Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für »gute« und bürgernahe Politik?: Vorträge auf dem 2. Speyerer Demokratie-Forum vom 14. bis 16. Oktober 1998 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428499809, 9783428099801

Der Tagungsband gibt die Vorträge des 2. Speyerer Demokratieforums der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschafte

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Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für »gute« und bürgernahe Politik?: Vorträge auf dem 2. Speyerer Demokratie-Forum vom 14. bis 16. Oktober 1998 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428499809, 9783428099801

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Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für "gute" und bürgernahe Politik?

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 133

Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für "gute" und bürgernahe Politik? Vorträge auf dem 2. Speyerer Demokratie-Forum vom 14. bis 16. Oktober 1998 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

herausgegeben von

Hans Herbert von Arnim

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für "gute" und bürgernahe Politik? : Vorträge auf dem 2. Speyerer Demokratie-

Forum vom 14. bis 16. Oktober 1998 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer I hrsg. von Hans Herbert von Arnim. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer ; Bd. 133) ISBN 3-428-09980-X

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-09980-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Inhaltsverzeichnis Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung: Die Schlüsselrolle von politischen Institutionen Von Hans Herbert von Amim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Institutionelle Bedingungen von Refonnblockaden. Zehn Thesen Von Manfred G. Schmidt... . .................... . . ................... 41 Die Parteien in Deutschland auf dem Weg zu Kartellparteien? Von Elmar Wiesendahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Kritische Fragen zum Föderalismus Von Hans-Horst Giesing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Venninderung der öffentlich Bediensteten in den Parlamenten. Eine wissenschaftliche Initiative Von Fritz Vilmar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Staatsverschu1dung, Rentenversicherung und Bildung: Zukunftsschwächen der Wettbewerbsdemokratie im Lichte des demographischen Wandels Von Robert K. von Weizsäcker .. . . . . .. .. . .. .. . . ... . . . . . ... . .. . . . . ..... 103 Die drei Demokratien der Bürgerkommune Von Gerhard Banner ...... .. ... . .. .. . ... . ...... ... . .. ............ . .. 133 Die Unterscheidung von konstitutioneller Ebene ("Spielregeln") und täglicher Politik ("Spiel") im Ansatz der Neuen Politischen Ökonomie und der Staatsrechtslehre Von Martin Morlok ....... . ................... ... .................. . 163 Direkte Demokratie statt Refonnstau. Volksabstimmungen als Erfrischungskur. Überblick über die Aktivitäten von "Mehr Demokratie" Von Thomas Mayer .. . ... . . .. . . . .... . .... . . . .. . . . . . . . . ... . . .. .. ..... 181 Der deutsche Bund der Steuerzahler und amerikanische Public Interest Groups: Widerlegen sie Olsons Thesen von der Organisationsschwäche allgemeiner Interessen? Von Karl-Heinz Däke ............. . ... . ...... ... . .................. . . 195

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Inhaltsverzeichnis

Regieren für statt durch das Volk? Demokratiedefizite in der Europäischen Union? Von Karl Albrecht Schachtschneider . . ... . ...................... .. .... 203 Das Volk muß immer klüger sein Von Konrad Adam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Schranken für den Leviathan: Grenzen für staatliche Abgaben, Kredite und Ausgaben in den Verfassungen des Bundes und der Länder? Von Cay Folkers .. . ................. . ........ . .......... . ...... . .... 241 Mit direkter Demokratie zu besserer Wirtschafts- und Finanzpolitik: Theorie und Empirie Von Reiner Eichenherger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Vorwort des Herausgebers Machen Institutionen einen Unterschied? Die schon fast sprichwörtliche Reformblockade in der Bundesrepublik Deutschland hat die Frage immer mehr in den Mittelpunkt des öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses gerückt, ob politische Handlungsdefizite (auch) institutionell bedingt sind. Das würde nahelegen, daß sich durch Veränderung der institutionellen Ausrüstung auch die Ergebnisse der Politik tendenziell verbessern ließen. Die in der Wissenschaft diskutierte Frage "Do institutions matter?" gewinnt damit - bezogen auf die Institutionen der politischen Willensbildung praktische Relevanz. Zur (Wieder-)Herstellung von politischer Handlungsfähigkeit gibt es ganz unterschiedliche institutionelle Ansätze. Die Spannweite reicht von Vorschlägen, die das System durchlässiger machen wollen für den Common Sense der Bürger, über Reorganisationen, die eine klare Zurechnung politischer Verantwortung erlauben, bis hin zu Vorschlägen, die unabhängige, "nur der Sache verantwortliche" Entscheidungs- und Kontrollgremien nach dem Vorbild der Bundesbank errichten oder die vorhandenen stärken wollen. Mindestens genauso wichtig wie die adäquate Ausgestaltung von politischen Institutionen ist die weitere Frage, ob und wie gewünschte Änderungen von Institutionen praktisch auch durchgesetzt werden können, eine Frage, die das 2. Speyerer Demokratieforum deshalb nicht auslassen konnte. Können Reformen von den repräsentativen Körperschaften - angesichts der Eigeninteressen der politischen Klasse - realistischerweise erwartet werden? Je skeptischer man hier ist, desto mehr stellt sich die Frage, ob und inwieweit Volksbegehren und Volksentscheid zur Durchsetzung von Reformen in Betracht kommen. Direktdemokratische Elemente kommen damit unter zwei Aspekten ins Spiel, als Ergänzungs- und Konkurrenzmechanismus zur repräsentativen Willensbildung und - sozusagen auf der Verfassungsebene - als Instrumente zur Durchsetzung institutioneller Reformen. Steuern und Finanzen gehören historisch und praktisch zu den wichtigsten Aspekten staatlichen Wirkens. Ihre Behandlung kommt in einer in Deutschland typischerweise finanz- und wirtschaftsfernen Ambiance aber oft zu kurz. Im 2. Speyerer Demokratieforum wurde ihnen ebenso der gebührende Raum gegeben wie einer Auswertung ausländischer Erfahrungen. Speyer, im Juni 1999

Hans Herbert von Arnim

Einführung

Die Schlüsselrolle von politischen Institutionen Von Hans Herbert von Arnim

I. Personen oder Institutionen- worauf kommt es an? Daß es in der Politik - jedenfalls auch - auf Personen ankommt, ist offensichtlich. Ein Blick in die Geschichte und die Erinnerung an Namen wie Bismarck und Adenauer oder Hitler und Stalin macht dies, im Positiven wie im Negativen, für jedermann deutlich. Auch in aktuellen demokratischen Wahlkämpfen sind es oft Personen, die den Kampf um Mehrheiten entscheiden. Bei den letzten Parlamentswahlen in der Bundesrepublik stellten die Parteien ihre Spitzenkandidaten derart heraus, daß geradezu der Eindruck von Personalplebisziten statt von Parteienwahlen entstand. Was wäre die SPD ohne Gerhard Schröder? Was wären Die Grünen ohne Joschka Fischer, wäre die CSU ohne Edmund Stoiber? Und umgekehrt: Was hätte die CDU ohne Helmut Kohl und statt dessen mit Wolfgang Schäuble sein können? Die Menschen wollen möglichst gute und kompetente "Herrscher" und wählen diejenigen, denen sie diese Eigenschaften in stärkerem Maße zutrauen als anderen. Doch mit der Erwähnung der Wahlen sind wir bereits bei einer zentralen Institution: Das demokratische Wahlrecht soll es - der Idee nach - den Menschen ermöglichen, denjenigen Personen die Macht auf Zeit zu geben, denen sie vertrauen, und schlechte Herrscher ohne Blutvergießen wieder loszuwerden. Das demokratische Wahlrecht soll die Politik an die Vorstellungen und Wünsche der Bürger, und zwar möglichst vieler Bürger, rückbinden, personell und inhaltlich. Schon dieses Beispiel zeigt, daß auch Institutionen wichtig sind. Insofern muß ich die Überschrift dieses Abschnitts, die Frage nämlich, ob es auf Personen oder Institutionen ankomme, korrigieren: Es kommt in der praktischen Politik regelmäßig auf beides an, auf Personen und Institutionen. Denn die politischen Institutionen (die Gegenstand dieses Beitrags sein sollen) sind es, die den Rahmen für den Erwerb der politischen Macht und für ihre Ausübung setzen und damit sozusagen die "Spielregeln" darstellen, an die sich die politischen Akteure halten müssen, wenn sie "gewinnen",

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d. h. Erfolg haben und Anerkennung, Macht und Einfluß erlangen wollen. 1 Institutionen stecken nicht nur den Handlungsspielraum der auf Zeit Gewählten ab, 2 sondern legen auch die Möglichkeiten und Chancen für die Rekrutierung von Politikern, also für den Erwerb von Positionen und für deren Beibehaltung, fest und prägen dadurch bis zu einem gewissen Grad den Typ von Politikern, der Erfolg hat und in die Ämter gelangt. 3 II. Multidisziplinarität des Themas Institutionen Ein zentrales Merkmal institutioneller Ansätze und Bemühungen liegt darin, daß sie Begegnungsstätte vieler unterschiedlicher Wissenschaftszweige sind. Die Rolle von Institutionen ist Gegenstand praktisch aller wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit Staat und Gesellschaft befassen. Institutionen sind damit nicht nur ein multidisziplinäres Thema par excellence (und damit ein Thema, dessen wissenschaftliche Bearbeitung sich an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer geradezu aufdrängt). Wenn Vertreter aller gesellschaftswissenschaftliehen Disziplinen (einschließlich der Rechtswissenschaft und der Wirtschaftswissenschaft) die Institutionenfrage heute in den Mittelpunkt ihrer Forschungen stellen, läßt dies aber auch auf die besondere Aktualität und Bedeutung der Thematik schließen. Lassen Sie mich beispielhaft fünf Wissenschaftler bzw. Wissenschaftsrichtungen anführen, die dem Institutionenthema bewußt eine zentrale Rolle zumessen: die Vertreter der Neuen Politischen Ökonomie und der Konstitutionellen Politischen Ökonomie, den Öffentlichrechtier und Rechtsphilosophen Reinhold Zippelius,4 die Politikwissenschaftler Rudolf Wildenmann und Michael Greven, 1 Von "Spielregeln im System" sprechen z. B. Michel Crozier/Erhard Friedberg, Macht und Organisation, Königstein Ts. 1979, S. 68ff. Als "rules of the game" werden Institutionen etwa bei North bezeichnet: Douglas C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge 1990, S. 3. 2 Dazu auch Hans Keman, Approaches to the Analysis of Institutions, in: Bernard Steunenberg/Frans van Vught (Hg.), Political Institutions and Public Policy. Perspectives on European Decision Making, Dordrecht/Boston/London 1997, S. 1ff. (16). 3 Hans Herbert von Amim, Fetter Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse - selbstbezogen und abgehoben, München 1997, S. 101 ff. mit weiteren Nachweisen. 4 Reinhold Zippelius, Der Weg der Demokratie - ein Lernprozeß, NJW 1998, 1528 (1534): "Die Lebensfahigkeit und Akzeptanz und am Ende wohl auch die Überlebensfahigkeit des demokratischen Verfassungsstaates hängt von der Lernfähigkeit des Systems ab."

Die Schlüsselrolle von politischen Institutionen

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den französischen Soziologen Pierre Bourdieu, dessen Werke auch ms Deutsche übersetzt sind, und die Systemtheorie Niklas Luhmanns, die von bestimmten Institutionen ausgeht und diese nur anders - "System" eben - benennt. Die - für Fragen der politischen Institutionen grundlegende - Unterscheidung von konstitutionellen "Spielregeln" einerseits und dem "Spiel" der täglichen Politik innerhalb dieser Spielregeln andererseits, die die Konstitutionelle Politische Ökonomie in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt, 5 ist der Staatsrechtslehre ohnehin seit langem vertraut, wenn sie dafür auch andere Begriffe verwendet6 (und der Bezug zu aktuellen Problemen etwas aus dem Blick entschwunden ist). Auch einzelne Politikwissenschaftler behandeln die Thematik seit langem: Rudolf Wildenmann rückte schon in den sechziger Jahren die Regeln des Machterwerbs und der Machtausübung in den Mittelpunkt einer Abhandlung, 7 und Michael Greven hat diesen Ansatz 30 Jahre später wieder aufgegriffen. 8 In der Soziologie stehen Institutionen ohnehin im Zentrum der Betrachtung. Aus dem soziologischen Schrifttum sei hier - neben Bourdieu9 - vor allem Luhmann erwähnt. 5 Hier sei besonders hingewiesen auf Geoffrey Brennan/James Buchanan, Die Begründung von Regeln, Tübingen 1993. 6 Einen Überblick über die unterschiedlichen (sich aber möglicherweise fruchtbar ergänzenden) Perspektiven der Staatsrechtslehre und der Konstitutionellen Politischen Ökonomie geben die Beiträge in: Christoph Engel/Martin Morlok (Hg.), Öffentliches Recht als Gegenstand ökonomischer Forschung. Die Begegnung der deutschen Staatsrechtslehre mit der Konstitutionellen Ökonomie, Tübingen 1998. 7 Rudolf Wildenmann, Regeln der Machtbewerbung (1963), in: ders., Gutachten zur Frage der Subventionierung politischer Parteien aus öffentlichen Mitteln, Meisenheim a.G. 1968, S. 70ff. Wildenmanns frühe Ansätze wurden von der Politikwissenschaft allerdings lange nicht aufgegriffen oder gar fortentwickelt. 8 Michael Th. Greven, erkennt auch das verfassungstheoretische Kernproblem, wenn er ausführt, daß es "vor allem dieses Privileg" ist, nämlich "auf den institutionellen Kontext des Entscheidungshandeins und der Machtzuweisung selbst Einfluß nehmen zu können, das politische Parteien von anderen einflußsuchenden und -nehmenden Personenzusammenschlüssen unterscheidet und das sie historisch in die Vorhand gebracht hat". Die Parteien seien "nicht nur die entscheidenden Spieler", sondern sie verfügten "in begrenzter, aber letztlich dominanter Gemeinsamkeit ihrer Interessenlage auch mehr als jeder andere potentielle Mitspieler über die Spielregeln im Kampf um die Macht". Michael Greven, Die Parteien in der politischen Gesellschaft sowie eine Einleitung zur Diskussion über die "allgemeine Parteientheorie", in: Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hg.), Stand und Perspektiven der Parteienforschung in Deutschland, Opladen 1993, S. 277 (290). Greven greift allerdings nicht auf Wildenmann zurück und scheint dessen Ansätze gar nicht zu kennen. Auch die parallelen, besonders auf die Politikfinanzierung bezogenen früheren Ansätze des Verfassers dieses Beitrags (z. B. Hans Herbert von Amim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, 1. Aufl., Mainz 1991, S. 230ff.) nimmt er nicht zur Kenntnis. Zum ganzen Problem von Amim, Fetter Bauch regiert nicht gern, a. a. 0., Kapitel 6.

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Auf Luhmanns Systemtheorie ist deshalb einzugehen, weil sie nicht nur Übereinstimmungen, sondern auch zentrale Unterschiede zu dem hier zugrundegelegten institutionellen Ansatz aufweist. Luhmann geht davon aus, die Handlungen der Akteure würden durch das jeweilige System in einigem Umfang beeinflußt und gelenkt. Das gilt für Politiker im "politischen System" ebenso wie für Verwaltungsangehörige im "System der Verwaltung". Der Ausgangspunkt der Systemtheorie deckt sich weitgehend mit dem hier vertretenen institutionellen Verständnis: Beide gehen davon aus, daß die Handlungsmöglichkeiten der Akteure durch das System mitbestimmt werden. Die Unterschiede liegen in der Frage der Bewertung und in der Möglichkeit von Reforrnperspektiven. Luhmann meint, es könne keine übergreifenden Bewertungsmaßstäbe geben, mit denen man Fehlentwicklungen eines Systems von außen sinnvoll überhaupt nur identifizieren könne. Schon gar nicht könne man ins Gewicht fallende Änderungen bewirken. 10 Demgegenüber geht der hier vertretene institutionelle Ansatz (wie noch zu zeigen sein wird) davon aus, daß die Identifizierung und Bewertung von Fehlentwicklungen durchaus möglich ist. Er geht ferner davon aus, daß durch Änderung der Systemdeterminanten auch Verbesserungen machbar sind. Dabei sei Luhmann allerdings eingeräumt, daß Systemänderungen (oder, was in der Sache dasselbe besagt: institutionelle Änderungen) besonders schwer herbeizuführen sind, weil (wie ebenfalls noch zu zeigen sein wird) Institutionen regelmäßig mit Eigeninteressen, Gewohnheiten und anderen eingeschliffenen Verhaltens- und Denkweisen der Akteure derart verwoben sind, 11 daß Änderungen auf deren geharnischten Widerstand zu stoßen pflegen. Institutionelle Änderungen verlangen deshalb ihrerseits besondere Schubkräfte, die geeignet erscheinen, die Widerstände der systeminternen Interessenten zu brechen. Dafür dürften - das sei hier im Vorgriff schon gesagt - in der Demokratie vornehmlich solche Institutionen geeignet sein, die auf ein unmittelbares Votum des Volkes zurückgehen. Von daher wird sich erweisen, daß direktdemokratische Elemente im Zusammenhang mit dem Institutionenthema eine besondere Bedeutung, ja geradezu eine Schlüsselfunktion, erhalten. 9 Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. 1998, z. B. S. 224 f.: Es geht "wie in Machiavellis idealer Republik" darum, die Bedingungen zu schaffen, nach denen "die Tugend, die lnteressenfreiheit, die Verpflichtung auf den öffentlichen Dienst und das Gemeinwohl im Interesse der Akteure läge. . . . In der Politik hat die Moral nur dann eine Chance, wenn man daran arbeitet, die institutionellen Mittel einer Politik der Moral zu schaffen". 10 So schon Niklas Luhmann, Kann die Verwaltung wirtschaftlich handeln, Verwaltungsarchiv 1960, S. 97ff.; ders. , Der Staat 1962, S. 375ff. Dazu Hans Herbert von Amim, ·Steuerung durch Recht, in: von Arnim/Klages (Hg.), Probleme der staatlichen Steuerung und Fehlsteuerung in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1986, S. 51 (62f.). 11 Arthur' Benz, Föderalismus als dynamisches Prinzip, Opladen 1985, S. 93 ff.

Die Schlüsselrolle von politischen Institutionen

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111. Begriffiiche Eingrenzung

Der Vielfalt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema Institutionen entspricht die Vielstimmigkeit der Begriffe und Abgrenzungen. Wir haben es - jedenfalls auf den ersten Blick - mit einer babylonischen Begriffsverwirrung zu tun. Die einen sprechen von "Regeln", die anderen von "Organisation", die dritten von "System", um nur drei der vielen Begriffe zu nennen, die als Synonyme für "Institution(en)" verwendet werden. Es erscheint deshalb zunächst einmal sinnvoll, für unsere Zwecke eine gewisse vorläufige begriffliche Klärung zu versuchen: Mit "politische Institutionen" meinen wir im folgenden bestimmte nicht personell bedingte rechtliche und soziale Gegebenheiten, die das Handeln der politischen Akteure beeinflussen und eingrenzen, 12 also im Kern "Handlungspotentiale und Handlungsschranken"Y Das können rechtliche Regeln sein, die vor allem in den formellen Verfassungsurkunden (aber auch im sogenannten materiellen Verfassungsrecht 14) niedergelegt sind, ebenso wie faktische Bedingungen. Es geht also in etwa um das, was Staatsrechtslehre und politische Soziologie herkömmlicherweise als "Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit" bezeichnen. IV. Neuer Institutionalismus - alte Thematik Die Erforschung von Institutionen und ihrer Wirkungsweise hat in den Sozialwissenschaften in den letzten Jahrzehnten einen gewaltigen Aufschwung genommen. In den einschlägigen Fachwissenschaften, besonders 12 Mit "Akteur" sind in diesem Zusammenhang die einzelnen individuellen Personen gemeint, nicht auch kollektive Akteure wie z. B. die politischen Parteien, da sich deren Handeln und Verhaltensweisen nicht als einfache Aggregation aus der Summe der Aktivitäten der beteiligten Personen ergibt, sondern selbst wiederum in erheblichem Maße institutionell konstituiert und geprägt sind, also durch soziale und natürlich auch rechtliche Regeln (zum Beispiel im Falle der Parteien durch Parteiengesetz, Fraktionsgesetze, Wahlgesetze, Abgeordneten- und Ministergesetze). 13 So Fritz W. Scharpf, Plädoyer für einen aufgeklärten Institutionalismus, in: Hans-Hermann Hartwich (Hg.) Policy-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Selbstverständnis und ihr Verhältnis zu den Grundfragen der Politikwissenschaft, Opladen 1985, S. 167: Institutionen sind im Kern "Handlungspotentiale und Handlungsschranken". 14 Unter "materiellem Verfassungsrecht" versteht die Staatsrechtslehre herkömmlicherweise Vorschriften, die für den Erwerb, die Beibehaltung, die Verteilung oder die Ausübung der Macht im Staate von grundlegender Bedeutung sind, auch wenn die Vorschriften nicht in der formellen Verfassungsurkunde niedergelegt sind, wie zum Beispiel die Frage nach dem Wahlsystem (Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht?), die das Grundgesetz bekanntlich offenläßt und die erst das Bundeswahlgesetz entscheidet. Meines Erachtens müssen dazu heute auch Regelungen gezählt werden, welche die Versorgung der politischen Klasse betreffen.

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der Politik- und Verwaltungswissenschaft, der Soziologie und der Politischen Ökonomie, sind rasch wachsende Forschungsrichtungen entstanden, die sich unter dem Oberbegriff "Neo-Institutionalismus" oder "Neuer Institutionalismus" zusammenfassen lassen. 15 Für sie steht nicht mehr in Frage, ob Institutionen überhaupt einen Unterschied machen 16 - die Bejahung ist sozusagen Arbeitsgrundlage -, sie fragen vielmehr danach, in welcher Weise und in welchem Maße Institutionen auf das Verhalten der politischen Akteure einwirken. 17 1. USA-Veifassung Indes ist die Erkenntnis, daß Institutionen für die Steuerung der politischen Willensbildung zentral sind, eigentlich gar nichts Neues. Bereits die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787 wurde insgesamt als ein System von Gegengewichten zu dem Zweck konzipiert, daß die Amtsträger sich gegenseitig in Schach halten und am Mißbrauch ihrer Macht hindern. In den Federalist Papers, einer Art Kommentar der amerikanischen "Verfassungsväter", heißt es wörtlich: "Es mag Ausdruck eines Mangels der menschlichen Natur sein, daß solche Kniffe notwendig sein sollen, um den Mißbrauch der Regierungsgewalt in Schranken zu halten. Aber was ist die Tatsache, daß Menschen eine Regierung brauchen, selbst anderes als der deutlichste Ausdruck des Mangels der menschlichen Natur? Wenn die Menschen Engel wären, wäre keine Regierung notwendig. Wenn Engel die Menschen regierten, wären weder äußere noch innere Kontrollen der Regierung notwendig. Geht es jedoch um die Schaffung einer Regierung, die von Menschen über Menschen ausgeübt werden soll, stellen sich folgende Probleme: Zuerst muß man die Regierung dazu in die Lage versetzen, die Regierten zu kontrollieren; dann 15 Programmatisch für den "Neuen Institutionalismus" ist der Buchtitel von James G. March/Johan P. Olsen, Rediscovering Institutions. The Organizational Basis of Politics, New York 1989. 16 Fritz W. Scharpf, Does Organization Matter? in: Elmar H. Burack/ Anant R. Neghandie (Hg.), Organization Design, Kent/Ohio, Kent State University Press 1977, s. 149ff. 17 Einen Überblick über diese Forschungsrichtung geben Rainer Schmalz-Bruns, Neo-Institutionalismus, in: Thomas Ellwein/Joachim Jens Hesse/Renate Mayntz/ Fritz W. Scharpf (Hg.), Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1990, S. 315ff.; Gunnar Folke Schuppert, Institutional Choice im öffentlichen Sektor, in: Dieter Grimm (Hg.), Staatsaufgaben, Baden-Baden 1994, S. 647ff.; Peter A. Hall! Rosemary C. R. Taylor, Political Science and the Three New Institutionalisms, in: Political Sturlies 1996, S. 936ff.; Thomas A. Koelble, The New Institutionalism in Political Science and Sociology, in: Comparative Politics, 27. Jg., 1995, S. 231ff.; Andre Kaiser, Vetopunkte der Demokratie. Eine Kritik neuerer Ansätze der Demokratietypologie und ein Alternativvorschlag, ZParl 1998, S. 525 ff.

Die Schlüsselrolle von politischen Institutionen

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muß man sie dazu zwingen, sich selbst zu kontrollieren. Die Abhängigkeit vom Volk stellt ohne Zweifel die wichtigste Kontrolle der Regierung dar. Aber die Erfahrung hat die Menschheit gelehrt, daß zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen erforderlich sind." 18 Auch hier schlägt also die uralte Weisheit durch (die Lord Acton dahin formuliert hat), daß Macht korrumpiert und absolute Macht absolut korrumpiert, so daß es geeigneter institutioneller Vorkehrungen bedarf, um solchen Mißbrauch möglichst zu verhindern. 2. Grundgesetz: Institutionelle Reaktion auf Weimar

Über das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland lernt der Jurastudent schon in den ersten Semestern, daß es in vielen Bereichen ganz bewußt als institutionelle Reaktion auf (tatsächliche oder vermeintliche) Fehlentwicklungen der Weimarer Zeit konstruiert worden ist mit dem Ziel, derartige Fehlentwicklungen in Zukunft möglichst zu verhindern: Erwähnt seien die Abschaffung der Volkswahl des Präsidenten, die Beseitigung von Volksbegehren und Volksentscheid, die verfassungsrechtliche Zulassung der Fünfprozentklausel, die Absetzbarkeil des Bundeskanzlers nur durch Neuwahl eines Nachfolgers (sogenanntes konstruktives Mißtrauensvotum) oder das Konzept einer kämpferischen Freiheit, die den Feinden der freiheitlichdemokratischen Grundordnung die Freiheiten verwehrt. V. Was ist neu am Neuen Institutionalismus?

Wenn aber institutionelle Grundlagenüberlegungen schon vor Jahrzehnten und Jahrhunderten angestellt wurden, drängt sich die Frage auf, was eigentlich neu ist am Neuen Institutionalismus. 19 Warum haben die einschlägigen Fachwissenschaften - jedenfalls in ihren Hauptrichtungen - das Thema Institutionen lange vernachlässigt und deren zentrale Bedeutung erst jetzt wiederentdeckt? Warum hatte man die Thematik zwischenzeitlich ausgelassen, und was hat die verschiedenen Forschungsrichtungen des Neuen Institutionalismus veranlaßt, nunmehr Forschungslücken zu erkennen, die dringend geschlossen werden müssen?

18 Alexander Hamilton!James Madison/lohn Jay, Die Federalist Papers, Darrnstadt 1993, S. 320 (Nr. 51, Absatz 4). 19 Die Frage "What is New about the ,New Institutionalism'" hat auch Nelson Polsby gestellt; zitiert nach Thomas A. Koelble, The New Institutionalism in Political Science and Sociology, in: Comparative Politics 1995, S. 231 - 243 (231).

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1. Zum "Altem" von Institutionen

Daß Institutionen im Laufe der Zeit leicht "veralten" und dann einer Überprüfung und Erneuerung bedürfen, ist keineswegs überraschend. Liegt ein Kennzeichen von Institutionen in ihrer Dauerhaftigkeit20 und damit auch in ihrer Beharrung, so kann es dazu kommen, daß die Wirklichkeit sich weiterentwickelt, die Institutionen aber erstarren und neuen Gegebenheiten nicht mehr gewachsen sind. 21 Bezogen auf die Verfassung als Ganze fühlt man sich unwillkürlich an den zwei Jahrhunderte alten Satz Thomas Jeffersons erinnert, jede Verfassung müsse von Zeit zu Zeit überprüft werden und jede Generation müsse sich ihre Verfassung immer wieder erneut selbst geben. Jedenfalls dürfte das aktuelle Interesse der Wissenschaft (und auch der allgemeinen Öffentlichkeit) an Institutionen geradezu deren Überprüfungs- und Erneuerungsbedürftigkeit "indizieren". 2. Gründe für die bisherige Vernachlässigung des Institutionenthemas

Selbst wenn bestimmte grundgesetzliche Institutionen, mit denen wir uns hier vor allem beschäftigen wollen, von Anfang an Kritik verdient haben sollten, so trugen der wirtschaftliche Erfolg ("Wirtschaftswunder") und die innen- und außenpolitische Stabilität der Bundesrepublik doch zunächst insgesamt zur Festigung des Vertrauens in die Institutionen der jungen Demokratie bei. a) Politikwissenschaft als affirmative Wissenschaft In dieselbe Richtung wirkte die "zuständige" wissenschaftliche Disziplin. Die nach dem Zweiten Weltkrieg unter Mitwirkung der westlichen Besatzungsmächte entstandene bundesdeutsche Politikwissenschaft verdankt ihre Existenz ganz wesentlich dem Bemühen, den Deutschen nach der Nazi-Diktatur das Funktionieren demokratischer Institutionen nahezubringen, eine 20 Die Dauerhaftigkeit wird regelmäßig als ein bestimmendes Merkmal von Institutionen genannt; sie sind gewissermaßen ein "ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht" (so Philipp Genschel, Variationen des Wandels. Institutionelle Evolution in der Telekommunikation und im Gesundheitssystem, in: Politische Vierteljahresschrift 1996, S. 56 [59, Hervorhebung im Original]). Die Kehrseite dieser prinzipiell positiven, stabilitätsfördernden Eigenart von Institutionen ist dann aber ihre mehr oder weniger große Inflexibilität. 21 Phitipp Gensehe I, Variationen des Wandels, a. a. 0., S. 56: "Die neo-institutionalistischen Musterfälle zeigen Institutionen, die ihre Gründungsumstände, ihre Gründer und schließlich auch ihre funktionale Berechtigung überleben. Irgendwann scheinen sich alle Vorzüge einer institutionellen Form in ihr Gegenteil zu verkehren."

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Volksbildungsaufgabe, die lange eine eher affirmative Haltung der Diszplin begünstigte und Kritik nicht gerade förderte. Umgekehrt dürfte die heutige Hochkonjunktur des Neuen Institutionalismus letztlich in der zunehmenden Überzeugung wurzeln, daß die bestehenden Institutionen nicht mehr unangefochten funktionieren, sondern weithin als fragwürdig und problematisch empfunden werden. Damit geraten sie zwangsläufig in den Blick der kritischen Analyse. b) Wertblindheit von Sozial- und Rechtswissenschaften Ein weiterer Grund für die ursprüngliche Vernachlässigung des Institutionenthemas liegt in spezifischen Wissenschaftsverständnissen. Die Beschäftigung mit Institutionen beruht letztlich auf einer kritischen, reformerisch ausgerichteten Grundhaltung. Es geht darum, institutionelle Pathologien festzustellen und Vorschläge für institutionelle Verbesserungen zu entwikkeln.Z2 Dies aber setzt zwangsläufig Wertungen voraus und verlangt damit etwas, was die Rechts- und Sozialwissenschaften in einem säkularen Prozeß ganz bewußt aus ihrem Blickfeld ausgeblendet und aus ihrem Kompetenzbereich eliminiert hatten, besonders zugespitzt im rechtswissenschaftliehen und im sozialwissenschaftliehen Positivismus: Der rechtswissenschaftliche Positivismus war im Kern davon ausgegangen, Aufgabe der Rechtswissenschaft sei es, mittels einer rein begrifflichen Methode aus dem Gesetz abzuleiten, was juristisch "richtig" sei. Der sozialwissenschaftliche Positivismus sah es als alleinige Aufgabe der Sozialwissenschaften an, Tatsachen zu ermitteln und empirisch überprüfbare Hypothesen über Zusammenhänge aufzustellen. Rechtswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Positivismus stimmten beide in einem Negativum überein, nämlich darin, daß sie Wertungen als unwissenschaftlich diskreditierten und aus ihrem Zuständigkeitshereich ausschlossen. Eben solcher Wertungen bedarf es aber, um institutionelle Pathologien entdecken und fruchtbare Vorschläge für institutionelle Verbesserungen machen zu können. Die Philosophie macht zwar Wertungen zu ihrem Hauptgegenstand. Doch behandelt sie diese meist so weit weg von der Realität, daß sie damit kaum Einfluß auf die Praxis haben, fruchtbare Kritik ermöglichen und rechtspolitische Impulse auslösen kann. Bezeichnend ist, daß wichtige zeitgenössische philosophische Lehren wie die von lohn Rawls23 und von ]ürgen Habermai4 völlig ohne Einbeziehung der heute wichtigsten politischen Kollektivakteure, der politischen Parteien und der lnteressenverbände, auskommen und deshalb die gerade 22 23 24

Schuppert, Institutional Choice im öffentlichen Sektor, a. a. 0. lohn Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1975. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1994.

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durch deren Wirken geschaffenen Probleme gar nicht in den Blick bekommen.Z5 c) Methodische Unzugänglichkeit Eine zusätzliche Schwierigkeit liegt in der Nachweisbarkeil des Zusammenhangs von Institutionen einerseits und den Ergebnissen der Willensbildung andererseits. Während die Wirkung staatlicher Befehle wegen ihrer Unmittelbarkeit leicht nachvollziehbar und prinzipiell auch empirisch überprüfbar ist, ist die Kausalbeziehung zwischen Institutionen und ihrem Output methodisch schwieriger aufzuzeigen und erscheint leichter bestreitbar. 26 Die Frage "Do institutions matter?" kann mit den Methoden der empirischen Sozialwissenschaften kaum eindeutig beantworten werden. Darin liegt eine zusätzliche Erklärung, warum die Zusammenhänge zwischen Institutionen und ihrem Output leicht aus dem Blick ausschließlich empirisch ausgerichteter Sozialwissenschaften herausfielen.

3. Gründe für die Renaissance Doch was gibt institutionellen Fragen heute ein so zentrales Gewicht? Warum erscheinen unangemessene politische Institutionen doppelt schlimm? Die Antwort führt zurück auf die Auswirkungen institutioneller Mängel. a) Zur Bedeutung von Institutionen Wenn die Tendenzen in Staat und Gesellschaft und die Ergebnisse, welche die politischen Akteure in ihrem vielfältigen Zusammenwirken hervorbringen, wesentlich von den Institutionen abhängen, innerhalb derer die Akteure tätig sind, dann gelten zwangsläufig folgende Zusammenhänge: Sind die politischen Institutionen mangelhaft ausgestaltet, so werden auch die resultierenden einzelnen politischen Entscheidungen in der Tendenz unausgewogen und fehlerhaft sein. Sind die institutionellen Weichen falsch gestellt, so wird aus individueller Rationalität der Akteure leicht kollektive Irrationalität erwachsen. Die Neue Politische Ökonomie spricht in diesem Zusammenhang von "Dilemmasituationen",27 ein Zweig der Politikwissen25 Die aus dem Auslassen von Parteien und Verbände folgende Ausblendung der eigentlichen Probleme reproduziert sich in anderen zeitgenössischen Werken der Philosophie, z. B. Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt a.M. 1987. 26 Fritz W. Scharpf, Grenzen institutioneller Reform, Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1987, 111 (120ff.).

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schaft von "Rationalitätsfallen".Z8 Im Ansetzen an den Institutionen liegt ein Weg, der einerseits den Zugang zu den Problemen erleichtert, der andererseits aber auch besonders tragfähig und fruchtbar erscheint: Einerseits lassen sich institutionelle Mängel oft leichter feststellen als die Unrichtigkeit konkreter Entscheidungen. Andererseits tendiert die Inadäquanz von Institutionen dazu, auf alle in ihnen getroffenen einzelnen Entscheidungen auszustrahlen, also einen fatalen Multiplikatoreffekt zu haben. 29 Umgekehrt haben dann aber auch institutionelle Verbesserungen eine entsprechende - positive - Multiplikatorwirkung, weshalb es sich besonders lohnt, gerade an ihnen anzusetzen und auf diese Weise sozusagen institutionelle Steuerung zu betreiben.30 b) Zusammenbruch des östlichen Gegenmodells, Nachlassen des Wachstums, neue Herausforderungen, Reformblockade Den Menschen (einschließlich der Wissenschaftler) die zentrale Rolle von Institutionen ins Bewußtsein zu bringen, war auch eines der - ungewollten - Resultate des Kommunismus. Spätestens seit seinem Zusammenbruch ist es in unser aller Bewußtsein übergegangen, daß etwa die Ostdeutschen in der Zeit der DDR nicht deshalb wirtschaftlich so zurückgefallen waren, weil es ihnen an Intelligenz, Fleiß und Erfindungsreichtum gefehlt hätte. Entscheidend für ihren Mißerfolg waren vielmehr die Institutionen der Zentralverwaltungswirtschaft, welche die Verantwortung verwischten und Leistung, Initiative und Innovationsbereitschaft nicht belohnten, sondern bestraften und zur Verschwendung geradezu anreizten. Im Bereich der Wirtschaft wurde also unübersehbar, daß die besten Eigenschaften der Menschen nichts nützen, wenn die Institutionen ungeeignet sind. Warum aber sollten die Institutionen nur für den Bereich der Wirtschaft entscheidende Bedeutung haben? Warum zögern wir, die Erkenntnis auch auf den Bereich der Politik zu erstrecken? Gilt hier im Prinzip nicht Ähnliches? Daß diese Fragen offensichtlich Suggestivfragen sind, machte bereits der Vergleich zwischen den politischen Institutionen östlicher Diktaturen einerseits und denen westlicher Demokratien andererseits deutlich. Die unübersehbare (wenn auch nur relative) Überlegenheit der westlichen Institutionen hatte· jedoch eine Kehrseite, weil sie lange die Frage gar nicht aufkommen ließ, 27 Christian Watrin, Einführung zu: Brennan/Buchanan, t>ie Begründung von Regeln, a.a.O., S. Xllf. 28 Fritz W. Scharpf, Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, Politische Vierteljahresschrift 1985, 323. 29 von Amim, Staatslehre, a. a. 0., S. 195 f. 30 Hans Herbert von Amim, Demokratie ohne Volk, München 1993, S. 133f. Dort ist allerdings statt von institutioneller, von "systemischer Steuerung" die Rede, ohne daß darin jedoch ein sachlicher Unterschied läge.

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ob es nicht auch im Westen institutionelle Mängel gäbe. Erst der Wegfall des östlichen Gegenmodells ermöglichte schließlich den unverstellten Blick auf die Problematik, die durch das Nachlassen des Wirtschaftswachstums, die wachsenden politischen Herausforderungen (insbesonders die Veränderungen der Altersstruktur und die strukturelle Arbeitslosigkeit mit ihren gravierenden Folgen) und ein zunehmend als solches empfundenes Mißverhältnis zwischen den Herausforderungen und der Problemlösungsfähigkeit der Politik ("Reformblockade") verschärft wurde. Weitsichtige Beobachter hatten schon vor Jahrzehnten vorausgesagt, die Bewährungsprobe für die bundesdeutschen Verfassungsinstitutionen käme erst dann, wenn die Schönwetterzeit vorbei sei, die kommunistische Ideologie im Osten zusammenbreche und im Westen das Wirtschaftswachstum der ersten bundesrepublikanischen Jahrzehnte nachlasse? 1

VI. Bewertungsmaßstäbe Wie dargelegt, kommt institutionelles Denken nicht ohne Wertungen aus. Die Maßstäbe dafür zu gewinnen, ist allerdings nicht leicht. Der Versuch, sie aus dem Grundgesetz herauszudestillieren, erscheint vor allem aus zwei Gründen denkbar schwierig: Zum einen ist die Auslegung des Grundgesetzes, das eigentlich die politischen Akteure begrenzen und lenken sollte, durch den Einfluß ebendieser Akteure inzwischen teilweise erheblich verzerrt. Zum anderen bedarf es auch der Maßstäbe für die Schaffung und für Änderungen von Verfassungen, also für die Verfassungspolitik, die aber aus dem zu ändernden Gegenstand selbst nur schwer zu gewinnen sind. Hier helfen im Ergebnis wohl nur zwei Ansätze: Entweder versucht man, ausschließlich auf die (zu aggregierenden) Willen und Präferenzen der Bürger zurückzugehen. Die in der Lincolnsche Formel angesprochene doppelte Zielrichtung der Demokratie: Regieren für und Regieren durch das Volk, fällt dann in eins. Die Bürger sollen selbst bestimmen, was für sie gut ist. Dann kommt es allein darauf an, die Institutionen möglichst durchlässig für den Willen der Bürger und des Volkes insgesamt zu machen. Dies ist der Ansatz der Neuen Politischen Ökonomie und der Konstitutionellen Politischen Ökonomie, die ausschließlich auf die Präferenzen der (Mehrheit der) Menschen abheben.32 Oder man versucht; die Grundlagen unserer Verfassungen festzustellen und daraus tragfähige Grundwerte abzuleiten, die als Richtlinien für die 31 Wem er Weber, in: Beutler/Stein/Wagner (Hg.), Der Staat und die Verbände, Heidelberg 1957, S. 49. 32 So z.B. Eichenherger in diesem Band (unten S. 259ff.).

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Bewertung von Institutionen dienen können. Dieser zweite Weg soll im folgenden in aller Kürze skizziert werden. Die bundesdeutschen Verfassungen (des Bundes und der Länder) sind von vier großen Ideen beherrscht: der rechtsstaatlichen, der sozialen, der demokratischen und der bundesstaatlichen. Alle vier haben ihren Niederschlag in bestimmten Verfassungsinstitutionen gefunden. So sollen etwa die beiden wichtigsten rechtsstaatliehen Prinzipien, Gewaltenteilung und Grundrechte, die Bürger - negativ - vor möglichem Mißbrauch der Staatsmacht schützen, also verhindern, daß schlechte Herrscher großen Schaden anrichten, und - positiv - dazu beitragen, daß die unterschiedlichen Akteure sich gegenseitig zu möglichst großer "Richtigkeit" steigern. 33 Das Sozialstaatsprinzip fordert den Schutz der Schwachen. Es ist ursprünglich Antwort auf den bürgerlich-liberalen Staat, von dem Karl Marx noch meinte, er befinde sich in der Hand der "Kapitalistenklasse", die auf diese Weise das Proletariat nur um so konsequenter auszubeuten in der Lage sei. Und so falsch erschien Marx' Auffassung im 19. Jahrhundert ja nicht: Gewerkschaften waren verboten, und vom politischen Wahlrecht war das Proletariat ausgeschlossen. Allein vom Besitzbürgertum gewählte Parlamente schienen aber zu sozialen Reformen kaum fähig. Diese hätten ja zu Lasten ihrer Wählerschaft gehen müssen.34 Marx' Kernthese lief also - wenn man es einmal in heutiger Diktion sagen will - auf eine Theorie des institutionell bedingten Reformstaus hinaus. Das Demokratieprinzip verlangt, daß die Menschen, und zwar möglichst alle Menschen in gleicher Weise, möglichst weitgehenden Einfluß auf die politische Willensbildung besitzen. Eine wichtige Ausprägung des Demokratieprinzips ist in der repräsentativen Demokratie das allgemeine, gleiche, freie und unmittelbare Wahlrecht. Das Demokratieprinzip verlangt die Herstellung von möglichst großer Durchlässigkeit der politischen Institutionen für den Volkswillen. Dem entspricht der Ansatz der Politischen Ökonomie, die deshalb für die Einführung direktdemokratischer Institutionen (und für die Erleichterung ihrer Handhabung) einzutreten pflegt. Im Unterschied dazu befürwortet ein eher repräsentativ geprägtes Grundverständnis keine so enge Rückbindung "der Politik" an die Bürger. Im Gegenteil, gute Politik setzt danach einen Freiraum voraus, um im wohlverstandenen Interesse 33 Hans Herbert von Am im, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, Frankfurt a. M. 1977; ders., Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 32ff., s. 500ff. 34 von Amim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, a. a. 0., S. 73 ff. - Zu Lorenz von Steins Reformkonzept, das auf dem Gedanken eines "sozialen Königtums" beruhte, ebenda, S. 76f.

