eltern gelesen werden kann, wäre im Brief an den Freund dann ein direkter Kampf zwischen Körper und Krankheit, bei dem der Körper in seiner Resistenz und inneren Stärke geprüft wird. Auch in diesem Szenario bildet sich das Ringen um Leben und Tod in der Nacht vom vierten auf den fünften Krankheitstag am nächsten Morgen in der Verfärbung des Körpers ab, und die extreme Schwäche Lelongs äußert sich im Versagen der Stimme: „Zwei oder drei Tage blieben meine Brust und mein Hals in einem hübschen Gelb, das Fieber ging noch immer seinen Gang, und ich selbst sollte nicht schnell davonkommen, denn meine Schwäche war so, dass man mich nicht einmal mehr hören konnte.“ Der Verfärbung wird hier weniger Raum gegeben als im Brief an die Eltern, dafür wird die Wiedergewinnung der Stimme als Moment der Überwindung der extremen Schwäche noch etwas bildreicher illustriert: „Dennoch begann ich am 10. Tage zu sprechen wie ein Erkälteter, am 11. erhellte sich mein Organ ein wenig, am 12. wurde es geradezu sonor, das heißt, ich hörte mich an wie ein gesprungener Kessel.“ Der Abschluss der Sequenz ähnelt wiederum sehr dem Bericht an die Eltern: „… am 13. verließ das Fieber mich gänzlich, und von dieser Zeit an wurde ich Tag für Tag kräftiger, bis ich am 20. Tag meiner Krankheit in meinem Zimmer umherging.“ Der Körper, den Lelong im Brief an seinen Freund entwirft, ist zwar schwach und bis an die Grenzen seiner Über­lebens­ fähigkeit beansprucht, aber er ist unabhängig und – auf eine der Außen­sicht verschlossene Weise – aktiv. Es gibt keine externe weltliche ­Autorität, etwa einen Arzt, die in die Belange des Körpers Eingriff nimmt. Lelongs Körper muss sich allein mit der Krankheit auseinandersetzen und seine Widerstandsfähigkeit beweisen. Unterstützt wird er jedoch von seinem Gott, der ihm das Leben lässt, damit er noch einmal seine Lieben in der „Alten Welt“ wiedersehen kann. Lelongs Körperentwurf in diesem Brief bietet somit den Schluss an, dass seine Überwindung der Krankheit auf diffuse Weise verdient ist. Besonders im Kontext des Bonaparte-Berichts scheint diese Auslegung nicht zu weit gegriffen: Die Krankheit wird genutzt, um den Streit zwischen zwei Kontrahenten zu illustrieren, von denen der eine betont unehrenhaft, der andere explizit ehrbar dargestellt wird. Das „wundersame“ Überleben Lelongs, für das dieser Gott persönlich verantwortlich macht, unterstreicht noch die Unredlichkeit Bonapartes, der genau zu dem Zeitpunkt seine Intrigen spinnt, als Lelong mit dem Gelbfieber um sein Leben ringt – Gott lässt Lelong am Leben, der sich nun weiter gegenüber Bonaparte zur Wehr setzen kann. Hierzu passt auch die knappe, vor allem auf die äußerlichen Krankheitssymptome beschränkte Darstellung. Während den Eltern ein möglichst detailgetreuer, chronologischer Nachvollzug der körperlichen Krankheitserfahrung entlang der Wahrnehmungen Lelongs ermöglicht wird, geht es im Brief an den Freund nicht um das leidvolle Erleben des legendären Fiebers. Der Freund erfährt die grausigen Hö-

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hepunkte der Fieberepisode, vor allem aber erfährt er das Überwinden von Schwäche und Krankheit. Im Folgenden sollen Lelongs Darstellungen mit zeitgenössischen Verhandlungen von Gelbfieber verglichen werden, um eventuellen diskursiven Praktiken des Berichtens über Gelbfieber auf die Spur zu kommen.

3. G elbfieberdiskurse : M ännerfieber , F iebermänner ? „Unter allen Plagen, die die Menschheit in den Antillen heimgesucht haben, war das Gelbfieber die entsetzlichste und furchtbarste. Es hat tausende Opfer erbeutet, es hat ganze Armeen und Flotten entvölkert, es hat die größten Pläne und die besterdachten Theorien nutzlos werden lassen.“25 Das Gelbfieber, an dem Lelong an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert erkrankt, kann man sich nach zeitgenössischem Verständnis durch Ansteckung zuziehen oder dadurch, dass man mit seinem durchgeschwitzten Hemd im frischen Wind steht,26 durch zu wildes, leidenschaftliches Verhalten, oder, wie Lelong, durch das Durchgeschütteltwerden auf einer sehr holprigen Straße. Gelbfieber, mit seinen erschreckenden Symptomen, seinen horrenden Opferzahlen und seinen seltsamen Vorlieben für bestimmte Bevölkerungsgruppen, ist für die Akteure gegen Ende der Frühen Neuzeit sehr viel mehr als nur eine klassifizierbare Krankheit. Es ist eine Krise des gesamten Körpers und damit des gesamten Selbst. Gelbfieber lässt rotes Blut schwarz verfaulen, färbt rosige Haut gelb oder bräunlich, verzerrt die Gesichtszüge, Delirium und Wahnsinn lösen einen klaren Verstand ab:27 „[…] oft fiel der Kranke in einen komatösen Zustand oder ins Delirium […], man sah einen beständigen Däm­merzustand, eine tiefe Teilnahmslosigkeit […], Unruhe, Unbehagen, Ent­ zündungen des Gesichts, verstörter Blick der Augen, exzessive Erregung, De25 | Duprépetit, zit. nach Léti, G.: Santé, S. 123. 26 | Moreau de Jonnès, Al.: Monographie historique et médicale de la fièvre jaune des Antilles, Paris 1820, S. 98. 27 | Die folgende, sehr komprimierte Zusammenfassung dürfte die Eindrücke der Zeitgenossen recht treffend wiedergeben: „Not only would the patient’s eyes turn watery and yellow, but the whole face would change, appearing ‚unnatural‘, denoting ‚anxiety‘ and ‚dejection of mind‘. Finally, it produced delirium and sometimes madness. During its progress, doctors noted changes ‚in the great mass of blood itself‘, which became putrefied and oozed from the gums, nose, ears, and anus. The skin turned from flush to yellow or light brown. But it was in the final stages that patients underwent the worst of all symptoms: The black vomit, described variously by medical experts as resembling coffee grounds, black sand, kennel water, soot, or the meconium of a newborn child.“ Lee, Debbie: Slavery and the Romantic Imagination, Philadelphia 2002, S. 47.

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lirium bis hin zum Jähzorn, eine außerordentliche Energie“,28 so charakterisiert Moreau de Jonnès den Geisteszustand der Erkrankten. Die „Caribbean Disease“,29 der „Yellow Jack“ frisst sich gnadenlos durch die Reihen junger, kräftiger Europäer, verschlingt frisch eingetroffene Soldaten und Kaufleute, die farbige Bevölkerung und Sklaven hingegen scheinen ihm weitaus seltener zum Opfer zu fallen30 – weshalb, wie Debbie Lee darstellt, in Abolitionismusdiskursen Gelbfieber auch immer wieder als Metapher für die Schuld, die der weiße Mann sich durch die Sklaverei aufgeladen hat, auftaucht.31 Gelbfieber zerschlägt in der Tat europäische Hoffnungen, am Ende einer langen Seereise in den karibischen Kolonien zu Geld oder Ehren zu kommen, tötet kräftige Männer32 innerhalb weniger Stunden. Savarésy geht davon aus, dass es gerade diese enttäuschten Hoffnungen sind, die die Europäer überhaupt zum Opfer des Gelbfiebers werden lassen: „Jene, die auf Martinique voll schöner Hoffnungen und mit der innersten Überzeugung an Land gehen, dass sie hier ihr Glück machen werden, erleiden einen unerklärlichen Umsturz in ihrer Moral, wenn sie sich bewusst werden, dass die Möglichkeiten, reich zu werden, weder allen gemein, noch gesichert, noch leicht zu erlangen sind […], sie ermüden […], ihr Geist ist immer noch angespannt und ihr Körper stets in Bewegung, und bald werden sie zur Beute des Gelbfiebers. So ergeht es ihnen […], wenn sie ihre Hoffnungen in ferne Länder setzen, die sie kaum kennen.“33 Enttäuschung und drohendes Versagen sind für Savarésy Brutstätten des Gelbfiebers. Diese Annahme ist interessant angesichts der Tatsache, dass Gelb­ fieber nach Aussagen der Zeitgenossen vor allem die virilsten, leidenschaftlichsten jungen Männer anzugreifen scheint. Alexandre Moreau de Jonnès bemerkt 1802 auf Martinique: „Unter den Umständen, die einen Ausbruch einluden, waren zuvorderst ein robustes und sanguines Temperament, oder 28 | Moreau de Jonnès, A.: Monographie, S. 106. 29 | Lee, D.: Slavery, S. 48. 30 | Geggus, David: Yellow Fever in the 1790s: The British Army in Occupied St. Domingue, in: Medical History 23 (1979), S. 38–58, hier S. 39; Burnard, Trevor: ‚The Countrie Continues Sicklie‘: White Mortality in Jamaica, 1655–1780, in: Social History of Medicine 12 (1999), S. 45–72; Léti, G.: Santé, S. 128 u. 131. Bei Savarésy finden sich widersprüchliche Angaben, in seinem historischen Überblick über die Ursprünge des Gelbfiebers nennt er einige Ausbrüche, deren Heftigkeit auch die farbige Bevölkerung zu Opfer fiel. S. 120ff., auf S. 256 betont er jedoch, dass Farbige und in der Karibik ge­b orene Weiße von der Krankheit ausgenommen seien, es sei denn, sie lebten einige Zeit in Europa. 31 | Lee, D.: Slavery, S. 50ff. 32 | Gelbfieber tötet nachweisbar auch Frauen, wird jedoch im Diskurs nachdrücklich als Männerkrankheit verhandelt. Siehe vor allem Léti, G.: Santé, S. 125ff. 33 | Savarésy, A.: Fièvre jaune, S. 240.

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vielleicht eher jene Sitten und Gewohnheiten, die hieraus resultieren. Aus demselben Grund war das gefährlichste Alter jenes der Vollkraft und der Leidenschaften.“34 Savarésy notiert: „Robuste Konstitutionen, blühende Gesundheitszustände, umtriebige und energische Männer […], jene, die mit einem lebhaften Geist begabt sind […], angetrieben von einer lebhaften, brennenden, aktiven Vorstellungskraft […], diese sind die Personen, die das Gelbfieber mit Vorliebe erwählt.“35 Die Desillusionierung der jungen Männer beim Eintreffen in der Karibik, die Savarésy beschreibt, das drohende Versagen aller Entschluss- und Tatkraft eines noch so „robusten und sanguinen Temperaments“ angesichts der Umstände „enttarnt“ die potentiellen Opfer gleichsam gegenüber einer Krankheit, die besonders die Eigenschaften temperamentvoller Männlichkeit aufzuzehren scheint, energische Männer in hilflose Schatten ihrer selbst verwandelt. Emotionaler Aufruhr und Zweifel übertragen sich auf den Körper, den das Gelbfieber dann in der „Wahrheit“, der Substanz seiner Maskulinität, auf die Probe stellt. Die Prämisse einer Erkrankung im Gelbfieberdiskurs ist vitale Männlichkeit. Es gibt jedoch in diesem Diskurs auch einen zweiten „Typus“ des vitalen jungen Mannes, den sowohl Moreau de Jonnès als auch Savarésy beobachten, einen, der zwar auch erkrankt, aber dem Gelbfieber weitaus ebenbürtiger gegenübersteht: den im Kern unerschütterlichen, disziplinierten, rationalen Mann. Moreau de Jonnès hält fest, dass „die diszipliniertesten Corps diejenigen waren, die die wenigsten Männer verloren.“36 Savarésy geht etwas stärker ins Detail: „langsame, überlegte Personen, die zu starken Gedanken fähig sind; ihr Charakter mit Kaltblütigkeit gerüstet, mit Mut und Geduld, ruhige, systematische Männer, die Bewegung weniger lieben, aber eine regelmäßige Beschäftigung, solche von schwächlicherer Verfassung […] überleben in größerer Zahl und bleiben bisweilen ganz verschont.“37 Dies ist im historischen Kontext von geradezu eleganter Logik und bestätigt Debbie Lees These von Gelbfieber als einer „romantischen“ Krankheit: In der Blütezeit der Romantik und Empfindsamkeit ist es genau der wilde, herzbestimmte und abenteuerlustige Heldentypus, der expressis verbis an seinem Fieber vergeht. Der kaltblütige Rationalist hingegen, der stets einen klaren Kopf bewahrt, hat einen so kühlen Kern, dass ihm das Fieber wenig anhaben kann. Es stünde hier somit ein aufgeklärter, vernunft- und disziplinbetonter Mensch der Frühmoderne, dem trotz seines schwächlichen Körpers dank eines stabilen, unaufgeregten Inneren die Möglichkeit des Überlebens von Gelbfieber gegeben ist, dem emotionalen und körperlichen Prototyp eines Artusritters oder auch romantischen Helden entgegen, den das Fieber ungehindert verzehren 34 | Moreau de Jonnès,A.: Monographie, S. 99f. 35 | Savarésy, A.: Fièvre jaune, S. 259f. 36 | Moreau de Jonnès, A.: Monographie, S. 110. 37 | Savarésy, A.: Fièvre jaune, S. 260.

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kann. Der physisch starke, abgehärtete, gesunde Körper, den Melinda Rabb für Soldaten des 18.  Jahrhunderts als Diskursideal identifiziert hat,38 ist für ein Überleben des Gelbfiebers offensichtlich eher von Nachteil oder zumindest irrelevant. Der Fokus soll nun wieder den Briefen Lelongs gelten, dem Körper oder den Körpern, die in seinen Schilderungen entworfen werden. Zur umfassenden Rekonstruktion dieser Körper ist ein Nachvollzug eventueller diskursiver Elemente hilfreich, es soll jedoch unbedingt vermieden werden, Lelongs Äußerungen mit aller Macht an einen der hier präsentierten Diskurse rückzubinden. Im Falle der Identifikation solcher Diskurse kann einerseits durch die Aufführung bestimmter diskursiver Praktiken des Berichtens über den Körper eine Selbstbildung Lelongs in Richtung einer spezifischen Männlichkeit ausgemacht werden. Zum anderen kann die oben auf Basis der Körperschilderung im Brief an den Freund formulierte Interpretation des Überlebens von Lelong aufgrund einer „inneren Körperstärke“ bestärkt oder entkräftet werden. Es ist in jedem Falle lohnenswert, Diskurse von „Gelbfiebermännlichkeiten“ mit Selbstaussagen in Lelongs Briefen abzugleichen und hier auch über die Gelbfiebersequenzen hinauszublicken, denn es steht zu vermuten, dass Lelongs Selbstentwürfe eine gewisse Kontinuität in guten wie in schlechten Tagen besitzen. Entscheidend ist hierbei nicht, dass Lelong sich selbst explizit als „leidenschaftlich“ oder als „diszipliniert“ bezeichnet. (Er tut es nicht. Bedauerlicherweise.) Wichtig ist vor allem, dass Lelong sich selbst, seine Wahrnehmungen und Aktivitäten auf eine Weise beschreibt, in der er für seine Adressaten als „leidenschaftlich“ oder „diszipliniert“ intelligibel wird. In jeder Praktik ist es letztendlich die Intelligibilität der Aufführung für das Gegenüber, wie auch immer sich dieses Gegenüber gestaltet, die über den Erfolg oder Misserfolg der Aufführung entscheidet.39 Ein weiteres Mal möchte ich beide Briefe Lelongs getrennt untersuchen, um eventuelle Unterschiede im Selbstentwurf möglichst deutlich zu machen. Auch hier beginne ich mit dem Brief an die Eltern, um dann erneut zum Brief an den Freund überzugehen.

38 | Rabb, Melinda: Parting Shots: Eighteenth-Century Displacements of the Male Body at War, in: English Literary History 78 (2011), S. 103–135, hier S. 115. 39 | Siehe unter anderem Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012, S. 45; außerdem Schatzki, Site, S. 71f.

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4.  L elongs M ännlichkeitsent würfe 4.1  Eine Frage der Vernunft Die erste diskursive Kategorie, die Moreau de Jonnès und Savarésy eröffnen und die in Lelongs Briefen überprüf bar ist, ist die der Disziplin und Organisation gegenüber Leichtsinn und Kopflosigkeit. Moreau de Jonnès betont die Panik, die bald nach Ausbruch des Gelbfiebers im Oktober 1802 um sich greift: „Furchtbare Angst und Bestürzung waren unter den ersten Auswirkungen […], Offiziere, die dem Tod in Schlachten tausend Mal tapfer ins Auge gesehen hatten, weigerten sich, Dienste zu verrichten, die sie in die Krankenhäuser riefen; die am wenigsten abergläubischen Männer trugen eine Art von Amuletten um den Hals, denen man schützende Fähigkeiten zuschrieb.“40

Geneviève Léti zitiert Zeitgenossen, die schon die schlichte Angst vor einer Gelbfieberansteckung als Todesursache vieler Soldaten ausmachen.41 Sofern auch Lelong vor der Krankheit bereits Panik verspürte, so zeugen seine Briefe nicht davon, dafür aber von einem „Notfallplan“, den der Zahlmeister schon vor Eintritt der Krankheit organisiert hat: Bei einem Treffen mit Madame Saurel kurz nach der Ankunft auf Martinique bietet diese Lelong „mit der größtmöglichen Offenheit“ an, ihn im Falle einer Erkrankung zu pflegen. Offensichtlich muss ein Gespräch über das Risiko einer Erkrankung stattgefunden haben. Lelong akzeptiert das Angebot unverzüglich als er erkrankt, nimmt sofort ärztliche Hilfe in Anspruch und betont seine eigene Vernunft und Folgsamkeit gegenüber den Anweisungen des Arztes. Dass Lelong auf diese Weise emphatisch die fachliche Kompetenz des Mediziners anerkennt und auf dessen Fähigkeiten vertraut, deutet ebenso wie der Notfallplan auf eine Selbstverortung Lelongs als vernünftigen, organisierten Mann hin. In der vollständigen Umarmung der Schwäche und Passivität seines Körpers und der Ergebenheit gegenüber dem Arzt liegt die Aufgeklärtheit Lelongs, seine auf reiner Vernunft beruhende Resignation in die Gegebenheiten, die Bejahung von rationaler, klas­sifizierbarer Medizin als Weg zur Heilung. Moreau de Jonnès beschreibt, wie viele Patienten sich in kopfloser Panik von den Ärzten abwenden, deren Behandlung ihnen nicht schnell, nicht „wundersam“ genug erscheint und ihr Überleben so weiter gefährden.42 Auch die Kategorie von Geduld und Langmut gegenüber Ungeduld und Haltlosigkeit kann in Lelongs Schilderungen bedient werden. Die oben so stark gemachte Passivität Lelongs gegenüber dem 40 | Moreau de Jonnès, A.: Monographie, S. 93f. 41 | Léti, G.: Santé, S. 137. 42 | Ebd., S. 94ff.

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Arzt, die völlige Überantwortung des Körpers in dessen Hände, spricht somit auch für Lelongs Vernunft und – vor allem – Geduld. Das langmütige Erleiden der als so schmerzhaft empfundenen Behandlungsmethoden erzählt von Lelongs Ausdauer und vernunftbasierter Resignation. Eventuelle Empfindungen von Angst und Trauer erfahren die Adressaten nur indirekt: Lelong berichtet, dass der Arzt ihn „tröstet“, als die generelle Befürchtung von Lelongs Tod eintritt, führt jedoch im Krankheitszusammenhang keine Emotionsbeschreibungen an. Lediglich Wahrnehmungen des Körpers, Schmerz oder Unwohlsein, werden geschildert. All diese Beobachtungen deuten auf die Aufführung diskursiver Praktiken des Berichtens über die Gelbfiebererfahrung hin, die den Adressaten ein aufgeklärtes, vernunftbetontes Individuum intelligibel werden lassen. Welche Selbstaussagen finden sich nun außerhalb der Krankheits­ sequenz, die diesen Eindruck entkräften oder bestätigen könnten? Auch im Brief an die Eltern gerät die Feindschaft mit Jérôme Bonaparte immer wieder in den Fokus. Lelong nutzt alle Charakterdarstellungen Bonapartes als Referenzpunkte, um sich selbst zu positionieren, etwa als Mensch, der „empfindet, dass die ganze Würde eines Mannes an dessen Charakterwert hängt, und besonders die Würde eines wohlerzogenen Mannes“. Lelong unterstreicht jedoch wiederholt seine eigene Resignation und Akzeptanz der „Unvermeidbarkeit“ Bonapartes. Integrität und Ehrbarkeit spielen im Brief eine große Rolle, Lelong grenzt sich immer wieder gegenüber den „aus Eigennutz böswilligen“ Menschen ab, denen er begegnet. Eigennutz wird ebenso wie Träumerei von Reichtum abqualifiziert: „Man wird niemals reich, wenn man nicht sehr viel Glück hat oder ein echter Schelm ist.“ Unter den Begegnungen, die er erwähnt, findet sich ein Bekannter seines Bruders, Kapitän van der Poel, dessen Einschätzungen es Lelong erlauben, seinen eigenen Charakter indirekt darzustellen: Der Bekannte bestätigt beiden Brüdern den gleichen „charmanten Charakter“. Außenstehende wie Bonaparte und van der Poel werden hier gleichsam als Referenzpersonen genutzt. Die Konzeption ihrer Charaktere ist die Folie, gegen die Lelong sich entwerfen kann, und das Verhältnis, das zwischen ihnen und Lelong besteht, wird auf Basis dieser Folie immer vor allem Lelong selbst in bestimmter Weise darstellen. Eine wichtige Referenzperson ist, wenig überraschend, der Arzt. Aber auch der Kolonialpräfekt Bertin spielt eine Rolle, ebenso wie diverse andere ältere und hochrangige Militärpersonen. All diese Männer sind Lelong wohlgesonnen und möchten ihn fördern, werden ähnlich wie Kapitän van der Poel als verdiente und erfahrene Männer vorgestellt. Frauen tauchen praktisch nicht auf, mit Namen wird nur Madame Saurel genannt, die als Ehefrau eines Verwaltungskollegen und als Pflegerin während der Krankheit in einer nahezu mütterlichen Funktion geschildert wird. Diese Referenzpersonen unterstreichen gegenüber Lelongs Eltern den Selbstentwurf ihres Sohnes als einen vernunftbetonten, aufgeklärten jungen Mann, der älteren Kompetenzträgern angemessenen Respekt entgegenbringt und von

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diesen als potentieller Nachwuchs anerkannt wird. Als diskursive Elemente sind somit Disziplin und Geduld, vernunftgesteuerte Resignation, Folgsamkeit gegenüber Autoritäten, Ambition und beruflicher Ehrgeiz nachvollziehbar. Auf der emotionalen Ebene bekundet Lelong lediglich Unglück über die lange Trennung von den Eltern und die ungeliebte Arbeit an Bord. Ungeduld, Desorganisation, Auflehnung, Kampfeslust, romantische Liebe, Wut oder Rache sind im gesamten Brief nicht vertreten. Diese Kombination diskursiver Elemente im Kontext der spezifischen Adressaten entspricht einerseits ganz den diskursiven Praktiken, die ein junger Mann im 18. Jahrhundert in einem Brief an seine Eltern aufführen würde, gleichsam diskursiven Praktiken eines gehorsamen Sohnes.43 Im besonderen Setting des Gelbfiebers jedoch bedienen die hier identifizierten Praktiken auch die bei Moreau de Jonnès und insbesondere Savarésy sichtbaren, gelbfieberspezifischen Männlichkeitsdiskurse, sie stellen das Über­ leben Lelongs in einen aufgeklärten, beruhigend sachlichen Kontext medizinischer Beobachtung. Lelongs charakterliche Selbstverortungen bedeuten im zeitgenössischen Wahrnehmungsschema die Inanspruchnahme eines besonderen Körpers, dessen Rationalität und Ruhe ihn gerade für das Überleben einer Fiebererkrankung qualifizieren. Körper und Charakter sind im frühneuzeitlichen Verständnis eng verwoben, beeinflussen sich gegenseitig, der Charakter macht den Körper, der Körper den Charakter.44 Der aufgeklärte, frühmoderne Akteur ist jedoch auch vernünftig genug, sich jenseits allen Aberglaubens in einem gesunden Vertrauen auf Gott und die Medizin in die Hände eines kompetenten Arztes zu begeben. Die explizite Bereitwilligkeit einer vollständigen „Passivisierung“ und Resignation seines Selbst „zu seinem Besten“ mutet geradezu kantianisch an. In diesem Sinne ist die theorisierende Wiedergabe der Behandlungspraktiken im Brief ein Instrument der diskursiven Vermittlung von Lelongs spezifischer, aufgeklärter Männlichkeit, wir haben es hier also tatsächlich mit einer doppelten Praktik, einer Praktik in der Praktik, zu tun.

43 | Raapke, Annika/Haasis, Lucas: „Dein ergebenster und sehr gehorsamer Diener und Sohn“. Frühneuzeitliche Jugendbriefe an Mütter, in: Geschichte lernen, Themenheft Nr. 156: Selbstzeugnisse, Seelze 2013, S. 16–23. 44 | Rublack, Ulinka: Erzählungen von Geblüt und Herzen. Zu einer historischen Anthropologie des frühneuzeitlichen Körpers, in: Historische Anthropologie 9 (2001), 2, S. 214–232; Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen, Stuttgart 1987.

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4.2  Eine Frage der Ehre Der Brief an den Freund, der sich thematisch und im Auf bau so sehr von dem an die Eltern unterscheidet, kann nicht auf die gleichen diskursiven Elemente untersucht werden. Aspekte wie Geduld oder Ungeduld, Disziplin oder Kopflosigkeit tauchen in diesem Brief nicht auf. Dafür bietet die Krankheitsdarstellung in diesem Brief ein diskursives Element, das im Schreiben an die Eltern so nicht auftaucht: Kaltblütigkeit. Den großen Krisenmoment seiner Krankheit, die Verfärbung des Oberkörpers infolge des schwarzen Erbrechens, beschreibt Lelong betont nonchalant; „In einem hübschen Gelb“ sei er zwei Tage verblieben. Formalisten mögen dies allein dem manierierten Stil eines gebildeten Briefverfassers des 18. Jahrhunderts zuschreiben. Da die Beschreibung dieser Sequenz jedoch entsprechend der Adressaten variiert und im Brief an die Eltern keine Spur dieses nonchalanten Tonfalls zu identifizieren ist, werte ich diese Formulierung als eine diskursive Rhetorik, die Kaltblütigkeit transportieren soll. Auch die extreme Komprimiertheit der Krankheitsdarstellung, die die dramatischen Höhepunkte des Gelbfieberverlaufs anspricht, ohne jedoch durch eine Körperwahrnehmung Lelongs zu illustrieren, vermittelt den Eindruck einer gewissen Unbetroffenheit und Furchtlosigkeit. Das explizite Ver­trauen auf Gott untermauert die Theorie, besonders da der Arzt in ­dieser Darstellung nicht erwähnt wird, Lelong setze sich für die Augen seines Freundes ganz allein, nur begleitet von seiner Pflegerin, Madame Saurel, mit der tödlichen Krankheit auseinander. Da diese Krankheitsdarstellung im expliziten Kontext des Bonaparte-Konfliktes steht, muss Lelong notwendigerweise trotz der immensen körperlichen Schwäche, die das Gelbfieber verursacht, ein glaubwürdiger Gegner bleiben, sich Stärke im Angesicht der Schwäche bewahren. In diesem Zusammenhang steht das diskursive Element der Ehrbarkeit und Integrität, das wie im Brief der Eltern eine zentrale Rolle spielt. Im Brief an den Freund wird diese Integrität jedoch weit weniger allgemein als im „Elternbrief“ verhandelt, nämlich im direkten Vergleich mit Bonaparte angesichts einer konkreten Situation – dem situativen Klassiker des Unter-Beweis-Stellens männlicher Ehre; dem Umgang mit Frauen. Bonaparte entehrt sich, indem er seine prominente Position „stets gegenüber leichtgläubigen Frauen ausnutzt“, wohingegen Lelong, ganz Ehrenmann, eine der betroffenen Damen „mit a­ ller Offenheit, derer ich fähig bin“ warnt, „dass man kein großes Vertrauen in [Bonaparte] setzen könnte“. Ominös fügt er hinzu: „Ich bin sogar recht sicher, dass sie sich mittlerweile auf meine Seite schlägt. Es ist womöglich zu spät.“ Nicht nur zur Unterlegung des Ehrbarkeitsdiskurses wird eine Frau als Referenzperson genutzt: Im Vergleich zum Brief an die Eltern sind Männer in diesem Schreiben unterrepräsentiert. Der Präfekt Bertin wird neben Bonaparte als Einziger erwähnt. Anders als gegenüber den Eltern ist seine Bevorzugung

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Lelongs jedoch nicht auf dessen Potential als Nachwuchs gestützt, sondern ganz pragmatisch mit den Verwüstungen des Gelbfiebers begründet, die den Präfekten „eine große Zahl seiner Untergebenen aller Klassen“ gekostet haben. Der Höhepunkt der Gelbfiebersequenz wird, wie bereits erwähnt, durch den Schrecken einer Frau illustriert, die interessanterweise hier nicht als die sittsam verheiratete Madame Saurel vorgestellt wird, sondern schlicht als „meine Pflegerin“. Ganz am Ende des Briefes an den Freund schreibt Lelong: „… ich habe eine charmante Frau, die wir beide gut gekannt haben, nicht vergessen, hier gibt es Kreolinnen,45 und viele von ihnen, doch wie sehr unterscheiden sie sich von dieser einen. Ich bewahre mit viel Hingabe einige kleine Dinge auf, die ich ihr entwendet habe, dies tröstet mich darüber hinweg, von ihr entfernt zu sein.“ Lelong verortet sich hier als treu und standhaft gegenüber den Versuchungen der Karibik, erneut vor dem Hintergrund einer weiblichen Referenzperson. Lelong positioniert sich somit gegenüber seinem Freund inmitten von Frauen, die er berät, die ihn pflegen und die bei seinen schlimmsten Symptomen erschrecken, denen er widersteht und denen er treu ist – all dies sind Referenzsituationen, die Lelong gegen seine weiblichen Folien äußerst souverän erscheinen lassen. Selbst als Kranker entwirft er sich in einer adäquaten Kaltblütigkeit, denn seine Pflegerin erschrickt vor seinen Symptomen, er selbst jedoch nicht. Angesichts diskursiver Motive wie Kaltblütigkeit, Stärke, Gottvertrauen, Integrität, Ehrenhaftigkeit, Treue und Souveränität entspricht Lelongs Brief an seinen Freund einem wahren Feuerwerk an rhetorischen Praktiken eines männlichen Selbst-Entwerfens. Der Körper, der hier entworfen wird, wird zwar wesentlich weniger konkret in seinen Teilen und Wahrnehmungen benannt als im Brief der Eltern, dennoch sehe ich meine Interpretation von Lelongs „innerer Körperstärke“ und der Prüfung seiner wahren Maskulinität durch das Gelbfieber auf Basis der Analyse der diskursiven Praktiken bestätigt. Der Körper, der hier entworfen wird, ist ein durchaus anderer als der im Brief der Eltern: Er ist tendenziell allein, aktiv, fähig zur Auseinandersetzung und Positionsbehauptung. Dennoch, und dies ist bemerkenswert, fällt auch dieser Körper in Bezug auf Moreau de Jonnès’ und Savarésys Analyse in die Kategorie jener Männer, die Gelbfieber tendenziell überleben können, ist er doch kaltblütig, besonnen und widersteht Leidenschaften. Auch der kaltblütige, souveräne Lelong mit den intensiven Kontakten zur Damenwelt ist ein Mann der Aufklärung, dessen abgeklärter Kern das Gelbfieber weit weniger fürchten muss.

45 | Die „Kreol“-Bevölkerung bezeichnet im karibischen Zusammenhang des 18./19. Jahrhunderts in den Kolonialterritorien geborene Weiße. Die wohl prominenteste Kreolin des napoleonischen Zeitalters ist Marie-Josèphe de Tascher de la Pagerie Beauharnais, die Kaiserin Joséphine, die 1763 in eine reiche weiße Pflanzerfamilie auf Martinique hineingeboren wurde.

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5. M anns genug zu überleben ? „I seen a thing or two at sea, I have. If you would on’y lay your course, and a P’int to windward, you would ride in carriages, you would. But not you! I know you! You’ll have your mouthful of rum tomorrow, and go hang.“46

Dieses Mal ist es Long John Silver selbst, der Stevensons unbesonnene Piraten zur Räson bringen will. Unvernunft, Heißblut und Unüberlegtheit sowie nicht zuletzt Aberglaube gegenüber Käpt’n Flints Geist sorgen für das sichere Scheitern und sogar den Tod der meisten Bukaniers. Silver hingegen, clever, gebildet und kaltblütig, kann fliehen. Auch in Stevensons Piratenbande ist der Gefährlichste letztlich der intelligenteste, beherrschte Mann, der aufgrund seiner Selbstkontrolle und Geistesgaben überlebt, trotz der körperlichen Schwäche durch das Holzbein. Der Selbstentwurf des E.  Lelong zeigt einen Mann, der diese Qualitäten mit Silver teilt – der „agent comptable“ hätte einen guten Bukanier abgegeben, wenn seine moralische Integrität ihm diesen Weg eines „echte[n] Schelm[s]“ nicht verboten hätte. Jene moralische Integrität, jenes Ehrgefühl ist es jedoch, das in Stevensons Schatzinsel die ehrenhaften Gewinner und Schatzgräber von den toten oder unehrenhaft geflohenen Verlierern trennt. In Lelongs Selbstentwurf ist es nicht anders: Lelongs ehrliches Gottvertrauen, seine Positionierung als ehrenhafter Gegenpol des intriganten Jérôme Bonaparte sind für ihn „überlebenswichtig“. Aber wenngleich der Unterschied zwischen dem wahren Mann und dem feigen Schurken eine Frage der Ehre ist, so liegt das Geheimnis von Lelongs Überleben doch vor allem in seinem Körper. Der Körper, dessen es bedarf, um das Gelbfieber zu überleben, ist ein Körper der Aufklärung: Seine Festigkeit zieht er aus seiner Fähigkeit zur Vernunft und Selbstkontrolle, aus der Resignation des Beins, der Gehorsamkeit des Rückens, der inneren Stärke des Geistes. Und um zuletzt den so aufschlussreichen Worten Lelongs, die ihr Ziel niemals erreicht haben, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, schließe ich mit dem Postskriptum des Briefes an die Eltern: „Meine guten, meine besten Freunde, ruft mich all jenen in Erinnerung, von denen ihr glaubt, dass sie mir zugetan sind.“ Es steht zu hoffen, dass dieser Wunsch des aufgeklärten Gelbfieberbezwingers und vergessenen Ehrenmanns durch diesen Aufsatz erfüllt wäre.

46 | Stevenson, R.: Treasure Island, S. 80.

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Artefakte

Überlegungen zu einer Nationaltracht „Social Imaginary“ im Schweden des späten 18. Jahrhunderts Mikael Alm

1. V ier M änner und eine K uh Wir sehen vier Männer, gruppiert um eine Kuh.1 Der erste Mann, ganz nüch­ tern in einen schlichten grauen Anzug gekleidet, steht vor der Kuh und ver­ sucht, sie an einem Seil, das an ihren Hörnern befestigt ist, vorwärts zu zie­ hen. Der zweite Mann, etwas eleganter ausstaffiert mit einem schiefsitzenden, federverzierten Hut, Sporenstiefeln und einem Cape über der Schulter, sitzt auf dem Rücken der Kuh mit der Reitpeitsche in der Hand, ganz als säße er auf einem Pferd. Der dritte Mann, korpulent und bis auf seinen leuchtend weißen Kragen ganz in schwarz gekleidet, sitzt neben der Kuh auf einem Stein, greift unter sie und melkt ihr Euter. Hinter der Kuh steht der vierte und letzte Mann, anscheinend in raueren Stoff gekleidet, eine einfache rote Kappe auf dem Kopf, der die Kuh mit festem Griff um ihren Schwanz festhält. Das Ölgemälde, welches nicht mehr als 44 x 59 cm misst und von einem unbekannten Talent gemalt wurde – vermutlich in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts – stellt ganz offensichtlich eine politische Allegorie dar, es vermittelt eine spöttische Satire auf die zeitgenössische Politik.2 Die Kuh kann leicht als das Reich verstanden werden, dessen Wohlergehen zwischen den Händen rivalisierender Kräfte des politischen Lebens gewaltsam hin- und hergerissen wird. Zudem zeigt das Gemälde jedoch einen Schnappschuss der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft. Jeder der Männer repräsentiert einen der vier Stände der schwedischen Gesellschaft und die vier Bestandteile der 1 | Dieser Artikel ist innerhalb des Forschungsprojektes „Seeing and Enacting the Social Order. Cultures of Difference in Early Modern Sweden“ entstanden, das vom Riksbankens Jubileumsfond finanziert wird. 2 | Kulturen in Lund, KM 3084. Siehe auch Ur Kulturens gömmor – Bildkonst från 6 sekler, Lund 1987, Nr. 32.

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schwedischen Nationalversammlung, des Riksdag; der elegant gekleidete Ade­ lige mit seinen Sporen und seiner Reitpeitsche auf dem Rücken der Kuh, der Geistliche in seinem schwarzen Habit und seiner weißen Halskrause an ihrer Seite, der einfach gekleidete Bürger an ihren Hörnern und der grob gekleidete Bauer an ihrem Schwanz. Abbildung 1: Die vier Stände (De fyra stånden. Politisk allegori), Künstler unbekannt, Öl auf Leinwand, 44 x 59 cm.

Foto: ©Lars Westrup/Kulturen, Lund, Schweden.

Die beiden Letzteren, die sich in das urbane und das rurale Gemeinvolk un­ terscheiden (die Handwerker/Händler gegenüber den Bauern) mögen eine Be­ sonderheit in der schwedischen Version des Ständesystems darstellen, das über vier Stände verfügt anstatt der drei Stände, die im kontinentalen Europa üb­ licherweise zu finden waren. Dennoch ist dies ein vertrautes Bild in mittelalter­ lichen und frühneuzeitlichen europäischen Gesellschaften. Das Ständesystem war möglicherweise eine der grundlegendsten Strukturen sozialen Lebens, es basierte auf Ehre und sozialen Funktionen und unterteilte die Gesellschaft hi­ erarchisch in jene, die beteten; jene, die kämpften; und jene die produzierten. Es scheint nur ein kurzer Schritt von den vielen mittelalterlichen Darstellun­ gen des – ebenso identifizierbaren – Ritters mit Rüstung und Schild, des Geist­ lichen in Habit und Tonsur und des Bauern mit Pflug und Spaten.3 Die Idee ei­ ner Ständegesellschaft hat die schwedische Historiographie dominiert. Die vier Stände werden oft als die leitenden Kategorien der frühneuzeitlichen sozialen 3  |  Siehe vor allem Duby, Georges: The Three Orders. Feudal Society Imagined, Chicago 1982 [1978].

Überlegungen zu einer Nationaltracht

Ordnung gesehen und analysiert, welche die Gesellschaft und ihre Mitglieder politisch, sozial, ökonomisch und sogar kulturell strukturierten. Entsprechend bestand Sozialgeschichtsforschung zum großen Teil in der Untersuchung der Verhältnisse und Prozesse innerhalb und zwischen diesen vier Ständen4. Die Realitäten der frühneuzeitlichen sozialen Welt waren sehr viel komple­ xer, als ein oberflächlicher Blick auf die Stände vermuten lassen würde. Wie die aktuelle Forschung belegt, können frühneuzeitliche Gesellschaften weni­ ger als klar getrennte soziale Ordnungen separater Stände verstanden werden denn als grundlegend asymmetrische und durch und durch hierarchische Ge­ sellschaften, in denen sich koexistierende Hierarchien und Vorstellungen von Differenz überschnitten und in denen die Zugehörigkeit und Position eines spezifischen Individuums oder einer Gruppe je nach Kontext variierte und sich veränderte.5 Diese koexistierenden Hierarchien und Differenzvorstellungen und die komplexeren Realitäten hinter dem vertrauten Bild der vier Stände im früh­ neuzeitlichen Schweden stehen im Mittelpunkt der folgenden Diskussion.

2. Ü berlegungen zu einer N ationaltr acht Mein Ausgangspunkt sind die 73 Aufsätze, die als Reaktion auf den ausge­ schriebenen Preis (einer Goldmedaille mit einem Gewicht von 30 Dukaten, 4 | Der große Doyen der schwedischen Geschichtsschreibung in diesem Bereich ist Professor Sten Carlsson (1917–1989), dessen analytische Kategorien und Verständnis der schwedischen Ständegesellschaft, ihrer Anatomie und Entwicklung, die er in den 1940er Jahren erstmals formulierte, einen immensen Einfluss auf das schwedische Feld der Sozialgeschichte hatten. Siehe besonders Carlsson, Sten: Ståndssamhälle och ståndspersoner. Studier rörande det svenska ståndssamhällets upplösning, 1700– 1865, Lund 1973. 5  |  Siehe beispielsweise Burke, Peter: The Language of Orders in Early Modern Europe, in: Michael L. Bush (Hg.): Social Orders and Social Classes in Europe since 1500: Studies in Social Stratification, London 1992; Henningsen, Peter: I sansernes vold. Bondekultur och kultursammenstød i enevældens Danmark, Bd. 1, Auning 2006, S. 326–332; Bossenga, Gail: Estates, Orders and Corps, in: William Doyle (Hg.): The Oxford Handbook of the Ancien Régime, Oxford 2012; Freist, Dagmar: „Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen“. Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektiverung, Bielefeld 2013. Siehe auch Shepard, Alexandra/Withington, Phil: Introduction: Communities in Early Modern England, in: Dies. (Hg.): Communities in Early Modern England, Manchester 2000.

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also 102 Gramm) für das beste Essay über die Vor- und Nachteile einer nationa­ len Tracht6 1773 bei der Königlichen Patriotischen Gesellschaft 7 in Stockholm eingereicht wurden. „Würde“, so lautete die Frage, „eine nationale Tracht, dem schwedischen Klima angemessen und unterschiedlich zu den Trachten ande­ rer Völker, dabei helfen, die Schwindeleien und Veränderungen in der Mode zu beseitigen?“8 Die Essays – die sich im Umfang zwischen kurzen Statements von zwei Seiten bis zu richtiggehenden Traktaten von 46 Seiten bewegen – wurden entsprechend der gängigen Praxis derartiger akademischer Wettbe­ werbe anonym eingereicht, zusammen mit einem versiegelten Umschlag, der den Namen des Autors oder der Autorin enthielt, der oder die seine oder ihre Autorschaft und Identität zudem über individuell gewählte Mottos, die in den Essays statuiert wurden, nachweisen konnte. Nachdem der Gewinner oder die Gewinnerin auserkoren und verkündet war, wurden die Umschläge mit den Namen zerstört und Aufsätze, die nicht von ihren Autoren zurückgefordert wurden, in der Reihenfolge ihrer Präsentation vor dem Entscheidungskomitee ab 1 fortlaufend nummeriert und im Archiv der Sozietät abgelegt, wo sie auch heute noch liegen (insgesamt 65 Aufsätze von den ursprünglichen 73, die ein­ gereicht wurden.)9 Obwohl die Identitäten der Autorinnen und Autoren weitgehend unbekannt und hinter dem strikt gewahrten Prinzip der Anonymität verborgen sind, ist es doch möglich, auf ihre soziale Zusammensetzung rückzuschließen. Die Identitäten von sechs Autoren wurden bekannt gegeben: Der Hofkaplan, Erik Waller (Autor von Aufsatz Nummer 29), der zum Sieger erklärt wurde; der Sekretär der Königlichen Patriotischen Gesellschaft, Anders Modéer (Autor von Nummer 22), und ein weiterer Hofkaplan, Paul Juringius (Verfasser von Nummer 27), welche beide mit Silbermedaillen für ihre Arbeiten belohnt wur­ den; ein gewisser „Sekretär J.B. Méan“ aus Brüssel (Autor von Nummer 13), dessen Aufsatz ehrenhalber abgedruckt und von der Gesellschaft veröffent­ licht wurde; ein Henry Des Combes aus Lausanne in der Schweiz (Verfasser von Nummer 52), der seinen Aufsatz tatsächlich unterschrieben hatte, sowie – schließlich – der bekannte Linguist und berühmte Wissenschaftler Abra­ 6 | Gegründet im Jahr 1766 und seit 1772 unter königlicher Schirmherrschaft, war es das Ziel der Gesellschaft, heimische Gewerbe, Handel und Handwerk durch Journale, Preise und Wettbewerbe wie den von 1773 zu befördern. Högberg, Staffan: Kungl. Patriotiska sällskapets historia. Med särskilt hänsyn till den gustavianska tidens agrara reformstravänden, Stockholm 1961. 7 | Bergman, Eva: Nationella dräkten. En studie kring Gustaf III:s dräktreform 1778, Stockholm 1938, Kap. 4. 8 | Bergman, E.: Dräkten, S. 15. Siehe auch die ursprüngliche Ausschreibung, die am 28. Oktober 1773 in der offiziellen Staatszeitung Inrikes Tidningar veröffentlicht wurde. 9 | Siehe Bergman, E.: Dräkten, Kap. 4.

Überlegungen zu einer Nationaltracht

ham Sahlstedt (Aufsatznummer unbekannt), der sich zu erkennen gab und um die Rücksendung seines Aufsatzes ersuchte.10 Mit Ausnahme der offen­ sichtlichen Präsenz von Autoren aus dem Ausland11 scheint die soziale Zusam­ mensetzung der Verfasser mit dem erwarteten Publikum aus gebildeten und gutsituierten Personen, die im zeitgenössischen Schweden einige Bedeutung genossen, übereinzustimmen – eine urbane kulturelle Elite von Staatsdienern, Offizieren, Höflingen und Wissenschaftlern, gepaart mit ländlichem Klein­ adel, Grundbesitzern und ländlichen Geistlichen.12

10  |  Bergman, E.: Dräkten, S. 40–42. Zu Des Combes, bei Bergman nicht notiert, siehe Riksarkivet, Stockholm: Patriotiska Sällskapets Arkiv, Handlingar för år 1774, Nr. 52. Außerdem zirkulierten mehrere mehr oder weniger fundierte Gerüchte und Theorien betreffend weiterer Autoren, so beanspruchte Generalmajor G. A. Siegroth überzeugend die Autorschaft eines Essays (Nr. 25 oder 26), Graf A. von Höpken, Reichskanzler, wurde als Autor von Nummer 48 gehandelt, und der Reichschronist Anders Schönberg wurde in gleicher Weise als Autor von Nummer 49 benannt. Siehe Bergman, E.: Dräkten, S. 41–42. 11 | Es gibt auch zwei Essays (Nr.16 und Nr. 57), die in St. Petersburg datiert sind. Sicherlich bedeuten fremde Datierungsorte und fremde Sprachen nicht notwendigerweise ausländische Autoren. Was Sprachen betrifft, so finden sich insgesamt unter den archivierten Aufsätzen zwei auf Französisch (Nr. 13 und 52, der erste ist in einer schwedischen Übersetzung abgelegt), und sieben auf Deutsch (Nr. 7, 11, 16, 51, 55, 57 und 63, die ersten beiden sind in der schwedischen Übersetzung archiviert). Zudem wurden mehrere dieser Essays in publizierter Form eingereicht, was mit der Ausschreibung übereinstimmte, die besagte, dass jene, die „ihre Ideen in Druck veröffentlichen“ wollten, bevor sie sie einreichten, der gleichen Anonymität und des gleichen Beurteilungsmodus in den Händen der Königlichen Patriotischen Gesellschaft „versichert“ wären, „wie alle anderen Aufsätze“. Siehe Bergman, E.: Dräkten, S. 15. Siehe außerdem die originale Ausschreibung, veröffentlicht in der offiziellen Staatszeitung, Inrikes Tidningar, vom 28. Oktober 1773. 12 | Dieses Bild wird noch weiter unterstützt – wenn auch indirekt und wenig konklusiv – durch Informationen aus den Aufsätzen selbst, in Pseudonymen wie „ein einfacher Priester“ oder „ein Mann vom Land“ (Landtman), außerdem in Referenzen auf frühere Schriften und politische Memoria sowie auf Delegationen in Regierungsdeputationen. Siehe Riksarkivet, Stockholm: Patriotiska Sällskapets Arkiv, Handlingar för år 1774, Nr. 34, 45, 47, 49, 61 (Pseudonyme), 10, 44, 60 (Referenzen). Zur gebildeten Öffentlichkeit als Teilnehmer am öffentlichen Raum im zeitgenössischen Schweden, siehe: Björkman, Margareta: Läsarnas nöje. Kommersiella lånbibliotek i Stockholm 1783– 1809, Uppsala 1992, S. 405–486; Simonsson, Anders: Bland hederligt folk. Organiserat sällskapsliv och borgerlig formering i Göteborg 1755–1820, Göteborg 2001, Kap. 4; Sennefelt, Karin: Politikens hjärta. Medborgarskap, manlighet och plats i frihetstidens Stockholm, Stockholm 2011, Kap. 2.

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Die spezifischen Identitäten der Verfasser einmal außen vor gelassen, prä­ sentieren die Aufsätze einen reichen Fundus an Rohmaterial. Der Wettbewerb war vor allem ein von staatlicher Seite orchestriertes Vorspiel zur nationalen Kleidungsreform, die 1778 in Kraft trat, und die Fragestellung zielte haupt­ sächlich auf das Problem des Luxus und des Betrugs ab.13 Entsprechend be­ arbeiten die Aufsätze ein breites Spektrum des weiten thematischen Feldes, das Bekleidungskultur mit dem wirtschaftlichen Wohlergehen des Staates und seiner Bewohner verbindet, etwa die Effizienz oder Ineffizienz von Luxusver­ ordnungen und Regulierungen; die Bedürfnisse und Fähigkeiten der schwe­ dischen Kleiderproduktion gegenüber importierten Waren; die grundlegende Natur und Bedeutung einer „nationalen“ Tracht; und schließlich Fragen nach der Funktionalität von Kleidung gegenüber deren Ästhetik. Während die Au­ toren ihre Überlegungen zu einer nationalen Tracht darlegten, reflektierten sie gleichzeitig tiefergehende Themen der sozialen Ordnung, beschrieben ihre Ansichten zur Gesellschaft, deren konstitutive Teile und die Frage, wie diese Teile mit Hilfe von Bekleidung sichtbar gemacht werden sollten. Es sei erneut bemerkt, dass die Fragestellung nicht explizit zur Reflexion über soziale Ord­ nung und die Visualisierung von Unterschieden einlud. Allein die Tatsache, dass die Autoren, mit nur wenigen Ausnahmen, beschlossen, genau diese Themen zu bearbeiten, illustriert klar die enge Beziehung zwischen Kleidung, physischem Erscheinungsbild und Fragen der sozialen Ordnung und der so­ zialen Unterschiede. Unterschiede in der Kleidung waren anscheinend verwo­ ben mit Unterschieden in der sozialen Position und genauso deckten sich die Hierarchien der Erscheinungen mit sozialen Hierarchien und strukturierten diese.14 13 | Bergman, E.: Dräkten, Kap.3. Zur Reform von 1778, siehe auch Rangström, Lena: Den svenska hovdräkten – nationell och europeisk, in: Dies. (Hg.): Hovets dräkter, Stock­h olm 1994; dies.: Kläder för tid och evighet. Gustaf III sedd genom sina dräkter, Stockholm 1997, S. 165–177; dies.: Det helsvenska lejonet: Gustav III:s dräktreform, in: Dies. (Hg.): Modelejon. Manligt mode 1500-tal, 1600-tal, 1700-tal, Stockholm 2002. 14  |  Siehe etwa Roche, Daniel: The Culture of Clothing. Dress and Fashion in the Ancien Regime, Cambridge 1994; Belfanti, Carlo Marco/Giusberti, Fabio: Clothing and Social Inequality in Early Modern Europe: Introductory Remarks, in: Continuity and Change 15 (2000), S. 359–365; Sennefelt, Karin: Runaway Colours: Recognisability and Categorisation in Sweden and Early America, 1750–1820, in: Göran Rydén (Hg.): Sweden in the Eighteenth-Century World. Provincial Cosmopolitans, Farnham 2013. Siehe auch Styles, John: The Dress of the People. Everyday Fashion in Eighteenth-Century England, New Haven, Conn. 2010, S.20,29 u. 32–34, der eindrücklich die stets wiederkehrenden Kommentare reisender Europäer in England über den „high standard of ordinary people’s clothes“ und die „muted social distinctions“ im Erscheinungsbild mit dem tatsächlichen Inhalt der Kleiderschränke von Reich und Arm im 18. Jahrhundert kon­

Überlegungen zu einer Nationaltracht

Die Vorstellungen und Gedankenspiele der Autoren erlauben uns, in die soziale Ordnung einzusteigen und sie wahrzunehmen, wie sie von ihren Zeit­ genossen beschrieben und konstruiert wurde.15 Mit Bezug auf das analytische Gerüst der französisch-amerikanischen Historikerin Sarah Maza stütze ich mich hier auf das Konzept des social imaginary, welches erfassen will, „how people in the past experienced the social world“, also wie Menschen – unter Berücksichtigung der mehr oder weniger institutionalisierten Variablen von Eigentum, Rangfolgen und sozialen Praktiken – ihre soziale Ordnung und de­ ren Hierarchien verstanden und zu beschreiben pflegten.16 Kurz gesagt: Wie wurde die soziale Ordnung tatsächlich von jenen verstan­ den und in Begriffe gefasst, die in den 1770er Jahren in ihr lebten? Oder, um die Frage etwas direkter und pointierter zu formulieren: Wie wurde die schwe­ dische Gesellschaft von jenen Menschen gedeutet und beschrieben, die von heutigen Historikern vor allem als Mitglieder einer Ständegesellschaft verstan­ den und definiert werden? Ich werde nun die unterschiedlichen Hierarchien und differierenden Vorstellungen über die soziale Ordnung illustrieren, die in den Quellen auftauchen, indem ich mich auf drei der eingereichten Aufsätze konzentriere, in denen social imaginaries auf Ständen, Klassen und Rängen basieren17. trastiert und dabei das vertraute Muster eines Anstiegs von Quantität und Qualität der Kleidung mit steigendem Wohlstand sowie von „specialist accessories“ (Handschuhe, Perücken, Stöcke etc.) herausarbeitet (trotz eines „considerable overlap“). 15 | Somit stellen die Aufsätze ein sozial reflexives Quellenmaterial dar, vergleichbar mit dem, welches Sozialhistoriker wie Robert Darnton, Daniel Roche und Arlette Farge (ebenso wie die weiter unten genannte Sarah Maza) in ihren Studien zu sozialen Konzeptualisierungen und Praktiken im frühneuzeitlichen Frankreich benutzt haben. Siehe z. B. Darnton, Robert: The Great Cat Massacre and Other Episodes in French Cultural History, New York 1984; Roche, Daniel: The People of Paris. An Essay in Popular Culture in the 18th Century, Berkeley, Cal. 1987; Farge, Arlette: Fragile Lives. Violence, Power and Solidarity in Eighteenth-Century Paris, Cambridge, Mass. 1993. 16 | Maza, Sarah: The Myth of the French Bourgeoisie. An Essay on the Social Imaginary, 1750–1850, Cambridge, Mass. 2003, S. 11. Ein anderer Vertreter dieses Forschungsfeldes formuliert den Untersuchungsgegenstand als „the space of possibilities between the social reality and its representation“. Wahrman, Dror: Imagining the Middle Class. The Political Representation of Class in Britain, c. 1780–1840, Cambridge 1995, S. 14. 17 | Ich beziehe mich auf die Nummern, die jedem Aufsatz von der Königlichen Patriotischen Gesellschaft zugewiesen wurden. Eine Handvoll von Aufsätzen hat keine Nummer. Für diese Aufsätze habe ich eine eigenständige Nummerierung entwickelt, die von A1 bis A6 läuft. Um die Zuordnung zu erleichtern, gebe ich in Klammern das Eingangsdatum an, so wie es auf den Aufsätzen notiert ist.

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3. E ine G esellschaf t von S tänden Das Ständesystem und seine sozialen Kategorien finden in den Aufsätzen sehr häufig Erwähnung. Dies zeigt sich an dem achtseitigen Aufsatz unter dem Titel „Plan für und Überlegungen zu einer schwedischen Nationaltracht“, der dem Gutachterkomitee am 30. April 1774 vorgelegt wurde.18 Hierin wird die Gesellschaft als aus vier Ständen bestehend entworfen: ein „Bauernstand“, ein „Bürgerstand“, ein „geistlicher Stand“ und ein „Adelsstand“ (oder ein „Stand der Ritterschaft und des Adels“, Ridderskapet och Adeln, wie der Autor es gemäß schwedischer Praxis formuliert). Obgleich der Autor die übliche Anordnung der vier Stände umkehrt, indem er den Bauernstand als „Nummer eins“ und den Adelsstand als „Nummer vier“ bezeichnet (normalerweise wurde genau andersherum verfahren, mit dem Adel als erstem und den Bauern als viertem Stand), hält sich die Beschreibung dennoch vollständig an die vertrauten For­ men und die Logik des Ständesystems.19 Dieses Festhalten am Ständesystem wird vom Autor durch wiederkehrendes Aufrufen der verschiedenen Qualitä­ ten und Tugenden betont, die den vier Ständen zeitgenössisch in offiziellen An­ sprachen zugeschrieben wurden, so etwa der „ehrbare“ (ärbara) Bauernstand, der „geachtete“ (respekterade) Bürgerstand und der „ehrwürdige“ (wördiga) geistliche Stand.20 Mit gleichem Ergebnis hält sich der Verfasser bei seinem Entwicklungsvorschlag für eine nationale Tracht eng an die ideologischen Grundlagen und praktischen Realitäten des Ständesystems. Die angedachte Kleiderordnung ist tatsächlich eine Reduktion des zeitgenössischen Kleidungs­ regimes, in dem die soziale Position eines Individuums effektiv durch anstei­ gende Exklusivität der Schnitte, Stoffe und Accessoires signalisiert wurde.21 18 | Riksarkivet, Stockholm: Patriotiska Sällskapets Arkiv, Handlingar för år 1774, Nr. A5 (30.4./1774). 19 | Unter den wiederkehrenden Beschreibungen einer Ständeordnung finden sich jene, die weniger buchstabengetreu mit dem etablierten Ideal einhergehen. So behauptet etwa der Autor von Aufsatz Nr. 36, dass „zwischen drei Hauptständen [hufwudstånd] im Reich unterschieden werden“ könne, und präsentiert somit eine Anordnung von drei Ständen, wobei er seltsamerweise den klerikalen Stand ausschließt (er benennt „die Adeligen, die Bürger und die Bauern“), anstatt Bürger und Bauern in einem gemeinsamen dritten Stand zusammenzubringen. Der Autor von Aufsatz Nr. 64 hingegen behauptet, die „bekannten Grundfarben“ würden nicht ausreichen, um die existierenden Stände zu „klassifizieren“. Riksarkivet, Stockholm: Patriotiska Sällskapets Arkiv, Handlingar för år 1774, Nr. 36 u. 64. 20 | Zu diesen Qualitäten siehe etwa Alm, Mikael: Kungsord i elfte timmen. Språk och självbild i det gustavianska enväldets legitimitetskamp 1772–1809, Stockholm 2002, S. 343; Stadin, Kekke: Stånd och genus i stormaktstidens Sverige, Lund 2004, S. 27. 21 | Siehe etwa Roche, D.: Culture, S. 39f.