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der Bürger auch Projekte durchzusetzen, welche die Bürger aus Kurzsichtigkeit mehrheitlich ablehnen, was wiederum voraussetzt, daß Politiker und Parteien klüger und weiser sind als die Bürger selbst (eine Voraussetzung, welche die Politische Ökonomie ihrerseits nachdrücklich bestreitet). Interessant ist, daß die Verallgemeinerung des Wahlrechts auch die "Soziale Frage" zu überwinden half. Die Erweiterung des Wahlrechts auch auf Arbeitnehmer und andere wirtschaftlich Abhängige, die sich nach dem Ersten Weltkrieg überall durchsetzte, versetzte nämlich erst die Parlamente zu Reformen zugunsten der Schwachen in vollem Umfang in die Lage, "entfesselte" die Gewerkschaften und löste eine umfangreiche Arbeitnehmerschutz- und Sozialgesetzgebung aus. 35 Das Bundesstaatsprinzip soll seiner Idee nach die Grundsätze des Demokratie- und des Rechtsstaatsprinzips stützen und verstärken. Den genannten Prinzipien entsprechen bestimmte Grundwerte, die sich jeweils in Reaktion auf bestimmte historische Mißstände herausgebildet und verdeutlicht haben: Dem Rechtsstaat entspricht der Grundwert "Sicherheit und Ordnung", dessen Bedeutung im Zeitalter der englischen und französischen Bürgerkriege offensichtlich geworden war. Dem Sozialstaatsprinzip entspricht der Grundwert "soziale Gerechtigkeit", der sich im Zeitalter des Manchesterliberalismus mit seinen großen sozialen Mißständen herausbildete. Dem Demokratieprinzip entspricht der Grundwert der "Selbst- bzw. Mitbestimmung" der Bürger, deren Fehlen besonders in der Zeit des Absolutismus schmerzlich empfunden wurde. Beim Föderalismusprinzip liegen die Verhältnisse insofern anders, als es seine Entstehung nicht der Reaktion auf einen Mißstand verdankt, sondern der Berücksichtigung der bestehenden Machtverhältnissen: Die nationale Einigung im Jahre 1871 war- angesichts der Existenz einer großen Zahl selbständiger monarchischer Staaten nur in einem bundesstaatliehen Gemeinwesen möglich, das den Gliedstaaten ihre Staatsqualität beließ, nicht in einem Zentralstaat Ähnlich - wenngleich ohne die dynastische Komponente - war die Gründungssituation 1776 in den USA und 1848 in der Schweiz. Die Ideen zur Rechtfertigung des Bundesstaates wirken nicht ganz zufällig bisweilen - jedenfalls bis zu einem gewissen Grad - nachgeschoben. Es wundert deshalb auch nicht, daß die dem Bundesstaat zugrunde liegenden Grundwerte letztlich in andere (Demokratie und Rechtsstaat) einmünden. Die genannten großen Ideenkomplexe stimmen in zweierlei überein: Sie gehen zum einen von den einzelnen Menschen und ihren Wünschen und Interessen aus, was sich letztlich daraus erklärt, daß die dahinterstehenden philosophischen und staatstheoretischen Lehren sämtlich auf vertragstheore35

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tischen Grundlagen beruhen. 36 Zum zweiten sehen sie im Staat und in allen seinen Erscheinungsformen keinen Eigenwert, sondern ausschließlich Instrumente, den Menschen zu dienen. Allein darin liege seine Rechtfertigung und seine Existenzberechtigung. Diese zugleich anthropozentrische und instrumentale Grundauffassung, die dem Staat und seinen Funktionären jedes Eigeninteresse verwehrt und ihnen nur eine Dienstfunktion im Interesse der Menschen zuerkennt (die sich im übrigen auch in der Personenzentriertbeil des ganzen deutschen Rechts 37 widerspiegelt), hat seinen Niederschlag auch im Grundgesetz gefunden. Nach Art. 1 GG ist der Staat um der Menschen willen da, nicht umgekehrt? 8 Die Grundfrage aller Staatswissenschaften, ob man den Sinn und die Rechtfertigung des Staates von oben oder von unten her deutet, also aus der Perspektive der Mächtigen oder der Bürger,39 wird vom Grundgesetz eindeutig im letzteren Sinne beantwortet. VII. Das Aufkommen macht- und eigeninteressenorientierter Kollektivakteure Das allgemeine, gleiche Wahlrecht und die dadurch ausgelöste Entwicklung der Massendemokratie setzten ihrerseits aber eine neue Dynamik in Gang, indem sie (in Verbindung mit der nunmehr grundrechtlich gesicherten Assoziationsfreiheit) das Entstehen von außerstaatlichen, aber um so mächtigeren Großorganisationen wie der politischen Parteien und Interessenverbände begünstigten. Diese (bzw. ihre Führungen) sind zu den wichtigsten kollektiven Akteuren aufgestiegen. Ihr Wirken überlagert die überkommenen verfassungsrechtlichen Grundsätze, ohne daß es bisher aber ausreichende Barrieren gäbe, die sie disziplinierten und kanalisierten. Es fehlt noch an institutionellen Vorkehrungen, die den neuen Gegebenheiten gewachsen wären. Die mangelnde Kontrolle von Parteien und Interessenverbänden - daneben auch der Medien und der Verwaltung - markiert eine 36 Hasso Hofmann, Die klassische Lehre vom Herrschaftsvertrag und der "NeoKontraktualismus", in: Engel/Morlok (Hg.), a.a.O., S. 257 (258ff.). 37 Helmut Schelsky, Die Soziologen und das Recht, Opladen 1980; Hasso Hofmann, a.a.O. 38 So ausdrücklich die Formulierung im Entwurf von Herrenchiemsee, deren Sinn durch den schließlich beschlossenen anderen Wortlaut nach herrschender Auffassung nicht berührt wurde. Dazu von Amim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, Frankfurt a.M. 1977, S. 13ff. m. w. N. 39 Diese Frage hat z. B. Wilhelm Hennis gestellt (Wie wären die "eigentlichen Kernbereiche" der Politikwissenschaft heute zu definieren?, in: Hartwich (Hg.), Policy-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1985, S. 122 [178]). Aufgegriffen von von Amim, Zur normativen Politikwissenschaft, Der Staat 1987, s. 477.

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der zentralen Verfassungsfragen am Ende des 20. Jahrhunderts. Das institutionelle Kernproblem liegt in folgendem: Die überkommene Verfassungsordnung geht von der Verpflichtung der Akteure auf das Gemeinwohl (im Sinne einer Konkretisierung der oben skizzierten Bewertungsmaßstäbe und ihrer Anwendung auf die jeweilige Situation) aus, und die Staatsrechtslehre pflegt in ihrer Hilflosigkeit zu unterstellen, daß die Amtsträger sich "irgendwie" auch an diese Verpflichtung halten. Das aber wird zunehmend zum Wunschdenken, das die eigentlichen Probleme zu verkleistern droht. Die kollektiven Akteure, vor allem Interessenverbände und Parteien, sind nach den Gesetzen, nach denen sie angetreten sind, gerade nicht vom Gemeinwohl, sondern schwerpunktmäßig und typischerweise von den Eigeninteressen ihrer Mitglieder, besonders ihrer hauptamtlichen Funktionäre, erfüllt und in ihrem Handeln bestimmt.40 Das ist für die meisten Interessenverbände, besonders die in der Praxis dominierenden, ohnehin klar, 41 gilt aber auch für die politischen Parteien, wie übrigens Max Weber schon früh diagnostiziert hat. Er hat das Eigeninteresse der Akteure sogar in seine Definition der Partei hineingenommen.42

VIII. Umwertung der Verfassung: Die Real-Verfassung hinter der Normativ-Verfassung Auf diese neue Problemlage sind unsere Verfassungen nicht eingerichtet. Große Teile des Grundgesetzes sind wörtlich aus früheren Verfassungen übernommen, obwohl sich die Verhältnisse inzwischen völlig verändert haben. Die überkommene Verfassungsordnung paßt auf das Wirken der neuen kollektiven Akteure nur noch eingeschränkt oder überhaupt nicht mehr. Die Verfassungen richten sich an die Staatsorgane. Parteien, Verbände und Medien aber gelten staatsrechtlich überwiegend als Teile der Gesellschaft und werden deshalb von den Verfassungen gar nicht direkt angesprochen, obwohl sie - sozusagen als "Verfassung hinter der Verfas40 Siehe für die Parteien Elmar Wiesendahl, Parteien in Perspektive, Opladen 1998, S. 153 ff., der auch auf die Interessenunterschiede der verschiedenen Mitgliedergruppen hinweist. 41 Helmut Schelsky, Funktionäre, Stuttgart 1982; von Amim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, a. a. 0. 42 Nach Max Weber (Wirtschaft und Gesellschaft, I. Halbband, 5. rev. Aufl., Tübingen 1972, S. 167) sind Parteien "Vergesellschaften mit dem Zweck, ihren Leitern innerhalb eines Verbandes Macht und ihren aktiven Teilnehmern dadurch (ideelle und materielle) Chancen (der Durchsetzung von sachlichen Zielen und der Erlangung von persönlichen Vorteilen oder beides) zuzuwenden .... Die Eroberung der Stellen des Verwaltungsstabes für ihre Mitglieder pflegt . . . mindestens Nebenzweck, die sachlichen ,Programme' nicht selten nur Mittel der Werbung der Außenstehenden als Teilnehmer zu sein."

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sung" - hinter den Staatsorganen stehen und diesen die Hand führen. Am deutlichsten wird die Problematik am Beispiel der politischen Parteien und ihrer Führungsgruppen. Sie werden als solche nicht (oder fast nicht43 ) durch die Verfassung gebunden, sondern haben die Verfassungen vielmehr umgekehrt ihren Bedürfnissen und Interessen, kurz: ihren Eigengesetzlichkeiten, angepaßt und diese dadurch in ihrem Wesen völlig verändert. 44 Die Veränderungen werden manifest, die Spannung von überkommener Norm und veränderter Wirklichkeit wird besonders deutlich bei der Umbiegung einzelner Vorschriften des Grundgesetzes. Die Bedeutung wichtiger Verfassungsvorschriften wurde - entgegen ihrem Wortlaut und ihrem überkommenen Sinn - teilweise geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: 1. Ausgewogenheits- und Richtigkeilsverheißungen des Grundgesetzes

Was bedeutet der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG)45 noch, wenn die Regierungsparteien auch das Parlament mehrheitlich beherrschen, wenn die Mitglieder der Regierung gleichzeitig im Parlament Sitz und Stimme haben, wenn die Parlamente, besonders die Landesparlamente, völlig "verbeamtet" sind und wenn - darüber hinaus - Regierung und Opposition sich in Fragen, welche die Eigeninteressen der politischen Klasse46 betreffen, fraktionsübergreifend einig 43 Art. 21 GG verlangt - neben der Festlegung der Gründungsfreiheit und der Möglichkeit, bestimmte Parteien zu verbieten - lediglich, daß die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entspricht und daß sie öffentliche Rechenschaft über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen geben. Wie diese Grundsätze konkretisiert werden, bestimmt der Gesetzgeber, z. B. im Parteiengesetz, sprich: die Parteien wiederum selbst. 44 Siehe dazu die klassischen Darstellungen von Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, Frankfurt a. M. 1974, Neuausgabe der 3., erweiterten Auflage 1967, S. 78ff., und Wemer Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl., Berlin 1970. 45 Zur Idee der Gewaltenteilung: Charles-Louis de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, in neuer Übertragung eingeleitet und herausgegeben von Ernst Forsthoff, Tübingen 1951, 11. Buch, 6. Kapitel, S. 214ff. Zur Verfassungswirklichkeit der Gewaltenteilung schon Wemer Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, in: ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, a.a. O., S. 152ff. 46 Zum Begriff der "politischen Klasse" neuerdings zum Beispiel Christine Landfried, Parteifinanzen und politische Macht, 1990, 2. Aufl., Baden-Baden 1994, S. 144ff., S. 271 ff.; Hans-Dieter KlingemanniRichard StössiBemhard Weßels (Hg.), Politische Klasse und politische Institutionen, Opladen 1991; LeifiLegrandl Klein, Die politische Klasse in Deutschland, Bonn 1992; Klaus von Beyme, Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt a. M. 1993; Jens BorchertiLutz Golsch, Die politische Klasse in westlichen Demokratien: Rekrutierung, Karriereinteressen und institutioneller Wandel, Politische Vierteljahresschrift 1995, 609ff.; Hilke Rebenstorf, Die politische Klasse, Frankfurt a.M. 1995; von Amim, Fetter

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sind,47 wie der _ganze Bereich der Politikfinanzierung beispielhaft zeigt?48 Und wie sollen verbeamtete Parlamente, ja eine verbeamtete politische Klasse insgesamt, noch die nötige Distanz aufbringen, um grundlegende Reformen der Verwaltung und des öffentlichen Dienstes zu konzipieren -von der Durchsetzung ganz zu schweigen?49 Was bedeutet es, wenn das Grundgesetz zwar den altehrwürdigen Grundsatz betont, daß Beamten- und Richterstellen nur nach persönlicher Qualifikation und fachlicher Leistung vergeben werden dürfen (Art. 33 Abs. 2 GG), sich tatsächlich aber "Parteibuchwirtschaft" zunehmend breitmacht?50 Wenn aber Schlüsselstellungen im Staat, in Gerichten, in öffentlichrechtlichen Medien und in der öffentlichen Wirtschaft mit Parteigenossen besetzt werden, was wird dann aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG), aus dem Gebot, daß alle Bürger von Staat gleich zu behandeln sind (Art. 3 GG)? Was bedeutet die der pluralistischen Demokratie zugrunde liegende Erwartung eines ausgewogenen Interessenausgleichs noch, wenn spezielle Interessen besser organisierbar sind als allgemeine Interessen und der Einfluß organisierter Interessen auf die Politik deshalb tendenziell zu einem Unterpflügen gerade der wichtigsten, nämlich der von allen geteilten Interessen, führt? Und ganz grundsätzlich: Wenn Interessen um so weniger politische Berücksichtigung finden, je größer der Kreis der Betroffenen ist, läuft das dann nicht praktisch auf einen "Mechanismus umgekehrter Demokratie" hinaus?51 Und besteht eine ähnliche Unausgewogenheit des politischen Prozesses nicht auch hinsichtlich künftiger Interessen des Volkes? Kommen nicht auch sie - angesichts des Kurzfristhorizonts der Parteien- und Verbändedemokratie - leicht zu kurz, wie in der Zunahme der Staatsverschul-

Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse - selbstbezogen und abgehoben, München 1997. 47 Hans Herbert von Amim, Fetter Bauch regiert nicht gern, a. a. 0., durchgehend. 48 Hans Herbert von Amim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, 2. Aufl., München 1996. 49 Fritz Vilmar, Gegen die Verbeamtung der Parlamente. Gutachten für die Partei "Graue Panther", Essen 1994; Hans Herbert von Amim, Reformblockade der Politik, ZRP 1998, S. l38ff. (l39f.). 50 Hans Herbert von Amim, Ämterpatronage durch politische Parteien, Wiesbaden 1980; Horst Häuser, Ämterpatronage: Artikel 33, jeder Deutsche hat gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt, Darmstadt 1997; Stefan Ulrich Pieper, Verfassungsrichterwahlen, Berlin 1998. 51 Mancur Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, Tübingen 1968; Hans Herbert von Amim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, a. a. 0.

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dung, in der mangelnden Vorsorge für die künftige Alterssicherung, in der Überbesteuerung von Investitionen in Betrieben und in der steuerlichen Benachteiligung der Erziehung von Kindern (verstanden ebenfalls als Investition in zukünftige Generationen) zum Ausdruck kommt? 2. Entmündigung des Souveräns - Was bedeuten die Grundsätze der Freiheit und Unmittelbarkeit der Wahl von Parlamentsabgeordneten durch die Bürger (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 und 38 Abs. 1 Satz l GG) noch, wenn die Wähler in Wahrheit denjenigen Kandidaten, die auf sogenannten sicheren Listenplätzen nominiert sind, nichts mehr anhaben können, diese also bereits mit der Nominierung praktisch gewählt sind?52 - Was bedeutet die allen verheißene majestätische Gleichheit des passiven Wahlrechts (Art. 3, 28 Abs. 1 Satz 2 und 38 Abs. 1 Satz 1 GG) noch, wenn man nur nach unendlicher Ochsentour die Chance bekommt, von einer Partei als Parlamentskandidat nominiert zu werden, dies sich nur "Zeitreiche und Immobile" leisten können und deshalb Beamte und vor allem Lehrer die besten Voraussetzungen besitzen, um eine Rolle in Partei, Parlament und Politik zu spielen?53 - Was bedeuten die Grundsätze der Offenheit des politischen Wettbewerbs und der Chancengleichheit im Kampf um die Macht noch, die für die Demokratie schlechthin konstitutiv sind, wenn eine professionalisierte politische Klasse - über die Fraktions- und die föderalen Grenzen hinweg - Kartelle bildet, um ihre eigene Existenz zu sichern und zu verbessern und sich gegen Einwirkungen der Bürger und Wähler zu immunisieren? Läuft das in letzter Konsequenz nicht auf die Umkehrung der Richtung der politischen Willensbildung hinaus, die in der Demokratie ja eigentlich von unten nach oben verlaufen sollte?54 52 Heino Kaack, Wer kommt in den Bundestag? Abgeordnete und Kandidaten, Opladen 1969; Klemens Kremer, Der Weg ins Parlament. Kandidatur zum Bundestag, Heidelberg 1982; Hans Herben von Amim, Staat ohne Diener, München 1993, Kapitel 2 IV; ders., Fetter Bauch regiert nicht gern, a. a. 0., Kapitel 2. 53 Ulrich Pfeiffer, Eine Partei der Zeitreichen und Immobilen. Folgerungen für eine Strukturreform, Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 1997, S. 392ff.; Peter Glotz, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36- 37/97, S. 2ff.; Walter, Die Woche vom 12. 9. 1997, S. 6; Hans Herben von Amim, Fetter Bauch regiert nicht gern, a. a. 0., Kapitel 4. 54 Vgl. hierzu: Richard S. Katz/Peter Mair, Changing Models of Party Organization and Party Democracy - The Emergence of the Cartel Party, Party Politics 1995, 5ff.; Mare Reichet, Das demokratische Offenheitsprinzip und seine Anwendung im Recht der politischen Parteien, Berlin 1996; Danilo Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft, Göttingen 1997; Hans Herben von Amim, Fetter Bauch regiert nicht gern, a. a. 0., Kapitel 6.

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3. Entmündigung der Volksvertreter

Was bedeutet der Verfassungsgrundsatz des freien Mandats der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) noch, wenn die Abgeordneten in die sogenannte Fraktionsdisziplin eingebunden sind und, falls sie Entscheidungen wirklich "nach ihrem Gewissen" treffen, befürchten müssen, bei der nächsten Wahl nicht mehr aufgestellt zu werden?55 - Was bedeuten die Richtlinienkompetenz von Kanzler und Ministerpräsidenten und die verfassungsrechtlich gewährleistete Autonomie von Regierungen, Fraktionen und Parteien noch, wenn Koalitionsvereinbarungen von wenigen Parteiführern ausgehandelt werden und die Regierungsmitglieder, Fraktionen und Parteigremien diese nur noch nachträglich abnikken und während der Legislaturperiode abarbeiten können, wenn sie das ganze Paket und damit das Zustandekommen und die Fortführung der Koalition nicht gefährden wollen?56

55 Kritisch z. B. Hildegard Hamm-Brücher, Der Politiker und sein Gewissen. Eine Streitschrift für mehr Freiheit, München 1983; dies., Der freie Volksvertretereine Legende?, München 1990. Gegenposition etwa bei Eberhard Schütt-Wetschky, "Fraktionszwang": Kritik und Gegenkritik, in: Peter Haungs/Eckhard Jesse (Hg.), Parteien in der Krise?, Köln 1987, S. 237ff. - Dagegen argumentiert Patzelt, die Abgeordneten hielten sich im eigenen Interesse an die FraktionsdisziJ?_lin, weil ein einheitliches Erscheinungsbild ihre gemeinsame Schlagkraft in der Offentlichkeit und ihre gemeinsamen Chancen bei Wahlen erhöhe - ähnlich einer Sportmannschaft, in der sich jedes Mannschaftsmitglied im eigenen Interesse den Anforderungen an ein erfolgreiches Mannschaftsspiel fügen müsse (Wem er W. Patzelt, Wider das Gerede vom "Fraktionszwang"!, Zeitschrift für Parlamentsfragen 1998, 323). Wir stimmen Patzelts Argumentation zu, belegt sie doch genau das, auf was es uns ankommt: Es geht heute in Wahrheit nicht mehr um die Einwirkung "der Parteien" auf Abgeordnete und andere Amtsträger. Die Abgeordneten sind vielmehr selbst zentrale Willensbildner in den Parteien geworden - und sie geben bei ihren Entscheidungen im Zweifel ihren Eigeninteressen Vorrang, hier vor allem dem Interesse am Erwerb und Erhalt der Macht. Näheres unten S. 31 f., 33 f. 56 Wolfgang Rudzio, Informelle Entscheidungsmuster in Bonner Koalitionsregierungen, in: Hans-Hermann Hartwich/Göttrik Wewer (Hg.), Regieren in der Bundesrepublik, Band 2, Opladen 1991, S. 125ff.; Waldemar Schreckenberger, Veränderungen im parlamentarischen Regierungssystem. Zur Oligarchie der Spitzenpolitiker der Parteien, in: Kar! Dietrich Bracher u. a. (Hg.), Staat und Parteien, Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin 1992, S. 133ff.; ders., Informelle Verfahren der Entscheidungsvorbereitung zwischen der Bundesregierung und den Mehrheitsfraktionen: Koalitionsgespräche und Koalititonsrunden, Zeitschrift für Parlamentsfragen 1994, S. 329ff.; Hans Herbert von Amim, Fetter Bauch regiert nicht gern, a. a. 0., Kapitel 3.

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4. Alimentation statt Entschädigung

- Was bedeutet es noch, wenn die Verfassungen den Abgeordneten "eine ihre Unabhängigkeit sichemde Entschädigung" versprechen (Art. 48 Abs. 3 Satz 1 GG), obwohl tatsächlich die Abgeordneten eine einheitliche Alimentation erhalten, die für solche, die in Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft erfolgreich sind, eine Einbuße an Einkommen, für Zeitreiche und Immobile dagegen in der Regel eine enorme Einkommensverbesserung darstellt, so daß die materiellen Anreize, ein Mandat anzustreben, nicht nur ganz unterschiedlich ausfallen, sondern tendenziell auch noch die Falschen angelockt und die Richtigen abgeschreckt werden?57

5. Veljlüchtigung von politischer Verantwortung und Politikblockade - Hat nicht der Bundesrat, der eigentlich der Wahrnehmung von Länderinteressen dienen soll, durch seine parteipolitische Instrumentalisierung eine neue, ihm eigentlich von den Verfassungsvätern gar nicht zugedachte Rolle erhalten und wird dadurch im Falle unterschiedlicher Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat die bundespolitische Handlungsfähigkeil nicht unangemessen eingeschränkt?58 Gewiß, die Aktualität dieser Frage ist mit der •Bildung einer rot-grünen Bundesregierung im Herbst 1998 zunächst wieder zurückgetreten. Das prinzipielle Problem bleibt aber bestehen, wie schon die hessische Landtagswahl Anfang 1999 gezeigt hat. - Muß nicht auch die sonstige Ausprägung des Föderalismus in Deutschland überprüft werden? Welche Rückwirkungen hat das Agieten der Ministerpräsidenten auf Bundesebene im Bundesrat (und/oder der sonstigen Mitgliedern der Exekutive in den fast 1000 [!] Gremien der Zwischen-Länder-Koordination ["dritte Ebene"] und der Bund-Länder-Koordination ["vierte Ebene"]) auf die Gewichtsverteilung im Land, zum Beispiel auf die Landesparlamente und die Rolle der Landtagsabgeordneten? Welche Auswirkungen hat das Auseinanderfallen von 57 Lothar Determann, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Entschädigung von Abgeordneten, BayVBl. 1997, S. 385ff.; Dirk Meyer, Abgeordnetenentschädigungein Beitrag zur Rationalisierung der Diskussion aus ökonomischer Sicht, PVS 1998, S. 345 ff.; Wemer Lachmann, Die Diätenregelung für Abgeordnete des Deutschen Bundestages, in: Wulf Gaertner (Hg.), Wirtschaftsethische Perspektiven, Band 4, Berlin 1998, S. 307ff.; Hans Herbert von Amim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, a. a. O., S. 24lf.; ders., Reform der Abgeordnetenbezahlung, PVS 1998, s. 345 ff. 58 Hans Herbert von Amim, Reformblockade der Politik, ZRP 1998, S. 138ff. (140f.).

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Entscheidungsmacht und Finanzlast und die daraus folgende Verdünnung der politischen Verantwortung, zu der unser Verbundsföderalismus tendiert?59 Welche Folgen hat die prinzipielle Unvereinbarkeit der parlamentarischen Konkurrenzdemokratie mit dem sich immer mehr ausbreitenden Verhandlungsföderalismus?60 Die vorstehenden Beispiele zeigen: Zentrale Vorschriften des Grundgesetzes stehen bloß auf dem Papier und muten, wenn man nur den überkommenen Wortlaut ins Auge faßt, fassadenhaft und überholt an. Sie haben aufgrund veränderter tatsächlicher Verhältnisse einen grundlegenden Verfassungswandel erfahren. Dementsprechend können sie ohne Einbeziehung der hinter der Normativ-Verfassung stehenden Real-Verfassung gar nicht mehr verstanden oder sinnvoll interpretiert werden. Dieses ist allerdings keine neue Situation, sondern ein Problem, dem sich Verfassungsinterpreten schon immer gegenüber gesehen haben, wenn sie in die Jahre gekommene Verfassungen auszulegen hatten. Das eigentliche moderne Problem61 besteht nicht in der Anpassung der Verfassungsinterpretation an die geänderten Verhältnisse als solcher, sondern darin, wie diese Anpassung meist erfolgte: Die Verfassung wurde nämlich im Bereich des organisatorischen Verfassungsrechts nicht derart interpretiert und durch Verfassungsergänzungen fortentwickelt, daß sie die modernen intermediären Kräfte möglichst in Schranken hält und sinnvoll steuert (wie es der Funktion der Verfassung an sich entspräche), sondern sie wurde häufig entschärft und damit letztlich umgekehrt den Eigengesetzlichkeilen und Eigeninteressen der politischen Akteure unterworfen. Diese Verkehrung wird in der offiziellen Lesart meist allerdings nicht offen eingeräumt, weder von der herrschenden Staatsrechtslehre noch von der herrschenden Politikwissenschaft und schon gar nicht von der politischen Bildung, sondern tendenziell verschleiert - mit entsprechenden Folgen für die Analysekraft, die Problemnähe und die Leistungsfähigkeit der Wissenschaften von Politik und Staat und damit auch der gesamten politischen Bildung.

59 Zur Föderalismusdebatte z. B. Fritz Ossenbühl, Föderalismus nach 40 Jahren Grundgesetz, DVBI. 1989, S. 1230ff.; Christian Storloz, Bedrückende Entwicklungsperspektiven des Föderalismus im vereinigten Deutschland, Zeitschrift für Parlamentsfragen 1997, S. 311 ff.; Hans Herbert von Arnim, Staat ohne Diener, München 1993, Kapitel 8. 60 Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 2. Aufl., Opladen 1998; Fritz W. Scharpf/Bernd Reissert!Fritz Schnabel, Politikvertlechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg 1976; Heidrun Abromeit, Interessenvermittlung zwischen Konkurrenz und Konkordanz, Opladen 1993. 61 Zum Problem: Josef /sensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 1987, § 13 Rn 135.

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IX. Die Schlüsselrolle der institutionellen "Spielregeln"

Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen sei die eingangs angesprochene Unterscheidung zwischen Spielregeln und Spiel innerhalb der Regeln wieder aufgegriffen, weil sie uns den Weg .für weiterführende institutionelle Überlegungen weist. Diese auf die Politische Ökonomie zurückgehende Begrifflichkeit trennt scharf zwischen zwei Ebenen: der Ebene der "choice of the rules" und der Ebene der "choice within the rules". 62 Einige Gründe für die fundamentale Bedeutung dieser Unterscheidung haben wir oben bereits genannt (Multiplikatoreffekt von Institutionen, leichtere Feststellbarkeil von institutionellen Mängeln). Es kommt aber noch etwas hinzu, was auch begrifflich stärker anklingt, wenn man von "Regeln des Machterwerbs und des Machterhalts" spricht: Diese Regeln sind einerseits für die Gerneinschaft besonders wichtig, weil von ihrer befriedigenden Ausgestaltung die Legitimation des politischen Systems insgesamt abhängt. Sie sind andererseits besonders gefährdet, weil Politiker versucht sind, die Regeln nach ihren Eigeninteressen zu gestalten (wobei es, genaugenornrnen, nicht nur um das Interesse der Akteure an Macht, sondern auch um ihr Interesse an persönlicher Sicherheit, an Status, Posten und Einkommen geht). Die Interessen, welche die Akteure mit politischen Institutionen verbinden, können aber von denen der Gemeinschaft abweichen, und da die Akteure selbst unmittelbar an den Hebeln der staatlichen Entscheidungen sitzen, können sie jene Hebel auch in ihrem eigenen Sinne bedienen. Berücksichtigt man, daß die Ausgestaltung der politischen Institutionen fast stets auch die Eigeninteressen von Politikern direkt oder indirekt berührt, ist es eigentlich nicht überraschend, daß hier ein zentrales Problem liegt. Vielmehr überrascht, daß der "mainstream" der einschlägigen Wissenschaften an diesem Problern bisher vorbeigesehen hat. Auf jene spezifische Problemlage - besondere Wichtigkeit bei gleichzeitiger besonderer Gefahrdung von politischen Institutionen -, die bei Greven immerhin anklingt, 63 hat die deutsche Staatsrechtslehre - ebenso wie die deutsche Politikwissenschaft - noch keine Antwort gefunden, ja sie haben die Problematik vielfach noch gar nicht erkannt.64 (Dagegen macht die Neue Politische Ökonomie einschließlich der Neuen Konstitutionellen Ökonomie derartige Fragen Brennan/Buchanan, a. a. 0 ., S. 8. Oben Fußn. 8. 64 Eine Ausprägung der besonderen Wichtigkeit bei gleichzeitiger besonderer Gefährdung politischer Institutionen findet sich ailerdings im Zusammenhang mit der Gleichheit des Wahlrechts. Hier ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Gleichheitssatz "formal", d. h. besonders streng, anzuwenden (Hans Herbert von Amim, Der strenge und der formale Gleichheitssatz, DÖV 1984, S. 85). Die Staatsrechtslehre hat aber die Verallgemeinerungsbedürftigkeit dieses Gedankens bisher noch nicht erkannt. 62

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zu ihrem Hauptgegenstand, was den unerhörten Aufschwung dieser Wissenschaftsrichtung, vorerst allerdings vornehmlich noch im englischsprachigen Ausland, erklärt.) Die überkommene staatsrechtliche Unterscheidung zwischen (schwerer abänderbarer und vorrangiger) Verfassung und einfachem Gesetz trifft die Problematik schon deshalb nicht, weil Teile der Regeln, um die es hier geht, nicht in der formellen Verfassung enthalten sind, sondern im materiellen Verfassungsrecht Darüber hinaus kann auch die Zugehörigkeit zur formellen Verfassung dann nicht schützen, wenn Regierung und parlamentarische Opposition sich einig sind (zum Beispiel zu Lasten der außerparlamentarischen Opposition oder der Bürger und Steuerzahler insgesamt). Denn für Regierungs- und Oppositionsfraktionen gemeinsam sind die qualifizierten Mehrheiten, die für die Änderung der formellen Verfassung erforderlich sind (siehe Art. 79 Abs. 2 GG), kein Hindernis mehr. Dann könnte nur noch die (interpretatorische) Verankerung bestimmter Grundsätze, die man dem Zugriff der politischen Klasse entziehen will, in den unabänderlichen Teilen der Verfassung (Art. 79 Abs. 3 GG) helfen, 65 eine Fragestellung, die von der Staatsrechtslehre und der Verfassungsrechtsprechung aber bislang noch kaum als Problem erkannt ist.

X. Zur Durchsetzbarkeit von Reformen Angesichts der Verwobenheit der Institutionen mit den Eigeninteressen der Akteure wird die Frage nach der Erneuerbarkeit der politischen Institutionen und nach der Durchsetzbarkeit institutioneller Reformen zur Kernfrage. Rawls rekurriert hinsichtlich der Frage, wie angemessene Institutionen geschaffen werden können, auf eine (vorgestellte) Situation der Verfassungsgebung, in welcher die Akteure die Auswirkungen der verschiedenen Alternativen auf ihre eigenen Interessen noch nicht kennen, also insofern sozusagen einen Schleier des Nichtwissens ("veil of ignorance") tragen, 66 und Brennan und Buchanan übernehmen dieses Bild. 67 Eine gewisse Parallele zur Unterscheidung von Regeln und Spiel innerhalb der Regeln könnte man im Bereich der Verfassungslehre in der klassischen auf Sieyes zurückgehenden Unterscheidung zwischen der Verfassungsgebung durch den "pouvoir constituant" und der Gesetzgebung im Rahmen der Verfassung durch den "pouvoir constitue" sehen (wobei zur Gesetzgebung innerhalb der Verfassung auch Verfassungsänderungen nach 65 Zu dieser Problematik - am Beispiel des Versuchs der politischen Klasse, den Diätenartikel des Grundgesetzes (Art. 48 III) zu ihren Gunsten zu ändern - Hans Herbert von Amim, "Der Staat sind wir!", 1995, S. 137ff.; ders., Das neue Abgeordnetengesetz, Speyerer Forschungsbericht 1997. 66 Rawls, a. a. O., S. 34ff. 67 Brennan/Buchanan, a. a. 0 ., S. 40: "Veil of uncertainty".

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den in der Verfassung niedergelegten Regeln gehören). Nach überkommener Lehre ist die Verfassungsgebung in der Demokratie in besonderer Weise Sache des Volks: Das Volk muß eine verfassungsgebende Versammlung berufen, und deren Vorschlag bedarf der Zustimmung des Volks. Danach kann die Verfassung ohne Volksabstimmung also nicht wirksam werden. Vielleicht ließe sich insoweit eine gewisse Parallele zur Konzeption von Rawls und Brennan/Buchanan ziehen, als man davon ausgehen kann, daß das Volk dazu tendiert, gute Leute, die sein Vertrauen genießen, in die verfassungsgebende Versammlung zu wählen, und weiter auch dahin tendiert, sich bei der Abstimmung von Kritierien der Gerechtigkeit und Richtigkeit leiten zu lassen.

XI. Vermachtung des Parlamentarischen Rates - und danach Tatsächlich sind die überkommenen Regeln der Verfassungsgebung in Deutschland außer Gebrauch gekommen, weniger allerdings bei Schaffung der Landesverfassungen, um so mehr aber bei der Entstehung des Grundgesetzes, das - angesichts der Konzentration der politischen Gestaltungskompetenz beim Bund - besonders wichtig ist, und bei der europäischen "Verfassung",68 die ja bekanntlich immer wichtiger wird. Das Grundgesetz ist weder durch eine zu diesem Zweck vom Volk gewählte verfassungsgebende Versammlung erarbeitet noch vom Volk angenommen worden. Letzteres war von den Alliierten ausdrücklich verlangt worden, 69 wurde aber von den deutschen Akteuren nicht realisiert unter dem Vorwand, sonst würde die - angesichts der deutschen Teilung betonte- Vorläufigkeit des Grundgesetzes konterkariert. Die fehlende demokratische Legitimation des Grundgesetzes wurde aber auch nach der Wiedervereinigung nicht nachgeholt. Dieser grundlegende Mangel hat nicht nur formale Aspekte, sondern auch inhaltliche Auswirkungen: Der Parlamentarische Rat war so zusammengesetzt,70 daß ihm in vieler Hinsicht der - die Eigeninteressen neutralisierende Schleier des Nichtwissens fehlte: Einige Ministerpräsidenten hatten großen Einfluß auf die Verfassungsgebung und sicherten sich so ihre dominante Stellung, insbesondere durch Bevorzugung des Bundesratsmodells, in welchem die Landesregierungen (sprich: die Ministerpräsidenten selbst) sitzen, anstelle des Senatsmodells aus spezifisch gewählten Mitgliedern. Der 68 In Anführungszeichen gesetzt, weil die Staatsrechtslehre sich bisher nicht darauf einigen kann, ob die Regelungen, welche die Europäische Union konstitutieren, eine "Verfassung" im staatsrechtlichen Sinne darstellen. 69 Siehe "Frankfurter Dokumente" Nr. 1 vom 1. Juli 1948, abgedruckt bei Heinz Laufer/Ursula Münch, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1998, S. 362 f. 70 Wem er Soergel, Konsensus und Interessen, Stuttgart 1969. 3 Speyer 133

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Umstand, daß der Parlamentarische Rat selbst völlig "verbeamtet" war zwei Drittel seiner Mitglieder kamen aus dem öffentlichen Dienst -, erklärt, warum das Grundgesetz keine wirksamen Vorkehrungen gegen ein Überhandnehmen beamtenhafteT Strukturen und Mentalitäten enthält, und legte so den Keim für die Verbeamtung auch der künftigen Parlamente des Bundes und vor allem der Länder. Der Umstand, daß der Parlamentarische Rat ausschließlich aus parteipolitisch gebundenen Mitgliedern bestand, erklärt, warum das Grundgesetz nur die Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung festlegt (Art. 21 Abs. 1 GG), aber umgekehrt kaum Vorkehrungen gegen den Mißbrauch von Parteienherrschaft enthält,71 ein durch Eigeninteressen bedingter Mangel, der sich nach der deutschen Vereinigung in der Gemeinsamen Verfassungskommission sehr deutlich wiederholte. 72 Vor diesem Hintergrund findet auch die Ablehnung von Volksbegehren und Volksentscheid durch den Parlamentarischen Rat eine Erklärung. Direktdemokratische Institutionen bilden immer noch den besten Schutz gegen Parteienmißbrauch. Ihre Ablehnung mit den angeblich schlechten Weimarer Erfahrungen durch den Parlamentarischen Rat war vorgeschoben. Daß derartige Befürchtungen nicht berechtigt waren, zeigen neuere wissenschaftliche Untersuchungen. 73 Und der Umstand, daß alle vor-grundgesetzliehen Landesverfassungen direktdemokratische Elemente enthalten, bestätigt, daß die Väter des Grundgesetzes sich hier ein Argument zurechtlegten, um zu verdecken, daß es ihnen in Wahrheit (zumindest auch) auf anderes ankam. Von daher dürften direktdemokratische Institutionen eine Schlüsselstellung für die Durchsetzbarkeit von Reformen von politischen Institutionen erhalten. Das gilt nicht nur für die bereits bestehenden direktdemokratischen Institutionen in den Ländern und den Kommunen. Es gilt auch für den - in seiner grundlegenden Bedeutung bisher noch kaum erkannten - Ansatzpunkt, den auf Bundesebene Art. 146 GG eröffnet. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Diskussion um die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene, die durch die Koalitionsabsprache der rot-grünen Bundesregierung neuen Schub erhalten hat, gesteigerte Bedeutung. 71 Einige wenige solche Vorkehrungen hat das Bundesverfassungsgericht - gewissermaßen verfassungsersetzend - im Laufe der Zeit zu entwickeln versucht, etwa mit dem strengen Gleichheitssatz bei Wahlen (siehe oben Fußn. 64) und im Bereich der Parteienfinanzierung durch Setzung der "absoluten Obergrenze" (BVerfGE 85, 264 [290ff.]). Diese besagt, daß die staatliche Parteienfinanzierung nicht höher sein darf als die in den letzten vier Jahren vor Erlaß des Urteils den Parteien durchschnittlich zugewendeten Mittel, wobei geldentwertungsbedingte Anpassungen nicht eingeschlossen werden. 72 von Amim, Reformblockade der Politik?, a.a. O., S. 144. 73 Otmar Jung, Grundgesetz und Volksentscheid. Gründe und Reichweite der Entscheidungen des Parlamentarischen Rats gegen Formen der direkten Demokratie, Opladen 1994.

Die Schlüsselrolle von politischen Institutionen

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XII. Anforderungen an das Wissenschaftsverständnis

1. Einheit der Staatswissenschaften?

Aus dem Vorstehenden folgen bestimmte Anforderungen an das Wissenschaftsverständnis: Einmal verlangt der institutionelle Ansatz interdisziplinäres Arbeiten (was anderes und mehr ist als bloße Multidisziplinarität) und fordert deshalb eine Antwort auf ein zentrales Defizit des bestehenden Wissenschaftsbetriebes, nämlich seine partikularistische Zersplitterung. Die vor 200 Jahren noch vorhandene Einheit der Staatswissenschaften ist in eine Mehrzahl von spezialisierten Einzelwissenschaften auseinandergefallen, die Gefahr laufen, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen und damit das Wesentliche aus den Augen zu verlieren. Das Hauptdefizit besteht darin, daß Wertungen - und damit aus der Sicht der Menschen das Allerwichtigste - im Fächer der Einzeldisziplinen keinen gesicherten Platz mehr haben. Die Sozialwissenschaften haben Wertungen im Interesse der Wissenschaftlichkeit gezielt eliminiert. Die Wirtschaftswissenschaft beschränkte sich lange auf den Bereich des Wirtschaftens in dem politisch gesetzten Ordnungsrahmen und blendete Fragen nach der Angemessenheit jenes Rahmens aus. Die Rechtswissenschaft wurde ebenfalls von allen Wertungen "gesäubert", um sie zu einer begrifflich "reinen" Disziplin zu machen. Das ist zwar nie ganz gelungen, ist letztlich auch gar nicht möglich, besonders im Bereich der nicht oder nur bruchstückhaft normativ geregelten Rechtsbereiche (Verfassungsrecht, kollektives Arbeitsrecht etc.). Doch wird der zeitgenössische Jurist in seiner Ausbildung und Schulung auch heute noch kaum auf die schwierige Aufgabe rational kontrollierten Wertens vorbereitet. Das gilt teilweise selbst für Auslegungsfragen, besonders aber für den ganzen Bereich der Rechts- und Verfassungspolitik.74 Wertungen auf erst noch zu schaffende Gesetze oder auf anstehende Verfassungsänderungen anzuwenden, also zu rationalem rechts- und verfassungspolitischem Denken, dazu fühlen sich Juristen meist nur sehr eingeschränkt in der Lage. Zum befriedigenden interdisziplinären Arbeiten gehört deshalb zuvörderst eine - auf der Höhe des Diskussionsstandes befindliche - Auseinandersetzung mit dem Wertungsproblem. 75

74 Eike von Hippe[, Rechtspolitik, Berlin 1992; ders., Willkür oder Gerechtigkeit. Studien zur Rechtspolitik, Berlin 1998. 75 Zu den Problemen der Staatslehre als interdisziplinär orientierter, auch die rational kontrollierte Erörterung von Wertungsfragen bewußt einbeziehender Integrationswissenschaft Hans Herbert von Amim, Ist Staatslehre möglich? Anforderungen und Schwierigkeiten einer zeitgenössischen Staatslehre, in: Peter Haungs (Hg.), Wissenschaft, Theorie und Philosophie der Politik, Baden-Baden 1990, S. 309ff., vorabgedruckt in: Juristenzeitung 1989, S. 157ff. 3*

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2. Wissenschaftsstil und Verständlichkeit

Zum zweiten: Geht es um die Durchsetzung der Interessen der Bürger gegen die der politischen Klasse, so verlangt dies auch (und vielleicht zuallererst) eine Aufklärung der Bürger über die Zusammenhänge. Das bedeutet eine Erweiterung des Adressatenkreises der Wissenschaft. Der Forscher arbeitet dann nicht mehr allein für seine Fachkollegen, sondern möglichst auch für eine breitere Öffentlichkeit. Diese stärkere Bürger- und Öffentlichkeitsrichtung der Arbeitsweise hat Konsequenzen für Stil und Verständlichkeit der Wissenschaft, die sich nicht länger im elfenbeineneo Turm verkriechen darf, sondern in viel stärkerem Maße als bisher auch in der Lage sein muß, ihre Ergebnisse interessierten "Laien" verständlich zu machen (was natürlich nicht mit einer Senkung der sachlich-inhaltlichen Standards76 oder gar mit einem oberflächlichen Anbiedern verwechselt werden darf).

XIII. Institutionelle Fragestellungen Ich kann und will die Themen, die in den kommenden Tagen behandelt werden, natürlich nicht vorwegnehmen. Lassen Sie mich im folgenden nur einige typische institutionelle Fragestellungen ansprechen, die zentrale Aspekte der Problematik illustrieren: - Welches von verschiedenen bestehenden Staatsorgane erscheint besser gerüstet, bestimmte Entscheidungen zu treffen? Diese Frage hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach beschäftigt, beispielsweise hat es bei der Frage, ob die Regierung oder das Parlament zuständig sei, den sogenannten Nachrüstungsbeschluß zu treffen, darauf abgehoben, wer nach seiner Organisation und Struktur besser für richtige Entscheidungen gerüstet sei. 77 Und bei der Kontrolle der staatlichen Parteienfinanzierung und der Abgeordnetenbezahlung und -Versorgung läßt sich die detaillierte gesetzesvertretende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das häufig soweit ging, den Parlamenten Einzelheiten der Politikfinanzierung vorzugeben, nur damit erklären, daß das Gericht implizit davon ausgeht, ein unabhängiges Verfassungsgericht sei für solche Entscheidungen besser gerüstet als die in eigener Sache entscheidenden Parlamente? 8 76 Es ist ein in Deutschland (ganz im Gegensatz etwa zu den USA) immer noch gern gepflegtes Mißverständnis, gute Wissenschaft müßte für Nichtwissenschaftler stets unverständlich sein. In Wahrheit ist das Gegenteil oft der Fall. Allgemeinverständliche Darstellung setzt eine besondere Souveränität in der Beherrschung des Stoffes voraus. Umgekehrt verbirgt sich hinter wissenschaftlichem Kauderwelsch nicht selten nur die Hohlheit des Inhalts. 77 BVerfGE 68, I (86). 78 von Amim, DiePartei, der Abgeordnete und das Geld, 2. Aufl., 1996, S. 393ff.

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- Welche Ebene der Gebietskörperschaften erscheint besser gerüstet, bestimmte Aufgaben zu erledigen? - eine Frage, die sich auch im Verhältnis zur Europäischen Union stellt, besonders im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip. In diesen Rahmen gehört z. B. die aktuelle Diskussion um die Rückübertragung von Gesetzgebungskompetenzen des Bundes auf die Länder, wobei allerdings die Frage meist ausgeblendet bleibt, ob die Länder für die Wahrnehmung solcher zusätzlichen Aufgaben eigentlich institutionell gerüstet sind. Auch hier geht es um die Verteilung von Kompetenzen unter bestehende Einrichtungen. Eine geradezu klassische institutionelle Frage ist die nach dem "richtigen" Wahlrecht: - Sollte statt der Verhältniswahl die Mehrheitswahl eingeführt werden? Sollte die auf Landes-, Bundes- und Buropaebene vorherrschende starre Listenwahl durch eine flexible Listenwahl ersetzt werden (etwa durch Einführen der Möglichkeit, zu kumulieren und zu panaschieren)? Zu dem Komplex "direkte Demokratie" gehören alle Fragen nach möglichen direktdemokratischen Ergänzungen von bisher rein repräsentativen Demokratien bzw. nach eventuellen Erweiterungen schon existierender Volksrechte, etwa: - Sollte in Deutschland auch auf Bundesebene (und darüber hinaus auch in der Europäischen Union) die Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheiden eingeführt werden und, wenn ja, wie sollten diese ausgestaltet werden? - Sollten die (ganz unterschiedlich hohen) Hürden für die auf Landes- und Kommunalebene bereits bestehenden direktdemokratischen Institutionen gesenkt oder umgekehrt erhöht werden? Sollten in Deutschland bisher meist ausgeschlossene Bereiche wie Finanzen und Abgaben einbezogen werden? Ein anderes klassischen Thema betrifft die Schlüsselfrage - Parlamentarische oder präsidenteile Demokratie? Hierher gehört nicht nur die Diskussion um die Einführung der Direktwahl von Ministerpräsidenten, sondern - auf kommunaler Ebene - auch die (inzwischen erfolgte) Durchsetzung der Direktwahl von Bürgermeistem und Landräten. XIV. Vom Nutzen vergleichender Betrachtungen

Für den institutionellen Ansatz liegt der Nutzen, ja die Unerläßlichkeit vergleichender Betrachtungen auf der Hand.

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I. USA und Schweiz Ein Vergleich drängt sich besonders mit der Schweiz und den USA auf, die - ebenso wie die Bundesrepublik - Bundesstaaten sind. Beide unterscheiden sich von der Bundesrepublik aber vor allem dadurch, daß sie keine "Parteienstaaten" (in dem in der Bundesrepublik gebräuchlichen Sinn) sind. Wenn und soweit es nun zutrifft, daß ein großer Teil der bundesrepublikanischen Probleme in einer übertriebenen Ausbreitung der politischen Parteien seine Wurzel hat, wie dies etwa der frtihere Bundespräsident Richard von Weizsäcker gemeint hat, 79 liegt es nahe, jene beiden Staaten - gerade auch institutionell - näher zu untersuchen. Besonders interessant ist die Feststellung, daß die USA vor hundert Jahren selbst von überzogenen Parteistrukturen überwuchert zu werden drohten. Als Reaktion darauf suchte man dort in der großen Reformphase der progressiven Ära80 Ende des letzten Jahrhunderts bezeichnenderweise sein Heil vor allem in institutionellen Reformen. Die Herrschaft der allmächtigen "party bosses" und ihrer "Parteimaschinen" wurde auf zwei Wegen gebrochen: einerseits durch Einführung von Direktwahlen (des Präsidenten, der Mitglieder des Senats etc.) und durch Einfügung von Volksbegehren und Volksentscheid in die Verfassungen zahlreicher amerikanischer Gliedstaaten, also dadurch, daß das System durchlässiger gemacht wurde für den Common sense der Bürger. Andererseits wurde das bis dahin praktizierte "Beutesystem" im öffentlichen Dienst durch ein auf Leistung beruhendes Berufsbeamtentum81 und durch Errichtung einer unabhängigen Bundeszentralbank ersetzt, also durch die Errichtung parteidistanzierter, vornehmlich der Sache verantwortlicher Instanzen. In jüngerer Zeit wurden in den USA Volksbegehren und Volksentscheid auf Staatenebene verstärkt genutzt, um ihrerseits institutionelle Reformen durchzusetzen, welche die Eigeninteressen der dortigen politischen Klasse bertihren und zu denen diese sich deshalb nicht von selbst aufraffen konnte. Auf diesem Weg wurden etwa zeitliche Begrenzungen der Amtsdauer von Politikern (term limits) 82 und Barrieren für die Abgaben, die Verschuldung und die Ausgaben der öffentlichen Hand in die Verfassungen geschrieben.83 79 Richard von Weizsäcker, Richard von Weizsäcker im Gespräch, Düsseldorf 1992, s. 135ff. 80 Zu den Reformen in der Zeit der "Progressive Era" insgesamt: Richard Hofstauer, The Age of Reform, New York 1955; Lewis L. Gould, Reform and Regulation. American Politics from Roosevelt to Wilson, 2nd ed., New York 1986; David W. Noble, in: Green, Encyclopedia of American Po1itical History, vol. III, New York 1984, S. 992ff. 81 Ronald N. Johnson!Gary D. Libecap, The Federal Civil Service and the Problem of Bureaucracy. The Economics and Politics of Institutional Change, Chicago/ London 1994.

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Vielleicht aber erweist sich die bloße Möglichkeit der Steuerzahler, steuerund finanzpolitische Entscheidungen im Wege von Volksbegehren und Volksentscheid an sich zu ziehen, als beste Bremse gegen Selbstwachstumstendenzen von Politik und Verwaltung. 84 Dieser Weg ist allerdings in Deutschland von vomherein blockiert. Hier sind selbst dort, wo Volksbegehren eröffnet sind, herkömmlicherweise - und aufgrund überkommener obrigkeitsstaatlicher Denkweise - zwei Bereiche von Volksbegehren und Volksentscheid ausgeschlossen, nämlich Abgaben und Besoldungsordnungen. In der Schweiz und in amerikanischen Gliedstaaten gehören gerade Finanzfragen zu den wichtigsten Gegenständen direkter Demokratie. Darüber hinaus werden in Deutschland bei den Quaren für Begehren und Entscheide und bei der vorgeschriebenen Art und Weise des Unterschriftensammelos oft fast prohibitiv wirkende Vorbedingungen verlangt. Hier sind Änderungen erforderlich, die aber vermutlich wiederum nur durch Volksentscheid möglich sind, da auch insoweit von der politischen Klasse selbst wenig zu erwarten ist.

2. Kommunalveifassungen Als besonders geeignet für die vergleichende Analyse politischer Institutionen haben sich auch die Gemeinde- und Kreisverfassungen erwiesen, von denen es in Deutschland bis vor kurzem ganz unterschiedliche Typen gab. Hier haben Kommunalwissenschaftler versucht, bestimmte förderliche Wirkungen der Direktwahl des Bürgermeisters, des personalisierten Gemeindewahlrechts, des Bürgerbegehrens und anderer Institutionen der baden-württembergischen Gemeindeverfassung aufzuzeigen. 85 Inzwischen hat die süddeutsche Gemeindeverfassung Baden-Württembergs und Bayerns in ganz Deutschland geradezu einen Siegeszug angetreten. Sie wurde in allen anderen Flächenländern übernommen, wenn auch teilweise mit gewissen Abstrichen. Immerhin sind die Direktwahl der Bürgermeister und die Möglichkeit von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid inzwischen in 82 Coyne/Fund, Cleaning House. America's Campaign for Term Limits, 1992; lohn Annor, Why Term Limits?, Washington, D.C. 1994. 83 Abrams/Dougan, The Effects of Constitutional Restraints on Govemment Spending, Public Choice 1986 (49), S. 101 ff.; v. Hagen, Journal of Public Fiscal Economics 1991 (44), 199ff.; Eichgreen/Bayoumi, European Economic Review 1994 (38), 783 ff. 84 Robert v. Weizsäcker, in: Borch-Supan/v. Hagen/Welfens, Springers Handbuch der Volkswirtschaftslehre, Bd. 2, Naunstadt 1997, Kap. 2.5. 85 Gerhard Banner, Kommunale Steuerung zwischen Gemeindeordnung und Parteipolitik, DÖV 1984, S. 364ff.; Hans-Georg Wehling/H.-Jörg Siewert, Der Bürgermeister in Baden-Württemberg, 2. Aufl., Stuttgart 1987; Hans Herbert von Amim, Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie auf Gemeindeebene, DÖV 1990, S. 85 (91, 93).

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allen 13 Flächenländern eingeführt. 86 Die grundlegenden institutionellen Reformen auf kommunaler Ebene sind in ihrer Bedeutung bisher allerdings noch kaum erkannt und öffentlich behandelt worden. Das mag damit zusammenhängen, daß Fragen der Gemeindeverfassung in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit eher ein Schattendasein fristen. Es mag auch damit zusammenhängen, daß von den Parteien eine offene Diskussion vermieden wird, weil die Politiker der jeweiligen Regierung zu dieser Reform meist geradezu genötigt werden mußten und weil ähnliche Konsequenzen vielleicht auch für die staatlichen Verfassungen gezogen werden könnten. Für die Einführung der Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten hat ein Volksentscheid in Hessen 1991 den Anstoß gegeben, bei dem sich 82 Prozent für die Einführung der Direktwahl aussprachen - ein Ergebnis, das es auch in anderen Ländern möglich machte, schon mit dem bloßen Androhen eines Volksbegehrens den Parlamentsmehrheiten "Beine zu machen". 87 Und zur Durchsetzung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid hat ein landesweiter Volksentscheid in Bayern beigetragen.88 XV. Schluß

Lassen Sie mich mit einem Wort von Aristoteles schließen: "Wir können den Wind nicht ändern, aber wir können die Segel anders setzen." Dieses Bild macht die Bedeutung von Institutionen auf einen Blick deutlich: Wir können den Menschen mit all seinen - höchst menschlichen - Eigenschaften wahrscheinlich nicht wirklich ändern, aber wir können versuchen die Institutionen, innerhalb derer er tätig wird, so zu verbessern und die Anreize und Sanktionen so zu setzen, daß die politischen Akteure möglichst in eine für die Gemeinschaft förderliche Richtung gelenkt werden.

86 Bürgerbegehren und Bürgerentscheid gibt es darüber hinaus auch in Bremen und Bremerhaven, auf Bezirksebene auch in Hamburg. In Berlin sind auf Bezirksebene nur Bürgerbegehren möglich, nicht auch Bürgerentscheide. 87 Vgl. hierzu Hans Herbert von Amim, Auf dem Weg zur optimalen Gemeindeverfassung?, in: Klaus Lüder (Hg.), Staat und Verwaltung, Fünfzig Jahre Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1997, S. 297ff. (299f.). 88 Otmar Jung, Der Volksentscheid über die Einführung des kommunalen Bürgerentscheids in Bayern am 1. Oktober 1995, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1996, S. 191 ff.; Michael Seipe/Thomas Mayer, Triumph der Bürger!, München 1997.

Institutionelle Bedingungen von Reformblockaden Zehn Thesen Von Manfred G. Schmidt

Vorbemerkung

"Reformblockaden" sind potentiell bestandsgefährdende Lücken zwischen dem politischen Regelungsbedarf und der politischen Regelungskapazität Solche Lücken können verschiedene Ursachen haben. Meistens wird als ihre Hauptursache die mangelnde Steuerungsfähigkeit der Politik genannt. Doch kann der eigentliche Grund der Reformblockade auch woanders liegen: in der mangelnden Steuerbarkeil von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Inwieweit sind Reformblockaden in dem eben erwähnten Sinne durch institutionelle Bedingungen des politischen Willensbildungs- und Entscheidungstindungsprozesses verursacht? Dieser Frage werde ich im folgenden anband von zehn Thesen zur Lage in der Bundesrepublik Deutschland nachgehen.

1. These: Die "Reformblockade"-Debatte begleitet die politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an Besonders heftig gestritten wurde um "Reformblockaden" im Zeitraum zwischen der Bundestagswahl 1994 und dem Ende der 13. Legislaturperiode im Herbst 1998. Diese Periode war charakterisiert durch einen konfliktorientierten Parteienwettbewerb und divergierende Mehrheitsverhältnisse im Bundestag, in dem die Koalition aus CDU, CSU und FDP die Mehrheit besaß, und dem Bundesrat, wo die CDU- oder CSU-geführten Länder in eine Minderheitenposition geraten waren. Unter diesen Bedingungen war die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung und der sie tragenden Parteienkoalition beträchtlich herabgesetzt, es sei denn, beide gingen mit der oppositionellen SPD und der Mehrheit der SPD-geführten Länder zur Verabschiedung von Gesetzgebungsvorhaben stillschweigend eine große Koalition ein. Gänzlich neu ist allerdings die "Reformblockade" nicht. Von "blockierter Reform" sprach man auch von 1972 bis 1982, als die sozialliberale Koalition im Bund mit einer von den Unionsparteien geführten Mehrheit im Bundesrat konfrontiert war und damit in große Schwierigkeiten bei dem Bestreben kam, ihre innen- und außenpolitischen Reformen zu

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verwirklichen. Von "Refonnblockaden" war der Sache, wenngleich nicht dem Worte nach auch in den 50er Jahren und der ersten Hälfte der 60er Jahre die Rede. Immerhin währte es in der Bundesrepublik Deutschland 20 Jahre bis zur Verabschiedung eines seinen Namen verdienenden Arbeitsförderungsgesetzes. Und es vergingen gar 22 Jahre bis zur Verabschiedung eines Städtebauförderungsgesetzes - und das in einem Land, das eine kriegszerstörte Gesellschaft wiederaufzubauen hatte.

2. These: Die vielen Vetospieler der Bundesrepublik Deutschland sind eine institutionelle Voraussetzung der "Reformblockade" Die "Refonnblockade" hat institutionelle Voraussetzungen: sie wurzelt vor allem darin, daß die politischen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland ungewöhnlich viele und sehr hohe Barrieren gegen größere politische Kurswechsel der Regierungspolitik enthalten. Dafür ist eine ungewöhnlich hohe Anzahl sogenannter "Vetopositionen" in der Staatsorganisation und eine hohe Anzahl von "Vetospielern", die solche Einspruchschancen nützen können, verantwortlich. Zu den "Vetospielern" gehören vor allem der Föderalismus, insbesondere die einflußreiche Rolle der Länder und die ausgeprägte Politikverflechtung zwischen Bundes- und Länderexekutiven, das Zweikammersystem mit der überragenden Bedeutung des Bundesrates in der zustimmungspflichtigen Gesetzgebung und im Falle der Verfassungsänderung, ferner das mächtige Bundesverfassungsgericht, sodann in allen wirtschaftspolitischen Fragen die autonome Zentralbank, überdies die tief verankerten Selbstverwaltungstraditionen in Staat und Gesellschaft, die Eigendynamik der privaten Wirtschaft, die korporatistischen Strukturen vor allem in der Sozialpolitik, in vielen Politikfeldern auch die Europäische Union und typischerweise der Zwang, mangels einer zur Alleinregierung ausreichenden Mehrheit Koalitionsregierungen zu bilden. Hervorzuheben ist, daß die Zahl der "Vetopositionen" und "Vetospieler" in der Staatsorganisation in Deutschland größer als in fast allen westlichen Ländern ist und nur von zwei sehr alten Demokratien, nämlich den Vereinigten Staaten von Amerika und der Schweiz, erreicht wird.

3. These: Der "Staat der vielen Vetospieler" tut sich mit weitreichenden Reformen meist besonders schwer Was folgt aus dem Vorhandensein von vielen Vetopunkten in der Staatsorganisation und vielen Vetospielern? Bei der Beantwortung dieser Frage hilft das Vetospieler-Theorem von George Tsebelis weiter. Diesem Lehrsatz zufolge vermindert eine große Zahl von Vetospielern die Fähigkeit eines politischen Systems zum Politikwandel (einschließlich der Refonnfähigkeit), und zwar um so stärker, je größer die Zahl der Vetospieler, je größer die politisch-ideologische Distanz zwischen den Beteiligten und je homo-

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gener die Gefolg- oder Mitgliedschaft jedes Vetospielers ist. Dieser Mechanismus wirkt auch in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist mitverantwortlich für die mitunter langen Willensbildungs- und Entscheidungsfindungsprozesse und die - vor allem im Vergleich mit Einheitsstaaten und Mehrheitsdemokratien auffällige - verminderte Elastizität der Politik hierzulande. Rasche Kurswechsel wie beispielsweise in Großbritannien nach 1945 unter der Labour-Regierung oder nach 1979 unter der Regierung der Konservativen Partei und weitreichende Reformen wie etwa in Neuseeland in den 80er Jahren oder in den Niederlanden in den 80er und 90er Jahren sind hierzulande die Ausnahme, nicht die Regel. 4. These: Divergierende Mehrheiten zwischen Bundestag und Bundesrat verkomplizieren die Lage Verkompliziert wird der Sachverhalt, wenn die Mehrheit im Bundestag in parteipolitischer Hinsicht nicht mit der Mehrheit der Stimmen im Bundesrat übereinstimmt. Besonders vertrackt wird die Lage, wenn die Oppositionspartei des Bundestages das Abstimmungsverhalten der Länder im Bundesrat auf ihre parteipolitische Linie zu bringen vermag, wie zwischen 1972 und 1982 und von 1991 bis 1998. Dann ist die "Reformblockade" hochwahrscheinlich, es sei denn, Bund und Länder und Regierungsparteien und die wichtigste Oppositionspartei gingen - vor allem in zustimmungspflichtigen und verfassungsändernden Gesetzgebungen - bei Abstimmungen im Parlament und in der Länderkammer eine große Koalition ein. 5. These: Kooperative Strategien im Parteienwettbewerb können die durch divergierende Mehrheiten hervorgerufene Blockierung umgehen, konfliktorientierte Strategien hingegen befestigen die Blockierung

Wie die politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zeigt, schwanken die Regierungs- und die Oppositionsparteien in Perioden gegensätzlicher Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat zwischen kooperativem und konfliktarischem Kurs. Herrscht Konfliktorientierung vor, schrumpft die Reformfähigkeit des politischen Systems drastisch. Beträchtlich größer ist seine Reformfähigkeit jedoch im Falle des kooperativen Verhaltens von Regierungs- und Oppositionsparteien und von Bund und Ländern. Beide Konstellationen - diejenigen, welche eine Reformblockade wahrscheinlich machen, und diejenigen, die diese Blockierung umgehen oder sie lösen sind in der Bundesrepublik Deutschland vorgekommen. Die These allerdings, daß die Bundesrepublik in einem strukturellen .,Reformstau" stecke, trifft nicht zu. Gewiß gibt es Beispiele für "Reformblockaden", wie etwa die Nichtentscheidung über die Steuerreform in der 13. Legislaturperiode zeigt. Doch zur vollständigen Bilanz gehören auch die gelungenen Gesetzgebungsvorhaben. Und besonders bemerkenswert ist, daß in Perioden diver-

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gierender Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat bedeutende politische Weichenstellungen verwirklicht wurden. Die Gesetzgebung zur deutschen Einheit gehört dazu, die zur Privatisierung von Bahn und Post ebenfalls, sodann die Errichtung der Pflegeversicherung 1994, ferner die Zustimmung zum Maastrichter und zum Amsterdamer Vertrag, und, nicht zuletzt, 1998 die Zustimmung zur Teilnahme der Bundesrepublik an der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, der sogenannte "Lauschangriff' und die Entscheidung über den Kosovo-Einsatz der NATO in der 13. Legislaturperiode.

6. These: Bei konvergierenden Mehrheiten zwischen Bundestag und Bundesrat ist die Handlungsfähigkeit der Politik größer, doch wird auch sie von den Strukturen des "semisouveränen Staates" begrenzt Stimmen die Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat in parteipolitischer Hinsicht überein, ist der Handlungsspielraum für die amtierende Bundesregierung größer - unter sonst gleichen Bedingungen. Damit steigen die Chancen für beherzte Reformpolitik - politischer Wille und politisches Geschick vorausgesetzt. Beispiele dafür sind die großen innen- und außenpolitischen Entscheidungen in der Ära Adenauer vor allem in den 50er Jahren, sodann die Politik der finanziellen Konsolidierung der Staatsfinanzen und die Ansätze zum Umbau des Sozialstaates zwischen 1982 und 1990. Aller Voraussicht nach wird auch die Politik in der 14. Legislaturperiode, also nach den Bundestagswahlen von 1998, dazugehören. Allerdings steht auch in diesen Fällen die Politik der Bundesregierung im Bannkreis des "semisouveränen Staates", so der von Peter Katzenstein, dem amerikanischen Deutschlandexperten, vorgeschlagene Begriff für Deutschlands Staatlichkeit. Der "semisouveräne Staat", also ein Staat, der zusätzlich zu seiner Einbindung in inter- und transnationale Organisationen innenpolitisch vielfaltig gebändigt ist, schließt größere Kurswechsel in der Regierungspolitik nicht grundsätzlich aus. Doch besteht die wahrscheinlichere Entwicklung aus einer Fülle schrittweiser Politikänderungen. Diese allerdings summieren sich keineswegs zu politischer Unbeweglichkeit, sondern mittelfristig zu beträchtlicher politischer Beweglichkeit und zumindest beachtlicher Fähigkeit zur Problemlösung in vielen Politikfeldern, wenngleich nicht in allen.

7. These: Den Ergebnissen der international vergleichenden Forschung zufolge hat die Politik in der Bundesrepublik Deutschland ein beachtliches Leistungsprofil Der historische und der internationale Vergleich unterstützt im großen und ganzen die These des "semisouveränen Staates" und die seiner relativen politischen Beweglichkeit. Vor allem die vergleichende Politikwissen-

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schaft hat nachgewiesen, daß die Bundesrepublik Deutschland mit ihren mehrheitsbegrenzenden "semisouveränen" Staatsstrukturen und der Kräfteverteilung zwischen zwei großen Sozialstaatsparteien und kleineren Parteien alles in allem nicht schlecht gefahren ist. Der Vergleich ihres politischen Leistungsprofils mit dem anderer Länder ergibt für Deutschland häufig überdurchschnittliche Werte, mitunter Spitzenpositionen und selten sehr schlechte Ergebnisse. Zu den Aktiva der Politik hierzulande zählt die Außenpolitik, die sich durch Friedenssicherung, gute Nachbarschaftlichkeit und "Handelsstaatspolitik" anstelle der früheren "Machtstaatspolitik" auszeichnet. Hinzu kommt eine beachtliche Leistung in vielen innenpolitischen Feldern. Die Möglichkeit zur politischen Mitwirkung beispielsweise ist trotz der Vorherrschaft der Repräsentativdemokratie beachtlich. Die Politik ist ferner insgesamt vergleichsweise gut kalkulierbar. Die Sicherung gegen Not und gegen die WechseWille des Lebens ist weit ausgebaut worden, und bei der Inflationsbekämpfung ist die Bundesrepublik Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der weltweit erfolgreichste Staat, um nur einige Meßlatten zur Erfassung politischer Leistungsprofile zu erwähnen. Charakteristisch für die Bundesrepublik ist dabei ein mittlerer Weg zwischen Markt und Etatismus. Der mittlere Weg ist Deutschland nicht schlecht bekommen. Das zeigt auch der Vergleich mit den stärker marktorientierten Staaten der englischsprachigen Länderfamilie und den stärker wohlfahrtsstaatlich geprägten Mitgliedern der nordischen Staatenfamilie. 8. These: Die politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist zwar keine vollständige "Erfolgsstory", aber doch ein relativer Erfolg

Allerdings ist es übertrieben, der Bundesrepublik rundum eine "Erfolgsstory" zu bescheinigen, wie das beispielsweise Russell Dalton, ein weiterer amerikanischer Deutschlandexperte, Ende der 80er Jahre getan hat. Erstens ist der Erfolg der Bundesrepublik nur relativer Natur. Nicht alle Probleme sind hierzulande gelöst, wie etwa die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit zeigt. Zweitens ist der Erfolg in einem Feld mitunter mit Zielkonflikten und Mißerfolgen in anderen Feldern erkauft worden. Die Mühlen in Deutschlands Mischung aus Konkurrenz- und Konkordanzdemokratie mahlen meist langsam. Das mindert die kurz- und mittelfristige Elastizität der Politik und kann sehr nachteilig wirken. (Allerdings ist der Politik der Langsamkeit, wie die Schweiz lehrt, der Vorteil eigen, daß eine einmal gefundene Lösung in der Vollzugsphase viel besser durchgesetzt werden kann, weil gegensätzliche Interessen schon im Vorfeld austariert wurden und nicht erst nach Abschluß der Willensbildung sich als Vollzugshindernis bemerkbar machen.) Ferner sind manche Erfolge in Deutschlands Innenpolitik mit Zielkonflikten erkauft worden. So zeichnet sich beispielsweise eine Span-

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nung ab zwischen hohem Sozialschutz und schwächerer Wachstumsdynamik der gesamten Wirtschaft. Diese schürt obendrein den Konflikt zwischen hohem Sozialschutz und Beschäftigungsproblemen. Die Beschäftigungsprobleme wiederum schlagen unmittelbar auf die Finanzierung der Sozialpolitik durch, weil diese zu zwei Dritteln aus Sozialbeiträgen finanziert wird, die direkt auf den Faktor Arbeit erhoben werden und deshalb diesen in besonderem Maße verteuern. Unübersehbar ist überdies eine Kluft zwischen ausgebauter sozialer Sicherung einerseits und Vernachlässigung zukunftsorientierter Politikfelder, wie Bildung, Forschung oder Förderung von Familien und Kindem andererseits. Dies allerdings sind Mängel, die, wie der internationale Vergleich lehrt, nicht natürlich, sondern veränderbar sind, auch unter den institutionellen Rahmenbedingungen der Bundesrepublik Deutschland.

9. These: "Reformblockaden" waren in der politischen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht strukturbestimmend Die These der "Reformblockade" erfaßt nur einen Teil des politischen Getriebes der Bundesrepublik Deutschland. Gewiß gibt es passende Beispiele. Allerdings machen die "Reformblockaden" nicht den allerwichtigsten Teil des politischen Prozesses hierzulande aus. Die These der "Reformblockade" lenkt allerdings zu Recht die Aufmerksamkeit darauf, daß das Mehrheitsprinzip im Parteienwettbewerb mit dem konkordanzdemokratischen Prinzip des Deutschen Bundestages kollidieren kann, vor allem bei konfliktorischem Handeln von Bund und Ländern und bei konfliktbetontem Wettbewerb der Parteien. Doch insgesamt waren "Reformblockaden" bislang nicht das Strukturmerkmal der Politik in der Bundesrepublik.

10. These: Die Entstehung von "Reformblockaden" und ihre Vermeidung hängt nicht nur von institutionellen Rahmenbedingungen und sozioökonomischen Gegebenheiten ab, sondern auch vom politischen Handeln Die Beobachtung, daß "Reformblockaden" nicht strukturbestimmend für die Politik hierzulande waren, und die weitere Beobachtung, daß Deutschlands politische Institutionen ein starkes Vetospielerstaat-Element enthalten, welches die Reformfähigkeit grundsätzlich herabsetzt, unterstreichen einen Lehrsatz der Politikwissenschaft: Institutionen sind geronnene Entscheidungen. Diese begrenzen einerseits die Wahlhandlungen in der Gegenwart nachhaltig und ermöglichen andererseits bestimmte Optionen. Doch determinieren Institutionen weder die Wahl der politischen Entscheidungsalternativen noch deren Ergebnis. Auch das stützt die These, daß es in der Bun-

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desrepublik Deutschland trotz starkem Vetospielerstaat keinen Automatismus gibt, der unausweichlich in die "Reformblockade" führt. Literaturhinweise Cast/es, Francis G. (Hrsg.) (1993): Families of Nations. Patterns of Public Policy in Western Democracies. Aldershot. - Da/ton, Russen J. (1989): Politics in West Germany. Glenview, Ill. u.a. - Katzenstein, Peter (1987): Policy and Politics in Western Germany. The Growth of a Semisovereign State. Philadelphia. - Lehmbruch, Gerhard (1998): Parteienwettbewerb im Bundesstaat, Opladen. - Schmidt, Manfred G. (1992): Regieren in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen. Schmidt, Manfred G. (Hrsg.) (1992): Die westlichen Länder. München und Zürich. - Tsebelis, George (1995): Decision Making in Political Systems: Veto Players in Presidentialism, Multicameralism and Multipartyism, in: British Journal of Political Science, Jg. 25, Nr. 2, 289- 325, Wachendorfer-Schmidt, Ute 1999: Der Preis des Föderalismus in Deutschland, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 40, Nr. I, S. 3 - 39.

Die Parteien in Deutschland auf dem Weg zu Kartellparteien? Von Elmar Wiesendabi

I. Einleitung Parteien orgamsteren Macht und dies in einem Ausmaß, daß für viele Beobachter der politische Prozeß und das öffentliche Leben maßgebend von ihnen beherrscht werden. In der Tat ist ohne ihr Werben um Wählerstimmen und ohne ihre Wahlkampfaktivitäten die Durchführung von Wahlen heutzutage nicht mehr denkbar. Aus ihrer Mitte rekrutieren sich die Parlamentskandidaten und gewählten Abgeordneten, die die parlamentarische Regierung hervorbringen und die Opposition stellen. Sie wählen den Kanzler und die Ministerpräsidenten, und fast jedes Kabinettsmitglied kann auf eine lange Parteikarriere zurückblicken. Schließlich stützt sich auch das Regierungsprogramm auf Vorstellungen, die sich die Parteien zuvor auf die Fahnen geschrieben haben. Dieser enorme Einfluß der politischen Parteien und der aus ihnen hervorgehenden politischen Klasse auf öffentliche Ämter und staatliche Steuerungsressourcen wird damit gerechtfertigt, daß sie ihre Macht nur treuhänderisch von den Wählern verliehen bekämen, um deren Wünschen und Anliegen ein Sprachrohr zu geben und um über die Kontrolle des Parlaments und der Regierung Wählerinteressen in politische Entscheidungen umsetzen zu können. Zudem seien Parteien der Konkurrenz ausgesetzt und müßten sich mit ihren Kandidaten und Spitzenvertretern regelmäßig dem Votum der Wählerschaft stellen, so daß ihre Macht durch Befristung legitimiert sei und die gewählten Politiker durch das Risiko der Abwahl Nähe zum Volk halten würden. Seit geraumer Zeit werden an dieser Darstellung sowohl von der Wählerals auch von wissenschaftlicher Seite massiv Zweifel angemeldet, der in den Vorwurf mündet, daß die Parteien sich von der Gesellschaft losgelöst und mit dem Staat verbunden hätten. Die weit verbreitete Kritik wird in nüchtern-empirischer Form durch das Konzept der Kartellpartei aufgegriffen, das in der Parteienforschung seit 1995 durch Katz und Meier eine rasche Verbreitung fand. Der Kern ihrer einflußreichen Überlegungen 4 Speyer 133

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besagt 1, daß sich die älteren in Westeuropa vorherrschenden "Catch-all-Parties", also Volksparteien, zu Kartellparteien umgewandelt hätten. Von einem neuen Typ von Kartellparteien zu sprechen, rechtfertigen sie damit, daß Parteien solcher Art in abgestimmter "collusion and cooperation"2 den Staat durchdrungen und sich seiner Ressourcen bemächtigt hätten mit dem Zweck, sich selbst zu erhalten und um das Aufkommen neuer Parteien zu verhindern. 3 Unter diesem Blickwinkel bildeten Parteien eine "formation of a cartel, in which all the parties share in the resources and in which all survive". 4 Gleichzeitig würde der Staat den Charakter einer "institutionalized structure of support, sustaining insiders while excluding outsiders"5 , annehmen. Hergeleitet wird diese Entwicklung von Katz und Mair damit, daß sich das gesellschaftliche Partizipationsniveau gesenkt bzw. verlagert habe. An Bedeutung habe dabei auch die freiwillige Mitgliedschaft in Parteien eingebüßt. Weil den Parteien infolgedessen die allgemeinen Kosten ihres Parteibetriebs über den Kopf gewachsen seien, hätten sie sich dem Staat zugewandt, um sich Ersatzressourcen zu beschaffen. Augenscheinlich liegt der Kartellparteienentwicklung also eine gesellschaftlich induzierte Ressourcenverknappungskrise zugrunde6 , die, wie Mair Verschiedenenorts betont hat7 , die Parteien elektoral verwundbar gemacht habe, so daß sie sich, notgedrungen darauf reagierend, ersatzweise staatliche Ressourcen erschlossen hätten. Gegen diese Vorstellungen ist einiges einzuwenden. Denn das weit verbreitete Standard-Erklärungsmodell der Kartellparteien fußt, wie man sieht, zugespitzt formuliert auf einer "Verelendungs"-Prämisse, die der Wirklichkeit kaum standhält. Da sich zudem die ganze Argumentationskette auf der abstrakten Ebene von sich wandelnden Parteien bewegt, bleiben zudem Roß und Reiter ungenannt, die ganz konkret die aufgezeigten Veränderungen initiiert und herbeigeführt haben. Parteien handeln nämlich nicht selbst, sondern nur die in ihnen organisierten Akteure. Insofern muß ein enger Zusammenhang zwischen den Kartellbildungs- und Verstaatlichungstenden1 Siehe Richard S. Katz, Peter Mair, Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politcs, 1, 1995, s. 5- 28. 2 Katz/Mair, a.a.O., S. 17. 3 siehe Katz/Mair, a. a. 0 ., S. 15, 23 f. 4 Katz/Mair, a.a.O., S. 16. 5 Ebenda. 6 Siehe Katz/Mair, a.a.O., S. 15. 7 Peter Mair, Party Politics in Contemporary Europe: A Challange to Party? in: Stefano Bartolini, Ders. (eds.), Party Politics in Contemporary Western Europe, London 1984, S. 170- 184; Ders., Continuity, Change and the Vulnerability of Party, in: Ders., Gordon Smith (eds.), Understanding Party System Change in Western Europe, London 1990, S. 180ff.; Ders., Party System Change, Oxford 1997.

Die Parteien in Deutschland auf dem Weg zu Kartellparteien?

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zen einerseits und den diese Prozesse aktiv betreibenden Akteuren andererseits hergestellt werden. Anders als Katz und Mair glauben wir deshalb der These nicht, daß die Parteien und die aus ihnen hervorgehenden Berufspolitiker Opfer gesellschaftlicher Entwicklungen wurden, die sie "Zuflucht" beim Staate suchen ließen. Auch eine ähnliche, von Klaus von Beyme aufgestellte These8 ist in diesem Zusammenhang fragwürdig, daß der "Ausbau des Parteienstaats . . . die Antwort der politischen Klasse auf den sozialen Wandel" darstelle, der die Parteien in Form von Entideologisierung, rückläufiger Parteiidentifikation, erhöhter Mobilität der Bevölkerung, Mitgliederschwund und Konkurrenz durch neue soziale Bewegungen in Schwierigkeiten gebracht habe. Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet müßten nämlich dem Ausbau des Parteienstaats und der Praxis der Kartellbildung zeitlich massive Wähler- und Mitgliederverluste vorausgegangen sein. Dem steht die Konzentrationstendenz zugunsten der Großparteien entgegen sowie die Tatsache, daß CDU /CSU und SPD als Hauptprofiteure der Kartellbildung erst in den Siebzigern ihre eigentliche Hochphase erlebten9 , nachdem diese Praxis längst eingeführt war. Deshalb spricht in kausaler Hinsicht sehr viel dafür, nicht äußeren widrigen Umständen, sondern dem eigenbestimmten und eigenlogischen Handeln der Betreiber und Nutznießer von Kartellen, also der politischen Klasse, ein ausschlaggebendes Gewicht beizumessen. Unsere handlungstheoretisch hergeleitete These geht denn auch dahin, daß Kartellbildungen bei der Ausbeutung staatlicher Ressourcen weniger auf prekäre externe Knappheitsverhältnisse der Parteien, sondern vielmehr auf die im Zentrum der Kartellbildung stehenden politischen Klasse selbst und damit auf die ihr innewohnende Handlungslogik zurückzuführen ist. Hieran orientiert sich der nachfolgende Gedankengang. Handlungslogisch wird Berufspolitikern dabei unterstellt, daß sie Chancen, die ihren Machterwerbs- und Macht-erhaltsinteressen entgegenkommen, auch verwerten, soweit sich ihnen dazu Gelegenheit bietet und Widerstände bzw. negative Folgewirkungen ihres Handeins nicht zu befürchten sind. An dieser Politikern grundsätzlich zueigenen Logik eigensüchtiger Chancenverwertung, die das Kollektivinteresse der von ihnen vertretenen Parteien einschließt, kann solange nichts anrüchiges festgestellt werden, wie institutionelle Vorkehrungen dem selbstbezogenen Akteurshandeln enge Schranken setzen und in demokratieverträgliche - oder besser - demokratieförderliche Richtung lenken. Anders als in diesem Sinne erwünscht muß jedoch in Deutschland von einem Strukturdefekt massendemokratischer par8 Siehe hierzu Klaus von Beyme, Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt a.M. 1993, S. 44ff. 9 Siehe hierzu Elmar Wiesendahl, Wie geht es weiter mit den Großparteien in Deutschland? in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bl-2/1998, S. 14ff. 4•

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teienstaatlicher Elitenherrschaft ausgegangen werden. Nicht geglückt ist es nämlich, die Mißbrauchsanfälligkeit von Parteien- und Politikermacht, durch die elementare bürgerschaftliehe Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte berührt werden, über effektive Konkurrenz, Ämterbefristung, Kontrolle und Kritik institutionell einzubinden und zu neutralisieren. Statt dessen hat sich ein parteienstaatlich abgesichertes Elitenkartell herausgebildet, das sich schon stark verfestigt hat. Ohne die treibende Kraft und die aktive Einflußnahme durch die hiervon profitierende politische Klasse ist dieser Kartellbildungstrend nicht zu rekonstruieren. Hierdurch sind mittlerweile weitreichende Strukturveränderungen der Parteien eingetreten, die darauf geprüft werden sollen, inwieweit sie typologisch angemessen durch den Begriff der Kartellpartei eingefangen werden. Am Schluß werden Gegenmittel diskutiert, durch die sich Kartelle unter Umständen zerschlagen bzw. zurückdrängen lassen.

II. Die politische Klasse und ihr Abwahlrisiko Nicht Parteien schließen Kartelle, sondern in ihrem Namen auftretende und handelnde Menschen. Deshalb ist zunächst nach jener Personengruppe zu fragen, die mit Kartellbildungen bzw. dem Strukturwandel zu Kartellparteien in Zusammenhang zu bringen ist. Unbesehen böte sich hierfür der Begriff der politischen Klasse an, wenn nicht durch dessen inflationären Gebrauch in den Neunzigern die ihm sowieso schon innewohnenden Trennschärfe- und Mehrdeutigkeitsprobleme 10 noch auf die Spitze getrieben worden wären. Vor allen Dingen verliert der Begriff seinen heuristischen Wert, wenn er in seiner Reichweite weit über die Gruppe der gewählten Berufspolitiker hinaus auf alle in den Politikbetrieb eingebundenen Berufs~ gruppen ausgedehnt wird. 11 Für die hier interessierenden Kartellbildungs10 Siehe hierzu Heino Kaack, Zur Struktur der politischen Führungseliten in Parteien, Parlamenten und Regierung, in: Ders., Reinhold Roth (Hrsg.), Handbuch des deutschen Parteiensystems, Bd. 1, Opladen 1980, S. 199; siehe auch Wilhelm Weege, Politische Klasse, Elite, Establishment, Führungsgruppen. Ein Überblick über die politik- und sozialwissenschaftliche Diskussion, in: Thomas Leif, Hans-Josef Legrand, Ansgar Klein (Hrsg.), Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand, Bonn, Berlin 1992, S. 52; zum Begriff der politischen Klasse siehe auch Christine Landfried, Parteifinanzen und politische Macht, 2. Auf!., Baden-Baden 1994, S. 11 f. und Hans-Dieter Klingemann, Richard Stöss, Bernhard Weßels, Politische Klasse und politische Institutionen, in: Dies. (Hrsg.), Politische Klasse und politische Institutionen. Probleme und Perspektiven der Elitenforschung, Opladen 1991, S. 31f. 11 Zum extensiven Begriff der politischen Klasse siehe Jens Borchert, Lutz Go1sch, Die politische Klasse in westlichen Demokratien: Rekrutierung, Karriereinteressen und institutioneller Wandel, in: Politische Vierteljahresschrift, 36, 1995, S. 612f.; Herbeet von Amim, Fetter Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse

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prozesse ist jedoch allein nur jene kleinere Gruppe an bezahlten Berufspolitikern aufschlußreich, die sich regelmäßig innerparteilichen und allgemeinen Wahlen zu stellen hat und damit gemeinsam das Risiko der Abwahl teilt. Das Abwahlrisiko bildet für sie ein prekäres Schlüsselmoment unsicherer beruflicher Existenz, weil sie sich in ökonomische Abhängigkeit von einerseits zwar bezahlter aber andererseits in der Fortdauer unsicherer Erwerbsarbeit begeben hat. In dieser Hinsicht bildet die politische Klasse eine "Interessengruppe für sich selbst" 12 und zwar mit dem gemeinsamen Anliegen, möglichst unbeschadet vom Ausgang von Wahlen ihre Wahlämter dauerhaft ausüben zu können. Aus dieser "Verwundbarkeit" leitet sich auch ihr unbändiges Streben her, sich kollektiv vor dem Drama des politischen und damit des beruflichen Scheiterns zu schützen 13 . Das kollektive Eigeninteresse der politischen Klasse kreist infolgedessen darum, das individuelle Abwahlrisiko zu minimieren bzw. umgekehrt die individuellen Wiederwahlchancen, soweit irgend möglich und zulässig, zu erhöhen. Neben diesem gemeinsamen Überlebens- und Fortbestandsinteresse verbindet darüber hinaus die politische Klasse noch ein weiteres berufliches Statusinteresse, nämlich von der Ausübung des Politikerberufs möglichst komfortabel und sorgenlos abgesichert leben zu können. In Deutschland geht die hier interessierende und nicht allzu große Gruppe an bezahlten Berufspolitikern "auf Zeit" fast ausschließlich aus den Parteien hervor und rekrutiert sich aus dem Kreis der "office-seeker" bzw. Karrieristen unter den Parteimitgliedern 14 , die ihrem Handeln eine spezifische Machterwerbslogik zugrundelegen. Zudem ist diese Gruppe in ihrer Zusammensetzung mit jenem Personenkreis, der als Parteielite die innerparteilichen Führungspositionen auf Bundes-, Landes- und größtenteils Kreisebene besetzt, identisch, wodurch sich die Machterwerbslogik dieser Akteure mit dem Bestreben verbindet, die Parteiorganisation in ihrer Organisationslogik auf durchaus persönlich vorteilhafte elektorale "vote getting"-Zwecke hin zu instrumentalisieren. Diese Gruppe von Berufspolitikern entspricht keinem homogenen und kohärenten kollektiven Akteur, sondern handelt gelegentlich und nur dann abgestimmt, wenn ein parteiüberselbstbezogen und abgehoben, München 1997, S. 27, 32ff. ; siehe auch Jens Borchert, Politik als Beruf: Die politische Klasse in westlichen Demokratien, in: Ders. (Hrsg.), Politik als Beruf. Die politische Klasse in westlichen Demokratien, Opladen 1999, S. 25f. 12 von Beyme a. a. 0., S. 31. 13 Zu den Auswüchsen dieses Phänomens in den USA siehe Anthony King, The Vulnerable American Politican, in: British Journal of Political Science, 27, 1997, s. 8ff. 14 Vgl. hierzu Elmar Wiesendahl, Parteien in Perspektie. Theoretische Ansichten der Organisationswirklichkeit politischer Parteien, Opladen und Wiesbaden 1998, s. 158ff.