Überlegungen zu einer Nationaltracht

Dem Vorschlag zufolge sollte jeder Stand ganz einfach eine spezifische, sozial identifizierende Farbe zugewiesen bekommen, die seine Mitglieder (Männer wie Frauen) beständig tragen sollten. Dem Bauernstand wird „die dunkelgraue Farbe“ zugewiesen, dem Bürgerstand „Rosenrot“, dem Klerus „Schwarz“ und dem Adel „die weiße Farbe“.22 Hier zeigt sich eine Sprache gesellschaftlicher Differenzierung, die in ihrer Simplizität und Klarheit einen kleidungsbasier­ ten Gegenpart zur Sprache der Symbole bildet, in der der Adelige durch ein Schwert ganz einfach repräsentiert – und genauso einfach wiedererkannt – werden konnte; der Priester durch ein Kreuz, der Bürger durch den Hermes­ stab und der Bauer durch einen Spaten oder eine Sichel.23 Weiterhin werden die ideologischen Prinzipien des Ständesystems mit ihrer Betonung der Würde eines jeden Standes und dessen spezifischen Funktionen im body politic akti­ viert, als der Verfasser die Auswahl der Farben begründet. Demzufolge sollten die Bauern Grau tragen, da diese Farbe „im Einklang mit ihren Gewohnheiten“ stünde und „äußerst praktisch für ihre Lebensweise“ (nämlich der schmutzi­ gen Arbeit auf Feldern und Weiden) sei, wohingegen Bürger Rot tragen sollten, um „ihre regen Geschäfte“ zu signalisieren. Für Priester und Adelige werden die uralten Praktiken und Traditionen sozialer Ordnung fortgesetzt, die durch die Jahrhunderte überliefert wurden; die Priester sollen Schwarz tragen, da 22 | Der Verfasser von Essay Nr. 37 veranschaulicht die Nutzung von Farben als Mittel zur Differenzierung weiter. Die beschriebene soziale Ordnung ist weniger statisch, beinahe inkonsequent; der Autor kombiniert ein Konzept von Gesellschaft aus Sozialkategorien wie „geistlicher Stand“ und „Bauernstand“ mit Kategorien, die administrativ oder durch Beschäftigung definiert werden, wie „das Militär“ oder „zivile Stände“ sowie „die Kaufleute und Kleinbürger“ mit rein geographischen Kategorien, für Bauern aus unterschiedlichen „Provinzen“. Für jede vorgeschlagene Differenzierungskategorie sind jedoch Farben das angedachte Mittel zur Visualisierung, mit „Schwarz“ für den Klerus, „die etablierten Farben“ für den Militärstand, „die angewiesenen Farben“ für den zivilen Stand, die Kaufleute und Kleinbürger, und das „uralte Grau“ für die Bauern, denen zudem noch eine spezielle Provinzfarbe zugewiesen werden konnte („von der niemand abweichen darf“). Riksarkivet, Stockholm: Patriotiska Sällskapets Arkiv, Handlingar för år 1774, Nr. 37. 23 | In der endgültigen Reform von 1778 wurden Farben für die Visualisierung von Differenzen genutzt. Die Schnitte und Bestandteile der Kleidung waren für alle gleich, doch die Farbgebungen unterschieden sich. Trotzdem war es keine primär soziale Hierarchie, die visualisiert wurde (obgleich ein Adeliger, der am Hofe vorgestellt wurde, leicht an seiner roten Schärpe und den roten Verzierungen an seinem ansonsten gewöhnlichen schwarzen Anzug erkannt werden konnte; eine adelige Frau erkannte man an Puffärmeln und der Länge ihrer Schleppe); es war eher die Farbgebung des Staatsapparates, in der den staatlichen Departements, Gerichtshöfen und Verwaltungszweigen unterschiedliche Farben zugewiesen wurden. Bergman, E.: Dräkten, Kap.7.

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„der besagte Stand diese Kleiderfarbe bereits trägt“, und die Adeligen Weiß, da „diese Farbe schon seit alter Zeit von diesem Reichsstand (Riks Stånd) getra­ gen worden ist“.24

4. E ine G esellschaf t von K l assen Wenn wir den Blick nun auf Aufsatz Nr. 59 richten, zeigt sich eine andere soziale Ordnung, die auf einer deutlich unterschiedlichen Logik und anderen Prinzipien beruht. Erneut wird uns eine Ordnung präsentiert, die sich aus vier Bestandteilen zusammensetzt. Doch geht es hier nicht um Stände. Stattdessen schlägt der Verfasser eine „Aufteilung der Nation in vier Klassen“ vor – ganz einfach bezeichnet als erste, zweite, dritte und vierte Klasse.25 Blickt man ge­ nauer auf diese Klassen, verkompliziert sich die Lage. Es ist tatsächlich ein seltsames Mischmasch. Die erste Klasse besteht aus denen, die „offiziell der ersten Rangordnung angehören“, also den höheren zivilen und militärischen Staatsdienern. Der zweiten Klasse gehören „die angeseheneren Mitglieder der geistlichen und bürgerlichen Stände [an], die bedeutenderen Landbestel­ ler (Lantbrukare), die sich durch Abstammung und Bildung auszeichnen; die Wohlhabenderen aus den Handels- und Fabrikgesellschaften; die Ordinarii und Extra-Ordinarii der königlichen Collegia und anderer staatlicher Depar­ tements und Stäbe sowie die Staatsbediensteten, die dort dienen.“ Die drit­ te Klasse besteht aus den „weniger bedeutenden Mitgliedern des geistlichen und bürgerlichen Standes; den weniger Wohlhabenden aus den Handels -und Fabrikgesellschaften und den geringeren Bediensteten der staatlichen Depar­ tements.“ Die vierte Klasse wird unter „die Bauernschaft“ zusammengefasst. Es finden sich hier mehrere Kategorien einer Ständegesellschaft. Die geist­ lichen und bürgerlichen Stände werden namentlich erwähnt, und die Fest­ schreibung der Bauern auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie ist eine Gemeinsamkeit mit der traditionellen Anordnung der Stände. Außerdem be­ nutzt der Autor die uralte schwedische Phrase Herrar och Män mit Blick auf 24 | Siehe Stadin, Kekke: Stormaktsmän, in: Madeleine Hurd/Tom Olsson/Lisa Öberg (Hg.): Iklädd identitet. Historiska studier av kropp och kläder, Stockholm 2005, S. 52f., die sehr treffend von einer „Semiotik der Farben“ spricht. Siehe auch: Sennefelt, K.: Colours, S. 237, die konkrete Beispiele dieser „Semiotiken“ und Bedeutungen anbietet (etwa Schwarz für Loyalität, Rot für Macht und, wenigstens in Schweden, Blau für Distinktion). Siehe zudem Henningsen, P.: Sansernes, S.340f., der – in Übereinstimmung mit dem vorgeschlagenen Farbcode des historischen Verfassers – versichert, dass Grau typisch für Bauern war. 25 | Riksarkivet, Stockholm: Patriotiska Sällskapets Arkiv, Handlingar för år 1774, Nr. 59.

Überlegungen zu einer Nationaltracht

die erste Klasse, was eine Unterordnung von Adeligen und Nichtadeligen im­ pliziert. Die Wendung beinhaltet eine soziale Distinktion; Herre meint einen Mann von hohem sozialem Stand, meistens adelig, während män Gemeine von niederem sozialem Status bezeichnet (zu vergleichen mit der deutschen Unterscheidung von „Herren“ und „Männer“).26 Doch dann wiederum werden diese vertrauten Kategorien zu einem völlig neuen Ganzen arrangiert. Auf un­ orthodoxe Weise werden Mitglieder der vier Stände umverteilt. In der ersten Klasse finden sich Herrar und Män in hohen Ämtern, was einen Bruch mit der traditionellen Exklusivität des Adels in den höheren Staatsrängen suggeriert. Im Gegensatz dazu umfasst die Wendung hier Mitglieder aus mindestens dreien der vier traditionellen Stände – Adelige, Priester und Bürger in hohen Ämtern. In der zweiten und dritten Klasse werden die vier Stände ähnlich ver­ mischt – zwei von ihnen werden namentlich genannt (die Geistlichen und die Bürger), während die zwei anderen aus Begriffen wie „Handel“, „Fabrikation“ „Landbesteller“ und „Staatsdiener“ abgeleitet werden können. Des Weiteren werden die vertrauten Kategorien einer Ständegesellschaft mit Kategorien ver­ mischt, die eindeutig nicht ständischer Natur sind. So bilden beispielsweise die Staatsbediensteten, die die erste Klasse ausmachen und die auch in der zweiten und dritten Klasse zu finden sind, eine streng administrative Katego­ rie, die keine wirklichen Verbindungen zu den Regeln eines Ständesystems hat. Das gleiche gilt für die „Gesellschaften“, die in der zweiten und dritten Klasse erwähnt werden; diese beziehen sich weniger auf soziale, als auf wirt­ schaftliche Gemeinschaften. Zudem bezeichnet das schwedische Wort Allmoge, das für die Bauernschaft der vierten Klasse verwendet wird, eine weitaus größere und heterogenere soziale Gruppe als „Bauern“ oder „der Bauernstand“ – es bedeutet eher die gemeine ländliche Bevölkerung (vergleichbar mit der deutschen Unterscheidung zwischen Landbewohnern und Bauern), oder eine noch umfassendere Referenz auf die breitere Bevölkerungsschicht im Allge­ meinen.27 Mit einem ähnlich verwischenden Effekt impliziert das Wort „Lant­ brukare“, Landbesteller, eine individualisierte und sozial relativierende Sicht auf den traditionellen Nähr- und Produktionsstand, wie ihn das Ständesystem voraussetzt. Die Prinzipien der Differenzierung, die den Beschreibungen des Verfassers zugrunde liegen, verdienen eine genauere Untersuchung. Fünf Prinzipien können herausgearbeitet werden: Es findet sich zum einen Rang im Sinne von höheren und niederen Staatsdienern, Abstufungen von Status, mit „angeseheneren“ und „niederen“ Angehörigen des Klerus und des Bür­ 26 | Auf den Riksdags der Zeit wurden entsprechend die Angehörigen des Adels als Gode Herrar angesprochen, die Angehörigen der nichtadeligen Stände hingegen als Gode Män. Alm, M.: Kungsord, S. 343. 27 | Zum Wort „Allmoge“, siehe Ordbok över svenska språket, Bd. 1, Lund 1898, Sp. A 1018.

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gerstands, Wohlstand in Kategorien von Reich und Arm mit den „Bedeuten­ deren“ und „Wohlhabenderen“ gegenüber den „weniger Wohlhabenden“ und schließlich Abstammung und Bildung, durch die sich einige gegenüber anderen „auszeichnen“ sollen (die genaue Bedeutung von Abstammung ist hier unklar, es kann jedoch angenommen werden, dass der Autor sich im Einklang mit der Privilegienordnung auf adelige Herkunft bezieht). In einer Ständegesellschaft besaßen einige dieser Prinzipien mehr oder weniger Gültigkeit. Doch anstatt die Schranken und Restriktionen einer Ständegesellschaft nachzuzeichnen und zu bestätigen, werden letztere hier direkt durchbrochen und Distinktionen kreuz und quer sowohl zwischen den Ständen als auch innerhalb der Stände vorgenommen. Auf diese Weise werden manche Bürger und Geistliche einer Klasse zugeordnet und andere in eine andere Klasse einsortiert; ein wohlha­ bender und hochrangiger Priester gehört zum wohlhabenden und hochrangi­ gen Bürger, nicht zum armen und niederen Geistlichen.28 Die Besonderheiten dieses Konzepts einer sozialen Ordnung setzen sich in der Visualisierung der vorgeschlagenen Nationaltracht fort. Anstelle von Farben schlägt der Autor ein auf Stoffarten basierendes System vor. Doch handelt es sich weniger um eine Visualisierung von vier Klassen als von zweien; es besteht eine klare visuelle Trennung zwischen den drei höheren Klassen auf der einen und der vierten Klasse („den Bauern“) auf der anderen Seite. Die Kleider der drei höheren Klassen sollten „vorzugsweise“ aus Stoffen heimischer Produktion hergestellt (oder wenigstens „von heimischer Hand veredelt“) werden, etwa aus „Breitgewebe und Wolle“ und „Stoffen, die aus Lei­ nen, Baumwolle und Kamelhaar hergestellt werden können“.29 Bis zu einem gewissen Grad wurde Raum für weitere Differenzierung innerhalb der Gruppe 28 | Eine ähnlich verblüffende Klassenordnung mit einer ähnlichen Neuverteilung der traditionellen Kategorien einer Ständegesellschaft wird vom Autor des Gewinneraufsatzes (Nr. 29) präsentiert: Hofkaplan Erik Waller, der zwischen fünf Klassen unterscheidet, in dem er effektiv soziale, ökonomische und administrative Kategorien miteinander verbindet: Das „Staatspersonal“ (das sich in absteigender Ordnung zusammensetzt aus „1. Den vertrauenswürdigsten Staatsdienern, 2. treuen alten Staatsdienern, 3. gewöhnlichem Personal, 4. zusätzlichem gewöhnlichem Personal“), der „Gelehrte Klasse“ (mit 1. Professoren, 2. Docentes, 3. Promoti, 4. Studenten), die „Künste“ (mit „1. den Diplomierten, 2. den Nicht-Diplomierten, 3. voll ausgebildeten Schülern, 4. den Halbgebildeten“), dem „Bürgerstand“ (mit „1. Großhändlern, 2. Manufakteuren, 3. Kleinhändlern, 4. Handwerkern“) und die „Landmänner von Stand“ (Lantjunkare, mit „1. Eisenwerkbesitzern, 2. Landbesitzern, 3. Pächtern und 4. ehrbareren Hausdienstboten“). Riksarkivet, Stockholm: Patriotiska Sällskapets Arkiv, Handlingar för år 1774, Nr. 29. 29  |  In diesem Kontext kann Kamelhaar entweder (und in diesem Fall sehr wahrscheinlich) eine feinere Angorawolle bedeuten oder aber (weniger wahrscheinlich) tatsächliches Kamelhaar. Siehe Ordbok över svenska språket, Bd. 13, Lund 1935, Sp. K 243.

Überlegungen zu einer Nationaltracht

eingeräumt; die Männer der ersten Klasse sollten goldene und silberne Tressen an ihren Kragen und/oder Ärmelaufschlägen tragen und die der zweiten Klas­ se konnten „durch eine spezifische Farbe ihrer Kleider unterschieden werden“. Mit demselben Effekt sollte „den Würdevolleren“ die Verwendung von Samt für „Kappen, Mützen und Kopfputz“ erlaubt werden, während es dem „weiblichen Geschlecht“ gestattet sein sollte, „schlichten, weniger teuren und einfarbigen Samt“ in Kleidern mit roberonde Schnitt30 zu tragen, eine Mode, die ebenfalls auf diese Damen zu begrenzen war (die Verwendung von Samt war, abgesehen von den beschriebenen Kopf bedeckungen der höheren Klassen, „dem männ­ lichen Geschlecht“, egal welcher Klasse, streng verboten). Trotzdem bilden die drei höheren Klassen augenscheinlich eine soziale Einheit mit einer gemein­ samen und vergemeinschaftenden physischen Erscheinung. Als eine solche Einheit wurden sie wirksam von den Bauern der vierten Klasse unterschieden. Deren Kleider wurden auf einfachere Stoffe beschränkt, welche aus „Fries, Häuten und dem, was sie sich selbst aus Wollen und Lei­ nen herstellen können“, produziert werden sollten. Exklusive Stoffe wie Samt, Baumwolle und „Kamelhaar“ sollten der Bauernschaft streng verboten sein, deren Farbpalette zudem durch ein striktes Verbot auf „teure, ausländische Farben“ zu reduzieren war. Weiterhin sollten die Bauern ihre Kleider statt mit Knöpfen mit Haken verschließen.31 Die hier imaginierte soziale Ordnung be­ schreibt somit eine recht fortgeschrittene und komplexe Dualität – eine basale Distinktion zwischen hoch und niedrig, mit einem potentiellen „Mittelseg­ ment“ in Form der dritten Klasse mit ihren niedriger rangierenden, weniger bedeutenden und weniger wohlhabenderen (außerdem allen Samtes beraub­ ten) Mitgliedern.

30 | Ein roberond (oder robe de ronde) war ein Kleid mit einem enganliegenden Mieder und ausladendem Rock, der sich auf der Vorderseite in zwei gerundete Basques öffnete, die den Pannier umschlossen. Siehe Ordbok över svenska språket, Bd. 22, Lund 1959, Sp. R 2305. 31 | Dieser Ehrgeiz, die Verwendung von luxuriösen Stoffen gesellschaftlich einzuschränken, und das Verfechten einheimischer Produkte gegenüber importierten Waren befanden sich im Einklang mit den Luxusverordnungen und -debatten der Zeit, die auch den Kontext des Wettbewerbs selbst darstellten. Siehe Bergman, E.: Dräkten, Kap. 3; Petersson, Bo: ‚Yppighets Nytta och Torftighets Fägnad‘. Pamflettdebatten om 1766 års överflödsverördning, in: Historisk Tidskrift (1984), 1, S. 3–43; Runefelt, Leif: Dygden som välståndets grund. Dygd, nytta och egennytta i frihetstidens ekonomiska tänkande, Stockholm 2005, Kap. 5; Stadin, K.: Stånd, S. 34–38. Zu den Gegenstücken auf dem Kontinent, siehe etwa Howell, Martha C.: Commerce before Capitalism in Europe 1300–1600, Cambridge 2010, S. 234–242.

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5. E ine G esellschaf t von R ängen Der dritte Aufsatz, Nummer 60, beinhaltet Beschreibungen sozialer Ordnun­ gen und Hierarchien jenseits der überwiegend sozioökonomischen Kategorien der vorangegangenen Beispiele.32 Wie schon im vorherigen Essay – und weitaus grundsätzlicher – beschreibt der Autor von Aufsatz Nr. 60 die soziale Ordnung als grundsätzlich dualis­ tisch. Doch ist dies hier keine Frage einer sozial definierten Zweiheit zwischen den Hoch- und den Niedriggestellten oder einer ökonomisch definierten Dua­ lität zwischen Reich und Arm. Stattdessen bildet sich hier ein durch und durch administratives Verständnis sozialer Ordnung heraus. Dem Verfasser zufol­ ge besteht eine Gesellschaft aus zwei Kategorien: Untertanen und Machtaus­ übenden. Die offizielle Rangordnung der Staatsbediensteten (noch bekannt aus dem zweiten Beispiel) bietet das vorherrschende Unterscheidungsmodell; die erste Kategorie setzt sich aus jenen zusammen, die außerhalb der offiziel­ len Rangordnung stehen und die der zweiten Kategorie untergeordnet sind, welche aus jenen besteht, die aufgrund ihrer Ämter und der ihnen zugewie­ senen Autorität Teil der Rangordnung sind. Während die Untertanen kaum explizit benannt werden – und wenn doch, dann stets als Teil eines Kollektivs ohne weitere Unterscheidung –, beschäftigt sich die Konzeption der sozialen Ordnung umso mehr mit Macht. Der Autor schlägt eine Differenzierung der Machthaberkategorie in elf „Klassen“ vor, die auf einer umgearbeiteten Version der offiziellen Rangordnung militärischer und ziviler Ämter basiert. Diese ran­ giert von der höchsten Klasse mit „ihren Exzellenzen und Reichsräten“ (Riksens Råd) und den Generälen, Admirälen und Feldmarschällen der Militärrän­ ge (diese galten entsprechend den Konventionen als „über dem Rang stehend“) über ein anspruchsvolles Arsenal von Bischöfen und Kanzlern, Gouverneuren und Quartiermeistern, Ministern und Friedensrichtern bis hinunter zu den „Seconde-Lieutenants“ und den „Kommissaren des Handelskollegiums“ der niedrigsten Klasse.33

32 | Riksarkivet, Stockholm: Patriotiska Sällskapets Arkiv, Handlingar för år 1774, Nr. 60. Dem Autor zufolge wurde der Aufsatz ursprünglich schon 1766 verfasst und 1769 „eingereicht“ (was sich auf einen früheren Wettbewerb den Königlichen Patriotischen Gesellschaft beziehen wird), er umfasst Diskussionen zu einem breiten Themen­ spektrum, etwa „den Währungskurs“, „das Militär“, „das Bevölkerungswachstum“, „die Ver­b esserung der Landwirtschaft“, „die Verbesserung der Schwedischen Sprache“, „das Destillieren und Trinken von Spirituosen“, „das Besetzen freier Arbeitsstellen“ und „die Freiheit der Presse“. 33 | Der Autor geht von der offiziellen Rangordnung aus dem Jahr 1714 aus, die aus nicht weniger als 40 Klassen bestand, und überarbeitet sie, indem er „einige [Ämter]

Überlegungen zu einer Nationaltracht

Dies ist ein durch und durch politisch-administratives Verständnis der so­ zialen Ordnung, dessen tragende Kategorien die Regierenden und die Regier­ ten sind, die Befehlenden und die, denen befohlen wird. Kategorien wie Stände (mit ihren Adeligen und Nichtadeligen, Privilegien und sozialen Funktionen im body politic) oder Klasse (basierend auf Wohlstand, Bildung oder Ehrbarkeit) sind hier irrelevant. Sie könnten durchaus innerhalb oder auch parallel zur hier konzipierten Sozialordnung existieren. Deren Mitglieder könnten folglich immer noch in Stände eingeteilt werden (der Autor spricht dementsprechend von „den Bürgern“, wenngleich nur ein einziges Mal und auf wenig gehaltvolle Weise), und einige unter ihnen können durchaus reicher oder gebildeter sein als andere. Doch sind dies nicht die strukturgebenden Merkmale der sozia­ len Ordnung. Stattdessen werden Hierarchie und soziale Position einzig und allein in politisch-administrativen Begriffen dessen verstanden, wer regiert/ befiehlt und wer regiert wird/wem befohlen wird.34 In der angedachten Visualisierung dieser sozialen Ordnung und ihrer Hierarchien mobilisiert der Autor neben den bereits angesprochenen Mitteln von Stoff und Farbe noch eine dritte Methode der Kleidungsdifferenzierung: Accessoires und Verzierungen. Erneut werden die Untertanen auf einer kol­ lektiven und anonymen Ebene verhandelt, wobei kein Raum für weitere Dis­ tinktionen oder feinere Differenzierungen gelassen wird. Der Autor statuiert einfach, dass die Kleidung der Gesellschaftsmitglieder auf „dieselbe Art und Weise, die seine Majestät für zivile Personen von Ehre und Rang“ vorschreiben wird, hergestellt werden soll. Somit wird die Frage der spezifischen Gestaltung der Kleidung – ihre Schnitte, Farben und Stoffe – der gnädigen Entscheidung des Königs überlassen. Dafür konzentriert sich das vorgeschlagene Kleidungs­ system einzig auf visuelle Unterscheidung zwischen den Untertanen und den Mächtigen auf der einen Seite und auf der anderen Seite, vor allem innerhalb der Gruppe der Mächtigen. Als Mittel hierfür dienen Verzierungen – vor allem Stickereien, Tressen, Knöpfe und Knopflöcher. Im Hinblick auf die erste Differenzierung zwischen Mächtigen und Unter­ tanen bleibt das Tragen von bestickten und betressten Kleidern in Kombinati­ on mit weiteren Verzierungen schlicht Ersteren vorbehalten; niemand sonst darf „Gold und Silber“ an den Kleidern tragen. Was die zweite Differenzierung innerhalb der Gruppe der Mächtigen anbetrifft, so wird die erste Unterschei­ ausschließt, die erst vor kurzer Zeit hinzugefügt wurden, und auch einige [Ämter] aufnimmt, die zuvor nicht in der Rangfolge berücksichtigt wurden“. 34 | Entsprechend bezieht sich der Autor, wenn er gelegentlich über „Stände“ spricht, nicht auf die sozioökonomischen Stände (Adel, Klerus, Bürger, Bauer), sondern mit Blick auf die militärischen Kategorisierungen von Staatsbediensteten, also dem „Zivilen Stand“ und dem „Militärstand“, eher im Sinne von „Stäben“ (stater) oder Zweigen des Staatsapparats.

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dung zwischen den zivilen und militärischen Rängen vorgenommen, es gibt verschiedene Verzierungen und die Militärs behalten die tradierte und höchst charakteristische blaue Färbung ihrer Uniform bei. Innerhalb dieser grund­ legenden Distinktion zwischen den zivilen und militärischen Rängen entwi­ ckelt der Autor ein aufwändiges System von variierendem Reichtum an und variierender Gestaltung von Verzierungen. Somit würde ein mächtiger Mann allein durch das Vorhandensein von Stickereien und Tressen auf seiner Klei­ dung sofort als solcher erkannt, während seine spezifische Position innerhalb der Gruppe der Mächtigen genauso offensichtlich wäre durch die Anzahl und Ausführung der Verzierungen (weniger – mehr, breit – schmal, viele – wenige etc.) und die Exklusivität des Garns und der Knöpfe (von Messing über Silber bis hin zu Gold).35 Auf diese Weise sollte ein Präsident aus der ersten Zivilklas­ se „goldene Stickereien auf der Brust, auf dem Rücken und an den Seiten, auf den Ärmel- und Taschenaufschlägen seines Rockes tragen, mit Knopflöchern und Knöpfen aus Goldfäden, und auf seiner Weste schmalere Stickereien an den Seiten und den Taschenaufschlägen, mit Knopflöchern und Knöpfen aus Goldfäden“, wohingegen ein Hofkanzler der zweiten Klasse „identische“ Ver­ zierungen und Knöpfe tragen sollte, jedoch in Silber. Ein Hofmarschall der dritten Klasse sollte eine „breite goldene Tresse auf seinem Rock und seiner Weste tragen, auf den Taschenaufschlägen und auf dem Rücken sowie auf den Ärmelaufschlägen des Rockes mit Knöpfen und Knopflöchern aus Goldfäden“, wohingegen ein Kammerherr der vierten Klasse identische Verzierungen auf „Rock und Weste“ tragen sollte, jedoch in Silber. Und so setzte sich die stets abfallende Skala der Quantitäten und Qualitäten von Stickereien, Tressen und Metallen durch sämtliche Ränge fort, bis hinunter zum Kommissar der unters­ ten Stufe, dessen Verzierungen auf „schlichte silberne oder versilberte Knöpfe auf Rock und der Weste und eine schmale silberne Tresse auf der Weste und auf den Taschenaufschlägen, mit Knopflöchern aus Silbergarn“ reduziert wur­ den.36 35  |  Dieses System ansteigender Grade von Anzahl und Exklusivität findet ein direktes Gegenstück in den Militäruniformen des zeitgenössischen Europa, mit seinen visuellen Differenzierungen zwischen Offiziersrängen. Es findet sich zudem in den Habiten der Kirche und den klerikalen Hierarchien, in denen, wie für die Renaissance so passend formuliert wird, „[a]ppearances continued to create socially meaningful fictions of how an office was to be adequately materialized and respected.“ Rublack, Ulinka: Dressing Up. Cultural Identity in Renaissance Europe, Oxford 2010, S. 122. 36 | Jenseits der Kleider und körperlichen Erscheinung wird en passant noch eine weitere visuelle Differenzierung vorgeschlagen, die sich auf die Equipagen der genannten höheren Bediensteten bezieht. „Zum Zwecke der Distinktion“, so der Verfasser, sollte es „den zwei höchsten Klassen“ erlaubt sein, ihre Kutschen „um die Fenster und Türen herum und entlang allen vier Ecken“ zu vergülden und auch „Federn auf den Köpfen

Überlegungen zu einer Nationaltracht

In diesem imaginierten Kosmos von Mächtigen und Untertanen sollten die Militärränge leicht erkennbar gemacht werden. Alle Offiziere sollten ihre charakteristische blaue Uniform tragen. Diese Uniform sollte „zu jeder Zeit“ von Offizieren getragen werden (und „immer [mit] ihren Rapieren“), betont der Autor und unterstreicht erneut die Notwendigkeit sozialer Erkennbarkeit; niemals sollte ein Offizier Kleider von anderem Schnitt oder anderer Farbe tragen. Durch das Hinzufügen einer spezifischen Verzierung der Uniformen – der Autor bezeichnet sie als balletter, was sich höchstwahrscheinlich auf ver­ tikale Streifen bezieht – werden die Mitglieder der Militärränge noch weiter von ihren zivilen Gegenparte unterschieden.37 Somit sollten alle Generäle – „von den Generalfeldmarschällen zu den Generalmajoren“ – silberne Sticke­ reien wie die der zweiten Zivilklasse tragen, unterschieden jedoch durch das Hinzufügen von „bestickten silbernen balletter auf jeder Seite [ihrer Röcke], um die Knöpfe und die Knopflöcher herum“ sowie zusätzlichen „3 balletter auf den Taschenaufschläge, 3 auf jedem Ärmelaufschlag und 3 an jeder Seite des Rückens“. In diesem Sinne sollten alle Offiziere vom Rang des Obersten bis hinunter zu den Seconde-Leutnants die gleiche Garnitur von balletter auf ihren Röcken tragen – auf den Kragen, unter den Kragen, auf den Taschenund Ärmelaufschlägen – während der Gebrauch von Gold oder Silber für die Stickereien abhängig vom Metall, das für die Knöpfe des jeweiligen Regiments eines spezifischen Offiziers verwendet wurde, variieren sollte (Silber für weiße Zinnknöpfe und Gold für gelbe Messingknöpfe.)38 der Pferde“ zu befestigen (doch nur den Exzellenzen, die erneut als über den Rängen stehend verstanden wurden, sollte es gestattet sein, goldene Fahrgestelle an ihren Kutschen zu führen). 37 | Das Wort „balletter“ wird nur in diesem spezifischen Aufsatz gefunden, wo es mehrfach unkommentiert gebraucht wird. Es gibt keine Hinweise auf eine textile Bedeutung des Wortes im maßgebenden Ordbok över svenska språket. Das Wort „balletter“ taucht zu zwei Gelegenheiten auf, zunächst als eine alternative Buchstabierung des Wortes „Ballett“ (dem Tanz) und zweitens – was mir mein Verständnis des Wortes im Hinblick auf Streifen eröffnete – als alternative Buchstabierung von „paletter“ (das Ersetzen von „p“ durch „b“ war verbreitet), was sich vor allem auf das Werkzeug des Malers bezieht. „Balletter/Paletter“ öffnet jedoch auch das Vokabular der Heraldik, in dem ein „pallet“ das heraldische Zeichen eines Pfahls meint, vom französischen pal, der in einer Diminutivform – als ein kleiner Pfahl, etwa ein vertikaler Streifen – palette heißen würde, was in den Händen eines französischsprechenden Schweden des Jahres 1773 zu „balletter“ hätte werden können. Siehe Ordbok över svenska språket, Bd. 2, Lund 1903, Sp. B 162; ebd., Bd. 19, Lund 1952, Sp. P 73. Shorter Oxford English Dictionary, div. Ausg., pale 5, pallet. 38 | Eine weitere Distinktion wird angedacht, jedoch nicht ausgeführt, nämlich variierende Dekorationen für die unterschiedlichen Zweige des Militärs – „die Infanterie, Kavallerie, Artillerie und Admiralität“.

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6. E in W iedersehen mit vier M ännern und einer K uh Das Ölgemälde von den vier Männern, die sich um eine Kuh gruppieren, fasst die schwedische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts treffend zusammen. Laut den zeitgenössischen Beobachtern, die in den Aufsätzen von 1773 ihre soziale Welt kommentierten, gibt es jedoch auch andere Möglichkeiten, die in diesem Bild dargestellte soziale Ordnung zu lesen und zu verstehen. Dem ersten Autor zufolge handelt es sich hierbei um eine Ständegesell­ schaft. Ihre Mitglieder sind sauber in vier Stände eingepasst, repräsentiert durch den Adeligen auf dem Rücken der Kuh, den Priester an ihrer Seite, den Bürger an ihren Hörnern und den Bauern an ihrem Schwanz. Doch laut dem zweiten Verfasser handelt es sich hierbei um eine Gesellschaft von Klassen. Es ist der Staatsdiener der ersten Klasse, der auf dem Rücken der Kuh sitzt, der „ehrbarere“ und durch höhere Bildung ausgezeichnete Priester der zweiten Klasse (oder möglicherweise der „geringere“ Priester der dritten Klasse), der neben ihr sitzt, der „weniger wohlhabende“ Händler der dritten Klasse (oder vielleicht auch ein „Gemeinbediensteter“ von einem der staatlichen Collegia oder irgendeinem anderen Staatsdepartement der zweiten Klasse) vor der Kuh, und hinter ihr – getrennt von der Gemeinschaft der höheren Klassen – steht der Vertreter der „Bauernschaft“ aus der dritten Klasse. Der dritte Autor bie­ tet sogar noch einen weiteren Schlüssel zum Gemälde. Der Mann auf dem Rücken der Kuh ist der Staatsdiener, der dank der Autorität und Macht, die ihm sein Amt und sein rechtmäßiger Rang verleihen, eine eigene Kategorie gegenüber den anderen, sozioökonomisch undefinierten, aber politisch und administrativ unterlegenen Männern bildet. Es sei noch einmal bemerkt, dass dieses lediglich drei Beispiele aus den vielen Imaginationen sozialer Ordnungen sind – mit einem reichen Angebot von Kategorien, Hierarchien und Distinktionsprinzipien –, die in den Aufsät­ zen von 1773 auftauchen. Doch wie können diese unterschiedlichen sozialen Konzepte verstanden werden? Was sagen sie über frühneuzeitliche Gesell­ schaften aus? Sicherlich ist es auf den ersten Blick und im Sinne der bestän­ digen Suche des Historikers nach Fortschritt und Wandel verführerisch, die Quellen und die Veränderungen, die diese beschreiben, als charakteristisch für ihre Zeit zu verstehen; als Texte, die das späte 18. Jahrhundert als eine Peri­ ode des Umbruchs und des Wandels spiegeln, in der die alte Ordnung sich in einem Stadium der Auflösung befand und eine neue Ordnung sich herausbil­ dete. Für den zweiten Aufsatz, mit seiner Darstellung einer sozialen Ordnung aus vier Klassen, bietet sich der schwergewichtige Theorieapparat der Sozi­ algeschichte fertig und anwendungsbereit an. Ganz besonders im Vergleich zum ersten Essay mit seinen Beschreibungen einer auf Ständen basierenden Sozialordnung erscheint die historische Transition von einer Stände- hin zu einer Klassengesellschaft ganz im Einklang mit den Modellen und Schemata,

Überlegungen zu einer Nationaltracht

die von Forschern wie dem französischen Historiker Roland Mousnier ent­ wickelt wurden. Die Hierarchie, die von „esteem, honour and dignity attached by society to social function“ definiert wurde, ist verschwunden, an ihrer Stelle erscheint eine von „wealth“, „capacity to consume“ und der „role in the pro­ duction of material goods“ definierte Hierarchie. Auf diese Weise betrachtet, würde die Art und Weise, in der der zweite Autor die etablierten Kategorien der Ständeordnung neu arrangiert, sie mit zugleich neuartigen und neu definier­ ten Kategorien ergänzt und so eine qualitativ neuartige Einheit erschafft, eine extrem erhellende Einsicht in die Anatomie dieser revolutionären Prozesse bie­ ten.39 Und doch zeigt sich mit einem leichten Perspektivwechsel ein weiterer, noch fruchtbarerer Blickwinkel auf die sozialen Welten der Vergangenheit. Die Aufsätze und ihre unterschiedlichen social imaginaries veranschaulichen auch die Vielfalt und Komplexität frühneuzeitlicher Gesellschaften. Die hier beschriebenen sozialen Ordnungen illustrieren nicht einfach einen Verände­ rungsprozess. Sie beschreiben einen status quo – die sozialen Ordnungen und Hierarchien, die damals tatsächlich bestanden, und nicht nur das, was die Ord­ nungen einst gewesen und was sie nun zu werden im Begriff waren. In den ausgewählten Beispielen treten drei Individuen – drei soziale Wesen – in den Vordergrund, sie beobachten und beschreiben ihre Sozialwelten so, wie sie sie sich konstruiert haben, machen ihr Verständnis der Sozialwelten öffentlich und, bzw. oder, Meinungen und Forderungen, wie die soziale Ordnung zu sein und zu funktionieren hätte im Bezug auf die unterschiedlichen Kategorien und Konzepte, die um sie herum existierten und in Bewegung waren. Alle drei sind stichhaltig. Sie stammen alle aus ein und derselben Gesellschaft, aus eben jener, die sie auch beschreiben, und hierbei reflektieren sie den Schmelz­ tiegel von Ideen und Praktiken, Kategorien und Prinzipien, welche in dieser Gesellschaft koexistierten, konstruiert und formuliert wurden.40 Die Kategorien des Historikers oder der Historikerin – Stand und Klasse; adelig und bürgerlich; feudal und kapitalistisch – sind unerlässliche, aber idea­ listische Konstruktionen, die mit den Kategorien der Vergangenheit verglichen und an diesen gemessen werden sollten. Beide können einander bereichern, die Dynamiken und Komplexitäten der frühneuzeitlichen Sozialordnung mit 39 | Mousnier, Roland: Social Hierarchies, 1450 to the Present, New York 1973, S.19. 40 | Im Übrigen sind Konzepte alternativer Sozialordnungen, die in Form oder Inhalt von offiziell anerkannten Ordnungen divergieren, kein Alleinstellungsmerkmal des späten 18. Jahrhunderts. Derartige Entwürfe und Konzepte finden sich vermutlich in jedem Zeitalter und in jeder Gesellschaft. Mit Blick auf die Ständegesellschaft findet man sie bereits zur Zeit ihrer Entstehung, im frühen Mittelalter; die klassische Ordnung der drei Stände konnte variiert, auf zwei Stände reduziert oder auf vier Stände ausgedehnt oder auch gänzlich zugunsten anderweitig begründeter Ordnungen abgelehnt werden. Siehe Duby, G.: Orders, S.92, 131 u. 191–192.

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ihrer Vielfalt koexistierender Hierarchien offen legen und den Weg für eine tiefere Sozialanalyse und ein weitreichenderes historisches Verständnis ebnen. Übersetzung aus dem Englischen: Annika Raapke

Was macht ein(en) Hausmann? Eine ländliche Elite zwischen Status und Praktiken der Legitimation Frank Schmekel Der Hausmann, soviel sei vorausgeschickt, hat nichts mit modernen Ideen der familiären Arbeitsteilung zu tun, sondern beschreibt einen besonderen Typus des Bauern im Nordwesten Deutschlands.1 Im Gegensatz zum Prototypen des Bauern, wie er im Ideal der wohlbekannten Ständepyramide auftaucht, kam es im Hausmannstand durchaus vor, dass man auf eigener Hände Arbeit – dem Kern jeder Definition von Bauern – gänzlich verzichtete und sich der Organisa­ tion des Hofes, dem Vertrieb seiner Waren oder völlig anderen Bereichen, wie der Bildung, widmete. In der Tradition der Friesischen Freiheit stehend, durf­ ten die Hausleute bereits seit dem 13. Jahrhundert eigenes Land erwerben, besit­ zen, veräußern und vererben.2 Mit derartigen Rechten ausgestattet, konnten sie eine sukzessive Entwicklung weg vom untertänigen, wirtschaftlich abhängigen Bauern hin zur Spitze der ländlichen Gesellschaft durchlaufen. Diese Spitzen­ position liegt primär in den ökonomischen Erfolgen der Hausleute begründet, die eine exponierte Lebensweise ermöglichten und den Hausmannsstand deut­ lich aus seiner ländlichen Umgebung hervorhoben,3 sie hat aber auch mit der ausgesprochen schwachen Stellung des regionalen Adels zu tun.4 1 | Parallel zum Begriff der Hausmänner besteht zudem der Begriff der Hausleute. 2 | Schmidt, Heinrich: Häuptlingsmacht, Freiheitsideologie und bäuerliche Sozialstruk­ tur, in: Kurt Andermann (Hg.): Zwischen Aden und Nicht-Adel, Stuttgart 2001, S. 285–310. 3 | Ein tatsächliches Hervorheben aus der Umgebung kann architektonisch bis heute rekonstruiert werden, da etwa im ostfriesischen Gebiet gleichsam praktische wie repräsentative Gebäude, die zum Teil riesigen Gulfhäuser, entstanden. Dazu Aeils, Johann/ Smid, Jan/Stroman, Martin: Steinerne Zeugen in Marsch und Geest. Gulfhöfe und Arbeiterhäuser in Ostfriesland, Norden 2000. 4 | Reinders-Düselder, Christoph: Adelige Lebenswelten in Nordwestdeutschland, in: Christoph Reinders-Düselder/ Heinrich Schmidt /Karl-Heinz Ziessow (Hg.): Frühe Neuzeit. Festschrift für Ernst Hinrichs, Bielefeld 2004, S. 58f.

Frank Schmekel

Der hier vorliegende Text versteht sich als Versuch, die Sonderstellung des Hausmannsstandes unter einem praxistheoretischen Fokus zu betrachten. Im Kern soll dabei die sprachlich ebenso schwierige wie doppeldeutige Frage ste­ hen: „Was macht ein(en) Hausmann?“ Vor dem Hintergrund dieser Frage wird davon ausgegangen, dass neben den angedeuteten ökonomischen und rechtlichen Faktoren eine Vielzahl von distinktiven Praktiken Hausleute als Hausleute hervorbrachten und zugleich erkennbar machten. Der hier verwendete Begriff der Praktik orientiert sich dabei an Karl Hörning und meint verdichtete kollektive Handlungsmuster, die gewisse Handlungen sozial erwartbar werden lassen. „Solche übersubjektiven Handlungskomplexe existieren aber nur dann, wenn die sie konstituierenden Handlungsweisen und Gepflogenheiten über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg ständig ausgeführt und in Gang gehalten werden.“5 Vor diesem Hin­ tergrund sollen einem Puzzle gleich nun Praktiken verschiedener Bereiche be­ leuchtet werden, die in ihrer Summe Hausmänner machten. Es ist dabei kaum auszuschließen, dass hier und da ein Randstück im Puzzle fehlt, da dieses zu komplex ist, um es im Rahmen eines Aufsatzes komplett entstehen lassen zu können. Es geht folglich eher darum, das Bild in der Übersicht erkennbar zu machen. Um einen ersten Blick auf die Puzzleschachtel und somit eine Vorschau in die Vielschichtigkeit der Bereiche zu erhalten, kann das folgende Schema helfen.

Bild

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Auch wenn die Darstellung nicht den Anspruch erhebt, alle denkbar mögli­ chen Praktiken, die an der (Selbst)-Bildung „des“ Hausmannes beteiligt waren, aufzuzeigen, kann sie die zugrundeliegende These dieses praxistheoretischen Versuchs verdeutlichen. So wird hier davon ausgegangen, dass Praktiken der sozialen Distinktion in verschiedenen Lebensbereichen der Hausleute nach­ zuweisen sind und eine gewichtige Rolle in der (Selbst-)(Re-)Produktion des 5 | Hörning, Karl: Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist 2001, S. 160ff.

Was macht ein(en) Hausmann?

Hausmannsstandes spielten. Untersucht wird diese Grundannahme nicht nur mit Hilfe der breit verwendeten Schriftquellen wie Familienchroniken, Le­ bensgeschichten, Taufregistern sowie amtlichem Schriftverkehr, sondern im­ mer auch mit Blick auf die Aussagekraft der beteiligten Artefakte. Dabei sollte allerdings nicht der Eindruck entstehen, es handele sich um additive Einzel­ praktiken. Die Aufteilung in der Grafik ist lediglich Produkt der Zweidimen­ sionalität des Mediums Buch und dient zugleich als Textstruktur. De facto müssen die Praktiken jedoch als Bündel gedacht und verstanden werden, die erst im Zusammenspiel einen Hausmann machen. Diese Bündel sind dabei wechselseitig konstitutiv für „den“ Hausmann und können je nach Situation zum Tragen kommen. Werden also im Folgenden die Praktiken der gezielten Familienüberliefe­ rung, des ökonomischen Erfolgs, der Bildung, des Konsums, der Eheschlie­ ßung, der Ämter sowie der Sepulkralkultur vorgestellt, seien diese als Teile eines gesamten Gewebes verstanden. Diese Teile können zwar in der Analyse für sich dargestellt werden, tragen aber in der Praxis nur, wenn sie gemeinsam gesehen werden.

1. F amilie – D ie P r a xis gezielter F amilienüberlieferungen In einen bestimmten Stand hineingeboren zu werden, gehört zu den üblichen Formulierungen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Geschichte. In welche Familie man innerhalb seines Standes geboren wurde, spielt hingegen eher im gehobenen Patriziat, mehr noch im Adel, eine Rolle, im bäuerlichen Milieu hingegen scheint diese familiäre Zugehörigkeit auf den ersten Blick kaum von Relevanz zu sein.6 Im Hausmannsstand, der ein Teil des Bauernstandes ist, spielt die Frage, zu welcher Familie man gehört, jedoch eine außerordentlich wichtige Rolle. War sie doch unmittelbar an die Frage des zu erbenden Besit­ zes, der familiären und geschäftlichen Netzwerke sowie der eigenen Reputa­ tion gebunden. Nun ist das Geborenwerden in eine bestimmte Familie noch keine Praxis, es eröffnet aber einen Zugang zu einer selbigen – der Produktion innerfamiliärer Überlieferungen. Diese fanden sich in Tagebüchern und Lebensprotokollen, die zumeist explizit darauf abzielten, den Nachkommen zu verdeutlichen, wie 6 | Zur Rolle der Familie im Adel der ländlichen Gesellschaft Harding, Elizabeth: LandAdel. Landsässige Ritterschaften zwischen regionaler Orientierung und territorialer Integration, in: Heike Düselder/Olga Weckenbrock/Siegrid Westphal (Hg.): Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 161f.

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man wurde, was man war. Ein besonders beeindruckender Ausdruck dieses in­ nerfamiliären „Erinnerungsmanagements“ über Generationen hinweg findet sich in den Familienchroniken einiger besonders erfolgreicher Hausmanns­ familien,7 die aufgrund ihrer Entstehungszeit (vorwiegend zu Beginn des 20.  Jahr­hunderts) allesamt nicht als klassische Zeitzeugnisse zu verstehen sind, aber trotz ihrer nachträglichen Anfertigung einen wunderbaren Einblick in die retrospektive Selbstdarstellung erfolgreicher Hausmannsfamilien bie­ ten. So finden sich in ihnen etwa eigene Wappen der Familien oder Hinweise auf eine Vielzahl wichtiger Ämter. Sieht man vom Selbstverständnis, derartige Chroniken anzufertigen, einmal ab, unterstreicht auch die schlichte Möglich­ keit, dies zu tun, den Stellenwert der entsprechenden Familien in der Region. Immerhin muss es dafür genug Schriftgut in den Archiven über die Familien, von den entsprechenden Familien oder eine gute innerfamiliäre Überlieferung geben. Für Texte, die nicht retrospektiv entstanden sind, ist zudem zu ergän­ zen, dass die Praktik des Verfassens derartiger Überlieferungen mindestens zwei Voraussetzungen brauchte. Die eine ist die Schreibfähigkeit – also ein solider Alphabetisierungsgrad –, die zweite besteht in den zeitlich-ökonomi­ schen Möglichkeiten, da jemand, der um sein Überleben wirtschaftet, wohl kaum Texte zur Überlieferung in quantitativ so großer Zahl verfassen wird. Fairerweise sollte hinzugefügt werden, dass zeitgenössische Texte mit Über­ lieferungsabsicht eine eher seltene Ausnahme sind. Für Ostfriesland konnte bis dato nur ein Tagebuch gefunden werden, dass von einem Hausmann ver­ fasst wurde und diese Intention verfolgt. Nichtsdestotrotz belegen viele andere Quellen wie Rechnungsbücher, kleinere genealogische Aufzeichnungen oder Notizen verschiedener Couleur die Schreibtätigkeit der Hausleute, die von spä­ teren Generationen für die Erstellung von Chroniken genutzt wurde. Zudem deutet neben dem rein textuellen Zugang auch eine Vielzahl von öffentlichen Artefakten auf die Praktik hin, die eigene bzw. die familiäre Bedeutsamkeit für die Nachwelt deutlich zu machen. Eine der bedeutendsten Hausmanns­ familien des Rheiderlandes – einer ostfriesisch-niederländischen Grenzregion –, die Familie Groeneveld, taucht nicht nur im erwähnten Tagebuch und auf verschiedenen Quittungen als Geldgeber und Verpächter auf, sondern konnte ihre Bedeutung bis in die heutige Zeit, etwa über eigene Kirchenstühle oder prunkvolle Grabstätten, manifestieren.8 Dieser hohe und über Artefakte sicht­ bar gemachte Bekanntheitsgrad innerhalb der regionalen Öffentlichkeit eröff­ nete seinerseits zweifelsohne Zugänge zu lukrativen Geschäften oder hoch 7  |  Z.B. Groeneveld, Enno: Nachrichten zur Geschichte der Familien Groeneveld, 2 Bde., Görlitz 1910/12; Tantzen, Eilert: 700 Jahre Chronik der Familie Tantzen: 1300–2000, Oldenburg 1997. 8 | Eine derart überlieferte Sachkultur ist in einigen Gemeinden des Rheiderlandes bis heute durch „gezieltes Schauen“ gut nachvollziehbar.

Was macht ein(en) Hausmann?

angesehenen Ämtern, sodass diese Artefakte durchaus mehr als nur Aus­ druck einer Praktik gezielter Überlieferungen sind. An dieser Stelle könnte der Begriff des Vertrauens einen interessanten Blick auf die Selbstreproduk­ tion des Systems Hausmann erlauben, da Vertrauen nicht nur als Türöffner, sondern eben auch als Schloss funktionierte, dass den Hausmannsstand für andere, denen dieses Vertrauen nicht entgegen gebracht wurde, verschloss.9 Als eine Säule der Vertrauenswürdigkeit würden in diesem Gedankengebäude die auf Repräsentation und Überlieferung angelegten öffentlichen Artefakte funktionieren. Andersherum könnte man zweifelsohne dagegenhalten, dass die Selbststilisierung durch Artefakte lediglich Resultat hoher Ämter und lu­ krativer Geschäfte war. Und zugegebenermaßen kann die Frage nach Huhn oder Ei mit den vorliegenden Quellen kaum geklärt werden. Nichtsdestotrotz sollte der Faktor der Selbstdarstellung für erfolgreiche Unternehmungen nicht unterschätzt werden. Dafür spricht auf allgemeiner Ebene zudem die generell große Bedeutung der Familie als (sozial-wirtschaftliches) Netzwerk, das neben ökonomischen Betätigungsfeldern eben auch eine große Reputation mit sich bringen konnte. In ihrem einführenden Beitrag zum Sammelband „Bauern als Händler“ haben Frank Konersmann und Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt am Beispiel der Pfalz und Rheinhessen auf eben jene Rolle von Familien hin­ gewiesen. „Weiterhin bedürfen die Haushalts-, Familien- und Verwandtschaftsstrukturen von Handel treibenden Bauern verstärkter Aufmerksamkeit. So sind etwa die Familien der Bauernkaufleute in der Pfalz und in Rheinhessen […] bis weit in das 19. Jahrhundert als ein tragendes soziales Fundament ihrer Handelstätigkeit, ihrer Gesellschaftsbeziehungen und ihrer Art der Betriebsführung einzuschätzen.“10

9  |  Für Durkheim ist das Vertrauen eine der Grundlagen der modernen Gesellschaft. Einen exklusiven Charakter hat es unter dieser Perspektive nicht. Spätere Ansätze wie der von Ferdinand Tönnies verweisen auf praktizierte Vergleiche zwischen Vertrauen und Kreditwürdigkeit, denen eine Exklusion durchaus innewohnt, da ohne entsprechende Kreditwürdigkeit nicht gehandelt (im doppelten Sinne) werden kann. Tony Bilton u. a. (Hg.): Introductory Sociology, New York 2002, S. 9.; Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1959, S. 182. 10 | Vgl. Konersmann, Frank/Lorenzen-Schmidt, Klaus-Joachim: Zum Stand der deutschen Sozialgeschichte von Bauern. Studien über Bauern als Händler zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.): Bauern als Händler. Ökonomische Diversifizierung und soziale Differenzierung bäuerlicher Agrarproduzenten (15.–19. Jahrhundert), Stuttgart 2011, S. 13.

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Die Vermutung liegt sehr nahe, dass eine derartige Bedeutung einzelner Familien auch für den Hausmannsstand in Ostfriesland festgehalten werden kann, der mit seiner gezielten Überlieferung nicht nur sich selbst, sondern auch allen anderen deutlich machen wollte, um welche besondere Familien es sich handelte. Da die familiäre Überlieferung über Generationen hinweg in nahezu al­ len Hausmannsfamilien forciert wurde und sich in einzelnen Teilbereichen stark mit der öffentlichen Darstellung der Familien mischt, wird hier von einer Überlieferungspraktik ausgegangen. Im Sinne der Ausgangsthese kann diese als Praktik zum ständigen Selbsterhalt bzw. zur ständigen Selbstreproduktion und vor allem Selbstvergewisserung und sozialen Verortung des Hausmanns­ standes nach innen und außen verstanden werden. Besonders spannend ist diese Feststellung vor dem Hintergrund der bereits angeführten Praktiken­ definition von Hörning. Schreibt er nämlich von Praktiken als kollektiven Handlungsmustern, so kann dies für die Erstellung einer familiären Über­ lieferung nur unterstrichen werden. Immerhin schickte sich ein beachtlicher Teil der erfolgreichen Hausmannsfamilien an, derartige Überlieferungen an­ zufertigen. Zudem zeigen Fortbestand und Weiterführung insbesondere der Familienchroniken die ungemeine zeitliche Konstanz dieser Prozesse fami­ liärer Selbstvergewisserung und Selbstverortung. Auch im 19. und beginnen­ den 20. Jahrhundert nutzten die nachfolgenden Generationen das schriftlich manifestierte Erbe der Hausmannsfamilien, um durch das Erstellen oder Wei­ terführen von Chroniken die Zugehörigkeit zur Oberschicht zu markieren.11

2. E rbe – Ö konomischer E rfolg Wird in dieser Überschrift Erbe und ökonomischer Erfolg im gleichen Atem­ zug genannt, dann muss hinzugefügt werden, dass ein gutes Erbe für den wirtschaftlichen Erfolg unerlässlich war. Es wäre jedoch ein völliger Trug­ schluss davon auszugehen, dass der wirtschaftliche Erfolg somit lebenslang als programmiert galt. Neben den Handelsverbindungen innerhalb familiärer Netzwerke spielten Einflüsse eine Rolle, die nicht im Handeln der einzelnen Hausleute begründet lagen. Insbesondere weltwirtschaftliche Konjunkturen und – noch stärker – Umwelteinflüsse wie Missernten oder Fluten konnten echte Bedrohungen für die Höfe der Hausleute bedeuten. Die wachsende Ab­ 11 | Vgl. zu parallel funktionierenden Prozessen Freist, Dagmar: „Ich will dir selbst ein Bild von mir entwerfen“. Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 151–174, bes. S. 161.

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hängigkeit von wirtschaftlichen Entwicklungen, die weit über die Region hin­ aus gingen, gründet sich in erster Linie auf zwei Faktoren. Zum einen die Lage Ostfrieslands in der ländlichen Peripherie an der lukrativen Nordsee-Han­ delsroute zwischen Hamburg und Amsterdam. Zum anderen die verstärkte Ausrichtung der eigenen Produktion auf die überregionalen Märkte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts.12 In den Wochenblättern der Region lassen sich derartige Konjunkturen ablesen, da in wirtschaftlich schlechten Zeiten oder nach Naturkatastrophen verstärkt Höfe und oder deren Inventar feilgeboten wurden.13 Man könnte also eine gewisse Risikobereitschaft als charakteristisch für das Wirtschaften der Hausleute beschreiben, da die verstärkte Ausrichtung auf eine zunehmend global verflochtene Wirtschaft über die Umschlaghäfen Hamburg und Amsterdam sowohl große Gewinne versprach als auch eine nicht zu steuernde Risikoquelle darstellte. Unabhängig von konjunkturellen Abhängigkeiten konnten zweifelsohne günstige ökonomische Voraussetzungen vererbt werden, die neben der bereits erwähnten Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie und dem offenkun­ digen wirtschaftlichen Volumen eines Agrarbetriebes auch die weniger offen­ sichtliche Frage nach der Bodenbeschaffenheit des Erbes meint. In der Regi­ on Ostfriesland spielte für ökonomisch erfolgreiche Höfe in erster Linie die Unterscheidung zwischen Geest und Marsch eine Rolle, die sich deutlich auf die Wirtschaftsführung und potentielle Erfolge auswirkte.14 Am treffendsten beschreibt dies vermutlich der Chronist Fridrich Arends, wenn er die beiden Bodenarten wie folgt vergleicht: „Auf der Gast, nemlich wo kein Marschland vorhanden, hat man keine feste Taglöhner, die mehrsten Bauern auch keine Knechte, bloß eine Magd, welche es hier schwer hat, und alle Arbeiten mit verrichten muß [...]. Der Bauer thut hier alles selbst, und hat nur dann und wann einen Arbeiter in der Erndte [...].“15

Viel rosiger, wenngleich nicht frei von Kritik, äußert er sich über die Zustände auf dem Marschland. Dort heißt es: 12 | Löden, Sönke: Moderner Konsum in der Region. Englisches Steingut in Ostfriesland und Nordoldenburg 1760–1870, Cloppenburg 2001, S. 114. 13 | Derartige Wellen werden etwa im „Jeverschen Wochenblatt“ nach der verheerenden Februarflut des Jahres 1825 erkennbar. 14 | An dieser Stelle wird bewusst verkürzt dargestellt, da weitere Einteilungen wie „Dargboden“, „Alte Marsch“, „Neue Marsch“ zwar in einigen Kontexten wichtige Differenzierungen darstellen, hier aber zu weit von der Frage, was einen Hausmann macht, wegführen. 15 | Arends, Fridrich: Ostfriesland und Jever in geographischer, statistischer und besonders landwirtschaftlicher Hinsicht, Bd. 3, Emden 1820, S. 409.

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Frank Schmekel „Auf der Marsch werden auf jeden Platz Dienstboten gehalten. Ihre Zahl hängt sowohl von der Größe des Guts, als der mehrern oder mindern Bequemlichkeit des Eigners ab. Ein Bauer, der nebst seiner Frau überall selbst mit arbeitet, erspart dadurch einen Knecht und eine Magd. Früher war solches häufig der Fall, jetzt weit seltener.“16

Arends zeigt, dass die alltäglichen Arbeitspraktiken, also die Jahr für Jahr wie­ derkehrend zu verrichtenden Arbeiten, auf dem eigenen Grund maßgeblich von der Bodenbeschaffenheit des eigenen Landes bestimmt waren. Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie könnte man den Boden hier geradezu als Aktan­ ten beschreiben, der den Arbeitsalltag der Bauern vielleicht nicht determiniert, aber sehr stark beeinflusst.17 Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen scheint es wenig überra­ schend, dass die wirtschaftlich „großen Familien“ der Region hauptsächlich im Marschenland angesiedelt waren, wenngleich die Zugehörigkeit zum Hausmannsstand nicht an die Bodenbeschaffenheit der bearbeiteten Lände­ reien gebunden war. Im Kern unterschied sich das Leben eines Hausmannes auf der Geest durch ein notwendiges Mehr an Arbeit, da durch den weniger fruchtbaren Boden geringere Erträge sowohl im Ackerbau als auch in der Viehhaltung und beim Vertrieb tierischer Produkte mit demselben Arbeits­ einsatz zu erreichen waren. Es lässt sich dennoch festhalten, dass Getreidean­ bau, Viehzucht, der Vertrieb von Käse und Butter sowie an einigen Orten die Pferdezucht die tragenden Säulen der bäuerlichen Wirtschaft in ganz Ostfries­ land darstellten.18 Ein Teil des Hausmannsstandes zu sein, bedeutete auf der Marsch und in der Geest immer, auf den wirtschaftlichen Erfolg fokussiert zu sein. Der Heuermann Eilard Bayen Tammling, der in Holtgaste und Soltborg an der Ems lebte, sich selbst zum Hausmannsstand zählte und als Sielrichter der Soltborger Sielacht als solcher auch anerkannt wurde, achtet im „Protocol­ lum“ seines Lebens – eine Art tagebuchförmiger Lebensgeschichte, die sich an seine Kinder richtet – sehr genau darauf, die entsprechenden Wirtschafts­ bilanzen eines Jahres zu notieren. Er geht dabei durchaus auf konjunkturelle Preisentwicklungen ein, die er zum Teil beziffert, zum Teil andeutet. Zudem weist er auf die überregionale Verflechtung der bäuerlichen Wirtschaft hin, wenn er formuliert: „Eine besondere Fügung Gottes zeigt sich noch darin, daß ein jeder sein Vieh (wiewol [sic!] für einen geringen Preis) gut verkaufen kann, 16 | Ebd., S. 401. 17 | Zum Begriff des Aktanten Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue ­G esellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007, bes. S. 109–142. 18 | Cronshagen, Jessica: Die Hausleute. Landhandel und Landhändler, Pachtbauern und Erben, Landmänner und Vornehme in den friesischen Marschen des 17. und 18. Jahrhunderts, unveröff. Diss., Oldenburg 2010, S. 186ff.

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es geht viel zum Lande hinaus.“19 Wenngleich die Familie Tammling nicht der Prototyp der über Generationen an der ökonomischen Spitze einer Region stehenden Hausmannsfamilie ist – das Steueraufkommen seines Vaters, Baye Eggen Tammling, beispielsweise wird lediglich als gering beschrieben20  –, scheint sich die Art des Umgangs mit dem Handel kaum von den besonders erfolgreicher Hausmannsfamilien zu unterscheiden. Auch die von Koners­ mann betonte Rolle der Familie als wirtschaftliches Netzwerk findet sich bei Tammling, der in der ersten Person berichtet: „[…], daß [meine] Schwester hieselbst sich entschließt, eine Ziegelei setzen zu lassen und wovon ich die Bestellung für sie annahm, welches mir viele Mühe machte, aber dadurch sich noch vermehrte, weil ich es auf 6 Jahre von sie heuerte.“21

Dieser (familiäre) Geschäftssinn kann mitnichten als Alleinstellungsmerkmal des Hausmannsstandes, aber dennoch als eine typische Praktik verstanden werden. Er charakterisiert den Hausmann in seiner Existenz zwischen Bau­ er und Händler, die nicht geburtsmäßig feststand, sondern durch alltägliche Handelspraktiken wie das Buchführen, den Blick auf weltwirtschaftliche Kon­ junkturen und das Ein- und Verkaufen im großen Stil erst entstand. Dafür bedurfte es zwar des Erbes, da man als Hausmann geboren wurde, aber eben auch der eigenen wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit, da der Hausmanns­ stand mit seiner Wirtschaftsführung darauf angelegt war, eigene ökonomi­ sche Positionen zu stärken und zu erweitern. Ein Wechselspiel aus nicht zu steuernden Einflüssen und persönlichem Handeln entschied somit über die eigene Existenz oder Nicht-Existenz als Hausmann. Ein Stehenbleiben oder gar ein Zurückfallen – sei es aus konjunkturellen, naturgebundenen oder per­ sönlichen Gründen – konnte schlicht und einfach das Ende eines Daseins als Hausmann bedeuten.

3. B ildung Ein völlig anders geartetes Kriterium der Zugehörigkeit und Anerkennung als Hausmann war die Selbstverständlichkeit, mit der ein über das agrarische Wissen hinausgehender Bildungsstand angestrebt wurde. Die Aneignungs­ praktiken von Bildung eines jungen Hausmanns lassen sich auf drei Ebenen 19 | Niedersächsisches Landesarchiv – Staatsarchiv Aurich (im Weiteren: StAAu), Dep. 68 Nr. 41. 20 | Hinrichs, Wiard: Kopfschatzung 1757. Die steuerpflichtige Bevölkerung Ostfrieslands im Siebenjährigen Krieg, Bd. 1, Aurich 2010, S. 207. 21 | StAAu, Dep. 68 Nr. 41, S. 66f.

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beobachten: die schulische Bildung, die flächendeckend angeboten wurde, die Privatbildung auf den Höfen vieler Hausleute und schließlich eigene Bildungs­ impulse. Der Bereich der öffentlichen Bildung kann mit Fug und Recht als ambi­ valent bezeichnet werden. Zwar führte bereits die Gräfin Anna mit der Allge­ meinen Schulordnung von 1545 eine formale Schulpflicht ein, was dazu führ­ te, dass in den meisten Kirchdörfern ab dem 16. Jahrhundert Schule gehalten wurde,22 aber noch das preußische „General-Landschul-Reglement“ von 1763 kann in seiner tatsächlichen Wirkung als durchaus strittig bewertet werden.23 Neben der Ausstattung der Schulen und den Bildungsbiographien der Leh­ rer unterstreichen insbesondere die geringen Anwesenheitszeiten der Schü­ ler die Zweifel an der Leistungsfähigkeit der öffentlichen Schulen – im Jahr 1764 besuchte beispielsweise nur ein einziges Kind die Schule im Ort Horsten auch im Sommer, also während der Kernarbeitsphase der Bauern.24 Trotz der Schwierigkeiten im öffentlichen Schulsystem schien es ein gewisses Interesse der Hausleute an selbigem gegeben zu haben, da sie einerseits maßgeblich an der Wahl der entsprechenden Lehrkräfte beteiligt waren – das Stimmge­ wicht hing vom Landbesitz sowie bekleideten Ämtern ab25 – und andererseits an einigen Orten sogar auf eigene Direktive Räume anmieteten, wenn keine Schulräume vorhanden waren.26 Auch im Dorf des erwähnten Tammling gibt es eine Initiative der Interessenten bzw. Hausleute, eine Schule einzurichten. So schreibt einer ihrer Vertreter im Jahre 1757 an „die Beamten zu Leer“: „So ist es allerdings nöthig, daß die Sache mit Einrichtung einer ordentlichen Kirchspiels-Schule zu Holtgaste ohne ferneren Verzug zu Stande gebracht werde. Wir haben deswegen […] vorerst den Kirchvorsteher daselbst angewiesen, noch in diesem Sommer eine Schulcammer an der Kirche erbauen zu lassen und züglich befohlen, die Kundigung zu machen, daß der Klingelbeutel noch an allen Sonn- und Predig-Tagen umgetragen werde.“27

Interessant in diesem Zusammenhang ist die Berufung des Berend Hayen zum Schullehrer, da dieser in einem Protokoll von 1758 als vormaliger Privat­ 22 | Brüggemann, Sibylle: Landschullehrer in Ostfriesland und Harlingerland während der ersten preußischen Zeit (1744–1806), Köln/Wien 1988, S. 19f. 23 | Müller, Brigitte: Dorfschule im 19. Jahrhundert. Arle in Ostfriesland, Oldenburg 1994, S. 68f. 24  |  Jordan, Ernst: Chronik der Schule in Horsten von 1609 bis 1932, Oldenburg 2000, S. 21. 25 | Brüggemann, S.: Landschullehrer, S. 70ff. 26 | Müller, B.: Dorfschule, S. 81. 27 | StAAu, Rep 14 Nr. 2446.

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lehrer eines Bauern, vermutlich in der erweiterten Familie des Eilard Tamm­ ling vorgestellt wird. In der entsprechenden Aktenstelle heißt es: „Der Berend Hayen erschien, sagte auf Befragen, daß er anno 1731 zu Jemgum gebohren, […] seit 7 Jahren Kinder privatim bey dem Bauer Baje Eggen informiert […]. 28

Seine Fertigkeiten als Schulmeister werden im Folgenden schließlich als ma­ kellos beschrieben, „sodass man kein Bedenken gefunden, ihm den Schul­ meister-Dienst zu Holtgaste anzutragen […]“.29 Aus diesen Quellenauszügen bleiben insbesondere zwei Punkte festzuhalten. Zum einen scheinen die Hausleute nämlich durchaus ein Interesse an einem funktionierenden öffentlichen Schulsystem gehabt zu haben und zum anderen sicherten sie die Bildung des eigenen Nachwuchses über die Anstellung von Privatlehrern ab. Insbesondere das Engagement im Bereich der öffentlichen Bildung muss dabei allerdings auf seine Funktion hin hinterfragt werden, da sich gerade vor dem Hintergrund einiger Konflikte um die Stimmvergabe und Zahlungsverpflichtungen der Verdacht aufdrängt, dass es eher um die Ein­ flussnahme auf die Geschicke des eigenen Dorfes als um ein tatsächliches In­ teresse am Bildungsniveau der (fremden) Kinder ging. Trotz verschiedener kleinerer Streitigkeiten muss im Allgemeinen festge­ halten werden, dass es den Bildungsvorstellungen der Hausleute offensichtlich nicht genügte, grundlegende Kenntnisse im Schreiben, Rechnen und über den Katechismus zu erwerben. So gab es etwa in Werdum „manche ansehnliche Hausleute [im] Schuldistrikt […], die von ihrem Schullehrer mehr als gewöhn­ liche Kenntnisse verlangen“.30 Dieses „Mehr“ an Bildung schlägt sich letztend­ lich in den Bildungswegen großbäuerlicher Familien nieder, die beginnend im ausgehenden 18. Jahrhundert vermehrt den Weg an die Universitäten such­ ten, wenngleich lange nicht von einem Massenphänomen die Rede sein kann. Grundlage für ein Studium war im Regelfall nicht nur der Privatunterricht, sondern eine höhere Bildung an Gymnasien. Neben diesen unterrichtlich-institutionalisierten Formen der Bildung soll­ te der gänzlich private Zugang zur Bildung nicht unterschätzt werden. Er ist empirisch schwer nachweisbar, zeigt sich aber immer wieder in Einzelfun­ den. Symbolisch dafür kann der „Bauernphilosoph“ Frantz Harms aus dem Jeverland genannt werden, der in seiner Abhandlung „Unverhoffte Gedanken zu Papier gebracht“ einen Nachweis einer beeindruckenden Kenntnis philo­

28 | Ebd. 29 | Ebd. 30 | StAAu, Rep. 139 Nr. 1095, zit. nach Brüggemann, S.: Landschullehrer, S. 229.

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sophischer Gedanken von Leibniz über Voltaire bis zu Kant erbringt.31 Auch für den vielfach erwähnten Baje Eggen Tammling schien die Bildung einen besonderen Stellenwert in seiner Familie zu haben. Dieser zeichnet sich zwar nicht durch den Besuch renommierter Schulen oder die eigene Anstellung von Privatlehrern aus, wird aber über jene Artefakte unterstrichen, denen in seinem Testament eine Sonderrolle zukommt. Eigentlich heißt es im Ehever­ trag, der im Testament aufgegriffen und bestätigt wird, nämlich: „Sollte es dem Herrn gefallen diese zu vollziehende Ehe mit […] Erben zu segnen, so wollen Braut und Bräutigam, dass die Kinder beyderley Geschlechts gleiche Theile [erhalten].“32 Dieser Regelung wird sozusagen im Nachfassen nun eine Sonderregel zur Seite gestellt, die da lautet: „Dennoch vermachen wir unserem Sohne zum Voraus: a) Unseren Schreibcomtoir b) Meine sämtliche Bücher mit der Bücher Schranke c) Meine musikalische Instrumenten d) Meine sämtli­ ches Zimmergeräthschaft mit der Schranke“.33 Ohne genau zu wissen, was Tammling mit „Zimmergeräthschaft“ meint, können die anderen genannten Artefakte als Objekte identifiziert werden, die einen gewissen Zugang zur Bil­ dung erkennen lassen. Diese Gegenstände scheinen schließlich so wertvoll für ihn gewesen zu sein, dass sie einen eigenen Platz in seinem Testament ein­ genommen haben und nicht in die paritätisch aufzuteilende Erbmasse fallen sollten. Auch dieses Indiz spricht für die besondere Bedeutung von Bildung und Bildungspraktiken für die Angehörigen des Hausmannsstandes. Vor dem Hintergrund dieser Feststellung drängt sich ein Blick über den ständischen Tellerrand geradezu auf. Gilt doch das Bürgertum als nahezu ex­ klusiver Träger der Bildung. Und zweifelsohne hat die Bürgertumsforschung Leistung und Bildung zu Recht als klassische Schlagworte der „bürgerlichen Gesellschaft“ herausgearbeitet.34 Nichtsdestotrotz muss betont werden, dass die Träger dieser Ideale insbe­ sondere in ländlichen Regionen durchaus auch aus der bäuerlichen Oberschicht stammten, was man leicht abtun und mit einem einfachen Trickle-Down-Ef­ fekt erklären könnte. Vor allem die Verwissenschaftlichung landwirtschaftli­ 31 | Baier, Christiane: „Unverhoffte Gedancken …“ eines philosophischen Bauern. Der Leser und Autor Frantz Harms (1725–1809) in Kötteritzergroden, in: Uwe Meiners/Antje Sander/Gerd Steinwascher (Hg.): Hinter dem Horizont, Bd.1: Sach- und Wissenskultur der ländlichen Oberschichten in den jeverländischen Marschen und den angrenzenden Oldenburger Geestgebieten zwischen dem 17. und frühen 19. Jahrhundert, Münster 2013, S. 177–194. 32 | StAAu, Rep. 128 C Nr. 2072. 33 | StAAu, Rep. 128 C Nr. 2072. 34 | Kocka, Jürgen: Das europäische Muster und der deutsche Fall, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert: Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 1: Einheit und Vielfalt Europas, Göttingen 1995, S. 9–75, bes. S. 14.

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cher Prozesse lässt allerdings auf einen sehr eigenen Umgang mit Bildung schließen, der durchaus eine andere Ausrichtung erhielt als etwa im städti­ schen Bürgertum.35 Neben dieser sehr eigenen Ausrichtung finden sich jedoch auch scheinbar traditionell bürgerliche Formen wie die Partizipation in Leseund Wissenschaftsgesellschaften. Ohne diesen Bereich ausführlicher zu beleuchten, kann an dieser S ­ telle fest­ gehalten werden, dass sich die Mitgliedslisten dieser Gesellschaften durch­aus auch als „Who is Who“ der bäuerlich-bürgerlichen Oberschicht in der Region lesen lassen.36 Die persönliche Gelehrtheit und somit die Praktik des gezielten Wissenserwerbs im Hausmannsstand kann dementsprechend als wichtiger Baustein für das „standesgemäße“ Leben verstanden werden. Die Praktik, den Wissenserwerb zu fördern, wurde mit großem finanziellen Aufwand für Pri­ vatlehrer und Bücherkäufe betrieben und eröffnete Einflussmöglichkeiten auf die Geschicke des Dorfes, eine gezielte soziale Distinktion innerhalb des Dor­ fes sowie durchaus auch eigene Zugänge in das bürgerliche Milieu, also aus dem Dorf heraus. Während man sich nämlich – so man im erweiterten Kreis der Hausleute zu verorten war – einzelne Statusinsignien im Laufe der Zeit an­ sparen konnte, war eine kontinuierliche, die ganze Familie betreffende und die Volksbildung übertreffende Bildung nur für die wirtschaftlich erfolgreichen Hausleute denkbar. Vor diesem Hintergrund wird die verstärkte Hinwendung in den Bildungsbereich nicht nur erklärbar, sondern auch zu einer der wich­ tigsten Praktiken, wenn es um den Bereich der sozialen Distinktion innerhalb der ländlichen Gesellschaft geht.

4. K onsum Als deutlich sichtbarer (weil materieller) als der Bildungsbereich können die verschiedenen Konsumpraktiken der Hausleute beschrieben werden. Silber, Gold, Uhren, Spiegel und Kleider nach dem Vorbild der Pariser Mode finden sich in verschiedenen Hausmannsinventaren der Region. Wenngleich kein Konsumgut auszumachen sein wird, das ausschließlich in den Inventaren der Hausleute (und nicht in bürgerlichen oder adeligen) auftritt, können dennoch Dinge benannt werden, die sozusagen zur Grundausstattung gehörten. Ganz allgemein musste ein Hausmann über Vieh – Pferde, Kühe usw. – sowie Land verfügen. Die Besitzverhältnisse des Landes und die Größe seines 35 | Sander, Antje: Ein weiter Horizont. Wissenschaft und Bildung in den jeverländischen Marschen um 1800, in: Dagmar Freist/Frank Schmekel (Hg.): Hinter dem Horizont. Projektion und Distinktion ländlicher Oberschichten im europäischen Vergleich, 17.–19. Jahrhundert, Münster 2013, S. 249–261, bes. S. 250. 36 | Ebd., passim.

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Viehbestandes waren nicht unwichtig für den Status eines Hausmannes, sol­ len aber hier nicht im Fokus stehen.37 Viel interessanter erscheinen jene mate­ riellen und immateriellen Konsumgüter, die eben nicht direkt an die landwirt­ schaftliche Existenz geknüpft waren, aber dennoch erforderlich waren, um als Hausmann wahrgenommen zu werden. So stand etwa der Bereich der vererbten Konsumgüter für die Wichtigkeit familiärer Traditionen. Wie wichtig der Sachbesitz für die familiäre Überliefe­ rung war, verdeutlichen die bereits erwähnten Familienchroniken38 sowie die Artefakte selbst, da sie zunehmend mit Insignien der Familien versehen wur­ den und somit unabhängig von ihrer weiteren Verwendung immer als (vorma­ liger) Besitz der Familie oder eines bestimmten Familienmitglieds erkennbar wurden.39 Überspitzt könnte man behaupten, dass man nicht einfach einen Gegenstand, sondern einen Teil der Familiengeschichte erbte. Dieser materi­ alisierte Teil wiederum konnte schließlich als Ausweis der Zugehörigkeit zu einer besonderen (lokalen) Tradition und Verbundenheit – im „Niedersächsi­ schen“ würde man vielleicht von „Erdverwachsenheit“ reden – verstanden wer­ den, die für die Reputation der einzelnen Familien nicht unwichtig war.40 Die Praktik der Weitergabe von familiär erkennbar gemachten Luxusgegenständen war somit immer auch an die Idee der Selbstlegitimation einer Familie als Hausmannsfamilie gebunden. Ergänzend kommt hinzu, dass insbesondere Objekte aus Edelmetallen neben ihrer Repräsentationsfunktion natürlich auch immer als Wertanlage gesehen werden konnten.41 37 | Von politisch-rechtlicher Seite aus richtete sich die Zugehörigkeit zum Hausmannsstand nach dem Land, das besessen oder gepachtet wurde. So galten auf der Marsch 25 Grasen eigenes oder 50 Grasen beheerdisches (Erb)Pachtland, auf der Geest ein halber Herd plus 1000 Reichstaler Vermögen oder 25 Grasen Eigenland in Flecken als Kriterien der Zugehörigkeit. 38 | In der Chronik der Familie Groeneveld etwa befinden sich mehrere Inventare – ein sehr ausführliches ist etwa das in die Chronik aufgenommene „Protocollum betreffend die Inventarisierung des weiland Hausmanns Folckert Janssen Groeneveld und seiner auch weiland Ehefrauen Tetje Jans Mütinga […]“ aus dem Jahr 1798, dem immerhin sechs Buchseiten eingeräumt werden. Groeneveld, E.: Familie Groeneveld, Bd. 2, S. 272–277. 39 | Beispielhaft kann hier die Gravur von Gegenständen sowie die Verzierung von Schränken mit Initialen und Jahreszahlen genannt werden. 40 | Wie skeptisch man in den Dörfern vermutlich gegenüber allen nicht bekannten Familien war, lässt sich auf institutioneller Ebene an den ostfriesischen Bauerbriefen erkennen, die von Abwehrmechanismen gegenüber Zuzugstendenzen nur so strotzen. Die Bauerbriefe liegen in editierter Form vor. Ebel, Wilhelm (Hg.): Ostfriesische Bauerrechte, Aurich 1964. 41 | Zur Funktion insbesondere des Schmuckes als Geldanlage Lorenzen-Schmidt, Klaus-Joachim: Generationenwechsel, Vererbung und Heiratsverhalten der bäuerlichen

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Es wäre nun allerdings ein Trugschluss, in jedem Artefakt gleichsam Wertanlage zu vermuten. Wie das beispielhaft aussehen kann, verdeutlicht das „Lebensprotokoll“ des Eilard Bayen Tammling. Darin verweist er etwa auf den Kauf einer Wanduhr: „Mögte doch ich und die meinigen lernen Gott unseren Schöpfer vertrauen, nicht so mißtrauisch sorgen, nur stets unser Pflicht tun, und übrigens Gott walten lassen. Gott lehre es mich und uns allen. Auf diesen Tag als den 3. Sept. kaufte ich ein Wanduhr vor uns von Lupke W. v. Koten zu Leer vor Gl. 29 hol.“42

Das Jahr, in dem Tammling nach Leer fuhr, um die Wanduhr zu erwerben, kann als wirtschaftlich erfolgreich beschrieben werden. Der Hausmann war in der Lage sowohl Schulden abzubauen als auch eine doppelte Heuer zu entrichten und wähnte sich daher zu Recht auf einem wirtschaftlichen Hoch. Dennoch fällt auf, dass Tammling die Summe von 29 holländischen Gulden – immerhin fast die Hälfte seines Umsatzes „von verkauftem Viehe“43 – in einen Luxusgegenstand investierte, obwohl aus dem wirtschaftlich sehr schlechten Vorjahr noch Schulden offen waren. Abgesehen davon, dass es auch in der stark kreditbasierten ländlichen Gesellschaft durchaus üblich war, im selben Moment Geld für eine Sache zu leihen, um es für eine andere Sache zu verleihen (oder eben auszugeben), gibt uns dieses Verhalten durchaus einen Hinweis auf den Stellenwert der Wanduhr für Tammling. Was bei ihm hingegen gar nicht vorkommt und auch aus keinen ergänzenden Archivalien zu seiner Person rekonstruierbar ist, ist die gezielte Bestellung einzelner Produkte. Derartige Bestellungen müssen dennoch als absolut üblich beschrieben werden. Dass es sich bei diesen Lieferungen nicht um Einzelfälle handelte, verdeutlicht ein Gutachten des Domänenrates Franzius, das von Friedrich Swart zitiert wird. Dort klagt der Beamte nämlich über Agenten und Händler, die in die ländlichsten Gegenden reisten, um den Frauen der Bauern die neuesten Modekleider zu präsentieren.44 Man kann also unzweifelhaft davon ausgehen, dass die reichen Bauern die entsprechenden Moden nicht nur kannten, sondern

Bevölkerung in den holsteinischen Elbmarschen 1650–1950, in: Martin Rheinheimer (Hg.): Der Durchgang durch die Welt. Lebenslauf, Generation und Identität in der Neu­ zeit, Neumünster 2001, S. 103–123, hier S. 106. 42 | StAAu, Dep. 68 Nr. 41, S. 15. 43 | StAAu, Dep. 68 Nr. 41, S.13. 44 | Swart, Friedrich: Zur friesischen Agrargeschichte, Leipzig 1910, S. 213. Der Hin­ weis auf diese Stelle ist der Dissertation von Jessica Cronshagen entnommen. Crons­ hagen, J.: Hausleute, S. 301.

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auch Mittel und Wege hatten, diese zu erwerben.45 Heinrich Schmidt hat anhand einer von ihm gefundenen Anekdote um die Jeverschen Bauern sehr lebhaft deutlich gemacht, dass die Bauern schließlich auch mit Vorliebe Gebrauch von diesen Möglichkeiten machten. Er verweist nämlich auf eine Beschwerde eines anhaltinischen Beamten, der es unerträglich fand, dass Bauern (!) im wahrsten Sinne des Wortes in Samt und Seide gekleidet in der Öffentlichkeit auftraten.46 Die in diesem Disput angesprochenen Kleider bzw. ihre Vorlagen können de facto nur aus dem Import über Händler oder Agenten stammen, sodass an diesem Beispiel wunderbar deutlich wird, welche Auswirkungen die exklusiven Konsumpraktiken des Hausmannsstandes hatten. Sie unterstrichen nämlich Bemühungen um eine soziale Distinktion, die sie innerhalb ihrer Region als Hausleute und somit unantastbare Spitze des Bauernstandes kennzeichnete. Für Personen, die von außerhalb in die Region kamen, konnten sie allerdings nur als nicht-standesgemäßes Verhalten gewertet werden. Die Konsumpraktiken der Hausleute führen zu einer Sonderstellung, die mit Sicherheit durch eben jene Praktiken (re-)produziert werden sollte. Indem man also über Generationen hinweg exklusiver konsumierte als seine Umwelt, legitimierte man sich und seine Familie als Bestandteil des Hausmannsstandes.

5.  H ochzeit Die Familien, die den Schritt in den Hausmannsstand einmal gegangen waren, bemühten sich stets, exklusiv zu bleiben, was in den Heiratspraktiken dieser bäuerlichen Oberschicht einen sehr deutlichen Niederschlag findet. Dementsprechend waren es auch die Familien, die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Wahl des Partners hatten. Diese, so Christoph Reinders-Düselder, wurde „aus dem kollektiven Interesse der Hausgemeinschaft mitbestimmt“.47 Zweifelsohne waren Grundlage einer jeden Entscheidung pri45 | Freist, Dagmar: Dress to impress: Mode als materielle Praktik sozialer Distinktion in der ländlichen Oberschicht Nordwestdeutschlands, in: Dies./Frank Schmekel (Hg.): Hinter dem Horizont; Bd. 2: Projektion und Distinktion ländlicher Oberschichten im eu­ ropäischen Vergleich : 17.–19. Jahrhundert, Münster 2013, S. 91–103. 46 | Schmidt, Heinrich: „Schwierige Untertanen“. Zur Geschichte der jeverschen „Land­ schaft“ im 17. und 18. Jahrhundert, in: Antje Sander (Hg.): Ferne Fürsten. Das Jever­l and in Anhalt-Zerbster Zeit, Bd. 2: Der Hof, die Stadt, das Land, Oldenburg 2004, S. 29–81, hier S. 51f. 47 | Reinders-Düselder, Christoph: Heiraten im Ammerland. Lokale Heiratskreise im Kirchspiel Westerstede 1650–1850, in: Helmut Ottenjann (Hg.): Hochzeitsschränke des Oldenburger Ammerlandes. Möbelkultur, Eherecht und Heiratskreise 1600–1800, Clop­ penburg 2006, S.93–122, hier S.93.

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mär ökonomische Aspekte, sodass die Familien durchaus als „erste Instanz“ eines sozial endogamen Heiratsverhaltens beschrieben werden können. Diese erste Instanz prüfte im Idealfall die Reputation und das Vermögen möglicher Antragsteller, noch bevor überhaupt an weitere Schritte gedacht wurde.48 Eine Einwilligung konnte aber aus ganz pragmatischen Gründen nur gegeben werden, wenn mindestens zwei Kriterien erfüllt waren: Erstens eine Aussicht auf eine solide ökonomische Grundlage zur Übernahme des Hofes oder zum Aufbau eines eigenen Hofes, zweitens ein Maß an Eigenkapital, das eine standesgemäße Aussteuer erlaubte, ohne die eigenen wirtschaftlichen Grundfesten ins Wanken zu bringen.49 Sowohl die Rolle der Eltern als auch die Notwendigkeit einer ökonomischen Grundlage bzw. das Erfordernis einer repräsentativen Mitgift werden im Ehevertrag zwischen Eilard Bayen Tammling und seiner Frau Antje Everts sehr deutlich, wenn es heißt: „Die Braut mit Bewilligung und Zuziehung ihres noch lebenden Vaters Evert Everts Kraft dieses [hier vorliegenden Papiers, F.S.] verspricht ihren Bräutigam eine standesmäßige Ausstattung zuzubringen, wovon denn ein besonderes vom Bräutigam zu unterzeichnen­ des Inventarium errichtet werden soll.“50

Einschränkend muss hier natürlich auf den stark normativen Charakter eines Ehevertrages verwiesen werden, denn er sollte formal dafür sorgen, dass die Ehe zum Wohle des Einzelnen und der ganzen Gesellschaft funktionierte.51 Auch aufgrund dieses Anspruchs rückte die Eheschließung aus dem familiären Raum unweigerlich in die öffentliche Sphäre. Diese spiegelte sich zum einen in den genauen herrschaftlichen Regelungen der Verlöbnis- und Hochzeitsfeiern wider, zum anderen in der Teilhabe vieler anderer Dorf bewohner und vor allem der Dorfjugend an den Bräuchen der Verlobung und Eheschließung. Unter den zuerst erwähnten Regelungen werden hier nicht nur direkte Erlasse verstanden, die auf Feiern und Mitgiften abzielten, sondern auch die öffentlichen Abkündigungen der Verlobung von der Kanzel. Diese wurden (wie in den Niederlanden) in der Regel an drei aufeinanderfolgenden Sonntagen verlesen. Schon in ihrer Anfangsphase war eine Heirat somit immer auch eine Veranstaltung für das ganze Dorf. Aufgrund der finanziellen Mittel des Hausmannsstandes wurde der Ereignischarakter für die anderen Dorf bewoh48 | Ulbricht, Otto: Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2009, S. 106. 49 | Zum Aspekt der Aussteuer Ottenjann, Helmut: Das Ammerland-Möbel als Be­ standteil der Mitgift, in: Ders. (Hg.), Hochzeitsschränke, Cloppenburg 2006, S. 80. 50 | StAAu, Rep. 128 C Nr. 2072. 51  |  Witte, John: Vom Sakrament zum Vertrag. Ehe, Religion und Recht in der abendlän­ dischen Tradition, Gütersloh 2008, S. 66.

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ner natürlich ungleich größer. Ohnehin galten die Verlobungs- und Hochzeitsfeiern als derart ausschweifend, dass es wiederholt herrschaftliche Versuche gab, diese zu regulieren, um das wirtschaftliche Risiko der einzelnen Familien zu senken.52 Es liegt auf der Hand, dass die Hausleute derartige Feste nutzten, um ihren Stand im Dorf erneut zu manifestieren. Diese Manifestation bestand einerseits in der Repräsentation ihrer eigenen Stellung durch schier unbezahlbare Feierlichkeiten. Andererseits in der Errichtung imaginärer Grenzen, da deutlich wurde, dass nur ein Hausmann sich eine derartige Feier leisten konnte und jemand aus der unterbäuerlichen Schicht dementsprechend rein materiell gar nicht in der Lage sein konnte, in den Hausmannsstand einzuheiraten. Untermauert wurde diese Botschaft außerdem durch den Brauch des Braut­ wagens, der erstaunlicherweise in einem Leipziger Modemagazin des Jahres 1805 erklärt wird: „Der Brautwagen, auf dem eine Braut von bürgerlichen oder Bauernstande zu ihrem Bräutigam fährt, wird vom letztern [sic!] und dessen Angehörigen bestellt, und mit vier bis sechs guten, mit Bändern, auch in einigen Gegenden mit Goldpapier, geschmückten Pferden bespannt. […] In Niedersachsen, Westphalen etc. und einigen anderen Gegen­ den werden die Brautwagen, worunter man zuweilen, in im uneigentlichen Verstande die Aussteuer und Ausstattung an Gütern, Mobilien, Kleidung, Wäsche, Geld, Vieh etc. [,] welche entweder dem Bräutigam oder einer Braut von den Eltern oder ihren Ange­ hörigen mitgegeben werden, versteht – in die vollen, halben, mäßigen und geringen eingetheilt.“53

Die angesprochene Einteilung eines Brautwagens in volle, halbe usw. bezieht sich auf herrschaftliche Versuche, gegen die Überschuldung einzelner Personen durch eine zu große Aussteuer vorzugehen, wenngleich ihre tatsächliche Umsetzung getrost bezweifelt werden kann. Der Weg des Brautwagens zog sich dann tatsächlich quer durch das Heimatdorf der Eheleute, „[…] beladen mit ihrem Heiratsgut. Das war kein gewöhnlicher Umzug, sondern eine pompöse Zur-Schau-Stellung all dessen, was der Bauer seiner Tochter mitzugeben in der Lage war und entsprach gleichzeitig genau dem, was sich für eine Bauerntochter ihres Standes gehörte“.54 Dabei ist auch für die Hausleute festzuhalten, dass hier tatsächlich Bauern anderen Bauern vorführten, wozu 52 | Sprengler-Ruppenthal, Anneliese: Heiraten in Ostfriesland um 1600, S. 3. http:// www.sprengler-ruppenthal.de/docs/Heiraten.pdf vom 8.11.2013. 53 | Leipziger Mode-Magazin des neuesten deutschen, französischen und e­ nglischen Geschmacks, Nov. 1805, zit. nach Weber-Kellermann, Ingeborg: Frauenleben im 19. Jahrhundert. Empire und Romantik, Biedermeier, Gründerzeit, München 1991, S. 80. 54 | Weber-Kellermann, I.: Frauenleben, S. 79.

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sie wirtschaftlich in der Lage waren. Es ging also um soziale Repräsentation innerhalb einer (ähnlichen) Statusgruppe. Ein Brautwagen einer adeligen Tochter, der durch ein Dorf geführt werden sollte, wäre hingegen unvorstellbar gewesen. Dieser Aspekt ist für die Hochzeitspraxis der Hausleute durchaus interessant, da er unterstreicht, dass diese bäuerliche Oberschicht die Hochzeit mit all ihren Phasen nutzte, um sich sozial von den anderen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft abzuheben, aber dennoch ein Teil dieser bäuerlichen Gemeinschaft blieb. Wenn also von Praktiken sozialer Distinktion im Hausmannsstand die Rede ist, sind diese immer auf die Selbst(re)produktion des Hausmannsstandes und somit auf eine Sonderstellung innerhalb der bäuerlichen Gesellschaft hin ausgerichtet.55

6.  Ä mter Wie stark die Hausleute in der bäuerlichen Gesellschaft verhaftet waren und wie sehr sie innerhalb dieser Gesellschaft dennoch eine Sonderstellung einnahmen, kann im Bereich der Ämterübernahme verdeutlicht werden. Allein die Möglichkeit, Ämter der Dorföffentlichkeit zu übernehmen, zeichnete die Hausleute gegenüber unterbäuerlichen Schichten aus, war sie doch an lokal unterschiedliche Bedingungen geknüpft, die im Kern auf die Faktoren Landbesitz, erbpachtpflichtiges Land und/oder Eigenkapital hinausliefen.56 Derartige Bedingungen konnten ohnehin nur von großbäuerlichen Personen erfüllt werden, sodass hier zweifelsohne von einer weiteren, in diesem Falle sogar fest institutionalisierten Abgrenzung des Hausmannsstandes gesprochen werden kann, wenngleich Reemda Tieben unlängst eindrucksvoll herausgearbeitet hat, dass es durchaus ernstzunehmende unterbäuerliche Bestrebungen gab, die Selbstverwaltung in den Dörfern für sich zu sichern.57 Neben dem Versuch nach außen Exklusivität zu erzeugen, wurde implizit allerdings auch ein weiteres Anforderungsmerkmal nach innen geschaffen, da es eben kaum möglich war, ein Mitglied des Hausmannsstandes zu sein, ohne eines der Ämter zu 55 | An dieser Stelle sollte nicht verschwiegen werden, dass es wenige Fälle von nobi­ litierten Hausleuten gab. Es gibt allerdings keine Hinweise auf die Nobilitierung als „Ziel“ eines „guten“ Hausmannes, zumal der ostfriesische Adel so schwach war, dass er ohne­ hin keine Schicht darstellte, zu der man aus der Perspektive eines Hausmannes hätte aufblicken können. 56 | Zu den Voraussetzungen für die Übernahme eines Amtes Kappelhoff, Bernd: Ab­ solutistisches Regiment oder Ständeherrschaft? Landesherr und Landesstände in Ost­ friesland im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, Hildesheim 1982, S. 25. 57 | Tieben, Reemda: Politik von unten. Landstände, Bauern und unterbäuerliche Schicht im Ostfriesland der frühen Neuzeit (1594–1744), Münster 2012.

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bekleiden. Sieht man sich vor dem Hintergrund dieser Feststellung die Ämterverteilung besonders erfolgreicher Hausmannsfamilien an, verwundert es kaum, dass die öffentlichen Aufgaben geradezu abonnementweise übernommen wurden. In der Familie Groeneveld – und dort auch nur in den Familienteilen, die den Namen auch tatsächlich trugen – befanden sich beispielsweise nur im 18. Jahrhundert fünf Deich- und vier Sielrichter. Arend Egberts Groeneveld aus Weener übertrug man im Laufe seines Lebens sogar beide Ämter.58 Auch der weniger erfolgreiche Hausmann Eilard Bayen Tammling konnte in seinem Leben durch die Übernahme von Ämtern – in seinem Fall als Sielrichter in der Kleinen Soltborger Sielacht sowie als Schüttemeister in Holtgaste – glänzen.59 Dass diese Ämter keineswegs nur Zierde waren, sondern ein gewisses Handeln und Verhalten erforderten, zeigt das Schicksal von Tammlings Vorgänger in der Kleinen Soltborger Sielacht, der aus diesem Amt durch die anderen Interessenten enthoben wurde, „da er sich auf eine exorbitante Weise des Trunkes überläßt“.60 Nach der offiziellen Bestätigung in Leer wurde der Beschluss schließlich aus Aurich von herrschaftlicher Seite ebenfalls bestätigt. Interessant ist dabei, dass der von der Interessenten wegen „exorbitanten […] Trunkes“ abgewählte Jan Bruns in der Endfassung „wegen Alters und Schwachheit abgegangen“ sei.61 Die Vermutung liegt nahe, dass es hier nicht nur um den Schutz der Reputation des besagten trinkfreudigen Hausmannes, sondern auch um den Schutz des Sielrichteramtes ging. Dennoch machten Ämter die entsprechenden Amtsträger mitnichten unantastbar. Gerade innerhalb des Hausmannsstandes brachten manche Ämter auch eine besondere Beobachtung mit sich, die nicht nur positive Effekte haben musste. So wurde der Schüttemeister zwar in den meisten Fällen von den Interessenten des Dorfes gewählt, musste aber nach der Wahl insbesondere im Bereich der Abgabenerhebung auch Entscheidungen umsetzen, die nicht unbedingt von großer Popularität waren. Doch auch wenn die Popularitätswerte einzelner Amtsinhaber litten, die Praktik der Ämterübernahme ermöglichte es doch, als Person auf der gedanklichen Landkarte einer Region präsent zu

58  |  Schmekel, Frank: Wie die Welt das Dorf beeinflusste und umgekehrt. Ostfriesische Bauern als glokale Elite der Frühen Neuzeit, München 2011, S. 112. 59 | Zur Wahl als Sielrichter der Kleinen Soltborger Sielacht existieren die Protokolle der Wahl samt Teilen des anschließenden Briefverkehrs zwischen den beteiligten Insti­ tutionen. StAAu, Rep. 6 Nr. 5366. Als Schüttemeister kann Tammling nur aufgrund eines Einspruchs eines anderen Hausmannes gegen die Berechnung seiner Steuerabgaben ausgemacht werden, in welchem er für die falsche Taxierung mit verantwortlich gemacht wird. StAAu, Dep. 1 Nr. 2390. 60 | StAAu, Rep. 6 Nr. 5366 61 | Ebd.

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werden. Sie ermöglichte den Anspruch, eine privilegierte Stellung institutio­ nell zu manifestieren.

7. S epulkr alkultur Um den Stellenwert einzelner Hausleute nachzuvollziehen, muss es nicht im­ mer vonnöten sein, Archive nach überlieferten Dokumenten zu durchsuchen. Es kann in vielen Fällen ausreichen, einen ausgiebigen Spaziergang durch die entsprechenden Regionen zu unternehmen, solange man vor den Kirchhofs­ toren nicht Halt macht. So sind auf den Kirchhöfen und in den Kirchen selbst deutliche Hinweise zu sehen, die das Bestreben der reichen Bauern zeigen, ihr Ansehen auch über ihren Tod hinaus zu sichern. Jessica Cronshagen weist etwa auf einen Fall aus Oldersum hin, in wel­ chem die Witwe eines verstorbenen Hausmannes 14 Jahre benötigte, um die Rechnungen für die Beisetzung ihres verstorbenen Mannes mit allen ihren vielen Einzelkosten inklusive der Begräbnisfeier zu begleichen.62 Diese Kosten waren letztlich direkt proportional zum Status des Verstorbe­ nen innerhalb der Dorfgemeinschaft, was sich zum Teil eben auch in der über­ lieferten Sachkultur niederschlägt. Aufgrund der Komplexität des Themas Tod im Hausmannsstand soll sich der letzte Abschnitt der Ausarbeitung auf die Sachkultur des Todes – insbesondere auf die Begräbnisstätten – und die dazu­ gehörige Praktik beschränken. So fällt bei einem aufmerksamen Gang über die Kirchhöfe auf, dass sich die soziale Architektur der Gemeinde auffallend stark in der sepulkralen ab­ bildete. Christine Aka macht darauf aufmerksam, dass diese simultanen Ar­ chitekturen in der Wesermarsch sogar in der Anordnung der Gräber auf dem Kirchhof widergespiegelt wurden. Der Status einer Person war also nicht nur an der Ausführung seiner Grabstelle, sondern auch an deren Lage ablesbar. So wurden die erhöht gemauerten Keller reicher Bauern etwa von Grabstellen ihres Gesindes umgeben.63 Betrachtet man die aufwendigen Grabstätten genauer, wird schnell klar, dass es sich dabei zweifelsohne um große Investitionen handelte, die ohne ei­ nen gewissen wirtschaftlichen Erfolg kaum zu bewältigen gewesen wären. Warum das Tätigen dieser Investitionen durchaus als Praktik verstanden werden kann, verdeutlicht ihr Entstehungszeitraum. Insbesondere das Auf­ stellen monumentaler, steinerner Grabmale war vor der Reformation für Per­ 62 | Cronshagen, J.: Hausleute, S. 303. 63  |  Aka, Christine: „En Buer wär’k, keen Eddelmann“. Statusdenken und Elitebewusstsein über den Tod hinaus, in: Andreas Hartmann u.a (Hg.): Macht der Dinge. Symbolische Kommunikation und kulturelles Handeln, Münster 2011, S. 129–141, hier S. 140.

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sonen, die weder dem Adel noch dem Klerus angehörten, verboten.64 Dem­ entsprechend begannen die wohlhabenden Bauern erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts damit, ihre Gräber in oder an der Kirche mit wuchtigen Platten zu zieren.65 Da die Praktik, große Summen für ein repräsentatives Grabmal aufzubringen, zeitlich so gut einzugrenzen ist und sie letztlich unmittelbar nach ihrer rechtlichen Ermöglichung einsetzt, drängt sich der Eindruck auf, dass die oberbäuerlichen Schichten schlichtweg eine weitere Investitionsmög­ lichkeit in einen Mechanismus der sozialen Distinktion erkannt und genutzt haben. Es war also weder der gesellschaftliche oder gar rechtliche Zwang noch die völlig individuelle Entscheidung eines Einzelnen, die zum Phänomen der­ artiger Ruhestätten geführt hätte, sondern die Praktik der Hausleute, in ihr Ansehen bis über den Tod hinaus zu investieren. Im Fall von Grabkellern wird eine solche materielle Investition auf theo­ retischer Ebene noch spannender, da man, ausgehend von der „actor network theory“, das Gedankenspiel unternehmen könnte, eine solche Grabstätte als Aktanten zu verstehen. Innerhalb dieses Gedankenspiels wird der Grabkeller zum Handelnden, in­ dem er jeder weiteren Generation kommuniziert, wo und wie ihre letzte Ruhe­ stätte zu sein hat. Bedenkt man, dass einige dieser Keller vom 18. Jahrhundert bis heute genutzt wurden und werden, scheint diese Art der Kommunikation durchaus von einem gewissen Erfolg gekrönt gewesen zu sein.66 Dennoch soll­ te nicht der Eindruck entstehen, als determinierten derartige Bauwerke den Umgang mit ihnen. Fridrich Arends etwa weiß über den Ort Hopels nahe Frie­ deburg Folgendes zu berichten: „Das erste in der Colonie Hopels stehende Haus ist fast ganz von Steinen aus den alten gemauerten Gräbern erbaut worden. Der Eigenthümer erzählt, daß er vor vielen Jahren noch einige wohl erhaltene Grabkeller auf dem Kirchhof angetroffen […]“. 67

Neben der reinen Existenz einiger Grabkeller in diesem ostfriesischen Ort ent­ mystifiziert Arends gleichsam die Wirkungsmacht dieser Artefakte für die so­ zialen Distinktionsbeschreibungen der Hausleute. Diese bemühten sich zwar eindeutig um eine Manifestation ihres Status über den Tod hinaus, doch diese Bemühungen waren, wie das Beispiel aus Hopels verdeutlicht, zwar nicht ver­ 64 | Aka, Christine: Grabsteine oder Jagdwagen. Bäuerliches Repräsentationsstreben und Statuskonsum in einer Marschenregion des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 59 (2011), S. 91–104, hier S. 94. 65 | Aka, C.: Buer, S. 131. 66 | Ebd., S. 137. 67 | Arends, Fridrich: Erdbeschreibung des Fürstenthums Ostfrieslands und des Harlingerlandes, Emden 1824, S. 549.

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gebens, aber dennoch endlich. Nichtsdestotrotz stellen diese Anstrengungen eine weitere Praktik dar, die ganz deutlich auf das (in diesem Falle wörtlich zu verstehende) Untermauern der besonderen Stellung im Dorf abzielt. Da die Kosten eines gemauerten, repräsentativen Grabes im 17. Jahrhundert ungefähr dem Jahresgehalt eines Knechts entsprachen,68 wird deutlich, dass auch diese Praxis auf der Grundlage einer ökonomischen Überlegenheit fußte.

8. S chluss : W as macht ein (en) H ausmann In ihrer Gesamtschau und in ihrem Zusammenspiel verweisen die hier ana­ lysierten Praktiken auf ein dahinter liegendes kollektives Handlungsmuster von Hausmännern – den ökonomischen Erfolg als Voraussetzung dafür, sich zu dem „Stand“ der Hausleute zählen zu dürfen. Allerdings ist in den Alltags­ praktiken auf dem Lande nicht allein der Reichtum ausschlaggebend, um als Hausmann anerkannt zu werden. Vielmehr bedarf es eines impliziten Ver­ ständnisses davon, was im sozialen Feld der Hausleute angesagt war, um den Hausmann gewissermaßen zu verkörpern und erkennbar zu machen. Neben Artefakten und ihren besonderen Gebrauchsweisen – ein Schreibtisch etwa war nicht nur ein Statussymbol, sondern wurde tatsächlich genutzt – fungier­ te nicht zuletzt die Familientradition in Form von Chroniken, Tagebüchern, Korrespondenzen, Schaffung von Familienwappen, Kirchenbänken und Se­ pulkralkultur als „Gebrauchsanleitung“, um einen Hausmann zu machen. Im Unterschied zu klassischen Studien sozialer Differenzierung auf dem Lande konnte in diesem Beitrag aus praxeologischer Perspektive die Entstehung kol­ lektiver Handlungsmuster aus einem Bündel von Praktiken aufgezeigt wer­ den, die von Hausmännern hervorgebracht wurden und die diese zugleich hervorbrachten.

68 | Christine Aka gibt diesen Vergleich an. Aka, C.: Eddelmann, S. 136.

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Wie frühneuzeitliche Gesellschaften in Mode kamen Indische Baumwollstoffe, materielle Politik und konsumentengesteuerte Innovationen in Tokugawa-Japan und England in der Frühen Neuzeit Beverly Lemire

I Seit einer Generation setzen sich Historiker intensiv mit Konsumentenver­ halten auseinander.1 Während sich die Forscher hierbei ursprünglich auf West­ europa und das koloniale Amerika konzentrierten, regt das Thema doch zur Untersuchung der Wirtschafts-, Politik- und Kulturgeschichte der ganzen Welt an.2 Debatten über Luxus und Konsum richteten sich genauso an Konsu­ menten aus Unter- und Mittelklassen wie die Auswirkungen eines weltweiten 1 | Zu den Pionierstudien gehören De Vries, Jan: Peasant Demand and Economic De­ velopment: Friesland 1559–1700, in: William Parker/Eric L. Jones (Hg.): European Pea­ sants and Their Markets, Princeton, N.J. 1975; Thirsk, Joan: Economic Policy and Projects: The Development of a Consumer Society in Early Modern England, Oxford 1978; McKendrick, Neil/Brewer, John/Plumb, John Harold (Hg.): The Birth of a Consumer Society: The Commercialization of Eighteenth-Century England, London 1982; Carr, Lois Green/Walsh, Lorena S.: The Standard of Living in the Colonial Chesapeake, in: William and Mary Quarterly 45 (1988), S. 135–159 und Weatherill, Lorna: Consumer Behaviour and Material Culture in Britain, 1660–1760, London 1988. 2 | Beispielsweise Pomeranz, Kenneth: The Great Divergence: Europe, China, and the Making of the Modern World Economy, Princeton, N.J. 2000, S. 114–165; Finnane, Antonia: Changing Clothes in China: Fashion, History, Nation, New York 2008; Hunter, Janet/ Francks, Penelope (Hg.): The Historical Consumer: Consumption and Everyday Life in Japan, 1850–2000, London 2012.

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Handels mit Gütern, die eine breite Anziehungskraft besitzen. Das wachsende Verlangen nach solchen Gütern und deren Verfügbarkeit löste tiefgreifende so­ ziale und kulturelle Effekte aus. Mode etablierte sich als ein Teil dieser breiten gesellschaftlichen Verschiebungen und ihr Hervortreten unter Nicht-Eliten wurde zum Signal von Veränderungen.3 Mode ist ein Barometer sozialen Wan­ dels. Unter Mode verstehe ich einen Komplex von Elementen, die in einem fortwährenden Spiel von Geschmäckern und Stilen materieller Veränderung den Vorzug gegenüber Tradition und gesetzlichen Hierarchien gaben. Dies war frühneuzeitlichen Regierungen, die sich bemühten, Konsum einzuschränken, Güter durch bewährte Kanäle zu lenken und nicht-elitäre materielle Innova­ tion einzudämmen, ein Dorn im Auge. Martha Howell bemerkt: „fashion […] is transgressive in that it compulsively tests the boundaries of the expected“.4 Der anwachsende Handelsverkehr und der steigende Konsum unterwanderten üblicherweise die materielle Stabilität in hierarchischen frühneuzeitlichen Ge­ sellschaften, allen auf blühenden Gesetzesvorschriften zum Trotz.5 Kleidung ist politisch. Sie ist womöglich das umstrittenste Konsumgut dank ihrer Fähigkeit, den Träger zu „machen“ oder „neu zu machen“, „to mould and shape them both physically and socially, [and] to constitute subjects through their power“.6 Über die gesamte frühneuzeitliche Epoche hinweg brachte eine wachsende Bandbreite neuer Stoffe die Erscheinung alltäglicher Kleidung aus dem Gleichgewicht und förderte kreative Entfaltung. Männer und Frau­ en in den Städten Europas, außerhalb der Elite, machten sich ein kulturelles Projekt zu eigen, in dessen Zentrum eine Performance stand; sie definierten und redefinierten sich durch ihre Kleidung. Mit der Weiterverbreitung dieses ­self-fashioning stellten dessen Werte den sozio-politischen status quo in Frage und provozierten Reaktionen von offizieller Seite. Der anschwellende Strom des Handels und das Wachstum pulsierender Städte boten in vielen Teilen der Welt diesem Modeimpuls einen fruchtbaren Nährboden. In jüngster Zeit ha­ ben Historiker wichtige neue Vergleichsstudien zur Frühneuzeitlichen Welt hervorgebracht, in denen sie vor dem, was Kenneth Pomeranz als „The Great

3  |  Pomeranz, K.: Great Divergence, S. 152; Berg, Maxine: Luxury and Pleasure in Eighte­ enth-Century Britain, Oxford 2005. 4 | Howell, Martha: Commerce before Capitalism in Europe, 1300–1600, Cambridge 2010, S. 229. 5 | Hunt, Alan: Governance of Consuming Passions: A History of Sumptuary Law, Basingstoke, UK 1996, S. 22–34; Ross, Robert: Clothing. A Global History, or, the Imperialists’ New Clothes, Cambridge 2008, S. 12–25; Howell, M.: Commerce, S. 208–260. 6 | Jones, Ann Rosalind/Stallybrass, Peter: Renaissance Clothing and the Materials of Memory, Cambridge 2000, S. 2.

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Divergence“ nach 18007 bezeichnet, bemerkenswerte Parallelen zwischen Asi­ en und Europa im Hinblick auf wirtschaftliche Entwicklung, Urbanisierung und gewerbliches Wachstum identifiziert haben. Ein Großteil dieser Arbeiten rief Debatten über die Bedeutung quantitativer Daten, die aus unterschiedli­ chen institutionellen Quellen stammen, hervor. Anne McCants hat kürzlich die Entwicklung von „unterschiedlichen Maßstäben für wirtschaftlichen Er­ folg“ vorgeschlagen, da sie die bestehenden quantitativen Maßgaben im west­ europäischen Kontext als wenig zufriedenstellend empfand. Susan Hanley, eine Historikerin des Tokugawa-Japan, argumentiert ganz ähnlich, dass eine Untersuchung „[of] the standard of living alone is insufficient as an indicator of how well people live, insufficient for analysing the preconditions of indus­ trialization, and certainly insufficient for making cross-cultural comparison.“ Stattdessen plädiert sie für eine dichte Erforschung von materieller Kultur und Konsumverläufen.8 Die Wege zu einer Modewirtschaft zu vermessen, erlaubt außerordentlich wertvolle Vergleichsperspektiven auf bedeutende wirtschaft­ liche und kulturelle Entwicklungsphasen. Die Rezeption indischer Baum­ wollstoffe steht im Zentrum dieser Arbeit. In den beiden hier untersuchten Regionen bedeuteten Baumwollstoffe aus Indien frische Neuzugänge zu den materiellen Welten. Wir müssen die Fähigkeit von „Dingen“, Stärke und Han­ deln zu beflügeln oder Loyalitäten zu gewinnen, in diesen Interaktionen er­ kennen. Die agency von „Dingen“, ein Konzept, das unter anderem von Alfred Gell eingeführt wurde, ist unter Anthropologen, Archäologen und Kunsthisto­ rikern mittlerweile eine breit akzeptierte Grundannahme. Gell forderte Wis­ senschaftler heraus, die Macht von Objekten, Wandel auszulösen (durch phy­ sische, soziale und symbolische Eigenschaften), zu überdenken und wies auf das dynamische Potential der Interaktionen von Objekten und Gesellschaften hin. Sein Einfluss erstreckt sich inzwischen über mehrere Disziplinen, Chris Gosden beschreibt dies als „part of an emerging attempt to take the material world seriously in terms of how it affects human relations“.9 Sich mit der agency von Objekten zu befassen erfordert das sorgfältige Abschätzen von Stilcharak­ teristika, physischen Eigenschaften und den sozialen Kontexten, in denen sich Gegenstände offenbarten. 7 | Goldstone, Jack: Efflorescences and Economic Growth in World History: Rethinking the „Rise of the West“ and the Industrial Revolution, in: Journal of World History 13 (2002), 3, S. 323–389, hier S. 330–332; Pomeranz, K.: Great Divergence. 8 | McCants, Anne: Exotic Goods, Popular Consumption, and the Standard of Living: Thinking about Globalization in the Early Modern World, in: Journal of World History 18 (2007), 4, S. 433–462, hier S. 435; Hanley, Susan B.: Everyday Things in Premodern Japan: The Hidden Legacy of Material Culture, Berkeley, Cal. 1997, S. 5. 9 | Gosden, Chris: What Do Objects Want?, in: Journal of Archaeological Method and Theory 12 (2005), 3, S. 193–211, hier S. 196.