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greifendes Kollektivhandeln zum Vorteil aller Beteiligten im eigenen Interesse geboten erscheint. Insofern haben zwar alle unter diese Gruppe fallenden Personen an der "Privilegienstruktur'" 5 teil, ohne jedoch selbst in die engeren Kartellbildungszirkel integriert sein zu müssen. 111. Parteienstaatsausbau und der Weg zur Kartellbildung

Kartellbildungen unter Parteien bzw. Angehörigen der politischen Klasse ergeben sich nicht zwangsläufig. Sie bedürfen förderlicher Umstände und Strukturen, die, wie sich für die westdeutsche Nachkriegsentwicklung aufzeigen läßt, mit institutionellen Fehlkonstruktionen verbunden sind. Wie sehr nämlich Institutionen gerade bei der Machtbegrenzung, aber auch Machtausdehnung politischer Instanzen eine Schlüsselrolle spielen, bewahrheitet sich in besonders aufschlußreicher und zugleich paradoxer Weise gerade gegenüber den Parteien. Sie, d. h. ihre Wortführer und "officeseeker", haben zwar ein durchaus eigensüchtiges Interesse an sich selbst. Nur muß sich dieses mit entsprechenden Chancen verbinden, damit es sich auch verwirklichen läßt. Aus wohlüberlegter Gefahrenabwehr ist es deshalb erforderlich, daß die politische Klasse auf ein Regelwerk von Geboten und Verboten stößt, mit denen der Instrumentalisierung staatlicher Ressourcen für eigensüchtige Zwecke ein wirksamer Riegel vorgeschoben wird. Solche Wirkungsmacht wird normalerweise Institutionen zugesprochen. Sie geben normative Handlungsschranken vor und haben die gewollte Regelunterworfenheit und Einbindung politischer Akteure zum Zweck. Um jedoch in dieser Weise handlungsleitend wirken zu können, ist zu bedenken, daß Institutionen, wie March und Olsen betonen 16, gegenüber den handelnden Akteuren als bereits vorgefertigt und geltungsheischend zu betrachten sind. Besondere Umstände der Nachkriegssituation haben in Westdeutschland dazu geführt, daß dieser Zusammenhang durch Vertreter der wieder zugelassenen Parteien auf den Kopf gestellt werden konnte. Genauer noch läßt sich sagen, daß die Spitzenvertreter der nach Kriegsende von den alliierten Besatzungsmächten privilegierten Lizenzparteien, angeführt durch Konrad Adenauerund Kurt Schumacher, zielstrebig das vorkonstitutionelle Neuordnungsvakuum der ersten Nachkriegsjahre bis 1949 parteipolitisch ausfüllten, um, ungebremst von nicht durch die NS-Zeit belastete institutionelle Gegenspieler, ihre eigene konstitutionelle Verankerung vorzunehmen und in praktischer Hinsicht weichenstellende und sie begünstigende Entscheidungen zur Befriedigung ihres parteienstaatlichen Expansionsdrangs zu trefvon Beyme, a. a. 0., S. 30. Siehe James G. March, Johan P. Olsen, Rediscovering Institutions. The Organizational Basis of Politics, New York 1989, S. 22. 15

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fen 17 . Bereits vor Beginn der Bundesrepublik Deutschland gaben sich also die Parteien im Sinne paradoxer autogener Institutionalisierung durch ihre eigenen Vertreter sich selbst und für sich selbst Reglements und Privilegien, die ihnen den ungehinderten verfassungs- und wahlrechtlich sanktionierten Zugang zu den parlamentarischen und gouvernementalen Schlüsselstellungen der Bonner Demokratie sichern sollte. Insofern räumt der Artikel 21 des Grundgesetzes von 1949 den Parteien ein Mitwirkungsprivileg bei der politischen Willensbildung zu einem Zeitpunkt ein, bei dem ihre Vertreter faktisch längst zu den personellen Trägem und Steuermännern dieses Prozesses aufgestiegen sind. Durch ihren Wiederzulassungsvorsprung und das Fehlen an unabhängigen, ihrem Gestaltungseinsfluß entzogenen Regelungsund Kontrollmechanismen gelangte damit die aus den Parteien hervorgehende politische Klasse der Bundesrepublik Deutschland in eine historisch unvergleichliche Machtvollkommenheitsposition, von der aus der Ausbau des Parteienstaats betrieben und die Basis für die später eingeführte Praxis der Kartellbildung gelegt werden konnte. Für die Bundesrepublik gilt damit, daß die Parteien mit ihren Spitzenvertretern nicht, wie es Katz und Mair beschreiben, in vorhandene staatliche Institutionen einzudringen hatten, sondern sie verkörperten gleich nach der Stunde Null schöpferisch die Baumeister, die Väter (und wenigen Mütter) einer parlamentarisch-parteienstaatlichen Demokratie, die auf ihre hegemonialen Entfaltungsinteressen zugeschnitten war. Hierzu gehört auch die von Anfang an gezielt betriebene Politik der Parteien auf Kommunal-, Landes- und dann ab 1949 auf Bundesebene, die sich wieder restituierende Berufsbeamtenschaft und den Beamtenstaat mit Parteieliten zu durchsetzen und mit exzessiver Ämterpatronage ihrer Kontrolle zu unterwerfen 18 . All dieses liefert den Grund, warum Westdeutschland bei der Etatisierung und Karteliierung der Parteienherrschaft in Buropa eine Vorreiter- und Schrittmacherrolle übemahm 19 . IV. DieBetreiber und Nutznießer von politischen Kartellen

Seitdem der Parteienparlamentarismus und die Parteienregierung in der Bundesrepublik der parteiverbunden politischen Klasse die Kontrolle über 17 Siehe hierzu die informative Studie von Ilona K. Klein, Die Bundesrepublik als Parteienstaat Zur Mitwirkung der politischen Parteien an der Willensbildung des Volkes 1945- 1949, Frankfurt a.M. usw. 1990, S. 83ff. 18 Siehe Klein, a.a.O., S. 179, 200f.; siehe auch Wilhelm Hennis, Der "Parteienstaat" des Grundgesetzes. Eine gelungene Erfindung, in: Günter Hofmann, Wemer A. Perger, Die Kontroverse. Weizsäckers Parteienkritik in der Diskussion, Frankfurt a.M. 1992, S. 45. 19 Siehe im Überblick Dick Leonhard, Contrasts in Selected Western Democracies: German, Sweden, Britain, in: Herbert E. Alexander (ed.), Political Finance, Beverly Hills, London 1979, S. 43.

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die Besetzung aller wichtigen staatlichen Ämter und über die Richtungsbestimmung der Politik zuspielt, ist darin die Regelungskompetenz eingeschlossen, um eine selbstbegünstigende Interessenwahrnehmung zu verfolgen. Indem die politische Klasse mit dem Staat verschmolzen ist und über dessen Steuerungsressourcen verfügt, fallt ihr die Chance zu, um sich zum Entscheidungsakteur in eigener Sache aufzuschwingen. Nicht daß damit das Prinzip der demokratischen Wahl und Herrschaft auf Zeit als Kernelementen kompetitiver Elitenherrschaft von der Wurzel her ausgehebelt würde. Aber die in die Parlamente gewählten und die Regierung stellenden Berufspolitiker befinden nicht nur als Betroffene und zugleich Begünstigte selbst über ihre Bezahlung und materielle und personelle Ausstattung zur Ausübung ihrer politischen Erwerbsarbeit, sondern sie genehmigen sich auch noch in eigener Machtvollkommenheit Übergangs- und Versorgungsbezüge. Auch sind sie es selbst, die über Art und Ausmaß staatlicher Finanzierung der von ihnen angeführten politischen Parteien entscheiden20 . Nicht zuletzt bestimmen sie noch dazu über die Regeln, die den Wettbewerb um ihre eigene Wiederwahl oder auch Abwahl organisieren. Kurzum erwächst hieraus ein fundamentales Kernproblem der parteienstaatlichen Herrschaft der politischen Klasse, indem sie selbst "über die Bedingungen ihrer Existenz ... : über die Regeln des Erwerbs und Erhalts von Macht und Posten und über deren Ausstattung"21 entscheidet. M. a. W. errichten nach dem Selbstbedienungsprinzip und ohne notwendige "Vermittlung durch Dritte" 22 Parteien durch ihre Berufspolitiker ein aus staatlichen Quellen sprudelndes System der eigenen Daseins- und Risikoabsicherung, "in that they are regulating themselves, paying themselves and offering resources to themselves, albeit in the name of the state'm. All dies tun sie auf eine Art und Weise, die es nahelegt, hierfür den Begriff der Kartellbildung heranzuziehen. Bei Kartellen wird offenkundig gegen elementare politische Anstandsregeln und gegen die guten Sitten und darüber hinaus auch noch gegen das Gleichheitsgebot beim Wettbewerb um die Wählerstimmen verstoßen. Der politischen Klasse sind das öffentlich Anrüchige, Illegitime und die daraus 20 Siehe für diesen Aspekt besonders Herbert von Arnim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld. Parteienfinanzierung in Deutschland, Neuausgabe München 1996, S. 255; siehe auch Friedhelm Boyken, Die neue Parteienfinanzierung. Entscheidungsprozeßanalyse und Wirkungskontrolle, Baden-Baden 1998, S. 95. 21 von Arnim, Fetter Bauch . .. , a. a. O., S. 14, siehe auch Katz/Mair, a.a. O., s. 15. 22 von Amim, a. a. 0., S. 53. 23 Peter Mair, Party Organizations: From Civil Society to the State, in: Richard S. Katz, Ders. (eds.), How Parties Organize. Change and Adaption in Party Organizations in Western Democracies, London, Thousand Oaks, New Delhi 1994, S. 11 ; siehe auch Ders., Political Parties, Popular Legitimacy and Public Privilege, in: Western European Politics, 18, 1995, S. 54.

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resultierenden rufschädigenden Folgen des Ausnutzens von Selbstbegünstigungschancen nicht nur bewußt, sondern sie zeigt auch insofern Wirkung, wie sie die schädigenden Wirkungen solcher Entscheidungen in eigener Sache zu begrenzen versucht. Nur auf die Idee, Abstand von den verlockenden Chancen der Selbstbegünstigung zu nehmen, kam sie nicht, genauso wenig wie sie es unabhängigen Dritten überläßt, diese für sie sensiblen Fragen zu klären. Ganz im Gegenteil hat sie einen Weg eingeschlagen, der in der weit verbreiteten Praxis der Kartellbildung endete. Kartelle sind in erster Linie aus dem Wirtschaftsleben bekannt und haben dort den Gesetzgeber zu umfangreichen Maßnahmen der institutionellen Mißbrauchsaufsicht und Kartellbekämpfung veranlaßt In der politischen Arena sind dagegen Kartellsehrnieder und Gesetzgeber zumeist identisch, so daß hier dem "Machtmißbrauch" keine staatlichen Schranken entgegengestellt werden24 . Kartellbildungen in der Politik unterscheiden sich nicht wesentlich von denen in der Wirtschaft, außer daß es Berufspolitiker bzw. Führungseliten der Parteien sind, die sich zu Kartellen zusammenschließen. Anders als in den Wirtschaftswissenschaften steckt jedoch die systematische Erfassung von Kartellbildungspraktiken in der Parteienforschung erst noch in den Anfängen. Kartelle werden von Berufspolitiker gebildet, die im Namen von normalerweise miteinander konkurrierenden Parteien auftreten, um sich - förmlich oder formlos - auf ein abgestimmtes Verhalten mit dem Zweck abzusprechen, einseitige Vorteile zu Lasten Dritter bzw. auf Kosten der Allgemeinheit zu erlangen25 • Unter Wettbewerbsgesichtspunkten benachteiligen Kartelle die von den begünstigenden Folgen ferngehaltenen Mitkonkurrenten. Insoweit ist für jede Form von Kartellen ein Privilegierungeffekt für die "ins" und ein Diskriminierungseffekt für die "outs" charakteristisch26 . Der exklusive Vorteilsname- und Selbstbedienungseffekt von politischen Kartellbildungen kann im Extremfall bis hin zur parasitären Ausbeutung staatlicher Ressourcen reichen. Leidtragende sind auf jeden Fall die Steuerzahler, die für die Selbstbegünstigung der politischen Klasse aufkommen müssen. Und benachteiligt sind all diejenigen Gruppen, die vom Genuß der Vorteile ausgeschlossen werden, die sich die Kartellbeteiligten zuspielen. Kartelle stellen einen massiven Eingriff in systemnotwendige Wettbewerbsverhältnisse dar, indem sie Rivalität und Konkurrenz außer Kraft setzen und durch Kooperation und Kumpanei ersetzen. Ein Kartell verhinvon Arnim, Fetter Bauch .. ., a.a.O., S. 312f. Zur Einordnung des Kartellbegriffs siehe Rainer Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, München, Wien 1995, S. 119. 26 Vgl. hierzu Herbert von Arnim, Ämterpatronage durch politische Parteien. Ein verfassungsrechtlicher und staatspolitischer Diskussionbeitrag, in: Die Personalvertretung, 24, 1981, S. 65. 24

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dert die Gegenmachtbildung zwischen Regierung und Opposition, so daß "Checks und Balances", Transparenz, Kritik und Kontrolle zur Begrenzung der Macht von Parteien und ihrer Eliten nicht mehr wirksam werden können. Wer vor diesem Hintergrund an Kartellen mitwirkt, läßt sich auf ein Kartell der Angst ein. Infolgedessen scheuen die Beteiligten schlechten Gewissens und in der Sorge, daß ihr selbstbegünstigendes Tun bloßgestellt und an den Pranger gestellt werden könnte, das Licht der Öffentlichkeit. Deshalb sprießen Kartelle im Verborgenen, und die konspirativen Karteilsehrnieder sind darauf erpicht, ihre Absprachen zu verheimlichen und Weichenstellungen über die begünstigenden Folgen ihrer Kartellabsprachen, die sichtbar werden könnten, zu verdunkeln. Geradezu absurd wäre es unter diesen Umständen anzunehmen, daß bei der unerläßlichen Vertraulichkeit von Kartellen die politische Klasse als Ganzes mit der verschworenen Gruppe von Kartellschmiedern identisch sein könnte. Im Mittelpunkt des eigentlichen Kartellbildungsgeschehens stehen vielmehr nur einige wenige Schlüsselakteure und unmittelbar Eingeweihte, die über den Kreis der Parteischatzmeister und engsten Mitarbeitern sowie den Spitzenvertretern der Parteien und Parlamentsfraktionen kaum hinausreichen dürften27 . Allerdings zählen zu diesen strategischen Spielmachern aus dem inneren Zirkel der politischen Klasse nicht nur die unmittelbaren Mittäter, sondern weitere diskrete Mitwisser, die in das Kartell des Dichthaltens einbezogen sind. Dagegen fallt die große Masse der gewählten Berufspolitiker unter die Kategorie der Mitmacher, die die Absprachen ratifizieren und Nutzen daraus ziehen. Bisweilen kann von Kartellbeteiligten nicht verhindert werden, daß Dritte in den Kreis der Nutznießer eingeschlossen werden, obgleich man sie am liebsten außenvorhalten möchte. Mitunter werden sogar Unbeteiligte begünstigt, die erst durch die Aussicht auf ihre Begünstigung gewahr werden, daß Kartellabsprachen stattgefunden haben. Dann kann es soweit kommen, daß einzelne Quertreiber, Spielverderber oder Moralisten vertraulich oder gar in aller Öffentlichkeit gegen solche Absprachen opponieren und auch noch zum Scheitern bringen. 1981 und 1984 kam es beispielsweise im Bundestag dazu, daß zwei kartellartig eingefadelte, aber allzu frivole Versuche, die in illegale Parteispendenaffaren verwickelten Spendenbeschaffer der etablierten Parteien und ihre Finanziers aus der Industrie zu amnestieren, vom Hinterbänklerbereich die Gefolgschaft verweigert wurde. All diese Gefahrenmomente und Imponderabilien lassen die Kartellbelreiber zur Praxis der Kollusion, d. h. des verheimlichenden und sittenwidrigen Parallelverhaltens28 greifen. Einiges spricht dafür, daß das seit den 70er 27 28

Siehe hierzu Boyken, a.a.O., S. 104f., 111. Siehe hierzu Olten, a.a.O., S. 114.

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Jahren aufgebaute und seitdem stark expandierende Netzwerk der indirekten staatlichen Umweg- und Schattenfinanzierung der Parteien29 aus einer Kette von Kollusionsschachzügen hervorgegangen ist. Indizien der dabei angewandten Verschleierungs- und Verdunklungspraxis sind darin zu sehen, daß sich die in seinem Mittelpunkt stehende Fraktions-, Abgeordnetenmitarbeiter- und Parteistiftungsfinanzierung über Jahrzehnte in einem unübersichtlichen gesetzlichen Regelungsfreiraum ausbreitete. An Kollusion erinnert auch die Praxis, mit welcher Öffentlichkeitsscheu und Geheimniskrämerei die sich in diesem Bereich mit der Steigerung von öffentlichen Zuwendungen befassenden Haushaltseinzelpläne im Parlament vorgelegt, behandelt und entschieden wurden30. Weiterhin kann unter diesem Blickwinkel in der seit 1984 von den Parteien eingeführten Praxis, die vormals offen in ihren Rechenschaftsberichten ausgewiesenen Parteisteuern bzw. Abgeordnetenabgaben unter der Rubrik Mitgliedsbeiträge I Spenden "verschwinden" zu lassen, durchaus als abgestimmtes Manöver angesehen werden, um das wahre Ausmaß staatlicher Parteienfinanzierung zu verschleiern. Früchte trägt damit ein ganz wesentlicher Kartellbildungszweck, nämlich durch vernebelnde und lückenhafte Rechenschaftspraxis die vielen Quellen, verschlungenen Wege und Volumina des politischen Geldzuflusses für die Parteien den Einblicken und der Kontrolle durch die Öffentlichkeit zu entziehen. Wie wir heute wissen, machte dieses Streben nicht einmal vor der langjährigen illegalen Praxis der anonymisierten und steuerbetrügerischen Großspendenfinanzierung der Bundestagsparteien und der kaum weniger dubiosen Spendenzuweisung an einzelne Politiker Haie 1• V. Formen und Praktiken der Kartellbildung

Um tiefer in das undurchsichtige Feld der Kartellbildung einzudringen, macht es Sinn, sie genauer nach ihrer Zielsetzung und ihrem cui-bonoZweck zu unterscheiden. Beschaffungskartelle werden geschlossen, wenn sich die Kartellparteien in selbstbegünstigender Form Zugang zu staatlichen Steuerungs-, Personal- und Geldressourcen verschaffen. Neben der staatlichen Schattensubventionierung der Parteien ist hier vor allen Dingen die 29 Vgl. hierzu Rolf Ebbighausen u. a., Die Kosten der Parteiendemokratie. Studien und Materialien zu einer Bilanz staatlicher Parteienfinanzierung in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1996, S. 21. 30 Siehe hierzu Ebbighausen u. a., a. a. 0., S. 229 ff., 239 ff., 252, 268; von Arnim, Die Partei ... , a.a.O., S. 145; Thomas Drysch, Die staatliche Finanzierung der Parteien in Österreich, in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland, Phil. Diss Uni Bw München, Opladen 1998, S. 261 ff. 31 Vgl. hierzu Landfried, a.a.O., S. 133ff., 144ff.

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sogenannte Parteibuchwirtschaft im öffentlichen Dienst und in weiteren halbstaatlichen Einrichtungen wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten oder kommunalen Versorgungs-, Wohnungsbau- und Verkehrsbetrieben zu erwähnen32 . Inwieweit die Praxis zur Förderung individueller administrativer und auch wirtschaftlicher Karrieren unter die Herrschafts- oder Versorgungspatronage33 fallt, läßt sich selbst bei den graduellen Austauschprozessen des administrativen Spitzenpersonals nach Regierungswechseln nur schwer entscheiden34 . Städtische Patronagenetzwerke wie etwa in Köln35 sprechen eher für die Existenz von persönlich lukrativen Beutekartellen, die für einen hohen Grad an Feudalisierung bei der öffentlichen Ämterbesetzung sprechen. Zumeist enden Beschaffungs- in Besitzstandskartellen, die es verhindern, daß einmal erworbene Pfründe wieder aus der Hand gegeben werden. Beschaffungs- und Begünstigungskartelle funktionieren in der Regel nicht nach dem Gießkannenprinzip. Im Gegenteil haben sich Proporzkartelle eingebürgert mit dem Zweck, die erschlossenen Pfründe nach festen Verteilungsschlüsseln gestaffelt auf die Kartellpartner aufzuteilen. Die Gefallebildung in der Quotierung richtet sich häufig nach dem Abschneiden bei Wahlen, so daß die daraus als stärkste Kraft hervorgehende Partei durch Meistbegünstigung profitiert. Wie bei der Besetzung von Richterwahlausschüssen, Leitungspositionen von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten oder der Verteilung von Globalzuschüssen auf die Parteistiftungen deutlich wird, behandeln sich die beiden Großparteien CDU und SPD in etwa gleich, während die kleineren Parteien mit weit geringeren Quoten abgefunden werden. Hin und wieder gehen die Interessen der Kartellpartner deutlich auseinander. Dann laufen die Absprachen auf einen Beistandspakt zur wechselseitigen Beförderung von jeweils nur einzelne Partner des Kartells begünsti32 Siehe hierzu Kenneth Dyson, Die westdeutsche "Parteibuch"-Verwaltung, in: Die Verwaltung, 1979, S. 132ff.; Ders., Party Govemment and Party State, in: Herbert Döring, Gordon Smith (eds.), Party Govemment and Political Culture in Germany, New York 1981, S. 84ff., Renate Mayntz, Hans-Ulrich Derlien, Party Patronage and Po1iticization of the West German Administrative Elite 1970- 1987 - Toward Hybridization, in: Govemance, 2, 1989, S. 384ff., Wolfgang H. Lorig, Parteipolitik und öffentlicher Dienst: Personalrekrutierung und Personalpatronage in der öffentlichen Verwaltung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 25, 1994, S. 94ff.; von Beyme, a. a. 0., S. 60ff., 75 ff. 33 Zur begrifflichen Unterscheidung siehe Theodor Eschenburg, Ämterpatronage, Stuttgart 1961, S. 12. 34 Vgl. hierzu Hans-Ulrich Derlien, Regierungsechsel, Regimewechsel und Zusammensetzung der politisch-administrativen Elite, in: Bernhard Blanke, Hellmut Wollmann (Hrsg.), Die alte Bundesrepublik. Kontinuität und Wandel, Opladen 1991, s. 261 f. 35 Siehe hierzu exemplarisch Erich und Ute Scheuch, Cliquen, Klüngel und Karrieren: Über den Verfall der politischen Parteien. Eine Studie, Reinbek 1992.

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gende Maßnahmen hinaus. In diesem Zusammenhang kann es auch zu Kompensationskartellen kommen, bei denen Kartellpartner, die an der einseitigen Vorteilsnahme eines anderen nicht partizipieren, umgekehrt exklusive Vorteile auf einem anderen Gebiet eingeräumt bekommen. Alle ziehen gemeinsam an einem Strang, um sich gegenseitig zu unterstützen. Dieses Prinzip des vereint Vorgehens aber getrennt Profitierens läßt zwar immer einen Teil der Kartellbeteiligten bei der Begünstigung eines anderen Teils den Kürzeren ziehen. Würden die jedoch partiell Benachteiligten nicht beim Kartell mitmachen, kämen sie ihrerseits nicht in den Genuß von partikularen Vorteilen, bei denen die andere Seite ebenfalls leer ausgeht. Zum Vorteil aller sind solche Probleme durch Mitnahmekartelle zu lösen. So resultiert beispielsweise die 1994 eingeführte 1,30 DM-Regelung zur öffentlichen Subventionierung einer jeden Wählerstimme36 auf einen Sonderwunsch, der ursprünglich nur der FDP Vorteile einräumen sollte. Am Ende ergab sich dann aber ein Finanzierungsmodus, der seitdem per Mitnahmeeffekt allen Kartellbeteiligten zugute kommt. Nicht unerwähnt sollen Umgehungskartelle bleiben, deren Kern darin besteht, Schranken, die durch die nicht immer konsistente und sachlogische Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts37 gezogen werden, so selektiv auszudeuten oder durch nachfolgende Rechtsanpassung zu umgehen, daß durch Schlupflöcher der einmal erreichte Stand des Zugriffs in öffentliche Kassen nicht etwa gesenkt oder eingefroren, sondern stetig erweitert wird. Praxis ist deshalb, wie etwa 1967 bei der Einführung der Wahlkampfkostenerstattung, pauschale Erstattungsregelungen festzulegen, über die sich die größtmöglichen Begünstigungsvorteile für die Kartellparteien erzielen lassen. Verwiesen sei auch auf den geradezu klassischen Fall eines Umgehungskartells, bei dem die Parteien nach dem 1966 ergangenen Verbot staatlicher Finanzierung ihrer politischen Bildungsarbeit alsbald dazu übergingen, Parteistiftungen einzurichten, über die sie sich ihre "ausgelagerte" Bildungsarbeit nun auf Umwegen über Globalzuschüsse aus dem Staatshaushalt um so ergiebiger bezahlen ließen 38 . Weit verbreitet sind schließlich noch Diskriminierungskartelle. Sie erzeugen einseitige Wettbewerbsvorteile für die "ins", während umgekehrt die "outs" unter Wettbewerbsnachteilen zu leiden haben. Diskriminierungskartelle kreisen darum, durch Wettbewerbsverzerrungen die Wettbewerbsposition der Kartellbelreiber soweit zu stärken, daß sich ihre Chancen auf Wiederwahl und Erhalt ihrer Schlüsselpositionen erhöhen. Diskriminierend wirken insbesondere Marktzugangsbeschränkungen, die, wie im Fall der 36

37 38

Siehe hierzu im Detail von Arnim, Fetter Bauch .. ., a.a.O., S. 312. Siehe hierzu kritisch Landfried, a. a. 0., S. 78 ff. Vgl. hierzu Drysch, a. a. 0., S. 198 f.

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mehrfach verschärften Fünf-Prozent-Klausel, Teil einer Minorisierungsstrategie der Bundestagsparteien gegenüber den Kle'inparteien bilden können 39. Weiterhin stellt eine besonders krasse Form von Wettbewerbsdiskriminierung die durch die etablierten Parteien eingeführte Praxis dar, die Begünstigung durch staatliche Subsidien entweder, wie bei der Stiftungsfinanzierung40, an das Überspringen der Fünf-Prozent-Klausel zu binden, oder aber staatliche Privilegien nach dem Prinzip der Erfolgsprämierung zu verteilen. Anstelle nach dem Gleichheitsgebot allen Wettbewerbern auf dem Wählermarkt die gleichen Startchancen einzuräumen, schanzen sich hierdurch die Erfolgsverwöhnten auch noch einseitige Chancenverbesserungen für die Wiederholung ihres Erfolges zu41 • Die Etablierten sorgen sogar dafür, daß der von ihnen kontrollierte Staat nicht etwa gleiche Startgelder an alle Wettbewerber verteilt, sondern im Gegenteil Siegprämien an jene allein ausschüttet, die wie sie selbst zur Siegerehrung zugelassen werden. Der Staat sponsert also exklusiv die Erfolgreichen des Wettbewerbs und nicht diejenigen, die an den Start gehen. Dabei stauen sich die Kartellparteien exklusiv mit zahlreichen Wettbewerbsvorteilen wie etwa bei der Wahlkampfkostenerstattung, der Steuerbegünstigung und staatlichen Prämierung von Mitgliedsbeiträgen und Spenden, bei Abgeordnetenabgaben, bei der Personal-, Material- mid Finanzausstattung für ihre Abgeordneten, Fraktionen und Stiftungen aus bis hin zur Ämterpatronage, ohne daß die hiervon ferngehaltenen Kleinparteien und Newcomer irgend etwas dieser Praxis entgegensetzen könnten. Das etablierte Parteienkartell rechnet sich sogar noch bei der Mandatsverteilung jene verlorenen Stimmen an, die Wähler ganz gezielt bei den Kleinparteien abgegeben haben. So haben die Kartellparteien aus eigener Machtvollkommenheit einen Kreislauf von politischer Macht, Kartellbildung und politischer Privilegierung in Gang gesetzt, bei dem gleiche Wettbewerbsvoraussetzungen außer Kraft gesetzt sind und am Ende die Privilegierung der Privilegierten weiter gestärkt wird.

39 Zu den "Minorisierungs"-Techniken siehe Regine Roemheld, Minorisierung als Herrschaftssicherung. Zur Innovationsflihigkeit des westdeutschen Parteiensystems, Frankfurt a.M., New York 1983, S. 4lff. 4o Siehe hierzu von Arnim, Fetter Bauch ... , a. a. 0 ., S. 154 f. 41 Siehe hierzu kritisch Göttrik Wever, Die Dialektik der Stabilität Politischer Wettbewerb in der Bundesrepublik Deutschland, in: Ders. (Hrsg.), Parteienfinanzierung und politischer Wettbewerb, Opladen 1990, S. 469; siehe weiterhin Uwe Volkmann, Politische Parteien und öffentliche Leistungen, Berlin 1993, S. 208ff.

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VI. Strukturwandel der politischen Klasse und das Donner Parteienkartell Die kartellhafte Verkarstung parteienstaatlich abgesicherter Elitenherrschaft hat in erster Linie mit der Interessethage der gewählten politischen Klasse zu tun, die ihre ökonomische Existenzbasis an die Dauerhaftigkeit einer beruflichen Politkarriere geheftet hat. Dies mußte jedoch keineswegs in einem wettbewerbsbeeinträchtigen Netzwerk von Kartellabsprachen zur abgestimmten Ausbeutung staatlicher Ressourcen und Privilegien enden, solange Interessengegensätze und Rivalitäten Parteien und ihre Wortführer davon femhalten, bei der Erschließung. staatlicher Ressourcen gemeinsame Sache zu machen. In der Tat kann bis Ende der Sechziger von einer Kollusion bzw. Kartellbildung der Parteien noch nicht geredet werden. Denn einem engen Zusammenspiel des etablierten Parteienoligopols stand die SPD solange im Weg, wie sie sich auf der Basis ihrer eigenen wirtschaftlichen Finanzausstattung und ihrem Selbstverständnis als Mitgliederpartei femhielt42 . Insofern ist die 1959 erstmalig europaweit eingeführte Parteienfinanzierung in Westdeutschland43 auch nicht aus einem geschlossenen Absprachekartell hervorgegangen, sondern mußte genauso wie die steuerliche Abzugsfähigkeit von Spenden von den damaligen bürgerlichen Parteien gegen die SPD im Bundestag durchgesetzt werden. Die Einwilligung der SPD in das Oligopolistische Staatsfinanzierungskartell wurde in erster Linie dann durch den enormen Kostenanstieg der Wahlkämpfe und durch den personellen Ausbau des Parteiapparats gefördert44• Zum Zusammenschluß der Bundestagsparteien in eigener Sache bedurfte es erst jedoch noch eines weiteren Schleusenöffnungsvorganges, der 1966 mit der höchstrichterlichen Entscheidung zur Freigabe der staatlichen Erstattung "angemessener" Wahlkampfkosten der Parteien eintrat. Zum Schulterschluß fanden. CDU/CSU, FDP und SPD schon 1964 und 1965 bei der parlamentarischen Beratung des Parteiengesetzes zusammen. Wie mit einer Stimme sprechend drängten sie nämlich unisono in ihren Anträgen auf einen maßgeschneiderten Aufgabenkatalog für politische Parteien mit der Absicht, die ihnen grundgesetzlieh zugestandene Mitwirkungsrolle bei der politischen Willensbildung zu einer Art "Altzuständigkeit im Sinne einer öffentlichen Aufgabe" hochzuinterpretieren45 . Ab 1968 läßt sich dann, wie Christine Landfried46 ermittelt hat, über die Jahre nicht nur ein stetiger Anstieg der staatlichen Finanzierungsquote der Bundestagsparteien feststellen, sondern an den einvernehm42 43 44

45 46

Siehe hierzu Landfried, a.a.O., S. 32ff., auch Drysch, a.a.O., S. 124ff. Vgl. Leonhard, a.a.O., S. 43. Siehe Ebbighausen u. a., a. a. 0., S. 24, 150. Klein, a. a. 0., S. 281. Siehe Landfried, a.a.O., S. ll4f.

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liehen Änderungen des Parteiengesetzes von 1967, 1984 und 1988 ist auch eine "klare Tendenz zur wachsenden Etatisierung" ablesbar47 • Gleichzeitig ist der Spendenfinanzierung der Parteien kein Riegel vorgeschoben worden48 . Auch die Bündnisgrünen haben nach ihrer erkennbaren Normalisierung in den Neunzigern ihre anfängliche Quertreiber- und Spielverderberrolle gegenüber den Kartellbetreibern aus CDU/CSU, SPD und FDP aufgegeben und sind zu stillen Teilhabern des Banner Parteienfinanzierungskartells geworden. Der hier aufgezeigte Weg in die Kartellbildung läßt sich nicht von Strukturwandlungen der politischen Klasse loslösen, deren spezifische Interessenlage und Handlungslogik sich durch den Aufstieg eines neuen Politikertyps einschneidend verändert hat. Noch 1975 stellte Dietrich Herzog49 nach Erhebungsdaten unter Spitzenpolitikern aus dem Jahre 1968 fest, daß Politik nach dem Muster einer Standardkarriere erst dann zur Profession würde, nachdem sich die Amtsträger zuvor privatberuflich etabliert hätten. Dieses zweigleisige Standardmuster von "privat-beruflichem und politischen Avancement" hält er auch noch 1990 für gegeben50. Politik beginne als Zweitkarriere, die zunächst parallel zum privat-beruflichen Aufstieg verlaufe, dann jedoch wegen politischer Arbeitsüberlastung aufgegeben würde. 51 Größere Bedeutung für die Zukunft käme aber längst dem Muster der "reinen politischen Karriere" zu, bei der jüngere Politiker schon während ihrer Ausbildungszeit eine besoldete Politkarriere beginnen würden. Diese Politiker seien "von Anbeginn politische Professionals, materiell gebunden und psychologisch adaptiert an den politischen Beruf als ihre einzige, gewöhnlich lebenslange Einkommensquelle"52. Politik stellt für diese neue Gruppe ambitionierter Karrieristen einen Arbeitsmarkt für dauerhafte Erwerbsbiographien dar, dem sie sich durch primäre Berufswahlentscheidung zuwenden. Für sie ist der sogenannte Eintritt ins allgemeine Berufsleben mit dem Einstieg in eine politische Erwerbsbiographie identisch. Sie sind Direkteinsteiger in einen Beruf, den sie nicht auf Zeit, sondern von Anfang an unter der Perspektive von "Lebenszeitpolitikern"53 auszuüben gedenken. Entsprechend verbindet sich das Berufsverständnis des Laufbahnpolitikers mit einer Verbeamtungshaltung, d. h. dem Ziel einer lebenslangen Politkarriere nach dem Laufbahnprinzip mit 47

a. a. 0., S. 271.

Siehe hierzu Ebbighausen u. a., a. a. 0., S. 109 f. Dietrich Herzog, Politische Karrieren. Selektion und Professionalisierung politischer Führungsgruppen, Opladen 1975, S. 182. 50 Dietrich Herzog, Der moderne Berufspolitiker, in: Eliten in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart, Berlin, Köln 1990, S. 38 f. 48 49

51

52

53

a. a. 0 ., S. 39.

a.a.O., S. 41. von Arnim, Fetter Bauch ... , a. a. 0., S. 154.

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Vollbeschäftigungsgarantie auf hoher Einkunftsbasis. Anwartschaften auf geregelte Aufstiegsmöglichkeiten sind hierin einbezogen. Der Lautbahnpolitiker bildet die Kehrseite des einer Eigenlogik gehorchenden zeitgenössischen Politikbetriebs. Er ist mit dem Typ des reinen Laufbahnbeamten unter der Verwaltungselite vergleichbar, dessen Karriere sich ohne "externe Karrierestationen" 54 vollzieht. Die traditionell gestellte Frage nach dem erlernten Erstberuf55 vor Übertritt in die Berufspolitikerlaufbahn greift bei diesem neuen Typ tatsächlich ins Leere. Dies heißt jedoch nicht, daß angesichts der Hürden und Unwägbarkeilen einer Einsteigerkarriere in die Politik nicht nach privatberuflichen Alternativbeschäftigungsmöglichkeiten Ausschau gehalten würde, schon um abzuwarten, falls sich bei der politischen Karriereplanung Verzögerungen einstellen sollten. Nur arbeitet der Laubahnpolitiker dabei nicht wirklich an einer Parallelkarriere. Vielmehr begibt er sich, falls nötig, nach dem obligatorisch gewordenen Studium56 zivilberuflich in eine befristete Park- und Passagebeschäftigungsposition, von der aus er als "Laufbahnpolitiker im Wartestand" den Einstieg in die bezahlte Politkarriere betreibt. Das damit verbundene Webnetz aus führenden Tätigkeiten in der Parteijugend, frühem Erwerb eines innerparteilichen Spitzenamts auf Orts- oder Kreisebene, einem gleichzeitigen politiknahen Studium, Referenten- oder Assistententätigkeit bei einer politischen Einrichtung oder einem Politiker und dann frühzeitigem Erwerb eines bezahlten Landtags- oder Bundestagsmandats scheint, wie Kerstin Burmeister feststellt, "das generelle Aufstiegsmuster in der Politik geworden zu sein"57. Genauer noch zu ergründen wäre dabei das Spezialmuster der Rotationskarriere, bei der, wie etwa beim kurzzeitigen Kanzleramtsminister Bodo Hombach, erfolgreiche politische Servicedienste mit einem Spitzenjob in der Industrie belohnt werden, um dann nach einer Weile zurückrotierend einen weiteren Karrieresprung in der Politik zu machen. Allein der kritische Blick auf den hohen Beamtenanteil unter den Abgeordneten macht allerdings diesen jüngeren Trend zum Einwegpolitiker noch 54 Hans-Ulrich Derlien, Wer macht Karriere? Spitzenbeamte und ihr beruflicher Werdegang, in: Die öffentliche Verwaltung, 1989, S. 317. 55 Siehe Herzog, Politische Karrieren ... , a. a. 0., S. 22. 56 Wilhelm Weege, Zwei Generationen im SPD-Parteivorstand. Eine empirische Analyse, in: Leif/Legrand/Klein (Hrsg.), a. a. 0., S. 200; weitere neuere "social background"-Daten über Bundestagsabgeordnete sind zusammengetragen bei Wolfgang Ismayr, Der deutsche Bundestag, Opladen 1992, S. 53ff. 57 Kerstin Burmeister, Die Professionalisierung der Politik am Beispiel des Berufspolitikers im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1933, S. 77, vgl. auch Wilhelm Bürklin, Hilke Rebenstorf u. a., Eliten in Deutschland. Rekrutierung und Integration, Opladen 1997, S. 165; Lutz Go1sch, Die politische Klasse im Parlament. Politische Professionalisierung von Hinterbänklern im Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1998, S. 129ff., 181 ff. 5 Speyer 133

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Schaubild Anteil der Beamten an der deutschen Enverbsbevölkerung, den enverbstätigen Mitgliedern von CDU und SPD und den Bundestagsabgeordneten von 1982 bis 1997

50 40

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16

17

17

15

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16

SPD

16

16

16

17

17

17

Bundestag 1

36

34

34

37

45

ab der 13. Legislaturperiode 1994 werden die Regierungsmitglieder und die Beamten nicht mehr getrennt erhoben.

Quellen: Statistisches Bundesamt, Auskünfte der Parteigeschäftsstellen, Schindler, Peter (Hrsg.), Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 19491998 (im Druck), eigene Berechnungen

nicht hinlänglich durchsichtig. Eher verfügen sowohl der öffentliche Bedienstetenstatus als auch die Berufsqualifikation zum Rechtsanwalt über förderliche Karriereanschubeigenschaften, so daß sich das akademische Ausbildungsprofil und die privatberuflichen Passagetätigkeiten der neuen Laufbahnpolitikerklasse immer mehr verengen und angleichen. Der Werdegang dieses Typs wird maßgeblich durch den Aufstieg auf der innerparteilichen Karriereleiter bestimmt, da nur der nach oben kommt, der sich ganz

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gezielt und in jungen Jahren schon die Skills und Machterwerbslogik der Ochsentour58 aneignet. Hieraus resultierten die disproportionalen Aufsteigerchancen für Beamte und der institutionelle' Abweisungs- und Ausschlußeffekt der Parteien gegenüber majoritären unteren Bevölkerungsschichten59.