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Die relativ größten Mengen an indischen Baumwollstoffen trafen sowohl in Europa als auch in Japan im späteren 17. und im 18. Jahrhundert ein und obwohl das Ausmaß der Importe nicht vergleichbar war,10 so interagierten die­ se Güter doch auf ganz entscheidende Weise mit beiden Gesellschaften. Zu­ dem fiel diese Periode an beiden Schauplätzen mit dynamischem Wirtschafts­ wachstum zusammen, in dem beide Regionen sich expandierender ländlicher Wirtschaften und energetischer urbaner Szenarien erfreuten, in denen tradi­ tionelle Richtlinien leichter übertreten werden konnten. Städtische Straßen präsentierten materielle Innovationen, ihre Pflastersteine bildeten die Bühnen für die widerspenstigen Modeaufführungen der Nicht-Eliten, generierten eine kreative soziale Reibung. Wie Fernand Braudel vermerkte, sollten die Gegen­ stände frühneuzeitlicher Städte „increase tension, accelerate the rhythm of ex­ change and ceaselessly stir up lives“.11 In den Städten Englands und des Toku­ gawa-Japan wurden Modekulturen durch indische Baumwollstoffe in Schwung gebracht, die materiellen Qualitäten dieser Stoffe stellten einzigartige Heraus­ forderungen für die soziale Ordnung dar.

II Indische Baumwollstoffe waren Katalysator-Güter. Die einzigartigen Eigen­ schaften dieses Gewebes ließen es zu einem der ersten globalen Konsumgüter vor und nach 1500 werden. Baumwolle war ein besonders wandlungsfähiges Material, das sich den Bedürfnissen und Geschmäckern unterschiedlicher sozialer Gruppen anpasste, welche wiederum seine Qualitäten zu schätzen wussten. Die wandelbare Erscheinung der Baumwolle wies eine simple Klas­ sifizierung als entweder luxuriös oder mondän zurück und was das Arrange­ ment dieser Textilfaser in immer neue Formen betraf, waren die indischen Handwerker konkurrenzlos. Vor allem aber hatten die indischen Handwerker 10  |  Indische Baumwollimporte in Japan machten nur ein Bruchteil der Mengen aus, die nach Europa verschifft wurden, obwohl sie das größte Segment des VOC-Handels nach Japan darstellten. Kayoko Fujita zum Beispiel führt für 1672 (zur Zeit des Höhepunkts) den Import von 66.060 Ballen indischer Baumwolle an; im selben Jahr importierte die East India Company über eine halbe Million Ballen Baumwolle aus Indien nach England. Fujita, Kayoko, Fujita: Japan Indianized: The Material Culture of Imported Textiles in Japan, 1550–1850 in: Giorgio Riello/Prasannan Parthasarathi (Hg.): The Spinning World: A Global History of Cotton Textiles, 1200–1850, Oxford 2009, S. 181–204, hier S. 186; Chaudhuri, Kirti Narayan: The Trading World of Asian and the English East India Company, 1660–1760, Cambridge 1978, S. 540, 542 u. 544. 11 | Zit. in Richardson, Catherine: Introduction, in: Catherine Richardson (Hg.): Clothing Culture, 1350–1650, Aldershot, UK 2004, S. 19.

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waschechte Färbungen entwickelt, die den Härten der frühneuzeitlichen Wä­ sche widerstanden, die lebhaften, satten Farben waren unübertroffen in ihrer Qualität. Holzblockdruck auf Stoff stellte einen weiteren außergewöhnlichen Beitrag Indiens zur weltweiten materiellen Kultur dar, da dieser preisgünstige, dekorative und aussagekräftige Entfaltungen auf Stoffen ermöglichte. Indische Handwerker ersonnen endlose visuelle Reize für den täglichen oder speziel­ len Gebrauch, mit gewebten, gedruckten und gemalten Mustern, um die Ge­ schmäcker und Vorlieben der globalen Märkte zu befriedigen.12 In unterschiedlichsten Gemeinschaften der Welt hielten indische Baum­ wollstoffe soziale Praktiken aufrecht und stimulierten modische Initiativen. Natürlich wurde nicht der gesamte Baumwollbedarf von aktueller Mode unter­ halten. Der Subkontinent produzierte auch riesige Mengen an Stoff für Men­ schen, die traditionelle Stile bevorzugten, welche sich über Generationen hin­ weg nur wenig veränderten. Dennoch ist die Mode in den Dörfern und Städten des frühneuzeitlichen China, Japan und Europa gut dokumentiert – obwohl bisher noch keine komplette Chronologie aufgezeichnet wurde.13 Auf blühen­ de Städte und internationaler Handel standen der Mode üblicherweise Pate, deren Einflüsse sich am offensichtlichsten in der Bekleidung zeigten, einem Medium, das kollektive Performances ebenso wie Einzelspiele ermöglichte, beunruhigende Zeichen von Identität. Frühneuzeitliche Kritiker beschwerten sich endlos über die stilistischen Innovationen, die sie unter der Gemeinbevöl­ kerung beobachten konnten.14 Regierungen erließen immer wieder entspre­ chende Gesetze, versuchten, aufrührerische Moden zu unterdrücken, ob nun unter urbanen Auszubildenden oder städtischen Matronen. Arjun Appadurai hält fest: „Sumptuary laws constitute an intermediate consumption-regulation device, suited to societies devoted to stable status displays in exploding commodity contexts, such as India, China, and Europe in the premodern period.“15

Beginnen wir in Japan – welche Rolle spielten Baumwollstoffe im dortigen Kräftemessen? Im 15. und 16. Jahrhundert wurden Baumwollstoffe und -garne in Japan in kleinen Mengen importiert und ursprünglich an den Adel und die Elite des Klerus verkauft. Der Anbau von Baumwolle folgte im 16.  Jahrhun­ 12 | Lemire, Beverly: Cotton, Oxford/New York 2011, S. 26–30. 13 | Pomeranz, K.: Great Divergence, S. 127–133. 14 | Zum Beispiel äußerten Samurai solche Beschwerden. Hanley, S. B.: Everyday Things in Premodern Japan, S. 2. 15 | Appadurai, Arjun: Introduction: Commodities and the Politics of Value, in: Ders. (Hg.): The Social Life of Things: Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, S. 25.

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dert, nachdem Samen erworben werden konnten. Der Süden Japans verfügte über Bedingungen, in denen Baumwollpflanzen gedeihen konnten, und im 17.  Jahrhundert wurde die Faser zu einem Hauptertragsprodukt. Baumwolle hatte jedoch doppelten Einfluss: indischen und lokalen. Wie Kayoko Fujita dar­ legt, behielt Indien einen grundlegenden Einfluss auf die stilistische Entwick­ lung der japanischen Baumwollkultur. Textur, Gewicht und Komfort der Stoffe bestanden den Vergleich mit heimischen Hanf- und Bastprodukten sehr gut, außerdem konnte Baumwolle wesentlich einfacher weiterverarbeitet und ge­ färbt werden.16 Im Laufe der Zeit stieg die Nachfrage nach Baumwolle immer schneller an, sowohl in großen Städten wie Edo, Osaka und Kyoto, als auch in provinzielleren Regionen: Die wandelbare Ästhetik und praktischen Eigen­ schaften von Baumwollkleidung zogen wachsende Zahlen von Verbrauchern an. Kayoko Fujita beschreibt ein „Japan Indianized“, in dem importierte in­ dische Stoffe den Geschmack formten, während einheimische Manufakturen gleichwertige Stoffe herstellten.17 Japanische Käufer bevorzugten eine Vielfalt subtiler geometrischer Muster – Karos und Streifen – ebenso wie gelegentliche Blumenmotive; und ihre Wünsche wurden erfüllt. Wichtig war, dass Baum­ wolle es den Käufern erlaubte, das Labyrinth der sich vermehrenden Luxus­ verordnungen dieser Ära zu umschiffen, da keine der Verfügungen, mit denen Seide belegt war, auf Baumwolle zutraf. Seide durften nur Adelige, Samurai und der Klerus tragen. Für die Nichteliten wurde das Tragen von Baumwol­ le begrüßt, in einigen Städten gestatteten Verordnungen sogar ausdrücklich Baumwollstoffe für die gemeine Bevölkerung, obwohl die Waren, die aus den Baumwollfasern hergestellt wurden, durchaus sehr feine Stoffe oder filigrane Muster einschlossen.18 Wie Fujita bemerkt, „cotton textiles brought revolutio­ nary changes in the material culture of non-elite Japanese [with] […] unprece­ dented changes in the design of their daily clothes.“19 Die scheinbar unendli­ che Auswahl an karierten und gestreiften Baumwollstoffen, zusätzlich zu den etwas dramatischer gemusterten Stoffen, verwandelte die visuelle – und die Bekleidungslandschaft Tokugawa-Japans.

16 | Tanimoto, Masayuki: Cotton and the Peasant Economy: A Foreign Fibre in Early Modern Japan, in: G. Riello/ P. Parthasarathi (Hg.): Spinning World, S. 67–385, hier S. 368f. 17 | Fujita, K.: Japan Indianized, S. 181–204. 18 | Hall, John Whitney: The Cambridge History of Japan, Bd. 4: Ders./James McClain: Early Modern Japan, Cambridge 1991, S. 510–513; Slade, Toby: Japanese Fashion: A Cultural History, Oxford 2009, S. 53; Tonimoto, M.: Cotton and the Peasant Economy, S. 369; Wada, Yoshiko/Rice, Mary Kellogg/Burton, Jane: Shibori: The Inventive Art of Japanese Shaped Resist Dyeing, Tokyo 1999, S. 275. 19 | Fujita, K.: Japan Indianized, S. 189f.

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Die größten Mengen an indischen Baumwollstoffen erreichten den Hafen von Nagasaki in den 1670er und 1680er Jahren, als sie zu einem „Hauptgegen­ stand des Textilimporthandels der VOC [Vereinigte Ostindische Kompanie der Niederlande, B.L.]“20 geworden waren. Die VOC war mittlerweile die Haupt­ lieferantin dieser Produkte, seit den 1630er Jahren hatte sie Märkte in Japan erschlossen, nachdem sie den Baumwollhandel von den Portugiesen über­ nommen hatte. Indische Baumwollstoffe blieben bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein ein wichtiger Bestandteil der Importe der VOC.21 Diese Güter waren der Inbegriff dessen, was Jan de Vries als „new luxury“ bezeichnet. De Vries definiert den „alten Luxus“ als Gegenstände wie Juwelen, Pelze und Edel­ metalle, die Hierarchien von „exquisite refinement“ markieren, die mit dem Adel und ähnlichen Eliten in Verbindung gebracht werden und als Zeichen ei­ nes unveränderlichen Status dienen. „New Luxury“ hingegen betonte „comfort and pleasure, [and] lent itself to multiplication and diffusion“.22 De Vries un­ terstreicht die Kapazität dieser Produkte „to communicate cultural meaning, permitting reciprocal relations – a kind of sociability – among participants in consumption“.23 Jan de Vries stützt seine Befunde auf frühneuzeitliche euro­ päische Gesellschaften. Doch dieses Konzept könnte auch auf „new luxuries“ in anderen frühneuzeitlichen Regionen angewandt werden, die ähnliche Ver­ änderungsprozesse erfuhren, so wie Japan. Die soziale Hierarchie Tokugawa-Japans war höchst formalisiert, der Kaiser und die Adeligen, Shogun und das Samurai-Militär hatten ererbte Positionen inne. Im Laufe des 17. Jahrhunderts blühte die Wirtschaft durch das Wachs­ tum der kommerzialisierten Landwirtschaft und die Protoindustrialisierung auf; im zunehmenden Wohlstand des merkantilen Sektors, in gutgehenden ländlichen Gewerben und pulsierenden urbanen Sektoren wurden die Resul­ tate offensichtlich.24 In der Tat vermutet Pomeranz, dass die Nachfrage nach Konsumgütern in Japan „[was] probably less geographically uneven than it was in Europe“.25 Die Politik trug unbeabsichtigterweise zur Integration nationaler Märkte und zur Verbreitung modischen Geschmacks bei, da regionale Adeli­ ge, oder daimyo, im Jahresrhythmus dem Shogun-Hof in Edo Bericht erstatten mussten; unter der Maßgabe einer „abwechselnden Aufwartung“ verbrachten ein daimyo und seine Entourage mehrere Monate am Hof, bevor sie nach Hau­ se zurückkehrten. Diese regelmäßigen Reisen lokal prominenter Männer mit 20 | Ebd., S. 189. 21 | Ebd., S. 184 u. 189. 22 | De Vries, Jan: The Industrious Revolution: Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, Cambridge 2008, S. 44. 23 | Ebd., S. 45. 24 | Hall, J.W.: Cambridge History of Japan, Bd. 4, S. 510–513. 25 | Pomeranz, K.: Great Divergence, S. 149.

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ihrem Gefolge entfesselten tiefgreifende soziale, ökonomische und kulturel­ le Kräfte, die Entwicklung von Edo selbst eingeschlossen, ebenso wie bessere Transportwege und lokale Handelszentren. Constantin Vaporis bemerkt: „Al­ ternate attendance also functioned […] as a mechanism for intercity mobility for the elite […] [and] helped break barriers, both physical and cultural.“26 Die Stra­ ßen beförderten Menschen, Neuigkeiten und Waren.27 Die schnell anwach­ sende Hauptstadt Edo besaß um das Jahr 1700 etwa eine Million Einwohner. Städte von dieser Größe waren weniger gut zu regulieren und stellten offizielle Luxusbeschränkungen auf die Probe. Eiko Ikegami beschreibt Tokugawa-Ja­ pan als eine Gesellschaft im Übergang, in der viele sich gegen gesetzliche Be­ schränkungen im materiellen Bereich auflehnten, wobei, wie Ikegami behaup­ tet „a series of developments in the Japanese economy and urban culture […] led to a remarkable and unexpected phenomenon: the rise of popular fashion“.28 Ikegami unterstreicht die immense Bedeutung ästhetischer Netzwerke in Ja­ pan, deren Verbindungen durch die Auswahl der Kleidung, sozialen Kontakten oder Freizeitaktivitäten, vom Theater- bis zum Teehausbesuch, zum Ausdruck gebracht wurden. Allianzen wurden geschmiedet unter gleichgesinnten Indi­ viduen und Gruppen, deren Beziehungen außerhalb der formal vorgesehenen Sozialstrukturen auf blühten und die sich häufig durch einen Kleidungsstil kennzeichneten. Derartige Netzwerke boten ihren Mitgliedern alternative Fo­ ren der Selbst-Auslebung, der Kommunikation und sogar einer diskreten Auf­ lehnung gegen den politischen status quo. Ihre Empfindsamkeit manifestierte sich in Japan in dem, was als iki bezeichnet wird. Der Geist des iki wurde unter der gemeinen städtischen Bevölkerung durch elegante, urbane Höflichkeit ver­ körpert, kombiniert mit Kultiviertheit und einem bisweilen aufmüpfigen Witz. Iki war eine urbane Ästhetik, die in Edo besonders augenfällig wurde.29 Ihre Anhänger entstammten nicht den herrschenden Eliten, sie kamen aus Han­ dels-, Gewerbe- und Künstlerklassen. Iki florierte auch in Edos lizenzierten Vergnügungszentren, der „schwebenden Welt“. In diesen Bezirken mischten sich Kurtisanen, Künstler und Schauspieler unter Menschen jeder Herkunft, experimentelle Moden wurden zugunsten eines empfänglichen Publikums lanciert, und die Einflüsse zerstreuten sich in andere soziale Bereiche. Diese 26 | Vaporis, Constantine: Tour of Duty: Samurai, Military Service in Edo and the Culture of Early Modern Japan, Honolulu 2008, S. 3 u. 5. 27 | Sugihara, Kaoru: The State and the Industrious Revolution in Tokugawa Japan, Working Paper No. 02/04, London School of Economics (2004); Pomeranz, Great Divergence, S. 149. 28 | Ikegami, Eiko: Bonds of Civility: Aesthetic Networks and the Political Origins of Japanese Culture, Cambridge 2005, S. 245. 29 | Siehe beispielsweise Nakano, Mitsutoshi: The Role of Traditional Aesthetics, in: C. Andrew Gerstle (Hg.): 18th Century Japan: Culture and Society, Richmond, UK 1989.

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Vergnügungsviertel, denen festgesetzte urbane Bereiche zugewiesen wurden, waren häufig die erste Zwischenstation der Neuankömmlinge in Edo, die als Teil der Entourage eines daimyo reisten. Lizenzierte Bordelle sowie Teehäuser, Theater, Geschäfte und Restaurants boten eine Vielfalt an Zerstreuungsmög­ lichkeiten.30 Ikegamis Analyse der ästhetischen Netzwerke beleuchtet die Ver­ änderungen, die sich vollzogen, in denen neue Konsummuster und ein neues Augenmerk für modische Kleidung entstanden. Derartige Interessensnetz­ werke streuten den Geist des iki weit,31 der sich auf den Straßen in modischen Aufzügen manifestierte und auf „subtile und subversive Weise“ in anderen, formalisierten Medien, etwa in Theaterstücken. Jay Keister beschreibt die „two sides of iki – refinement and resistance“,32 ausgedrückt in modischen Formen. Seide mochte den gemeinen Männern und Frauen zwar verboten sein; durch die geschickte Kombination von Stoff­ mustern und die Verknüpfung subtiler, kontrastierender Motive, welche die exotischen Konnotationen ferner asiatischer Länder transportierten, konnte Mode dennoch manifest werden. Der fremde Ursprung der Baumwolle verlieh ihr ein ausgeprägtes Prestige, das in den Namen, die man den Stoffen gab, deutlich wurde. Fujita macht darauf aufmerksam, dass die Namen der neu­ en Baumwollstoffe deren fremdländische Ursprünge unterstrichen – bengara [Bengalen] und matafû [Madras] sind nur zwei Beispiele. Außerdem beinhal­ teten all diese Baumwollnamen das Suffix shima. Shima selbst bedeutete ur­ sprünglich „Insel“, wandelte jedoch seine Bedeutung zu „eine ferne Insel“ und wurde direkt mit den vielbewunderten Streifenstoffen verknüpft. Die Namen standen symbolhaft für eine fremdländische Herkunft, selbst dann, als heimi­ sche Handwerker die Stoffe naturalisiert hatten.33 Kenneth Pomeranz unter­ suchte die Rolle der Mode für die wachsenden Konsumentenmärkte in Europa, China und Japan und vermerkte die Leidenschaft des zeitgenössischen Euro­ pas für fremdländische Manufakturen. Pomeranz’ hauptsächlicher Vergleichs­ fokus liegt auf China, er postuliert, das unterschiedliche Ausmaß modegetrie­ benen Konsums in Europa und Asien „seems attributable to a difference in 30  |  Elisonas, Jurgis: Notorious Places. A Brief Excursion into the Narrative Topography of Early Edo, in: James L. McClain/John M. Merriman/Kaoru Ugawa (Hg.): Edo and Paris: Urban Life and the State in the Early Modern Era, Ithaca, NY 1994, S. 253–291. 31 | Yasutaka, Teruoka: The Pleasure Quarters and Tokugawa Culture, in: C. A. Gerstle: 18th Century Japan, S. 3–32. 32 | Keister, Jay: Urban Style, Sexuality, Resistance, and Refinement in the Japanese Dance Sukeroku, in: Asian Theatre Journal 26 (2009), 2, S. 215–249, hier S. 216. 33 | Fujita, K.: Japan Indianized, S. 190f.; in Bezug auf die Domestizierung indischer Baumwollstoffe in Teilen Europas, siehe Lemire, Beverly: Domesticating the Exotic: Floral Culture and the East India Calico Trade with England, c. 1600–1800, in: Textile: The Journal of Cloth and Culture 1 (2003), 1, S. 65–85.

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the degree to which exotic goods, especially exotic manufactured goods, beca­ me prestigious“.34 Das Beispiel indischer Baumwollstoffe in Japan kann die­ se Hypothese nicht in vollem Umfang unterstützen, vor allem nicht in dieser scharfgezogenen Dichotomie.35 Baumwollstoffe faszinierten Japaner in unter­ schiedlichen sozialen Stellungen, förderten den fortgesetzten Überseehandel bis ins 18. Jahrhundert und bauten die lokale Manufaktur von Nachbildungen indischer Stoffe aus. Zur gleichen Zeit wurden diese Moden über andere kultu­ relle Medien weit verbreitet. Ulinka Rublack hat kürzlich die Kleidungskultur im frühneuzeitlichen Europa neu betrachtet und eine erhöhte Visualität für dieses Zeitalter identifiziert, wobei sie das immer stärkere Hervortreten eines „whole set of visual practices, [including] […] a greater status given to visual per­ ception“ vermerkt.36 Sie stellt fest, dass derartige kulturelle Ausdrucksformen die zentrale Position von Kleidung in sozialen und politischen Diskursen ver­ stärkten. Diese erhöhte Visualität kann beispielsweise auch in der Produktion publizierter Drucke im weiteren europäischen Raum nachgewiesen werden, die die Erscheinung von Menschen unterschiedlicher Länder und Ränge ins Rampenlicht rückte. Es ist faszinierend, sich den Reichtum an Printmedien in Japan in der gleichen Periode vor Augen zu führen, von denen sich viele auf Darstellungen des alltäglichen Stadtlebens konzentrierten und die Praktiken des iki illustrierten, „with detailed illustrations how to look, dress, and act for both men and women“.37 Die gesellschaftlichen Parallelen sind äußerst inte­ ressant. Aus populären Schauspielern und Kurtisanen sowie gewöhnlichen Stadtbewohnern wurden Gegenstände der Druckkultur. Die ausgestellten und verkauften Bilder verbreiteten den Geist des iki, während sie gleichzei­ tig zeigten, wie mit distinktiven Baumwollaccessoires oder dem geschickten Übereinandertragen von modischen Streifen-, Karo- oder farbigen Kimonos, deren kontrastierende Designs am Saum oder Ärmel sichtbar wurden, eine modische Erscheinung zu erlangen war. Gedruckte Bilder beschleunigten Mo­ den. Gleichzeitig umgingen Baumwollstoffe die Luxusverordnungen, die vom späten 17. Jahrhundert an zunahmen.38 Luxusverordnungen versuchten, jene sozialen Gruppen mit dem größ­ ten Unruhepotential zu kontrollieren – die gewerblichen Klassen, groß und 34 | Pomeranz, K.: Great Divergence, S. 157. Im Original wird „manufactured“ hervor­ gehoben. 35 | Eine Vorliebe für fremdländische Elemente in der chinesischen Herrenmode wird von Finnane, A.: Changing Clothes in China, diskutiert, vor allem in Kapitel 3. 36 | Rublack, Ulinka: Dressing Up. Cultural Identity in Renaissance Europe, Oxford 2010, S. 21. 37 | Keister, J.: Urban Style, S. 221. 38 | Shively, Donald H.: Sumptuary Regulation and Status in Early Tokugawa Japan, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 25 (1964/65), S. 123–164, hier S. 123–126.

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klein.39 Regulierungen konnten schmerzhafte Folgen haben, wie im Jahr 1728 deutlich wurde, als der Anblick einer wunderschön gekleideten Frau und ihrer Dienerschaft den Shogun Tsunayoshi auf seiner Reise durch Edo bezauberte. Er erkundigte sich nach dieser Frau, fand heraus, dass sie die Ehefrau eines Kaufmanns war, und keine Adelige, wie er vermutet hatte. Der Shogun war zutiefst gekränkt und beide Ehepartner wurden der „Prahlerei jenseits ihres Standes“ beschuldigt; ihr Eigentum wurde beschlagnahmt, und sie wurden der Stadt verwiesen.40 Um in diesem politischen Umfeld erfolgreich sein zu können, wurde Tokugawa-Händlern und Ladenbesitzern geraten, sich in der Öffentlichkeit stets dienstbeflissen, fügsam und umsichtig zu zeigen.41 De­ saströse Strafen wie die, die der Kaufmann und seine Frau zu erleiden hat­ ten, konnten etwa durch das Tragen von diskreteren Baumwollstoffen anstelle von Seide vermieden werden. Diskretion, ebenso wie Neuartigkeit erklärten die Anziehungskraft der gemusterten Baumwollstoffe für viele Zeitgenossen. So konnten, als der iki-inspirierte Kimono an Beliebtheit gewann, sorgfältig ausgewählte und innovativ kombinierte Baumwollstoffe immer noch die Mit­ gliedschaft in einem „ästhetischen Netzwerk“ anzeigen und doch offiziellem Tadel entgehen. Stickereien und „gefleckte Knüpf batik-Färbung“ waren für die Kleider gemeiner Frauen verboten (ob Baumwolle oder nicht), und „außer­ gewöhnliches Weben und Färben“ war für die Kleidung der Gemeinleute un­ter­sagt.42 Doch mochte eine subtil-subversive Provokation übersehen wer­ den, wenn sie gegen den geschickten Kontrapunkt von Streifen, Karos oder die diskreten Akzente von Baumwollstoffen mit Blumendruck gesetzt war.43 Leuchtende Drucke waren der Gemeinbevölkerung ebenfalls verboten, wur­ den jedoch nichtsdestotrotz bei Brieftaschen, Handtaschen und ähnlichem verwendet.44 Die lokale Baumwollproduktion profitierte von der komplexen Nachfrage. Wie Ikegami schreibt: „[this] allowed ordinary Japanese to enjoy wearing attractively colored kimono for the first time in the country’s history.“45 Luxusverordnungen konnten den materiellen Wandel nicht aufhalten. Doch die Innovation nahm eher einen indirekten Weg und sollte schließlich die lokale Produktionskapazität ausbauen, als der Geschmack an einer großen Auswahl von Baumwollstoffen sich verbreitete. Von diesem Punkt an wurden Baumwollstoffe zum Symbol der sozialen Veränderungsprozesse in Japan. Die 39 | Hunt, A.: Governance of Consuming Passions, S. 23. 40 | Shively, D. H.: Sumptuary Regulation, S. 128. 41  |  Ramseyer, J. Mark: Thrift and Diligence. House Codes of Tokugawa Merchant Families, in: Monumenta Nipponica 34 (1979), S. 209–230, hier S. 212f. 42 | Shively, D. H.: Sumptuary Regulation, S. 126. 43 | Fujita, K.: Japan Indianized. 44 | Fujita, K.: Japan Indianized, S. 194f. 45 | Ikegami, E.: Bonds of Civility, S. 253.

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Modepolitik Tokugawa-Japans beinhaltete einen raffinierten Widerstand, der sich zum Teil in der weitverbreiteten Nutzung fremdländisch inspirierter Stof­ fe widerspiegelte. Nach dem frühen 18. Jahrhundert gingen die Importe indi­ scher Baumwollstoffe zurück, die Nachfrage nach diesen Waren wurde jedoch durch einheimische Nachbildungen gedeckt. Es ist wichtig, festzuhalten, dass die Assoziation dieser Textilien mit dem Ausland von den Autoritäten toleriert und von den Konsumenten begrüßt wurde und sie zudem das heimische Ma­ nufakturwesen ankurbelte. Durch das Tragen von Baumwollstoffen wurden so im Tokugawa-Japan materielle Ziele verwirklicht.

III Zwischen den japanischen und den europäischen Erfahrungen existieren eini­ ge faszinierende Parallelen. Die weniger opulenten Charakteristika der Baum­ wollstoffe konnten offensichtlich auch in Japan nicht alle Kritiker besänftigen, wo die Akzeptabilität von gefärbten und bestickten Kleidungsstücken durch offizielle Beschränkungen festgesetzt war. Auch in Europa rief die „Fremdlän­ dischkeit“ dieser Ware sowohl positive als auch negative Resonanzen hervor. Pomeranz’ Postulat, Europa (im Gegensatz zu Asien) habe alle ausländischen Manufakturwaren mit Begeisterung angenommen, bedarf einer sorgfältige­ ren Analyse, die auch die Geschichte einzelner Waren und der diese betreffen­ den, zeitgenössischen Politik einschließt. Beide Regionen handelten die Dyna­ miken des Einfallsreichtums der Konsumenten aus. Tatsächlich gestaltete sich die offizielle Reaktion auf Baumwollstoffe in England viele Jahrzehnte lang wesentlich problematischer als in Japan, dank einer anderen Geschichte und Chronologie. Indische Stoffe strömten nach 1500 nach Nordwesteuropa, ursprünglich in so kleinen Mengen, dass sie kaum auf Gegnerschaft stießen. Im Laufe des 17. Jahr­hunderts wurden diese Stoffe zunehmend gebräuchlicher, als erst zehn­ tausende und dann hunderttausende Ballen schlichten, gestreiften und karier­ ten Baumwolltuchs in europäischen Häfen eintrafen, zusammen mit tausen­ den bestickten, bemalten und bedruckten Baumwoll-Fertigwaren. Genau wie in Japan stellten die 1680er Jahre den Höhepunkt europäischer Importe dar, doch handelte es sich um bedeutend höhere Importzahlen als in Japan; im Jahr 1684 traf eine Stückzahl von 1,5 Millionen Ballen aus Indien über die East India Company ein, während die VOC ebenfalls ihre Importe für europäische Märk­ te ausweitete. Obwohl sie es versuchten, gelang es einheimischen Handwer­ kern nicht so leicht wie den japanischen Manufakteuren, Nachbildungen her­ zustellen. Im Laufe des 17. Jahrhunderts integrierten mehr und mehr Männer und Frauen indische Waren erst in ihr häusliches Dekor und dann in ihre Klei­

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derschränke.46 Ebenso bedeutsam war, dass europäische Stickerinnen auf die Designs indischer Baumwollquilts, Kissen, Schranktüchern und Vorhängen reagierten. Im späteren 17. und 18. Jahrhundert zeigt ihre Handarbeit deutlich die Auswirkungen der Interaktion mit indischen Importen; Waren, die von un­ zähligen Frauen, die geschickt mit ihren Nadeln umgehen konnten, betrach­ tet, befühlt und diskutiert wurden.47 Peter Burke beschreibt „cultural translati­ on“ als einen „double process of decontextualization and recontextualization“.48 Abbildung 1: Freudenfeuer wurden traditionell genutzt, um gemeinschaftliches Feiern und sozialen Protest zu signalisieren. Dieses Flugblatt bildet die Euphorie der Wollindustrie und ihrer Unterstützer ab, die Luxusdisziplinierungen jenseits des Gesetzes verfochten, wobei sie vor allem Frauen als die sichtbarsten Konsumentinnen bedruckter indischer Baumwolltextilien als Ziel auswählten.

Quelle: E. Lipson: The History of the Woollen and Worsted Industries, London 1921; Neuaufl.: London 1965, Frontispiz. 46 | Lemire, B.: Cotton, S. 26–30 u. 48f.; Prakash, Om: The Dutch and the Indian Ocean Textile Trade, in: G. Riello/P. Parthasarathi (Hg.): Spinning World, S. 145–160, hier S.150–153. 47 | Hughes, Therle: English Domestic Needlework, 1660–1860, London 1961. 48 | Burke, Peter: Cultures of Translation in Early Modern Europe, in: Ders./R. Po-Chia Hsia (Hg.): Cultural Translation in Early Modern Europe, Cambridge 2007, S. 7–38 , hier S. 10.

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Frauen unterschiedlichster sozialer Klassen übersetzten indische Stoffe in neue Stickereiformen – Vorhänge, Kissen, Wandbehänge und Tagesdecken –, sie interpretierten die Gegenstände so, dass sie zu den Prioritäten ihrer Vor­ stellungskraft passten.49 Durch kollektive, diskursive und produktive Projekte, die Wochen und Monate konzentrierter Arbeit in Anspruch nahmen, wurden diese Frauen zu kulturellen Mittlerinnen. Sie entwickelten spezifische Bezie­ hungen zu den Medien, die sie interpretierten, und diese Beziehung formte den Kontext der anschließenden politischen Anti-Kaliko-Kampagnen, die da­ rauf abzielten, alle indischen Textilien vom Kontinent zu verbannen. Die Ziel­ gruppen dieser Kampagne waren weibliche Konsumenten. Die Macht der Mode in regionalpolitischen Ökonomien rief bisweilen schmerz­liche Machtkämpfe hervor, wenn Gesellschaften sich mit den Inter­ aktionen globalen Handels und lokaler Konsumpraxis auseinandersetzten. Ein zen­tra­les Prinzip europäischer Regierungen, so beschreibt Sheilagh Ogilvie, bestand darin, der Bevölkerung des frühneuzeitlichen Europa Sozialdisziplin aufzuzwingen, mit dem Ziel, „people’s private lives“ zu regulieren.50 Konsum beschäftigte Autoritäten in der ganzen frühneuzeitlichen Welt, und Howell schreibt über die europäischen Regierungen: „Control of a population thus me­ ant control of the population’s dress.“51 Ungewöhnlicherweise wurde in England 1604 alle formelle Luxusgesetzge­ bung aufgehoben, und es gab keine gesetzlichen Mechanismen, um derartige Restriktionen durchzusetzen, wenngleich einige sich diese herbeiwünschten. Englands legislative Abweichung bedeutete keinen laissez-faire-Markt oder of­ fizielles Desinteresse an der moralischen Kontrolle der englischen Gemeinbe­ völkerung – im Gegenteil. Populäre Innovationen in Bekleidung und Lebens­ stil der plebiszitären Klassen wurden von vielen angeprangert. Der folgende Kommentator aus dem Jahr 1667 war nur einer von vielen, die das Parlament drängten, die Überflussordnungen wieder einzuführen, da „according to the wisdom of our Ancestors, and the custom of the most civilized Nations, some sumptuary Laws may be made, whereby the great Excess, especially in the inferior sort of English, may be restrained, and most Degrees and Orders may be discerned by their Habit or Port“. 52

49 | Hughes, T.: English Domestic Needlework, S. 34. 50 | Ogilvie, Sheilagh: ‚So that Every Subject Knows How to Behave‘: Social Disciplining in Early Modern Bohemia, in: Comparative Studies in Society and History 48 (2006), 1, S. 38–78. 51 | Howell, M.: Commerce, S. 243. 52 | Chamberlayne, Edward: Englands wants, or, Several Proposals beneficial for England humbly […], London 1667, S. 29.

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Eine Regulierung der Bekleidung der gemeinen Bevölkerung wurde von vielen Seiten unterstützt. Wenn Krisen auftraten, versuchen etablierte „Macht-haber“ daher, die sozial Unterlegenen mit Mitteln zu disziplinieren, die mit ihren ei­ genen Prioritäten übereinstimmten. Importierte Güter trugen politisches Gepäck mit sich. In den 1680er Jahren wurden indische Baumwollstoffe von Kritikern aus ganz Europa aufgrund ih­ res zerstörerischen Einflusses auf das Manufakturwesen und die Konsumpra­ xis attackiert. Dennoch experimentierten frühneuzeitliche Männer und Frau­ en großzügig mit ihren Kleidern, sowohl in der Verwendung neuer Stoffe als auch in der Aneignung von Kleidungsstücken aus anderen Kulturen. In der ganzen atlantischen Welt übernahmen Männer aus den Eliten und der Mittel­ schicht beispielsweise den Kimono-inspirierten Hausrock (oder banyan) für den informellen Gebrauch in den Schreibzimmern, Bibliotheken oder ande­ ren Privaträumen ihrer Wohnhäuser. In Japan erhielten europäische Händler und Offiziere zu zeremoniellen Anlässen regelmäßig Kimonos als Geschenke von japanischen Funktionären.53 Diese Gewänder wurden hoch geschätzt und übernahmen, sobald sie in Europa ankamen, neue symbolische Bedeutungen. Da es nur wenige authentische japanische Kimonos in Europa gab, wurden entsprechende Kleidungsstücke in Form von Seiden- und Baumwollroben in Indien für den europäischen Markt in Auftrag gegeben. Der Verkauf dieser Gewänder verbreitete sich weit, und die Männer, die sich diesen fremdinspi­ rierten Aufzug zu Eigen machten, erlitten keinerlei politische Nachteile, ob ihr jeweiliges Kleidungsstück nun aus bedruckter Baumwolle gefertigt war oder nicht. Für Frauen wurde das Tragen indischer Stoffe in den 1680er Jah­ ren jedoch zu einer umstrittenen Angelegenheit. Weibliche Bekleidung war stets ein Thema öffentlicher Debatten und wurde am häufigsten von Autoritä­ ten verurteilt.54 Frauen aus der gemeinen Bevölkerung gerieten nun zwischen zwei gegnerische Kräfte. Ihre modischen Entscheidungen brachten sie in die Gefahr außerordentlicher Disziplinarmaßnahmen, die als Schachzug einer machtvollen Allianz die gewohnte Bekleidungshierarchie in England wieder­ herstellen sollte.

53  |  Kerr, Robert: A General History and Collection of Voyages and Travels, Arranged in Systematic Order: Forming a Complete History of the Origin and Progress of Navigation, Discovery, and Commerce, by Sea and Land, from the Earliest Ages to the Present Time, Bd. VIII, Edinburgh/London 1824, Section XV: Eighth Voyage of the English East India Company, in 1611, by Captain John Saris, S. 376 u. 393; Lemire, B.: Cotton, S. 44–47. 54  |  Sheilagh Ogilvie hat herausgearbeitet, dass 91 % derjenigen, die in der deutschen Stadt Wildberg (1713–1714) der Luxusübertretungen angeklagt wurden, Frauen waren; Muster, die mit anderen Regionen des Frühneuzeitlichen Europa übereinstimmen. Ogilvie, S.: Consumption, S. 308.

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Die East India Company war eine der größten Übersee-Handelskompanien Englands und verbrachte den größten Teil der indischen Stoffe nach Europa. Zu ihren Gegnern zählte eine imposante Koalition von Wollhändlern, Webern und Grundbesitzern, die der Rivalität mit den indischen Baumwollstoffen die Schuld an ihrem unsicheren wirtschaftlichen Status gaben. Auch in anderen europäischen Regionen versuchten Interessengruppen mit dem Ziel, zur Vor­ herrschaft von Wolle, Leinen und Seide zurückzukehren, alle indischen Textili­ en vom Markt zu verbannen. Diese Dispute lösten nicht nur politische Intrigen auf hoher Ebene aus, sondern auch Straßenprügeleien mit bloßen Fäusten.55 Ich habe kurz die besondere Verbindung von Frauen zu Stickereidesigns, die von indischen Stoffen inspiriert waren, angedeutet. Das spezifische Her­ vortreten von Frauen auf den zeitgenössischen Märkten ist ein weiterer kriti­ scher Bestandteil dieser Geschichte. Um das Jahr 1700 gab es in England einen höheren Prozentsatz unverheirateter Frauen als in vorherigen Generationen. Sie arbeiteten als Dienstbotinnen und in den neuen Konsumentengewerben, wo sie billige Fertigkleidung nähten, Tuch webten, Knöpfe, Anstecker und Bänder herstellten. Sie versorgten die ansteigende Zahl städtischer Geschäfte mit Personal und bedienten in Kaffeehäusern und an Marktständen.56 Die Ver­ dienste der steigenden Zahl von alleinstehenden und verheirateten Frauen, die zu dem beitrugen, was Jan de Vries „the industrious revolution“ nennt, eröffne­ te eine neue Welt der Möglichkeiten. Die Frauen arbeiteten, um sich ein neues self-fashioning zu ermöglichen, kauften „new luxuries“ und wurden dabei von jungen Mädchen und Kindern in große Teilen Nordwesteuropas unterstützt. Jan de Vries betont außerdem, dass „[t]he industrious revolution has as its soci­ al pendant female earning power“.57 Der Erwerb eines Kleides aus bedrucktem indischem Baumwollstoff, eines Halstuchs oder Unterrocks signalisierte die Identifikation mit modischer Ästhetik und demonstrierte eine kreative Unab­ hängigkeit. Dass Frauen Geschmack an gemusterten Baumwollkleidern ge­ funden hatten, war im späten 17. Jahrhundert sehr augenfällig geworden, man sah sie an der „Common-Garden Bitch [and the] Town-bred Miss“, wie ein Kri­

55 | Lemire, B.: Cotton, Kap. 3. 56 | Lemire, Beverly: Dress, Culture and Commerce: the English Clothing Trade before the Factory, Basingstoke, UK 1997. 57 | De Vries, J.: Industrious Revolution, S. 179. Für Diskussionen um die Involvierung von Frauen und Mädchen in Schlüssel-Konsumentenwirtschaften, siehe: Berg, Maxine: The Age of Manufactures, 1700–1820 , 2. Aufl., London 1994, Kap. 7; Lemire, B.: Dress, Culture and Commerce, Kap. 1 u. 2; Wiesner, Merry E.: Women and Gender in Early Modern Europe, 2. Aufl., Cambridge 2000, Kap. 3; Heuvel, Danielle van den: Women and Entrepreneurship: Female Traders in the Northern Netherlands, c. 1580–1815, Diss., Utrecht 2007.

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tiker schrieb.58 Die Frage, mit der die Gegner indischer Importe konfrontiert wurden, war die, wie man die materiellen Gelüste der Frauen in Grenzen hal­ ten könne. Der Kampf gegen die indische Baumwolle wurde von französischen Interessengruppen in den 1680er Jahren eröffnet, die in einer Offensive, die in ganz Europa widerhallte, die Stoffe des Landes verbannten. Doch die französi­ schen Konsumenten weigerten sich, dem Gesetz Folge zu leisten. Als Reaktion auf diese Moderevolution ersonn ein Pariser Händler im Jahr 1695 drastischere Taktiken und schlug vor, jedem Mann 500 livres zu zahlen, der bereit wäre „auf offener Straße […] jeder Frau die Kleider vom Leib zu reißen, die indische Stoffe trägt“. Als weitergehende Maßnahme schlug er vor, Prostituierte für ein öf­ fentliches Spektakel zu engagieren, in dessen Verlauf man ihnen ihre KalikoKleider abreißen sollte, ein Szenario, das Spott und Strafe in sich vermischte. Diese Ereignisse sollten allen weiblichen Konsumenten eine Lektion sein.59 Dieser Plan war nicht die einzige Manifestation merkantiler Misogynie. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurden in England Frauen als unnatürliche, unpat­ riotische, verderbliche Gemeinschaft attackiert. Ein Vers von 1703 verdeutlicht dies, in dem Frauen, die Kalikostoffe kauften und verwendeten, als „Jilts“, „Sa­ tyrs“ und „Patched, painted power’d Drury Whores“ bezeichnet wurden. Der Autor schlug vor, „[to] tear your Gawdy Cloaths, and pay your Backs“.60 Dieser Knittelvers, einer von vielen, setzte weibliche Kaufentscheidungen mit sexuel­ lem Fehlverhalten gleich, das die Peitsche verdiente, die Strafe für gewöhnli­ che Prostituierte. Dieses Anti-Kaliko-Projekt gründete nicht auf gesetzlichen Überflussstandards. Stattdessen wollte die Kampagne eine soziale und mate­ rielle Hierarchie verteidigen: eine sich auf das Land stützende, kommerzielle, politische und handwerkliche Koalition, die auf dem Wollgewerbe basierte. Ihre diskursiven und physischen Ziele waren durchschnittliche Frauen und die Ladenbesitzer, die diese ausstatteten. Im Jahr 1719 erreichten die Spannungen ihren Höhepunkt, als das englische Parlament ein zweites Gesetz zum Verbot indischer Stoffe in Erwägung zog. Eines Abends im Juni nahm die politische Situation eine gewaltsame Wendung, als tausende wütende Weber und ihre Unterstützer ihre Wut gegen bedruckte Baumwollstoffe und deren Trägerin­ nen wandten. Eine Meute von ungefähr 4000 Männern zog durch die ­Straßen Londons und riss „the English and Foreign Callicoes from off the Backs of all the Women they met“,61 dies war der Beginn einer gewaltsamen außerpar­ 58 | R. L. Pride’s Exchange Broke Up or Indian Calicoes and Silks Expos’d, London 1703. 59 | Braudel, Fernand: Civilization and Capitalism 15th–18th Century, Bd. 2, New York 1982, S. 178. 60 | R. L. Pride’s Exchange Broke Up or Indian Calicoes and Silks Expos’d, London 1703. 61 | Weekly Journal or British Gazetteer, 20. Juni 1719.

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lamentarischen Kampagne gegen weibliche Konsumenten von bisher einem Ausmaß und einer Dauer, die man bisher noch nicht erlebt hatte. Woche für Woche wurden Frauen, die in Kaliko (oder Stoffen, die aussahen wie Kaliko) gekleidet waren, die Kleider vom Leib gerissen, schikaniert und verprügelt. Am ersten Abend wurden Truppen eingesetzt und ein gewisses Maß an Ord­ nung wieder hergestellt. Doch die Angriffe setzten sich über Monate und Jahre hinweg fort. Jede Frau, die in bedrucktem Stoff gesehen wurde, war in Gefahr, genauso wie jeder, der die Stoffe verkaufte – und an dieser Stelle zeigt sich die agency der Textilien deutlich. Die Stoffe waren bedruckt, ein unverkennbares Merkmal. Sie bedrohten sowohl europäische als auch britische Gewerbe und zweifelten die bestehenden Sozialstrukturen an. Kaliko wurde verurteilt als ein ausländisches Material, das nun von vornehmen Damen und arbeitenden Frauen gleichermaßen getragen wurde. Selbstverständlich trugen nicht alle Frauen der gemeinen Bevölkerung beständig nur bedruckte Baumwollstoffe. Doch hatten zum Zorn der Kritiker „the mean People, the Maid Servants, and indifferently poor People“ neue Entscheidungen getroffen, „let any one but cast their Eyes among the meaner Sort [of girls] playing in the Street, or of the better Sort in Boarding School“.62 Alle Frauen in bedruckter Kleidung mussten nun mit Angriffen rechnen, so wie die Wirtin einer Taverne in Whitechapel, im öst­ lichen London. Als sie von einem Anti-Kaliko-Aktivisten in einem bedruckten Kleid gesehen wurde, zog dieser „his Knife to cut it to pieces, but being preven­ ted and turned out of Doors, he whetted his Knife upon his Shoe, and swore he would either cut the Callicoes, or stab her to the Heart“. Als Ehemänner und Freunde kämpften, um angegriffene Frauen zu verteidigen, folgte „Fighting and Mischief“, wie eine Zeitung es beschrieb.63 In einem Fall tötete ein Metz­ ger, der seine Frau vor Horden von Angreifern in Schutz nahm, einen Mann mit seinem Beil.64 In Norwich, dem Zentrum der geschädigten Wollindustrie, marschierten Weber durch die Straßen und verprügelten jede Frau in einem bedruckten Kleid, die sie zu Gesicht bekamen, einige Frauen wurden bis in ihre Häuser verfolgt.65 E.P. Thompson behauptete: „[i]t is possible to detect in almost every eigh­ teenth-century crowd action some legitimising notion […] grounded upon a consistent traditional view of social norms and obligations, of the proper

62 | The just Complaints of the poor Weavers truly represented, with as much Answer as it deserves, to a Pamphlet lately written against them, Entitled, The Weavers Pretences, etc., London 1719, S. 23f. 63 | Weekly Packet, 8.–15. Aug. 1719. 64 | Weekly Journal or Saturday’s Post, 13. Juni 1719. 65 | Ebd., 11. Juli 1719.

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economic functions of several parties.“66 Thompson attribuierte den Lebens­ mittelaufständen, die er erforschte, eine rationale und maßvolle Natur. Die Politik zwischen Wolle und Baumwolle, Tradition und Mode ist ebenso symp­ tomatisch für die Entwicklung der Märkte in einem Zeitalter expandierenden globalen Handels. Diese Kollision war jedoch alles andere als maßvoll. Der Hass, der der Baumwolle entgegenschlug, und die Attacken gegenüber Mode­ akteuren reflektieren die beispiellosen und schmerzhaften Veränderungen, die sich vollzogen, als der Geschmack der gemeinen Bevölkerung sich entwi­ ckelte und als Autorität mit den Resultaten von Konsumhandeln unter Frau­ en der Nichtelite konfrontiert wurde. Bürgerinnen konnten noch keine völlig unabhängigen und als legitim akzeptierten Kaufentscheidungen treffen. Ihre Entscheidungen wurden nach wie vor regelmäßig an vorgeschriebenen Ge­ schlechternormen gemessen, die nur wenig mit den Ideen individueller kom­ merzieller Rechte im Handelswesen zu tun hatten. Die Anti-Kaliko-Proteste markierten die Ansprüche der traditionellen Sektoren, das Recht, zu diszipli­ nieren, eingeschlossen. Als nächstes wurden Frauen, die den Gehorsam ver­ weigerten, mit Säure beworfen.67 Aqua fortis, Salpetersäure, wurde über Frauen gegossen, die man in Kaliko gekleidet „in Houses or Coaches“ sah. Das Ziel waren vor allem Frauen, die normalerweise vor Überfällen geschützt waren, sicher versteckt in Sänften, Kutschen und ihren Häusern. Die Anzahl und Brutalität der Angriffe schockierte einige Zeitgenossen, und es kam zu diver­ sen Anklagen. Doch weder die Geschworenen noch die Magistraten wollten in allen Fällen verurteilen. Die Verachtung gegenüber Kaliko tragenden Frauen war auf vielen Seiten so stark, dass Prügel und Säureattacken wie passende Strafen erschienen. Frank Trentmann schreibt: „Things […] recruit us into po­ litics as much as we recruit them.“68 Geschlechterspezifische Mode und ge­ schlechtsbasierte Attacken kartierten diese politischen Geographien. Warum trugen Frauen weiterhin derart gefährliche Kleidungsstücke? Wir haben kei­ ne unmittelbaren Aufzeichnungen der Gedanken einer Frau zu dieser Frage. Doch das Sticken indisch inspirierter Muster durch Frauen spricht von einer distinktiven, geschlechtsspezifischen Beschäftigung mit diesen Stoffen. Diese Beziehung mag einige angetrieben haben, den Zensurversuchen zu widerste­ hen. Oder war diese Loyalität gegenüber der Mode Ausdruck einer tiefempfun­ denen Hingabe zur Selbst-Entfaltung, aller Gegnerschaft zum Trotz? Unter 66 | Thompson, E. P.: The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in: Ders.: Customs in Common: Studies in Traditional Popular Culture, New York 1993, S. 185–258, hier S. 188. 67 | Weekly Journal or British Gazetteer (London), 13. Juni 1719; Post Boy (London), 8.–10. Sept. 1719. 68 | Trentmann, Frank: Materiality in the Future of History: Things, Practices, and Politics, in: Journal of British Studies 48 (2009), S. 283–307, hier S. 300.

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den hunderten von Pamphleten, die im Zuge dieses Disputs gedruckt wurden, wird flüchtig auf das Ideal der „Freiheit“ der Frauen in ihrer Kleiderwahl Be­ zug genommen, inklusive „Wearing what we please, and Thinking or Believing what we please.“69 Die Gewalt in den britischen Städten setzte sich den Winter und Frühling des Jahres 1720 über fort, selbst als das neue Anti-Kaliko-Gesetz im Parlament verhandelt wurde.70 Der Hafen von Bristol im Westen des Landes erfuhr min­ destens einen Aufruhr, der zum Tode eines Webers führte. Der Beschuldigte wurde jedoch am Ende nicht wegen Mordes verurteilt, sondern als „Guilty of Manslaughter only; because he did it in Defence of his Wife, [who] was As­ saulted by a Gang of Weavers who tore her Callicoe Cloths off, and used her very Unmercifully“.71 Das politische Ende dieser Ereignisse ist wohlbekannt: Die Wollfraktion erreichte ihr politisches Ziel. Im März 1721 wurde ein Ge­ setz ähnlich denen in vielen anderen Teilen Europas verabschiedet, demzufol­ ge die meisten indischen Stoffe ab Weihnachten 1722 vom englischen Boden verbannt wurden.72 Die Weber feierten dies mit einem großen Freudenfeuer.73 Ein Flugblatt von diesem Tag stellt die Festivitäten dar. Das Bild setzt der Woll­ industrie ein Denkmal und nutzt alle mit diesem Personenkreis assoziierten Symbole, um die machtvolle rhetorische Beziehung dieser Allianz zu vermit­ teln. Auf dem Höhepunkt dieser Feier wurde eine Figur „[of] an old Woman drest in Calicoe“ in die Flammen geworfen.74 Durch das Verbrennen der Figur 69 | Defoe, Daniel: The Just Complaints of the Poor Weavers Truly Represented, with as Much Answer as it Deserves, London 1719, zit. nach: Lemire, Beverly: The British Cotton Trade, 1660–1815, Bd. 2: International Trade and the Politics of Consumption, 1690–1730, London 2010, S. 102. 70  |  Weekly Journal or Saturday’s Post, 12. Sept. 1719, 7., 14. u. 21. Mai 1720; Original Weekly Journal, 2. Jan. 1720; Daily Post, 5. Mai 1720. 71 | Weekly Packet, 16. Juli 1720; Applebee’s Original Weekly Journal, 13. Aug. 1720. 72  |  Angriffe auf Läden, die Kaliko verkauften, ereigneten sich mehrfach in Antwerpen, und fast überall in Europa wurden indische Baumwollstoffe gesetzlich verboten. Van Damme, Ilja: Middlemen and the Creation of a ‚Fashion Revolution‘: The Experience of Antwerp in the Late Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Beverly Lemire (Hg.): The Force of Fashion in Politics and Society: Global Perspectives from Early Modern to Contemporary Times, Aldershot 2010, S. 29; Lemire, Beverly/Riello, Giorgio: East and West: Textiles and Fashion in Early Modern Europe, in: Journal of Social History 41 (2008), 4, S. 887–916, hier S. 898. 73 | Der politisch-religiöse Kalender war mit Feuerzeremonien durchsetzt, die uralte Wurzeln im vorchristlichen Britannien besaßen. Cressy, David: Bonfires and Bells: National Memory and the Protestant Calendar in Elizabethan and Stuart England, London 1989. 74 | Weekly Journal or Saturday’s Post, 1. Apr. 1721.

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schien die vertraute gesellschaftliche Balance wieder hergestellt. Eine Frau, die einige Wochen später in einem Kalikokleid durch Haymarket lief, wurde von jungen Männern, die sich ihres Rechts zu bestrafen sicher waren, auf gleiche Weise in Brand gesteckt.75 Indisches Kaliko (schlicht wie bedruckt) wurde vom englischen Markt ver­ bannt. Doch die politischen Spannungen, die diesen Modeartikel umgaben, bestanden weiter. Frauen aller gesellschaftlicher Ränge, die bedruckte Klei­ dung in irgendeiner Form trugen, wurden weiterhin belästigt, vor Gericht ge­ zerrt oder geschlagen. Zeitungen aus dem Jahr 1722 berichten von den Aktivitäten von Gruppen und Einzeltätern, die Sulphur oder Salpetersäure „and other corrosive Liquids“ einsetzten, sobald sie „Flower’d Linnen“ zu Gesicht bekamen76. Die Schikanen setzten sich durch die 1720er Jahre hinweg fort und kamen Mitte der 1730er Jahre in einigen Teilen Britanniens und Irlands wieder auf.77 Erst später in den 1730er Jahren klangen sie ab, als das Parlament spezifische, in Britannien hergestellte bedruckte Leinenstoffe für den britischen Markt bewilligte. Die schrittweise Domestizierung einer einst ausschließlich „ausländischen“ Ware veränderte schließlich die politische Logik. Dieser Prozess wurde gestützt durch das beharrliche self-fashioning von Frauen mithilfe bedruckter Baum­ wollstoffe, das diese auch inmitten wütender Konflikte aufrechterhielten.

IV Katalysatorwaren schockieren und faszinieren. Schon an ihren Fasern entzün­ den sich Debatten, verändern sich Beziehungen und richtet sich die Praxis einer Gemeinschaft neu aus. Sowohl in Japan als auch in Nordwesteuropa hinterfragten indische Baumwollstoffe normative Strukturen. Japanische Kon­ sumenten begrüßten die fremdländischen Baumwollimporte. Sie inkorporier­ ten die Stoffe in die strenge Luxuskontrollkultur Tokugawa-Japans, Bauern und Manufakteure profitierten von der neuen Baumwollbegeisterung. Diese Materialien drängten an die Grenzen der gesetzlichen Absichten hinter dem Luxusregime. Die Assoziation mit dem „Fremdländischen“ setzte sich in der Benennung fort, die diesen Stoffen zuteil wurde, auch dann, als mehr und mehr Stoffe in Japan hergestellt wurden. Diese Fallstudie zur Modepolitik bie­ tet eine wichtige Illustration der anpassungsfähigen und schaffenskräftigen Modegeschichte in Asien. Denn trotz Pomeranz’ Hypothese bezeugten asiati­

75 | Ebd., 21. Juli 1721. 76 | Post Boy, 27. Dez. 1722. 77 | General Evening Post, 31. Mai 1735.

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sche Regionen ein reges Interesse an „exotic manufactured goods“.78 Japanische Überflussgesetze taten diesen Veränderungsprozessen keinen Abbruch und mögen die Baumwoll- bzw. Modeentwicklung sogar unbeabsichtigterweise un­ terstützt haben. Für den europäischen Kontext postuliert Sheilagh Ogilvie eine scharfe Differenzierung zwischen der relativen Offenheit westeuropäischer Gesellschaften (England im Besonderen) und den hochrestriktiven Überfluss­ kulturen Zentraleuropas. Sie behauptet, „women faced a huge array of instituti­ onal constraints on their work and consumption choices“79 in einigen Regionen Deutschlands. Ihre Belege derartiger regionaler Beschränkungen sind über­ zeugend. Doch angesichts der hier vorliegenden Fallstudie müssen Thesen zur englischen „Offenheit“ vorsichtig abgewogen werden. Zwar gab es in England keine offiziellen Luxusverordnungen, und kein Gerichtshof konnte Individu­ en aufgrund ihrer Konsumpraktiken anklagen.80Ein derartiges System konnte jedoch auch andere Auswirkungen zur Folge haben. Verminderten Luxusver­ ordnungen die sozialen Spannungen, die der Gebrauch von „new luxuries“ mit sich brachte? Waren Überflussverordnungen ein unbeabsichtigtes Mittel, um soziale Reibungen angesichts neuer Waren, neuer Modedynamiken und neuer Konsumpraktiken abzumildern? Dies lag nicht in der Absicht der Gesetzgeber. Gleichzeitig wurden materielle Innovationen in Regionen mit geltenden Über­ flussverordnungen nicht durch wiederholte Verordnungen erstickt. War es die Abwesenheit formeller Überflussgesetze, die in England die notwendigen Gegebenheiten für weitverbreitete, gewaltsame Kampagnen zur Verteidigung eines materiellen status quo schuf? Sozialdisziplin wurde jenseits legaler Kanäle praktiziert. Anstelle eines Umschiffens fest etablierter ­Luxusgesetze, wie es in fast allen frühneuzeitlichen Gesellschaften üblich war, versuchte hier eine ad hoc gebildete Schar von Gegnern, de facto Überfluss­ standards mit den Mitteln durchzusetzen, die ihnen zu Gebote standen. Somit erfolgte soziale Disziplinierung nicht durch Gerichte, sondern über koordi­ nierte Gruppen, die über Jahre hinweg brutale Attacken anzettelten. In Abwe­ senheit offizieller Disziplinierungsinstanzen implementierte die traditionelle Allianz englischer Wollinteressenten ihre eigenen außergesetzlichen, antiausländischen Anti-Kaliko-Verordnungen. Das Schlachtfeld waren weibliche Körper. Gilles Lipovetsky schreibt mit Blick auf das 19. Jahrhundert, dass „[f]ashion […] [became] the permanent theatre of ephemeral metamorphoses because the individualization of appearance […] won a new status of social legitimacy“.81 78 | Pomeranz, K.: Great Divergence, S. 157. 79 | Ogilvie, S.: Consumption, S. 289. 80 | Ebd., S. 287–325. 81 | Lipovetsky, Gilles: Empire of Fashion: Dressing Modern Democracy, Princeton, NJ 1994, S.47.

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Dieses Argument ist gut gesetzt. Dennoch vollzog sich die Umstellung auf dieses Regime in einem multigenerationellen Prozess, der Attacken gegen Einzelpersonen, materiellen Verlust sowie soziale Risse und Konvulsionen einschloss. Eine auf Mode beruhende Wirtschaft akzeptiert das Stoßen und Ziehen rivalisierender Waren; sie kann die Brüche absorbieren, die neue Wa­ ren mit sich bringen, und sie toleriert die wetteifernden Stilausdrücke der Be­ völkerung. Das Zerbrechen stabiler materieller Hierarchien und die schritt­ weise Akzeptanz individueller, geschlechtsspezifischer Rechte in Bezug auf Bekleidung nahmen unterschiedliche Wege in den verschiedenen sich entwi­ ckelnden Gesellschaften. Eine individuelle Freiheit der Bekleidung setzte sich jedoch in keiner Gesellschaft leicht durch. Übertretungen realer und symbo­ lischer Regulationssysteme wurden unter Strafe gestellt, bisweilen mit stren­ gen, an das Geschlecht gebundenen Sanktionen. In manchen Fällen ging der Umstellungsprozess mit brutalen Ausbrüchen gegen distinktive Modeakteu­ re einher; wohingegen andere Abläufe sich durch niedrigschwellige Konflik­ te und eine schrittweise, subtile Verweigerung verordneter Materialität aus­ zeichneten. Dieser zweite Weg wird durch das Blühen iki-inspirierter Moden im Tokugawa-Japan beleuchtet. Die systematische Gewalt gegenüber Kaliko tragenden Frauen in Britannien zeigt, wie skrupellos traditionelle Materiali­ en und Richtlinien verteidigt werden konnten, vor allem, wenn die Innova­ tionen weibliche agency versinnbildlichten. Die unterschiedlichen modischen Bedeutungen, die indischen Baumwollstoffen zugeschrieben wurden, sind ein wichtiges Kennzeichen der kulturdynamischen Prozesse, die in der frühneu­ zeitlichen Welt am Werk waren. Indische Baumwollstoffe sollten schließlich eine modische Kollektivität verkörpern, wachsenden Individualismus und eine neue Materialität. Die Männer und Frauen, die sich in diese rauen Gewässer wagten, definierten die sich herausarbeitenden Merkmale einer durch Mode angetriebenen Konsumentenwirtschaft. Übersetzung aus dem Englischen: Annika Raapke

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„Zu Notdurfft der Schreiberey.“ Die Einrichtung der frühneuzeitlichen Kanzlei Meg Williams

Auf halber Strecke durch Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Schel­ menroman von 1668, Der abentheurliche Simplicissimus Teutsch, wird der Prota­ gonist zu einem Sekretär geschickt, um dort Arithmetik zu erlernen. Während seines Besuchs in der Kanzlei beginnt der leicht ablenkbare Simplicissimus, den Sekretär mit seinem schmutzigen Tintenfass aufzuziehen: „Ich tadelt ihm einsmals sein schmierig Tintenfaß, er aber antwortet’, solches sei sein bestes Stück in der ganzen Kanzlei, denn aus demselben lange er heraus was er begehre, die schönsten Dukaten, Kleider, und in Summa was er vermöchte, hätte er nach und nach herausgefischt: Ich wollte nicht glauben, daß aus einem so kleinen verächtlichen Ding so herrliche Sachen zu bekommen wären; hingegen sagt’ er, solches vermög der Spiritus Papyri (also nennet er die Tinten) und das Tintenfaß würde darum ein Faß genennet, weil es große Sachen fasse.“1

Das Loblied des jungen Sekretärs auf sein Tintenfass unterstreicht nicht nur seine gesellschaftlichen Ambitionen, sondern auch sein Verständnis davon, dass das Tintenfass weitaus mehr ist als das „klein verächtlich Ding“, welches Simplicissimus erblickt – tatsächlich ist es von materieller Bedeutung für das gesamte schriftliche Geschäft seiner Kanzlei. Das abgenutzte Tintenfass ins Zentrum der Geschichte zu rücken, wie es in diesem Artikel geschehen soll, bedeutet, sich mit der frühneuzeitlichen Kanzlei nicht als einem Idealtypus oder einem institutionellen Mittel zur Staatsbildung auseinanderzusetzen, sondern in einer Weise, die die Technologie des Schreibens und die Materiali­ tät von Verwaltung unterstreicht.2 1 | Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der abentheurliche SIMPLICISSIMUS Teutsch, Nüremberg 1668, Kap. 27. 2 | Argumente für „putting the ‚bureau‘ back into bureaucracy“: Kafka, Ben: Paperwork: the State of the Discipline, in: Book History 12 (2009), S. 340–353. Wie Bruno

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Um die physischen und materiellen Settings von administrativen Schreibund Kanzleipraktiken am Habsburger Hof während der Regierung Ferdinands I. (1521/22–1564) zu rekonstruieren, stützt sich dieser Artikel auf die Richtlinien der österreichischen Habsburger Hof kanzlei und Hof kammerkanzlei, auf Sup­ plikationen von Kanzleipersonal sowie auf Rechnungsbücher, die zur Ausstat­ tung und zum Erhalt der Hofkammerkanzlei geführt wurden. Während der letzten Jahrzehnte haben Historiker der Bereiche Wissenschaftsgeschichte und Materielle Kultur ertragreich die physischen Kontexte und Möblierun­ gen von anderen Räumen frühneuzeitlicher Wissensproduktion untersucht, etwa von Bibliotheken, Studierzimmern von Wissenschaftlern, Kuriositäten­ kabinetten, Laboratorien oder Werkstätten, Anatomietheatern, urbanen Sied­ lungen oder in jüngster Zeit auch Archiven.3 Aus diesen Forschungsarbei­ ten ist ein subtileres Verständnis der facettenreichen Beziehungen zwischen Räumen, Objekten, Menschen und Praktiken hervorgegangen. Insbesondere Latours Ethnographie moderner französischer Verwaltung von 2002 oder Matthew Hulls Studie zur Materialität der pakistanischen Administration von 2012 gezeigt haben, können administrative Organe sogar als „object institutions“ betrachtet werden, die zum Teil durch Begegnungen geformt werden, die von Objekten ausgelöst werden, u. a. den Dokumente und Akten, die sie hervorbringen: Latour, Bruno: La Fabrique du droit: Une ethnographie du Conseil d’État, Paris 2002; Hull, Matthew: Government of Paper: the Materiality of Bureaucracy in Urban Pakistan, Berkeley, Cal. 2012. Für interessante Diskussionen frühneuzeitlicher materieller Kultur: Auslander, Leora: Beyond Words, in: American Historical Review 110 (2005), 4, S. 1015–1045; Robertson, Kellie: Medieval Things: Materiality, Historicism and the Premodern Object, in: Literature Compass 5 (2008), 6 S. 1060–1080; Yates, Julian: What are ‚Things‘ Saying in Renaissance Studies?, in: Literature Compass 3 (2006), 5, S. 992–1010. 3 | Ein immenses Ausmaß an Literatur existiert mit Blick auf lokale Räume und materielle Kontexte von Wissensproduktion, inklusive einiger Kritiken zu deren Vergegenständlichung. Siehe etwa Hanaway, Owen: Laboratory Design and the Aim of Science: Andreas Libavius versus Tycho Brahe, in: Isis 77 (1986), 4, S. 584–610; Ophir, Adi: A Place of Knowledge Re-created: The Library of Michel de Montaigne, in: Science in Context 4 (1991), 1, S. 163–189; Sherman, William: John Dee: The Politics of Reading and Writing in the English Renaissance, Amherst, Mass. 1995, S. 29–52; Harkness, Deborah: The Jewel House: Elizabethan London and the Scientific Revolution, New Haven, Conn. 2007; Thornton, Dora: The Scholar in His Study: Ownership and Experience in Renaissance Italy, New Haven, Conn. 1997; Christianson, John Robert: On Tycho’s Island, Cambridge 1999; Findlen, Paula: Possessing Nature: Museums, Collecting, and Scientific Culture in Early Modern Italy, Berkeley, Cal. 1994; Impey, Oliver/MacGregor, Arthur (Hg.): The Origins of Museums: The Cabinet of Curiosities in Sixteenth- and Seventeenth-Century Europe, Oxford 1985; Friedrich, Markus: Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013.

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haben diese Studien die Bedeutung von Lokalität und Materialität für die in­ stitutionelle Hervorbringung von Wissen sowie für die Sicherstellung von des­ sen Glaubwürdigkeit verdeutlicht. Der Ausstattung und den Räumlichkeiten frühneuzeitlicher Fürstenkanzleien ist weniger Aufmerksamkeit gewidmet worden, obwohl Kanzleien zentrale Schauplätze der frühneuzeitlichen Gewin­ nung, Praxis und Ausformung textueller Autorität waren. Die wohldokumentierten Verwaltungsorgane der österreichischen Habs­ burger-Dynastie in der Frühen Neuzeit bieten ein einschlägiges Beispiel. In­ stitutionshistoriker haben uns reichhaltige Darstellungen hinterlassen, die von unschätzbarem Wert sind, um die Organisation oder die Personalführung der frühneuzeitlichen Österreichisch-Habsburgischen Kanzleien zu entwir­ ren. Ein Großteil dieser Arbeit tendiert jedoch, wie Paula Fichtner beobachtet hat, eher in Richtung einer strukturellen Beschreibung als einer funktionel­ len Analyse und ignoriert häufig die bemerkenswerten Überlappungen zwi­ schen der Habsburgischen Regierung und dem Habsburgischen Haushalt; die Habsburger des 16. Jahrhundert operierten auf Basis ganz anderer Werte als Weberianische Vertreter administrativer Effizienz.4 Innerhalb eines Jahr­ zehnts, nachdem er an die Macht gekommen war, beschäftigte Ferdinand I. (1503–1564) nicht nur eine, sondern einen ganzen Komplex von Kanzleien und Sekretariatsorganen: Die zu seinem Hof gehörende Hofkanzlei, die aus einer deutschen und einer kleineren lateinischen Sektion oder „Expedition“ bestand; die Hofkammerkanzlei, die sich mit Finanzbelangen befasste; kleinere Kanz­ leien und Hofkammerkanzleien für die unterschiedlichen Länder und Terri­ torien unter seiner Regentschaft; eine Hofkriegsratskanzlei für Militärange­ legenheiten; Sekretariate für spanische und niederländische Korrespondenz; sowie türkische Dolmetscher. Hermann Wiesfleckers produktives Grazer Forschungskolleg in den 1970er Jahren widmete eine Reihe von Dissertationen den Kanzleien und dem Kanz­ leipersonal der Gesamtstaatsstrebung von Ferdinands Großvater Maximilian  I († 1519); Gerhard Rill schloss hier mit seiner auf sorgfältige Archivarbeit ba­ sierenden Forschung an, welche die Periode von 1521/22 bis 1526 abdeckte – das Jahr, in dem Ferdinand gezwungen war, seinen alleinigen Hofkämmerer durch ein Hofkammerkollegium zu ersetzen, und in dem er dynastische An­ sprüche auf die Kronen Ungarns und Böhmens erhob. Die letzten Jahre der Herrschaft Ferdinands, nachdem er die Nachfolge seines Bruders Karl V. als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches angetreten hatte, sind ebenfalls gut er­ forscht: 1933 veröffentlichte Lothar Groß eine detaillierte Studie des Personals 4  |  Fichtner, Paula S.: Habsburg State-Building in the Early Modern Era: The Incomplete Sixteenth Century, in: Austrian History Yearbook 25 (1994), S. 139–157, hier S. 144 Anm. 25; besonders dies.: Habsburg Household or Habsburg Government? A SixteenthCentury Administrative Dilemma, in: Austrian History Yearbook 26 (1995), S. 45–60.

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und der Organisation der kaiserlichen Hofkanzlei nach 1559 als Beitrag zur österreichischen Reichsdiskussion der Zwischenkriegszeit. In der Zeit zwischen 1526 und 1559 haben Ferdinands Kanzleien jedoch weitaus weniger Aufmerk­ samkeit erfahren5 – obwohl die jüngere Forschung sich generell einig ist, dass Ferdinands Aufarbeitung der administrativen Pläne seines Großvaters ein klar herausgearbeitetes Ensemble von Verwaltungs-und Schriftorganen etablierte, welche den Grundstein einer zentralisierten Habsburger Regierung legten und von zeitgenössischen deutschen Fürsten auf breiter Front imitiert wurden. Ein Großteil der bestehenden Forschungsliteratur zu Ferdinands Kanzlei­ en stützt sich auf seine Kanzleiordnungen von 1526, 1528 und 1559, in denen anlässlich wichtiger Momente seiner Regierungszeit Organisation, Personal, Befugnisse und Praxis seiner Hofkanzlei festgeschrieben wurden. Die Ordon­ nanz von 1526 reflektierte die grundlegende Konsolidierung seiner Regierung nach den prekären Jahren als Regent seines Bruders; seine Anordnung von 1528 behandelte die administrativen Veränderungen, die seine neuen könig­ lichen Würden sowie seine dramatisch ausgeweiteten territorialen Ansprü­ che mit sich brachten; und die Ordonnanz von 1559 vereinte die kaiserliche Kanzlei, ihr Personal und ihre Praxis, mit der bestehenden Hofkanzlei. Die­ se erneuerten Kanzleien mussten beständig kämpfen, um nicht nur die ver­ waltungstechnischen und finanziellen Herausforderungen zu bewältigen, die ihnen zufielen, sondern auch das sich auf blähende territoriale Ausmaß ihres Verantwortungsbereiches und das immerwährende Geldproblem. Dank ihres normativen Charakters stellen frühneuzeitliche Ordnungen daher ein wertvolles, aber heikles historisches Quellengenre zum Verständnis der früh­ 5 | Thomas Fellner und Heinrich Kretschmayr beschrieben Ferdinands königliche Kanzlei eher als ein „Schreiborgan“ als ein tatsächliches Verwaltungskorpus, in: Die öster­ reichische Zentralverwaltung [im Weiteren: ÖZV], Abt. 1: Von Maximilian I. bis zur Vereinigung der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei (1749), Bd. 1, Wien 1907, S. 142f. Im Gegensatz dazu unterstrich Eduard Rosenthal die Modellhaftigkeit von Ferdinands Verwaltungsorganen für viele deutsche Fürstentümer: Die Behördenorganisation Kaiser Ferdinands I. Das Vorbild der Verwaltungsorganisationen in den deutschen Territorien, in: Archiv für östererichische Geschichte 69 (1887), S. 51–316. Auf Seeliger, Gerhard: Erzkanzler und Reichskanzleien. Ein Beitrag zur Geschichte des Deutschen Reiches, Innsbruck 1889 baut Gross, Lothar: Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559 bis 1806, Wien 1933 auf. Gross negierte jede Kontinuität im Personal oder in der Praxis zwischen Ferdinands königlicher Kanzlei und der Reichshofkanzlei. Jüngere Studien haben jedoch derartige Kontinuitäten nachgewiesen: Beispielsweise Rill, Gerhard: Fürst und Hof in Österreich, Bd. 1: Von den habsburgischen Teilungsverträgen bis zum Schlacht von Mohács 1521/22–1526, Wien 1993, oder ders., Fürst und Hof in Österreich, Bd. 2: Gabriel von Salamanca, Zentralverwaltung und Finanzen, Wien 2002.

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neuzeitlichen Kanzlei dar.6 Dieser Vorbehalt greift besonders deutlich im Fall von Kanzleiausstattungen: Wie der Historiker der Materiellen Kultur schnell anmerken wird, sprechen die Ordnungen selten von Dingen. Wenn sie jedoch in Verbindung mit anderen Quellen gelesen werden, fassen Kanzleiordnungen auf sehr hilfreiche Weise einen kontextuellen Bereich von Bestrebungen und Begrenzungen, Idealen und Erwartungen ein, in den Objekte und ihre Benut­ zer eingebettet waren. Die Struktur und Größe der Kanzlei, wie sie in den Ordonnanzen und den auf sie bezogenen Hofstaatsverzeichnissen dargestellt wurden, hatte natürlich einen Einfluss auf die materielle Ausstattung der Kanzlei und auf die prak­ tischen und räumlichen Erfahrungen ihrer Mitglieder. Während Ferdinands Regierung bestand die Hofkanzlei lange Zeit aus einem Kanzler, der auch Präsident des Geheimen Rates war, und später einem Vizekanzler, zwischen drei und sechs Sekretären und zwischen sieben und vierzehn Schreibern in der Deutschen Expedition, einem (später zwei) Sekretär(en) und drei bis vier Schreibern in der Lateinischen Expedition, einem Registrator-Taxator; zwei As­ sistenten in Militärbelangen (später Teil einer separaten Hof kriegsratskanzlei), einem Türdiener, später einem Kanzleidiener oder Dienstboten (noch später einem Dienstboten für jede Expedition) und einem Heizer. Die Personalstärke schwankte stark, da nicht alle, die als Teil des königlichen Gefolges aufgelistet waren, auch zuverlässig in der Kanzlei anzutreffen waren, und nicht alle An­ gehörigen der Kanzlei auch im Hofstaat aufgeführt wurden.7 Die spanischen und burgundischen Sekretäre waren eher lose mit der Hofkanzlei verbunden, ebenso wie die ungarischen, böhmischen und schlesischen Kanzleien und de­ ren Personal.

6 | Die vollständigste und häufig zitierte Sammlung von Habsburger administrativen Ordnungen ist ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, Wien 1907. Über Ordnungen als Quellen siehe ­A nita Hipfinger u. a. (Hg.): Ordnung durch Tinte und Feder? Genese und Wirkung von Instruk­ tionen im zeitlichen Längsschnitt vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Wien 2012, S. 13–23. Für eine ältere Perspektive Andreas Walther: Kanzleiordnungen Maximilians  I., Karls V. und Ferdinands I., in: Archiv für Urkundenforschung 2 (1909), S. 335–406. 7 | Siehe die Hofstaatsverzeichnisse in ÖZV, Abt.1, Bd. 2 und die Serie von Hofzahlamtsbüchern [im Weiteren: HZAB], Beginn 1544: Österr. Staatsarchiv, Finanz- und Hofkammerarchiv [im Weiteren: FHKA]. Beschwerden darüber, noch nicht in den Hofstaat eingeschrieben zu sein: Oswald Mosegker u. Jobst Rotenburg: New Cantzleyschreiber supplication [ad 13 Mar. 1530], Niederösterreichische Kammer [im Weiteren: NÖK], Akten, 4 f. 193; Hofkriegsratssekretär Hanns Mosner [ad 23 May 1530], NÖK, Akten, 4 f. 360.

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Im Gegensatz zur Hofkanzlei besaß die Hofkammerkanzlei trotz der nach­ drücklichen Bitten ihres Personals bis 1537 keine dezidierte Ordnung.8 Die Hofkammerkanzlei bestand aus einem bis fünf Sekretären, einem Kopisten, einem Buchhalter oder Registrator-Taxator, zwei bis zehn Ingrossisten und einem Kanzleidiener, gelegentlich unterstützt durch einen Heizer und zwei Burschen. Heirats- oder Familienbande knüpften Netzwerke zwischen der Hof­ kammerkanzlei und anderen Kanzleien, und genau wie im Fall der Hofkanzlei können auch ihr Personal und seine Kompetenzbereiche nicht allein durch Ordonnanzen oder die Hofstaatsverzeichnisse nachvollzogen werden. Eine Figur, deren Kompetenzbereich entscheidend für die materielle Ge­ schichte der frühneuzeitlichen Habsburgerkanzlei ist, die jedoch in Instituti­ ons- oder Geistesgeschichtsschreibungen oft vernachlässigt oder unterschätzt wird, ist die des bescheidenen Kanzleidieners. Neben seinen zahlreichen Pflichten spielte der Kanzleidiener eine Schlüsselrolle in der physischen Ein­ richtung, Wartung, Sicherung und materiellen Ausstattung der Kanzleiräum­ lichkeiten sowie bei der Bewachung, Verpackung und beim Transport von Kanzleiarchiven.9 Er war es, der die Tintenfässer kaufte, bereitstellte, auffüllte und reinigte. Die spezifische Ordonnanz der Hofkanzleidiener von 1559/70,10 wenngleich in den meistzitierten Sammlungen der Kanzleiordnungen über­ gangen, bietet folglich eine Ordnungsquelle von unschätzbarem Wert, um sich den materiellen Konventionen und normativen Alltagspraktiken der Kanzlei anzunähern.

8 | Zur Hofkammer, siehe Peter Rauscher: Personalunion und Autonomie. Die Ausbildung der zentralen Verwaltung unter Ferdinand I., in: Martina Fuchs u. a. (Hg.): Kaiser Ferdinand I. Ein mitteleuropäischer Herrscher, Münster 2005, S. 13–39; dies., Habsburgische Finanzbehörden und ihr schriftlicher Ordnungsbedarf im 16. und 17. Jahrhundert, in A. Hipfinger u. a. (Hg.): Ordnung durch Tinte und Feder?, S. 161–178. 9 | Dies konnte anstrengende Arbeit sein, wie der Hofkammerkanzleidiener sich 1528 beschwerte: obwohl er „mit frischen gesundem leib kumbn bin“, hatten ihm fast acht Jahre „schwarer statwerend[er] arbait“ „merklichn und beswarlichen nachtail meines leibs und gesunds“ verursacht. Sein Pendant in der Hofkanzlei wurde 1538 seiner Pflichten entbunden „dieweil der Suplicant […] in solhen dienst entkrankht“: FHKA, Hoffinanz, NÖK, Akten, 3 f. 18–19; ebd. 4 f. 18. Jedoch hatten beide ihren Dienst in relativ fortgeschrittenem Alter angetreten. 10  |  ÖZV, Abt. 1, Bd. 2 druckt die spezifischen Instruktionen für den Kanzleidiener nicht ab, dafür siehe Uffenbach, Johann Christoph von: Tractatus singularis et methodicus de excelsissimo Consilio caesareo-imperiali Aulico / Vom Kaiserl. Reichs=Hoff=Rath[…], Frankfurt a. M. 1700, S. 76–78 (Uffenbach druckt die Instruktion vom 23.11.1570, die der Instruktion vom 15.4.1559 fast wortgetreu folgt, vgl. Gross, L.: Reichshofkanzlei, S. 115).

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Um erfolgreich funktionieren zu können, benötigte die frühneuzeitliche Kanzlei nicht nur Vorschriften und Männer, sondern auch einen adäquaten phy­sischen Raum, der mit dem für das Schreiben notwendigen Mobiliar und Equipment ausgestattet war, nämlich Papier, Federn, Tischen, Bänken, Laden und – natürlich – Tintenfässern. In der österreichischen Hof kanzlei war dieselbe Person, die für die Besteuerung und Registrierung ausgehender Briefe unter dem Siegel des Fürsten zuständig war, außerdem damit betraut, die Steuereinnahmen zu nutzen, um damit Kanzleibedarf anzuschaffen oder aber den Einkauf von Kanzleibedarf durch den Kanzleidiener zu überwachen und zu erstatten.11 Die Rechnungen der Einkäufe des Registrator-Taxators oder des Kanzleidieners „zu notdurfft der Schreiberey“ ergänzen daher konkret die normativen Ordnungen mit reichhaltigen Aufzeichnungen darüber, wie die mobile Ausstattung der Kanzlei angeschafft, im Wert geschätzt und verwendet wurde. Während in den österreichischen Staatsarchiven erst seit 1555 detail­ lierte fortlaufende Rechnungen für die (Reichs-)Hofkanzlei lagern,12 liefern zwei ältere Rechnungsbücher der Hofkammerkanzlei vergleichbare Daten für die Ausgaben dieser Kanzlei. Das erste, von August 1530 bis April 1532, wurde vom Taxator Hans Prandt geführt, das zweite, von Januar bis Juni 1542, vom Hofkammerkanzlei-Sekretär Matthias Zeller in Vertretung des abwesenden Registrator-Taxators Georg Albin Niederhaider, dem neueingesetzten Nachfol­ ger Prandts.13 11 | Ferd. I. 1528 Hofkanzleiordnung, in ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 245f. (Anm. 13 §24). Vgl. Ferd I. 1545 Taxordnung, in ebd., S. 97–100 (Anm. 11): „Sie sollen auch von dem einkomen berüerter tax unser hofcanzlei mit papier, pergamen, wachs, spagat, tinten, holz, kerzen, herberge gelt und anderer notturft unterhalden, sich auch bed befleissen, dieselbig notturft als pergamen papier wachs spagat und dergleichen an gueter waar und gattung zu gelegner zeit und zu sämbkeufen zu bestellen, auch daneben ir fleissig aufsehen zu haben, damit all unnotturftige verschwendung verhüet werde.“ Für die Hofkanzlei wie auch für die Hofkammerkanzlei bestand eine substantielle Kontinuität der Prozedur unter Ferdinand, da die gleichen Personen über relativ lange Zeitspannen die Position des Taxator-Registrators innehatten – in der Hofkanzlei Georg Bischoff mindestens von 1532 bis 1552 und in der Hofkammerkanzlei Hans Prandt von 1527/28 bis mindestens 1541. 12 | Ich bereite zur Zeit einen Artikel zum kürzlich wiederentdeckten Hofkanzleitaxregister von 1530/31 vor. Ich danke Herrn Dr. Michael Göbl vom Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv für seine großzügige Unterstützung beim Auffinden der Rechnungsbücher von 1530/31 und beim Gebrauch der Taxamtsbücher. 13 | Hanns Prandtn Raitung von Ro. Ku. Mait. Hofchamercantzley Tax [1530–32]: FHKA, Niederösterreichische Herrschaftsakten [im Weiteren: NÖHA] W61/a/36/a f. 179–236; Mathiesen Zellers ausgab und Particular Rechnung auf d. Rais von Prag gen Speir, Insprugg, Lintz, Prag, wid[erumb] Lintz, und Wien [1542]: ebd., f. 300–315. In

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Die papiernen Rechnungsbücher können selbst als materielle Zeugen be­ trachtet werden. Prandts pergamentgebundenes 55-seitige Heft ist im Quart­ format und beginnt mit einer feinsäuberlich geschriebenen Einleitung, welche die Professionalität, die seine Abrechnungen zu vermitteln suchen, verteidigt. Zellers eher nutzbetontes, vernähtes Papierheft bietet sowohl materielle als rhetorische Mahnungen daran, dass er lediglich den Registrator-Taxator Nie­ derhaider vertrat. Die nachfolgenden Einträge unter der Rubrik „Ausgaben“ sind in beiden Büchern kurz, in Prandts ausführlicheren Rechnungen sind sie jedoch nach drei breiten Ausgabenkategorien organisiert (Pergamen, Papier unnd Wachs; allerlay annder sachen; Kerzen), außerdem nach dem Ort des Er­ werbs und nach einer groben chronologischen Abfolge. Obwohl die Ausgaben­ summe üblicherweise angegeben ist, wird der Name des Verkäufers nur im Fall größerer Einkäufe genannt oder falls Originalbelege zugeordnet wurden. Wenn die Kanzlei sich einmal längere Zeit an einem festen Ort aufhielt, wurde sie bisweilen von einem einzigen Händler mit einem breiten Spektrum unspe­ zifizierten Kanzleibedarfs versorgt, der dann eine Pauschalzahlung erhielt.14 Obwohl die Abrechnungen notwendigerweise nur ein unvollständiges Bild ab­ geben, sind sie doch besonders wertvoll, da die Hofkammerordnung von 1537 nur relativ wenig Einblick in die Ausstattung, Alltagsroutinen oder materiellen Praktiken der Kanzlei bietet.

1.  D ie V erortung einer wandernden K anzlei Die Rechnungsbücher von 1530–32 und 1542 heben vor allem hervor, dass die physische Umgebung der Kanzlei alles andere als der stabile, festgesetz­ te Raum war, den Institutionshistoriker sich oft vorgestellt haben. Um in der Nähe des Königs zu bleiben, folgte die Kanzlei dessen wanderndem Hof und wurde im Allgemeinen in Übergangsquartieren nahe der Unterkunft des Kö­ nigs untergebracht. Die Angelegenheit wurde zudem dadurch verkompliziert, dass nicht immer klar war, wie lange der König sich an einem bestimmten Ort aufhalten würde, so dass die Räumlichkeiten der Kanzlei überall nur für

weiteren Verweisen auf Prandts Abrechnungen wird die interne Nummerierung seines Heftes zitiert. 14 | Zum Beispiel Jeorgen Mattschperger zu Augspurg umb allerlay noturfft so Er teg­ lichn auf dj Cannzlej dargegeben[…], 35 g. 50 kr. Prandt Rechnungen, 13 v. Während zusammengefasste Einträge unsere Fähigkeit, Ausgabemuster nachzuzeichnen, verkomplizieren, so zeigen sie doch Vorlieben in der Warenbeschaffung auf sowie die Beziehungen und Netzwerke, die solche Präferenzen generierten oder reflektierten. Ich bereite zur Zeit einen Artikel über die Papierbeschaffungspraktiken von Kanzleien vor.

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ein paar Tage oder aber für viele Monate gebraucht werden konnten.15 Prandt hielt fest, dass im Jahr 1528 Räumlichkeiten für eine permanente Kanzlei im Wiener Haus eines ehemaligen Kollegen gemietet worden seien, dass jedoch seit 1531 „dj Zymmer nit mer als ain mal praucht wordn, auch ungewiss ist wann Ku. Mt. dahin khommen werde“, er beendete den Vertrag und zahlte die Erben des Kollegen aus.16 Die Logistik einer wandernden und unvorhersehbar situierten Kanzlei ver­ komplizierten deren Betrieb auf materieller Ebene im Hinblick auf die Beschaf­ fung von Waren, aber auch auf praktischer Ebene, da Routinen und Aktivitäten immer wieder erschüttert wurden. In einem ungewöhnlich missgestimmten Exkurs innerhalb seiner Buchführung von 1531 beschwerte sich Prandt über die Störungen des Kanzleibetriebes durch die Mobilität des Hofes, „da dj Cannzley ditzmals zu Prag bis in den vj oder viij tag ungeuerlich an khain bestenndig ort furiert worden, sonnder zum drittn mal, ausziehen muessenn“.17 Prandts Ärger ist umso bedeutsamer angesichts der Tatsache, dass die Kanzlei im Jahr 1531 von einem Wirtshaus in Köln in ein Wirtshaus in Aachen gezogen war, dann zurück in das Kölner Wirtshaus (wo man drei Wochen lang blieb), dann in ein Wirtshaus in Speyer, in Andreas Prukhners Haus in Linz, dann in Stef­ fan Staynheusls Haus in České Budějovice (Budweis), wo man 16 Tage ver­ brachte, dann in das Wirtshaus von Brno, für acht Tage zurück in Staynheusls Haus, dann für vier Monate nach Prag, wo Prandt beim Kanon Caspar ein heruntergekommenes Haus „zwischen der thor zu Prag“ anforderte, dann für vier Wochen zurück in Staynheusls offenbar ansprechendes Haus, gefolgt von einer Nacht in Jindřichův Hradec (Neuhaus), einem kurzen Aufenthalt in Jih­ lava (Iglau), für 16 Tage zurück in Prukhners Haus in Linz, danach über kurze Aufenthalte in Neuhaus a. d. Donau und Geppingen nach Stuttgart, wo man drei Wochen im Hause Niclas Khienlys blieb, dann weiter nach Speyer (wo die Kanzlei übergangsweise in Jörgen Paurs Haus untergebracht war, bevor sie ins Haus des Bürgermeisters zog), zurück nach Stuttgart, dann schließlich kehrte die Kanzlei nach Innsbruck zurück.18 Die Kanzlei physisch zu verorten bedeutet auch, sie innerhalb der sozialen Geographien ihrer Bewohner anzusiedeln. Die Kanzlei war nicht nur ein Ar­ beitsplatz, sondern auch ein sozialer Raum. Als beispielsweise 1529 der Sekre­ 15  |  Zu Ferdinands Itinerar: Anton von Gévay: Itinerar Kaiser Ferdinands I., 1521–1564, Wien 1843. Zu dessen Unberechenbarkeit: Andreas Wagner an den Kanzler, Wien, 21. Dez. 1548. Österr. Staatsarchiv, Reichshofrat und Reichshofkanzlei, Verfassungsakten, Korrespondenz 1 f. 537r–v. 16 | Prandt Rechnungen, 34 r. 17 | Ebd., 36 v –37r. 18 | Prandt Rechnungen für 1531: 32r, 32 v, 33 r, 34v, 35v, 36 v, 37r, 39 r, 39 v, 40 r, 41r, 41v, 42r, 42 v.

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tär Johannes Rosenberger eines Abends in Prag schwer erkrankte, trugen ihn „etlich meiner gueten freund aus Ku. Maie-t. Canntzley“ den Schlossberg hin­ unter zum Arzt.19 Es waren jedoch nicht alle Beziehungen, die in der Kanzlei entstanden oder voranschritten, rosig. Die konkurrenzbetonte Natur der Bitt­ schriften unterbezahlter Schreiber und ganz besonders die Verfügung inner­ halb der Ordnung von 1559, dass Sekretäre und Kopisten sich untereinander freundlich und ohne „alle smehe, lesterung oder aufruer“ „in dem zimmer oder der stuben so zu unserer kais. reichscanzlei und zum schreiben verord­ net“ sich verhalten sollten, legt nahe, dass die Atmosphäre in der beengten und geschäftigen Kanzleikammer nicht immer sehr harmonisch war.20 Dass das Kanzleipersonal zudem gemeinsam am Tisch des (Vize-) Kanzlers aß und häu­ fig auch im gleichen Gebäude untergebracht war, machte die Situation nicht einfacher. Die unterschiedlichen Kanzleiordnungen wiesen den Quartiermeister aus­ nahmslos an, die Kanzlei und ihr Personal in einem Haus in direkter Nähe zum König unterzubringen,21 und die Ratsmitglieder, die den Kanzleibetrieb überwachten, bemühten sich offensichtlich darum, dass dieses auch so weit wie möglich befolgt wurde – sogar für Personal, das noch nicht als Mitglied des Hofstaats eingetragen war oder ein Anrecht darauf hatte, von den Quar­ tiermeistern untergebracht zu werden.22 Im Juni 1533 beispielsweise ersuchte der Hofkammertürhüter Dionysi Sandacker, dass man ihm „ain klaines stetle oder kamerle als wol als andern […] in der Canzlei“ zuweisen möge, was darauf hinweist, dass das meiste Kanzleipersonal tatsächlich im gleichen Gebäude

19 | Johannes Rosenbergers Petition, ad 20. Okt. 1530, NÖK, 4 f. 691–693. 20 | Ferd. I 1559: ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 293 (Anm. 18 § 3f.). 21 | Am explizitesten in Ferd. I 1528: „zue albegen durch unsern furier zimer und gemach an den gelegensten ortn, da wier in der zeit hof halten […] verordnet werden sollen.“, „[…] und zu der zeit, wan gedachter obrister canzler mit seiner herberg der canzlei, da sie gehalten, entlegen sein wirdet, dieselben secretari, wo si irer geschäft halben mögen, sich bei gedachtem canzler selbst anzaigen […]“, „Darumb auch ain jeder copist und ingrossist […] sich in iren herberg bei gedachten [seinem geordnem] secretarien enthalten, auch kainer on desselbigen seines secretari wissen uber halbe stund zu der gewändlichen zeit aus der canzlei sein; und ob von nöten sein, das ain secretari underweilen bei der nacht in unserm sachen und handlung arbeiten müest und derselben ingrossisten nottürftig wer und si erfordert, sollen si sich auch ohn widerred in seiner herberg brauchen lassen“ ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 239, 244 (Anm. 13 § 1f., 19). Vgl. Ferd. I 1559: ebd., S. 303 (Anm. 18 § 43); Max. II 1566 Reichshofkanzleiordnung: ebd., S. 315 (Anm. 20 § 6). 22 | „Und nachdem hern Grassweins maynung ist, das dj Canzlei personen gemainlichn bey der Cannzlei Jr ligerstat haben solln […]“: Prandt Rechnungen, 38 v –39 r.

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wie die Kanzlei untergebracht war.23 Tatsächlich gestattete der Hofkämmerer das Anmieten dreier Bettstellen für das Kanzleipersonal, als die Hofkammer­ kanzlei 1531 ein Haus in Prag anforderte.24 Ebenso belegten die Kanzlei und ihr Personal 1542 zusammen „die maissten Stuben unnd Gemach“ des Hauses eines Domherren in Speyer, als die Hofkammerkanzlei für die zehn Wochen des Reichstages in die Stadt reiste.25 Aufgrund der Mobilität der Kanzlei mussten an jedem neuen Aufenthalts­ ort angemessene Kammern zum Schreiben vorbereitet werden – eine Aufgabe, die erhebliche Umbauten erfordern konnte. Die Hofkanzleiordnung von 1526 wies an, dass die Hofkanzlei vier Räume in Anspruch nehmen sollte. Einer dieser vier Räume – groß genug, um auch die Kanzleireisekisten zu beher­ bergen26 – sollte dem Kanzler zugewiesen werden, zwei kleinere Räume dem österreichischen Untersekretär und dem Reichssekretär, und der vierte Raum der eigentlichen Kanzlei. Hier sollten die zwei Registratoren, zwei Kopisten und vier Ingrossisten sitzen, ebenso wie der Lateinische Sekretär und sein Per­ sonal.27 Die Hofkammerkanzlei belegte ebenfalls ein einziges Zimmer, das im 23 | „[…] kain ausrichtung ist mier noch nit worden, demnach so mues ich mier albeg selber ein herberg suechen, und weit von e.g., mahe auch also mein dienst unnutz […]. Aber gnedig hern das man gleichlich mich alzeit zu finden wist, und ich auch der Canczlei sachen auch alle die darin sein iere truchen verwarn […] es wurde mier auch ein klaines stetle oder kamerle als wol als andern ein geben in der Canzlei damit iederman mein herberg wist, als dan wolt ich tag und nacht mit aller hochstem fleis e.g. diene[n] […]“. Sandtacker wurde auf die Listen des Quartiermeisters gesetzt: Dionisi Sandttackher HoffCamer thurhuetter supplication [Juni 1533] NÖK 6 f. 105. Diese Listen waren wichtig, wie Johann Rosenberger schnell erkannte, der beim Quartiermeister in Ungnade gefallen war und nun jede Nacht eine neue Kammer zugewiesen bekam: ebd., f. 447–448. 24  |  „[…] und aber dj vorgemelt herbrig der pett halben gannz lär und (also zureden) öd funden hab ich zway bett enntlehnet von yed[er] dj wuch vj weis grosschn thuet vom 20 april bis auf den 28 July […]“, „Mer von ainem Bett so Siben wuchn gepraucht worden yede wuch 6 weis groschn, 1 gld. R. xxxviij kr.“: Prandt Rechnungen, 38 v –39 r. 25  |  Jheronimus Markhart Canonicus zu Speier Quittung, Speyer, 13. Apr. 1542. NÖHA, W61/1/36/a f. 299 r. 26 | „[… U]nser obrister canzler solle auch aller truen, die zu den canzlei händln und sachen gebracht werden, ain register bei handen haben und was am gehaimbsten und daran am maisten gelegen ist, selbst verwarn und sonst die andern canzleihändl ime nahent bei der hand sein.“: Ferd. I 1528, ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 244 (Anm. 13 § 20). 27 | „[… W]o aber die gelegenhait nit statt haben möcht, das die obgemelten zwen secretari ir jeder sein zimer haben möcht, so solln si geduld tragen in der canzlei zu sein […]“: Ferd. I 1526, ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 91f. (n. 11 § 2–4); Ferd. I 1559, ebd., S. 293 (Anm. 18 § 4). Ferd. I 1528 sieht nicht vor, dass die spanischen oder burgundischen Sekretäre in der Kanzlei schreiben: ebd., S. 242, § 14.

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Regelfall direkt neben dem Hofkammerrat lag, sowie kleinere, separate Quar­ tiere für die Hofkammerräte und den Obersten Sekretär. Beispielsweise hatte Prandt in dem Haus, das er im April 1531 in Prag anforderte, „ain Zymmer zu d[er] Canzley auch ain Chamer zuerichten und underslagn lassen“, während er in Stuttgart einen Bürger bezahlte „von wegen des Zymmers darin Er dj Canz­ lej zuhalten vergonnt hat“; im September bezahlte die Kanzlei einen Speyrer Bürger „vor dem Zymmer darin dj Canzley gehaltn worden, bis ain and[er] Zymmer […] zuegericht worden ist“, und bewilligte dann fast elf Gulden, um diesen Raum in Bürgermeister Friedrich Meurers Haus neu einzurichten.28 In Matthias Zellers Abrechnungen von 1542 bezahlte er auch für die Miete und Heizung „des [Hofkammerrat] herrn Zott[e]n, [der Oberste Sekretär Sebastian] Thunckhl, und Cannzlej Stuben“. Die Abrechnungen der Hofkammerkanzlei zeigen somit deutlich, dass genau wie im Fall der Hofkanzlei dem Geschäft des Schreibens ein einziges Zimmer gewidmet wurde.29

2. V or aller A ugen unter V erschluss : D ie S icherung von öffentlicher A utorität und S ta atsgeheimnissen Das vielleicht Wichtigste war, dass dieser Raum zur Anfertigung öffentlicher Dokumente verschlossen und abgesperrt werden konnte, den Nicht-Autorisier­ ten den Zugang verwehren und Verluste, Unordnung oder Schaden an Ferdi­ nands fürstlicher Ehre und Reputation abwenden konnte.30 Die Fähigkeit, den Raum der Geheimnisse abzusichern, war entscheidend für frühneuzeitliche Konzeptionen des Sekretariats, wie Alan Stewart dargelegt hat. 31 In den Habs­ burgerkanzleien wurden alle Sekretäre, Schreiber und Diener bei Dienstantritt auf Loyalität und Wahrung der Geheimnisse vereidigt, und es war ihnen aus­ drücklich verboten, Geschenke anzunehmen oder jedwedes Kanzleigeschäft 28 | Prandt Rechnungen, 36 v –37v, 41v –42r. Vgl. 133 g. Georg Albin Niederhaider zahlte für die „zuuerrichtung Romischer Khu. Mt. Hof Camer Canntzley unnd Radtstuben“ in Nürnberg im April 1543: HZAB 1, f. 157r ; „auf verrichtunng derselben Canzlej in Graz“, 35 gld., und „zu abrichtunng der herberg darinnen die Ratsuben unnd Canzley Allerweil Ir Khu. Mt. etc. derzeit zu Graz verharrt gewest“: HZAB, 8, 1 (1553), f. 218 v u. 223 v. 29  |  Zeller Rechnungen, f. 304v, cf. f. 302 v. Zellers Rechnungen deuten darauf hin, dass die Hofkammerkanzlei und ihr Personal 1542 auf dem Hradschin untergebracht waren: „Item, als wir von Prag wid[er]umb auf Lynnz zogen, hab Jch […] fur dj Cannzlej Stüben zu Prag, auf dem Rätschin, herberg gelt geben […]“, f. 311v, vgl. f. 310 v. 30 | „darmit durch Sperrung der Cantzley nichts verabsaumt“: Uffenbach, J. C. von: Tractatus, S. 77. 31  |  Stewart, Alan: The Early Modern Closet Discovered, in: Representations 50 (1995), S. 76–100.

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außerhalb der Kanzlei in privaten Räumen zu führen.32 Die Kanzleiordnungen drängten auch wiederholt darauf, niemanden, der nicht diese Eide abgelegt hatte, nicht mal die Knaben der Sekretäre, „zu zeiten als man schreibt“ die Kanzlei betreten zu lassen. Da „frembde unverwondte personen“ (unter denen ausländische Botschafter und ihre Agenten als die gefährlichsten galten) ver­ trauliches Kanzleigeschäft belauschen oder beobachten könnten, wurde ihnen unter keinen Umständen erlaubt, an den Schreibtischen der Schreiber Platz zu nehmen, „zu […] claffen, unnucz röd und geschwäz zu treiben oder in den schriften umgrüpeln“.33 Um die Kanzleigeheimnisse noch weiter vor neugierigen Blicken zu schüt­ zen, waren nur die Sekretäre und der Registrator autorisiert, die Registratur­ 32 | Laut Ferd. I 1528 sollten Sekretäre Texte schreiben „in gehaimb jedesmal in der geordneten canzlei oder so wir über land raisen und kain sonder ort zu gemainer canzlei gebraucht werden mag, in seiner herberg“: ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 241 (Anm. 13 § 10). 1545 verbieten die Ordonnanzen jedoch jegliches Schreiben außerhalb der Kanzlei: Ferd. I. 1545 Taxordnung, ebd., S. 99 (Anm. 11 § 14); „in den verordneten zimer […], darin und sonst nindert anderst irem ambt und dienst auswarten“: Ferd. I 1559, ebd., S. 301 (Anm. 18 § 33) und Uffenbach, J. C. von: Tractatus, S. 66; vgl. Max. II 1564 Hofkriegratskanzleiordnung, ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 308 (Anm. 19 § 5): „wollen wir, dass unsere secretarii concipisten ingrossisten und alle andere canzleipersonen unsere sachen in der canzlei schreiben und nit in ihren herbergen und untern leuten die schriften umbziehen, es sei dan sach, dass etwas solches fürfüele, dass es in der canzlei der zeit nach nicht, sondern bei der nacht geschriben oder verricht miesst werden, in solchem fal und sonst nit soll ihnen das schreiben in ihren herwergen zuegelassen sein.“ Ein Jahr später berichtete der Taxator, dass älteres Kanzleipersonal fast alle Geschäfte von ihren Privathäusern aus erledigte: Gross, L.: Reichshofkanzlei, S. 117. 33  |  Generelle Disziplin: „Canzler soll sein fleissig und ernstlich aufsehen haben, damit die canzlei gehaim vertraut und erber gehalten werde, dann an seins ambts verwaltung kgl. Mt. und derselben landen und leuten treffenlich vil gelegen ist“: Ferd. I. 1527 Hofstaatsordnung, ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 103 (Anm. 12 § 4), also Ferd. I. 1528, ebd., S. 239 (Anm. 13 § 1). Zugangsbeschränkung: Ferd. I. 1526: ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 96 (Anm. 11 § 19); Ferd. I. 1559: ebd., S. 294 (Anm. 18 § 6); Max II 1564, ebd., S. 311 (Anm. 19 § 13) u. 310 (Anm. 19 § 10): „Wo aber unter der secretarien dienern ainiche vorhanden, die fromb, erbar und vertraut wären, auch lust zu der schreiberei hetten und etwas lernen wollten, geben wir gnediglich zue, dass denselben jezuzeiten copeien zum einschliessen oder, wan der partheien bevelch, abschriften zu schreiben geben werden, doch sollen solche jungen an die gewenlichen tisch zu setzen und daselbst schreiben zu lassen, dan auch andere der secretarien und registrators dienern ausserhalb deren knaben, darunter einem jeden secretari concipisten expeditor und registrator ainer zuegelassen sein solle, der zu- und eingang in die canzlei genzlich verpoten sein.“ Vgl. Kanzleidienerordnung in: Uffenbach, J. C. von: Tractatus, S. 77f.

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bücher, in denen ein- und ausgehende Korrespondenz festgehalten wurde, zu Rate zu ziehen oder Auszüge daraus zu machen. Der Registrator war gehal­ ten, diese verschlossen aufzubewahren und sie nicht auf seinem Tisch oder andernorts in der Kanzlei herumliegen zu lassen. War es einmal notwendig, Dokumente aus der Kanzlei zu entfernen, mussten die Sekretäre sie beim Re­ gistrator gegen Unterschrift abmelden und durften sie dann nur in versiegel­ ten schwarzen Lederbeuteln mit sich tragen: Dokumente zum Versand durf­ ten nur dem vereidikgten fürstlichen Postmeister übergeben werden.34 Obwohl dem (Vize-)Kanzler und dem Registrator-Taxator formell die Verantwortung für die Sicherheit der Kanzlei oblag, war der Kanzleidiener oder Türhüter da­ mit betraut, die Tür zu bewachen, ebenso wie der Ein- und Ausgang von Doku­ menten in und aus der Kanzlei. Er musste der erste sein, der die Kanzlei betrat, und der letzte, der sie verließ, und sollte alle Papier-, Pergament-, Wachs- und Schnurvorräte hinter Schloss und Riegel verwahren.35 Er war zudem verant­ wortlich, „der Canczlei sachen auch alle die darin sein iere truchen“ nachts und beim Transport zu bewachen.36 Dies bedeutete regelmäßige nächtliche Patrouillen an Kanzleitüren oder Transportwagen. Um den Zugang noch weiter zu beschränken, besaßen nur der Kanzler und der Türhüter die Schlüssel zur eigentlichen Kanzlei.37 Als die Sekretäre eines Morgens im Juni 1533 in der Hofkammerkanzlei eintrafen und die Türen noch verschlossen vorfanden, beeilte sich der Hofkammertürdiener Dionysi Sandtacker, eine „supplication coacta necessitate“ zur Erklärung zu verfassen. (Dass er dies lieber auf Papier tat als mündlich, deutet nicht nur auf seine Ver­ trautheit mit dem Prozedere der Bittschriftstellung hin, sondern zeigt auch, dass sein Versäumnis, die Tür pünktlich zu öffnen, als eine grobe Verletzung seiner Dienstpflicht betrachtet wurde). Dieser Fehler, so erklärte er, war pas­ siert, da er auf einen Botengang geschickt worden war und den Knaben die Hofkammerkanzleischlüssel nicht hatte anvertrauen wollen. Er behauptete, die Knaben würden es stets vollbringen, die Schlüssel innerhalb von drei Ta­ gen zu verlieren, damit die Sicherheit der Kanzlei aufs Spiel setzen und ihn zwingen, viel zu oft unter hohen Ausgaben die Schlösser auswechseln zu las­ sen.38 34 | Max. II 1564, ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 310 (Anm. 19 § 8); 1559 Kanzleiordnung in Uffenbach, J. C. von: Tractatus, S. 66 (§ VII.2) u. 77. 35 | Kanzleidienerordnung: ebd., S. 76–78. 36 | Sandttackher supplication [Juni 1533]. NÖK, 6 f. 105 r. 37 | In Prag wurden beispielsweise drei, (später vier) Schlüssel für das Haus angefertigt, in dem die Kanzlei untergebracht war, jedoch nur zwei für die eigentliche Kanzlei: Prandt, 37v u. 38 r. 38 | „nach dem mich heut frue e.g. ausgeschickt, und alles verspert gewesen, ist nit mein schultt […]. So hab ich in [den Jungen – MW] albeg ein schlissel geben, uber drey

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Wenngleich die Kanzleisicherheit von menschlichem Handeln abhing, zeigt Sandtackers Geschichte der Schlüssel doch, dass die Fähigkeit, den Kanz­ leiraum abzugrenzen und zu segregieren, auch eine eindeutig materielle Seite hatte. Die Rechnungen der Hofkammerkanzlei warten mit einer Vielfalt von Einträgen zu Türen, Schlössern und verschließbaren Dokumentenkisten auf. 1531 wurde die Tür zur Kanzlei in Steffan Staynheusls Wirtshaus in Budweis nicht nur mit einem neuen Schloss gesichert, sondern auch mit einem neu­ en Vorhängeschloss, welches von einem neuen Türhaken und einer neuen Haspe herunterhing. Drinnen lagen die Kisten, welche die Registraturbücher enthielten, von denen ein altes Schloss abgenommen und ersetzt wurde. Ei­ nen Monat später in Prag wurden die Kisten der Hofkammerkanzlei zunächst in der Unterkunft des Hofkämmerers auf dem Hradschin gelagert, bevor ein angemessener Raum für sie geschaffen werden konnte. Um die Sicherheit der Kisten auch in ihrem temporären Heim zu gewährleisten, wurde ein neues Vorhängeschloss [Malsloss] an der Tür angebracht, das viermal so teuer war wie das in Budweis. Zusätzlich erhielten die Kanzleikisten zwei neue Haspen und Vorhängeschlösser. Erst nachdem die Kanzlei neu eingerichtet und gesichert war – ein Prozess, der Reparaturen am bestehenden Schloss erforderte, eine neue Haspe für die Kanzleitür sowie neue Vorhängeschlösser und Schlösser für die angrenzenden Kammern –, konnten die Kanzleikisten in ihr neues Domizil einziehen. Als die Kanzlei später in diesem Jahr nach Innsbruck zu­ rückkehrte, erhielt die Kanzleitür erneut „ain starkh Malslos“ und eine neue, stärkere eiserne Haspe.39 Diese abschließbaren Kisten, die Schreibgerät, Bücher und Dokumente fassten, waren ein entscheidender Teil der Ausstattung der Kanzlei. Sie ver­ wahrten deren institutionelles Gedächtnis und tägliche Arbeitspapiere. Auf­ grund des häufigen Herumhievens der Kisten wurden regelmäßig Zimmer­ leute und Eisenhändler damit beauftragt, die Kisten zu reparieren, sie mit wasser­dichten Häuten zu beziehen oder Bezüge zu erneuern oder auch die tag sein sy verlorn, und mues also schlos und schlissel manchmal wideruerändern“: Sandttackher supplication. NÖK, 6 f. 105 r ; vgl. Prandt Rechnungen, 35 r. 39 | „Vmb ain schlössl, schraufen und Närfen fur dj Cannzley […] 10 kr.“, ebd., 35 v; „Mer umb ain Malslössl […] 3 kr.“, ebd., 35v; „Vmb ain Malslos fur dj Stuebn darin dj Canzley sachn etlich täg gestanndn […] 12 kr.“, 36 v; „Das Schloss an d[en] herrn Chamer Räte Ratstueben pessernn zulassen […] 14 kr.“, 36 v; „Mer umb ain Malschlos fur dj Ratstueb […] 15 kr.“, 36 v; „Ain Schlos an dj Chamer auch ain närfen an dj Cannzley, Item fur drey hausschlussl und zwen schlussl zu d[er] Canzlej […] j gld. 4 kr.“, 37v; „Mer ain hausschlussl machn lassenn […] 8 kr.“, 38 r ; „Vmb 2. new Malschlos zu den Canzley truhn und zwo närfn anzuschlagn […]. 24 kr.“, 39r ; „Ain Schlos an der Registratur truchen abzeprechn unnd widerumb zuuernewen […] 8 kr.“, 39 v; „Vmb ain starkh Malslos fur dj Cannzley […] 48 kr.“, 54 r ; „Vmb drey Närfen fur dj Cannzley und ofen thuer […] 15 kr.“, 54 r.