VII. Der Aufstieg der Dauerberufspolitiker und die Folgen für die politischen Parteien Bei dem neuen Typ von gewähltem Berufspolitiker verschärfen sich die Folgen des nicht aus der Welt zu schaffenden Abwahlrisikos ins materiell und psychisch Existentielle. Wer nämlich von seiner ganzen Berufsbiographie her den Weg einer politischen Einspurkarriere einschlägt, kennt gewissermaßen kein Zurück, kein zur Seite, keinen Ausstieg, sondern nur ein stetiges Vorwärts auf der Einbahnstraße des politischen Aufstiegs. Dabei beschränkt sich die Berufserfahrung dieses Typs nur noch auf das, was der Politikbetrieb, der um Politiker-Politik kreist, hergibt60, während privatberufliche Vorerfahrungen gänzlich fehlen oder sehr bald spurenlos verblassen. Der Laufbahnpolitiker ist im wahrsten Sinne des Wortes von der Beschäftigungsgarantie in seinem erlernten Politikberuf ökonomisch abhängig. Denn falls er abgewählt oder nicht wieder aufgestellt werden sollte, droht ihm der Status eines aus dem politischen Arbeitsmarkt ausgesiebten und für andere private Berufe verwendungsuntauglichen Erwerbslosen. Es ist deshalb zu erwarten, daß, wenn diesem Typ der Zutritt in die politische Dauerbeschäftigung erst einmal geglückt ist, er alles daran setzen wird, um seine Verweildauer in der Politik zu verewigen, damit seine berufliche Existenzbasis nicht weggerissen wird. Entsprechend ist seit 1953 ein stetiger Anstieg der durchschnittlichen Verweildauer unter den Bundestagsabgeordneten zu verzeichnen61 • Während sich in der Gesellschaft das auf Dauer angelegte, sichere Normalarbeitsverhältnis immer mehr auflöst, setzt der 58 Siehe zur innerparteilichen Ochsentour die Realsatire von Anton-Andreas Guha, Seiteneinsteiger oder die ungenutzte Chance der Parteien zur Regeneration, in: Vorgänge, Nr. 142, 1998, S. 54ff. 59 Vgl. hierzu Rainer Geißler, Kein Abschied von Klasse und Schicht. Ideologische Gefahren der deutschen Sozialstrukturanalyse, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48, 1996, S. 328f. 60 Siehe hierzu Elmar Wiesendahl, Etablierte Parteien im Abseits? Das Volksparteiensystem der Bundesrepublik vor den Herausforderungen der neuen sozialen Bewegungen, in: Ulrike C. Wasmuht (Hrsg.), Alternativen zur alten Politik? Neue soziale Bewegungen in der Diskussion, Darmstadt 1989, S. 88. 61 Siehe Christopher Anderson, The Composition oftheGerman Bundestag since 1949: Long Term Trends and Institutional Effects, in: Historical Social Research, 18, 1993, Nr. 65, S. 6f.

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Laufbahnpolitiker im Gegensatz hierzu auf ein inflexibles Dauer- und Vollzeitbeschäftigungsverhältnis, das ihm Sicherheit und Auskommen bis zum Ende seiner Erwerbsbiographie garantiert. Dieser Strukturwandel der politischen Klasse reicht durchaus an den heran, den James Burnham vor Jahren62 als "Managerial Revolution" für die wirtschaftlichen Führungsschichten beschrieben hat. Denn die neue Klasse von Laufbahnpolitikern und Managern des Politikbetriebs hat ein Eigeninteresse an Strukturen, die ihrem Wunsch auf ein dauerhaftes und gutsituiertes berufliches Beschäftigungsverhältnis entgegenkommen. Damit ist aber auch der Ausbau des Parteienstaates, die Kartellbildung und der Zugriff auf staatliche Ressourcen vor dem Hintergrund des Einflusses zu sehen, den die Dauerberufspolitiker ausübten, um ihre eigene Position abzusichern und zu verbessern. Überall dort, wo das Selbsterhaltungsinteresse der neuen politischen Klasse sich mit Eingriffsmöglichkeiten in ihre Wahl und Wiederwahl beeinflussende Strukturen verband, spielten sich infolgedessen Veränderungen ab, durch die sie ihre "vote getting"-Position verbesserten. Einer der ersten Schritte in diese Richtung ist an der Verapparatung der Parteien seit den späten 60er Jahren ablesbar. Damals begannen die Bundestagsparteien aus "office seeking"-Gründen der Politiker mit dem extrem kostspieligen Ausbau ihrer Parteizentralen und Geschäftsstellen zu elektoralen Serviceeinrichtungen63 , der nur durch den Zugriff auf die staatliche Parteienfinanzierung bezahlt werden konnte. Da gleichzeitig aber auch die kapitalintensiven Formen moderner Wahlkampfführung Kostenexplosionen verursachten, überstieg der Finanzbedarf der Parteien bei weitem die beim Staat auf direktem Weg locker gemachten Subventionssummen. Die Verapparatung der Parteien mit hauptamtlichem Personal geriet deshalb schon in den Siebzigern ins Stocken, obgleich es den Parteiführungen bis heute gelungen ist, den staatlichen Geldzufluß zielgenau in die Bahnen zur Finanzierung der Parteizentralen zu lenken und damit für ihre elektoralen Machterwerbs- und Machterhaltsinteressen zu instrumentalisieren64. Faktisch wird damit seit längerem schon der Betrieb der Parteizentralen vom Steuerzahler ausgehalten und ist unter dem Einfluß der politischen Klasse in öffentliche Zuständigkeit und Unterhaltspflicht übergegangen65 . Bis heute ist es auf der einen Seite den Parteispitzen nicht geglückt, den ungebremsten Kosten- und Aufwandsanstieg von Wahlkämpfen Grenzen zu Siehe James Burnham, Das Regime der Manager, Stuttgart 1949, S. 91 ff. Siehe hierzu Ebbighausen u. a., a. a. 0., S. 290f. 64 Siehe hierzu Landfried, a.a.O., S. 94f., 280f.; Ebbighausen u.a., a.a.O., S. 167f., 440f.; von Arnim, Fetter Bauch ... , a.a.O., S. 327. 65 Siehe hierzu Karl-Heinz Naßmacher, Parteienfinanzierung in Deutschland, in: Oscar W. Gabriel, Oskar Niedermayer, Richard Stöss (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 1997, S. 171. 62

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setzen, weil der übermäßige Einsatz von Wahlkampfressourcen der Logik der politischen Klasse entspricht, hierdurch ihre Unsicherheit und Ungewißheit über den Wahlausgang zu mildem und die Politikkarriere fortsetzen zu können. Dagegen gelang es auf der anderen Seite, den nicht mehr finanzierbaren Personalausbau der Parteiapparate erfolgreich aufzufangen. So wurden in den Achtzigern in den staatsfinanzierten Parteistiftungen und Fraktionen und an der Seite der Abgeordneten das Heer an Mitarbeitern auf über 6.000 Beschäftigte erhöht66, während gleichzeitig der "Ievel of bureaucratization"67 bei den Parteiorganisationen absank. Beide Vorgänge müssen in einem engen Zusammenhang, gar als Einheit gesehen werden. Denn faktisch kommt darin eine Externalisierung von Personalkosten der Parteienorganisationen auf öffentliche Haushalte zum Ausdruck. Die politische Klasse hat es parteiübergreifend verstanden, die organisatorische Verapparatung der Parteien längst in eine staatlich finanzierte parlamentarische Verapparatung der Parteien unter Einschluß ihrer Stiftungen zu transformieren68 . Ihr ist es damit durch personellen Ausbau der Fraktions-, Abgeordneten- und Parteistiftungsstäbe geglückt, ein die staatlich abgedeckten Kosten des Organisationsbetriebs der Parteien um ein Vielfaches übersteigerndes System indirekter und verdeckter staatlicher Subventionswirtschaft zu ihren Gunsten einzurichten, das durch Personalunion, Personalaustausch und durch Aufgabenverflechtung integral mit den Zentralen der außerparlamentarischen Parteiorganisationen vernetzt ist69 . Die sich daraus herleitenden Folgen können gar nicht weit genug eingeschätzt werden. Denn nicht mehr die Wähler, auch nicht mehr die Parteimitglieder, sondern der Staat ist zum Überlebensgaranten der politischen Klasse geworden. Als Rentier von dessen Zuwendungen und Ressourcen lebend, hat sie sich zu einer Art "besitzständischer Kooperation"70 zusammengeschlossen. Hieraus einen allgemeinen Trend zur Verstaatlichung der Parteien ableiten zu wollen, wie es hellseherisch Flechtheim bereits zu Beginn der sechziger Jahre71 feststellte, trifft jedoch den Nagel nicht ganz auf den Kopf. Eher 66 Zahlenangaben bei von Arnim, Fetter Bauch ... , a. a. 0., S. 40; siehe auch Ebbighausen u.a., a.a.O., S. 210, 284f.; Drysch, a. a.O., S. 169ff., 199ff., 214ff., 250f. 67 Angelo Panebianco, Political Parties: organization and power, New York etc. 1988, s. 220. 68 Vgl. hierzu die Befunde bei Thomas Poguntke, Parties in a Legalistic Culture: The Case of Germany, in: Richard S. Katz, Peter Mair (eds.), How Parties organize, a.a.O., S. 194f.; zum europäischen Trend siehe auch Mair, Party Organizations ... , a.a.O., S. 6f. 69 Vgl. Drysch, a. a. 0., S. 183 f. 70 Danilo Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft, Göttingen 1997, S. 153. 71 Ossip K. Flechtheim Die Institutionalisierung der Parteien in der Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Politik, 9, 1962, S. 97, 101.

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geht der Trend zu "electoral-professional-parties"72, deren Führungsschichten von Anfang an die immensen Kosten der technisch-professionellen Aufrüstung der auf Wahlkampf spezialisierten "vote getting"-Organisation von Partei auf öffentliche Haushalte abzuwälzen versuchten. Als Ganzes wurden die Parteien dabei nicht in den Staat überführt, sondern der politischen Klasse gelang es völlig ausreichend, größere ihnen zuarbeitende Serviceapparate als Unterabteilungen an den staatlichen Machtapparat anzugliedern und diese zusammen mit den außerparlamentarischen Parteiapparaten als ihnen unterworfene Verfügungsmasse in den professionellen Politikbetrieb zu integrieren. Dermaßen üppig mit staatlichen und halbstaatlichen Privilegien und Ressourcen ausgestattet erkaufte sich die politische Klasse ihren Autonomiegewinn allerdings mit einem wachsenden gesellschaftlichen Anschlußverlust, der ihr in dem Maße verborgen bleibt, wie sie sich in ihrer Abkopplung und "Selbstreferenz"73 nur noch um sich selbst dreht. Sie hat sich in eine politische Managementlogik verfangen, die mit einem Verlust an Extrovertiertheit und Responsivität einhergeht. · Für die alten Mitglieder- und Programmparteien, aus denen die "office holder" und "office seeker" hervorgehen, bewirkt diese Entwicklung einen Strukturwandel, ohne daß sie sich jedoch in ihrem veränderten Eigenschaftsprofil vollständig mit dem von Kartellparteien überschneiden würden. Zu gänzlich der Kontrolle von Berufspolitikern unterworfenen etatisierten Kartellparteien wurden Parteien in Deutschland allein schon deshalb nicht, weil sie sich nach wie vor aus einer in die Zehntausende gehenden Anzahl von Ortsvereinen zusammensetzen, in denen Aktive, Freiwillige und Ehrenamtliche unter den Parteimitgliedern Eigensinn und Eigenleben entfalten. Bis hierhin ist die Kartellpartei oder besser die von Berufspolitikern dominierte "Profi"-Partei74 trotz aller "Verbonzung" (Helmut Kohl) noch nicht vorgedrungen. Umgekehrt haben sich die "office seeker" und die aus den Parteien hervorgehenden gewählten Berufspolitiker von den störrischen Freiwilligen-Organisationen mental längst soweit losgelöst, daß sie sie auch links liegenlassen könnten, zumal sie durch die aus staatlichen Quellen sprudelnden Finanz- und Humanressourcen von der Parteibasis weitestgehend unabhängig wurden. Auch erlauben ihnen die elektronischen Massenmedien, ohne Beteiligung der Parteibasis Kontaktbeziehungen zur Wählerumwelt aufzunehmen. Höchstwahrscheinlich würden sie sich der Mitgliederorganisationen auch längst entledigt haben, wenn nicht personalPanebianco, a. a. 0., S. 264 f. Zolo, a. a. 0 ., S. 149; siehe auch Katz und Mair, Changing Models .. ., a. a. 0 ., S. 19, Klaus von Beyme, Funktionswandel der Parteien in der Entwicklung von der Massenmitgliederpartei zur Partei der Berufspolitiker, in: Gabriel, Niedermayer, Stöss (Hrsg.), a. a. 0., S. 369. 74 von Beyme, Funktionswandel ... , a. a. 0., S. 372. 72

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intensive Wahlkämpfe zu bestreiten wären und die Öffentlichkeit noch nicht reif dafür ist, um sich an mitgliederlose Profiparteien zu gewöhnen. Von unten her betrachtet leiden so die ihrer Identität beraubten Mitgliederparteien an einem Auszehrungsdilemma von Solidarität und Loyalität. Die Aktiven und Ehrenamtlichen an der Basis durchschauen zwar nicht ganz, was gespielt wird. Doch sie erspüren ihren Wertverlust und danken es den Gewählten an der Parteispitze und in den Parlamenten mit Motivationsund Einsatzrückzug. Umfassender noch führt die Entkopplung von Mitgliederorganisationen und elektoralen Apparaten der Parteien zur Entmutigung der Aktivbürgerschaft und ganz allgemein zu einem Anreizschwund des nicht auf politische Karrieren ausgerichteten parteipolitischen Engagements. Infolgedessen wächst die Organisationsinstanz, und Neumitglieder finden seit Jahren schon nicht mehr erwähnenswert zu den Parteien75 . Auch in der Wählerschaft hat sich Mißtrauen und Entfremdung gegenüber den Parteien breitgemacht, so daß von einer vitalen gesellschaftlichen Verwurzelung der Profiparteien nicht mehr gesprochen werden kann. Wenn die Entwicklung so weitergeht, besteht zwar die sich selbst versorgende und auf sich selbst bezogene politische Klasse mit samt ihrem entrückten Politikbetrieb fort. Ob jedoch die Gesellschaft auf Dauer an diesem Treiben ein Rest von Gefallen finden wird, ist tunliehst zu bezweifeln.

VIII. Institutionelle Gegengifte Unter den gegebenen Verhältnissen des voll ausgebauten Parteienstaates und der dichtmaschigen Kartellvemetzung des Berufspolitikerturns wäre es illusorisch, an Selbstheilungskräfte der politischen Klasse zu glauben, die der Privilegienstruktur ein Ende bereiten könnten. Ganz im Gegenteil war von vereinzelter Selbstkritik und Bereitschaft zur Selbstbescheidung unter Parteivertretern nur solange etwas zu spüren76, wie Anfang der Neunziger die Wogen der Parteienverdrossenheit hochschlugen. Allein auf die institutionelle Wächter- und Gegenspielerrolle des Bundesverfassungsgerichts zu setzen, stimmt ebenfalls skeptisch, zumal dessen zahlreiche Grenzziehungen häufig genug durch Umgehungskartelle unterlaufen wurden. In die falsche Richtung geht aber auch die Vorstellung, das Volk als "das einzig wirklich potente Gegengewicht gegen die immer stärkere Dominanz der Berufs- und 75 Siehe hierzu für die Großparteien Elmar Wiesendahl, Noch Zukunft für die Mitgliederparteien? Erstarrung und Revitalisierung innerparteilicher Partizipation, in: Ansgar Klein, Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen, Bonn 1997, s. 350ff. 76 Beispielhaft hierzu Jürgen Rüttgers, Dinosaurier der Demokratie. Wege aus Parteienkrise und Politikverdrossenheit, Harnburg 1993, S. 187 ff.

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Machtinteressen der politischen Klasse"77 in Stellung bringen zu wollen. Denn nicht nur ist das Volk als handelndes Subjekt eine Chimäre, sondern auch der "authentische" Volkswille ist nicht apriori vorhanden, sondern muß, um hervorgebracht zu werden, vorgeformt und organisiert werden, was wiederum die von den Politikern angeführten Parteien ins Spiel bringt78 • Die Erfahrung zeigt, daß man ganz im Gegenteil, um die divergierenden und diffusen Interessen und Wünsche der Wählerinnen und Wähler in kollektiver Form bündeln und politisch zur Geltung zu bringen, an politischen Parteien nicht vorbeikommt. Kritisch zu hinterfragen ist auch, ob die Direktwahl von Bürgermeistem oder gar von Ministerpräsidenten die Bürgerpartizipation tatsächlich stärkt, oder ob nicht hierdurch nur eine anders gelagerte Form von elitärer Honoratiorenherrschaft, gestützt auf Medienresonanz, etabliert wird. An demokratischen Mitglieder- und Programmparteien für die Aktivbürger kommt die Massendemokratie nicht vorbei, soweit es allerdings gelingt, die Kartellbildungsauswüchse der politischen Klasse zu beseitigen und die verkümmerte Parteiendemokratie wiederzubeleben. Verfestigter Kartellherrschaft kann aber nur wirksam durch institutionelle Gegengifte begegnet werden, die nicht an Symptomen, sondern an den Kartellbildungswurzeln ansetzen. Hier ist parteiintern an in erster Linie durch Statutenänderung umzusetzende institutionelle Vorkehrungen zu denken, durch die die Ausübung eines politischen Wahlamtes grundsätzlich auf längstens 12 Jahre befristet wird und der exzessiven Ämterhäufung der "office-holder" Riegel vorgeschoben wird. Nichts spricht zudem dagegen, Personalwahlen nur auf der Basis der Auswahl, d. h. der Entscheidung zwischen mindestens zwei Kandidaten durchzuführen. Weiterhin spricht heutzutage alle Welt von Evaluation, so daß es sich anbietet, die Amtsführung der Parteieliten halbjährlich der demoskopischen Rückkopplung und Bewertung durch die Mitgliedschaft auszusetzen. Außerparteilich ließe sich der Kartellbildung und Verselbständigung der politischen Klasse durch ein weiteres Bündel von Gegengiften Einhalt gebieten. Zu denken wäre in Analogie zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung von 1958 an eine unabhängige Kartellbehörde und Monopolkommission aus Sachverständigen, die jährlich über die politische Kartellentwicklung der Parteien öffentlich Bericht erstattet. Die staatliche Parteienfinanzierung muß dabei insgesamt auf den Prüfstand und von den schlimmsten Wettbewerbsverzerrungen schnellstmöglichst gereinigt werden. Auch sollten rechtsbrecherische Verstöße gegen die Parteienfinanzierung endlich kriminalisiert werden. Ergänzen ließen sich diese Wächter- und Kontrollinstitutionen durch ein weiteres halböffentliches Boardsystem von von Arnim, Fetter Bauch ... , a. a.O., S. 382f. Siehe hierzu Claus Offe, Wider scheinradikale Gesten, in: Hofmann/Perger (Hrsg.), a. a. 0 ., S. 131. 77

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unabhängigen Persönlichkeiten, die im Bedarfsfall gegen Kartellbildungen öffentlich Front machen. Auch eine hochrangige Ethikkommission könnte gegen die mißbräuchliche Ausnutzung von Politikermacht heilsam sein. Sie hätte nicht nur bislang fehlende ethische Standards des Politikerverhaltens zu erarbeiten, sondern Angehörige der politischen Klasse hätten sich vor ihr zu erklären und zu rechtfertigen, wenn sie gegen die professionellen Berufsstandards verstoßen sollten. Warum läßt sich nicht überdies ein Netz von über das ganze Land verstreuten bürgerschaftlieh-ehrenamtlichen .,Audit Committees" einrichten, die vor Ort und nah am Puls des politischen Geschehens .,Watchwaker"Aufgaben übernehmen und bei Kartellverstößen schon auf örtlicher und kleinräumiger Ebene Alarm schlagen könnten. Schließlich sollten auch die exklusiven Globalzuschüsse an die Stiftungen der etablierten Parteien auf eine unabhängige und allgemein zugängliche Akademie oder Hochschule für Politik umgelenkt werden, die Teilnahmezertifikate an Einsteiger in den Politikberuf vergibt. Nicht zuletzt könnten sich die Jungpolitiker auf diese Weise gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern hervortun, indem sie, wie bei anderen Berufen auch, elementare Qualifikationsanforderungen nachweisen. Um überdies die Konkurrenz zwischen den Berufspolitikerparteien zu beleben, sollte zumindest auf Länderebene die diskriminierende Fünf-Prozent-Klausel gesenkt werden. Und last not least müßten aus Gleichbehandlungsgründen jene Wähler mit einer Reservestimme ausgestattet werden, deren Stimme unter Umständen durch die Wirkung der Sperrklausel verlorengeht oder, schlimmer noch, den etablierten Parteien bei der Mandatsverteilung zufällt. Wie sich bei diesen wenigen Hinweisen zeigt, sind der Phantasie für institutionelle Gegengifte zur Überwachung, Kontrolle und Begrenzung der Auswüchse modernen Berufspolitikerturns keine Grenzen gesetzt. Nur beginnen die Probleme erst, wenn sie gegen die politische Klasse praktisch durchgesetzt und wirksam werden sollen. Hieran zu arbeiten lohnt sich gleichwohl, ohne der Parteiendemokratie als Ganzes dabei gleich an den Kragen gehen zu wollen.

Kritische Fragen zum Föderalismus Von Hans-Horst Giesing

I. Kritische Fragen zum Föderalismus

Diese "Fragen" sollen nicht den Föderalismus in Frage stellen, sondern helfen, Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu beseitigen und zu den Wurzeln des Föderalismus zurückzuführen. Wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit können diese "Fragen" natürlich nur "holzschnittartig" vorgetragen werden. -

Reformstau Blockade im Bundesrat Wiederbelebung des Föderalismus Mehr Kompetenzen der Länder neue Zuordnung der Steuern Wettbewerbsföderalismus Das sind nur einige Schlagworte.

Aber je mehr man sich mit diesen Fragen beschäftigt, desto mehr merkt man, daß dieser Bereich Thema für eine eigene Tagung ist. Es kann hier auch nicht der Ort sein, eine Übersicht über die Strukturmängel und Strukturdefizite unserer Gesellschaft zu geben. Es kann dies auch keine abschließende Analyse sein, auch keine wissenschaftlich vertiefte Ausarbeitung oder generelle Würdigung. Es können nur aus der Sicht eines absolut Unabhängigen eine Reihe von Fragen sein, die zum Innehalten und Nachdenken anregen sollen, um dann zu wirklichen Reformvorschlägen zu kommen. Oberstes Ziel sollte dabei das Streben nach Klarheit und Einfachheit der Strukturen sein. Eine der Ursachen unserer Schwierigkeiten sind die Strukturmängel, die sich aus der sog. "Institutionen-Verflechtung" ergeben und die zu einer Unübersichtlichkeit der Verantwortlichkeiten führen.

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Schlichter und überspitzt gesagt: Zu viele Institutionen, zu viele Personen und Gruppen, zu viele Organisationen mischen mit. Alle beraten und entscheiden über alles. Dies ist kein Ausdruck von "Checks and Balances", sondern droht zu einer zur allmählichen Erstickung führenden Strangulation der öffentlichen Einrichtungen unseres Landes zu werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Entwicklung unseres föderativen Aufbaus kritisch zu betrachten. 50 Jahre Herrenchiemsee konnten wir vor einigen Wochen feiern. 50 Jahre sind seit den Beratungen des Parlamentarischen Rates vergangen, die zur Schaffung des Grundgesetzes führten. Der Horizont, unter dem diese Beratungen, die zu unserem föderalen Fundament führten, standen, war der Horizont und die Hoffnung einer sich bildenden Staatlichkeil unter der Aufsicht und der Kontrolle der Besatzungsmächte, eng von den Grenzen eines verkleinerten Deutschlands bestimmt, und allenfalls mit dem Hoffnungsschimmer auf ein wie auch immer zu entwickelndes Europa versehen. Es war wohl ein Glücksfall, daß sich hier unmittelbar nach dem Zusammenbruch und dem gleichzeitigen Untergang Preußens eine stark von Süddeutschland (besonders Bayern) beeinflußte Vorstellung einer ausgeprägten kräftigen föderalen Komponente in der Verfassung verwirklichen konnte. Im übrigen war diese föderale Struktur keineswegs eine Erfindung von 1948/49. Die Reichsverfassung von 1871 war mehr noch als die Weimarer Verfassung von 1919 durchaus von stark föderalen Elementen besetzt. Allerdings beruhte diese Struktur weniger auf demokratischen Ideen und Vorstellungen eines föderalen Staates als vielmehr auf der historischen Entwicklung und Entstehung aus einer großen Zahl kleiner und mittlerer Staaten und ihrer Dynastien. 1848 und schwarz-rot-gold - "das ganze Deutschland soll es sein!" beruhte nicht auf einer Hervorhebung des föderalen Gedankens, sondern war- dem Strom des 19. Jahrhundert folgend- national bestimmt.

li. Europa - fangen wir oben an Frage: Wie soll sich der Deutsche Föderalismus in das Gefüge der Europäischen Union einordnen? Was soll die Eigenstaatlichkeil der Länder hier bedeuten? Natürlich möchten die "Regionen" mancher großen Nachbarländer (Italien, Frankreich, Spanien) so etwas ähnliches sein wie die deutschen Bundesländer. Wenn die Staaten der EU so etwas wie zukünftige Konkurrenten

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eines Gebildes der Einheit in Vielfalt sein sollen, kann dieser Gedanke nicht durch einen weiteren Auflösungsmechanismus potenziert werden. Es muß schon ein Leitgedanke sein, bei aller Vielfalt nicht die Überschaubarkeit und Klarheit einer europäischen Ordnung zu verlieren. Wenn im Grundgesetz der alte Artikel 23 (Offenhalten des Beitritts für die jetzigen neuen Bundesländer) nach der Wiedervereinigung durch einen neuen Artikel 23 ersetzt wurde, der die Mitwirkung der deutschen Bundesländer an Buropaangelegenheiten sichern soll, so ist dies sicherlich ein gutgemeinter Versuch, die Vielfalt der Bundesländer in die Vielfalt der europäischen Mitgliedsstaaten zu übertragen. Auch der jetzige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Papier, hat dies 1994 in einer Studie als problematisch bezeichnet. Praktisch ist dieser Artikel 23 nun jedoch schon rein technisch undurchführbar, und ist allenfalls ein verbrämter Vorwand für die üppigen Büros der deutschen Bundesländer in Brüssel, deren finanzieller Aufwand besser für die Erhaltung der Goethe-Insitute gedient hätte. (Soweit diese Büros sich um Teilhabe an Subventionen bemühen, zeigt dies eher, wie sich die europäische Katze in den Schwanz beißt. Das in den Bundesländern erwirtschaftete Steueraufkommen soll - soweit es nach Brüssel zur EU abgeflossen ist- wenigstens teilweise zurückgeholt werden). Die Probleme der EU mit ihren Wucherungen von Subventionen, Strukturfonds und anderen Fonds sind mit föderaler Mitbestimmung nicht zu lösen. Man denke nur an den gegenwärtigen "Bananenkrieg" zwischen den USA und der EU. Trotz der hohen Strafzölle gegen die aus Südamerika stammenden US-Bananen müssen die kleinen "Bananen"-lnseln in der Karibik, Guadeloupe und Martinique (Franz. Antillen) mit insgesamt 7 Milliarden FF jährlich von Frankreich und der EU subventioniert werden. Hier wird mit Artikel 23 (neu) GG eine Illusionsmalerei betrieben! Der allgemeine Trend in der Europäischen Union wird mehr in Richtung einer Gliederung in Regionen mit starker Verwaltung und ausgeprägter kultureller Eigenart gehen. 111. Verflechtung und Vernetzung

Bei der Föderalismuskritik (des heutigen Zustandes) spielt die Vermengung der Aufgaben und deren Finanzierung durch die sog. "Große Finanzreform" von 1969 eine große Rolle. Besonders durch die Einführung der Gemeinschaftsaufgaben und die weitreichende Mischfinanzierung wurden insbesondere die Verantwortungen von Bund und Ländern so vermengt, daß von einem echten Föderalismus, so wie er bei Schaffung des Grundgesetzes

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allen vorschwebte, nicht mehr die Rede sein kann .. Die gegenseitige Knebelung und Verstrickung nimmt ständig zu. Die Politikfelder haben sich zu einem allgemeinen Gemenge vermischt, klare Verantwortung ist für viele Aufgaben nicht mehr erkennbar. Typischen Ausdruck findet dies darin, daß bei Pannen und Problemen - je nach parteipolitischer Frontlage - die Verantwortung der jeweils anderen Ebene (Bund/Länder) zugeschoben wird. Hier hilft nur die vollständige Entflechtung der Aufgaben und Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben. Diese würde auch tu einer großen Entlastung bei den Personalkosten (die jetzt insoweit nicht sichtbar werden) führen. Zugunsten der Finanzreform von 1969 muß allerdings vermerkt werden, daß ihre Schöpfer vor allen Dingen auch den Wildwuchs von Aufgaben und Finanzierungen, der sich in den Nachkriegsjahren entwickelt hatte, beseitigen wollten. Dies ist heute aber nur ein historischer Grund. Hier darf ich auf die Darstellung in der gemeinsamen Denkschrift der Bertelsmann-Stiftung und der Ludwig-Erhard-Stiftung "Reformkommission Soziale Marktwirtschaft" vom Juli 1998 verweisen. Weitere "Vernetzungen" mit anderen Formationen finden sich auf vielen Gebieten - etwa öffentliche Rundfunkanstalten (ARD) oder Landesbanken (WestLB, NordLB etc.). IV. Bundesrat

Einer der Kritikpunkte richtet sich gegen die Tätigkeit des Bundesrates (Blockadepolitik), besonders deutlich zu erkennen bei der versuchten Steuerreform im vorigen Jahr. Allerdings haben sich der Bundesrat und seine (Mitglieder)Blöcke wegentwickelt von der Vertretung der Interessen einzelner oder aller Länder hin zu einer politischen Parallelplattform neben dem Bundestag, auf der die politischen Parteien - anders gemischt durch die Zusammensetzung der Landesregierungen -auftreten und "mitsingen". Dies wird auch gefördert durch die starke Zunahme der zustimmungspflichtigen Gesetze, die allerdings ausgelöst wird durch entsprechende oder durch unklare Zuweisungen. Bundesratsdirektor Bernd Oschatz hat kürzlich in einem Vortrag eindrucksvoll dargelegt, wie üppig die Tendenz der Umgehung dieser Zustimmungspflicht ins Kraut geschossen ist, und welche Verwaltungskraft dafür aufgewandt wird. Man ist geneigt, diese Blockadepolitik (es waren ja nicht nur die Länderfinanzinteressen) heute einer Partei mit ihrer Mehrheit im Bundesrat anzulasten. Es sei allerdings daran erinnert, daß diese parteipolitische "Rolle" des

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Bundesrates schon in den 70er Jahren bei umgekehrten Mehrheiten ihren Anfang genommen hat. Es gibt diesen köstlichen Wortwechsel im Bundestag im November 1975 zwischen Bundestagspräsidentin Renger und dem damaligen RheinlandPfalzischen Ministerpräsidenten Dr. Kohl, der zugleich Vorsitzender der CDU war. Heute ist das Erscheinungsbild im Bund.estag an Kampftagen ja so, daß die Ministerpräsidenten der liinder in der Phalanx ihrer jeweiligen Partei als Redner auftreten und am "Kampf' teilnehmen. Wir haben uns an diese durch das Fernsehen wirksamen Bilder bei den Sendungen aus dem Bundestag schon so gewöhnt, daß uns die Rölle der Auftretenden nicht bewußt wird. In der anschließenden Beratung i'm Bundesrat wird dieser Parteienkampf dann noch einmal wiederholt. Ein Stein des Anstoßes ist der Vermittlungsausschuß und sein Wirken. Die Grundidee ist sicherlich gut. Inzwischen hat sich der Vermittlungsausschuß aber zu einem Geheimkabinett entwickelt, für dessen Beschlüsse und Vorschläge es weder öffentliche Protokolle noch Materialien gibt. Dies hat - abgesehen von der mangelnden Öffentlichkeit - oft groteske Auswirkungen bei der Auslegung der Gesetze und der Frage nach dem gesetzgebensehen Willen. Besonders bei komplizierten Steuergesetzen ist dies außerordentlich mißlich. Für die Frage einer verfassungsrechtlichen Umgestaltung des Bundesrates gibt es eine Reihe interessanter Vorschläge, die aber nur unter Berücksichtigung der "Ewigkeitsklausel" des Art. 79 Abs. III Grundgesetz (grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung) betrachtet werden können - z. B. Wahl der Mitglieder durch die Landtage bis hin zum auch neuerdings wieder von Wilhelm Hennis befürworteten SenatsmodelL Dies würde aber eines der Themen für eine besondere "Föderalismustagung" sein. V. Was ist heute die Substanz der Landespolitik

Die Landtagswahlen sind weitgehend degeneriert zu drei Funktionen: - Amtliches Umfrageergebnis für die Stärke der politischen Parteien und Strömungen - Wahl eines Regierungschefs und Bildung einer Landesregierung sowie Besetzung des Bundesrats - Personalschub - besonders in den Landesministerien bis hin zur Anstellung nicht gewählter Landtagskandidaten als Referenten in den Ministerien.

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Die Landtagswahlen tendieren immer mehr zu einer indirekten Wahl der Regierungschefs. Dies zeigten schon die Wahlen 1994 in Brandenburg und Sachsen - Stolpe und Eiedenkopf -, aber noch mehr die Wahlen dieses Jahres in Niedersachsen und Bayern- Sehröder und Stoiber. Von einer bedeutsamen Landesgesetzgebung als dem Kern eigener Staatlichkeit kann nicht mehr die Rede sein. Landesgesetze betreffen im wesentlichen Randgebiete oder die Ausführung von Bundesgesetzen, vielleicht noch Fragen der Landesorganisation oder der Kommunalverfassung. Beispiel: 8. Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 15. Juli 1998 (also 4lf2 Monate nach der Landtagswahl am 1. März 1998). Wer erwartet hatte, daß zu Beginn der Wahlperiode hier ein Paket von Gesetzesvorlagen einer frischen Regierung mit absoluter Mehrheit einer einzigen Regierungspartei hinter sich, vorgelegt würde, sah sich enttäuscht. Tagesordnung siehe Anlage*. Zwei winzige Gesetze, eins davon die Diätenerhöhung betreffend, im übrigen zwei Dutzend Anträge zu sogenannten "Landtagsentschließungen", die - selbst wenn sie angenommen werden lediglich Empfehlungen an die Landesregierung darstellen, die diese nicht binden. Eigentlich nicht bedeutungsvoll genug für 160 "Full Time" jobbende Abgeordnete. VI. Die Rolle der Parteien im fcideralen Gefüge Ein Teil der Vernetzung des "Systems" ist der starke Ausbau der politischen Parteien. In Verfolg einer schon früh einsetzenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - geprägt von Verfassungsrichter Leibholz ist das Gewicht, der Einfluß und die Allgegenwärtigkeil der politischen Parteien in den letzten 50 Jahren ständig gewachsen. Hierbei spielt personell und finanziell die Landesebene eine erhebliche Rolle, die gewissermaßen den Aufbau und Ausbau der Parteien von unten nach oben in einem Maße verfestigt, das es in anderen föderal verfaßten Staaten - man denke an die USA oder die Schweiz - nicht gibt. Schwächer werdende Programme stehen einem ständig verstärkten Einfluß gegenüber. Das Problem wird von vielen Seiten beleuchtet. Hier soll nur auf die mit der Länderebene verknüpfte Einfluß-Bastion hingewiesen werden, ohne die Notwendigkeit der Parteien in Frage zu stellen. Die "Durchschaltung" der Parteien durch alle Ebenen (Europa - Bund Länder - Kommunen) ist ein besonderes Kennzeichen der Struktur in

* Hier nicht beigefügt.

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Deutschland. Der amerikanische Journalist Jordan äußerte vor kurzem, er kenne kein demokratisches Land der Welt, in dem der Einfluß der Parteien bis in den letzten Winkel des Personalgefüges so groß sei wie in Deutschland. Allerdings hat dieses "Mehr" an Parteienstaat nun keineswegs zu mehr Kreativität oder Ideen geführt, sondern vor allen Dingen ein riesiges Patronagepotential für die Parteien aufgebaut, das die Parteien nährt und zusammenhält. Man ist versucht, den Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes ("Die Parteien wirken an der Willensbildung des Volkes mit") heute beinahe umgekehrt zu lesen: Das Volk wirkt bei der politischen Willensbildung der Parteien mit. Diese gewissermaßen vertikale Mediatisierung des Volkes durch die Parteien scheint sich aber jetzt zu verschieben: Bei der jetzt stattgefundenen Bundestagswahl stellten Beobachter fest, daß durch den Medien- und Kornmunikationsmarkt eine Entwicklung hin zu einem Kommunikationsdreieck Medien - Wählervolk - Parteien und - noch mehr - weg von Parteiprogrammen hin zu Personen stattfindet.

VII. Die Verteilung von Gesetzgebungszuständigkeit Das Grundgesetz ging von einer durch die spätere Entwicklung verstärkten Aufteilung der Macht aus - Gesetzgebung schwerpunktmäßig bei Bund Verwaltung bei den Ländern, auch wenn die Agenda der Artikel 70 ff. GG den Eindruck erweckt, daß die Gesetzgebungskompetenz des Bundes nur eine enumerative sei. In den letzten Jahren sind nun wiederholt Anstrengungen unternommen worden, die immer stärker werdende Zunahme der Bundesgesetzgebung zugunsten einer stärkeren Wiedergewinnung der Landesgesetzgebung zurückzudrängen (vgl. dazu die Vorschläge der deutschen Landtagspräsidenten anläßlich der Beratungen der Verfassungskommission 1992 - neuerlich Entwurf mehrerer Länder im Bundesrat [vom Baugesetzbuch bis zum Krankenhausfinanzierungsgesetz]). Besonders die sehr präzisen und sorgfaltig begründeten Vorschläge der Konferenz der deutschen Landtagspräsidenten vom Ende 1991 (Drucksache 12/2797 des Nds. Landtages) sind nur sehr begrenzt berücksichtigt worden. So ehrenwert und begründet diese Tendenzen sind, großen praktischen Erfolg kann man diesen Bemühungen, die auch in Fachartikeln immer wieder unterstützt werden, kaum prophezeien. 6 Speyer 133

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Das hat viele Ursachen, die zu behandeln hi~ nicht möglich ist, wie etwa der verständlichen Neigung der Ministerialbürokratie der Länder, lieber als Beteiligte im Bundesrat mitzuwirken als sich mit einem selbstgestrickten Gesetzentwurf der Diskussion in den Ausschüssen eines Landtages zu stellen. Es liegt vor allem aber an dem allmächtigen Trend zur Herstellung "gleichwertiger Lebensverhältnisse" (Art. 72 Abs. 2 GG als ausdrücklicher Maßstab für konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit, und Art. 106 Abs. 3 Nr. 2 GG "Einheitlichkeit der Lebeii.sverhältnisse"). In einer Zeit, in der auch die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in der Europäischen Union gefordert (und - soweit es sich um Strukturmaßnahmen handelt - auch gefördert wird), ist eine Umkehr dieses Trends, so wünschenswert dies sein mag, kaum denkbar. Hier wurde eine Schleuse geöffnet, die wohl nicht mehr geschlossen werden kann. Neben diesem Drang zu gleichwertigen Lebensverhältnissen, ist dies trotz der Verschärfung der Bedürfnisklausel für die konkurrierende Gesetzgebung in Artikel 72 Abs. 2 GG eben auch eine Frage der Mentalität. Wie die Reformkommission der Bertelsmann-Stiftung feststellt, "heißt Föderalismus nach heutigem Verständnis eben nicht Regieren in Düsseldorf oder Stuttgart, sondern mitbestimmen in Bonn oder Brüssel". Dem kommt die Mentalität vieler Landtagsabgeordneter entgegen, die - gewöhnt durch ihre Tätigkeit in Kommunalvertretungen - eben lieber über Finanzen und Personalfragen beraten und entscheiden als über gesetzgebensehe Fragen. Aber selbst auf Gebieten, die auch heute noch zur originären Landeszuständigeil gehören (Beispiel: Hochschulzulassung, Rundfunkwesen und neuerdings die Rechtschreibung [Schleswig-Holstein]), sind die Sehnsucht und die Zwänge zur Einheitlichkeit eben übermächtig. VIII. Neugliederung der Länder Dies ist immer wieder Punkt 1 aller Reformvorschläge. Reforrnidee: Neue größer geschnittene Länder. Hieran hat sich schon Weimar die Zähne ausgebissen, obwohl bei dem damaligen Übergewicht Preußens und der großen Zahl sehr kleiner Länder das Bedürfnis für eine Neugliederung seinerzeit viel brennender war. Demgegenüber ist die Gliederung der Bundesländer heute wesentlich ausgewogener. Angesichts der verfassungsrechtlichen Hürden (Art. 29 GG) und der trotz der Sondervorschrift des Artikels 118a gescheiterten Zusammenführung von Berlin und Brandenburg stellt sich die Frage, ob es viel Sinn macht, dieses Ziel weiter zu verfolgen.

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Aufgrund der wirtschaftsgeographischen Lage würde ein neben NRW bestehender Nordstaat - wie auch immer gegliedert - und eine Zusammenfassung von Ländern im mittleren Deutschland das finanzstarke Gewicht der Südländer Bayern und Baden-Württemberg nicht aufwiegen. Das frühere Schwergewicht Preußens von Aachen bis Königsberg und Oberschlesien stellte ja durch die Verbindung von Rhein-Ruhr über Berlin bis Oberschlesien einen in jeder Hinsicht mächtigen Überbau dar, den wiederzugewinnen weder möglich noch wünschenswert ist. Es ist auch fraglich, ob ein aus wenigen sehr großen Ländern bestehender Bundesstaat - auch wegen der dann denkbaren "Machtkärnpfe" - ausgewogener ist als der jetzige. Bremen war eben in seiner jetzigen Form ein Produkt der Nachkriegsgeschichte (die Amerikaner wollten einen ihrer Hoheit unterstehenden Hafen haben) ebenso wie das Saarland, dessen eigenständige Rückkehr in das Bundesgebiet, hart erkämpft, eine Selbstverständlichkeit war. IX. Die Aufgaben der Landesparlamente

Was wird für die Landtage bleiben? "Kleingesetzgebung" natürlich, vor allem aber die Kontrolle der Landesverwaltung, über deren stärkere Ausgestaltung auch in Verbindung mit den Rechnungshöfen nachzudenken sein wird. Die Gestaltung des Landeshaushalts (der nicht "nachgekaut" zu werden braucht) und Petitionen. Die Kontrolle wird um so leichter, als sie nicht mehr mit dem (parteipolitischen) Schicksal der Regierung verknüpft sein sollte, wie noch darzulegen ist. Die Möglichkeit gesetzgebenscher Eingriffe bei wirkungsloser Ermahnung besteht. Hierfür braucht man dann aber keinen Vollzeit-Parlamentarier auf Landesebene. Vielmehr sollte man darüber nachdenken, den ehrenamtlichen Landtagsabgeordneten, der - von einer Kerngruppe abgesehen - vielleicht (höchstens) eine Woche im Monat seine Arbeitskraft dem Parlament widmet, wiederzugewinnen. Man denke dabei auch an die Mitglieder kommunaler Vertretungen, die - besonders in den großen Städten - eine oft viel größere Verantwortung tragen. Es ist ja die Entwicklung der Bundesrepublik geradezu grotesk. Nachdem in den 50er und 60er Jahren die Landtage eine Fülle gesetzgeberischer Aufgaben vorn Wassergesetz bis zur Gemeindeordnung zu erfüllen hatten und die Abgeordneten damals mit einer zwar steuerfreien (aber sehr niedrigen) Aufwandsentschädigung abgespeist wurden, wurden die Abgeordnetenrnan-

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date 1975 (ausgerechnet am Fall des Saar1andes vom Bundesverfassungsgericht entschieden) durch das sog. "Diätenurtei1" zu Full Time Jobs (so wörtlich) mit der Folge einer mehr oder weniger lebenslangen Alimentation "erhöht". Fast zum gleichen Zeitpunkt sagte mir ein führender Landespolitiker, er glaube, daß die "letzte große Aufgabe der Landtage" wohl die sog. Gebietsreform sein würde, und sich danach die Tätigkeit auf die Ebene eines "höheren Kommunalverbandes" hin bewegen würde. Dies ist sicher überspitzt. Immer wird und muß es Landespolitik und Landesparlamente für diesen überschaubaren Bereich geben. Es ist nur die Frage, wie diese Aufgabe konzentrierter und effizienter wahrgenommen werden kann. Die Wiedergewinnung des ehrenamtlichen Abgeordneten hätte auch den Vorteil, daß die Zahl die Abgeordneten in den Landtagen beibehalten werden könnte und die jetzigen Bemühungen zu Verkleinerungen vernachlässigt werden könnten. Wegen der Alimentation müßte allerdings ein angemessener Übergang gefunden werden, der aber eigentlich im Hinblick auf den allgemein notwendigen Umbau der Altersversorgungssysteme nicht allzu schwer fallen dürfte. Die in mehreren Ländern betriebene unsinnige Verlängerung der W ahlperioden wäre nicht mehr nötig. Im Gegenteil könnte überlegt werden, alle Landtage zu einem Termin zu wählen (früher mit Recht abgelehnt wegen der "landespolitischen Besonderheiten", die es ja in diesem Sinne kaum noch gibt). Dadurch würden die "Dauerwahlkämpfe", die heute vor allem für die Medien interessant sind, abgestellt. X. Direktwahl der Ministerpräsidenten (Regierungschefs) Wenn schon die Landtagswahlen 1994 gezeigt haben, daß es schwer ist, landespolitische Themen zur Wahl zu stellen und allenfalls die Person des (indirekt) zu wählenden Ministerpräsidenten (Stolpe, Biedenkopf, Sehröder aber auch Stoiber, obwohl - Bayern anders ist) im Mittelpunkt des Wahlkampfes steht, so muß die Frage erlaubt sein, ob es nicht ehrlicher wäre, die Ministerpräsidenten (Regierungschefs) direkt vom Volke zu wählen (etwa gleichzeitig oder "versetzt" zur Landtagswahl). Dies hätte sicher viele Vorteile. Das Volk wäre direkt an einer wichtigen Entscheidung beteiligt. Das Koalitionsgekungele nach der Wahl entfiele. Der Einfluß der Parteien wäre auf eine sachliche Arbeit zurückgedrängt. Das Gegenüber Regierung und Regierungsparteien/Oppositionsparteien entfiele. Das Verhalten der Parteien als Fraktionen wäre unverkrampfter und sachlicher, da sie nicht nur um das "Gesicht" zu wahren, für oder gegen

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etwas sein müßten, was die Regierung sagt und tut. Es entfiele übrigens auch der mit der Fünf-Prozent-Klausel beabsichtigte Zwang, eine "regierungsfahige Mehrheit" herbeizuführen. Das Parlament stünde echt der Regierung gegenüber. Das ganze "Koalitionsgehabe" der Parteien, das jetzt schon bedenklich auf die Kommunen abgefärbt hat, entfiele. Den Parteien würde die Möglichkeit gegeben, sich statt dauernde Personaldiskussionen zu führen, Fragen der "echten" Landespolitik zuzuwenden. Es bestünde auch eine erhöhte Chance, der in den letzten Jahrzehnten unerträglich fortgeschrittenen "Parteipolitisierung" des öffentlichen Dienstes Einhalt zu gebieten, da diese in den Ländern sehr stark durch die "Regierungsbildungen" gefördert worden ist. Wohlgemerkt, dies alles würde nur für die Landesebene gelten.