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doppelten Schlösser zu ersetzen. Ausgaben für die Erhaltung der Kanzlei­ kisten tauchen regelmäßig in Prandts und, in etwas geringerem Ausmaß, in Zellers Abrechnungen auf. Prandt ließ beispielsweise 1532 bei der Rückkehr nach Innsbruck eine neue Kiste anfertigen, in der die Kanzleidokumente des vergangenen Jahres verwahrt werden sollten. Die Kiste, bezogen mit Kalbs­ leder und gesichert durch zwei neue Vorhängeschlösser, kostete drei Gulden und dreizehn Kreuzer, ein Drittel des Monatsgehalts eines Kanzleischreibers. Als Matthias Zeller zehn Jahre später eine neue Kiste anfertigen ließ, kosteten deren drei Schlösser mit drei Gulden fast die Hälfte dessen, was die Kiste selbst kostete.40 Als zusätzliche Sicherung mögen diese Kisten außerdem mit Wachs versiegelt (verpetschafft) worden sein. Obwohl Kisten offenbar „unbequem zum Gebrauch“41 waren, hatten sie doch den Vorteil der Mobilität: Kisten machten den Großteil der Gegenstände aus, die die Kanzlei in ihren Wagen begleiteten. Der Kanzleidiener oder Türhüter war speziell damit betraut, die Kisten vorzubereiten und die Kanzlei einzupacken, wenn der Hof weiterzog. Vor der Abreise musste er alle Kisten ausfegen und das Leinen, die Schreibutensili­ en und das Papier der Kanzlei verpacken. Die Kisten wurden in die Kanzlei­ wagen verladen, die mit Stroh ausgelegt wurden, um zu vermeiden, dass sie umherrutschten oder Schaden an ihren Schlössern nahmen. Die übriggeblie­ bene Tinte der Kanzlei musste in ein Faß gegossen werden, welches sicher auf den Kanzleiwagen befestigt wurde; im Winter musste es gut isoliert werden, damit die Tinte nicht einfror.42 Angesichts der häufigen Reisen der Kanzlei zu allen Jahreszeiten und bei jedem Wetter war es für den Inhalt der Kisten und Kanzleiwagen genauso wichtig, diese mit Kalbsleder oder Werg vor Nässe zu schützen, wie die Sicherung durch die Ausstattung mit funktionierenden Schlössern.43 40 | „Mer vmb ain new truch zu den Cannzley sachn […] 48 kr.“, ebd., 53 r ; „dieselb Truch zubeslagn und umb zway new Malslos darfur, 2 gld. 15 kr.“, ebd., 53 v ; „Vmb ain kalbfell vber dj new truch zuziehen und auf zenagln […] 10 kr.“, ebd., 53 v. Zeller Rechnungen: „ain Truchen lassen machen […] zu Speyr, am zehenden Marcj [1542] […]. Erstlich dem Schreiner, umb die ploss Truh 1 g. 20 kr., dem Slosser dauon zubeslagen 1 g. 24 kr., dann dieselb Truhen mit ainer Kuehaut überziehen lassen, fur dieselb haut und aufslagerlon, 1 g., dem knecht 2 kr. tringkhgelt und umb 2 Sloss zu derselben Truhen 36 kr. thuet alles zusamen 4 guld. zwen und zwainzig Creuzer“, ebd., 36 r. 41 | Philipp Wilhelm Ludwig Fladt: Anleitung zur Registratur-Wissenschaft und von Registratratoribus, Frankfurt a. M./Leipzig 1765, S. 119ff., zit. nach Friedrich, M.: Geburt, S. 179. 42 | Uffenbach, J. C. von: Tractatus, S. 79. Vgl. Prandt Rechnungen, 41v u. 54 r. 43 | Prandt Rechnungen: [Sept. 1530]: „die Cannzley Truchen mitt newen Pänndtern und närf[en] zuuersehen […] 32 kr.“, 15 r ; „Dem Dischler das Er etliche leissten an den

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Tatsächlich gehörte das Einladen, Bewachen und Abladen der Kisten auf Reisen zu den erheblichsten Ausgaben und vorhersehbarsten Routinen der Kanzlei. Die relativ hohen Summen, die bezahlt wurden, um die Kisten aus der Kanzlei hinaus und wieder hinein zu tragen, deuten darauf hin, dass sie schwer und unhandlich waren, wohingegen die Ausgaben für Wachleute auf den Wert hinweisen, der den Kisten beigemessen wurde. Als der Hof beispiels­ weise im November 1530 aus Augsburg auf brach, bezahlte die Kanzlei dafür, die wichtigsten Kisten für die Reise nach Köln und Aachen in Wagen verla­ den zu lassen, und nahm zusätzliche Kosten in Kauf, damit vier Kisten mit alten Dokumenten in Augsburg für etwas über zwei Monate gelagert wurden, bevor sie dann per Lastkahn nach Linz verschifft werden konnten (was weite­ re Kosten verursachte). Auf der Strecke von Augsburg nach Köln und Aachen bezahlte die Kanzlei eine Eskorte für den Wagen, der die Kisten mitführte, die Fährfahrt für die Wagen, um den Rhein zu überqueren, den Transport der Kisten von den Wagen zum Kölner Wirtshaus, eine Wache (bestehend aus zwei einheimischen Bauern) auf den Wagen zwischen Köln und Aachen, die Ablade- und Einladekosten in Aachen, die Rückführung der Kisten nach Köln per Lastkahn, den Transport auf die Waage in Speyer, den Rücktransport auf die Lastkähne, und schließlich in Linz die Kosten, um die Kisten von den Käh­ nen in die Kanzlei zu schleppen. Nicht einmal einen Monat später wurden die Kisten für die Weiterreise des Hofes nach Böhmen erneut verladen. Nicht, dass dieses System reibungslos funktioniert hätte: Wie Prandt in seinen Abrechnungen verzeichnete und auch Kammertürhüter Dionysi Sand­ tacker beklagte, wurden die Wagen bisweilen im Chaos des Hofumzuges un­ bewacht gelassen, besonders bei Nacht, wenn der Hof auf einem Feld kampier­ te.44 Im Jahre 1547 schaffte es die Hofkammerkanzlei sogar, eine ganze Kiste Truchen gepessert, und zuegericht hat […] 22 kr.“, 15v ; [Nov. 1530]: „Vmb zwo kalbsheut auf dj Cannzley truchn fur das Regenwetter […]32 kr.“, 16r; „Vmb rupffen zu ainer plahn auf den Cannzley wagen […] 40 kr.“, 16 r ; „Vmb ain new Truchn zu den Cannzley sachen […] 52 kr.“, „dieselbig truch zubeslagn […] j gld. 20 kr.“, 16r, [Prynn 1531]: „Dj Canzley truchen pessern zelassn […] 24 kr.“, 35 v ; Zeller Rechnungen: „Am letzten ­M arcj [1542] h[err]n Georg Bischof, hofCannzley Registrator und Taxator, umb funf Elln gewixt Tuech, dj Elln p[er] xiij kr. thuet ain guldin funf creuzer“, 308 v. HZAB 1 (1543): „zubedegkhunus des harwage fur die [Camer] Canntzley zwaintzig Brabanndisch ellen Rot Slesingisch Tuech […] 5 g.“ und „Eodem die [19. Sept. 1543, Wien] Jurgen Kogler Romischer Ku. Mt. HofCanntzley dienner zubedeckhung Bemelter Canntzley horwägen […] zwaintzig Brabandisch ellen Rot Schlessigisch Tuech […] 5 g. 20 kr.“, 172 v –173r u. 280 r. HZAB, 2 (1544): „zu bedeckhung aines hörwagen in die hofCamer Cannzley gehörig zu yezo furgnomen Zug in Sachssen ain Stuckh schwartz Behaimisch tuech […] 10 g. 20 kr.“, 222r. 44 | „Und nachdem bey den wägen zu zeiten durch unordnung […] khain wacht gehaltenn wirdet, damit aber durch selb unordnung nichts verlorn od[er] ubersehen werd,

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in Linz zu verlieren, sie musste 33 Gulden aufwenden, um die Kiste wiederzu­ beschaffen, sowie einen Finderlohn für den Mann, der sie fand und nach Wien zurückbrachte.45 Abgesehen von derartigen Vorfällen bezahlte die Kanzlei je­ des Jahr etwa ein Drittel der gesamten Betriebskosten eines Monats für Kisten­ transport und Bewachung – mindestens 6 ½ Gulden im Jahr 1531.46 Verglichen mit den Unterkunftskosten war dies keine große Summe, doch repräsentierte sie die vielen und regelmäßig anfallenden kleineren Ausgaben. Die wiederholten Verweise in den Abrechnungen auf verschlossene Türen, doppelt verschlossene Kisten und bewachte Wagen deuten auf ganz materielle Bestrebungen hin, die Vorschriften der Kanzleiordnungen umzusetzen. Die vielfältigen Regimes des beschränkten Zuganges, die mithilfe menschlicher wie materieller Mittel errichtet wurden, von Eidesschwüren, Verhaltensregeln und Disziplinarordnungen bis hin zu verschlossenen Türen und Kisten, ver­ suchten, einen kontrollierten Raum mit begrenztem Zugang zugunsten des geordneten und vertraulichen Schreibens zu konstruieren. Obwohl ein großer Teil der Forschung zur materiellen Kultur der Renaissance sich auf Konsum und Zurschaustellung konzentriert hat, waren doch nicht alle von Menschen der Frühneuzeit hergestellten Gegenstände zur Repräsentation gedacht. Kanz­ leipapiere sollten ausdrücklich vor unbefugter Neugier geschützt werden, mit­ hilfe von Regimes des habituellen Verbergens, in denen ein abgetrennter Ar­ beitsplatz und verschließbare Kisten eine zentrale Rolle spielten. Dennoch konnte die öffentliche Autorität der Kanzleidokumente nicht alleine durch Verschluss garantiert werden. Die Ordnungen bestanden auch darauf, dass die Kanzleisekretäre Protokolle führen sollten, Register von ver­ sandten Dokumenten, Inventare47 und andere Verlaufsberichte, die als Garan­ tie der öffentlichen Natur des Büros zur befugten Konsultation zur Verfügung standen. Petitionen, die Registratur im Fall verlorener Dokumente konsultie­ ren zu dürfen, implizieren, dass die Registrierung ausgehender Urkunden in sorgsam bewachten Kodizes ausführlich genug war, um den Ersatz eines Dokumentes zu erlauben, und dass dies auch von Zeitgenossen entsprechend

hab ich fur wachtgelt von Augspurg aus bis gen Speir allennthalben bezalt […] xliij kr.“: Prandt Rechnungen, 17r–v ; Sandtacker petition, NÖK, 6 f. 105 r. 1526 begleitete der Sekretär Marx Trautsauerwein „kisten und andere Dinge, die zur Kanzlei gehörten“ von Augsburg nach Werdt in Schwaben, da, wie er in seiner Bitte um Kostenerstattung anführte, „ich bey nur hab muessen haben das kain verwarlosung daran beschehe“: FHKA. Gedenkbücher 24, f. 82r. 45 | HZAB, 6 (1548), f. 135 r. 46 | Prandt Rechnungen. 47 | „Vmb zway puecher zu denn Inuentarien der Cannzlej sachenn, 36 kr.“ [Innsbruck, Nov. 1531]: Prandt Rechnungen, 43r.

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eingeschätzt wurde.48 Wie wir gesehen haben, wurden diese Dokumente selbst in einer sich beständig vervielfachenden Sammlung von Kanzleikisten ge­ sichert und durften nur auf Anweisung des Kanzlers, Vizekanzlers, der Se­ kretäre oder Registrator Taxatoren geöffnet werden. Die Dokumente vor aller Augen unter Verschluss zu halten, sicherte ihre öffentliche Autorität, indem Fälschungen, Verlust, Spionage oder unberechtigte Kopien verhindert wurden. All diese menschlichen, räumlichen und materiellen Sicherheitsvorkehrungen sollten die Integrität und Beweiskraft der schriftlichen Dokumente der Kanzlei garantieren, auch dann, wenn die Kanzlei sich nur kurzfristig an einem Ort niederließ. Obwohl die Schlösser und abschließbaren Behältnisse der Kanzlei selbst nicht überdauert haben, bieten sie doch ein gutes Beispiel für das Wechsel­ spiel, das zwischen materiellen Objekten und ihren menschlichen Benutzern entstehen kann. Wie Anke te Heesen in ihrer Studie zu frühneuzeitlichen Le­ xikonkisten festgestellt hat, waren Behältnisse üblicherweise dort aufzufinden, wo Dinge in eine spezifische funktionale Beziehung mit Menschen eingebun­ den wurden, und wo Menschen das verstaute Objekt mit einer besonderen Bedeutung aufluden; das Behältnis unterstützt diese Wertzuschreibung und erlaubt die Entwicklung bestimmter Aktivitätstypen und -muster zwischen den Menschen, dem auf bewahrten Objekt und dem Behältnis.49 Mit Blick auf die vorgeschriebenen Regeln und Praktiken, die aufgestellt wurden, um die Integrität der in der Kanzlei produzierten Texte zu gewährleisten, entschloss sich das Kanzleipersonal, diverse Schlösser und abschließbare Behältnisse an­ zuschaffen und zu erhalten sowie Männer zu bezahlen, welche die verschlos­ senen Behältnisse bewachten oder trugen. Dionysi Sandtackers Schlüssel erin­ nern uns daran, dass die Unzugänglichkeit und Uneinsehbarkeit versiegelter Behältnisse oder verschlossener Räume die Kanzleischreiber und Sekretäre zwang, ihre alltäglichen Praktiken zu ändern und habituelle Routinen kollegi­ aler Überwachung anzunehmen. Da der (Vize-)Kanzler häufig anderweitig be­ schäftigt war, erschufen Sandtackers Schlüssel zur Kanzleitür und seine Ver­ antwortung, die Notwendigkeiten des Schreibens – Papier, Pergament, Feder, Tinte – aus den verschlossenen Kisten auszuteilen, für die in der Kanzlei nur er die Schlüssel besaß; Hierarchien praktischer Macht und delegierter Autori­ tät, die nicht deckungsgleich mit denen waren, die in den Kanzleiordnungen festgeschrieben standen.

48 | Zum Beispiel „khunigclich Mt. bewilligung und schrifftlich […] an dj [NÖ] CamerRate beuelch […] nynndert mag gefunden werden. […] Derhalben mein hochvleissig bit […] bestimbter beuelh bey d[er] Cantzley in der Registratur gesuecht von newem geschriben […]“ [21. März 1530]: NÖK, 4 f. 353. 49 | Heesen, Anke te: The World in a Box, Chicago 2002, S. 152.

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3.  D ie K anzlei als A rbeitspl at z Die praktischen Kanzleierfahrungen von Sekretären und Schreibern wurden nicht nur durch Situierung und Zugänglichkeit der Kanzlei geformt, sondern auch durch deren sensorische Eigenschaften: ihre Beleuchtung und Wärme, ihre Geräusche, ihre Erscheinung und Sauberkeit. Diese Beschaffenheiten fügten das Personal sowohl physisch als auch subjektiv in den Kanzleiraum ein und prägten die kulturellen und praktischen Wege, in denen die Arbeits­ kräfte diesen Raum und seine Ausstattung bewohnten oder benutzten. Die Ordnungen und die Abrechnungen der Hofkammerkanzlei deuten darauf hin, dass der Raum, der für die Kanzlei reserviert war, recht gut ausge­ leuchtet gewesen sein muss, da die Kopisten dort morgens von 6 oder 7 bis 10 Uhr arbeiten mussten sowie von 1 bis 5 Uhr am Nachmittag – bei Bedarf auch länger.50 Folglich wurde viel Aufwand um Fenster betrieben, wenn Räume für die Hofkammerkanzlei eingerichtet wurden. Prandt bezahlte beispielsweise 1531 in Prag zwei Gulden dafür, dass für die eigentliche Kanzlei Glasfenster eingesetzt wurden, 18 Kreutzer dafür, dass in der Nachbarkammer die Fenster geputzt (?) wurden und 38 Kreutzer, um die Fenster in der Ratskammer re­ parieren und putzen zu lassen.51 Jeder dieser Räume besaß mindestens zwei Fenster, um Tageslicht hereinzulassen. Dass keinerlei Läden, Gitter oder ande­ re Sicherheitsmechanismen an den Fenstern erwähnt werden, impliziert, dass die Kanzlei in den besser erleuchteten Obergeschossen des Gebäudes unterge­ bracht war. Dank seiner Situierung „zwischen den Türmen“ mag das Gebäude, in dem die Kanzlei logierte, zudem nur einen Raum tief gewesen und somit von zwei Seiten her erleuchtet worden sein. In jedem Fall ist es wahrscheinlich, dass die Tische der Schreiber so positioniert waren, dass sie das Licht bestmög­ lich einfingen. Trotz der Versuche, die natürliche Ausleuchtung zu maximieren, be­ schwerten sich Sekretäre häufig darüber, „vil tag und nacht“ arbeiten zu müs­ sen – was nahelegt, dass dringliche Geschäfte viel Schreiben bei künstlichem Licht erforderten.52 Wachskerzen von guter Qualität, die langsamer und heller brannten als Talg, stellten entsprechend eine regelmäßige Kanzleiausgabe dar. Kerzenanschaffungen nahmen durchschnittlich zwischen 2 und 2 ½ Gulden pro Monat in Anspruch, sogar im Sommer.53 Der Kanzleidiener war verant­ 50 |  Ferd. I. 1528, ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 240 (Anm. 13 § 8); Ferd. I. 1559, ebd., S. 301 (Anm. 18 § 33). 51 | Prandt Rechnungen, 37r–v. Er kaufte zudem zwei Fensterrahmen. 52 | Zum Beispiel Johannes Rosenbergers Petition, NÖK, 6 f. 447–448. 53 | Prandt Rechnungen, 18 r, 43 r–44v u. 54v. Im Gegensatz dazu zeigen Zellers Rechnungen die Einkäufe von 7 Pfund Kerzen zu 4kr. je Pfund im Februar 1542, 1 Pfund zu 4 kr. im März und 2 Pfund zu jeweils 4 kr. im April. Bernardino Ramazzini, in seinem De

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wortlich, sicherzustellen, dass bei Einbruch der Dunkelheit jeder Tisch mit Kerzen und Lichtputzern ausgestattet war. Er war auch gehalten, am Ende des Arbeitstages alle Lichter und Kerzen an „ein gewöhnlich Orth“ zu sammeln, nicht nur um die Brandgefahr zu reduzieren, sondern auch um sicherzugehen, dass die Kerzen zur Hand waren, sofern sie in der Dämmerung des nächsten Morgens gebraucht würden. Um die Arbeit der Schreiber weiter auszuleuch­ ten, brachte die Hofkammerkanzlei zudem Lampen an, unter anderem drei Messinglüster.54 Trotzdem war das beständige Flackern des Kerzen- oder Lam­ penlichtes nicht zuträglich für die Sehgesundheit. Augenleiden – „gebrechen und plödigkeit [des] gesichts“ – gehörten zu den Hauptgründen, die Sekretäre und Schreiber anführten, um die Entlassung aus dem Kanzleidienst zu erlan­ gen. Sogar der Hofkammersekretär Matthias Zeller, der die Hofkammerab­ rechnungen von 1542 erstellt hatte, ersuchte 1539 um Urlaub, vermutlich auf­ grund strapazierter Augen.55 Es scheint, als hätten sich die Sekretäre nicht über die Lüftung oder Hei­ zung der Kanzleikammern beschwert, obwohl dies in der jahreszeitabhängi­ gen Erfahrung der Kanzlei als Arbeitsplatz eine wichtige Rolle gespielt haben wird. Von September oder Oktober bis Mai wurde die Kanzlei geheizt, eine Praxis, die nicht nur die Finger der Schreiber beweglich, sondern auch Tinte und Siegelwachs flüssig hielt. Kosten für Feuerholz waren eine substantielle, aber notwendige Ausgabe, die in den 1530er Jahren im Schnitt zwischen 3 und 3 ½ Gulden pro Monat ausmachte. Dort, wo die Kanzlei sich länger aufhielt, wie etwa in Prag oder Innsbruck, wurde der Raum auch mit einem Zündme­ chanismus und einem (Kachel?) Ofen ausgestattet.56 Wie auch im Falle der morbis artificum [1713], hg. v. Wilmer C. Wright, Chicago 1940, S. 139 u. 403, riet speziell Wissenschaftlern, lieber Wachs- als Talgkerzen zu verbrennen. 54 | [Augsburg, Aug. 1530]: „Umb drey Messingn liechter[…] xl kr.“ und [Innsbruck, Nov. 1531]: „Von den leuchtern zeflikhen […] viij kr.“ Prandt Rechnungen, 14v u. 43 r. 55 | „aus ursachen meines gesichts“: Niederösterreichischer Sekretär Hanns Wittl Supplikation, 1. Juli 1528. NÖK, 3 f. 180–181, und 15. Jan. 1530, NÖK, 4 f. 93r ; Johannes Rosenberger, Lateinischer Sekretär, Supplikation (zusätzlich zu einer Litanei anderer Gesundheitsbeschwerden), NÖK, 6 f. 447–448; Sekretär Marx Trautsauerwein: „so mag Jch selbs nit vill schreib[e]n, Muess mich nue des Angeln behelff[en], wan Jch yetzund den fluss auff die Augen gar vast hab“, 14. Okt. 1522, NÖHA, W61/c/60/a f. 13 r. „Nun bin Jch aber lanng heer wie wissentlich furnemblich meines haubts und Gesichts halben dermassen beladen, das Jch der unuermeidlich notturfft nach yetzo alhie (wiewol uber mein glegenhait und unuermugen) hilff unnd pesserung suechen muess.“: Zeller, Supplikation an die HofCamerRäte, Wien, 26. April 1539, NÖK, 8, 1 f. 215–216. 56 | Prandt Rechnungen: „Vmb ain feurzeug in Cannzley, 6 kr.“, 36 v ; „den Ofen flikhn und pessernn zelassen, 20 kr.“, 37r ; „Den Rauchfang an der Canzley seubernn zulassen, 8 kr.“, 43 r ; „den Ofen viermal pessernn und flikhen lassen, 16 kr.“, 53 r ; „Vmb drey Närfen

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Beleuchtung war der Kanzleidiener verantwortlich dafür, den Kamin und den Abzug in Ordnung zu halten, zusätzliches Feuerholz einzukaufen, wenn der Vorrat zur Neige ging, die Arbeit des Heizers zu überwachen sowie für grund­ legenden Brandschutz zu sorgen.57 Um die Kanzlei weiter vor Kälte zu schüt­ zen, mögen die Wände mit Fries oder Wandbehängen ausgekleidet worden sein (was außerdem auch als Lärmschutz diente).58 Da die Kanzlei häufig in gemeinen Wirtshäusern oder gemieteten Bürger­ häusern untergebracht war, lag sie typischerweise in geschäftigen und höchst­ wahrscheinlich lauten Stadtvierteln, in denen Wohnungen, Geschäfte und Werkstätten sich vermischten. Verglaste Fenster und Wandbehänge halfen, aufdringliche oder ablenkende Randgeräusche auf ein Minimum zu reduzie­ ren und erlaubten dem (Vize-)Kanzler, seine Energien auf die Unterbindung von „claffen“, „unnucz röd“, „smehe“ und andere störende Disziplinverstöße im internen akustischen Raum zu fokussieren. In den Kanzleiordonnanzen wurde Lärm somit nicht mit äußerer, sondern mit interner Unordnung und Chaos assoziiert.59 Im 16. Jahrhundert fiel es auch unter den Aufgabenbereich des Kanzlei­ dieners oder Türhüters, die Kanzlei wohlgeordnet und sauber zu halten. Der fur dj Cannzley und ofen thuer, 15 kr.“ 54 r ; „die Rauchfanng an d[er] Canzlej und her Grassweins Zymmer zuseubern“, 54 r. 57 | „auch soll er zu dem Ofen sehen, damit kein Papier oder anders gelegt sey, darauss in seinem Abwesen ein Feuer oder Schaden entstehen möchte“. Uffenbach, J. C. von: Tractatus, S. 79. 58 | „[…] Sebastian Hunger HofCamer Rats Thuerhueter um 41 Prag Eln Gruen Harrass so er zu fuerhenngen in HofCamer Rats Stuben erkaufft hat […] Prag, 25 July, xj guld ij kr. 5 put.“ [1547]. HZAB, 5, f. 226 r ; „zu uberziehung der tafelln unnd bezeugunng der wannd in der HofCamer RathsStuben with brabant and geschorn grüen lindisch tuech, for 49 g. 35 kr.“ [18. Dez. 1553] HZAB, 8, f. 248 v –249 r. 59 | Zum Beispiel: „Erstlich wellen wir, das unsere secretarii registrator expeditor concipisten ingrossisten und andere unserer hofkriegscanzlei zugethane personen sich in der canzlei und sonst freindlich fridsamb beschaiden und zichtig halten und fürnemblich kein gottslästerung mit schweren oder in andere weege, wie des namens hab mag, noch ander unzucht geschrei schelten vexiren oder leichtfertigkeit, offentlich noch haimblich, weder mit werken noch worten treiben, noch ainich rumor gegeneinander anfahen oder verursachen, alles bei verlierung des dienstes […]; […] wie si auch sonst die zeit si in der canzlei sein, nit unnuczlich oder vergebenlich zuebringen, sonder treülich und fürderlichen schreiben […]; [U]nsere canzleiverwante in gmein sollen auch kein frembte ungebührliche prasserei und spilgeselschaft in unser canzlei zuelassen noch jemants von unsern hofgesind, so nit in die canzlei gehöre […] zu sizen, schreiben, claffen, unnucz röd und geschwäz zu treiben […] gestatten […]“ Max. II. 1564 Hofkriegsratskanzleiordnung, ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 307f. u. 311 (Anm. 19 § 1, 4 u. 13).

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Kanzleidiener musste jeden Abend den Boden fegen, Dinge an ihren Platz räumen und Tische, Schreibunterlagen, Rechentücher und Bänke sauberhal­ ten. Dies konnte zu einer beachtlichen Aufgabe werden, da die Schreiber Ra­ dierpulver oder Sand (Stupp oder Stropulver) zur Erstellung von Dokumenten benutzten; der Sand konnte Tische und Schreibtische stark verschmutzen.60 Der Kammerkanzleidiener war zudem damit betraut, die Hand- und Rechen­ tücher (Wechsenem=Tuech) regelmäßig auszutauschen, ebenso wie das grüne Tuch, mit dem die Tische und Bänke bespannt waren.61 Die einzige Farbe, die in Prandts Abrechnungen jemals bei Tucheinkäufen genannt wird, ist grün, und stets war das Tuch zur Bespannung des Kanzleitisches gedacht.62 Viele Gemälde aus dem 16. Jahrhundert halten Schreib- oder Rechenszenen fest, die an grünbespannten Tischen stattfinden, und zeitgenössische Schreibmanuale empfehlen in der Tat den Bezug des Tisches mit grünem Tuch „for comforting of the sight“.63 60 | Prandt Rechnungen: „Stupp od[er] Stropulfer, 8 kr.“ [Mai 1531], 38 r ; „Vmb xviij kapsen und Stup am xiij May [1531], 1 g. 4 kr.“, 38 r ; „Umb stropulfer, 16 kr.“, 53 v ; „Umb Stropulfer, 4 kr.“, 53 v. 61 | „Er soll auch die Canzley, derselben Tisch und Bänck sauber halten, die Tücher fein sauber abkirnen, und so offt es vonnöthen, doch allerweg auf den Abend, wann jederman daraus geht, ausskehren lassen, oder solches für sich selbst aussrichten.“, „soll er die Tücher von den Tischen und Bäncken ledigen, dieselbigen fein sauber auspassen“: Uffenbach, J. C. von: Tractatus, S. 78f. Prandt Rechnungen: „Umb 2. hanndtuecher in Canzlej, 24 kr.“ [Sept. 1530], 15 r ; „Die tuecher auf der herrn Hofchamer Rät tisch auch die so teglich in der Canzlej praucht werden seubern zelassenn […] 8 kr.“ [1531], 40 r. Rechentücher: „Am 22. augusti [1530] umb x eln leinwat zu wechsenem tuech, 40 kr.“, 14v ; „Mer umb Leinwat zu wechsenem tuech funf elen, 20 kr.“ [Nov. 1530], 16 r ; „Vmb leinwat zu wechs[e]n[em] tuech, 12 kr.“ [Dez. 1530], 17v ; „Vmb v. eln Leinwat zu wechsen[em] tuech, 24 kr. 2 d.“, [Aug. 1531], 40 v. 62 | Prandt Rechnungen: „Steffan Walzperg[er] Burg[er] zu Wien umb gruen tuech auf dj Cannzley tisch, welhes Jme auch vom xxviij Jar ausstendig pliben […] 5 g. 38 kr.“, 34v; „Jacoben Zeller umb ij eeln gruen lofrer auf der Canzley tisch ainen dj eln p[er] sechs und­ dreissig kr., 1 g. 30 kr.“, 53 r. Bei Herchenhahns Besuch im Reichshofratszimmer in den 1790er Jahren erwähnte er die „langen mit grünem Tuche bedeckten Tafel“ und „noch nach altdeutscher Sitte die zwei auf beiden Seiten der Tafel herunterlaufendne Reihen mit grünem Tuche beschlagener Lehnstühle […], die im Alterthume wirkliche Bänke waren“: Herchenhahn, Johann Christian: Geschichte der Entstehung, Bildung und gegen­w ärtigen Verfassung des kaiserlichen Reichshofraths […], Bd. II, Mannheim 1792, S. 6–10. 63 | Bales, Peter: The Writing Schoolemaster, London 1590, „The Key of Calygraphie“, Kap. 4. Neben dem grünen Tuch pries Marsilio Ficino zudem ‚the frequent viewing of shining water‘ als materielles Restorativ für Wissenschaftleraugen: Ficino, Marsilio: Three Books on Life, hg. v. Carol V. Kaske u. John R. Clark, Binghamton 1989, S. 135.

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4. W ie möbliert man eine K anzlei ? Die mit beruhigendem Grün bezogenen Tische waren das Herzstück der schrift­lichen Geschäfte am Habsburger Hof. Daher ist es wenig überraschend, dass Kanzleitische, Stühle und Bänke starker Abnutzung ausgesetzt waren und ihre Instandsetzung oder Erneuerung einen prominenten Platz in den Rechnungen der Hofkammerkanzlei einnahmen. In Augsburg, wo die Kanz­ lei im Jahr 1530 sechs Monate im Haus eines bekannten Patriziers verbrachte, erwarb Prandt drei neue Stühle, um den Mobiliarbestand der Kanzlei aufzu­ stocken – möglicherweise als Zeichen der ansteigenden Schreibarbeit durch den Reichstag. Als Prandt sechs Monate später in Prag die Kanzlei praktisch de novo einrichtete, stattete er die Kammer mit zwei neuen Tischen, einigen Bänken und einem Stuhl aus. Diese neuen Gegenstände ergänzten den her­ untergekommenen Möbelbestand des Gebäudes, für dessen Reparatur Prandt ebenfalls bezahlte. In Speyer zahlte Prandt im Oktober 36 Kreutzer für einen neuen Kanzleitisch und noch einmal ein Drittel dieser Summe für einen neu­ en Stuhl. Als der Hof im folgenden Monat nach Innsbruck zurückkehrte, wur­ de die Kanzlei erneut mit einem neuen, wesentlich teureren Tisch ausgestattet, und erhielt zwei neue Stühle. Die Regelmäßigkeit dieser Art von Ausgaben und der Mangel an Erwähnungen von Mobiliar in Bezug auf die Reisewagen deuten darauf hin, dass diese Möbelanschaffungen möglicherweise nicht ku­ mulativ waren, sondern dass in einigen Fällen Tische, Bänke und Stühle zu­ rückgelassen wurden, wenn die Kanzlei weiterzog.64 Dies mag auch die Kosten­ diskrepanz erklären zwischen dem relativ billigen 36 Kreutzer-Tisch in Speyer, wo die Kanzlei lediglich ein paar Wochen blieb, und dem 60 Kreutzer-Tisch in Innsbruck, wohin der Hof regelmäßig zurückkehrte. Gleichzeitig verkompli­ ziert das Schweigen der Abrechnungen jedoch die Versuche, ein vollständiges Bild des Kanzleimobiliars zu erhalten. 64 | Prandt Rechnungen: „Umb zwen stuel in Cannzlej, 16 kr.“ [Aug. 1530, Augsburg], 14v; „Mer umb ain Stuel in die Cannzley, 10 kr.“ [Aug. 1530, Augsburg], 14v ; „Fur zwen tisch und ain Stuel [and 2 windowframes], 1 g 20 kr.“ [Prag, Apr. 1531], 37v ; „Am 13 May dem dischler von zwaien leisten in Cannzlej daran […] etlich Bennkh anzenägln“ [Prag], 38 r ; „Vmb ain newen thisch in Cannzley, 36 kr.“ [Speyer, Okt. 1531], 41v ; „Vmb ain Stuel, 12 kr.“ [Speyer, Okt. 1531], 41v ; „Vmb ain newen tisch in Cannzley, 1 gld.; Vmb zwen Stuel, 24 kr.“ [Innsbruck, Nov. 1531], 43r ; „Vmb nägl allerlay in d[er] Cannzley an tischn und sunst zepessern, und ain hanndtfas anzeslagenn, 26 kr.“ [Regensburg. Febr./März 1532], 54 r. Die Kanzleidienerordnung erwähnt kein Einladen von Mobiliar, Uffenbach, J. C. von: Tractatus, S. 79. Die einzigen Gegenstände, die im Zusammenhang mit den Kanzleiwagen erwähnt werden, sind Kisten und das Tintenfass, obwohl spätere Ordonnanzen darauf hindeuten, dass Kanzleipersonal auch illegal persönliches Gepäck auf den Wagen verstaute.

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Wir können jedoch einen Sinn dafür entwickeln, wie Kanzleiausstattun­ gen menschliche Beziehungen und Praktiken reflektierten, verkörperten und herstellten, indem wir die Teilinformationen aus den Abrechnungen mit den Kanzleiordnungen und Schreiberpetitionen kombinieren. Tische, Bänke und Stühle kreierten und bestätigten soziale Hierarchien durch ihr Arrangement innerhalb des Kanzleiraums. Die Kanzleisekretäre scheinen an einem Tisch gearbeitet zu haben (die Lateinische Expedition mag über ihren eigenen Tisch verfügt haben), der Registrator-Taxator an einem anderen und die Schreiber an einem dritten Tisch; zusätzliche Einzeltische für die Räte, den Kanzler oder Hofkammerkanzler standen in den angrenzenden Zimmern.65 Sekre­ tär Johann Rosenberger glaubte, derartige Mobiliarhierarchien machten das Schreibgeschäft unsichtbar: In einer Petition von 1533 beschwert er sich, seine eigene fleißige Arbeit und die seiner Kanzleikollegen, „die da hynnden sitzen […] und nit teglich in gegenwurt der herr[e]n erschienen“ würde kaum gesehen oder gewürdigt, obwohl die Texte, die sie hervorbrächten, außerhalb der Kanz­ lei hoch geschätzt wären.66 Das emotionale Gesuch des ältlichen Rosenbergers um Respekt durchfärbte die Tische und Bänke der Kanzlei mit seinen morali­ schen Standards und sozialen Ängsten. Wie die Beschwerde des alternden Rosenberger zeigt, kann die Position von Möbeln innerhalb eines Raumes auch visuelle und räumliche Rhythmen etablieren, Routinen strukturieren, Zonen der Aktivität oder Inaktivität so­ wie Zonen des beschränkten oder direkten Zuganges erschaffen. In diesem Sinne gaben die Kanzleiordnungen regelmäßigen Kontakt zwischen den di­ versen Tischen der Kanzlei vor, wenn der (Vize-)Kanzler die eingehende Kor­ respondenz unter den Sekretären verteilte; die Sekretäre die Korrespondenz kommentierten und einordneten, Abschriften anfertigten und Entwürfe für Antwortschreiben dem (Vize-)Kanzler, Geheim- oder Hofrat zur Freigabe vor­ legten; wenn die Sekretäre (oder der Taxator) die freigegebenen Entwürfe an die Schreiber zur Ausfertigung weitergaben; wenn die Schreiber die ausgefer­ tigte Dokumente zum Abgleich und zur Korrektur wieder zu den Sekretären brachten; wenn die Sekretäre die Dokumente zur Revision, endgültigen Frei­ gabe und Unterschrift zum Geheim- oder Hofrat trugen; wenn die Dokumente dann zur Versiegelung, Besteuerung und Registratur dem Taxatoren vorgelegt 65  |  Bestimmte Stühle und Tische im Hofrat oder der Hofkammerratstube waren für höherrangiges oder älteres Kanzleipersonal reserviert. Siehe ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, passim; Herchenhahn, J. C.: Geschichte, S. 6–10. 66 | „So Jch gesehen, und noch sich, wie klain deren geacht wirdet, als mein und meines gleych[e]n, (den Secretarien zuegeben), die da hynnden sitzen, wie mit guetem vleys und trewen sy dienen und nit teglich in gegenwurt der herr[e]n erschienen, als die, die kaum das Prot zuuerdien[en] geacht werd[en], Auch so E. Mt. die ganntz Wellt vällig were jr niemant gedechte.“: Rosenberger Petition, NÖK, 6 f. 447–448.

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wurden; und wenn sie dem Türhüter-Kanzleidiener übergeben wurden, der sie an Bittsteller übergab oder in der Poststelle ablieferte.67 Dem Eindruck von Bewegung und Aktivität, den die Hofkanzleiordnun­ gen vermitteln, stehen jedoch die Wahrnehmungen der Kanzleischreiber von vielen, in relativer Bewegungslosigkeit verbrachten Stunden entgegen. Die niederösterreichische Hofkammerkanzlei benutzte das Verb „sitzen“ sogar als Metapher für „Dienst“: Sie riet Ferdinand, eine Pension für ihren kranken Buchhalter zu autorisieren, der „alda bey der Chamer in Raittungen gesessen […] hat“, da seine „leibs swachhait unnd Kranckhait“ eine Fortsetzung seiner Tätigkeit unwahrscheinlich machten.68 In ihren Petitionen für zusätzliche Un­ terstützungen bedienten sich die Kanzleischreiber und Sekretäre zudem regel­ mäßig der Rhetorik des hohen Alters und der körperlichen Schwäche, mehrere führen ihre Leiden ganz besonders auf das lange Sitzen zurück. Der Hofkam­ merkanzleibuchhalter Lorenz Puecher stellte beispielsweise im Februar 1535 sein „taglich und all stund embsig sitzen […] alls Origo und Ursprung“ seiner „Leibsswachait“ dar.69 Obwohl die Bänke, auf denen Puecher saß, mit grünem Tuch gepolstert wa­ ren, glaubte er, dass die Haltung, in die der Schreibtisch ihn zwang, seiner Ge­ sundheit geschadet habe. Zeitgenössische Schreibmanuale wiesen Schreiben­ de an, eine gesunde Haltung und gesunde Bewegungen am Schreibtisch ernst zu nehmen.70 Um Anstrengungen zu vermeiden, konnten tragbare Schreib­ tischaufsätze mit einer verstellbaren schrägen Oberfläche auf der Tischplatte befestigt werden. Prandts Abrechnungen enthalten drei solcher Aufsätze, al­ 67 | Für den Reichshofkanzlei-Geschäftsgang, siehe Gross, L.: Reichshofkanzleim, S. 143ff. In der Hofkammerkanzlei wurden eingehende Korrespondenz und das Individuum, dem diese zugeteilt wurde, in ein Protokoll eingetragen („Gedenkbuch“– im Weiteren: GB – genannt): siehe FHKA, Hoffinanz, Protokollbücher, 1531–1749. 68  |  Niederösterr. RaitCamer Räte an Ferdinand, Wien, 8. Juli 1531, NÖK, 5 f. 260–261. 69 | NÖK, 7 f. 35–36. Vgl. ebd. 3 f. 366; Michel Schwaiger CamerSecretarj Supplication, ad 12. Juni 1533, ebd. 6 f. 118–119; Jörgen Diemers Niederösterr. Camersecretarj Provision, 5. Dez. 1528, GB 31 f. 255 r ; Georg Diemer Camersecretari Bestellbrief, 15. Juni 1531, GB 33 f. 155v ; Mathias Rorwolf supplication, 8. Juli 1531, NÖK 5 f. 260– 261; Matheus Rorwolf provisionbrief, 1. Okt. 1531, GB 3 f. 172 v ; Michel Schwaiger Ratstitl, 5. Juni 1534, GB 40 f. 117v ; Lorenz Puecher Beuelh, 13. Aug. 1533, GB 40 f. 169 r ; Johann May u. Panthaleon Vogt supplication, NÖK, 3 f. 366. 70  |  Bales, P.: Writing Schoolemaster, Kap. 4, riet „the best and easist writing is vppon a deske, for the better auoyding of too much stooping, whereby your health may be impaired“, und empfahl, dass dem Schreiber: „place your body right forward, as it shall be most seemely and easie for you; and turne not you head too much aside, nor bed it downe too lowe, for auoyding of wearines and paine: and for such as haue occasion to sit long, we would wish them to sit soft, for their better enduring to write […]“.

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lerdings alle für die Ratsstube und nicht für die eigentliche Kanzlei. Als weite­ res Anzeichen eines höheren Status erhielten der Hofkämmerer und die zwei Hofkammerräte zudem eigene Tintenfässer (Schreibzeuge) an ihren Tischen.71 Die Sekretäre, der Registrator-Taxator und die Schreiber mussten sich mit weitaus nutzenbetonteren Schreibgeräten begnügen: In den Rechnungen der Hofkammerkanzlei finden sich hauptsächlich hölzerne Tintenfässer.72 Hölzer­ ne Tintenfässer waren sehr brauchbar, obwohl die Tinte anders als in Zinnfäss­ chen dazu tendierte, einzutrocknen oder zu verklumpen, ein Umstand, der sie schwärzer werden ließ.73 Mindestens einmal die Woche musste der Kanz­ leidiener die Tintenfässer und Radierpulvertöpfe auffüllen, die Tintenfässer putzen, falls sie schmierig geworden waren, und jeden Tisch nach Bedarf mit Papier, Pergament, rotem Wachs und Schnur ausstatten.74 Er führte auch Buch über die Radierer oder Scheren, die in Zellers Abrechnungen erwähnt werden, sowie über die Strafpuchse, in die unpünktliche Kanzleischreiber eine kleine Strafe entrichten mussten.75 Federkiele hingegen wurden als so banal und austauschbar betrachtet, dass sie in den Dokumenten übergangen wurden, wohingegen Federmesser, die zur Vorbereitung und beständigen Zuschneidung der Federn unentbehrlich waren, vermutlich eher privat als von der Kanzlei angeschafft und besessen wurden. Derartiges Schweigen in Prandts oder Zellers Abrechnungen tut je­ doch der Tatsache keinen Abbruch, dass die Schreibfeder ein zirkulierender Gebrauchsgegenstand war, der für die Arbeit auf Vorrat vorhanden sein muss­ te. In den Hofzahlamtsbüchern finden sich Hinweise darauf, dass der Hof­ 71  |  Prandt Rechnungen: „Erst zu Augspurg umb drej scriptoral in der herrn hofchamerrät Ratstuebn, 21 kr.“ [Aug. 1530], 14v ; „Vmb zwen Schreibzeug auff der herrn hofchamerräte tisch, 88 kr.“, [Linz, Aug. 1531], 40 r. Zeller Rechnungen: „dem herrn Zottn in sein Zimer kaufft ain frey Schreibzeug […] drey kr. zwen Phening.“ [Speyer, 18./25. Febr. 1542]. 72 | Prandt Rechnungen: „Vmb 4 holzene dintenfässl, 8 kr.“ [Linz, Febr./März 1531], 33 v ; „Vmb funf hilzene dinttenfässl, 9 kr.“ [Linz, Aug. 1531], 40 v. Vgl. „Umb dinten und dintennfässl, 5 kr.“ [Mainz, Nov./Dez. 1530], 17v ; „Vmb ain dinten kriegl [krüegl], 2 kr.“ [Regenspurg, Febr./März 1532], 53 v. Zeller Rechnungen: „Vmb Tinntn, thintn kruegl, und Scherbl geben vier kr.“ [Speyer, 4. Febr. 1542], 303r ; „Vmb Thinntn, thintn kruegl und scherbl, geben Sechs Creuzer“ [Prag, 6./10. Mai 1542], 310 v. 73 | Palatino, Giovambattista: Libro nelqual s’insegna à Scriuer […], Rom 1550, „De gli instrumenti“. 74 | Uffenbach, J. C. von: Tractatus, S. 78. 75 | Zeller Rechnungen: „Vmb ain Rodierer geben drej Creuzer“, „Vmb ain Schär geben zehen kr.“ [Speyer, ca. 4 Febr. 1542], 303r. Zur Strafpuchse: ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 302 (Anm. 18 § 40). Die Erträge wurden unter dem Kanzleipersonal geteilt, wenn die Bibalia verteilt wurde.

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kammerkanzleitaxator in Wien, Nürnberg, Prag und anderen Städten fertig zugeschnittene Federn einkaufte; während Ferdinands Hofstaat spätestens seit 1545 einen professionellen Federmacher einschloss.76 Ironischerweise wis­ sen wir mehr über Federn aus Schreibtraktaten, wie Gerard Mercators BestSeller Literarum latinarum […] (Antwerpen 1540) oder Libellus valde doctus […] (1549) des Schweizer Schulmeisters und Stadtschreibers Urban Wyss, als von Artefakten, da so wenige Federn überdauert haben. Und doch waren Federn, als Objekte, die in alltäglichen, repetitiven Gesten und Aktivitäten verwendet wurden, mehr als nur funktional. Die Feder wurde mit moralischen Kategori­ Abbildung 1: Korrektes und fehlerhaftes Zuschneiden der Feder, fehlerhaftes Halten der Feder. Man beachte den tintigen Finger­ abdruck auf dem rechten Bild, der auf Gebrauch hinweist.

Quelle: Gerhardus Mercator: Literarum latinarum [...] (Antwerpen 1540).

en aufgeladen: Zeitgenössische Schreibtraktate vermittelten ihr Wissen darü­ ber, wie die Feder vorzubereiten und zu führen war, mit Begriffen wie „gut“, „linkisch“ oder „wohlbeherrscht“ (Abb. 1). Die Feder und die wiederholten klei­ nen Rituale ihres Zuschneidens dienten somit als Site inkoporierter Schreib­ expertise; die gut zugeschnittene Feder kommunizierte die Ansprüche ihres Benutzers auf professionellen Schreiberstatus.77 76 | HZAB, 1, 183 r ; „Petter von Peszue Federmacher“ [Aug. 1545–Dez. 1546], HZAB, 5, f. 362r ; „Petern von Fressue, Romischer Khu. Mt. etc. Federmacher“ [Dez. 1551–Juli 1552], HZAB 8, f. 495 r ; Peter Hallers Federeinkäufe für Maximilian II als König von Böhmen in Augsburg, Jan.–Apr. 1551, NÖHA, W61/a/36 f. 420 v, 431r u. 449 v ; „Frantzen Parman federmacher fl. 15“ [Juni 1566]: ebd., W61/a/37 f. 136 v. 77  |  Siehe etwa Johann Rosenberger von Merans Behauptung dass „Jch auch kain annder Handwerch kan, dan das damit Jch E. Maie-t. gedientt und noch diene, daruon mir

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Da nur eine geringe Zahl an Kanzleimobiliar oder Schreibgegenständen bis heute überlebt hat, erlauben uns zeitgenössische Abbildungen von Schreibstu­ ben, ihre idealisierten Repräsentationen von Räumen mit unseren textuellen, aber dekontextualisierten Zeugnissen zu vergleichen. Wie Leora Auslander dargelegt hat, können visuelle Repräsentationen dem Historiker wenigstens einen mittelbaren Zugriff auf die Beziehungen zwischen Objekten verschaffen sowie gewisse Möglichkeiten, sich vorzustellen, wie sie verwendet wurden.78 Der Libellus valde doctus des Schweizer Stadtschreibers Urban Wyss von 1549 begann beispielsweise mit einem Holzschnitt – in manchen Editionen ist die­ Abbildung 2: Urban Wyss, Libellus valde doctus [...] (Zürich 1549), Tafel 33

Quelle: Zentralbibliothek Zürich, Res 967,2.

ser in rot oder gelb handkoloriert –, der einen Schreiber bei der Arbeit darstellt (Abb. 2).79 Das Zimmer wird durch vier tief ausgebuchtete Fenster gut erleuch­ tet, die mit kleinen runden Scheiben verglast sind; die untere Hälfte kann geöffnet werden, um frische Luft hereinzulassen. Im rechten Winkel zu den Fenstern stehen zwei stabile, unbezogene Holztische an der Wand. Vor dem ainicherlay nutzlichait und zuepuess erwachsen mochte“, in einer langen Supplikation auf (übergroßem) königlichem Papier [ad 29. Juli 1534], NÖK, 6 f. 447v. 78 | Auslander, L.: Beyond Words, S. 1025. 79 | Der Libellus valde doctus lehnte sich stark an den Libro nuovo d’imparare a scrivere tutte sorte lettere antiche et moderne di tute nationi […] (Rom 1540) des in Kalabrien geborenen römischen Bürgers, professionellen Kalligraphen und Akademiemitglieds Palatino an sowie an Mercators Literarum latinarum (Antwerpen 1540) aus demselben Jahr.

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linken Tisch steht eine gepolsterte Holzbank. An den Wänden zur Rechten und zur Linken stehen gepolsterte Sitzbänke, die mit dicken Kissen ausgelegt sind, ihre hohen Rückenlehnen laufen in ein dekoratives Wappen über dem Kopf des Schreibers aus, auf der linken Seite steht ein Bücherregal. Der Schreiber verwendet ein verstellbares Pult, eine Feder, ein Federmesser und ein Tintenfass; auf dem Tisch gegenüber sieht man zusätzliche Schreib­ utensilien, die präsentiert werden: einen Becher mit Federn in unterschiedli­ chen Stadien der Zuschneidung, einen Kompass, ein Lineal, ein Federmesser, eine Federtasche und etwas, das wie ein Flintstein aussieht (?), einen Topf mit Radierpulver und eine Sanduhr. Über dem Tisch hängt eine Schere. Abgese­ hen von der absichtlich ungeordneten Präsentation von Schreibinstrumenten ist die Szene friedlich und papierfrei, was einerseits auf geschäftige Kanzlei­ bänke hindeutet, die einen Moment lang verwaist sind, andererseits auch auf den idealisierten Schreibraum eines kleinstädtischen Stadtschreibers. Das möglicherweise bekannteste Bild einer frühneuzeitlichen deutschen Kanzlei stammt aus dem bemerkenswerten Trachtenbuch des Fugger-Buch­ halters Matthaeus Schwarz, einer Sammlung von 137 Tuschzeichnungen auf Pergament, die Schwarz zu seinem 23. Geburtstag 1521 beim Augsburger Maler Narziss Renner in Auftrag gab, um seine Kleider und die wichtigsten Momente seines Lebens darzustellen.80 Das 28. Bild erinnert an den ersten Arbeitstag des 19-jährigen Schwarz als Buchhalter in der so genannten „Gol­ denen Schreibstube“ des Kaufmanns Jacob Fugger auf dem Rindermarkt in Augsburg. Die reichen Farben des Originals in Braunschweig zeigen Schwarz vor Fugger sitzend, auf einem dreibeinigen Hocker an einem einfachen Tisch mit gedrechselten Beinen und einer mit grünem Fries bezogenen Oberfläche (spätere Kopien aus dem 18. Jahrhundert bilden den grünen Bezug des Tisches nicht mehr ab). Unter dem Tisch befindet sich ein Haufen verworfener oder heruntergefallener Papiere, während auf dem Tisch zwei pergamentgebunde­ ne, verschlossene Abrechnungsbücher liegen sowie ein Pult, worauf ein ge­ öffnetes Rechnungsbuch liegt. Schwarz hält eine Feder in der Hand. Seine Kleidung könnte auf einen kühlen Raum hindeuten angesichts der Tatsache, dass das Banner über Schwarz’ Kopf die Inschrift Januar 1517 trägt; könnte aber ebenso gut Schwarz’ Anliegen repräsentieren, ein modisches geschlitz­ tes Doublet, Kniestrümpfe, einen verzierten Hemdkragen und einen warmen Pelzmantel zur Schau zu stellen. Obwohl die „Goldene Schreibstube“ min­ destens 50 Quadratmeter groß war, konzentriert sich das Trachtenbuch nur 80 | Siehe besonders Groebner, Valentin: Inside Out: Clothes, Dissimulation, and the Arts of Accounting in the Autobiography of Matthäus Schwarz, 1496–1574, in: Representations 66 (1999), S. 100–121; Rublack, Ulinka: Dressing Up: Cultural Identity in Renaissance Europe, Oxford 2010.

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auf Schwarz; der einzige Hinweis auf einen größeren Raum besteht in dem übergroßen Aktenkabinett hinter ihm, auf das Fugger mit der Hand deutet. Die sorgsam beschrifteten Schubladen bieten eine visuelle Karte des Handels­ imperiums der Fugger und wurden vermutlich weniger zugunsten der realis­ tischen Abbildung eingefügt, sondern um das Prestige und die Verantwortung von Schwarz’ neuem Posten zu unterstreichen. Während Wyss’ Schreiber in nahezu papierloser Ruhe arbeitet, deuten die Papierfetzen zu Schwarz’ Füßen auf das imminente Potential für Unordnung hin, welches der tägliche Umgang mit Papier in der Kanzlei vorhielt. Markus Friedrich hat uns kürzlich daran erinnert, dass Wissen in seiner materiellen Form nicht nur unhandlich und unpraktisch war, sondern auch fragil und leicht zu verlieren; komplexe kulturelle Techniken und materielle Ausstattun­ gen waren vonnöten, um das Überleben von Dokumenten zu gewährleisten, genauso wie die weitere Nutzbarkeit der in ihnen enthaltenen Informatio­ nen.81 Genrebilder vom anderen Ende des Habsburger Reiches, etwa Pieter d.J. Brueghels Die Ablieferung des Zehnten von 1615/22, kosten die bildlichen Mög­ lichkeiten des materiellen Chaos und Dokumenten-Wirrwarrs in der frühneu­ zeitlichen Kanzlei aus (Abb. 3). Brueghel bildet eine Ansammlung von Bauern ab, die einem Magistraten ihren Zehnten entrichten wollen, welcher auf einem Abbildung 3: Pieter Brueghel der Jüngere: Die Ablieferung des Zehnten, 1620/40. Öl auf Holz.

Quelle: USC Fisher Museum of Art, Los Angeles, Armand Hammer Collection. 81 | Friedrich, M.: Geburt, München 2013, S. 160.

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erhöhten Stuhl vor einem mit Papier beladenen Tisch sitzt; Papiere fallen un­ bemerkt auf den schmutzigen Boden und wirbeln um die Füße der Steuerzah­ ler. Auf allen Oberflächen stapeln sich unordentlich Papiere, die Wände sind mit zusammengehefteten oder -gebundenen Papieren gesprenkelt, außerdem mit Bündeln von ledernen Dokumentenbörsen, die aussehen wie Bünde über­ reifer Trauben. Im Hintergrund sitzt ein fleißiger Buchhalter an einem über­ quellenden Schreibtisch beim Fenster, hinter ihm steht ein Aufgebot genauso überforderter Organisationshilfen, Schränke, Haken, Riemen, Schnüre und weitere beschriftete Ledersäcke in unterschiedlichen Farben und Größen.82 Nur wenige Beispiele frühneuzeitlicher Aktenhilfen, wie sie in Brueghels Ge­ mälde zu sehen sind, haben jedoch bis heute überlebt. Die Kanzleiordnungen von 1526 zeigen deutlich die Sorge, dem Papierkrieg nicht mehr Herr zu werden. Dokumente mussten entsprechend gelagert wer­ den, „damit wan man deren notturftig, das dieselben leicht und bald zu finden sein“.83 Die Hofkammerkanzlei reagierte, indem sie sowohl virtuelle als auch materielle Technologien entwickelte, um lose Dokumente in ihrer ursprüngli­ chen Zirkulation durch die Kanzleikammern zu verwalten. Dokumente wur­ den nicht nur in robusten Kodizes verzeichnet, sondern auch mit materiellen Mitteln auf bewahrt und organisiert, etwa mit Bindfaden und beschrifteten Lederbörsen und -säcken, mit Schubladen und Kisten. Bindfaden (Spagat) ist eine häufige Ausgabe in den Kanzleirechenbüchern, sie wird getrennt von den Kordeln (Strickh) geführt, die verwendet wurden, um die Kisten auf den Wagen festzuschnüren, sowie von der Seidenschnur, mit der Siegel befestigt wurden. Der Kanzleidiener war damit beauftragt, den Bindfaden auf Spulen zu wickeln und die Tische der Sekretäre und des Registrator-Taxators gut damit bevorra­ tet zu halten.84 Der Bindfaden konnte dann verwendet werden, um mehrere 82 | Die Bindfäden der Dokumente im Gemälde geben einen Hinweis auf die Etymologie des englischen Wortes „file“, welches sich von dem lateinischen „filum“ oder Faden ableitet. Siehe den Blogeintrag der Folger-Kuratorin Heather Wolfe: „Filing, Seventeenth-Century Style“ [28. März 2013], http://collation.folger.edu/2013/03/filingseventeenth-century-style/ vom 28. Dez. 2013. 83 | Ferd. I. 1526, in ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 92–94. 84 | Pranndt Rechnungen: „Am 13 Augusti [1530, Augsburg] umb spagat, xy kr.“, „Am 25 augusti [1530] p[er] acht scheibn spagat viij kr.“, 14 v ; „Am 11 Septemb[e]r [1530] umb spagat, xvj kr.“, 15 r ; „Umb xx scheibn spagat, xx kr.“ [22./26. Okt. 1530], 15v ; „Vmb x. scheiben spagat, xy kr.“ [Köln, Dez. 1530], 18 r ; „Januarius [1531] zu Colln umb Spagat, vj kr.“, 211r ; „Nordlingen am 31 January umb spagat, vj kr.“, 212r ; „Umb zwo scheiben spagat, ij kr.“ [Jihlava, Aug. 1531], 209 r ; „umb spagat, viij kr.“ [Regensburg, 1532]. Zeller Rechnungen: „Am xxij Marty [1542] umb zwo Scheiben Spagat geben drej Creutzer“ [Speyer], 307v ; [Am xj Aprilis 1542] „Umb Spagat drey Creutzer“ [Speyer], 309 r ; „Umb Spagat drey Creutzer“ [Prag, 15. Mai 1542], 311r. Vgl. HZAB, 7 f. 182 v [1549].

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zusammenhängende Dokumente in der oberen linken Ecke zusammenzu­ nähen, um Säcke zu verschließen oder um Stapel von Papieren zu Bündeln zu verschnüren. Obwohl Zellers Rechnungen „ain Messerl zum brief zueste­ chen“ einschließen, scheinen Lederbeutel, Schubladen und Bündelschnürung wesentlich typischere Ablagepraktiken in der Kanzlei gewesen zu sein als das Durchstechen und Zusammennähen von Dokumenten.85 Eingehende Korrespondenz wurde zunächst in eine Reihe von Ledersäcken einsortiert. Wie Bindfaden waren auch die billig zu erwerbenden Lederbeutel regelmäßige Kanzleiausgaben. Dies lässt nicht nur auf die intensive Benut­ zung der Säcke rückschließen, sondern auch auf die logistischen und materi­ ellen Herausforderungen, die die sichere Weiterbearbeitung, Organisation der Zugänglichkeit und Einsehbarkeit sowie Archivierung der anwachsenden Pa­ piermassen bedeuteten, wenn die Kanzlei sich auf Reisen und in Übergangs­ quartieren befand.86 Säcke waren nicht nur relativ günstig, sondern auch leicht zu beschaffen, gut zu handhaben, problemlos zu packen und zu transportie­ ren. Man konnte sie an den Wänden und an der Decke aufhängen, was den zu­ sätzlichen Vorteil in sich barg, dass kein Ungeziefer sie erreichen konnte. Ob­ wohl Säcke im Gegensatz zu Regalen oder Vitrinen nicht erlaubten, dass man ihren Inhalt mit einem Blick erfasste, waren die Kanzleiordnungen, wie wir gesehen haben, eher darum besorgt, die Verbreitung von Informationen ein­ zuschränken und zu kontrollieren; die Undurchsichtigkeit der Säcke schützte deren Inhalt vor eventuellen neugierigen Blicken. Und wenngleich einzelne Säcke nicht ideal sind, um Dokumente untereinander in guter Ordnung zu halten (es sei denn, die Dokumente werden als bindfadenvernähte Pakete in den Sack gelegt), ermöglichen Sets von Säcken doch die Differenzierung und Kategorisierung von Dokumenten. Zudem konnten diese Sets nach Bedarf „Zu der Secretari, Taxator und Registrators Tisch sol er jederzeit Spaget (oder Bindgarn) ordnen, die grossen Knewl, wann er zeit hat, und sonst nichts absäumbt, abwinden, und nicht warten biss man die fordere, […] versehen.“: Uffenbach, J. C. von: Tractatus, S. 78. 85 | „Jdem vmb ain Messerl zum brief zuestechen, geben vier Creuzer“ [4. Febr. 1542, Speyer]: Zeller Rechnungen, 303 r. 86 | Prandt Rechnungen: „Vmb ain Scatl, etlich genötig brief darein zelegenn und zuuerwaren, 6 kr.“ [Mainz, Nov./Dez. 1530], 17v ; „Noch umb iij schwarz Carnir ain p[er] 6 kreuz[er], 18 kr.“ [Prag, Juli? 1531], 39 r ; „Vmb zwen Carnir, 6 kr.“ [Linz, Aug. 1531], 41r ; „Noch vmb zwen charnir, 14 kr.“ [Innsbruck, Jan./Febr. 1532], 53 v. Zeller Rechnungen: „Am achzehenden tag february [1542] umb ainen weissn karnier, darein der Her Thunckl etlich auszug und annderschrifftn gelegt, geben vier kr.“ [Speyer], 304 r ; „Am freitag den drittn Marcj auf des h[err]n Zottn und Tunckhl beg[er]n umb zwen Swarz karnier zum Schrifftn geben vierzehen Creuzer“ [Speyer, 1542], 305 r ; „Jdem am 20 May [1542] auf h[err]n Kefenhüllers beuelch, umb vier karnier zum schrifftn, zwen Swarz und 2 weiss, geben funfzehen Creuzer“, [Linz], 312 v.

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ohne signifikante Eingriffe erweitert oder verkleinert werden (Eingriffe, die zum Beispiel bei einer Kommode notwendig wären) – ein wichtiger Faktor für eine finanziell eingeschränkte und beständig wandernde Institution, die mit einer schweren Last an Papier fertig werden muss. In der Hofkammer­ kanzlei wurden Dokumente daher in elf Ledersäcken organisiert, die „zu denn teglichn sachn“ an die Deckenbalken gehängt wurden.87 Die zeitgenössischen Hoffinanzprotokolle – laufende Register eingehender Korrespondenz, ihrer thematischen Kategorisierung und Bearbeitung – ma­ terialisieren die komplexen und verwickelten Arbeitsvorgänge, in denen sich die Aktenablage der Hofkammerkanzlei vollzog, und illustrieren für uns, wie Dokumente zwischen den hängenden Kanzleisäcken verteilt wurden.88 Jedes der frühen Protokolle beginnt mit einer Übersicht der im Buch auftretenden Rubriken, von denen wiederum jeder eine entsprechende Beschriftung auf ei­ nem der an der Wand hängenden Ledersäcke zugeordnet ist: R für Reichsange­ legenheiten, B für Böhmisch, O für Österreich, T für Tirol und Vorderland, W für Württembergisch, F für finanzielle und hof bezogene Angelegenheiten, K für Militärfragen, und V oder H für Ungarische Belange, zudem gibt es eigene Säcke für „Parteisachen“, Fragen, die dem König direkt vorzulegen sind [ad Re­ gem], und Kopien.89 Verschiedene Farben dienen zur weiteren Unterscheidung der Säcke: Die Abrechnungen erwähnen sowohl schwarzes als auch weißes Leder (weißes Leder ist wahrscheinlich Ziegen-, Schafs- oder Wildleder). Wenn die Kanzlei einpackte, um dem Hof auf seinem Zug zu folgen, wur­ den die Säcke zum besseren Schutz in die Kisten gelegt. Die Kisten, in denen sie gelagert wurden, waren wahrscheinlich etikettiert, um ihren Inhalt anzuzei­ gen, was das Wiederfinden von Dokumenten und Registern erleichterte. Frühe Inventare dessen, was das Kanzleipersonal auf Züge mitnahm, beschreiben mit Buchstaben, Nummern oder Symbolen gekennzeichnete Kisten. Zudem forderte die Kanzleidienersordnung, dass der Kanzleidiener jeden Schlüssel in seinem Besitz (zwei für jede Kiste) mit einem entsprechend der Nummer der 87 | Prandt Rechnungen: „Am 13 May [1531] dem dischler von zwaien leisten in Cannnzlej daran dj Charnier zu denn teglichn sachn gehenngt werdn“, 38 r. 88 |„Unser expeditor […] solle […] die supplicationes, sendschreiben, bericht und ander schriften, wie sie täglich im rath erledigt […], alle tag auf das baldist so es sein mag, in sein ordinari puech einschreiben und solches einschreiben keineswegs von ainen tag auf den andern verschieben noch in die säck oder puschen verlegen. Er soll auch in seinen einschreiben dermassen ordnung halten, dass jede sachen an das ort, da es hingehört, gelegt und was für schriften oder handlung gefordert werden, dass er dieselb fürderlich wisse zu finden.“: Max II 1564, ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, S. 310f. (Anm. 19 §11–12). 89 | „Alle sachen sollen unnderschiden und in die Sekh. so wie hernachuolgt bezaichent gelegt, und Monatlich ausgetaillt werd[en]“: FHKA. Hoffinanz, Protokolle 180 (Exp. 1531), f. [2].

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Kiste bezifferten Pergamentschild versehe; wenn die Kanzlei abgebaut wur­ de, musste dieser Schlüsselbund selbst in einer verschlossenen Kiste verstaut werden, so dass der Kanzleidiener nur zwei Schlüssel bei sich tragen muss­ te.90 Einige Kisten waren in Schubfächer unterteilt, von denen jedes mit einer Nummer oder einem Buchstaben entsprechend den Dokumentenkategorien in den Registraturbüchern bezeichnet war – welche, wie wir gesehen haben, die Kanzlei in ihren eigenen, gut gesicherten Kisten begleiteten.91 In anderen Kisten wurden spezifische Dokumentsammlungen in eigenen Beuteln oder Bündeln gelagert. Die Hofkammerprotokollbücher gaben vor, dass die Säcke am Ende eines je­ den Monats geleert werden müssten. Was dann mit den Dokumenten geschah, kann aus der Hofkanzleiordnung von 1526 geschlossen werden, die ausformu­ lierte, dass alle Supplikationen, Sendschreiben und andere Schreiben, die am Ende eines Monats in der Hofkanzlei verblieben, in „Monatsladen“ abzulegen wären, „damit wan man deren notturftig, das dieselben leicht und bald zu fin­ den sein“. Die segmentierten Aktenschränke in Schwarz’ Schreibstube hatten ebenfalls ihr Pendant in der Hofkanzlei und, wie Prandts Abrechnungen na­ helegen, auch in der Hofkammerkanzlei – zumindest dort, wo die Kanzlei für eine längere Zeitspanne untergebracht war. Als Prandt im April 1531 in das Haus des Prager Domherren einzog, konnte er kostenlos einen Satz Schubfächer von der böhmischen Hofkammerkanzlei ausborgen, musste jedoch sechs neue separate Schubfächer kaufen, um die quantitativen und ontologischen Ablage­ vorgaben der Hofkammerkanzlei zu erfüllen.92 Wie die Säcke waren auch die 90 | Uffenbach, J. C. von: Tractatus, S. 79. 91 | Als Beispiel zu den Schatzbriefen: Österr. Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Alt Archivbehilf [AB] 333/5; Zahlung an Primus Juras schreiber bey d. Niederösterr. RaitCamer in ansehn seines vleiss so Er mit den Robrikh[e]n zuschreiben auf die Cässtn darJnn die Schatzbrief ligen gethan, Sechs ellen lindisch tuech, Wien, 27. Aug. 1527, GB 24, f. 124 v ; Zerung für Juras und andere „in die Newstat zu aufrichtung d[er] Registratur Cässten daselbst“, Wien, 28. Sept. 1528, GB 24 f. 152r. Zu den Kanzleipapieren: „Verzaichnus deren Acta vnnd Schrifften so Jtzo alhie zu Prag bey der Kay-n Registratur zu befinndenn. […] Erstlich Jn der Truhen mit N.o 6. […]“, AB 123 f. 1–6 [1578]; für die Kammerkanzlei: [101v] „Hernach begriffen die Reuers unnd verschreibungen so in weilenndt Kaiser Maximilians hochloblicher gedechtnus Registratur uberantwort worden sein, die in der lanngen grossen truchen mit  gemergkht ligen welhe truhen ledl in hat, mit den puech staben des alphabets bezaichent, unnd volgen erstlich hernach die Reuerss unnd verschreibungen, So in dem ledlin mit A gemergkht ligen […]“: „Herr Jacob Villingers Quittung umb allerlay schrifften und brieflich Urkhunnden“, GB 29 f. 92r ff. 92 | Prandt Rechnungen: Prag, Apr./Mai 1531: „die laden so verpraucht worden sein von der Behaimischn chamer dargegeben“, 37r ; „Noch umb 6. Laden die ich in sonnderhait darzue khauffenn muessen, 56 kr.“, 37v.

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Monatsladen vermutlich zu Organisationszwecken außen beschriftet, bewahr­ ten jedoch ansonsten ihren Inhalt vor unberechtigter Betrachtung, Verlust oder Schaden. Alle sechs Monate oder einmal im Jahr, oder auch, wenn der Hof zu einer königlichen Residenz zurückkehrte, konnten die Materialien in den Monatsladen als Dokumentenbündel konsolidiert und in Truhen in den feuer­ sicheren Gewölben eingelagert werden.93 Das regelmäßige Zusammenbinden von Dokumenten mit Bindfäden („fein sauber“) wurde in den Kanzleiordnungen in moralischen Begriffen geschildert, als eine tugendhafte Praxis, mit der Un­ ordnung bekämpft wurde.94 Während die Säcke, Schubfächer und Kisten, die die Kanzleipapiere struk­ turierten (oder zumindest mit dieser Absicht eingesetzt wurden) in den meis­ ten Fällen schon vor langer Zeit verschwunden sind, sind die Papiere selbst noch erhalten. Für die Erhaltung bestimmter Objektkategorien wurden somit viele Anstrengungen unternommen, für andere jedoch nicht: für bedrucktes Pergament, doch nicht für besticktes Leder, für beschriebenes Papier, jedoch nicht für getischlertes Holz. Wie te Heesen beobachtet hat, bedeutet das Ord­ nen und Auf bewahren in Behältnissen eine Übung in Wertmanagement.95 93 | Das „Verzaichnus Aller Acta Schrifften unnd Hanndlung so bey der Kay n Registratur […] zu Prag zubefinden“ [1578] listet Gegenstände entsprechend der nummerierten Kiste auf und zeigt, dass in jeder Kiste Bündel als Faszikel oder im Sack gelagert werden konnten, oder beides, z.B.: „N. 7 […] Jtem Lifflendisch und Moscowiterisch handlung, Jn einem Carnier unnd Fascicul“ AB 123, f. [1–6]. 94 | „soll auch der registrator […] die monat- oder einzigen copeien fein sauber zusambengebunden auch in neue sauber ort austhailen.“: Max. II 1564, ÖZV, Abt. 1, Bd. 2, 310 (Anm. 19 § 8). Viele Faszikel von Hofkammerkanzleidokumenten im Wiener Finanz- und Hofkammerarchiv sind mit der Jahresangabe und beispielsweise der Bemerkung „Nota sein zween Puschen“ oder „Nota ist nur ain Puschen“ etikettiert, was impliziert, dass der Registrator der Anweisung folgte, alle sechs Monate Dokumente für die Ablage zu bündeln, z.B.: NÖK, 5,2 f. 1; ebd. 6 f. 1, 237; ebd. 7,2 f. 1; ebd. 8,1. Falls die Dokumente weiterhin alltäglich benutzt wurden, wurden sie nicht immer archiviert: Siehe den Kommentar des Kämmerers von 1531, dass „disen putschl nachdem man das gantz 31 Jar auf die ost[erreichisch] Camer geantwort und man aber dass taglich bedurfftig hab ich Jne da behalten“, in FHKA, Protokollbücher, 180 f. [150]. Siehe auch „Quittung Copeyen allerlay brief, So Jacob Villinger in verschinen Jaren In Namen und von wegen weillendt Kayser Maximilian hochloblicher gedechtnuss gemacht und neben der Registratur und anndern Schrifften zu Ku. Mt. Ertzherzogen zu ostererich etc. hannden zu Ynssbrugg ubergeben wirdet, und sein solh Copeyen in Butschen nach den Jaren und Monaten angeschnaist und eingetailt wie hernach volgt […]“, wo 1495–1500 in einem „Butsch“ zusammengefügt wurde, doch 1503, 1504, 1507, 1508, oder 1511 wurden jeweils durch elf „Butschen“ repräsentiert, mit einer Gesamtsumme von 149 zwischen 1495 und 1518: GB 29 f. 137r ff. 95 | Te Heesen, A.: World in a Box, S. 152.

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Die auf bewahrten Papiere, inklusive der in diesem Artikel verwendeten Zeug­ nisse, verkörpern auf materieller Ebene eine lange Reihe menschlicher Prak­ tiken des Erwerbs, der Entscheidungsfindung, der Artikulation, der Selektion, des Aussiebens und der Wertschätzung sowohl der Papiere selbst als auch der Säcke, Kisten, Bindfäden, Regale und Gebäude, in denen sie untergebracht wa­ ren. Die verschwundenen Ablagesysteme der Hofkammerkanzlei des 16.  Jahr­ hunderts wurden, ebenso wie ihre Schreibutensilien und Möbel, eher für ihre Funktionalität als für ihre Symbolkraft oder ihren repräsentativen Wert geschätzt. Von den Archivaren des 18. und 19. Jahrhunderts wurden die Abla­ gesysteme als weitestgehend austauschbar betrachtet, als schnell zu ersetzen, leicht außer Betrieb zu nehmen und wegzuwerfen, ohne dabei den Wert der in ihnen gesammelten und bewahrten Dokumente zu beschädigen.

5. S chluss Obwohl Historiker im Alltag häufig mit Kanzleidokumenten arbeiten, wurden die Schreibgeräte oder die Möbel, die benutzt wurden, um diese Dokumente herzustellen und aufzubewahren, doch schon vor langer Zeit weggeworfen. Kanzleimobiliar neigte eher zum Nützlichen als zum Dekorativen, war starker Abnutzung ausgesetzt und kannte zumeist keinen eindeutigen individuellen Eigentürmer oder Benutzer. Die oft vergessene Wandernatur der frühneuzeit­ lichen Kanzlei – unterstrichen durch die beharrliche Aufmerksamkeit, die die Reisekisten in den Abrechnungen des Hof kammerkanzlei-Taxatoren erhalten – bedeutete, dass die Räume, in denen die Kanzlei operierte, häufig nur tem­ porär waren, so dass für den Gebrauch der Kanzlei angefertigte Objekte später auf ganz andere Weise verwendet werden konnten, falls sie zurückgelassen wurden. Daher haben sich Kanzleimöbel bisher eher unserem historischen Bewusstsein entzogen. Besonders augenfällig ist die Unsichtbarkeit des Materials in der zumeist institutionellen Forschungsliteratur zu frühneuzeitlichen Kanzleien gewesen. Wie dieser Artikel jedoch aufzuzeigen versucht hat, kann ein besseres Ver­ ständnis der Räume, in denen Kanzleidokumente erstellt wurden, sowie der Objekte und Mensch-Objekt-Beziehungen, die die Dokumente formten und bewahrten, deren heutige Verwendung erleuchten und ihre Wertschätzung erhöhen. Kanzleimobiliar wie Tische und Bänke, aber auch Federn und Tin­ tenfässer materialisierten Netzwerke sowohl in der Kanzlei als auch außer­ halb, sie repräsentierten den Wettbewerb unter Angestellten genauso wie die Handelsbeziehungen zwischen Schreibwarenhändlern oder Apotheken und dem Kanzleipersonal. Der Schreiber-Rhetorik der schwindenden Sehfähigkeit wird Wahrheitsgehalt und ein gewisses Pathos verliehen angesichts regelmäßi­ ger umfangreicher Kerzenbestellungen, wie auch die grüngepolsterten Bänke

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Beschwerden über langes regloses Sitzen bezeugen; hingegen unterstreichen Mietbetten die enge Verbindung des sozialen Raums mit der Kanzlei als Ar­ beitsraum. Wie im Falle der aufhängbaren Säcke oder verschließbaren Türen und Kisten reflektierte die Kanzleiausstattung auch die Bemühungen der Be­ amten, die Normen, Erwartungen und Wertesysteme zu bedienen, die früh­ neuzeitlichen Institutionen durch präskriptive Ordonnanzen zugeschrieben wurden. Besonders die Aufmerksamkeit, die in den Abrechnungen des Hof­ kammerkanzleitaxators den Schlössern zuteil wird, unterstreicht die Bedeu­ tung, die frühneuzeitliche Beamte der Absicherung der öffentlichen Autorität und Integrität der Dokumente beimaßen. Eine Materielle-Kultur-Perspektive auf die Kanzlei stellt zwei Kategorien miteinander verwobener Fragen. Die erste, theoretische Frage möchte wissen, wie das Kanzleipersonal mit Objekten in Beziehung trat und mit ihnen in­ teragierte. Wie wir gesehen haben, waren Kanzleien nicht nur institutionelle Sites der Wissensproduktion, sondern auch mit physischen Artefakten ange­ füllte Räume – Artefakte, die die Handlungen und Interaktionen ihrer Benut­ zer strukturierten und die Normen und Praktiken der Kanzlei verkörperten (ebenso wie die Nichteinhaltung dieser Normen). Der Kanzleiraum und die physischen Objekte darin gestalteten die alltäglichen Operationen der Kanzlei, handelten ihre Beziehungen mit anderen Institutionen und Personen aus und verliehen dem institutionellen Gedächtnis eine materielle Form. Die zweite, methodologische Frage ist etwas komplizierter angesichts der Natur der Kanz­ lei als Herstellerin textueller Autorität. Sie betrifft die Interpretation der textu­ ellen Repräsentationen von Objekten, etwa der Abrechnungen des Hof kam­ merkanzleitaxatoren. Wenn eine der langanhaltendsten Debatten im Bereich der Materielle Kultur-Studien sich um die Beziehungen von Objekten zu ihren textuellen Repräsentationen dreht,96 so hat dieser Artikel sich bemüht, zu zei­ gen, inwiefern Textquellen wie die Rechnungsbücher und Ordonnanzen ge­ nau jenen Objekten historische Form und Bedeutung verleihen können, die benutzt wurden, um Texte zu produzieren, Texten Autorität zu verleihen und Texte zu erhalten. Tatsächlich können textbasierte Zugänge zu den materiellen Werkzeugen und Räumen der Textproduktion eben diese produzierten Texte wiederum in historische Netzwerke, Räume und Praktiken einschreiben. Wie schon Simplicissimus’ Sekretär schwärmt: Ein abgenutztes Tintenfass kann in der Tat äußerst erhellend sein. Übersetzung aus dem Englischen: Annika Raapke

96 | Siehe beispielsweise AHR Conversation: Historians and the Study of Material Culture, in: American Historical Review, 2009, S, 1355–1404.

„Ich schicke Dir etwas Fremdes und nicht Vertrautes.“ Briefpraktiken als Vergewisserungsstrategie zwischen Raum und Zeit im Kolonialgefüge der Frühen Neuzeit Dagmar Freist

1. A tl antische U nge wissheitsr äume Die Erschließung der Welt durch Handel, Mission, Entdeckungsreisen und Kolonialisierung in der Frühen Neuzeit bedeutete zugleich den Auf bruch in unbekannte Räume. Bereits die Reise in diese fremden Welten steckte voller Risiken und war verbunden mit der Ungewissheit, ob das Ziel je erreicht werden und den Imaginationen von dieser fremden Welt1 entsprechen würde. Auch prägten die nicht vertrauten naturräumlichen Gegebenheiten, extreme klimatische Anforderungen, fragile Körperlichkeiten, unsichere politische Konstellationen und die Erfahrungen von Nichtpassungen im Alltag eine Wahrnehmung, in der sich die Ungewissheit des Raumes als übermächtig ent­faltete. Entscheidungsgrundlagen und Handlungssicherheit, die in den Her­kunftsländern eingeübt worden waren, wurden im Kolonialgefüge entwurzelt und mussten in der Verwicklung der historischen Subjekte mit der Ungewissheit des Raumes, seinen eigenen Regeln und Zeitstrukturen2 präventiv und situativ-experimentell neu hervorgebracht werden. Die Einlassungen mit diesen Ungewissheitsräumen bedeuteten für die Menschen ein sich-aufs-Spiel-Setzen, sich Riskieren und Experimentieren – mit unsicherem Ausgang. Zugleich brachte dieses Techniken und Praktiken der Erzeugung von Gewissheiten, Orientierung und Ordnung hervor, in denen die Kontingenz und Risikohaftigkeit evident wird, 1  |  Gillis, John R.: Islands of the Mind: How the Human Imagination Created the Atlantic World, New York 2004. 2 | Bakhtin, Michail M.: Chronotopos, Frankfurt a. M. 2008.

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und die gewissermaßen die Voraussetzung dafür waren, in diesen Räumen überhaupt bestehen zu können. Diese Räume können in Anlehnung an Michel Foucault als „unwirkliche“ Heterotope verstanden werden, die in ihren soziomateriellen Gestaltungen zugleich als „wirkliche“, d. h. in der Gesellschaft „wirksame“ Orte antizipiert wurden und auf die man sich virtuell vorzubereiten hatte.3 Dazu gehörten elaborierte Reisevorbereitungen, die den Versuch darstellten, sich mit der Kultur der neuen Welt, Bräuchen und Gewohnheiten, klimatischen Verhältnissen und vor allem der Sprache vertraut zu machen.4 Materielle Zeugnisse dieser Vorbereitungen sind zum Beispiel unterschiedliche Verhaltensratgeber, so etwa die Abhandlung von Robert ­T homas, der dezidiert für Bewohner in „warm climates“ Hinweise für die häusliche Selbsttherapie bereitstellte und explizit „Useful Hints To New Settlers for the Prevention of Sickness“ anführte5, gedruckte Reiseberichte6 und schließlich eine explodierende Anzahl von Fremdsprachenbüchern und Grammatiken, die sich im Gepäck von Reisenden befanden und deren Gebrauchsweisen in Korrespondenzen dokumentiert werden.7 So beschreiben beispielsweise Mitglieder 3 | Foucault, Michel: Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. 5. durchges. Aufl., Leipzig 1993. 4 | Michael North: Genuss und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, Köln/Weimar/Wien 2003, insbes. S. 33–53; Nolde, Dorothea: Vom Umgang mit Fremdheit. Begegnungen zwischen Reisenden und ihren Gastgebern im 17. Jahrhundert, in: Rainer Babel/Werner Paravicini (Hg.): Grand Tour. Adliges Reisen und Europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Akten der Internationalen Kollo­q uien in der Villa Vigoni 1999 und im Deutschen Historischen Institut Paris 2000, Ostfildern 2005, S. 579–591; Peck Levy, Linda: Consuming Splendor: Society and Culture in Seventeenth Century England, Cambridge 2005, S. 125f.; Schwartz, Stuart B. (Hg.): Implicit Understandings. Observing, Reporting, and Reflecting on the Encounters Between Europeans and Other Peoples in the Early Modern Era, Cambridge 1994. 5 | Thomas, Robert: Medical Advice to the Inhabitants of Warm Climates, on the Domestic Treatment of all Diseases Incidental Therein: With a Few useful Hints to New Settlers for the Prevention of Sickness, London 1790, Titelseite. 6 | Burghartz, Susanna/Christadler, Maike/Nolde, Dorothea (Hg.): Berichten – Erzählen – Beherrschen: Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas (= Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 7, H. 2/3), Frankfurt a. M. 2003; Greenblatt, Stephen: Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1994; Harbsmeier, Michael: Wilde Völkerkunde: Andere Welten in deutschen Reiseberichten der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1994. 7 | In dem mehrere zehntausend Korrespondenzen, Rechtsakten und Bücher sowie Artefakte wie Notizbücher u. ä. umfassenden Bestand der sogenannten Prize Papers im High Court of Admirality (im Weiteren: HCA), National Archives, London, auf den sich

„Ich schicke Dir etwas Fremdes und nicht Ver trautes.“

der Herrnhuter Gemeinde, die sich in der Herrnhuter Mission in Paramaribo, Surinam, niedergelassen hatten, in ihren Briefen an Freunde und Familie detailliert nicht nur, dass sie eine fremde Sprache erlernten, sondern vor allem auch wie und aus welchen Gründen. „Ich wendete meine Zeit viel an, um mich mit der Sprache der Freyneger bekant zu machen, und ob es mir gleich etwa schwer zu seyn schien, profitirte ich durch abschreibung eines Wörterbuchs so viel, daß ich auf der Reise daß nötige verstehe, und mich deutlich machen konte.“8

Das Abschreiben von Wörterbüchern war eine weit verbreitete Lerntechnik zum Fremdsprachenerwerb auf Reisen, wie in der großen Zahl derartiger noch erhaltener Abschriften in der Privatkorrespondenz von Reisenden dokumentiert ist. Zu den materiellen Zeugen dieser Vorbereitungen auf als ungewiss wahrgenommene Räume und Reisen gehörten weiter das wachsende Interesse an praktischem Wissen, das Bewusstsein um die Nützlichkeit von Wissen und damit verbunden die Notwendigkeit, Wissen verfügbar zu machen.9 Autoren adressierten ihre potentiellen Leser direkt, um die praktische Relevanz des Wissens für die Reise und den Aufenthalt in unbekannten Räumen anzupreisen. So etwa der anonyme Verfasser einer „Map of the Whole World“ von 1668, wenn er schreibt: „A Work, as well Usefull as Delight for all Schollars, Merchants, Mariners, and all such as desire to know Forein Parts.“10 Oder die Verbreitung eines Modells „for Erecting a Bank of Credit“, dass speziell adaptiert worden war für die zumindest antizipierten Bedürfnisse von Händlern und Unternehmern in Ländern mit wenig Geldzirkulation, insbesondere „for his Majesties Plantations in America“.11 Die Anwerbung potentieller Siedler auf Handzetteln und in kurzen Abhandlungen war verbunden mit Beschreibungen der neuen Welt und teilweise detaillierten Vorschlägen, wie neue Siedlun-

dieser Beitrag stützt, befinden sich sowohl unzählige Vokabellisten und Wörterbücher wie auch Hinweise in den erhaltenen Korrespondenzen auf deren intensive Verwendung während der Reise. 8 | HCA 30/374, Johannes Horn an Samuel Liebtisch in Berthelsdorf, Neu Bamby, 18. Febr. 1795. 9 | Brendecke, Arndt: Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft. Köln u. a. 2009; Böning, Holger: Welteroberung durch ein neues Publikum. Die deutsche Presse und der Weg zur Aufklärung. Hamburg und Altona als Beispiel, Bremen 2002, S. 180ff.; Blome, Astrid (Hg.): Zeitung, Zeitschrift, Intelligenzblatt und Kalender. Beiträge zur historischen Presseforschung (= Publizistik 2001, 4). 10 | Anon.: A Map of the Whole World, London 1668, Titelseite. 11 | Anon.: A Model for Erecting a Bank of Credit, London 1688, Titelseite.

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gen angelegt, der Boden aufgeteilt und die Stadt „according to the Rules of Art“ konfiguriert werden sollte.12 Die Vermittlung praktischen Wissens bezog sich darüber hinaus auf ganz alltägliche Dinge, beispielsweise das Mitbringen angemessener Kleidung für einen Aufenthalt in der Karibik. Der Ratschlag für „Newcomers“ umfasste dabei nicht selten persönliche Erfahrungen. Robert Thomas etwa empfahl Baum­wolle zu tragen statt Leinenkleidung. Dann folgten seine persönlichen Ratschläge basierend auf eigenen Beobachtungen: „During my Residence in the West-Indies I was acquainted with several gentlemen who constantly wore two shirts at the same time, the upper of which was made of linen, the under of cotton; from which precaution, I observed, they were less liable to the diseases arising from an obstructed perspiration than those who did not make use o fit.“13

Dieses wachsende Bedürfnis für die Organisation und Verfügbarmachung von Wissen findet seinen Niederschlag in der ab dem späten 17. Jahrhundert kaum noch überschaubaren Zahl von Journalen, Intelligenzblättern, Verhaltensratgebern und Enzyklopädien, die auf die Sammlung und Weitergabe nützlichen Wissens spezialisiert waren.14 Diese Zeitschriften unterschieden sich von den bekannten aufklärerischen Zeitungen wie dem Hamburger „Correspondenten“, deren Redakteure und Autoren mit den literarisch-aufgeklärten Kreisen ihrer Zeit verbunden waren, durch ihren unmittelbaren Praxisbezug und die Alltagstauglichkeit der Wissensvermittlung. Zugleich waren die Verleger der naturkundlich-ökonomischen und kameralistischen Zeitschriften daran interessiert, möglichst authentische und praxisnahe Berichte zu erhalten, so dass 12 | Proposals By The Proprietors of east-Jersey in America For the Building of a Town on Ambo-Point, London 1683, Titelseite. 13 | Thomas, Robert: Medical Advice to the Inhabitants of Warm Climates, on the Domestic Treatment of all Diseases Incidental Therein: With a Few useful Hints to New Settlers for the Prevention of Sickness, London 1790, S. 4. 14 | Freist, Dagmar: Grassroot Knowledges: Netzwerke, Correspondenten und die Popularisierung von Wissen in Korrespondenzen, Journalen und Intelligenzblättern des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Projekthomepage Prize Papers, Globale Mikrogeschichte Universität Oldenburg [2.7.2013], http://www.prizepapers.de/Projekte/Wissen.htm vom 10. Juni 2014; Böning, Holger (Hg.): Deutsche Presse. Biobibliographische Handbücher zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815. Kommmentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter, Kalender und Almanache sowie biographische Hinweise zu Herausgebern, Verlegern und Druckern periodischer Schriften, Bd. 1: Holger Böning/Emmy Moepps: Hamburg, 3 Tle., Stuttgart-Bad Cannstatt 1996; Bd. 2: Holger Böning/Emmy Moepps: Altona, Bergedorf, Harburg, Schiffbek, Wandsbek, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997.

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sich der Kreis der Autoren über die literarisch und politisch interessierten Köpfe ihrer Zeit ergänzte durch Reisende, Migranten und Soldaten, die gewissermaßen als Augenzeugen „vor Ort“ waren und ihre Eindrücke und Beobachtungen niederschrieben.15 Das Streben nach einer Ordnung des Wissens findet sich auch in neuen Ideen für eine räumlich-materielle Anordnung von Wissen, namentlich der Konzeption sogenannter „Offices of Publicke Addresse“ als „nützliche“ kollektive Wissensspeicher mit dem Ziel der Rationalisierung von Handlungsabläufen durch Information und Orientierungshilfen.16 Um mit einer komplexer werdenden Welt umgehen zu können, entwickelten Menschen zugleich alltägliche nützliche Dinge. Dazu gehörten kleine Notizbücher mit eigens dafür Abbildung 1: Notizblock mit Schiefertafel für Kurzeinträge, 18. Jh., High Court of Admirality, National Archives, HCA 32/1827, pt. 2

Foto: Freist; © Crown Copyright Images reproduced by courtesy of The National Archives, UK. 15 | Freist, D.: Grassroot Knowledges; Korte, Barbara/Tonn, Horst (Hg.): Kriegskorrespondenten. Deutungsinstanzen in der Mediengesellschaft, Wiesbaden 2007. 16 | Tantner, Anton: Adressbüros im Europa der Frühen Neuzeit, Habilitationsschrift, Wien 2011, https://uscholar.univie.ac.at/get/o:128115.pdf; Freist, Dagmar: „The Staple of Newes“. Räume, Medien und die Verfügbarkeit von Wissen im frühneuzeitlichen London, in: Gerd Schwerhoff (Hg.): Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/Wien 2011, S. 97–123; Blome, Astrid: Vom Adressbüro zum Intelligenzblatt. Ein Beitrag zur Genese der Wissensgesellschaft, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 8, 2005, S. 3–29.

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angebrachten Stifthalterungen, eingefügten Täfelchen und Lappen für kurzlebige Einträge mit Kreide, aufwendige Stecktafeln, an denen Zeitungen, Briefe und allerlei Dinge in Reichweite angeordnet werden konnten, Muster allerlei Art, die mit Briefen verschickt wurden auf der Suche nach eben solchen Artikeln und schließlich eigens verfasste Vokabellisten, Abschriften landeskund­ licher Abhandlungen, Entwürfe von Häusern und Siedlungen, Landschaftsbeschreibungen oder Skizzen, die das Unbekannte näher bringen sollten. Von den Unwägbarkeiten dieser Reisen in unbekannte Räume zeugt schließ­ lich die Entstehung des Versicherungswesens, das für Schiffsbesatzungen genau festlegte, welche Entschädigungen für welche Verletzungen vorgesehen waren.17 So beschreibt der aus Mitteldeutschland stammende Johan Jacob Saar seinen Rekrutierungsprozess durch die niederländische Vereinigte OstindienKompanie wie folgt: „Bin auch den 25. Novemb. des damahlig lauffenden 1644sten Jahrs / zu Amsterdam / von den siebenzehen Principalsten Herren der Kammer / von der Ost-Indianischen Compagnia, nach Ablesung des Articuls-Briefs / daß der Verlust eines rechten Augs / Hand / Arm / Fuß einem mit sechshundert Holländischen Gulden: auf der lincken Seiten aber hundert Gulden weniger; eines Glieds Verlust aber mit dreissig Gulden compensirt werden solte / und dergleichen / aufgenommen worden / und habe das Gewehr empfangen.“18

Ungeachtet all dieser Vorkehrungen und der Versuche, das Fremde zu imaginieren und sich körperlich und materiell darauf einzustellen, war der Aufbruch in Ungewissheitsräume nicht planbar und verlangte die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich permanent auf Momente der Unsicherheit einzustellen, die Grenzen der Planbarkeit zu ertragen und situativ immer wieder neu nach Handlungsstrategien und Lösungen zu suchen. Diese Erwartungshaltung an Reisende schwingt implizit mit, wenn vor den Unwägbarkeiten der Reise gewarnt wird: „Man muß aber gestehen, daß es die Brüder, die dort unter den Heyden arbeiten und ihnen mit dem Evangelio dienen, sehr schwer haben. Denn Surinam liegt nur 5 bis 6 Grad von der Linie: Daher ist es dort sehr heiß […]. Ehe man dort der Luft, des Wassers, der Speisen, der Lebensart gewohnt wird, hat man gemeiniglich harte Krankheiten auszu17 | Saar, Johann Jacob: Ost-Indianische-Fünfzehnjährige-Kriegsdienste und wahrhafftige Beschreibung was sich biß solcher Zeit [1644–1659] […] begeben habe, 2. Aufl. Nürnberg 1672 (1. Aufl. 1662); Gelder, Roelof van: Das ostindische Abenteuer. Deutsche in Diensten der Vereinigten Ostindischen Kompanie der Niederlande (VOC) 1600–1800 (= Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums, Bd. 61), Hamburg 2004. 18 | Saar, J. J.: Ost-Indianische-Fünfzehnjährige-Kriegsdienste.

„Ich schicke Dir etwas Fremdes und nicht Ver trautes.“ stehen. Die verschiednen heydnischen Nationen haben eine iede ihre eigne Sprache, und die ist darum schwer zu lernen, weil man keine gedrukte Schriften in derselben hat.“19

In Ergänzung zu diesen weitgehend bekannten, gedruckten Berichten zeugen tausende überlieferter Privatkorrespondenzen von diesen Herausforderungen, die Menschen annahmen, die in der damals bekannten Welt aus unterschiedlichen Gründen unterwegs waren und auf deren Briefen und Dingen dieser Beitrag beruht.20 Bei diesem ungewöhnlichen Quellenbestand handelt es sich um so genannte Prisenpapiere, die im Zuge von Schiffskaperungen durch englische Privateers als zukünftiges Beweismaterial für die Legitimierung der Kaperung in den High Court of Admirality nach London gebracht – und dort bis vor kurzem auch von den Archivaren weitgehend vergessen wurden.21 Diese Korrespondenzen wurden bislang weitgehend von der Forschung übersehen und führen eindrucksvoll die soziale und geschlechtsspezifische Dimension der globalen Vernetzung in dieser Zeit vor Augen. Anders als bei bislang bekannten Korrespondenzen zwischen Europa und der außereuropäischen Welt, die in der Regel in sich zusammenhängende Familienkorrespondenzen, reli­ gi­öse Netzwerke oder Kaufmannsnetzwerke über einen längeren Zeitraum ab­bilden und bereits gut erforscht sind,22 handelt es sich bei diesem Bestand um einen unsortierten komplexen topographischen und sozialen Querschnitt von Briefschreibern im Kolonialgefüge der Frühen Neuzeit. Die Briefe sind gewissermaßen „Schnappschüsse“ der Vergangenheit, die ungeschönt und ungeordnet in ihrer Zusammenschau soziale Praktiken sichtbar werden lassen. Darüber hinaus spiegeln Verfasser und Verfasserinnen der Korrespondenzen ein breites soziales Spektrum und widersprechen aktuellen Thesen, dass es

19 | Zitat aus einem Brief von Johann Spangenberg alias August Gottlieb Spangenberg in: Riemer, Johann Andreas: Missions=Reise nach Suriname und Barbice zu einer am Surinamflusse im dritten Grad der Linie wohnenden Freynegernation Nebst einigen Bemerkungen über die Mission=anstalten der Brüderunität zu Paramaribo, Zittau 1801, S. 9f. 20 | Für ein Kurzbeschreibung des Bestands und darauf beruhender Forschungsprojekte zu „Globaler Mikrogeschichte“ an der Universität Oldenburg vgl. www.prizepapers. de vom 10. Juni 2014. 21 | National Archives London, Bestand High Court of Admirality, HCA. 22 | Zu verweisen sei etwa auf jüngere Arbeiten von Bannet, Eve Tavor: Empire of Letters: Letter Manuals and Transatlantic Correspondence, 1680–1820, Cambridge 2005; Pearsall, Sarah M. S.: Atlantic Families. Lives and Letters in the Later Eighteenth Century, Oxford 2008; Diercks, K.: In My Power; Whyman, Susan: The Pen and the People. English Letter Writers 1660–1800, Oxford 2009.

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insbesondere die schreibende Mittelschicht war, die sich in Korrespondenzen selbst erfand.23 Je spezifische Typen von Unsicherheit, so wird in diesen Briefen deutlich, wurden in einem komplexen Zusammenspiel von Irritation, Neuorientierung und Befähigung im Umgang mit dem Unbekannten durch adäquate Praktiken der Selbstorganisation und Intervention bewältigt. Abbildung 2: Notizblock mit Stifthalter, 18. Jh., High Court of Admirality, National Archives, HCA 32/1827, pt. 1

Foto: Freist; © Crown Copyright Images reproduced by courtesy of The National Archives, UK.

Dieses Vordringen in unbekannte Räume hat, so Michael Nerlich, das „Experi­ mental-Dasein des modernen Menschen“ begründet.24 Dazu gehörte nicht nur, Bewältigungsstrukturen im Umgang mit dem Fremden zu entwickeln, sondern auch die Verbindung mit der Heimat, mit Familie und Freunden aufrechtzuerhalten, sich ihrer zu vergewissern und ihnen die Gewissheit der Zugehörigkeit und des Am-Leben-Seins zu vermitteln. Nahezu alle Briefe schildern zunächst die eigene körperliche Verfassung sowie die gemeinsamer Bekannter und fragen nach dem Wohlbefinden von Familie und Freunden: „Ich habe von Herrn Sprögel erfahren, in was für einem elendigen Zustand Du gewesen bist. Ach Willem, was haben wir für Grund Gott zu danken, dass Du noch (wieder)

23 | Diercks, K.: In My Power, S. 2–4 u. 282. Anders Susan Whyman, die bereits Briefe auch unterer Schichten analysiert hat: The Pen and the People, S. 9. 24 | Nerlich, Michael: Abenteuer oder das verlorene Selbstverständnis der Moderne, München 1997, S. 200–203.

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von ihm behütet wirst sowie auch die anderen, die mit Dir ausgezogen sind“.25 Sich auf diese Ungewissheitsräume einzulassen, sich in den Räumen im Hier und Jetzt und zugleich zeitlich verschoben in den Räumen der Herkunft in virtueller Ko-Präsenz zu bewegen und sich selbst in diesen Räumen materiell und zeitlich neu zu verorten, bedeutete, Gewissheiten zurückzulassen und sich aufs Spiel zu setzen. Raumkonstitution, Subjektbildung und Kontingenzbewältigung bedingten sich somit wechselseitig, Subjektivierung, Raum- und Zeiterfahrung waren untrennbar miteinander verwoben.

2. R aum – Z eit – S elbst Während die Frühneuzeitforschung sich intensiv mit ­Selbstthematisierungen und Ich-Konstruktionen auseinandergesetzt 26 und den „selbstbezogenen“ Cha­ rak­ter der Renaissance27 – „an increased self consciousness about the fashioning of human identity as a manipulable, artful process“28 – betont hat, wurde das wechselseitig Konstitutive von Raum und Subjektivierung bislang kaum näher in den Blick genommen.29 Die jüngere Forschung konstatiert zwar, dass ‚Selbstbilder‘ nicht unabhängig von Diskursen, Wertigkeiten, kulturellen Setzungen und strukturellen Bedingungen entstehen,30 ja ohne diese, folgt man 25  |  HCA 30/330, D. van Spall in Leiden aan haar zoon Willem in Elmina, 30. Okt. 1779, in: Gelder, R. van: Das ostindische Abenteuer, S. 158ff. (Übersetzung: Lucas Haasis). 26 | Taylor, Charles: Sources of the Self: The Making of Modern Identity, Cambridge 1989; Burke, Peter: Representations of the Self from Petrarch to Descartes, in: Roy Porter (Hg.): Rewriting the Self. Histories from the Renaissance to the Present. London/ New York 1997, S. 7–28, hier S. 28; Brändle, Fabian u. a.: Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung, in: Kaspar von Greyerz/Hans Medick/ Patrice Veit (Hg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850) (= Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 9), Köln u. a. 2001, S. 3–31; Seigel, Jerrold: The Idea of the Self: Thought and Experience in Western Europe since the Seventeenth Century, Cambridge 2005. 27 | Dülmen, Richard van, Die Entdeckung des Individuums 1500–1800. Frankfurt a. M. 1997, S. 25; vgl. auch Porter, R. (Hg.): Rewriting the Self. 28 | Greenblatt, Stephen: Introduction, in: Ders.: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 1980, S. 1–9, hier S. 2. 29 | Für einen Überblick in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung vgl. Rau, Susan­n e: Räume. Konzepte – Wahrnehmungen – Nutzungen (= Historische Einführungen, Bd. 14), Frankfurt a. M. 2013. 30 | Davis, Natalie Zemon: Bindungen und Freiheit. Die Grenzen des Selbst im Frankreich des sechzehnten Jahrhunderts, in: Dies.: Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Kör-

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Stephen Greenblatt, überhaupt nicht denkbar sind,31 nahezu völlig unbeachtet geblieben ist allerdings „the way in which individual experience is concretely embedded in spaces constituted by rules and practices“.32 Dieser Befund ist umso überraschender, da die Frage nach dem eigenen Selbst in conduct books, Anstandsbüchern, Sittenlehren und Erbauungsliteratur des 16. bis 18. Jahrhunderts untrennbar verbunden war mit der Frage situativ spezifischen, angemessenen Verhaltens, das erlernt und eingeübt werden musste.33 Der Bedeutung von Gesten und Körperpraktiken wurde dabei eine besondere Bedeutung beigemessen, Ausdrucksmittel sollten verfeinert34 und vor allem kontrolliert und durch genaue Beobachtung angeeignet und situativ adäquat eingesetzt werden.35 „Behavioural expectations“, so Michael Braddick

pers, Berlin 1986, S. 7–18, hier S. 7 u. 17. Kritisch zum autonomen Subjekt auch Greyerz, Kaspar von: Spuren eines vormodernen Individualismus in englischen Selbstzeugnissen des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996, S. 131–145, hier S. 135–137. 31  |  Greenblatt, S.: Introduction, in: Ders.: Renaissance Self-Fashioning. Die methodischen und theoretischen Konzepte des New Historicism, die Greenblatt maßgeblich mit beeinflusst hat, sind kontrovers aufgenommen worden. Für einen Überblick vgl. Howard, Jean E.: The New Historicism in Renaissance Studies, in: English Literary Renaissance 16 (1986), 1, S. 13–43 und Martin, John: Inventing Sincerity, Refashioning Prudence: The Discovery of the Individual in Renaissance Europe, in: American Historical Review 82 (1977), S. 1309–1342. 32 | Sabean, David/Stefanovska, Malina: Introduction, in: Dies. (Hg.): Space and Self in Early Modern European Cultures, Toronto 2012, S. 3–14, hier S. 4. 33 | Freist, Dagmar: „Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen“. Praktiken der Selbstbildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 151–174; Kapp, Volker: Die Lehre von der actio als Schlüssel zum Verständnis der Frühen Neuzeit, in: Ders. (Hg.): Die Sprache der Zeichen und Bilder. Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Marburg 1990, S. 40–64. 34 | Kapp, V.: Die Lehre von der actio. Kapp vertritt die These, dass es vor allem im 17. Jahrhundert zu einer Kodifizierung der Gestik mittels der rhetorischen Lehre von der actio kam. Diese war für die Reglementierung nonverbaler Kommunikation zuständig. Durch Hervorhebung der actio und hier allen voran durch Gestik, Mienenspiel und Kleidung erlangte der visuelle Aspekt der Kommunikation ein ebenso großes Gewicht wie der sprachliche. 35 | Knox, Dilwyn: Late Medieval and Renaissance Ideas on Gesture, in: V. Kapp: Die Sprache der Zeichen und Bilder, S. 11–39, hier S. 16–22.

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in seiner Studie zur Bedeutung von Körpersprache in der Frühen Neuzeit, „help to define space and time and the social relations that constitute them“.36 Mit Begriffen wie „Honestas“, „Civility“, „L’honneste homme“ und „­Civilitas“ wurde die Disposition zu angemessenem Verhalten von Zeitgenossen elaboriert und betont, dass eine Befähigung angeeignet werden müsse, sich im Wissen um das eigene Selbst, in Relation zu anderen und den situativ spezifischen Anforderungen angemessen zu verhalten.37 „Renaissance culture was conscious and formal about manners, which were deliberately cultivated by social elites, along with the rules of rhetoric, as part of a carefully considered knowledge of the presentation of the self.“38 Während Abhandlungen zur Rhetorik diese Vorstellungen für die „social elites“ kommunizierten, wurde die Kunst angemessenen Verhaltens insbesondere durch Anstandsbücher in der sich zunehmend ausdifferenzierenden Mittelschicht von Handwerkern, Händlern und Unternehmern, Apothekern, Ärzten und Gelehrten verbreitet.39 „Civility“, so eine Schrift aus dem 17. Jahrhundert, „may be thus understood; it is a science for the right understanding ourselves, and true instructing how to dispose of all our words and actions in their proper and due places“.40 Die Voraussetzung dafür waren in den Worten derselben Autorin „self-knowledge, in terms of one’s relative age and condition; an appreciation of the ‚quality of the Person you converse withal‘; and a sense of the time and place ‚where you are‘“.41 Entscheidend für das Verständnis von „Civility“ ist, dass in der Frühen Neuzeit ungeachtet der Vorstellung, dass bestimmte Regeln erlernt werden konnten, damit nicht ein Regelwerk gemeint war, das man erlernen und dann sklavisch anwenden musste, sondern vielmehr eine Disposition und ein Bündel an Fähigkeiten, die es einem erlaubten, auch auf unvorhergesehene Situationen, auf Überraschungen und Nicht-Verstehen, angemessen zu reagieren. Im Mittelpunkt stand also die Befähigung, sich situativ angemessen verhalten zu können, ein Gespür für die eigene soziale und räumliche Verortung 42 zu

36 | Braddick, Michael: Introduction, in: Ders. (Hg.): The Politics of Gesture. Historical Perspectives (= Past & Present, Suppl. 4), Oxford 2009, S. 9–35, hier S. 15. 37 | Withington, Philip: Honestas, in: Henry Turner (Hg.): Early Modern Theatricality, Oxford 2013, S. 516–533. 38 | Braddick, M. J.: Introduction, in: Ders. (Hg.): The Politics of Gesture, S. 18. 39 | Withington, P.: Honestas, in: H. Turner (Hg.): Early Modern Theatricality, S. 526. 40 | Woolley, Hannah: The Gentlewoman’s Companion: or, A Guide to the Female Sex, London 1673, S. 45f. 41 | Ebd. 42 | Goffman, Erving: Symbols of Class Status, in: British Journal of Sociology 2 (1951), S. 294–304.

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entwickeln, einen praktischen Sinn,43 was jeweils angemessen war. Zugleich wurde zunehmend die Begegnung mit fremden Kulturen und damit nicht vertrauten sozialen Praktiken im 17. Jahrhundert thematisiert: „I shall find it somewhat difficult to prescribe the exact rules of Civility, so as to render them compliable with all times, places, and persons, by reason of variety of Customs: You may fall accidentally into the society of some exotic and foreign person of quality; and what may seem civil and decent in you, may seem indecent and ridiculous to another Nation.“44

Die Erfahrung, „what may seem civil and decent in you, may seem indecent and ridiculous to another Nation“, gehörte zu den Grunderfahrungen von Menschen, die sich in unbekannte Räume begaben und damit in nicht vertraute Alltagspraktiken verwickelten. Der sich selbst bildende und in Gesten und Praktiken aktiv einbringende Körper ist aus dieser Sicht nicht nur Exekutor eines gesellschaftlichen Habitus, sondern in „sensory self-reflexivity“ auch Quelle der Auflehnung gegen ihn, wenn die Kontingenz einer Situation mit habitualisierten Gesten nicht zu bewältigen bzw. sinnvoll zu strukturieren ist.45 Zugleich bildete diese Befähigung zum reflexiven Spüren und Thematisieren der eigenen Bewegungen als auch zum Erkennen und Ergreifen von Situationspotenzialen eine Brücke zu anderen Praktiken. Diese alltäglichen Erfahrungen von Menschen in Bewegung waren eingebettet in umfassende Veränderungen der Selbst- und Weltwahrnehmung seit dem 16. Jahrhundert, in naturwissenschaftlich begründete Neu-Beschreibungen der Weltzusammenhänge und der Vermessung eines sich im Bewusstsein der Menschen permanent erweiternden Universums. „Materially and spiritually, individuals were moving in new spaces and being transformed, if not created by them.“46 Einen von vielen räumlichen Kristallisationspunkten des Ringens um Gewissheiten in unbekannten Räumen bildete das Kolonialgefüge im Atlantik mit seinem jeweiligen Hinterland als historisch situierter und imaginierter Interaktionsraum.47 Der Atlantik als „Interaktionsraum“ gehört zu den in43 | Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1987. 44 | Woolley, H.: The Gentlewoman’s Companion, S. 45f. 45 | Vgl. dazu Noland, Carrie: Agency and Embodiment: Performing Gesture/Producing Culture, Cambridge, Mass. 2009, S. 53. Bourdieu bezeichnet Ähnliches als „praktisches Reflektieren“. Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001, S. 209. 46 | Sabean, D./Stefanovska, M.: Introduction, S. 5. 47  |  Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 154–167; Bailyn, Bernard/Denault, Patricia L.: Soundings in

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tensiv erforschten Regionen der Kolonial- und Postkolonialgeschichte.48 Hier zeichnen sich auf engstem Raum, in sich unterteilt in englische, niederländische, französische, spanische und portugiesische Kolonien und bevölkert von ethnischen und nationalen Gruppen verschiedener sozialer und regionaler Herkunft und Status (Freie, Unfreie, Sklaven), besonders deutlich die machtpolitischen Konflikte und die koloniale Unterdrückung des 17. und 18. Jahrhunderts ab.49 Neben den Erfahrungen von Unterdrückung und Krieg verlangten alltägliche Differenzerfahrungen und Unsicherheiten kontinuierlich situative Bewältigungsstrategien, Koordinations- und Reflexionsleistungen, die Menschen insbesondere in Situationen abverlangt wurden, die sich nicht von selbst verstanden. Zwar werden in der Frühneuzeitforschung Krisen und der Umgang mit Ungewissheiten als Formen gesellschaftlicher Selbstbeobachtung thematisiert,50 weder für den europäischen noch für den atlantischen Raum liegen allerdings Studien vor, die das Wechselspiel von Kontingenzerfahrung, Selbstbeobachtung und ein sich improvisierendes und experimentierendes Neu-Ver-orten im Ringen um Gewissheiten im Kolonialgefüge der Frühen Neuzeit untersucht haben. Eine Ausnahme bildet die Studie von Konstantin Diercks zur Entstehung des Britischen Empire, der mit Blick auf die Alltagspraktiken der Akteure die „provisionality and the prior limits to imagination and to effort“ ebenso betont wie „transformations through contingency, creatiAtlantic History. Latent Structures and Intellectual Currents, 1500–1830, Cambridge, Mass. 2011; Gillis, John R.: Islands of the Mind: How the Human Imagination Created the Atlantic World, New York 2004. 48 | Canny, Nicholas/Morgan, Philip (Hg.): The Oxford Handbook of the Atlantic World, 1450–1850, Oxford 2011; Lachenicht, Susanne: Atlantische Geschichte. Einführung, in: Sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 [15.1.2012], http://www.sehepunkte.de/2012/01/forum/at lantische-geschichte-150 vom 2. Okt. 2013; Dies.: Atlantische Geschichte. Einführung, in: Sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.7.2013], http://www.sehepunkte.de/2013/07/ forum/atlantische-geschichte-169 vom 2. Okt. 2013. 49 | Knight, Franklin W.: The Caribbean. The Genesis of a Fragmented Nationalism, New York 1978; Palmié, Stephan / Scarano, Francisco A. (Hg.): The Caribbean: A History of the Region and Its Peoples, Chicago 2011: Paquette, Robert L./Engerman, Stanley (Hg.): The Lesser Antilles in the Age of European Expansion, Gainesville, Fla. 1996; Bishop, Matthew Louis: The Political Economy of Caribbean Development, Basingstoke 2013; Shepherd, Verene A. (Hg.): Slavery without Sugar: Diversity in Caribbean Economy and Society since the 17th Century. Gainesville, Fla. 2002; Higman, B. W.: Concise History of the Caribbean, Cambridge 2011. 50  |  Vgl. den Tagungsbericht Krise als Form gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und historiographischer Beschreibung (in) der frühen Neuzeit. 12.–14.7.2007, Konstanz, in: H-Soz-u-Kult, 24.10.2007, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/ id=1742 vom 16. Apr. 2014.