XI. Ressortprinzip auf Landesebene Schon 1989 (vor der Wende) hatte Werner Thieme zum damaligen 40jährigen Jubiläum des Grundgesetzes in einem Aufsatz die Frage aufgeworfen, ob es wirklich möglich sei, in damals 11 Ländern ständig 22 Regierungsmannschaften (11 Regierungs- und 11 Oppositionsmannschaften für den Fall des Wechsels) zur Verfügung zu haben. Diese Frage stellt sich heue bei 16 Ländern noch verstärkt. 150 bis 160 Ressortminister regieren nicht, sondern verwalten im Grunde genommen, dies mit eigener Personalund Haushaltswirtschaft (z. B. Art. 37 Abs. 1 Nds. Verfassung: "Jeder Minister leitet im Rahmen der Richtlinien des Ministerpräsidenten seinen Geschäftsbereich selbständig unter eigener Verantwortung"). Einem Bericht der Nds. Landesregierung war zu entnehmen, daß rund 1000 föderale Abstimmungskommissionen, Ausschüsse und Arbeitskreise existieren. Es ist m. E. an der Zeit, die Abschaffung dieses Ressortprinzips für die Landesebene zu überlegen. Es sei an das harte Wort von Peter Lercher erinnert: "Der deutsche Bundesstaat von heute ist zu einem solchen der reisenden und sich treffenden Ministerialbürokratie geworden." In den Verfassungen der neuen Bundesländer ist dieses Ressortprinzip natürlich - unter Einfluß westlicher Politiker und Berater - einfach ungeprüft übernommen worden, was von vornherein zu einer ungeheuren und unnützen Aufblähung der Landesverwaltungen in diesen doch recht kleinen Ländern führte: Ja, die Ressorts wurden durch Mängel des sog. Ländereinführungsgesetzes der DDR vom Juni 1990 sogar vor den Verfassungen, nämlich nach den Landtagswahlen am 14.10. 1990, einfach geschaffen. Die Erfahrungen in den neuen Ländern zeigten, daß dieses überzogene "Res-

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sortprinzip" gerade beim Aufbau eine permanente Quelle von Reibungen, Verzögerungen und Streitigkeiten ist. Im Zusammenhang mit der Einführung einer Direktwahl der Ministerpräsidenten ließe sich der Wegfall der Landesministerien mit einem einfachen und sparsamen organisatorischen Aufbau der Landesregierungen verbinden. An die Stelle der Landesminister würden einfache Landesämter für die jeweiligen Aufgaben treten. An die Spitze der Landesämter könnten politische Beamte im rechtlichen Sinne stehen, die des Vertrauens des Ministerpräsidenten, von diesem ernannt, bedürften. Auf diese Weise würde eine ganze kostenaufwendige Ebene der Landesminister mit den dazugehörigen Stäben vom Landtagsreferat bis zum persönlichen Referenten eingespart werden. Zu Leitern der Landesämter sollten erfahrene Spitzenbeamte, aber durchaus auch befähigte Politiker ernannt werden. Groteskerweise hat das Ressortprinzip bei Koalitionsregierungen auf Landesebene dazu geführt, daß es in manchen Ländern praktisch "zwei Regierungsmeinungen" gab (z.B. NRW: Garzweiler Wirtschaftsministert Umweltminister; Schleswig-Holstein A20). In diesen wie auch in vielen anderen Fällen werden vom Ressort oft nicht Landesinteressen, sondern Parteiinteressen vertreten. (Was ja sogar schon bei den Ressortwünschen in den Koalitionsverhandlungen zum Ausdruck kommt.) Weitere politische Beamte im rechtlichen Sinne (Staatssekretäre etc.) wären dann nicht notwendig. Dies würde zu einer erheblichen Vereinfachung und Kosteneinsparung auf der Länderebene führen, zumal gerade im Ministerialbereich der Personal- und Kostenanstieg überproportional war. Das Geld fehlte für Lehrer und Polizisten. Um dem Wortlaut des Artikels 51 Abs. 1 GG ("Der Bundesrat besteht aus Mitgliedern der Regierungen der Länder") formal Rechnung zu tragen, könnte man die Leiter der Landesämter als Regierungsmitglieder bezeichnen, deren Schicksal mit dem des (vom Volk gewählten) Regierungschefs verknüpft sein sollte. Diese Überlegungen gelten natürlich nur für die Landesebene. An der Beibehaltung des parlamentarischen Regierungssystems im Bund sollte kein Zweifel bestehen.

XII. Die foderalen Finanzen Ausgelöst durch die Diskussion um den horizontalen Finanzausgleich der Länder und den Antrag der Länder Baden-Württemberg und Bayern beim Bundesverfassungsgericht ist die Frage der Steuerverteilung auf Bund und Länder zu einem Angelpunkt der Föderalismusdebatte geworden. Wie

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schon oben dargelegt, ist aus der ursprünglichen klaren Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten und des Aufkommens der Steuern im Verlauf der Jahre ein Verteilungsmischmasch von Gesetzgebungszuständigkeiten und Aufkommenszuteilung geworden, der zusammen mit der durch die Finanzreform von 1969 eingeführten Mischfinanzierung zu einem bunten Durcheinander der Finanzverantwortung geführt hat. Das Zauberwort heißt auch hier "Wettbewerbsföderalismus". So notwendig auch hier eine Entflechtung der Aufgaben und Zuständigkeiten und eine Trennung des Aufkommens ist, so wenig darf man hierin allein eine Lösung sehen. Auch die von der Bertelsmann-Stiftung gemeinsam mit der LudwigErhardt-Stiftung eingesetzte Kommission "Reform der Finanzveifassung" empfiehlt - ähnlich wie die Länder Baden-Württemberg und Bayern - eine Trennung der großen Steuern sowohl hinsichtlich der Gesetzgebungszuständigkeit als auch des Aufkommens (ähnlich auch der Bundesfinanzminister): Umsatzsteuer zum Bund, Einkommen- und Körperschaftsteuer zu den Ländern, um so die Finanzverantwortung der Länder zu stärken. Als Alternative wird von der Kommission der Bertelsmann-Stiftung vorgeschlagen, die Gesetzgebungszuständigkeiten für die großen Steuern ganz beim Bund zu belassen und den Ländern lediglich ein Recht zu geben, Zuschläge zur Einkommen- und Körperschaftsteuer zu erheben. Dies hätte den Vorteil einer einheitlichen Bemessungsgrundlage. Hinter diesen Vorschlägen steht der Gedanke, die Finanzverantwortung der Länder im Sinne des genannten Wettbewerbsföderalismus zu stärken. Dies führt aber zu einem Aufschrei der ärmeren Länder, besonders im Norden und Osten der Bundesrepublik, die sich - vorsichtig ausgedrückt - dadurch in eine äußerst nachteilige Ausgangssituation versetzt fühlen würden. In der Tat gehört wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie sich eine solche Reform auswirken würde. Die Länder mit niedrigerem Steueraufkommen stünden vor der Frage, die Einkommen- und Körperschaftsteuer zu erhöhen bzw. Zuschläge zu erheben. Die Standortnachteile würden dadurch noch größer werden, die Ungleichheiten verstärkt (siehe Schweizer Kantone). Ohne einen wie auch immer gearteten Finanzausgleich wird es wohl nicht gehen, ob dieser nun horizontal zwischen den Ländern oder vertikal zwischen Bund und Ländern ausgerichtet ist, mag dahinstehen. Nur jetzt - und insofern ist die Klage von Baden-Württemberg und Bayern zu verstehen - führt der Länderfinanzausgleich, wie die genannte Bertelsmann-Kommission feststellt, dazu, daß den finanzschwachen Ländern 99,5% der durchschnittlichen Finanzkraft aller Bundesländer garantiert wird.

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Der Finanzausgleich kann immer nur so gestaltet werden, daß jedes Land dazu ermuntert werden muß, eigene Anstrengungen zu übernehmen, um möglichst nahe an die durchschnittliche Finanzkraft heranzureichen. Föderalismus heißt eben auch unterschiedliche Finanzkraft Wie weit die jetzige Regelung davon entfernt ist, zeigt auch der § 11 des Finanzausgleichsgesetzes in der seit 1993 geltenden Fassung. Nach dieser Vorschrift erhalten eine Reihe von Ländern als Sonderbedarfzuweisungen Bundesergänzungszuweisungen zu den Kosten der "politischen Führung". "Wegen deren überdurchschnittlicher Höhe." Diese betragen viele hundert Millionen DM jährlich, z.B. Berlin und Rheinland-Pfalz je 219 Mio. DM bis 153 Mio. DM (Saarland). Es ist eigentlich ein Wunder, daß der Gesetzgeber einen so unverblümten Ausdruck als Merkmal übernommen hat. Er stammt wohl aus einem Prozeß Bremens beim Bundesverfassungsgericht, in dem die besondere Belastung Bremens geltend gemacht wurde. Umgekehrt müßten sich die "Kosten der politischen Führung" - was ist das überhaupt - stets proportional nach der Größe und der Finanzkraft des jeweiligen Bundeslandes richten, wie es z. B. in den Schweizer Kantonen selbstverständlich ist. Hier einer Art von "Gleichheitssatz" unter den Ländern zu huldigen heißt, tatsächlich die Dinge auf den Kopf zu stellen. Es ist erstaunlich, daß so etwas - vielleicht weil zu wenig bekannt - hingenommen wird. Aus diesen Fragen und Anmerkungen kann m. E. nur der Schluß gezogen werden, daß der gesamte Zuschnitt des politischen Aufwandes in den Ländern bescheidener und einfacher gestaltet werden muß. - Keine Verlängerung der Wahlperiode - Entflechtung der Gesetzgebungszuständigkeiten - Trennung der Finanzverantwortung - Beseitigung der Gemeinschaftsaufgaben - Abbau der Parteipolitisierung der Länder - Direktwahl der Ministerpräsidenten und Abschaffung des Ressortprinzips auf Länderebene - Wiedergewinnung des ehrenamtlichen Landtagsabgeordneten. Der Wettbewerb unter den Ländern muß ein Wettbewerb des Sparens und nicht des Geldausgebens sein. Mit diesem Wettbewerb muß man ganz oben, also bei den Ausgaben für die "politische Führung" anfangen, denn hier sind in den letzten Jahren erhebliche unnütze Ausweitungen erfolgt. Die Verfassungen der Bundesländer sollten überprüft werden. Über die Reform des Bundesrates und das Verhältnis Bund/Länder sollte unter Berücksichtigung dieser Thesen nachgedacht werden.

Verminderung der öffentlich Bediensteten in den Parlamenten Eine wissenschaftliche Initiative* Von Fritz Vilmar "Die Wählbarkeit von Beamten kann gesetzlich beschränkt werden" Art. 137 I GG

Angehörige des öffentlichen Dienstes und vor allem Beamte sind im Bundestag (hier stellvertretend für alle Parlamente analysiert) in einer Weise überrepräsentiert, die grundlegende Prinzipien der parlamentarischen Demokratie, vor allem das Prinzip der Gewaltenteilung und der gleichen Chancen der Bürger, als Volksvertreter gewählt zu werden, infragestellen. Im folgenden fasse ich unsere Analysen des Zustandes und vor allem meine Vorschläge einer Beschränkung der Wählbarkeit der Beamten i. S. des Art. 137 I GG zusammen. I. Bedrohliche Tatbestände; verfassungsrechtliches Nichtstun

Die "Verbeamtung" der Parlamente hat ein Ausmaß angenommen, das die innere demokratische Struktur der Repräsentativen Demokratie ernsthaft infrage stellt. Die Zahl der Beamten im Bundestag ist zwischen 1949 und 1990 von knapp 20% auf fast 35% gestiegen - und die Zahl der im öffentlichen Dienst Tätigen in diesem Parlament von fast 24% auf nahezu 43%, während sie nur ca. 15% der berufstätigen Bevölkerung ausmachen 1• Fast die Hälfte unserer Abgeordneten kommt demnach mittlerweile aus Bereichen der staatlichen Exekutive, die bekanntlich durch die Legislative kontrolliert werden sollte.

* Der folgende Vortrag basiert auf meiner Studie (in Zusammenarbeit mit G. Biehler, W. Dümcke und H. D. Iske) "Gegen die Verbearntung der Parlamente", Essen 1994. 1 Vgl. die Belege für 1949 - 90 in meiner o. g. Studie, S. 13 - 17. Im 1994 gewählten Bundestag lag der Anteil der öffentlich Bediensteten nach meinen Untersuchungen bei 41 ,3 %. Eine von mir initiierte Untersuchung von Andrea Keun ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Verbearntung in den neuen Bundesländern sogar noch weiter fortgeschritten ist. Vgl. das Resümee ihrer Recherche im Anhang.

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Rentner, Arbeitslose, Auszubildende und vor allem Hausfrauen sind im Bundestag kaum vertreten; er ist ein Parlament Berufstätiger. Der Bundestag bietet aber ein Zerrbild der Sozialstruktur der Berufstätigen: Arbeiter und einfache Angestellte sind faktisch nicht vertreten, er ist ein Parlament der Vertreter gehobener (und dabei meist politischer) Berufspositionen. Überrepräsentiert sind daneben vor allem auch bestimmte Kategorien von Selbständigen und freiberuflich Tätige. Der Bundestag ist ein Parlament der Akademiker, Lehrer und Juristen und damit der überdurchschnittlich Gebildeten. Frauen sind trotz aller Bemühungen der letzten Jahre stark unterrepräsentiert. Verfassungsrechtlich am bedenklichsten aber ist die Besetzung unserer Volksvertretungen mit 40 - 50% öffentlich Bediensteten. Die in Art. 137 nahegelegte "gesetzliche Beschränkung" der "Wählbarkeit von Beamten, Angestellten des öffentlichen Dienstes ..." ist, wie die Literatur zeigt, in dem halben Jahrhundert des Bestehens der Bundesrepublik weder von den verantwortlichen politischen Akteuren noch - als ernstzunehmendes demokratie- und verfassungstheoretisches Problem - von den Politik- und Rechtswissenschaftlern in Angriff genommen worden (von wenigen Ausnahmen abgesehen). Sogar von den Vätern des Grundgesetzes ist das Problem zwar - auf alliiertes Drängen hin - aufgenommen, aber nur "am Rande", unter den "Übergangs- und Schlußbestimmungen", angesprochen worden, statt ihm, wie es notwendig gewesen wäre, im Art. 38 seinen angemessenen Platz zuzuweisen, wo die Position der Abgeordneten normiert wird. Einigkeit besteht darüber: "Art. 137 Abs. 1 GG will allgemein zur Verwirklichung und Aufrechterhaltung der Trennung zwischen Exekutive und Legislative eine Verbindung von Amt und Mandat verhindern." "Art. 137 Abs. 1 GG will die organisatorische Gewaltentrennung gegen Gefahren sichern, die durch eine Personalunion zwischen einem Exekutivamt und einem Abgeordnetenmandat entstehen können. Insbesondere sollen Verwaltungsbeamte nicht derjenigen gewählten Vertretungskörperschaft angehören, der eine Kontrolle über die Behörde obliegt." (BVerfGE 33,326)

II. Ursachen und Folgen der Verbeamtung unserer Parlamente Die Ursachen2 der Verbeamtung des Parlaments sind sowohl in alten obrigkeitsstaatliehen Traditionen zu suchen wie auch und vor allem in den "Wettbewerbsvorteilen", die Beamte in Parteien und Parlamenten aufgrund 2 Vgl. diedetaillierte -Darstellungder unmittelbaren wie der tieferliegenden Ursachen in Kap. 3 meiner Analyse, a.a.O. S. 18- 29.

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ihrer bürokratischen und sprachlichen Kompetenzen und auch aufgrund ihrer beruflichen Absicherung besitzen. Als tieferliegende Ursache ist eine gefahrliehe Tendenz zur "Hypertrophie" der Beamtenschaft in der Gesellschaft insgesamt, ein weit überdurchschnittliches Wachstum der Bürokratie zu diagnostizieren, als dessen Teilphänomen die Verbeamtung der Parlamente anzusehen ist: Zwischen 1950 und 1990 ist die Zahl der Arbeiter und Angestellten in der Bundesrepublik um 75 Prozent gestiegen, die Zahl der Beamten dagegen um 190 (!) Prozene. Das hat schwerwiegend negative Folgen4 für die Funktionsfahigkeit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Ein Beamtenparlament ist kaum in der Lage, den hypertrophen Wucherungen der Staatsbürokratie Einhalt zu gebieten; es führt, statt die Gewaltenteilung zu praktizieren, zu einer Verquickung von exekutiven und legislativen Funktionen; und es blockiert infolge einer dominierenden Überrepräsentation der öffentlich Bediensteten die demokratische Partizipation sehr vieler politisch Interessierter aus anderen Teilen der Bevölkerung. Hinzu kommt: Verschiedene Studien belegen eine Konformität, Risikoscheu und Detailfixiertheit von Beamten, die nicht dem innovativen Handlungsbedarf entspricht, der immer dringender notwendig wird für Politikerinnen und Politiker.

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49.

BMAS (Hg), Statistisches Taschenbuch 1991, Abs. 2.6. Zur detaillierten Darstellung der Folgen vgl. Kap. 4 meiner o. g. Studie, S. 30 -

5 So urteilt Häfele (1972, 105): "Die ,typischen' Beamten zeichnen sich nicht immer durch besondere Dynamik aus. Ihre oft etatistische und etwas ,umständliche' Denkweise ist nicht das, was wir in einem modernen Parlament brauchen. Die Beamtenmentalität führt häufig zu fleißiger detaillierter Gesetzgebungsarbeit, statt daß sich die Abgeordneten auf die politischen Grundentscheidungen konzentrieren und die Einzelführung der Bürokratie überlassen, die das ohnedies besser kann". (Verbeamtung des Bundestages? in: ZfParl 1172, S. 105) Und der Politologe und langjährige SPD-Abgeordnete Lohmar denkt dieses Verhaltensproblem noch weiter in Richtung einer Identifizierung statt distanzierter Kontrollposition gegenüber der Ministerialbürokratie: "Damit entsteht eine mentale Übereinstimmung zwischen der Mehrheit der aus irgendwelchen Bürokratien kommenden Abgeordneten und den Angehörigen der Staatsbürokratie. Die Mentalität von Beamten aber steht selten für originäre und kreative politische Denkkategorien. Politische Phantasie ist nicht das Metier der Administrationen. Sie sind mehr an Macht als an Ideen interessiert" (Staatsbürokratie. Das hoheitliche Gewerbe, München 1978, S. 117).

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111. Elitentheoretische Rechtfertigung einer Verbeamtung; differenzierende Kritik

In der Diskussion um die Verbeamtung von Staat und Parlamenten gibt es Versuche der elitentheoretischen Rechtfertigung. Die öffentlich Bediensteten werden idealtypisch zur Politischen Klasse stilisiert: zu den Vertretern des Allgemeinen. Diese Theorie oder - wenn man will - Ideologie stützt sich auf eine alte Tradition in der politischen Philosophie, eine politische Führungsschicht normativ zu setzen: sie zum Ideal einer weisen und stabilen Staatsordnung zu erheben, - ganz unabhängig von der gegebenen Herrschaftsform oder sogar im Widerspruch zu ihr. Schon Platon hat in seiner Staatstheorie angesichts der Zerfallserscheinungen der athenischen Demokratie und der despotischen Alternativen in seiner Zeit die Schaffung und staatliche Versorgung einer wohlausgebildeten, nicht durch wirtschaftliche Interessen oder Wählerstimmen korrumpierbaren politischen "Beamtenschaft" gefordert, die allein zur gemeinwohlorientierten Führung befähigt sei: In der Politeia versucht er seine Gesprächsteilnehmer zu überzeugen, daß es nicht angehe, jedem Handwerker spezielle Kompetenzen und Fähigkeiten abzuverlangen, "beim Aufbau unseres Gemeinwesens" aber solche besondere Ausbildung und Auslese der damit Befaßten - also der Politiker (Platon nennt sie "Wächter") für unnötig zu halten. Daher entwirft er die Utopie einer "Wächter"-Elite, die aus der Kriegerkaste auszuwählen sei nach dem Kriterium, daß der "Wächter" neben der Tapferkeit auch noch eine philosophische "Naturanlage" besitzt. D. h. "man muß also aus der Zahl der Wächter solche Männer auswählen, die sich unserem prüfenden Blick als diejenigen erweisen, die ihr ganzes Leben lang am meisten das, was ihnen als nützlich für die Polis erscheint, mit vollstem Eifer durchführen werden, das aber, was nicht nützlich ist, unter keiner Bedingung tun werden" (Platon, Politeia, 412 D) und diese philosophischen, d. h. ausschließlich auf das allgemeine Wohl orientierten "Wächter" sollen vermögenslos, einfach lebend, aber dafür vom Staat (wie Beamte !) alimentiert, "die mit vollster Sachkenntnis ausgerüsteten Hüter der Freiheit der Stadt sein und kein anderes Geschäft betreiben." Mit der frugalen Ausstattung versuchte schon Platon (vergeblich), die Gefahr zu bannen, daß die Staatsdiener den Staat als "Selbstbedienungsladen" mißbrauchen! Es kann hier nicht die Aufgabe sein, durch die Geschichte der politischen Ideen hindurch die Variationen dieser Idee weiterzuverfolgen: die politische Führung einer angeblich über den Interessenstreit hinausgehobenen politischen Klasse zu überantworten. Verwiesen sei lediglich noch auf die außerordentlich einflußreiche Staatsphilosophie Hegels, in der ebenfalls, und nun ganz explizit, die "Staatsdiener", die Beamtenschaft, als besonderer "Stand" (neben dem der Bauern und dem der Gewerbetreibenden) für die Aufgabe der Staatsverwaltung als objektiv bestimmt und anerkannt ausgezeichnet wird: "Der allgemeine, näher dem Dienst der Regierung (!) sich widmende Stand hat unmittelbar in seiner Bestimmung, das Allgemeine zum Zwecke seiner wesentlichen Tätigkeit zu haben; in dem ständischen Elemente der gesetzgebenden Gewalt kommt der Privatstand zu einer politischen Bedeutung und Wirksamkeit" (1833/1952 413, § 303). Im Gegensatz

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zu Platon bleibt Hege! realitätsnah und eröffnet, was die Versorgung der Staatsbeamten betrifft, die Alternative: "Der direkten Arbeit für die Bedürfnisse muß er .. . entweder durch Privat-Vermögen oder dadurch enthoben sein, daß er vom Staat, der seine Tätigkeit in Anspruch nimmt, schadlos gehalten wird, so daß das Privat-Interesse in seiner Arbeit für das Allgemeine seine Befriedigung findet" (283, § 205). Nur der Vollständigkeit halber sei darauf verwiesen, daß es solche Hypostasierungen einer politischen Klasse auserwählter Führer des politischen Prozesses keineswegs nur im rechten Spektrum des politischen Denkens gab. Lenins Idee der kommunistischen Parteikader als der "Avantgarde" des Proletariats, die dessen auf der Basis der marxistischen Lehre objektv richtig erkannten Interessen sogar diktatorisch durchzusetzen berufen sei, ist nichts anderes, als eine links-autoritär gewendete Utopie einer auserwählten politischen Elite. Allerdings tritt in Gestalt der totalitären Bürokratie, die im sowjetischen Machtbereich aus Lenins "Avantgarde"-Ideologie hervorgegangen ist, nur in besonders extremer Form ein Wesenszug aller ideengeschichtlich in Erinnrung zu rufenden Utopien einer idealen "Staatsklasse" in Erscheinung: die - bewußte oder ungewollte - Verwandlung der Bürokratie von Dienern in Beherrscher des Staates. Diese Tendenz hat schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu verschiedenartigen politischen Theorien der Elite geführt, die diese als unausweichlich oder gar, die Demokratie-Idee verneinend, als allein angemessene politische Führungsform darstellen: verwiesen sei hier nur auf Pareto, Mosca und Michels (dieser sprach vom "ehernen Gesetz der Oligarchie").

Selbstverständlich sind zeitgenössische Politikwissenschaftler weit davon entfernt, dergestalt offen die (höhere) Beamtenschaft als für die demokratische Staatsordnung objektiv notwendige politische Elite zu idealisieren. Aber ungewollt läuft die Argumentation, wenn sie einen hohen Beamtenanteil im Parlament zu rechtfertigen versucht, in diese Richtung. Sowohl das Gemeinwohl-Argument wie das der fachlichen Kompetenz - beiden sind wir soeben in der politschen Philosophie begegnet - kehren bei der Rechtfertigung einer privilegierten Stellung der Beamten im parlamentarischen System wieder. So heißt es bei Häfele (a. a. 0. 105): "Von Vorteil ist weiterhin, daß ein Beamter eher in Gemeinwohlkategorien denkt als jemand, der einer anderen Gruppe angehört. Von der Pike auf hat es ein Beamter gelernt, Interessengegensätze auszugleichen und im öffentlichen Interesse zu handeln. Diese Fähigkeit oder Haltung kann der parlamentarischen Arbeit nur dienlich sein . ... Aufbau und Arbeitsweise der Bürokratie sind ihm bekannt, so leicht kann sie ihm nichts vormachen. Auch bei der Ausschußarbeit kommt dem ehemaligen Beamten seine Verwaltungserfahrung zustatten". Auch Klatt6 schätzt im Gegensatz zu Lohmar, der auf die eher lähmenden Wirkungen bürokratischer Verfahrensweisen verweist (s. oben), die Nützlichkeit und Notwendigkeit des Verwaltungswissens: "Gegen diese These ist allerdings einzuwenden, daß die Organisationssoziologie schon

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seit langem das Problem der Bürokratisierung als durchgängige Erscheinung bei Großorganisationen aller Art identifiziert hat. Max Weber war es, der auf die Notwendigkeit rationaler Organisation und bürokratischer Strukturen als Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit und Effizienz moderner Verwaltungsapparate hingewiesen hat. Spezialisierung, Arbeitsteilung und bürokratische Regelung der Arbeitsabläufe stellen Kriterien dar, nach denen Wirtschaftsbetriebe, Großunternehmen, Behörden, Parteien und Industrieverbände gleichermaßen organisiert sind". Gerade diese Kriterien aber werden von der neueren Entwicklung der Industrie infragegestellt. Erfolgreiche neuere Management-Strategien (meist aus der weniger autoritären politischen Kultur der USA kommend) haben bereits vor 25 Jahren die mangelnde Funktionstüchtigkeit hierarchisch-bürokratischer Unternehmensführung entdeckt und ihnen Alternativen gegenübergestellt, wie "Management by objectives", "Management by motivation", "Management by participation" etc. 7 Ebenfalls richtet sich das "Lean-Management", eine "schlanke" Arbeitsorganisation mit vielen teilautonomen Werkgruppen und flacher Hierarchie, gegen hierarchische Management-Strukturen; auch in Deutschland finden ähnliche Ansätze zunehmend Beachtung8 . Konstruktive Kritik: Auch wenn man, die Grundidee einer privilegierten, über das Gemeinwohl wachenden politischen Klasse aus demokratietheoretischen, aber auch aus soziologischen Gründen ablehnen muß, sollte man die Wahrheitsmomente in dieser sehr alten, aber auch sehr aktuellen politischen Utopie ernsthaft bedenken und erörtern, statt das Ganze vorschnell zu verwerfen. Die Kritik der "Verbeamtung" sollte sich nicht leiten lassen von einer modischen Beamtenschelte, die bei ihrer pauschalen Bürokratiekritik gewöhnlich vergiBt, daß ohne funktionierende, im allgemeinen unbestechliche, nach Recht und Gesetz handelnde staatliche Verwaltungen eine demokratisch und sozialstaatlich organisierte Massengesellschaft nicht entwickelt werden kann. (Analytiker der Korruption und Desorganisation in der Dritten Welt, wie auch des Zerfalls der ehemaligen Sowjetunion, verweisen immer wieder darauf, daß das Fehlen einer ,,Zivilgesellschaft", zu der eben eine rechtsstaatlich funktionierende Verwaltung wesentlich hinzugehört, den Hauptgrund für die mangelnde staatliche und ökonomische Entwicklung darstellt.)

6 Hartmut Klatt, Die Verbeamtung der Parlamente. Ursachen und Folgen des Übergewichts des öffentlichen Dienstes in Bundestag und Landtagen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage z. Zeitschrift Das Parlament, B 44/1980, S. 35. 7 Vgl. u. a. Eric Rhenman, Industrial Democracy and Industrial Management, London 1968; August Sahm, Humanisierung im Führungsstil, Frankfurt 1977. 8 Vgl. Siegfried Roth, Hartmut Kohl, Gruppenarbeit, Köln 1988.

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Die mit diesen Sätzen umrissene differenzierte Position läßt sich in dem Satz zusammenfassen: Es geht nicht um eine pauschale Kritik, sondern um eine spezielle Kritik der Hypertrophie, d. h. eines unangemessenen Wachstums des Beamtenturns in unserer Gesellschaft. Und auf das Parlament bezogen bedeutet dies: Sowohl die fachliche Verwaltungskompetenz von Beamten in vielen politischen Bereichen, Ausschüssen und Detaildiskussionen wie auch die Unabhängigkeit der meisten Beamten von Kapitalinteressen lassen einen erheblichen Anteil von Beamten in der Volksvertretung als nützlich und wünschenswert erscheinen. Es ist nicht zu leugnen, daß sich (insbesondere in der höheren Beamtenschaft) Elemente einer "politischen Klasse" herausgebildet haben, die stärker als alle anderen Gruppen in der Gesellschaft den - von Platon wie auch von Hegel beschworenen - Allgemeininteressen verpflichtet sind (sei es als Lehrer oder Hochschullehrer, als Kommunal-, Sozial- und Umweltpolitiker oder Richter) und deren Gesinnungen wie auch Kenntnisse in unserem Parlamentarismus eine bedeutende Rolle spielen sollten, um nicht den strukturellen Egoismus kapitalistischer und sonstiger ökonomischer. Privatinteressen überall "durchregieren" zu lassen. IV. Resümee der verfassungsrechtlichen Analyse

Gerhard Biehler hat im Rahmen meiner o. g. Studie9 eine sehr eingehende verfassungsrechtliche Stellungnahme erarbeitet. Sie gelangt zur Feststellung einer dringenden Handlungspflicht des Gesetzgebers, da mit der Überrepräsentation öffentlicher Bediensteter in den Parlamenten erkennbar fundamentale Verfassungssätze berührt sind: In bedenklicher Weise werden das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 II) durchbrachen, der passive Wahlrechtsgleichheitsgrundsatz (aufgrund von Art. 3 I) faktisch durch den Ausschluß anderer Gruppen verletzt und die Repräsentative Demokratie unverhältnismäßig verkürzt. Weil damit unmittelbar staatsorganisatorische Strukturprinzipien tangiert sind, die zu den zentralen Elementen der verfassungsmäßigen Ordnung zählen und einer substantiellen Unantastbarkeit unterliegen, besteht für den Gesetzgeber eine Pflicht zum (quotalen) Abbau der Überrepräsentation. Die von der Verfassung (Art. 137 I) ermöglichte Beschränkung der Wählbarkeit von Beamten etc. muß endlich durch gesetzliche Regelungen verwirklicht werden.

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II: Verfassungsrechtlicher Teil, S. 50 - 77.

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V. Politikwissenschaftliche Empfehlungen

Aus diesen Analysen ergeben sich politikwissenschaftliche Empfehlungen 10. Es ist ein Bündnis kritischer Öffentlichkeit, handlungsbereiter Parteien oder auch verantwortungsbewußter Abgeordneter anzustreben, mit dem Ziel, gesetzliche Maßnahmen zur Beschränkung der Zahl der Beamten (öffentlich Bediensteten) durchzusetzen, insbesondere eine Novellierung - des Parteiengesetzes, - des Abgeordnetengesetzes und - der Wahlgesetze sowie - der Regelungen über die Beurlaubung und die Versorgung der Parlamentsabgeordneten bzw. -kandidaten. Darüber hinaus ist eine generelle und umfassende Strategie zum Abbau des hypertrophen Beamtenstaats ingang zu setzen. Die Novellierungen sollten vor allem drei substantielle Veränderungen bei der Kandidatenaufstellung vorschreiben: a) Bei der Aufstellung ihrer Kandidatenlisten haben die Parteien dafür Sorge zu tragen, daß nicht mehr als ein Viertel der Bewerber Beamte (oder überhaupt: öffentlich Bedienstete im Sinne des Artikels 137 GG) sind. Ohne einen gesetzlichen Zwang zur Quotierung des Beamtenanteils bei der Aufstellung der Kandidatenlisten ist an eine Umkehrung des gegenwärtigen Trends zur zunehmenden Verbeamtung der Parlamente nicht zu denken. 11 Die Diskussion um die (positive!) Quotierung eines Frauenanteils und die Realisierung dieser Quotierung bei den Grünen und - in einem schrittweisen Prozeß bis in den Beginn des 21. Jahrhunderts! -auch bei der SPD zeigt, daß ein solcher Quotierungsvorschlag keineswegs als abwegig angesehen werden kann. Die seinerzeit geführte Diskussion um die dadurch bewirkte Einschränkung des passiven Wahlrechts hat in der SPD nicht zu dem von einigen Funktionären angedrohten Gang zum Bundesverfassungsgericht geführt, - wohl in der richtigen Einsicht, daß bei einer Güterahwägung zwischen der durch Quotierungen in der Tat bewirkten Einschränkung der Freiheit des passiven Wahlrechts einerseits und der massiven Beschränkung dieses Wabirechts durch die strukturell patriarchale Struktur unserer Deren Darstellung en detail: A. a. 0 . S. 81 - 90. Bei eingeführter Quotierung dagegen kann sich die Zusammensetzung der Parlamente relativ bald verändern, da die Fluktuation doch relativ groß ist: "Etwa im Verlauf von vier Legistraturperioden verändert das Parlament seine personelle Zusammensetzung im ganzen. Diese Fluktuation ist bei weitem stärker, als sie in den Daten über berufliche Zusammensetzung, Ausbildung und Alter zum Ausdruck kommt." (Ulrich Lohmar, Das Hohe Haus. Der Bundestag und die Verfassungswirk1ichkeit, Stuttgart 1975, S. 184). 10 11

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Gesellschaft andererseits die Herstellung der Chancengleichheit für Frauen in den Parteien als der höhere Wert betrachtet werden muß. Gleiches gilt - mutatis mutandis - für eine Limitierung des passiven Beamtenwahlrechts: Die gegenwärtige Dominanz der öffentlich Bediensteten bei der Kandidaten-Selektion der Parteien stellt ebenfalls eine nicht akzeptable Behinderung der Chancen anderer Bevölkerungsgruppen dar, innerhalb der Parteien für eine Kandidatenliste ausgewählt zu werden. Die Begrenzung der Quotierung für Beamte bzw. Angehörige des öffentlichen Dienstes auf 25% trägt der oben begründeten Erwägung Rechnung, daß es nicht darum gehen kann, die Sachkompetenz und gemeinwohlorientierte Haltung von Beamten aus dem parlamentarischen Leben zu verdrängen. Vielmehr geht es ausschließlich darum, das zunehmende Übergewicht der öffentlich Bediensteten in den Parlamenten abzubauen. Der Bedeutung der produktiven Rolle von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes in der parlamentarischen Arbeit wird mit der Viertel-Quotierung insofern Rechnung getragen, als diese Zahl mehr als das Doppelte des Anteils darstellt, den diese Bevölkerungsgruppe in der Gesamtbevölkerung hat. b) Um einer Vor-Auswahl der Volksvertreterinnen im engen "Kungel"Kreis der Parteifunktionäre und -aktiven entgegenzuwirken und bürgernähere, breitere Auswahlmöglichgkeiten zu schaffen, muß den Wählerinnen und nicht den Parteien das Recht zustehen, über die "Plazierung" der Kandidaten auf den Kandidatenlisten zu entscheiden. Auch die wahlgesetzliche Festlegung: Nicht den Parteien, sondern den Wählern die personelle Prioritätensetzung innerhalb der Landeslisten - die berühmt-berüchtigte "gute" oder "schlechte" Plazierung - zuzuerkennen, ist kein irreales, am grünen Tisch erfundenes Konzept. Bereits heute existiert diese Möglichkeit z. B. bei Landtagswahlen in Bayern. Die hier vorgeschlagene Verstärkung der personellen Auswahlrechte der Wählerinnen hat in unserem Zusammenhang deshalb große Bedeutung, weil sie mit dazu beiträgt, das Alleinbestimmungsrecht der Parteien - in Wirklichkeit: eines Kaders von Parteiaktiven - bei der Auswahl der potentiellen und tatsächlichen Volksvertreter wenigstens insofern zu relativieren, als den Wählerinnen das Recht zuerkannt wird, innerhalb einer von den Parteien ausgewählten Gruppe potentieller Repräsentanten durch eigene Plazierungswünsche eine Mitbestimmung bei der Auswahl auszuüben. Das partizipative Element in der parlamentarischen Demokratie wird dadurch verstärkt. Darüber hinaus aber kann diese Option durchaus zum Abbau der Verbeamtung beitragen: Es ist sehr wohl möglich, daß Wählerinnen beispielsweise parteipolitisch aktive Hausfrauen, Arbeiterinnen oder Studentinnen auf der Landesliste eher auswählen als Staatsdiener. c) Es muß die berufliche Privilegierung der "Beamten-Abgeordneten", die Garantie ihrer Wiedereinstellung, auf sämtliche Parlamentsabgeordneten 7 Speyer 133

98

Fritz Vilmar

ausgedehnt werden, indem auch den nicht im öffentlichen Dienst Abgesicherten ein Wiedereinstellungsrecht oder aber eine großzügige Übergangsfinanzierung zuerkannt wird, die ihnen die Neugründung einer beruflichen Existenz ermöglicht. VI. Rechtstechnische Durchsetzung Die rechtstechnische Durchsetzung läßt sich wie folgt für das Parteiengesetz (ParteiG), das Abgeordnetengesetz, das Bundeswahlgesetz (BWG) und die Bundeswahlordnung (BWO) skizzieren. (Daneben gibt es selbstverständlich noch Wahlordnungen auf Landesebene; ferner wären neue Rechtsvorschriften im Kündigungsschutzgesetz vorzusehen, falls nicht ein eigenes Gesetz zur materiellen Absicherung der "Nicht-Beamten" vorzuziehen ist.) Die Beschränkung der Beamtenzahl in den Parlamenten ist m. E. am besten durch die Einfügung einer entsprechenden Vorschrift in der BWO zu normieren und zwar anläßlich der Regelung von "Inhalt und Form der Landeslisten", § 39. Dort wird einleitend bestimmt, daß mit der Liste auch "Beruf oder Stand" der Bewerber dem Landeswahlleiter bekannt zu geben sind. Daran anschließend wäre ein Passus einzurücken: daß die Parteien durch Einfügung eines entsprechenden Procedere in ihre Statuten Sorge zu tragen haben, daß die Zahl der Beamten (oder: die Zahl der öffentlichen Bediensteten) auf der Landesliste ein Viertel der Bewerberinnen nicht überschreitet12, und daß die nach § 40 vorgesehene Vorprüfung der Landesliste durch den Landeswahlleiter (auf Grund der ohnehin nach § 39 BWO der eingereichten Landesliste beizufügenden Personalangaben der Bewerberlnnen) auch die Einhaltung der Quote mit umfassen kann. Im Parteiengesetz (ParteiG) könnte im § 17, der das Procedere für die Aufstellung der Bewerber für eine Parlamentskandidatur regelt, die Verpflichtung der Partei zur Quotierung der Beamtenzahl mit aufgenommen werden. Dieser gesamte, derart sogar gesetzlich sanktionierte Monopolanspruch der Parteigremien, als Vormund des "mündigen Bürgers" den Wert und damit die Wahlchancen der Parlamentskandidatinnen durch "Piazierung" vorwegzubestimmen, ist durch eine Novellierung des Bundeswahlgesetzes (BWG) und der Bundeswahlordnung (BWO) ersatzlos zu streichen. Statt dessen ist das Recht der Wählerinnen zu normieren, auf Grund der vorlie12 Um die "Viertel"-Quote zu gewährleisten, könnte die Delegiertenversanunlung, die über die "Landesliste" entscheidet, beispielsweise einen zusätzlichen Wahlgang vorsehen, falls die Kandidatenwahl das quotierte Viertel überschreitet; in diesem Wahlgang wird aus der Gesamtzahl der zur Wahl stehenden Beamtinnen die Zahl ausgewählt, die der Viertelquote entspricht.

Verminderung der öffentlich Bediensteten in den Parlamenten

99

genden Landesliste nach dem Prinzip des Kumulierens und Panaschierens ihre Kandidaten-Präferenz selbst zu bestimmen. Die Stimmzettel sind dementsprechend (wie aus anderen Wahlen bekannt) vorzustrukturieren: Die Wahlzettel müssen die vollständigen Landeslisten der Parteien enthalten. Die Kandidaten werden in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt, ohne Listen"plazierung" durch die Parteien. Die endgültige Plazierung der Kandidat/innen auf der Landesliste erfolgt gemäß der Zahl der auf ihn/sie entfallenden Stimmen und Placierungen.

VII. Tätigwerden des Bundesverfassungsgerichts Schließlich ist die Prüfung einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht geboten. Unseres Erachtens liefert die vorgetragene Argumentation gewichtige Gründe, um beim Bundesverfassungsgericht Klage einzureichen, falls der Gesetzgeber seiner Handlungspflicht nicht gerecht wird, mit dem Ziel: aufgrund der offensichtlichen Verletzung wesentlicher Verfassungsprinzipien den Gesetzgeber aufzufordern, gemäß Art. 137 eine gesetzliche Beschränkung der Zahl der Beamten und öffentlich Bediensteten im Parlament (d.h. in den Kandidatenlisten der Parteien) zu verabschieden und die Wahlchancen für Nicht-Beamte gleich gut zu gestalten wie für Beamte.

VIII. Strategie zum Abbau eines hypertrophen Beamtenturns Als generelle Strategie zum Abbau hypertrophen Beamtenturns ist - anstelle nur vereinzelter Klagen und Reformvorschläge - eine öffentliche Generaldebatte über den dringend erforderlichen Abbau von Beamtenprivilegien zu organisieren, - mit dem Ziel - die sozialstatistisch feststellbare weit überdurchschnittliche Zunahme des Beamtenturns in unserer Gesellschaft als Gefahr für den demokratischen Staat erkennbar zu machen und aufgrund dessen - die wesentliche Reduzierung bzw. Abschaffung des Beamtenstatus großer (durchaus nicht mit hoheitlichen Aufgaben befaßter) Berufsgruppen zu fordern, vor allem in den Bereichen Schule, Hochschule, Post, Bahn, kommunale/ soziale Dienste; - Die Beamtenschaft gerade wegen ihrer arbeitsrechtlich gesicherten Position in die Verpflichtungen der Solidargemeinschaft einzubinden, also sie zumindest kranken- und arbeitslosenversicherungspflichtig zu machen; - Bindung von Gehaltserhöhungen und Beförderungen an das Dienstalter generell abzuschaffen - statt dessen insbesondere von Lehrern und Hochschullehrern Leistungsnachweise (z. B. Teilnahme an Fortbildungsmaßnah7•

Fritz Vilmar

100

men) als Voraussetzung für Gehaltssicherung und Beförderungen zu verlangen; - zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen insbesondere im öffentlichen Dienst Teilzeitarbeit stark zu erleichtern und in gewissem Umfang obligatorisch zu machen (Vorbild: Lehrer in Brandenburg). Anhang: Die Berufsstruktur der Abgeordneten in Ostdeutschland Eine Recherche von Andrea Keune *

Die Untersuchung der Berufsstruktur erfolgte entsprechend der Kriterien der Analyse von Fritz Vilmar (a. a. 0., s.o.). Alle Angaben in Prozent: Nr. Berufsgruppe

Branden- Mecklen- Sachsen Sachsen- Thürinburg burg-VorAnhalt gen pommern 12,5

14,1

9,9

2. Gew.funktionäre, betrieb!. AN-vertreter

2,3

5,6

1,65

5,05

3,4

3. Sonst. Verbandsfunktionäre, Bedienstete gesellschaftl. Organisationen

4,5

4,2

2,5

5,05

5,7

4. Journalisten, Verleger, sonstige Beschäftigte im Medienbereich

0

0

1,65

5,05

0

5. Lehrer, Professoren, sonst. Wissenschaftler

18,2

14,1

20,7

19,25

13,6

6. Sonstige Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes

18,2

23,9

20,7

19,25

25,0

2,3

2,8

1,65

0

15,9

16,9

18,15

22,2

15,9

Berufspolitiker (parteibezogene Berufstätigkeiten)

7. Rechtsanwälte 8. Unternehmer, selbständiger Mittelstand, leitende Angestellte

12,1

5,7

1' 1

4,5

7,0

4,1

3,0

3,4

10. Sonstige Freiberufler

0

4,2

4,1

0

0

11. Angestellte in Industrie, Handel, Gewerbe, Dienstleistungen

10,3

1,4

6,6

5,05

13,6

12. Arbeiter

1, 1

9. Landwirte

0

2,5

0

2,3

13. Hausfrauen, Rentner, Sonstige 1,1

4,2

2,5

1,0

3,4

14. Nicht verwertb. Angaben

1,4

3,3

3,0

6,9

9,1

Verminderung der öffentlich Bediensteten in den Parlamenten Nr. Berufsgruppe

101

Branden- Mecklen- Sachsen Sachsen- Thürinburg burg-VorAnhalt gen pommem 10,1

9,1

41,4

38,5

38,6

61,9

57,1

65,75

53,4

30,9

28,0

25,2

20,4

2. + 3. Verbandsangestellte

6,8

9,8

5. + 6. Öffentlicher Dienst

36,4

38,0

1.- 6. Politiknahe Berufe

55,7

7. - 10. Selbständige*

22,7

5,15

Die Analyse der Berufsstruktur der Abgeordneten in den Parlamenten der neuen Bundesländer macht deutlich, daß auch dort verschiedene Gruppen, aber insbesondere Vertreter des öffentlichen Dienstes (5. + 6.) stark überrepräsentiert sind. Damit ergibt sich in den ostdeutschen Parlamenten in der zweiten Legislaturperiode, seit 1994, bei den Vertretern des öffentlichen Dienstes ein ähnliches Bild wie im Bundestag. Im Deutschen Bundestag hat sich die Zahl dieser Gruppe von 1949 bis 1969 von 17 Prozent auf 43 Prozent erhöht, um sich in den darauffolgenden Jahren weiter zu stabilisieren. In den Parlamenten der fünf neuen Bundesländer liegt die Zahl (1. + 5. + 6.) sogar noch etwas höher (Brandenburg 48,9 %; Mecklenburg-Vorpommern 42,1 %; Sachsen 51,3 %; Sachsen-Anhalt 50,6% und Thüringen 44,3% ), diese Entwicklung hat sich innerhalb kürzester Zeit vollzogen. Betrachtet man die Gruppe der politiknahen Berufe (1.-6.), so stellt man fest, daß diese Gruppe in allen Landesparlamenten mehr als die Hälfte der Abgeordneten stellt. Dies ist zugleich eine Gruppe, die die beschriebenen Kriterien für die Privilegierung der aus dem öffentlichen Dienst kommenden Kandidaten weitgehend erfüllen. Sie verfügen über verwaltungstechnisches Wissen, über Sprachkompetenz etc. und sind zeitlich disponibel, insbesondere die Vertreter des öffentlichen Dienstes, die zudem eine weitere Absicherung durch die Freistellung für die Übernahme und Ausübung eines Abgeordnetenmandats, verbunden mit einem Wiedereinstellungsanspruch nach Beendigung des Mandats, haben. Diese Gruppe stellt gemeinsam mit der Gruppe der Selbständigen 74 bis über 90 (!) Prozent der Abgeordneten in den Parlamenten (Brandenburg 78,4%; Mecklenburg-Vorpommern 92,8%; Sachsen 85,1 %; Sachsen-Anhalt 80,95% und Thüringen 73,8% ).

* M'skript, Seminar Prof. Vilmar, Freie Univ. Berlin 1997, S. 61 f.

Staatsverschuldung, Rentenversicherung und Bildung: Zukunftsschwächen der Wettbewerbsdemokratie im Lichte des demographischen Wandels Von Robert K. von Weizsäcker

I. Einleitung Fiskalische Schwierigkeiten der Gegenwart sind das Ergebnis wirtschaftsund finanzpolitischer Entscheidungen der Vergangenheit. Diese wiederum sind ein Spiegelbild der sich ändernden Rolle des Staates in einer Ökonomie. Ursache dieses Rollenwandels ist ein komplexes Faktorenbündel, dessen treibende Kraft den Schnittbereich zwischen Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft berührt. Als häufige Kernursache ökonomischer Fehlentwicklungen haben sich Eigenarten der politischen Willensbildung herauskristallisiert. Es ist genau dieser Bereich, der Institutionen zu maßgeblichen Verursachern werden läßt. Diese Wechselbeziehung wird noch verstärkt durch den demographischen Wandel. Die sich in allen hochentwickelten Volkswirtschaften abzeichnende Überalterung der Bevölkerung hat finanzwirtschaftlich erwartete, polit-ökonornisch jedoch zum Teil völlig unerwartete Konsequenzen. Vier finanzwirtschaftliche Felder werden im folgenden unter die Lupe genommen: die Rentenversicherung, das öffentliche Bildungswesen, das Steuersystem und die Staatsverschuldung. II. Bevölkerungsentwicklung In vielen Regionen der Welt - mit Ausnahme Afrikas - wird die Bevölkerung älter. 1 Abbildung 1 gibt die Altersstruktur der Weltbevölkerung in den Jahren 1990, 2050 und 2100 wieder. Sie veranschaulicht die enorme Beschleunigung sowohl des Wachsturns der Weltbevölkerung als auch der erwarteten Verschiebung der Altersstruktur. 2 Siehe United Nations (1985) und OECD (1995). Die Abbildung stammt aus Birg (1995) und gründet sich auf eine mittlere Projektionsvariante. Vgl. dazu auch United Nations (1993) und World Bank (1994). 1

2

104

Robert K. von Weizsäcker

2050

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90

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70

60

50 ):

~ N.

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0 00

Staatsverschuldung, Rentenversicherung und Bildung

109

Zunächst: Welche Motive hat eigentlich die öffentliche Hand, ein staatlich finanziertes Rentenversicherungssystem bereitzustellen? Zwar würde eine gründliche Beantwortung dieser Frage einen eigenen Beitrag erfordern, doch zeigt ein kurzer geschichtlicher Rückblick, daß der Gedanke der gesellschaftlichen Risikoverteilung und damit letztlich der der sozialen Sicherung am Ausgangspunkt des heute noch bestehenden Systems stand. Es war die Bismarcksche Sozialversicherungsgesetzgebung, die den Start der nun hundertjährigen Geschichte der staatlichen Rentenversicherung markiert. Trotz häufiger politischer Kurzatmigkeit und trotz der inzwischen erfolgten beträchtlichen Ausdehnung sowohl hinsichtlich des einbezogenen Personenkreises als auch hinsichtlich des gewährten Leistungsspektrums, hat die institutionelle Grundstruktur der gesetzlichen Alterssicherung ein hohes Maß an Kontinuität bewahrt. Zu den Kernelementen, an denen stets festgehalten wurde und die das Motiv der sozialen Abfederung reflektieren, zählten und zählen die Lohnbezogenheil der Beitragszahlung, die Lohnbezogenheil der Rentenberechnung und -anpassung, die Vorstellung, daß eigene Leistungen zur Altersvorsorge und spätere Gegenleistungen in einem Entsprechungsverhältnis stehen sollen, sowie Aspekte des sozialen Ausgleichs. Vor diesem Hintergrund einer Langfristorientierung der staatlichen Alterssicherungspolitik erhalten die möglichen Konsequenzen demographischer Veränderungen für das Rentenversicherungssystem große Relevanz. Die umlagefinanzierte Alterssicherung gerät angesichts einer steigenden Lebenserwartung und eines drastischen Geburtenrückgangs zunehmend unter finanzwirtschaftliehen und politischen Druck. Die Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Finanzlage der gesetzlichen Rentenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland sind anband zahlreicher Modellberechnungen untersucht worden. Bei Fortdauer des geltenden Rechts und Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Rentenniveaus wäre danach ein Beitragssatz von bis zu 30% erforderlich, um Beitragseinnahmen und Rentenausgaben auszugleichen. 5 Andernfalls, also bei Einfrierung des Beitragssatzes auf dem jetzigen Niveau, würden die Renten im Durchschnitt nur noch etwa 25 statt 45% des Bruttoarbeitsentgelts betragen. Die inzwischen eingesetzte Systemdiskussion läuft typischerweise auf die Alternative "Umlageverfahren versus Kapitaldeckungsverfahren" hinaus. Im letztgenannten System führen Erwerbstätige Beiträge an einen staatlichen oder privaten Versicherer ab, der diese Zahlungen auf dem Kapitalmarkt anlegt. Später erhalten die ehemals Erwerbstätigen eine Rente aus dem angesammelten Kapital und den darauf angefallenen Zinsen. Unter der Voraussetzung eines perfekten Kapitalmarkts entspricht dieses Konzept bei beitragsäquivalenten Renten der privaten Ersparnisbildung. 5

Vgl. u. a. Prognos (1995).

llO

Robert K. von Weizsäcker

Die konzeptionelle Grundlage des Umlageverfahrens ist der Generationenvertrag. Die heutigen Erwerbstätigen bilden hier mit ihren Rentenbeiträgen keinen Kapitalstock, sondern finanzieren direkt die Renten der heutigen Ruheständler. Dies tun sie in der Erwartung, daß die heute im Kindesalter befindliche oder noch gar nicht geborene Generation künftiger Erwerbstätiger die späteren Ruhegelder für die heutigen Beitragszahler ebenfalls finanzieren wird. Damit ist die künftige Rente unmittelbar an die Existenz einer ausreichend großen und produktiven nächsten Generation gekoppelt. Interessant und für die weiter unten erfolgende politökonomische Überlegung hilfreich ist ein Renditevergleich der beiden Verfahren. Die Rendite des Kapitaldeckungssystems entspricht idealtypisch dem über die Fristigkeitsstruktur gemittelten Kapitalmarktzinssatz. Die Rendite des Umlageverfahrens ergibt sich hingegen als interne Verzinsung aus der Budgetrestriktion der Rentenkasse. Sie läßt sich vereinfacht als Summe aus der Wachstumsrate der Erwerbsbevölkerung (gelegentlich "biologischer Zins" genannt) und der Wachstumsrate des durchschnittlichen Erwerbseinkommens (Produktivitätswachstum) interpretieren. Offenbar kann diese Rendite kleiner, gleich oder größer als die des Kapitaldeckungsverfahrens sein. Im Zuge der geschilderten demographischen Entwicklung hat sich die Renditerelation eindeutig zu Lasten einer Investition in den Generationenvertrag verschoben. Schwierigkeiten dieser Art sind nicht gänzlich neu. Im Laufe der Zeit war es immer wieder notwendig, das System der gesetzlichen Rentenversicherung den sich wandelnden Umständen anzupassen. Gleichwohl mag die Stabilität des umlagefinanzierten Systems überraschen. In der Folge möchte ich ein Argument darstellen, das den Institutionen der Demokratie eine entscheidende Rolle für dieses Phänomen zuweist. These 1: Die Institutionen der Demokratie führen zu einer Überinvestition in die Alterssicherung.

Auf der Grundlage eines einfachen Drei-Generationenmodells läßt sich beispielhaft zeigen, daß der im Rahmen einer direkten Abstimmung gewählte Beitragssatz einer umlagefinanzierten Rentenversicherung zu hoch ausfällt, verglichen mit dem gesellschaftlich effizienten Niveau. Die gegebenen Institutionen (Umlagesystem, Rentenformel, Demokratie) führen fast zwangsläufig zu einer Überversicherung. Das herangezogene gedankliche Modell besteht aus drei sich überlappenden Generationen: den jungen Aktiven, den alten Aktiven und den Ruheständlern. Aus Vereinfachungsgründen wird von einer konstanten Bevölkerungswachstumsrate, einem exogenen Zinssatz sowie einem konstanten Lohnsatz ausgegangen. Untersucht wird eine direkt-demokratische Abstimmung über den Beitragssatz zur umlagefinanzierten Rentenversicherung,

Staatsverschuldung, Rentenversicherung und Bildung

111

wobei das Ergebnis der Abstimmung als dauerhaft angesehen wird. Umlagefinanzierte Rentensysteme begünstigen bei ihrer Einführung diejenigen Gruppen, die bereits im Rentenalter sind, da diese Leistungen erhalten, ohne zuvor Beiträge abgeführt zu haben. Nach der gleichen Überlegung profitieren auch jene Personen, die bei der Einführung nur noch wenige Erwerbsjahre vor sich haben, in denen sie sich an der Finanzierung des Rentensystems beteiligen müssen. Es ist daher naheliegend, bei einer Abstimmung über die Einführung und Beibehaltung eines solchen Rentensystems eine Abhängigkeit der Interessen der Wähler von ihrem Lebensalter zu vermuten. In der Tat läßt sich im Rahmen eines Nutzenmaximierungsansatzes zeigen,6 daß sich abgesehen von extremen demographischen Fällen einer stark schrumpfenden oder stark wachsenden Bevölkerung in der demokratischen Mehrheitsabstimmung die Interessen der Aktiven in der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens durchsetzen. Der ausschlaggebende Medianwähler berücksichtigt bei der Bestimmung des für ihn optimalen Beitragssatzes nicht alle Kosten des Systems. Das Beitrags- und Leistungsniveau der Rentenversicherung gerät dadurch größer als das gesamtgesellschaftlich optimale unter Abwägung aller Kosten und Erträge für dasjenige Individuum, das von Beginn seines Erwerbslebens an als Beitragszahler und Rentenempfänger von dem System betroffen ist. Man kann zeigen, daß ein junger Aktiver dann bereit ist, einen positiven Beitragssatz zu leisten, wenn die Rendite des Umlageverfahrens größer ist als die der privaten Ersparnis (also größer ist als die des Kapitaldeckungsverfahrens). Ein Erwerbstätiger in der zweiten Hälfte seines Arbeitslebens berücksichtigt bei seiner Beitragssatzkalkulation eine vergleichsweise verkürzte ökonomische Restlebenszeit Dies hat zur Folge, daß die alten Aktiven auch dann noch für das Umlageverfahren stimmen, wenn dessen Rendite geringer ist als die des Kapitaldeckungsverfahrens - kein Wunder, denn für die gleiche Rentenleistung zahlen sie weniger lang ein als die jungen Aktiven. Die Ruheständler schließlich stimmen für den maximal möglichen Beitragssatz. Sie sind die Profiteure des Systems. Aggregiert man über alle drei Gruppen, so folgt das obige Ergebnis. Noch zwei weitere Resultate der politökonomischen Literatur zur Rentenversicherung sind interessant. Was passiert eigentlich, wenn man das Ergebnis der Abstimmung nicht als irreversibel betrachtet, sondern periodisch wiederkehrende Abstimmungen zuläßt? Zunächst: Je größer die Zweifel daran sind, daß die nächste Generation das Umlageverfahren bei unverändertem Beitragssatz fortsetzt, desto höher muß die Renditedifferenz zugunsten des Umlagesystems ausfallen, damit seine Einführung dem Wähler loh6

Vgl. Browning (1975).

112

Robert K. von Weizsäcker

nend erscheint. Und ferner: Existiert in der betrachteten Gesellschaft eine soziale Konvention, die jeweilige Rentnergeneration für ihr Verhalten gegenüber ihren Eltern eine Periode zuvor zu belohnen bzw. zu bestrafen, so zahlt es sich für jede Generation aus, dieser Konvention zu folgen, und es resultiert die Einführung und Beibehaltung einer umlagefinanzierten Rentenversicherung (sofern diese rentabel ist)? Das geschilderte Überversicherungsphänomen wird von einer Bevölkerungsüberalterung in doppelter Weise verschärft. Zum einen nimmt die Finanzierungslast für die Erwerbstätigen bedrohlich zu, und zum anderen verschiebt sich das Wählergewicht zwischen Erwerbstätigen und Ruheständlern zugunsten der Rentner. Ist in einem demokratischen System das Ziel einer Regierung ihre Wiederwahl, so resultieren altersstrukturbedingte politische Einflüsse auf die finanzwirtschaftliche Budgetanpassung - eine bisher wenig beachtete Folge des demographischen Wandels, die nicht nur die staatliche Rentenversicherung berührt.8 IV. Bildungsfinanzierung

Zunächst sollen mögliche Motive für eine öffentliche Bildungsfinanzierung unter die Lupe genommen werden. Tatsächlich wird in fast allen modernen Volkswirtschaften eine aktive staatliche Bildungspolitik betrieben. Ökonomisch zu rechtfertigen wäre diese dann, wenn private Initiative alleine nicht genügen würde, einen effizienten Ausbildungsstand sicherzustellen. Es drängt sich daher die Frage auf, was private Märkte davon abhalten mag, für eine effiziente Anzahl von Absolventen zu sorgen. Ein klassisches Argument ist das des positiven externen Effekts. Inwiefern ein solcher von allen Bildungsebenen ausgeht, ist allerdings ungewiß. Das Argument einer erst durch Bildung tragfahigen und stabilen Demokratie ist eher auf die Grundausbildung und damit auf das Schulwesen als etwa auf das Hochschulwesen anzuwenden. Zweifelsohne erweisen Akademiker der Gesellschaft wertvolle Dienste. Sie beziehen aber auch und gerade deshalb vergleichsweise hohe Einkommen. Möglicherweise internalisieren hohe Einkommen bereits den Wert der akademischen Leistungen. Doch selbst unter der Voraussetzung, daß einzelne Akademikertätigkeiten tatsächlich über ihr Lohndifferential hinausgehende externe Effekte auslösen, dürfte eine Internalisierung dieser Effekte durch die in der bildungspolitischen Praxis übliche Subventionierung aller Hochschüler kaum erreicht werden. Ein zweites, oft genanntes Argument führt Ausbildungssubventionen auf Unvollkommenheiten des Kapitalmarktes zurück. Durch Ausbil7

8

Siehe Breyer (1990). Vgl. z.B. v. Weizsäcker (1990).

Staatsverschuldung, Rentenversicherung und Bildung

113

dung erworbenes Humankapital ist nicht handelbar, es kann nicht ex ante beliehen werden und taugt daher nicht als Sicherheit für Kredite. Dies kann zu einer ineffizient geringen Bildungsnachfrage derjenigen führen, die aufgrund von Liquiditätsbeschränkungen nicht imstande sind, eine kostspielige Ausbildung zu finanzieren. Derartige Kreditbeschränkungen legen jedoch nicht notwendigerweise eine Subventionslösung nahe. Öffentlich bereitgestellte Ausbildungskredite sollten hinreichen, eine zu geringe Bildungsnachfrage aufgrund von Kapitalmarktbeschränkungen zu beheben. Zu bedenken ist indes, daß der individuelle Ausbildungsertrag im allgemeinen ungewiß ist. Weder kann ein Individuum mit Sicherheit annehmen, eine Ausbildung erfolgreich abzuschließen, noch hat es bei erfolgreichem Abschluß Gewißheit über den späteren Ausbildungsertrag. Öffentliche Ausbildungskredite, die unabhängig vom Studienerfolg zurückzuzahlen sind, ändern an der individuellen Risikoproblematik prinzipiell nichts. Dabei kann das mit einer Ausbildungsinvestition verbundene Risiko für ein einzelnes Individuum beträchtlich sein, ohne daß es nennenswerte Möglichkeiten hat, sich dagegen auf privaten Märkten zu versichern. Es ist somit davon auszugehen, daß risikoaverse Individuen nicht die erwarteten Grenzerträge den Grenzkosten der Ausbildung angleichen, was sie bei vollen Absicherungsmöglichkeiten zu fairen Konditionen täten, sondern erheblich weniger in ihre Ausbildung investieren. Hieraus ließe sich ein öffentliches Finanzierungsmotiv ableiten. 9 Wesentliche Gründe für ein öffentliches Bildungsangebot liefern darüber hinaus Verteilungsargumente, die um die Begriffe soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit kreisen - ein weites normatives Feld, auf das ich an dieser Stelle nicht näher eingehen kann. 10 So sehr die praktische Bildungspolitik eine solche Verteilungssicht auch bemüht, so wenig nimmt sie dabei einen Verteilungsaspekt wahr, der mit den ursprünglich intendierten normativen Zielen nichts mehr gemein hat. Dieser Aspekt tritt im Zusammenspiel mit den existierenden Institutionen der politischen Willensbildung zutage und führt zu der These 2: Die Institutionen der Demokratie führen zu einer Unterinvestition in Bildung.

Die aus den Erkenntnissen der neuen politischen Ökonomie abgeleitete These 2 interpretiert die öffentliche Bildungsfinanzierung als ein Ergebnis sowohl intra- als auch intergenerationeller Verteilungskonflikte. Zunächst zur intragenerationeilen Ebene. Ausgehend von einem einfachen Ansatz ohne private Ausbildungsmöglichkeiten ergibt sich das von 9 10

Siehe dazu z. B. Wigger und v. Weizsäcker (1998). Vgl. in diesem Zusammenhang v. Weizsäcker (1999).

8 Speyer 133

114

Robert K. von Weizsäcker

einem Haushalt präferierte Ausgabenniveau aus der Gleichheit seiner Grenzrate der Substitution zwischen Bildungsausgaben und Einkommen einerseits und seinem Anteil am Gesamtvennögen der Ökonomie andererseits. Die gesamtwirtschaftlich effiziente Menge öffentlicher Bildungsausgaben folgt dann aus der Gleichheit der Summe der Grenzraten der Substitution über alle Haushalte und der Grenzrate der Transfonnation zwischen Bildungsausgaben und Einkommen. Unterstellt man den institutionellen Rahmen einer direkten Demokratie (Medianwählennodell), dann führt der politische Prozeß zu einer Über- bzw. Unterversorgung, wenn das Verhältnis der durchschnittlichen Grenzraten der Substitution zur derjenigen des Medianwählers größer oder kleiner ist als das Verhältnis des Durchschnittseinkommens zum Medianeinkommen. Die relative Effizienz hängt demnach insbesondere davon ab, was sich hinter den Präferenzunterschieden verbirgt. Unterstellt man einen direkten Zusammenhang zwischen Nutzenhöhe und familiärem Nettoeinkommen, so ergibt sich ein zu hohes Ausgabenniveau, wenn alle Haushalte über gleiche Fähigkeiten, aber unterschiedliche Einkommen verfügen, und ein zu geringes Niveau, wenn alle Haushalte zwar gleiche Einkommen, aber unterschiedliche Fähigkeiten aufweisen. 11 In der Realität wird Bildung nicht ausschließlich öffentlich angeboten. Vielmehr existieren Mischsysteme aus einem staatlichen Bildungsprogramm und zumeist ergänzenden privaten Bildungsangeboten. Verfügen die Haushalte über die Möglichkeit, das öffentliche Angebot durch private Ausgaben aufzustocken, so werden Haushalte mit überdurchschnittlichem Einkommen in der Regel gegen eine hohe öffentliche Bildungsfinanzierung votieren. Es kann sich auch eine Koalition aus Niedrig- und Hocheinkommensbeziehern bilden, die für geringere öffentliche Bildungsinvestitionen eintritt: die einen, weil sie ohnehin wenig Bildung präferieren und die anderen, weil sie die Verlierer der Umverteilung sind. Eine öffentliche Bildungsfinanzierung kann auf diese Weise die Mittelklasse zu Lasten sowohl reicher als auch anner Haushalte begünstigen. Das Medianwählerresultat führt hier insgesamt zu öffentlichen Ausgaben, die geringer sind als bei einer Vollfinanzierung. 12 Neben diesen intragenerationeilen Verteilungsaspekten spielt der intergenerationeile Verteilungskonflikt eine politökonomisch maßgebliche Rolle, da ein öffentlich finanziertes Bildungssystem nicht nur zwischen den Mitgliedern einer Generation, sondern insbesondere auch zwischen den Generationen umverteilt. Die Höhe der öffentlichen Bildungsausgaben ergibt sich aus der Sicht der Public Choice Schule in einer Demokratie aus der politischen Machtverteilung zwischen Auszubildenden einerseits sowie Erwerbstätigen und Ruheständlern andererseits. Ist die politische Macht der Erwerbstätigen zu hoch, so fällt die öffentliche Bildungssubventionie11 12

Siehe zu diesen ersten Überlegungen Stiglitz (1974). Vgl. Gradstein und Justman (1996).

Staatsverschuldung, Rentenversicherung und Bildung

115

rung im politökonomischen Gleichgewicht gesamtgesellschaftlich zu gering aus - genau dies entspricht übrigens der aktuellen Konstellation. Wie in Abschnitt II dargelegt, kommt dem Altersaufbau der Bevölkerung eine große Bedeutung zu. Eine Bevölkerungsüberalterung übt zwei gegenläufige Effekte auf die öffentliche Bildungssubventionierung aus. Einerseits verbessern sich die Finanzierungsbedingungen, da die Erwerbstätigen nun weniger Auszubildende unterstützen müssen (biologische Rendite). Zum anderen steigt das politische Gewicht der Erwerbstätigen und damit das der Verlierer des intergenerationellen Bildungstransfers. Die gegebenen politischen Institutionen und der gegenwärtige Altersaufbau der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland geben freilich Anlaß zu der Hoffnung, daß in jenem Wechselspiel das Gewicht der biologischen Rendite dominiert, so daß eine sich weiter fortsetzende Überalterung zu höheren Bildungssubventionen führen wird. 13 Anknüpfend an die Überlegungen zur staatlichen Rentenversicherung in Abschnitt III drängt sich an dieser Stelle der Gedanke einer konzeptionellen Verknüpfung der beiden Transfersysteme Bildung und Renten auf. Möglicherweise wären ja die Erwerbstätigen bereit, im Rahmen eines umlagefinanzierten Rentenversicherungssystems die heutigen Ruheständler dann zu unterstützen, wenn Renten- und Bildungssysteme miteinander verknüpft wären und die Erwerbstätigen auf diese Weise nachvollziehen würden, daß ihre eigene Erwerbskapazität das Ergebnis der Bildungsinvestitionen derjenigen ist, die heute als Ruheständler einen Rentenanspruch anmelden. Da die Rentenleistungen in einem umlagefinanzierten System aus den jeweiligen Lohneinkommen der Erwerbstätigen bestritten werden, würden Bildungsausgaben überdies die Steuerbasis erhöhen, die zur Finanzierung zukünftiger Ruhegelder genutzt werden kann. Überspitzt: Gäbe es in einer Gesellschaft noch kein öffentliches Bildungssystem, so könnte die Existenz eines Umlageverfahrens zur Einführung eines staatlichen Bildungsprogramms auf Wunsch der Erwerbstätigen führen. 14 Wie auch immer - eine Kopplung beider Systeme würde zu einer Milderung des in These 2 formulierten Demokratieproblems beitragen. V. Steuersystem Die politische Ökonomie der Besteuerung sucht nach möglichen positiven Erklärungen für die in der Realtität zu beobachtenden Steuersysteme. Sie interpretiert diese als das Gleichgewichtsergebnis eines öffentlichen Willensbildungsprozesses. Der politische Rahmen und damit insbesondere 13

14 8*

Siehe Kemnitz (1999). Vgl. Konrad (1995).

116

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die gegebenen Institutionen spielen eine entscheidende Rolle für die gewonnenen Resultate. Zwei interessante Behauptungen seien kurz erörtert: These 3: Das Steuersystem (insbesondere der progressive Steuertarif) spiegelt den erfolgreichen Versuch der mittleren Einkommensschichten wider, ihre Steuerlast zu verringern. These 4: Ein überkompliziertes Steuersystem ist politisch rational.

Die erstgenannte These geht vor allem auf Snyder und Kramer (1988) zurück. Sie entspringt einem nicht unkomplizierten Wechselspiel zwischen bestimmten Eigenschaften der personellen Einkommensverteilung einerseits und der Gestaltung des aus dem Steueraufkommen zu finanzierenden Transfersystems andererseits. Unter bestimmten Voraussetzungen (insbesondere der, daß die Präferenzen der Wähler hinsichtlich des Einkommens eingipflig sind) setzt sich im Rahmen einer direkten Demokratie der Wunsch jenes Wählers durch, dessen Bruttoeinkommen dem Median der Bruttoeinkommensverteilung entspricht. Da die empirisch beobachteten Einkommensverteilungen rechtsschief sind und damit das durchschnittliche Bruttoeinkommen über dem Medianeinkommen liegt, präferieren jene Wähler eine Grenzsteuersatzprogression, die im Wechselspiel mit einem nicht-besteuerten Schattensektor um so höher ausfallt, je ausgeprägter die Rechtsschiefe der zugrundeliegenden Einkommensverteilung ist. Dies wiederum hat eine stärkere Umverteilung zugunsten der in der Mitte der Verteilung liegenden Einkommensgruppen zur Folge. Der Medianwähleransatz der direkten Demokratie ist ein hilfreicher erster Denkansatz. Er besitzt jedoch noch nicht genügend Struktur, um die Komplexität existierender Steuersysteme nachzeichnen zu können. Im Falle einer direkten Demokratie hat ja jedes Individuum dasselbe Gewicht bei der Bestimmung des Resultats; implizit wird hier unterstellt, daß der Volksbeschluß von einer passiven, anonymen Regierung automatisch ausgeführt wird. Die Ausgestaltung des Steuersystems hängt somit allein von der Nachfrageseite des politischen Marktes ab. Im Falle einer repräsentativen Demokratie hingegen haben die Wähler nur noch einen mittelbaren Einfluß auf konkrete finanzpolitische Entscheidungen; Einflüsse der Angebotsseite des politischen Marktes treten hinzu. In der Welt der neuen politischen Ökonomie wird diese Angebotsseite typischerweise durch eine Regierung modelliert, deren oberstes Ziel es ist, an der Macht zu bleiben. Alle finanzwirtschaftlichen Beschlüsse sind auf eine größtmögliche politische Unterstützung durch die Steuerzahler ausgerichtet. Die individuelle Unterstützung der staatlichen Steuerpolitik hängt dabei aus der Sicht der politischen Machthaber von drei Faktoren ab. Erstens, vom Nutzen, den die bereitgestellten öffentlichen Güter stiften, sowie von der Einkommenseinbuße, die

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sich aus den entsprechenden Steuerabgaben ergibt. Zweitens, von Merkmalen, die die resultierende individuelle Netto-Wohlfahrtsposition in eine Wahrscheinlichkeit übertragen, für die Regierung zu stimmen. Und drittens, vom relativen politischen Einfluß der Individuen. Letzteres spielt auf die Beobachtung an, daß sich die formale Gleichheit des Wabirechts von der des tatsächlichen Einflusses unterscheidet; diejenige Bevölkerungsgruppe, die die größere politische Macht hat, ist auch zu einer größeren politischen Unterstützung imstande. Nimmt man alle drei Faktoren zusammen, so läßt sich das Regierungsverhalten als Maximierung einer gewogenen Summe der erwarteten Wählerstimmen interpretieren. Eine kritische Rolle für die Herausbildung eines Steuersystems spielt die Höhe der individuellen Einkommenseinbuße. Diese umfaßt neben der direkten Steuerzahlung auch die durch negative Anreizeffekte ausgelösten Zusatzlasten, die je nach gewählter Bemessungsgrundlage und individueller Ausweichreaktion ganz unterschiedlich ausfallen können. Aus dem Wechselspiel zwischen diesen Faktoren und den verfügbaren staatlichen Besteuerungsinstrumenten ergibt sich im politökonornischen Optimum die Bedingung einer Angleichung der aus einer marginalen Erhöhung der Steuereinnahmen resultierenden politischen Grenzopposition sowohl über alle Steuerbemessungsgrundlagen für jeden einzelnen Steuerzahler als auch über alle Steuerzahler für jede einzelne Bemessungsgrundlage. Das optimale Steuersystem entpuppt sich folglich als eine individuell maßgeschneiderte Steuerstruktur. Erste Einblicke in mögliche Gründe für die Komplexität der bestehenden Steuersysteme sind gewonnen. Das Thema Steuervereinfachung erscheint vor diesem Hintergrund schwer motivierbar: Ein kompliziertes Steuersystem erweist sich als politisch rational. 15 Natürlich kann die Analyse hier nicht stehenbleiben, denn der Preis für eine komplexe steuerliche Behandlung der Individuen und ihrer zahlreichen Aktivitäten ist hoch. In einem nächsten Schritt müssen daher die mit einem jeweiligen Steuersystem verbundenen Verwaltungskosten eingeführt werden. Letztere nehmen in der Regel mit der Zahl der im Optimum aufzuerlegenden Steuersätze zu. Eine kostendämpfende Maßnahme besteht daher in einer Gruppenbildung. Die einheitliche Besteuerung innerhalb einer Gruppe setzt administrative Mittel für die Erhöhung des öffentlichen Güterangebots frei, wodurch die Wahrscheinlichkeit der Wählerzustimmung vergrößert wird. Auf der anderen Seite bringt eine Klassenbildung den Nachteil mit sich, daß die politischen Grenzkosten einer Ausdehnung der Steuereinnahmen nun innerhalb der Gruppen und zwischen den Gruppen variieren, was wiederum die Opposition gegen die Abgabenbelastung steigen läßt.

15

Vgl. Hettich und Winer ( 1988).

118

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Der hier sichtbar werdende Balanceakt der Regierung erstreckt sich nicht nur auf eine politökonomisch optimale Wahl der Gruppenzahl hinsichtlich der Tarifklassen und Bemessungsgrundlagen, sondern auch auf alle übrigen Elemente des Steuersystems, wie z. B. Freibeträge, Abzugsmöglichkeiten und Anrechnungsbestimmungen. Auf diese Weise können die Kernmerkmale der bestehenden Steuersysteme und ihre Interdependenz aus einem relativ allgemeinen Ansatz der repräsentativen Demokratie erklärt werden. Bemessungsgrundlagen, Tarifstruktur und steuerliche Spezialvorschriften sowie ihre spezifischen Kombinationen entpuppen sich als Ergebnis eines politökonomischen Optimierungskalküls, das die Kosten der staatlichen Administration ebenso einbezieht wie die politischen und ökonomischen Reaktionen der Steuerzahler. Das Steuersystem ist vor diesem Hintergrund als eine austarierte Konstruktion anzusehen, die keineswegs nur aus einer Anhäufung unzusammenhängender Einzelteile besteht. Dies liefert neue und aufschlußreiche Einblicke in die staatliche Steuerpolitik. Kann man ein solches Steuersystem als effizient ansehen? Deutet man das Steuergefüge als langfristiges Gleichgewicht eines kompetitiven politischen Systems (Wettbewerbsdemokratie), in dem politische Opposition an die beschriebene Einkommenseinbuße geknüpft ist, dann wird es keine Partei oder Regierung geben, die ein alternatives Steuersystem mit derselben politischen Unterstützung bei gleichzeitig verringertem Wohlfahrtsverlust anbieten könnte. In diesem Sinne ist das System im Rahmen der gegebenen politischen Institutionen effizient. Das bedeutet freilich nicht, das andere Institutionen nicht ein besseres Steuersystem hervorbringen könnten - eine Erkenntnis, die in die bisherige Diskussion zur Steuerreform nicht wirklich eingegangen ist. VI. Staatsverschuldung Zunächst: Welche Argumente sprechen eigentlich für eine öffentliche Kreditfinanzierung? Um es kurz zu machen: nicht sehr viele. Genannt werden vor allem drei Aspekte: Kreditfinanzierte Defizite sollen Rezessionen überwinden helfen, Staatsverschuldung sei zur Steuerglättung geeignet, und eine öffentliche Kreditfinanzierung diene der intertemporalen Lastenverschiebung. Hinter dem ersten Argument verbergen sich keynesianische Wirkungsansichten, die - um es milde auszudrücken - umstritten sind. Aber selbst wenn man sich der keynesianischen Theorieposition anschließen würde, träfe dieses Konzept auf zahlreiche praktische Probleme. Der steinige Prozeß etwa vom Erkennen eines konjunkturellen Abschwungs bis zum parlamentarischen Beschluß von Gegenmaßnahmen kann zu unvorhersehbaren

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Verzögerungen führen, die es einer diskretionären Fiskalpolitik fast unmöglich machen, konjunkturelle Schwankungen abzufedern. Die Steuerglättungsthese ist auf Effekte zweiter Ordnung ausgerichtet, also auf durch Verhaltensverzerrungen erzeugte Wohlfahrtsverluste: Kann der Staat nicht auf das Instrument der Kreditfinanzierung zurückgreifen, dann müssen zeitliche Schwankungen der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben durch einen entsprechend variierenden Steuersatz aufgefangen werden; insbesondere bei hohem Finanzierungsbedarf entstünden dadurch beträchtliche Effizienzkosten. Diese könnten vermieden werden, wenn die Budgetengpässe mit Hilfe der Staatsverschuldung überbrückt würden. Auf diese Weise könnte die öffentliche Hand eine optimale zeitliche Verteilung der steuerlichen Zusatzlasten erreichen und damit zur kostenminimierenden Finanzierung der öffentlichen Ausgaben beitragen. Diese Sicht ist sowohl theoretisch als auch empirisch umstritten. 16 Hinter der Lastenverschiebungsthese schließlich steckt die Idee, daß eine Kreditfinanzierung der Staatsausgaben immer dann gerechtfertigt sei, wenn es sich um öffentliche Investitionsausgaben handelt. Investitionen bedeuten ja einen Konsumverzicht in der Gegenwart und einen Gewinn in der Zukunft; daher seien die Kosten einer öffentlichen Investition auch jenen aufzubürden, die die Nutznießer der staatlichen Investitionstätigkeit sind. So überzeugend dieses Argument klingen mag, so wenig haben sich die Regierungen de facto daran gehalten. Die enorme Zunahme der Staatsverschuldung in den letzten fünfzehn Jahren ist in keinem der betroffenen Industrieländer auch nur annähernd mit einem entsprechenden Anstieg der öffentlichen Investitionsausgaben einhergegangen. An dieser Stelle bietet sich ein Blick auf die quantitative Entwicklung der staatlichen Verschuldung an. Defizite und Schuldenberge haben in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen historische Ausmaße angenommen - und das nicht erst seit der deutschen Wiedervereinigung. Tabelle 3 gibt einen knappen Überblick über die Entwicklung der Gesamtverschuldung und die einhergehende Zinslast Die zur Bedienung der öffentlichen Schulden notwendigen Zinsausgaben sind mittlerweile zum drittgrößten Posten der Staatsausgaben aufgestiegen. Einen aussagefähigen Einblick in das Ausmaß der Staatsverschuldung zu gewinnen ist heute übrigens schwieriger denn je. Nicht nur gibt es eine Vielzahl von Abgrenzungsproblemen, sondern sowohl vor, als auch und insbesondere nach der deutschen Wiedervereinigung sind zahlreiche Nebenhaushalte ins Leben gerufen worden, was zu einem unübersichtlichen Nebeneinander verschiedener Träger der staatlichen Verschuldung geführt 16

Siehe u. a. Grilli et al. (1991 ).

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hat - siehe dazu Abbildung 4. Der aus dem ursprünglichen Kernhaushalt ausgegliederte Anteil der öffentlichen Kreditaufnahme belief sich 1997 auf knapp 24% der Gesamtverschuldung. Damit vereinten die Nebenhaushalte einen Anteil fast von der Größe der Bundesländer auf sich. Tabelle 3

Entwicklung der Verschuldung und der Zinsausgaben des Gesamthaushaltsa> Bundesrepublik Deutschland

Jahr

Verschuldung des Gesamthaushaltes

SchuldenStandsquote

Zinsausgaben Anteil der des Gesamt- Zinsausgaben haushaltes am BIP

(Spalte 4 (Spalte 2 (in Mrd DM) in% des BIP) (in Mrd DM) in %des BIP) 1

2

3

4

Zinslastquotec)

(in %)

5

6 1,66

1950

20,63

21,09

0,62

0,63

1960

52,76

17,43

1,92

0,63

1,95

1970

125,89

18,64

6,79

1,01

2,42

1980 1990 1996b)

468,61

31,83

29,35

1,99

3,99

1.053,49

43,43

64,63

2,66

5,66

2.129,34

60,13

129,53

3,66

6,95

a) Einschließlich Lastenausgleichsfonds, Auftragsfinanzierung Öffa, ERP-Sondervermögen. Ab 1990 einschließlich Fonds "Deutsche Einheit" und Kreditabwicklungsfonds, ab 1994 einschließlich Bundeseisenbahnvermögen und ab 1995 einschließlich Ausgleichsfonds Steinkohleneinsatz. Anfang 1995 sind die Schulden des Kreditabwicklungsfonds und der Treuhandanstalt auf den Erblastentilgungsfonds übergegangen. b) Teilweise geschätzt. c) Anteil der Zinsausgaben an den Gesamtausgaben des Staates. Quellen: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 1997/98, S. 326, Tab. 26, S. 348, Tab. 39, S. 352, Tab. 40, S. 357, Tab. 43; Jahresgutachten 1967/68, S. 296, Tab. 40, S. 306, Tab. 46. Statistisches Bundesamt (Hg.): Statistisches Jahrbuch 1997, Tabellen 20.1 und 20.3. Eigene Berechnungen.