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vity, choice, and myopia. That kind of subjectivity – the striving for a future, the inability to see that future – is the crux of the historical question“.51 Ausgehend von einem Verständnis des Atlantiks als Interaktionsraum haben in den 1980er Jahren vor allem anthropologisch ausgerichtete Studien Interaktionsformen und die Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden verschiedener kultureller und ethnischer Gruppen analysiert und als Kulturkontakte und -konflikte konzeptualisiert.52 Den Ausgangspunkt dieser Untersuchungen bildete ein Verständnis von Kultur als ein kollektives Symbolsystem, als ein „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“,53 deren Existenz vorausgesetzt wurde und die informelle Logik alltäglichen Handelns begründete, ohne dass dies den einzelnen Teilnehmern immer bewusst war.54 Die Berührung verschiedener Kulturen etwa infolge von Migration, Expansion, Mission oder Reisen wurde entsprechend konzeptualisiert als Kulturkontakte, Kulturkonflikte oder Kulturtransfer, in denen sich zwei kulturelle Teilsysteme in irgend­ einer Form begegneten und aufeinander reagierten.55 Davon abweichend hat die Historische Anthropologie das wechselseitig Konstitutive von Kultur und Subjekt betont und sich gegen ein Verständnis von Kultur als ein prä-existen­ tes, geschlossenes gesellschaftliches Teilsystem gewandt.56 Kultur, so bereits Hans Medick 1984, ist kein System von Normen, Symbolen oder Werten, die unveränderbar anwesend sind und Deutungen und soziales Handeln steuern, sondern ein Medium „aktiver Repräsentation und Konstruktion von Erfahrungen, sozialen Beziehungen und deren Transformation“.57 Kulturelle Konstruktionsweisen der Wirklichkeit werden erst durch soziale Handlungsvollzüge hervorgebracht und verändert und gehen diesen zugleich voraus, d. h. 51  |  Diercks, Konstantin: In My Power. Letter Writing and Communication in Early America, Philadelphia 2009, S. 11f. 52 | Klassisch Bitterli, Urs: Alte Welt – neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontaktes vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, München 1986; Fikentscher, Wolfgang (Hg.): Begegnung und Konflikt – eine kulturanthropologische Bestandsaufnahme, München 2001; Habermas, Rebekka/Mallinckrodt, Rebekka von (Hg.): Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn. Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaften, Göttingen 2004. 53 | Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1983, S. 7–43, hier S. 9. 54 | Ebd., S. 25. 55 | Burke, Peter: Kultureller Austausch, Frankfurt a. M. 2000; Schmale, Wolfgang (Hg.): Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert, Innsbruck u. a. 2003. 56 | Medick, Hans: „Missionare im Ruderboot“, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 295–319, hier S. 297. 57 | Ebd., S. 309.

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sie „repräsentieren und drücken etwas aus, das ihnen und ihren Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten (agency) vorausgeht“.58 Vor allem postkoloniale Studien haben Konzepte separater Kulturen politisiert und historisiert, um so wesenhafte Zuschreibungen und damit einhergehende Diskriminierungen zu dekonstruieren.59 Stattdessen wird von der Hybridität der Akteure ausgegangen, sie selbst werden als Produkt von Verflechtungen verstanden.60 Diese Konzeptualisierung greift die New Atlantic History auf, wenn sie ein polyzentrisches Raumverständnis und das Konzept hybrider Kulturen proklamiert61 und etwa von „contact zone“62, „middle ground“63 oder „hybrid space“64 spricht. So formuliert Trevor Burnard programmatisch: „The Atlantic world has no originary centre and it is not conceived as a world in which Europeans acted and other peoples reacted but instead was a constantly evolving and changing world in which ideas, peoples, and things from disparate areas continually interacted with other ideas, peoples and things in complex ways, initiating diverse and fascinating processes of historical change.“65

Diese Neuaufstellung der Atlantikforschung stellt wichtige Analyseinstrumente zur Verfügung, die komplexen Beziehungen zwischen Räumen und Akteuren zu untersuchen. Dennoch neigen die meisten Studien dazu, Räume als passive Projektionsflächen zu behandeln, in denen Menschen, Ideen und Dinge permanent interagieren, ohne die Fluidität des Raumes und die Materialität selbst als Teil der sozialen Beziehungsgeflechte zu konzeptualisieren. 58 | Tanner, Jakob: Historische Anthropologie, in: Docupedia Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung, S. 1–14, hier S. 4, http://docu pedia.de/zg/Historische_Anthropologie vom 18. Apr. 2014. 59 | Bhabha, Homi: The Location of Culture, London/New York 1994; Mignolo, Walter D.: The Darker Side of the Renaissance: Literacy, Territoriality and Colonization, Ann Arbor, Mich. 1995; ders.: Local Histories, Global Designs: Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking, Princeton, N. J. 2000; Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton, N. J. 2000. 60 | Habermas, Rebekka/Mallinckrodt, Rebekka von: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Interkultureller Transfer, S. 9–23, hier S. 16f. 61 | Bhabha, H.: Location of Culture. 62 | Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel and Transculturation, London/New York 1992. 63 | White, Richard: Middle Ground. Indians, Empires, and Republics in the Great Lakes Region, 1650–1815, Cambridge 1991. 64 | Bhabha, H.: Location of Culture. 65 | Burnard, Trevor: Introduction to the Oxford Bibliography Online, http://www.ox fordbibliographies.com/obo/page/atlantic-history vom 2. Dez. 2013.

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3.  U nge wissheitsr äume als social sites In Anlehnung an die „New Atlantic History“66 nimmt dieser Beitrag einen Perspektivwechsel vor, in dem er koloniale Gesellschaften als sich immer wieder neu konstituierende global social sites mit den Eigenschaften eines polyzentrischen „Ungewissheitsraums“ begreift. In der Definition von Theodore Schatzki sind social sites räumliche Orte, die mit bestimmten Entitäten (Lebewesen und Dinge) ausgestattet und mit sozialer Wirkmacht versehen sind; alle Entitäten, die in diesen sites kontextualisiert werden, sind zugleich die Komponenten dieses Kontextes.67 Die Kontexte menschlicher Existenz sind ein Netzwerk von Ordnungen und Praktiken. Unter Ordnungen versteht Schatzki spezifische arrangements, also die spezifische Verbindung zwischen verschiedenen „entities“ (Lebewesen, Artefakten, Organismen, Dingen), die bestimmt, wie sie zueinander in Beziehung stehen, welche Positionen sie einnehmen und welche Bedeutungen sie jeweils aufweisen. Entscheidend ist die Temporalität und Situativität der arrangements, „die nicht durch sich selbst allein entstehen, bestehen oder sich wandeln, sondern durch und in sozialen Praktiken kontextualisiert und dadurch etabliert werden“. 68 Die Bedeutungen der Anordnungskomponenten werden also „einerseits durch ihre Positionierung in dieser und andererseits durch die Aktualisierung der Beziehungen im Tun der Komponenten erzeugt“,69 das situative Zusammenspiel der gegenseitig sich konfigurierenden Komponenten ist ein kontinuierlicher Prozess, in dem sich die Praktik und damit auch ihre sites in Folge verändern können.70 Social site ist für Schatzki damit die site menschlicher Koexistenz, das „hanging together of human lives“.71 Die Akteure in diesen global social sites waren nicht nur die Amtsträger verschiedener europäischer Staaten, sondern ebenso Angehörige unterschiedlicher Professionen und Religionsgemeinschaften, Männer, Frauen und Kinder und in ebensolcher Vielfalt die jeweiligen Ureinwohner. Die Alltagserfahrungen dieser kolonialen Gesellschaften waren geprägt von Selbstbeobachtungen und Selbsterprobungen, die sich sowohl auf die soziale Verortung innerhalb dieser als kontingent erfahrenen und durch Nichtpassungen sozialer Praktiken gekennzeichneten global social sites bezogen wie auch auf die Frage, ob soziale 66 | Lachenicht, S.: Atlantische Geschichte. Einführung [15.1.2012]; dies.: Atlantische Geschichte. Einführung [15.7.2013]. 67  |  Schatzki, Theodore R.: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park, Pa. 2002, S. 146–149. 68  |  Jonas, Michael: The Social Site Approach versus the Approach of Discourse/Prac­ tice Formations, in: Reihe Soziologie/Sociological Series 92 (2009), S. 1–22, hier S. 3. 69 | Ebd., S. 3. 70 | Vgl. Schatzki, T. R.: The Site of the Social, S. 72. 71 | Ebd., S. 147.

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Netzwerke, Freundschaften und Familien vor Ort und in den Herkunftsländern Bestand haben werden. Ausdruck finden dieses Kontingenzbewusstsein, Krisenerfahrungen und ein sich-aufs-Spiel-setzen in Briefen.

4. P r a xeologische L esarten der B e wegung von M enschen und D ingen im K olonialgefüge der F rühen N euzeit Waren diese Briefe in ihrer Materialität die Voraussetzung, um Beziehungen über weite Distanzen zu pflegen, so war das Verfassen und Versenden dieser Briefe eine soziale Praktik der Vergewisserung und Beglaubigung von Zugehörigkeit über weite Entfernungen. In Weiterführung der hier vorgeschlagenen Neu-Konzeptualisierung des Atlantikraums als global social site wird im Folgenden eine praxeologische Lesart der Bewegung von Menschen und Dingen im Atlantikraum erprobt und damit die Frage nach dem Wechselspiel von Selbstbildung und Raum neu gestellt.72 Den Ausgangspunkt bildet „a notion of practice that is more dynamic, creative and constructive than the current definition of practice as rule-based routines or embodied skill suggests“.73 Während die gegenwärtige Praxistheorie trotz der Betonung der Gleichzeitig­ keit von Stabilität und Veränderung, von Wiederholung und Kreativität in der Entfaltung des Sozialen den Fokus auf das Gelingen und damit weitgehend auf die Reproduktion von Ordnungsmustern legt 74 und Nichtpassungen und 72 | Sabean, D./Stefanovska, M. (Hg.): Space and Self; Williams, Caroline A. (Hg.): Bridging the Early Modern Atlantic World. People, Products, and Practices on the Move, Aldershot 2009. 73 | Knorr-Cetina, Karin: Objectual Practice, in: Theodore R. Schatzki/Karin KnorrCetina/Eike von Savigny (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York 2001, S. 175–188, hier S. 187. 74 | Praxistheorien gehen bei allen Differenzen davon aus, dass soziales Handeln Teil von kollektiven Handlungsgefügen ist und nicht primär intentionalem Handeln entspricht. Praktiken, so gängige Definitionen, weisen über die Akteure hinaus auf unterliegende kulturelle Schemata und einen latenten Gemein-Sinn, der im ständigen Vollzug von Praktiken angeeignet und realisiert wird und die Voraussetzung dafür ist, auf die Handlungszüge anderer angemessen zu reagieren und die Bedeutung von Handlungsweisen zu beurteilen. Erst praktisches Handlungswissen und die Realisierung kultureller Schemata, die sich im Vollzug sozialer Praktiken zeigen, machen Akteure in jeweils spezifischen historischen, gesellschaftlichen, kulturellen oder religiösen Situierungen zu erkennbaren und anerkannten Mitspielern eines Felds. In dieser praxistheoretischen Tradition werden Praktiken als Übermittler fest eingeschriebener kultureller Deutungsschemata verstanden, die erfolgreich irgendwelche Entitäten (Dinge, Artefakte,

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Irritationen als Störfall bezeichnet, wird hier eine praxeologische Lesart sozialer Phänomene vorgeschlagen, die es erlaubt, gerade die Kontingenz sozialer Praktiken, die ein Charakteristikum der Alltagslogiken globaler social sites waren, empirisch-theoretisch greif bar zu machen.75 Damit rücken die jeweiligen „Praxisgegenwarten“76 als offenes Vollzugsgeschehen in den Mittelpunkt, das insbesondere in Ungewissheitsräumen gekennzeichnet ist von unbestimmten Situationen und „kritischen Momenten des Missverhältnisses und des Missklangs“, in denen die „unmittelbare Angemessenheit“ verkörperter Wissensbestände „suspendiert“ ist 77 und die Akteure mit vielfältigen, konfligierend sie bedrängenden Anforderungen, Erwartungen und Überraschungen konfrontiert wurden, die Welt sich eher als ein ungeordnetes, fragiles, von Widersprüchen gekennzeichnetes „Durcheinander“, denn als ein geordnetes Ganzes Menschen) als ihre Träger rekrutieren (Shove), adäquat sozialisierte skilled bodies (Hirschauer) hervorbringen, und so ihre „Subjekte“ produzieren (Reckwitz), die eine Praktik „am Laufen“ halten, indem sie in deren Rahmen gekonnt mit anderen Partizipanden ‚zusammenspielen‘. Analoges gilt für ein Verständnis der Dinge als Objektivationen historisch entstandener Zwecke und Gebrauchsgewährleistungen. Allgemein: Vgl. Schatzki , Theodore R.: Introduction: Practice Theory, in: Ders./K. Knorr-Cetina/E. von Savigny (Hg.): The Practice Turn, S. 1–14; Vgl. dazu Shove, Elizabeth/Pantzar, Mika/ Watson, Matt: The Dynamics of Social Practices. Everyday Life and How It Changes, London 2012, S. 63–80 ; Hirschauer, Stefan: Körper macht Wissen – Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Tl. 2., Frankfurt/M./New York 2008, S. 974–984; Reckwitz, Andreas: Praktiken der Reflexivität, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.): Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden 2009, S. 169–181, hier S. 176 und ders.: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282–301: Praktiken werden hier als „routinisierte [...] Bündel von Aktivitäten“ (S. 289), als „Nexus von wissensabhängigen Verhaltensroutinen“ (S. 291) oder als „routinisierte Bewegungen und Aktivitäten des Körpers“ (S. 290) verstanden. 75 | Die hier folgenden Überlegungen beruhen auf den Diskussionen im DFG Graduiertenkolleg 1608/1 Selbstbildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive an der Universität Oldenburg und dem Neuantrag des DFG Graduiertenkollegs 1608/1, Oldenburg 2014. Vgl. auch Thomas Alkemeyer/Nikolaus Buschmann: Praktiken der Subjektivierung – Subjektivierung als Praxis, in: Hilmar Schäfer (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2014 (im Druck). 76  |  Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag zu „Gegenwarten“, 2. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 11–32, bes. S. 24–29. 77 | Bourdieu, P.: Meditationen, S. 208.

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präsentierte.78 Akteure, die in unterschiedlichen social sites situiert sind, treffen fallweise in global social sites aufeinander, die sich durch eine spezifisch materiell-räumliche Umwelt sowie zeitlich-soziale Arrangements auszeichnen: Händler als Angehörige der Herrnhuter Mission aus Böhmen, um eine von vielen vergleichbaren Konstellationen exemplarisch anzuführen, reisten während des englisch-niederländischen Seekrieges 1780–84 an Bord eines dänischen Handelsschiffes, das Sklaven aus Afrika in die Karibik transportierte, zusammen mit jüdischen Händlern aus London nach Surinam, und treffen in dieser niederländischen Kolonie auf die indigene Bevölkerung, auf die afro­ amerikanische Sklavenbevölkerung, auf Halbfreie, auf Händler, Ärzte, Apothe­ ker und Missionare anderer europäischer und außereuropäischer Städte, Regionen und Religionszugehörigkeiten. Die Situation zwingt die Akteure zu einer Auseinandersetzung mit fremden Logiken und nicht-intelligiblen Praktiken, um zu bestehen und erfordert Bewältigungsstrategien, Koordinationsleistungen, Reflexionsfähigkeit und schließlich die Befähigung, sich neu zu verorten und Gewissheiten neu herzustellen.79 Das prinzipielle Ausgesetzt-Sein des Menschen ist in diesen Ungewissheitsräumen ein irreduzibles Moment einer jeden Erfahrung. Erprobte Repertoires werden in der Praxis wiederholt und zugleich improvisierend auf neue Weise realisiert „in der bricolage-förmigen Überlagerung und Kombination unterschiedlicher Komplexe von Praktiken und ihres Hintergrundwissens, die sich zu partiell neuartigen, handhabbaren kulturellen ‚tools‘ formen“.80 In pragmatischer Sicht ist es die Ungewissheit und Unbestimmtheit der Praxis, die den Menschen Kreativität gleichsam aufnötigt und sie zwingt, ein bereits erworbenes Können bzw. ein Repertoire erprobter Wissens- und Handlungsweisen immer wieder situationsadäquat zu variieren und damit Neues hervorzubringen. Dieses durch eine Irritation ausgelöste Ringen um eine 78  |  Boltanski, Luc/Honneth, Axel: Soziologie der Kritik oder Kritische Theorie? Ein Gespräch mit Robin Celikates, in: Rahel Jaeggi/Thilo Weche (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt a. M. 2009, S. 81–116, hier S. 109. 79 | Zu den Bewältigungsstrategien der Herrnhuter auf Surinam vor diesem hier skiz­ zierten Hintergrund demnächst Cronshagen, Jessica: Owning the body, Courting the Soul. Reflexions on Unfree Labour in the Correspondences of the Herrnhuter Surinam Mission in the Eigtheenth Century, in: Dagmar Freist/Susanne Lachenicht (Hg.): Connecting Worlds and People: Early Modern Diasporas as Translocal Societies, Farnham 2015 (i. E.) 80  |  Als Forschungsdesiderat so formuliert in Reckwitz, A.: Grundelemente einer Theorie, S. 285; zum ursprünglichen Verwendungszusammenhang von Bricolage in den Kulturwissenschaften vgl. Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1968, S. 29ff. und Certeau, Michel de: The Practice of Everyday Life, in: John Storey (Hg.): Cultural Theory and Popular Culture. A Reader, New York u. a., 1994, S. 474–485.

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neue (immer nur vorübergehende) Gewissheit hat der amerikanische Philosoph und Naturwissenschaftler Charles Sanders Peirce als inquiry bezeichnet, ein experimentelles Verfahren praktischer Entdeckung im Praxisvollzug.81 Die Differenzerfahrungen, die zu den Grunderfahrungen von Menschen in Ungewissheitsräumen zählen, sind in dieser Sicht ein Widerfahrnis, das in der bloßen Routine innehalten lässt und dazu zwingt, sich selbst in der Situation zu verorten und eine Gewohnheit flexibel anzupassen. In diesen Prozessen waren im Kolonialgefüge der Frühen Neuzeit Briefe als Artefakte ein grundlegender Partizipant. Damit hebt sich dieser Ansatz von der bisherigen AtlantikBriefforschung ab. Briefe als Artefakte werden im Folgenden nicht einfach als Informationsspeicher behandelt, sondern in ihrer Materialität als Träger einer Praxis der Selbstvergewisserung und der Suche nach Verortung zwischen und in diesen Räumen begriffen.

5. B riefe als A rtefak te in P r ak tiken der S elbst verge wisserung Der umfangreiche Bestand an Briefen in den Prize Papers verkörpert gewissermaßen die Bewegung von Menschen und Dingen in der damals bekannten Welt als Teil kolonialer Mächtepolitik und zugleich quer zu nationalen Zugehörigkeiten. Sie zeugen von und sind zugleich ein wichtiger Partner bei dem improvisierenden und experimentellen Umgang mit, dem sich Hineintasten in unbekannte Räume und der Suche nach Orientierung und Gewissheiten in Alltagspraktiken. Zugleich, und das interessiert insbesondere mit Blick auf die überlieferten Korrespondenzen, mit denen Menschen über weite Entfernungen alte Beziehungen beglaubigten und neue begründeten, mussten die Akteure verstehbar bleiben für Menschen, die nicht über ein Praxiswissen um die Mikrologiken hybrider kolonialer Gesellschaften, das auf Erfahrungen, Beobachtungen und Improvisationen beruhende know how in der praktischen Bewältigung des Alltags verfügten, für die die Briefe eine Art Übersetzungsfunktion hatten. Die ungewöhnliche Art der Überlieferung – die Korrespondenzen sind im Originalzustand als Briefe eingefaltet, häufig sogar noch ungeöffnet, vorhanden – sensibilisiert dafür, sich nicht nur mit den Inhalten der Briefe auseinanderzusetzen, sondern auch danach zu fragen, welche Aussagekraft die 81 | Houser, Nathan/Kloesel, Christian (Hg.): The Essential Pierce: Selected Philosophical Writings (1867–1893), Bloomington, Ind. 1992, S. 118ff. Vgl. auch Dewey, John: The Later Works, 1925–1953, hg. v. Jo Ann Boydston, Bd. 12: 1938 (Logic: The Theory of Inquiry), Carbondale, Ill. u. a. 1986; Volbers, Jörg: Praxis als Erfahrung (Manuskript zur Einsicht mit freundlicher Genehmigung des Autors), S. 18.

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Materialität von Briefen für soziale Beziehungen, Raum- und Zeitverständnis entfalten kann. Als Artefakte waren sie das zentrale Medium, um sich im Kolonialgefüge selbstreflexiv neu zu verorten und um diese Neu-Verortung vertrauten Korrespondenten gegenüber zu kommunizieren, gegebenenfalls auch zu legitimieren. Die Materialität der Briefe und ihre affizierende Eigenschaft sind dabei von zentraler Bedeutung. Ohne die tatsächliche Ankunft eines Briefes war der Inhalt verloren. Das klingt auf den ersten Blick recht banal, war allerdings ent­scheidend für frühneuzeitliche Korrespondenten im Kolonialgefüge. Als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben wir uns insbesondere in der textorientierten Geschichtswissenschaft daran gewöhnt, Manuskripte auf ihre Inhalte hin zu befragen und zu kontextualisieren. Die Briefe allerdings, um die es hier geht, haben ihren Zielort niemals erreicht. Sie tragen die Spuren ihrer Reise und damit von Raum und Zeit, was von den Schreibern bereits kom­mentiert wurde: „[...] [D]er Walter schrieb auch das die mersten Briefe kaum zum lesen war wie sah es in den Brief aus, der an Bruter Wied seine Eltern war, schreib mir doch ein mahl wenn seine am ärgsten waren vieleicht haben sie sie zumteils gar nicht lesen können [...].“ 82

Sie sind weiter materielle Zeugen von Praktiken des Briefeschreibens als Vergewisserungsstrategie. Davon zeugt die Materialität der Briefe, die hier – weitgehend noch unberührt von archivalischer Konservierung und Ordnung – unmittelbar greif bar ist. Viele Briefe waren – und sind noch – nach einer bestimmten Technik gefaltet, um kleinere Dinge darin zu versenden – neben Bildern und Zeichnungen etwa Schlüssel, Messer, Schmuck oder Pflanzen. Ein Brief war häufig Träger weiterer Briefe an Empfänger in der Nähe des Zielortes, musste entsprechend gefaltet sein und wurde von den Hafenstädten ins Hinterland weiter verteilt. Waren die Dinge, die verschickt werden sollten zu groß, fungierten Briefe als Begleiter von Präsenten, in dem sie deren Gebrauch erläuterten und die emotionale Qualität oder Vertrauenswürdigkeit sozialer Beziehungen, die mit diesen Dingen beglaubigt werden sollten, kommentierten. Briefe traten dann gewissermaßen in die Rolle des Kommentators. So erläuterte Monsieur Devigny die Bedeutung einer kleinen Kiste, die er seiner Frau aus Martinique zusammen mit anderen Dingen nach Frankreich schickte: „[...] [I]ch hoffe, dass sie Dir gefällt und die Dir beweisen soll, dass ich mich viel mehr um Dich kümmere als Du Dich um mich […].“83 An den Falttechniken, die noch sichtbar sind, und den Schriftzügen lässt sich weiter zeigen, dass häufig noch eine letzte Nachricht quer zum Schreib82  |  So etwa HCA 20/228, Catherine Borck an „Johannel“, Paramaribo, 28. Febr. 1795. 83 | HCA 32/995, An Mme Devigny in Champagne-par-Chalon, Champagne, von ihrem Ehemann in Martinique, 28. Germinal, o. J. (Übersetzung Annika Raapke).

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fluss auf den Blattrand notiert wurde, bevor das Schiff den Hafen verließ und nachdem der Brief schon das erste Mal versiegelt worden war.84 Briefe wurden im 18. Jahrhundert gewöhnlich zweimal gesiegelt, nach erstmaliger Faltung und nach dem Zusammenstecken der Außenseiten. Die Schreiber machten sich dieses geschickt zu Nutze. Nach der erster Siegelung wurden selbst noch die Einsteckseiten ihrer Faltbriefe beschrieben. Anhand der Materialität des Briefes lässt sich somit nachvollziehen, welche Praktiken das Zeitwissen der Menschen hervorbrachte, wenn über weite Entfernungen kommuniziert wurde. War das Verfassen der Briefe als soziale Praxis zum einen ein Medium der Selbstreflexion, der Problemdiagnose und der Intervention, so war es zum anderen eine entscheidende Koordinationsform globaler Mikrostrukturen. Diese Korrespondenzen spannten globale Bereiche auf, waren aber zugleich mikrosozialer Natur, indem sie eine virtuelle körperliche Ko-Präsenz in lokal-räumlich und zeitlich getrennten Räumen85 und Zeiten kreierten und Praxisgegenwarten schufen.86 Allerdings lässt sich diese virtuelle Ko-Präsenz nicht mit einer face-to-face-Kommunikationssituation vergleichen, die nach Goffman getragen wurde durch körperliche Anwesenheit und geprägt war von einem gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus.87 Vielmehr handelte es sich in Anlehnung an Knorr-Cetina um eine face-to-letter-Kommunikationssituation,88 die gekennzeichnet war durch eine virtuelle Ko-Präsenz und eine Orientierungsaufspaltung zwischen der aktuellen Ver-Ortung im Hier und Jetzt und der räumlich und zeitlich verschobenen, imaginierten Praxisgegenwart im Austausch mit den Briefadressaten. Im Schreibprozess projektierten die Verfasser ihr eigenes Selbst als Teil eines Netzwerkes von Familie, Freunden oder Geschäftspartnern, sie gedachten Geburtstagen, kommentierten Familiennachrichten, teilten Sorgen und Freuden und trugen zu lokalen Nachrichten und Klatsch bei als seien sie selbst zu Hause.

84 | Vgl. zu diesen Beobachtungen ausführlich Haasis, Lucas: Papier, das nötigt und Zeit, die drängt übereilt. Zur Materialität und Zeitlichkeit von Briefpraxis im 18. Jahrhundert und ihrer Handhabe, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit (Frühneuzeit Impulse), Wien/Köln/Weimar 2015 (i. E.) 85  |  Knorr-Cetina, Karin/Bruegger, Urs: Globale Mikrostrukturen der Weltgesellschaft. Die virtuellen Gesellschaften von Finanzmärkten, in: Paul Windolf (Hg.): FinanzmarktKapitalismus, Wiesbaden 2006, S. 145–171, hier S. 145. 86 | Zu den „Praxisgegenwarten“ siehe weiter oben. 87 | Knorr-Cetina, K./Bruegger, U.: Globale Mikrostrukturen. S. 147–150. Auch KnorrCetina spricht von einem gemeinsamen Aufmerksamkeitssfokus, für den allerdings nicht die körperliche Ko-Präsenz im gleichen Raum die Voraussetzung bildet. 88 | Vgl. auch den Beitrag von Lucas Haasis in diesem Band. Knorr-Cetina spricht von heutigen face-to-screen Interaktionen im Brokerwesen.

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Doch der Zeitfaktor Brief und das Hin- und Herschicken von Dingen markierten räumliche Entfernungen, neue Selbstverortungen und nur die Illusion der Nähe. Diese Illusion der Nähe wird insbesondere in der Vergegenwärtigung von Raumerfahrungen, Raumwissen und Bewegungen im Raum deutlich, in die sich die Schreiber selbst hineinprojektierten oder in die sie andere mitnahmen. So beispielsweise, wenn abwesende Familienmitglieder durch die Wohnräume in der Ferne geführt und die Raumanordnungen und die Bewegung im Raum körperlich nachvollziehbar wurden. Im Jahre 1803 schrieb Johan Hora Siccama in Mogador an Familie van Swinden in Amsterdam: „Damit kommen wir auf das Thema meiner Lebensart hier zu sprechen, meine Unterbringung hier musst Du Dir nicht vorstellen, das sie so allerbrilliant ist. Die Beschreibung meiner Kammer mit den offenen leinenbehängten Fenstern habe ich Dir bereits, so weit ich weiß, gegeben. Seit 3 Monaten habe ich mein Bett darin, bin von einem trockenen Ort zum anderen gewechselt, umgezogen, weil die Decke, aus Kalk gemacht, überall durchsickerte während den starken Regengüssen, was mir viele Möbel und Kleidung verdorben hat, dadurch das das Wasser so mit Salpeter und Kalk versetzt ist und in alles einzogen ist.“ 89

Oder wenn ein Apotheker, der sich in St. Pierre, Martinique niedergelassen hatte und im Begriff war, seine Apotheke dort neu aufzubauen, in seinem Brief sein früheres Haus in Frankreich in Gedanken durchmaß und detailliert beschrieb, wo genau welche Dinge zu finden waren, die noch an ihn geschickt werden sollten: „Du musst mir all die kleinen Phiolen und Medikamente schicken, die in der Küchenanrichte und auf dem Kaminsims stehen; in einer Dose auf dem kleinen Brett, das sich am Eingang des Demi-Chambre befindet, dort ist auch die Verbandsdose, die hinter der Tür steht, wenn Du auf dem Markt irgendwelche Gefäße findest, die das Geschäft eines Apothekers zieren könnten, bitte ich Dich, sie mir zu schicken und alles in die Truhe zu packen, die zu Hause steht, und sie einem Chirurgen mitzugeben, der sich einschifft.“ 90

Schließlich evozieren einzelne Briefe eine Affizierung vertrauter Räume und der Dinge dort, wie in dem Brief des jüdischen Händlers Samuel Cohen an seine Tochter in Amsterdam, indem er in seinem Schreiben einen Bezug zu

89 | HCA 32/1651, Johan Hora Siccama in Mogador aan de familie Van Swinden in Amsterdam, 27. März 1803, aus: Gelder, Roelof van: Zeepost. Nooit bezorgde brieven uit de 17e en 18e eeuw, Amsterdam 2008, S. 263ff. (Übersetzung: Lucas Haasis). 90  |  HCA 30/302, St. Pierre, Martinique, nach Le Havre de Grace, Normandie, 11. Nov. 1778 (Übersetzung aus dem Französischen: Annika Raapke).

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einem früheren „Briefgespräch“91 herstellte und zugleich zu seinem Haus in London, durch das er seinen Blick schweifen ließ auf der Suche nach etwas, das für seine Tochter angemessen sei: „In my Last I promisd to look over my House if any thing therein suitable for you, when the inclosed caught my Eyes [...].“92 Der Brief als Begleiter und Kommentator des Präsents stellte darüber hinaus eine besondere Beziehung zwischen dem Vater, dem Artefakt und der Tochter her, die der Tochter ohne diese Erläuterung mittels „Begleitbrief“ vielleicht verborgen geblieben wäre: „[...] [T]ho’ I know it’s not faishionable for Gentlm. to send Ladies Knifes or scißsors, but between father & Daughter such / & such Dauther to / it cannot have the effect & which is feared. & it seemd by being a Gold Knife & of that Beauty & so well finish’d it Looses it’s Sharpneßs [...].“93

Weiter legte der Vater die „Gebrauchsweisen“ des „Gold Knife“ fest: „[...] however I Give it you on this condition only that you wear it in your Pocket to Eat your fruit with it & not to Lock’d it a Prisinor in Your Desk“ – und hegt keinen Zweifel, dass es ihr gefallen würde sowie „every one that Sees it“. Und schließlich schrieb er ihr, dass er sicher wäre, das Goldmesser und dessen Begleitgeschichte würden sie unterhalten, insbesondere da ihr Ehemann kurz vor einer Geschäftsreise stehe und sie allein zurückließe.94 Darüber hinaus zeugen die Briefe als Artefakte von spezifischen (Zeit)Praktiken95 der Alltagsbewältigung, der Zugehörigkeit und Präsenz. Briefschreiber wussten in der Regel genau, wann und wo das nächste Schiff den Hafen in Richtung Heimatort verlassen würde und organisierten den Schreibprozess so, dass auch die letzte Minute ausgeschöpft werden konnte oder komprimierten ihre Nachrichten auf ein Minimum, um das Schiff noch zu erreichen.96 Repräsentativ für viele Briefe ist etwa die folgende Formulierung eines Korrespondenten, der 1752 aus Antigua, Guatemala, an seinen Bruder in London schrieb: „Dear Geordie I have but just now heard of this Ships sailing and tho’ I’m now writing this in all imaginable haste I am dubious of missing that ship so have not time to say more to you nor to write my friend as I ought. So the first time you write him let him know of my 91 | Vgl. den Beitrag von Lucas Haasis in diesem Band. 92 | HCA 32/606, Samuel Cohen an seine Tochter Sinora Cohen in Amsterdam, London, 8. März 1796. 93 | Ebd. 94 | Ebd. 95 | Nassehi, A.: Die Zeit der Gesellschaft, bes. S. 11–32. 96 | Für einen Überblick über die unterschiedlichen Versandmöglichkeiten von Post über den Atlantik vgl. Bannet, E. T.: Empire of Letters, S. 9–13.

„Ich schicke Dir etwas Fremdes und nicht Ver trautes.“ wellfare and make my Excuse, and give my duty to him and my [...] comple=ments to all friends. pray Let me hear fro you soon with whatever News may be [beschädigte Stelle, D.F.] and Compliments to all in London where due.“97

Monsieur Devigny leitete seinen Brief, den er von Martinique über Le Havre an seine Frau und Kinder schrieb, mit den Worten ein: „Ich nutze die Gelegenheit eines Schiffs aus Le Havre, das übermorgen in See sticht, meine liebe Freundin, um Dir drei kleine Fässchen Kaffee und eines mit Zucker zu Deinem Verzehr zu schicken [...].“98

Auch das Warten auf Briefe stand immer in Relation zu den Bewegungen von Schiffen und damit zu Räumen: „[...] 6th of May and 14th August last inclosing Lists of Medecines and praying him to send them out by the first opportunity, but, although we have had 4 Ships from Lond within these 6 weeks is so far from sending the Medecines, that he has not so much as acknowledged the receite of any Letters [...]“99

Nicht selten wiederholten Briefschreiber die Inhalte früherer Briefe, da sie mangels Antwort davon ausgingen, dass die Briefe angesichts der Entfernungen und damit verbundenen Unwägbarkeiten nicht angekommen waren.100 Manche überlieferten Dokumente weisen Zeichnungen auf, die gedankenverloren, so mutet es an, an den Rändern von Texten entstanden waren und vielleicht ein Ausdruck der Langsamkeit sind, mit der der Raum auf einem Schiff durchmessen wurde und die Zeit verstrich. Schreibpraktiken reflektierten somit Zeitpraktiken von Akteuren, die nicht face-to-face kommunizierten, sondern face-to-letter mit einer entsprechenden Zeitverzögerung in den Kommunikationsstrukturen und einer zeitlichen und räumlichen Orientierungsaufspaltung.101 Briefschreiber waren sich sowohl ihrer eigenen Zeit im Hier und Jetzt bewusst wie auch dem Zusammenspiel von Raum und Zeit, bevor 97 | HCA 30/258, Capt. George [Yuille] to the care of James Buchanan Esqr Merchant in London, Antigua 1752. 98 | HCA 32/995, 28. Germinal, o. J., An Mme Devigny in Champagne-par-Chalon, Champagne, von ihrem Ehemann in Martinique (Übersetzung: Annika Raapke). 99 | HCA 30/258, Capt. George [Yuille] to the care of James Buchanan Esqr Merchant in London, Antigua 1752. 100  |  HCA 32/995, Lelong an seine Eltern in Versailles, Martinique, 22. Apr. 1803. Vgl. dazu den Beitrag von Annika Raapke in diesem Band. 101 | Knorr-Cetina, K./Bruegger, U.: Globale Mikrostrukturen der Weltgesellschaft, S. 147–150. Vgl. auch Berking, Helmuth: ‚Global Flows and Local Cultures‘: Über die

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die Briefe von den Adressaten an einem anderen Ort in einer anderen Zeit gelesen werden konnten.

6. M aterielle und emotionale P r ak tiken der Z ugehörigkeit und G e wissheit Dinge, dies ist bereits angeklungen, waren in diesen Selbstvergewisserungsprozessen von zentraler Bedeutung, um über große räumliche und zeitliche Distanzen Beziehungen zu markieren und emotional zu bewerten. Anders als in Gelehrtenkorrespondenzen ging es hier allerdings weniger um das symbolische Kapital von „Tauschgegenständen“.102 Im Mittelpunkt stand auch nicht das Sammeln exotischer Artefakte.103 Vielmehr war das Verschicken von Dingen mit diesen persönlichen Briefen eine materielle und emotionale Praktik der Zugehörigkeit und Orientierung in fremden Raum- und Zeitkontexten. Als Verbindungsglied von Menschen über Raum und Zeit wurde Dingen eine besondere affizierende Qualität zugesprochen als Träger von Emotionen und Atmosphären und als Mediator von etwas Vertrautem, das über die affizierende Eigenschaft der Dinge gegenwärtig werden und Momente der Unsicherheit und Ungewissheit auffangen sollte. Dies wird greif bar in Äußerungen wie diesen: „Ich bewahre sehr sorgfältig einige kleine Dinge auf, die ich ihr entwendet habe, dies tröstet mich darüber hinweg, von ihr entfernt zu sein“,104 schrieb der junge Verwaltungsoffizier Lelong aus Martinique an einen Freund in Brest im Jahre 1802. Praktiken generierten nicht nur Emotionen, sondern Emotionen selbst werden hier sichtbar „as a practical engagement with the world“.105 Dinge Rekonfiguration sozialer Räume im Globalisierungsprozeß, in: Berliner Journal für Soziologie 8 (1998), S.381–392. 102 | Zur doppelten Wertigkeit getauschter Gegenstände vgl. Franz Mauelshagen: Netzwerke des Vertrauens. Gelehrtenkorrespondenz und wissenschaftlicher Austausch in der Frühen Neuzeit, in: Ute Frevert (Hg.): Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 119–151, hier S. 139. 103 | Bracher, Philip/Hertweck, Florian/Schröder, Stefan: Dinge in Bewegung. Reiseliteraturforschung und Material Culture Studies, in: Dies. (Hg.): Materialität auf Reisen. Zur kulturellen Transformation der Dinge, Berlin 2006, S. 9–24 sowie Bleichmar, Dani­ ela/Mancall, Peter C. (Hg.): Collecting across Cultures: Material Exchanges in the Early Modern Atlantic World, Philadelphia 2011. 104 | HCA 32/995, E. Lelong an Unbekannt; Martinique nach Brest, 23. Apr. 1802 (Übersetzung: Annika Raapke). 105  |  Scheer, Monique: Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)? An Bourdieuan Approach to Understanding Emotion, in: History and Theory 51 (2012), S. 193–220, hier S. 193; für die aktuelle Neuausrichtung der Emoti-

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und Emotionen waren in diesen privaten Korrespondenzen häufig untrennbar miteinander verbunden, wobei Emotionen hier nicht als ein Gemütszustand verstanden werden, sondern in Anlehnung an Monique Scheer als Praktiken: „[…] [W]e need not think of experience and activity as separate phenomena, but instead view experience itself as something we do – and that we do with our entire bodies, not just the brain“.106 Emotionen als Praktiken sind Ausdruck körperlicher Dispositionen, die durch soziale Kontexte geprägt und kulturell und historisch spezifisch sind. „Emotion-as-practice is bound up with and dependent on emotional practices, defined here as practices involving the self (as body and mind), language, material artifacts, the environment, and other people.“107 Das Versenden von Dingen war für soziale Beziehungen, die über Zeit und Raum aufrechterhalten werden und eine fremde Welt mit einer vertrauten Welt verbinden sollten, eine grundlegende emotionale Praktik. Nicht selten wurde die Bitte, bestimmte Dinge aus der Heimat zu schicken, verbunden mit dem Angebot „[...] Wenn Sie sich etwas von diesem Kontinent wünschen, bitte ich Sie, mich zu beauftragen, ich werde Ihnen mit ganzem Herzen zu Diensten sein [...].“108 Monsieur Devigny, wie viele andere private Briefschreiber seiner Zeit, listete viele Dinge auf, die er zusammen mit seinem Brief an seine Frau und Kinder schickte, darunter Kaffee, Zucker und die bereits erwähnte Kiste als Liebesbeweis an seine Frau und endete damit: „Ich hoffe, dass Du meinen lieben Kindern […] Konfitüren machen kannst, falls es Früchte gibt. Sag meinen lieben Kindern, dass ich dabei bin, ihnen eine Muschelsammlung zusammenzutragen, und dass ich sie ihnen schicken werde, sobald sie vollständig ist.“109

Devigny schloss seinen Brief mit den Worten: „Du kannst Dir sicher sein, dass ich alles, was in meiner Macht steht, tun werde, damit Du glücklich bist, und damit es meiner lieben Sannette und meinem kleinen Auguste an nichts fehlt; erinnere sie dann und wann an ihren Vater, sag ihnen oft, wie sehr er sie

onenforschung vgl. auch Plamper, Jan: Vergangene Gefühle. Emotionen als historische Quellen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2013), 32/33, S. 12–19. 106 | Scheer, M.: Are emotions a kind of practice, S. 196. 107 | Ebd., S. 193. 108 | HCA 30/374, (Name unleserlich), Paramaribo nach Amsterdam, 13. März 1795. 109 | HCA 32/995, An Mme Devigny in Champagne-par-Chalon, Champagne, von ihrem Ehemann in Martinique, 28. Germinal, o. J. (Übersetzung: Annika Raapke).

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Dagmar Freist liebt, und wie sehr er darunter leidet, dass er gezwungen ist, von ihnen getrennt zu sein. Dass sie an mich denken und dass sie Dich trösten, das ist es, was ich mir wünsche.“110

In vielen Briefen werden Kinderzeichnungen oder auch Scherenschnitte vom Antlitz der Kinder oder von Freunden und Verwandten verschickt, um so Nähe und Augenzeugenschaft zu kreieren. Häufig wurden Wünsche nach Dingen als Liebesbeweis geäußert: 1803 schrieb die sechsjährige Louisa vom Kap der Guten Hoffnung, wo sie mit Verwandten war, an ihren Vater in Den Haag: „Lieber Pa, Paatje Auch ich soll Dir schreiben. Wie steht es Dir an? Denkst Du noch an mich? Wann kommst Du ans Kapp? Bring mir viel, viel Spielzeug mit. Lebe wohl. Ich küsse meinen Pa, Louise Martin“111

Artefakte waren ein Stimulus für die Selbstvergewisserung von Zugehörigkeit, sie funktionierten als eine Art re-memory von Erinnerung an entfernte Orte und Zeiten und begleiteten den Prozess der Selbstverortung in einem neuen Raum- und Zeitkontext.112 Der Gebrauch von Dingen schuf die Illusion, soziale Praktiken mit Menschen zu synchronisieren, die in anderen Räumen und Zeiten lebten, um so die Vorstellung einer körperlichen Ko-Präsenz zu schaffen, etwa bei der vertrauten Bibellektüre, dem Tragen vertrauter Kleidung, den Gebrauchsweisen vertrauter Dinge im Alltag, die man sich über weite Distanzen zuschicken ließ. Allerdings, und das kann im Kontext dieses Beitrags nur erwähnt werden, verloren diese Alltagsgegenstände und ihre Gebrauchsweisen ihre ­Bedeutung und oft auch Funktionalität in der als ungewiss und fremd erfahrenen Welt und erwiesen sich im praktischen Vollzug als ungeeignet und sogar gebrauchsunfähig. Die Frage der Intelligibilität von Dingen und ihrer Affordanzen 113 stellt sich in global social sites neu: aus praxistheoretischer Perspektive muss davon 110 | HCA 32/995, An Mme Devigny in Champagne-par-Chalon, Champagne, von ihrem Ehemann in Martinique, 28. Germinal, o. J. (Übersetzung: Annika Raapke). 111  |  HCA 32/1048, De Kinderen von Hügel en Martin aan de Kaap aan Johann Christian von Hügel en aan Johann Caspar Martin in Den Haag, 18. März 1803, aus: Gelder, R. van: Zeepost, S. 253ff. (Übersetzung: Lucas Haasis). 112 | Ausführlicher dazu Freist, Dagmar: Lost in Time and Space? Glocal Memoryscapes in the Early Modern World, in: Erika Kuijpers u. a. (Hg.): Memory before Modernity. Practices of Memory in Early Modern Europe, Leiden 2013, S. 203–221. 113 | Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012, S. 67f. und Schatzki, T. R.: The Site of the Social, S. 71 sowie ders.: Materiality and Social Life, in: Nature and Culture 5 (2010), S. 123–149, hier S. 134–138.

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ausgegangen werden, dass Menschen in global social sites nicht über wechselseitig verstehbare Deutungs- und Wahrnehmungsmuster der Welt verfügten und dies auch für die Affordanz von Dingen, also den Aufforderungscharakter von Dingen (Gebrauchsgewährleistungen), als Teil sozialer Praktiken gilt.114 Die Gebrauchsweisen von Dingen gehören aus praxeologischer Perspektive zu dem alltagspraktischen ‚tool kit‘ und mussten in Ungewissheitsräumen situativ neu angeeignet werden, die scheinbare Sicherheit der Materialität und Affordanz eines Objektes erweist sich als irreführend, das inkommensurable und subversive Potential der Dinge, so Brown,115 wird greif bar und zwingt dazu, die Bedeutung von Dingen mit Blick auf die situativ je spezifischen Gebrauchs- und Umgangsweisen neu zu bestimmen. Dinge markierten darüber hinaus soziale Positionen und waren ein Beweisstück der eigenen Selbstverortung im komplexen Kolonialgefüge. In gewisser Weise authentifizierten sie das Erlebte, sie produzieren ein textuelles „Dort sein“, allerdings konnte es durch das inkommensurable Potential der Dinge, durch ihr Eigenleben, auch zu einer Umwertung des Erlebten kommen, was nicht im Sinne der Sender war,116 und sich in den Briefen und ihrer Rolle als Kommentatoren der Dinge, ihrer Bedeutung und Gebrauchsweisen niedergeschlagen hat. Besonders ungewöhnlich war das Versenden von nicht vertrauten Nahrungsmitteln mit diesen Privatkorrespondenzen – „wie sah es den mit die beeren aus, habt ihrs vieleicht nicht komen sehn was es war, waren sie etwa noch zu gebrauchen“ 117 – und die Frage danach, wie diese geschmeckt haben – „so schreibe mir doch einmahl wie sie geschmeckt haben“118 – als ob das Fremde körperlich erfahrbar werden sollte.119 In einem anderen Beispiel fragen Eltern, die ihre kleinen Kinder allein mit dem Schiff aus Guadeloupe 114 | Die Materialität sozialer Praktiken und die „Sozialität von Artefakten“ ist in Praxissoziologien vielfach betont und kontrovers diskutiert worden. Vgl. Schmidt, R.: Soziologie der Praktiken, S. 63 sowie Latour, Bruno: Reassembling the Social. An Intro­ duction to Actor-Network-Theory, Oxford/New York 2005 und konträr dazu Schatzki, T. R.: The Site of the Social, S. 71 sowie ders.: Materiality and Social Life, S. 134–138. 115 | Brown, Bill: Thing Theory, in: Critical Inquiry 28 (2001), S. 1–22, hier S. 12. 116 | Bracher, Philip/Hertweck, Florian/Schröder, Stefan: Dinge in Bewegung. Reise­ literaturforschung und Material Culture Studies, in: Dies. (Hg.): Materialität auf Reisen. Zur kulturellen Transformation der Dinge, Berlin 2006, S. 9–24, hier S. 16. 117 | HCA 20/228, Catherine Borck an „Johannel“, Paramaribo, 28. Febr. 1795. 118 | Ebd. 119 | Vgl. dazu auch Earle, Rebecca: The Body of the Conquistador. Food, Race and the Colonial Experience in Spanish America, 1492–1700, Cambridge 2014 und Raapke, Annika: Dort, wo man Rechtsanwälte isst. Karibische Früchte, Sinneserfahrung und die Materialität des Abwesenden, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit (Frühneuzeit Impulse), Wien/Köln/Weimar 2015 (i. E.)

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zurück nach Frankreich für ihre Schulausbildung geschickt hatten, ob den Kindern die unterschiedlichen Früchte in Europa aufgefallen seien und ob sie diese schon probiert hätten: „[…] Erzählen Sie mir, ob es Ihnen während Ihrer Reise auch gut ging, ob Sie auch nicht krank geworden sind, und ob Sie Marseille schöner finden als die Pointe-A-Pitre; ob sie auch schon viele Früchte gegessen haben, Kirschen, Aprikosen, Äpfel, Birnen, Rosinen, und ob Sie sie lieber mögen als Ananas, Sapotillen, Cashewäpfel, Zimtäpfel und Guaven […].“120

Das private Versenden von Konsumgütern oder exotischen Dingen, wie etwa eines „blauen Papagei“, den die Frau eines Pflanzers aus Paramaribo an ihre Eltern in Amsterdam schickte121 oder anderer außergewöhnlicher Dinge, die im Idealfall etwas „Fremdes und nicht Vertrautes“ repräsentierten, bezeugten, dass jemand Zugang dazu hatte, um deren Wert und Gebrauchsweisen wusste und es sich leisten konnte, diese an die Familie nach Hause zu schicken. „Ich bin untröstlich, aber ich konnte nichts Außergewöhnliches finden und nach Hause schicken, als ich in Marokko war außer Rosenöl und Eselsleder. Das originale marokkanische Leder ist so grob und derb, dass man davon unmöglich Schuhe anfertigen lassen kann, und die einzigen Farben derzeit sind rot und gelb. Ich habe Dir eine Probe geschickt. Neulich konnte ich aber einen Haik 122 erstehen. Es ist eigentlich das Einzige, das es wert ist, nach Haus geschickt zu werden, denn es repräsentiert etwas Fremdes und nicht Vertrautes. Soweit ich weiß, ist es sehr beliebt in England und adlige Damen tragen es und ich hoffe, meine Dame, Du wirst davon auch Gebrauch machen.“123

Zugleich bedeutete das Versenden außergewöhnlicher Dinge für die Empfänger, dass sie in ihrem eigenen Umfeld durch den Gebrauch der Dinge den Fortbestand einer Beziehung Dritten gegenüber beglaubigen und so die eigene soziale Stellung und gegebenenfalls die wirtschaftliche Situation bekräftigen konnten. Der Gebrauch von Dingen aus der „anderen“ Welt verdeutlichte die gehobene Stellung des Partners im Kolonialgefüge für die Menschen zu Hause

120  |  HCA 32/313, Monsieur Martin, Pointe-A-Pitre, Guadeloupe, an seine beiden Kinder in Marseille, 29. Juni 1778 (Übersetzung: Annika Raapke). 121 | HCA 30/379, J.E. Roeppele, Paramaribo, an ihre Eltern in Amsterdam, 12. März 1795 (Übersetzung: Annika Raapke). 122 | Ein Schleier aus Seide oder Baumwolle. 123 | HCA 32/1651, Johan Hora Siccama in Mogador aan de familie Van Swinden in Amsterdam, 27. März 1803, aus: Gelder, R. van: Zeepost, S. 263ff. (Übersetzung: Lucas Haasis).

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und umgekehrt. Der bereits zitierte Devigny kommentierte in seinem Brief an seine Frau „Da Du mehr Kaffee haben wirst, als Du verbrauchen kannst, kannst Du ihn an Freunde verkaufen, erstklassige Qualität aus Martinique, das Fässchen Nummer 1 ist jedoch für Dich reserviert, er ist etwas älter als die anderen. Du musst gut Sorge tragen, ihn im Trockenen aufzubewahren, genauso wie den Zucker […].“124

Das Ausbleiben solcher Dinge konnte den gegenteiligen Effekt haben. Nicht selten wurde unerbittlich um die Zusendung exotischer Dinge gebettelt, sei es um willen emotionaler Zugehörigkeit, symbolischen Kapitals oder Wirtschaftsinteressen – so etwa der Herrnhuter Matthias Keck aus Christiansfeld an ein Gemeindemitglied in Paramaribo. Sein Korrespondent antwortete: „Du bittest mich um noch mehrere Rarideten auß hießigem Lande ich werde drauf anfragen u: mir alle mühe geben so bald es mir möglich ist u: die umständen es erlauben dir von allem möglichen, waß sich mir handeln mag zu senden; vielleicht geschieht es mit den Herbst schüffen; doch will ich es nicht vor gewiß versprechen.“125

7. S chluss Die koloniale und postkoloniale Geschichtsforschung über das 17. und 18. Jahrhundert konzentriert sich vor allem auf politische Traktate, wissenschaftliche Abhandlungen, Missionsberichte, Reiseberichte und einzelne erhaltene Kor­ respondenzen und damit auf eine bestimmte soziale Gruppe. Die so entstandenen Arbeiten haben zwar faszinierende und wichtige Einblicke in die diskursive Verankerung der frühen Kolonialideologien gegeben, die wiederum aus der Perspektive der postcolonial studies dekonstruiert wurden. Diese Ansätze greifen allerdings zu kurz und vermögen es nicht, die Komplexität und Konflikthaftigkeit wie auch die Umgangsweisen mit Differenzen im Alltag zu analysieren. Die hier vorgeschlagene praxeologische Lesart von Interaktionen im Kolonialgefüge basierend auf einem ungewöhnlichen Quellenbestand an Korrespondenzen und Artefakten kann prozesshaft zeigen, wie sich angesichts von Nichtpassungen und Irritationen in den praktischen Vollzügen des Alltags in den jeweiligen Praxisgegenwarten Bewältigungsstrategien im Umgang mit Kontingenz sichtbar werden. 124 | HCA 32/995, An Mme Devigny in Champagne-par-Chalon, Champagne, von ihrem Ehemann in Martinique, 28. Germinal, o. J. (Übersetzung: Annika Raapke). 125 | HCA 30/228, Johann Georg Arnold, Paramaribo an Matthias Keck in Christiansfeld, 7. März 1795.

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Mit diesem Interesse an den Mikrologiken globaler social sites im Kolonialgefüge der frühen Neuzeit und deren „Übersetzung“ für die Herkunftsländer in Form von Briefpraktiken sollen politische Machtverhältnisse aus der Analyse nicht ausgeblendet werden. Im Gegenteil, eine genaue Analyse sozialer Praktiken macht die Relationalität sozialer und transkultureller Beziehungen deutlich und verweist so auf die unterliegenden alltäglichen gesellschaftlichen und politischen Machtstrukturen, die in materiellen Praktiken reproduziert und rekonfiguriert werden. 1793, zur Zeit der Sklavenaufstände, schreibt eine Pflanzergattin aus St. Domingue, Haiti, an ihren Onkel, dass die weißen Frauen oft aus Angst vor den Aufständischen fliehen. „Es bleiben nicht mehr viele weiße Frauen hier, die Mulattinnen putzen sich umso modischer heraus, sie sind ungemein unverschämt.“126

126 | HCA 30/381, (ohne Namen, unterschrieben mit „Deine Dienerin“), Cayes auf St. Domingue, Haiti, an ihren Onkel (o. O.), Mai 1793.

Autorinnen und Autoren

Alm, Mikael, Dr. phil. and Docent, Senior Lecturer at the Department of His­ tory at Uppsala University; main areas of research and teaching: early modern Europe; cultural history, with special focus on social and political culture du­ ring the age of revolutions. Beckers, Christina, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für die Ge­ schichte der Frühen Neuzeit an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: historische Familienforschung, Frau­ en- und Geschlechtergeschichte, Geschichte des Fremdsprachenerwerbs. Böth, Mareike, Dr. phil., Wissenschaftliche Assistentin im Fachgebiet Ge­ schichte der Frühen Neuzeit an der Universität Kassel; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Geschichte der Subjektivierungsweisen in der Frühen Neuzeit, Körper- und Geschlechtergeschichte, Theorien und Methoden der Ge­ schichtswissenschaften. Brugger, Eva, Assistentin am Lehrstuhl für die Geschichte der Renaissance und der Frühen Neuzeit an der Universität Basel, Dissertation: „Passage­ punkte der Frömmigkeit. Eine Mediengeschichte der göttlichen Gnade am Beispiel der Wallfahrt 1650-1800“ an der Universität Konstanz (Anfang 2014); Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Frömmigkeits- und Mediengeschich­ te, Geschichte(n) von Erfolg und Scheitern aus wirtschafts- und globalhistori­ scher Perspektive, Gendergeschichte. Buschmann, Nikolaus, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissen­ schaftlichen Zentrum „Genealogie der Gegenwart“ der Carl von OssietzkyUniversität Oldenburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Deutsche und europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Nationalismus und Krieg, Kulturgeschichte der Disziplinierung, Praxistheorien und historische Praxeologie.

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Diskurse – Körper – Ar tefakte

Freist, Dagmar, Dr. phil., Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Nordwesteuropäische Geschichte; Öffentlichkeit und politische Kultur, religiöse Pluralisierung, globale Mikrogeschichte, historische Praxeologie. Füssel, Marian, Dr. phil., Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte an der Georg August-Universität Göttingen; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Wissenschafts-, Universitäts- und Studentengeschichte, Geschichte von Militär und Gewalt, Historiographiegeschichte und Theorie der Geschichte. Haasis, Lucas, M.A., Doktorand im DFG-Graduiertenkolleg 1608/1 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“, Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Europäische und atlantische Geschichte der Frühen Neuzeit, Briefforschung, Kaufmannsforschung, historische Praxeologie, globale Mikrogeschichte. Lemire, Beverly, DPhil., Professor & Henry Marshall Tory Chair at the University of Alberta; main areas of research and teaching: global and comparative material culture, gender and consumer practice in the early modern period. Raapke, Annika, Doktorandin im DFG-Graduiertenkolleg 1608/1 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“, Mitarbeiterin am Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Körper- und Medizingeschichte, Briefforschung, globale Mikrogeschichte. Rieske, Constantin, Promotionsstudent an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg und Kollegiat des DFG-Graduiertenkolleg 1608/1 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Historische Praxeologie; religiöse Pluralisierung und Trans-/Interkonfessionalität; europäische Geschichte der Frühen Neuzeit. Schmekel, Frank, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Geschichte der Frühen Neuzeit an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg und Stipendiat der VW-Stiftung und Gerhard ten Doornkaat Koolman-Stiftung; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Proto-Globalisierung, Eliten ländlicher Gesellschaften, Geschichte der Printmedien, materielle Kulturforschung, Musealität von Dingen und Ausstellungspraxis.

Autorinnen und Autoren

Stolberg, Michael, Dr. med. Dr. phil., Professor und Vorstand des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg; Forschungsschwerpunkte: Frühneuzeitliche Medizin- und Körpergeschichte. Williams, Megan, Dr. phil.; university lecturer (assistant professor) in Early Modern History at the University of Groningen; main areas of research and teaching: early modern diplomatic history, Habsburg, Central European and Mediterranean history, intellectual history, archival history, history of commu­ nications and political culture.

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Praktiken der Subjektivierung Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.) Selbst-Bildungen Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung 2013, 378 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1992-8

Kristina Brümmer Mitspielfähigkeit Sportliches Training als formative Praxis 2014, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2932-3

Sabine Kyora (Hg.) Subjektform Autor Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung 2014, 360 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2573-8

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