Ob Trost oder nicht, die skizzierte Defizitentwicklung ist nicht auf die deutsche Volkswirtschaft beschränkt. Die finanzwirtschaftliche Situation in anderen Industrieländern ist kaum besser, wie ein vergleichender Blick auf Tabelle 4 zeigt.

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Bundesbahn 3.55%

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Ausgleochsfonds Sle1nkohlene1nsa1z 0.15%

Erblaslent•lgungsfonds 14 60%

Bund Fonds Dt E1nhe1t 3.70%

Lander 26 27%

Quelle: Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, April 1998

Abbildung 4: Kreditnehmerstruktur der Gesamtverschuldung (Bundesrepublik Deutschland, 1997).

Wenn es also keine wirklich überzeugenden Pro-Argumente für die öffentliche Kreditfinanzierung gibt (Näheres siehe v. Weizsäcker 1997), dann stellt sich natürlich die Frage, warum man eigentlich eine so anhaltende und übermäßige öffentliche Verschuldung in so vielen Ländern beobachtet. Handelt es sich hier wirklich um ein finanzwirtschaftlich rational eingesetztes Instrument? Zweifel sind angebracht. Der Widerspruch zwischen kurzfristigen Anreizen der repräsentativen Demokratie und langfristigen Erfordernissen der öffentlichen Finanzwirtschaft scheint ein Politikversagen auszulösen, in dessen Schlepptau sich die öffentlichen Schulden in einem bisher nicht gekannten Ausmaß aufgetürmt haben: These 5: Die Anreizmechanismen der Wettbewerbsdemokratie haben eine übennäßige Staatsverschuldung zur Folge.

Die Ausdehnung der öffentlichen Verschuldung ging und geht übrigens Hand in Hand mit einer ständigen Zunahme der Staatsquote. Damit wirft die skizzierte Entwicklung fundamentale Fragen nach der Grenze der finanzwirtschaftliehen Staatstätigkeit auf. Beachtet man zudem, daß eine fortgesetzte öffentliche Kreditaufnahme eine höhere Steuerbelastung langfristig nicht ersetzt, sondern diese hervorruft, dann stellt sich genau hier die Frage nach der Grenze des Steuerstaates. Die Staatsverschuldung diene daher in der Folge auch als pars pro toto für die aktuellen fiskalischen Probleme, deren Ursachen sowie deren mögliche Bewältigung.

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Tabelle 4

Staatsschuldenquote im internationalen Vergleich Land

Bruttoschuld des Staates in % des BIP 1997

Deutschland Belgien

60,5 127,2

Dänemark

66,8

Finnland

58,1

Frankreich Griechenland Großbritannien und Nordirland

57,8 106,9 54,1

Irland

69,0

Italien

123,3

Japan

90,8

Kanada

97,2

Luxemburg

6,5

Niederlande

74,5

Norwegen

36,7

Österreich

71,3

Portugal

66,3

Schweden

77,3

Spanien

69,8

USA

63,8

Quelle: Finanzbericht 1998, S. 346.

1. Machtsicherung und Mehrparteien-Koalition

Durch einen relativ unbegrenzten Zugang zum Kreditmarkt kann eine Regierung ihre Budgetrestriktion mit Hilfe eines Instruments lockern, das für den Bürger so gut wie undurchschaubar ist. Bezeichnenderweise sind in demokratisch regierten Industrieländern zwei Dinge unaufhörlich gestiegen: Die merklichen Ausgaben (Subventionen an Unternehmen und direkte Transfers an private Haushalte) und die unmerklichen Einnahmen (indirekte

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Steuern und die Staatsverschuldung). Eine empirisch nur schwer widerlegbare These könnte dann lauten, daß die merklichen Ausgaben (insbesondere kurz vor den Wahlterminen) angehoben werden, um Wählerstimmen zu gewinnen, und daß diese Leistungen mit unmerklichen Einnahmearten (vorzugsweise der Staatsverschuldung) finanziert werden, um keine Wähler zu verlieren. Die öffentliche Kreditaufnahme würde auf diese Weise als Spezialfall der unmerklichen Besteuerung zu Zwecken des politischen Machterhalts mißbraucht. Hierbei nutzte die jeweilige Regierung neben dem Umstand unvollständiger und asymmetrischer Information einen Aspekt der Staatsverschuldung besonders nachdrücklich aus: den der Lastenverschiebung. Denn mit Hilfe der öffentlichen Kreditaufnahme können die Staatsausgaben heute erhöht, gleichzeitig aber die Kosten der zusätzlichen Wohltaten jenen zugeschoben werden, die für die heutige Regierung als Wähler keine Rolle spielen. Denn diejenigen, die die Zinsund Tilgungslasten der gegenwärtigen Schuldenpolitik schließlich zu tragen haben, sind heute zum Teil noch gar nicht geboren. Diese wahltaktisch zweckentfremdete Lastenverschiebung hat natürlich nichts mehr gemein mit der Lastenverteilungsbegründung kreditfinanzierter öffentlicher Investitionsausgaben. Einen weiteren Einfluß nicht-ökonomischer Art ·üben politisch-institutionelle Faktoren wie z. B. das Parteiensystem aus. Im Rahmen der Verfassungsordnung müssen die politischen Parteien in ihren Entschlüssen ja frei und voneinander unabhängig sein. Doch gerade das scheint (insbesondere in Mehrparteien-Koalitionen) auf dem Rücken der Staatsverschuldung ausgetragen zu werden. Dazu einige (stilisierte) empirische Befunde: 17 Je größer die Parteien-Polarisierung in einer Mehrparteien-Koalition, desto größer die Verschuldungsneigung; je wahrscheinlicher die Abwahl der amtierenden Regierung, desto größer ihr Hang zur Kreditfinanzierung staatlicher Leistungen; je kürzer die durchschnittliche Amtszeit einer Regierung, desto größer die eingegangenen Defizite, und je größer die Zahl der Koalitionspartner, desto größer die Staatsverschuldung. Was steckt hinter diesen Beobachtungen? Hier eine mögliche Erklärung: Alle Koalitionspartner mögen Budgetkürzungen einer Fortführung großer Haushaltsdefizite vorziehen; jeder einzelne Koalitionspartner jedoch will seinen speziellen Budgetanteil (also z.B. die von seiner Partei verwalteten Ministerien) vor Kürzungen bewahren. Fehlen nun Anreize und Mechanismen, die eine kooperative Lösung dieses fundamentalen Gefangenen-Dilemmas bewirken könnten, dann wird die nicht-kooperative Lösung, die einfach darin besteht, das Budget an keiner Stelle zu kürzen, äußerst wahr17 Vgl. Roubini und Sachs (1989), Grilli et al. (1991), Alesina et al. (1993) sowie Poterba (1994).

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scheinlich. Dies um so mehr, je schwieriger der Einigungsprozeß ist; und der Einigungsprozeß ist natürlich in der Tat um so schwieriger, je größer die Polarisierung innerhalb einer Koalition, je wahrscheinlicher eine baldige Abwahl und je größer die Zahl der Koalitionspartner. Haushaltsdefizite und wachsende Schuldenberge sind damit auch ein Ergebnis der Schwierigkeiten des politischen Managements in Koalitionsregierungen. 2. Wahlsystem und strategisches Verhalten

Die letzte Überlegung verdeutlicht, daß das Wahlsystem eines jeweiligen Landes von nicht geringer Bedeutung für die Schuldenentwicklung ist. Ein uneingeschränktes Verhältniswahlrecht z. B. bringt tendenziell eine große Zahl von Parteien ins Parlament, während ein Mehrheitswahlrecht den kleineren Parteien den Sprung ins Parlament eher verwehrt. Die Häufigkeit von Koalitionsregierungen und die Zahl der dort beteiligten Parteien prägen indes, wie gesehen, die Verschuldungsneigung. Tatsächlich begegnet man hohen Schuldenbergen insbesondere in Ländern mit einem Verhältniswahlrecht. Ganz generell läßt sich folgendes beobachten: Ist die Macht verteilt, z. B. zwischen Bundestag und Bundesrat, zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, zwischen den politischen Parteien innerhalb einer Koalition, oder zwischen den Parteien als Folge der im Zeitablauf stattfindenden Machtwechsel, dann steigt die Wahrscheinlichkeit einer intertemporal ineffizienten Budgetpolitik sprunghaft an. 18 Woran mag das liegen? In all diesen Fällen der Machtaufteilung treten typischerweise strategische Faktoren auf den Plan. Im Rahmen des intertemporalen Wettbewerbs zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien kann die öffentliche Kreditaufnahme als eine Möglichkeit angesehen werden, den finanzwirtschaftliehen Handlungsspielraum der nachfolgenden Regierung zu beeinflussen. Droht der eigene Machtverlust, so kann die Budgetpolitik des politischen Gegners im Vorgriff erheblich beeinträchtigt werden, indem die noch amtierende Regierung ihrer Nachfolgeein einen hohen Schuldenberg hinterläßt Die daraus erwachsenden Zins- und Tilgungsverpflichtungen schränken die Gestaltungsmöglichkeiten der späteren Amtsinhaber ein; gleichzeitig werden die heutigen Wähler mit einem hohen Ausgabenniveau verwöhnt, das nach dem politischen Wechsel dann nicht mehr haltbar ist. Politökonomische Überlegungen dieser Art lassen die bestehenden politischen Institutionen in einem anderen Licht erscheinen und könnten zu einer Neubewertung des Wechselspiels zwischen repräsentativer Demokratie und staatlicher Finanzpolitik beitragen. 18

Siehe u.a. Beinemann (1994).

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Der intertemporale Parteienwettbewerb bildet übrigens nur eine der zahlreichen Plattformen des strategischen Mißbrauchs der öffentlichen Finanzen - wobei dem Ausbalancieren gegenwartsorientierter Interessengruppen jedesmal eine Schlüsselrolle zufällt. Doch auf welcher Ebene auch immer strategische Mechanismen Platz greifen, eines dürfte angesichts der geschilderten politökonomischen Einflüsse deutlich geworden sein: Ein finanzwirtschaftlich rationaler Gebrauch des Instruments Staatsverschuldung ist alles andere als gewährleistet. Aber wie kann ein verantwortungsvollerer Einsatz der öffentlichen Kreditaufnahme gesichert werden? Nach meiner Überzeugung kann der Verschuldungstrend nur durch eine Einwirkung auf die Anreizmechanismen der Wettbewerbsdemokratie selbst gestoppt werden. Diese Einwirkung könnte - auf der Verfassungsebene erfolgen, - sich auf das Budgetverfahren beziehen, - die Gestalt einer (intertemporalen) Budgetausgleichsvorschrift annehmen, - die Zweckbindung von Steuereinnahmen für Zins- und Tilgungsdienste beinhalten, - die Teil-Ausgliederung des Instruments der staatlichen Kreditaufnahme aus dem parteipolitischen Prozeß fordern - oder auf die supranationale Ebene verlegt werden. Auf einige dieser Aspekte möchte ich in der Folge kurz eingehen. 3. Verfassungsschranken

Grundlegend für das langfristige Funktionieren der Finanzdemokratie ist ein größeres öffentliches Bewußtsein für die Kostenseite staatlicher Leistungen. Niemand scheint heute genau zu wissen, was er an öffentlichen Leistungen konsumiert und was er dafür bezahlt. Ausdruck einer institutionellen Ordnung, die eine simultane Beachtung von Nutzen und Kosten beinhaltet, ist gerade die Forderung nach einem kurz- oder mittelfristig ausgeglichenen Staatsbudget Eine solche Restriktion sollte in die Verfassung eingebunden werden. Es sei betont, daß hier nicht notwendigerweise ein jährlicher Haushaltsausgleich zu verlangen ist. Auch andere, neuere Budgetkonzepte sind denkbar. Statt der jährlichen Budgetrestriktion könnte eine intertemporale Budgetbeschränkung des Staates zugrunde gelegt werden, die in diskontierter Form auch zukünftige Ausgaben- und Einnahmeströme erfaßt. Dies würde im Idealfalle eine volle Internalisierung der Kosten der Staatsverschuldung bedeuten. Hier sei auf das zukunftsweisende Konzept des Generational Accounting aufmerksam gemacht. 19 Übergangsweise könnte auch eine

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Begrenzung der Verschuldungsquote und/ oder der Zinslastquote gefordert werden. Der Zwang zum letztliehen Ausgleich des öffentlichen Haushalts hätte zur Folge, daß die finanzwirtschaftliche Last der Staatsverschuldung explizit an die Besteuerung zu koppeln wäre. Eine Aufnahme neuer Schuld müßte dann simultan mit einer Steuerplanung für Zinsendienst und Schuldentilgung einhergehen ("Schuldensteuer") - dies. ein weiterer Vorschlag. Obwohl man es vielleicht nicht für möglich hält: Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland bereits rechtliche Limitierungen der öffentlichen Verschuldung. Hier sei insbesondere der Artikel 115 GG genannt. Aus einem Bündel von Gründen, auf das ich aus Platzgründen nicht näher eingehen kann, hat sich diese Verfassungsgrenze der Staatsverschuldung jedoch als finanzpolitisch irrelevant erwiesen. Auch in den USA ist die Bilanz staatlicher Verfassungsgrenzen nicht sonderlich verheißungsvoll. Die bisher vorliegenden Erfahrungen sollten nicht zum Anlaß genommen werden, das Konzept einer konstitutionellen Begrenzung der Staatsverschuldung zu verwerfen. Potentielle Umgehungsmöglichkeiten z. B. sind zum Anlaß zu nehmen, Schattenhaushalte und Seitenfinanzierungen, aber auch mögliche Schlupflöcher im föderativen Staatsaufbau in die gesetzlichen Regelungen einzubeziehen. Ein positives Beispiel im europäischen Kontext liefert zudem die Schweiz. Dort gibt es auf Kantonsebene die institutionelle Möglichkeit, über die Einnahmenseite des öffentlichen Budgets direkt abzustimmen. Diese Referendumsmöglichkeit hat bis heute eine beachtliche Ausgabendisziplin und damit eine Kontrolle des Gesamtbudgets zur Folge.

4. Budgetverfahren Umfangreiche Haushaltsuntersuchungen konnten jüngst verdeutlichen, daß auch das Budgetverfahren selbst aussichtsreiche Ansatzpunkte zu institutionellen Reformideen liefert. 20 Eine höhere Verschuldungsneigung geht insbesondere von zwei Feldern potentieller Interessenkonflikte aus. Zum einen handelt es sich um den typischen Wettstreit zwischen kurz- und langfristigen Zielen der Budgetpolitik. Verfahrensregeln, die den langfristigen Aspekten der Finanzpolitik ein größeres Gewicht einräumen, scheinen geeignet, den Hang zur staatlichen Kreditfinanzierung etwas zurückzuschrauben. Zum anderen spielt der Konflikt zwischen Gemeinschafts- und Sonderinteressen eine bedeutende Rolle. Typischerweise ist die Gruppe der Nutznießer staatlicher Ausgabenprogramme kleiner als die der Steuerzahler. Die politischen Interessenvertreter neigen daher dazu, den gesamtgesell19

20

Siehe dazu Auerbach et al. (1991 und 1994). Vgl. insbesondere v. Hagen (1994, 1998) und Poterba (1996).

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schaftliehen Nettovorteil der von ihnen verantworteten Ausgaben zu überschätzen. Aus dieser Beobachtung läßt sich die Erwartung ableiten, daß eine institutionelle Eingrenzung des Budgeteinflusses von Sonderinteressen zu größerer fiskalischer Disziplin und damit zu geringeren Defiziten und Schuldenbergen führen würde.

5. Teil-Ausgliederung Die Forderung nach einer institutionellen Reform kann noch . auf eine ganz andere Weise begründet werden. Wie zuvor bereits betont, muß eine Anhebung der Staatsausgaben letztlich durch eine Anhebung der Steuern finanziert werden; die Wahl zwischen einer Steuer- und einer Kreditfinanzierung ist in Wahrheit nur eine Wahl des Timings der Besteuerung, nicht aber eine Wahl zwischen höheren Steuern und Steuervermeidung. Im allgemeinen ist der Zeitabschnitt dieses "Timings" größer als der wahltaktisch begründete Zeithorizont demokratisch gewählter Regierungen. Diese Zeitinkonsistenz verleitet die an Machterhalt interessierten Regierungen, aber auch die auf Gegenwartskonsum fixierten Wähler, zu irreversiblen Vermögensumverteilungen zu Lasten zukünftiger Generationen. Der Zeithorizont der Wähler spielt also ebenfalls eine wesentliche Rolle. Damit gewinnt im politökonomischen Prozeß ein bisher wenig beachteter Faktor an Bedeutung: die Altersstruktur der Bevölkerung. Gegenwartsorientierte Wähler ziehen eine Kreditfinanzierung öffentlicher Leistungen einer Steuerfinanzierung insbesondere dann vor, wenn sie damit rechnen, daß die Zins- und Tilgungsphase außerhalb ihrer eigenen ökonomischen Lebenszeit liegt. Die insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland zu beobachtende Überalterung der Bevölkerung (vgl. Abschnitt 1) verkürzt diese durchschnittliche Restzeit und erhöht damit die generelle Präferenz für eine staatliche Verschuldung? 1 Eine entsprechende Vorverlagerung von Ressourcenansprüchen zeichnet sich als geradezu unvermeidliche Folge ab. Wie könnte sie unterbunden werden? Wer ist daran überhaupt interessiert? Die später Betroffenen können ihre Interessen heute noch nicht artikulieren; zum größten Teil sind sie noch gar nicht geboren. Eine indirekte Beteiligung am heutigen politischen Prozeß ist nur über eine konstitutionelle Begrenzung der Staatsverschuldung denkbar. Jedoch: Wenn es konstitutio21 Ein weiterer Wähleraspekt tritt hinzu. Während eine Steuer durch den unmittelbaren Eingriff in die verfügbare Einkommensposition des Wählers eine persönliche Verbindlichkeit darstellt, wird durch die Kreditfinanzierung diese Verbindlichkeit sozialisiert. An die Stelle der individuellen Verpflichtung tritt eine Verbindlichkeit der Allgemeinheit, der man sich gegebenenfalls sogar durch Auswanderung entziehen kann. Auch dieser Umstand läßt die Staatsverschuldung gegenüber der Besteuerung als das attraktivere Finanzierungsinstrument erscheinen.

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neller Vorschriften bedarf, um zukünftige Bürger zu schützen, wie können solche Vorschriften heute eingeführt werden? Dies hängt entscheidend von der Haltung der gegenwärtigen Wähler ab; sie bestimmen über den politischen Rückkopplungsprozeß, ob die Mechanismen repräsentativer Demokratien zu einer Ausbeutung zukünftiger Steuerzahler führen oder nicht. Ein Konsolidierungsdruck von finanzpolitischem Gewicht wird freilich nur dann entstehen, wenn es individuelle Bindungen an die Zukunft gibt. Eine natürliche Brücke zur Zukunft sind z. B. Kinder. Je größer der Bevölkerungsanteil kinderloser Personen, desto geringer, ceteris paribus, das durchschnittliche Interesse an fernen Finanzierungsfragen. Medizinischer Fortschritt, materieller Wohlstand und veränderte Wertmaßstäbe haben in vielen hochentwickelten Volkswirtschaften in der Tat zu einem drastischen Geburtenrückgang geführt. Ein Fortgang dieser demographischen Entwicklung höhlt noch so kunstvolle Konzepte eines intergenerationeBen Altruismus aus und läßt Verfassungsgrenzen der Staatsverschuldung immer dringlicher werden. Indes: Welche Mehrheit soll am Ende noch für eine verfassungsmäßige Budgetausgleichsvorschrift eintreten? Hier manifestiert sich eine besorgniserregende Zukunftsschwäche der Wettbewerbsdemokratie. Eine radikale konstitutionelle Reform bestünde in einer Teil-Ausgliederung des Instruments der öffentlichen Kreditaufnahme aus dem politischen Prozeß. Während die Gestaltung der öffentlichen Ausgaben und Steuereinnahmen nach wie vor der jeweiligen Regierung überlassen bliebe, wären dem Gesamthaushalt exogene Kreditgrenzen gesetzt (sei es in Form eines mittelfristigen Budgetausgleichs oder in Form einer nicht zu überschreitenden Verschuldungsquote), deren Kontrolle einer unabhängigen Institution zu übertragen wäre, z. B. dem Bundesrechnungshof.

6. Europäische Wirtschafts- und Währungsunion

Anknüpfend an den letzten Gedanken: Auch eine supranationale Kontrollebene käme in Betracht. Möglicherweise könnte auf dieser Ebene auch das Problem der Umsetzung konstitutioneller Reformen eher gelöst werden. Innerstaatliche, politökonomische Verzerrungen haben einen maßgeblichen Anteil am Schuldenwachstum; wie oben erörtert, neigen Regierungen in repräsentativen Demokratien systembedingt zur Staatsverschuldung. Welche Reformidee man auch immer in diesem Kontext vorträgt: ein Problem bleibt das der politischen Umsetzung. Wie können die Anreizmechanismen der Wettbewerbsdemokratie glaubwürdig verändert werden, wenn eine auf öffentliche Budgetdisziplin ausgerichtete Reform den Interessen der gegenwärtigen Amtsinhaber zuwiderläuft?

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Eine Idee, das innerstaatliche Glaubwürdigkeitsproblem zu überwinden, besteht darin, die Kreditkontrolle (in welcher Ausformung auch immer) an eine unabhängige, internationale Institution zu delegieren. Bindende externe Regeln, wie sie sich etwa in den Quotenvorgaben des Maastrichter Unionsvertrages wiederfinden, könnten innerstaatliche politische Verzerrungen korrigieren und damit im weitesten Sinne wohlfahrtssteigernd wirken effektive Sanktionsmechanismen natürlich vorausgesetzt. Die gegenwärtigen Amtsinhaber lassen sich gewissermaßen die Hände von außen binden, so daß ihre Wiederwahlchancen durch "erzwungene" Steueranhebungen oder Ausgabeneinsparungen nicht geschmälert werden. Externe Bindungsregeln haben freilich auch ihren Preis. Sie erfordern einen nicht leicht zu findenden Kompromiß zwischen Glaubwürdigkeit und Flexibilität der Finanzpolitik. Innerstaatliche Konstellationen mögen zum Zwecke der Steuerglättung oder Rezessionsbekämpfung eine Defizitpolitik erfordern, die durch ebendiese Regeln vielleicht verhindert wäre. Das Thema öffentliche Kreditaufnahme ist damit sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene stets Ausdruck eines grundsätzlichen Konflikts zwischen Verhaltensvorschrift und Verfügungsfreiheit - ein kritischer Balanceakt für jeden Neuentwurf adäquater Institutionen.

VII. Ausblick Die insbesondere am Beispiel der Staatsverschuldung aber auch für die Bereiche der Rentenversicherung, des Steuersystems und des Bildungswesens erörterte Verzahnung von ökonomischer und politischer Wissenschaft hat einen fundamentalen Konflikt zwischen dem Eigeninteresse ökonomischer und politischer Akteure einerseits und der gesellschaftlichen Wohlfahrt andererseits offengelegt Dieser wird durch die bereits erfolgte und sich weiter abzeichnende demographische Entwicklung noch verschärft. Nimmt man zu der Altersstrukturverschiebung die neuesten Generationenbilanzen hinzu, 22 so besteht vor dem Hintergrund der gegebenen Institutionen wenig Hoffnung auf eine politökonomische Trendwende.23 Die für eine mögliche Lösung vieler finanzpolitischer Probleme notwendige Selbstverpflichtung zentraler Regierungsinstitutionen, einen effizienten Anreizmechanismus einzuführen, der nicht im ureigenen Regierungsinteresse ist, scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein - und das nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland. Wie eine Regierung etwa durch konstitutionelle Schranken oder soziale Normen gebunden werden kann und wie Vgl. Raffelbüschen und Walliser (1997). Ein weiteres Argument für ein indirektes, über die Eltern auszuübendes Kinderstimmrecht. 22 23

9 Speyer 133

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Die drei Demokratien der Bürgerkommune Von Gerhard Banner

I. Lokale Demokratie in Distanz zum Bürger 1. Die Bürgerkommune: Ziel und Auftrag der kommunalen Selbstverwaltung Paragraph 40 Absatz 1 der Gemeindeordnung für Nordrhein-Westfalen lautet: "Die Verwaltung der Gemeinde wird ausschließlich durch den Willen der Bürgerschaft bestimmt"'. Diese Vorschrift, die man wegen ihres grundlegenden Charakters im ersten Paragraphen der Gemeindeordnung erwarten würde, macht den Bürgerwillen zum obersten Maßstab der Kommunalpolitik. Um diesem Maßstab gerecht zu werden, müssen die örtlich Verantwortlichen in allen wichtigen Fragen den Bürgerwillen kennen und ihn bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. "Berücksichtigen" bedeutet nicht, daß dem artikulierten Bürgerwillen in jedem Fall Rechnung zu tragen wäre. Das Gemeinwohl oder die Gesetze können im Einzelfall eine vom Bürgerwillen abweichende Entscheidung der Gemeindevertreter notwendig machen. Der Vorrang des Bürgerwillens ist ein allgemeiner Grundsatz des Kommunalrechts, der auch denjenigen Gemeindeordnungen innewohnt, die ihn gar nicht oder weniger markant formulieren als Nordrhein-Westfalen und Brandenburg; denn zwischen den Bundesländern gibt es keine Abstufungen der kommunalen Demokratiequalität. Demokratie heißt Regierung für das Volk und durch das Volk. Die Regierungssysteme aller politischen Ebenen sind verpflichtet, diesem Zustand so nahe wie irgend möglich zu kommen. Da die Kommunen auf weite Strecken dem Willen ihrer Bürger punktgenauer Rechnung tragen können, als dies den Ländern oder dem Bund möglich ist, haben sie dieses zusätzliche Demokratiepotential zu verwirklichen. Erschließen läßt es sich durch eine bürgerorientierte Optimierung des reprä1 Alltagssprachlich und auf Anhieb verständlich formuliert § 32 Abs. 1 der brandenburgischen Gemeindeordnung: "Das Handeln der Gemeinde wird ausschließlich durch den Willen der Bürgerschaft und die Gesetze bestimmt". Der Hinweis auf die Gesetze ist redundant, da bereits das Grundgesetz die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht bindet (Art. 20 Abs. 3).

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sentativen Demokratiemodells und durch seine Ergänzung durch direktdemokratische und kooperationsdemokratische Elemente (Regierung durch das Volk). Der Rechtsgrundsatz vom Vorrang des Bürgerwillens normiert einen Gemeindetypus, für den sich analog zur Rede von der Zivil- oder Bürgergesellschaft der Ausdruck Bürgerkommune durchzusetzen scheint. Das zentrale Anliegen der Bürgerkommune ist eine primär bürgerorientierte Kommunalpolitik. Um es zu verwirklichen, bedarf es einer hohen Qualität der Beziehungen zwischen Rathaus und Bürgerschaft, einer Qualität, die von der Suche nach kommunikativer Nähe statt bürokratischer Distanz zwischen den Partnern geprägt ist. Ein weiteres muß hinzukommen: Um ihre Politik am Bürgerwillen ausrichten zu können, muß eine Kommune dauerhaft handlungsfähig sein. Zur nachhaltigen Handlungs- oder Politikfähigkeit gehören finanzieller Spielraum der einen ausgeglichenen Haushaltsplan voraussetzt -, eine an den realen Möglichkeiten orientierte, konsequent verfolgte Entwicklungsstrategie und die Fähigkeit, bei den Bürgern Interesse und Engagement für die kommunalen Angelegenheiten zu wecken, um auf diese Weise den sich verstärkenden Desintegrationserscheinungen der örtlichen Gemeinschaft entgegenzuwirken. Der Auftrag an die lokale Demokratie lautet also, die drei Ziele bürgerorientierte Kommunalpolitik, politische Handlungsfähigkeit und hohe Beziehungsqualität gleichzeitig optimal zu verwirklichen. Dies ist ein anspruchsvoller Auftrag, der jedoch mit Anstrengung und Ideenreichtum erfüllbar ist.

2. Der politisch-administrative Komplex hält die Bürger auf Distanz Der Hinweis auf den Vorrang des Bürgerwillens - anders ausgedrückt: auf die Idee der Bürgerkommune - ist ein beliebtes Versatzstück für kommunale Sonntagsreden. Allerdings sind wir von Kommunalverwaltungen und -Vertretungen, die bei allen ihren Entscheidungen konsequent vom Bürgerwillen ausgehen (was eine Kommunalpolitik erfordert, die sich im ständigen Dialog mit der Bürgerschaft entwickelt), noch ein ganzes Stück entfernt. Die Verwaltungsapparate orientieren ihre Entscheidungen vorrangig nicht am Bürgerinteresse, sondern an fachlich-professionellen Zielen und Standards und an den Eigeninteressen ihrer Beschäftigten. Ein Beispiel ist die Schwierigkeit, publikumsfreundliche Öffnungszeiten durchzusetzen. Aber auch die gewählten Bürgervertreter, die Kommunalpolitiker, sind noch nicht primär bürgerorientiert. Bei ihnen steht die Verwaltungs- und Parteiorientierung häufig im Vordergrund. Bundespräsident Johannes Rau, der auf jahrzehntelange Erfahrungen in der Kommunal- und Landespolitik zurückblickt, hat sich dazu wie folgt geäußert: "Eine politische Partei, die

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ihre führenden Funktionäre von montags morgens bis sonntags abends so beschäftigt, daß die Gefahr der Begegnung mit dem Bürger erst gar nicht mehr entsteht, die muß ihre Gremienarbeit überprüfen. Da ist etwas nicht in Ordnung". Die SPD, verlangt Rau, müßte "raus vor den Bürger in die Vereine, in die Nachbarschaft, in die Bürgerinitiative gehen. Das ist der Ernstfall der Demokratie, nicht aber die Ortsvereins- oder Delegiertenversammlung" (FAZ vom 20. Juli 1987). Diese Kritik trifft alle politischen Parteien. Eine englische Untersuchung hat ergeben, daß kommunale Volksvertreter sich nur zu 18% der insgesamt für das Mandat aufgewendeten Zeit mit Problemen ihrer Wähler beschäftigen (Audit Commission 1990). Die obersten Entscheider der Kommune bilden vielerorts eine geschlossene Gesellschaft, einen politisch-administrativen Komplex (PAK), der sich auf weite Strecken um sich selbst dreht und sich innerlich von den wirklichen Problemen der Bürger abgekoppelt hat. Dabei beabsichtigt er keineswegs, Bürgerinteressen zu ignorieren; er ist vielmehr davon überzeugt, mit seiner "hermetischen" Arbeitsweise dem Wohl der Bürger am besten zu dienen und sieht zu ihr keine Alternative. Diese Arbeitsweise, die die Bürger (mit Ausnahme der Vertreter durchsetzungsstarker Interessen) systematisch auf Distanz zu den Entscheidungsprozessen hält, gerät jedoch immer mehr unter Rechtfertigungsdruck. Darauf reagiert der PAK mit einer Reihe von Standardargumenten: - "Man kann nicht mit jedem reden, das macht handlungsunfahig und führt ins Chaos; daher ist unsere Demokratie aus gutem Grund repräsentativ". (Warum nicht wenigstens mit den unmittelbar Betroffenen reden? Wer hat die Haushaltspläne, deren Überschuldung heute viele Kommunen handlungsunfähig macht, eigentlich beschlossen? Ist der Repräsentationsgrundsatz ein Freibrief für die Mandatsträger, ohne wirkliche Kenntnis der Meinung der Vertretenen Politik zu machen?) - "Die Probleme sind zu komplex, um sie den Bürgern zu erklären, und außerdem interessieren sich die Bürger nicht dafür". (Weshalb gibt es dann so häufig nachträgliche Proteste gegen Entscheidungen, die der PAK den Bürgern vorgesetzt hat?) - "Wenn man die Bürger fragt, wie sie es gern hätten, animiert man sie nur zu zusätzlichen Forderungen, die nicht finanzierbar sind". (Befragt man die Bürger detailliert unter gleichzeitiger Offenlegung der Zwänge, denen die Kommune unterliegt, dann zeigt sich immer wieder, daß sie durchaus auch Leistungsreduzierungen zu akzeptieren bereit sind). Obwohl diese Standardeinwände gegen einen bürgerzugewandten Politikstil gelegentlich ein Kömehen Wahrheit enthalten, führt das von ihnen vermittelte Bild eines grundsätzlich uninteressierten, unreifen und egoistischen Bürgers, dessen Beteiligung die vernünftige kommunalpolitische Linie des PAK nur stören würde, in die Irre. Einer wachsenden Zahl kommunaler

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Entscheider ist das inzwischen auch bewußt. Daher hat in den letzten Jahren die Einsicht an Boden gewonnen, daß eine situationsgerecht organisierte, rechtzeitige Einbeziehung der Bürger in wichtige kommunalpolitische Entscheidungen zwar die eine oder andere Entscheidung verzögert, sie dafür aber akzeptabel macht und vor nachträglicher Infragestellung durch Bürgerproteste schützt, so daß am Ende kein Verlust, sondern ein Gewinn an politischer Handlungsfähigkeit herauskommt. 3. Institutionelle Etappen auf dem Weg in die Bürgerkommune

In der unmittelbaren Nachkriegszeit war das auf kommunaler Ebene vorherrschende Demokratieverständnis lupenrein repräsentativ. Bei der Wahl der Volksvertreter dominierte die starre Parteiliste, was jeden echten Einfluß der Wähler auf die Person der Gewählten ausschloß. Direktdemokratische Sachentscheidungen der Bürger im Wege von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid wurden unter Hinweis auf die vermeintlich so negativen Weimarer Erfahrungen mit diesen Instrumenten beargwöhnt. Erst recht fehlte es für die Idee einer dialogorientierten kooperativen oder "partizipativen" Entwicklung der lokalen Politik durch die gewählten Repräsentanten und die Bürger gemeinsam am Verständnis, an den Vorbildern und damals vielleicht auch an den dafür geeigneten Bürgern2 . Nach diesem Demokratieverständnis gebührte der Volksvertretung das kommunalpolitische EntscheidungsmonopoL Die schrittweise Ermächtigung (empowerment) der Bürger, die seit dem Ende der sechziger Jahre in Gesetzgebung und kommunalpolitischer Praxis zu beobachten ist, hat die ursprünglich rein repräsentative Vorstellungswelt der Mandatsträger und ihrer Parteien so weit aufgelockert, daß weitere Entwicklungsschritte in Richtung auf die Bürgerkommune plausibel, ja vorgezeichnet erscheinen. Die Kommunalverwaltung befindet sich unübersehbar in einem Demokratisierungsschub. Dabei präsentieren sich die drei Demokratiemodi repräsentativ, direkt und kooperativ in unterschiedlichem Entfal2 In der Literatur hat sich keine einheitliche Terminologie herausgebildet. Der Ausdruck partizipative Demokratie suggeriert, daß den Bürgern eine Beteiligung an den politischen Entscheidungen "gewährt" wird, eine Vorstellung, die davon ausgeht, daß die Repräsentanten den sie wählenden Bürgern übergeordnet sind. Eine Kommune, deren Handeln "ausschließlich durch den Willen der Bürgerschaft bestimmt" wird, sieht aber die Bürger und nicht ihre gewählten Vertreter an der ersten Stelle. Da es den Bürgern jedoch an nachhaltiger, institutionell gestützter Handlungsfähigkeit fehlt, können sie ihrem Willen nur in Zusammenarbeit mit den zu ihrer Vertretung Berufenen, die über diese Handlungsfähigkeit verfügen, Geltung verschaffen. In der Praxis der Bürgerkommune kommt es zu einer quasi gleichberechtigten Kooperation, auf die der Ausdruck kooperative Demokratie am besten paßt.

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tungszustand. Am stärksten hat sich der repräsentative Modus der Idee der Bürgerkommune angenähert. Den direkten Modus kann nur eine Generalüberholung aus seinem Nischendasein befreien und zu einem wirksamen Politikfaktor machen. Daneben gewinnt der lange Zeit unscheinbare kooperative Modus verhalten aber stetig Terrain. Im Prozeß der Auflockerung und Demokratisierung des rein repräsentativen Systems lassen sich zwei Stränge unterscheiden. Der eine wertet die Bürger als Wähler auf, indem er ihnen Einfluß auf die Person der kommunalen Vertreter und damit einen mittelbaren Zugriff auf das Handeln der Kommune gibt. Der zweite, weitergehende Demokratisierungsstrang zielt auf unmittelbaren Politikeinfluß der Bürger und lädt sie ein, Akteure der Kommunalpolitik zu werden.

II. Der Bürger als Wähler: Seine Aufwertung durch Optimierung der repräsentativen Demokratie I. Das baden-württembergische Modell und der Erdrutsch im Kommunalverfassungsrecht

Baden-Württemberg und Bayern sind die ersten Bundesländer, die ihren Gemeindebürgern Einfluß auf die Auswahl der kommunalen Repräsentanten und damit indirekt Einfluß auf die Inhalte der Kommunalpolitik eingeräumt haben. In beiden Ländern werden seit der Nachkriegszeit die Bürgermeister vom Volk gewählt, und in beiden haben seither die Bürger die Möglichkeit, bei der Wahl der Gemeindevertretungen bestimmte Bewerber zu begünstigen (Kumulieren) und Listen zu mischen (Panaschieren). Die Bürger können also die Zusammensetzung der Vertretungen abweichend vom Willen der Parteien, der sich in der Reihenfolge der Bewerber auf der Liste ausdrückt, gestalten. Dabei ist Baden-Württemberg in zwei Punkten weiter gegangen als Bayern: Es hat dem Bürgermeister eine deutlich stärkere Rechtsstellung eingeräumt, und es war das erste und jahrzehntelang das einzige Land, das sich der direktdemokratischen Instrumente Bürgerbegehren und Bürgerentscheid bediente. Dieses für die damalige Zeit beispielhafte Maß an Bürgerermächtigung ging Hand in Hand mit einer außergewöhnlichen politischen Handlungsfähigkeit Nur in Baden-Württemberg und Bayern ist es den Städten jahrzehntelang gelungen, Haushaltsdefizite zu vermeiden und so ihre kommunalpolitischen Handlungsspielräume zu bewahren. Dieses Gefälle zu den übrigen Bundesländern ist auch heute noch deutlich erkennbar (Deutscher Städtetag 1999: 190f.). Besonders das baden-württembergische Beispiel zeigte, daß weitgehende Volksrechte und hohe politische Handlungsfähigkeit (anders ausgedrückt: Demokratie und Effizienz) sich keineswegs prinzipiell aus-

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schließen, sondern bei zweckmäßigem Institutionendesign gut miteinander vereinbar sind3 . Inzwischen hat im Kommunalverfassungsrecht ein Erdrutsch stattgefunden (dokumentiert in von Arnim 1997). Sein Ergebnis: die Bürgermeister werden jetzt - einzige Ausnahme ist Bremerhaven - überall vom Volk gewählt, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid sind flächendeckend eingeführt und das personalisierte Kommunalwahlrecht mit Kumulieren und Panaschieren hat sich stark verbreitet. Das Signal für den sich anbahnenden Wandel war die hessische Volksabstimmung vom 20. Januar 1991, in der sich 82% der Abstimmenden für die Direktwahl der Bürgermeister und Landräte aussprachen. Nun war offenbar, wie die Bürger dachten, und fortan reichte die Drohung der jeweiligen Landtagsopposition mit einem (nach den Landesverfassungen möglichen) Volksbegehren auf Landesebene aus, die Regierungsmehrheit zum Einlenken zu bringen. Das spektakulärste Beispiel hierfür ist Nordrhein-Westfalen (dazu eingehend Kleinfeld 1996: 73ff.). Wichtige Impulse gingen auch von den fünf neuen Ländern aus, deren Bevölkerung die Bürgermitwirkung an der Politik besonders hoch bewertete und die allesamt die Volkswahl der Bürgermeister, ein personalisiertes Wahlrecht sowie Bürgerbegehren und Bürgerentscheid einführten. Damit wurde der Widerstand einiger Landtagsmehrheiten in den westlichen Bundesländern vollends unhaltbar. Angesichts der vielbeschworenen deutschen Reformunfähigkeit mag der Erdrutsch im Kommunalverfassungsrecht überraschen. Das Bemerkenswerte und möglicherweise für die Zukunft Lehrreiche des Vorgangs ist, daß sich hier der Mehrheitswille der Bürger gegen die der Reform zumeist innerlich abgeneigten Landes- und Kommunalpolitiker durchgesetzt hat.

2. Baden-Württemberg: Die repräsentative Demokratie steht schon jetzt voll im Dienst der Bürgerkommune Gegenstand der repräsentativen Demokratie ist die Wahl und die Kompetenzausstattung der Vertreter der Bürgerschaft. Zu ihnen zählen neben den Gemeindevertretern auch die volksgewählten Bürgermeister (§ 40 Abs. 2 Satz 1 der Gemeindeordnung für Nordrhein-Westfalen: "Die Bürgerschaft wird durch den Rat und den Bürgermeister vertreten")4 . Bislang hat nur 3 In der Diskussion um die Modernisierung der Kommunalverfassungen, die vom Beginn der achtziger bis zum Beginn der neunziger Jahre dauerte, bot es sich daher an, der besonders bürgerfernen und steuerungsschwachen Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen die besonders bürgernahe und steuerungsstarke Gemeindeordnung Baden-Württemberg entgegenzustellen (Banner 1984 und 1989). Diese Polarisierung hat der Diskussion Kontur gegeben und die Aufmerksamkeit auf die entscheidenden Modernisierungshebel gelenkt.

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Baden-Württemberg eine Ausgestaltung der repräsentativen Demokratie gefunden, die voll zur Verwirklichung der Bürgerkommune beiträgt. Zwar liegt, was die Wirkung des repräsentativen Institutionenarrangements auf das Kriterium bürgerorientierte Kommunalpolitik betrifft, Bayern mit Baden-Württemberg etwa gleichauf, doch nimmt Baden-Württemberg beim Kriterium politische Handlungsfähigkeit der Gemeinde eindeutig den Spitzenplatz ein. Der Grund für die starke Bürgerorientierung liegt im ausgeprägt personalisierten Wahlmodus der Gemeindevertreter, der die Aufstellung bürgerzugewandter, kommunikativer Bewerber für die Parteien lohnend macht, sowie in der Urwahl der Bürgermeister. Wahlentscheidend für beide Personengruppen ist ihr Ansehen bei den Bürgern und erst in zweiter Linie ihr Status in der eigenen Partei. Die Gemeindevertreter und in noch stärkerem Maße die Bürgermeister sind daher auf engen Kontakt mit ihren Wählern bedacht. In ihren regelmäßigen Sprechstunden sind die Bürgermeister auch für nicht organisierte Normalbürger ansprechbar. Volksgewählte Bürgermeister wenden viel mehr Zeit für das persönliche Gespräch mit den Bürgern auf als ihre früheren indirekt gewählten Kollegen (Wehling 1984: 20). Beim Thema politische Handlungsfähigkeit der Gemeinde muß man weiter ausholen. Politische Handlungsfähigkeit bedarf der Aktualisierung durch persönliche Führung. Wenn Baden-Württemberg in diesem Punkt die Spitzenposition einnimmt, so deswegen, weil die Gemeindeordnung den in der Urwahl als solcher angelegten besonderen Handlungsspielraum des Bürgermeisters noch erweitert. Diesen außergewöhnlichen Spielraum kann er in politische Handlungsfähigkeit seiner Gemeinde umsetzen. Er wird das, weil seine Wähler es von ihm erwarten, im Zweifel auch tun. Zunächst jedoch zu den Potentialen, die in der Urwahl als solcher angelegt sind: Die Urwahl macht - ein in der kommunalverfassungsrechtlichen Diskussion bislang wenig beachteter Gesichtspunkt - die Bildung fester Koalitionen im Prinzip entbehrlich. Um dies zu verstehen, ist ein Blick auf den bisherigen Normalfall, die indirekte Wahl der Bürgermeister, nützlich: Ein populärer Bürgermeister war für seine Partei schon immer ein unschätzbarer Startvorteil für die nächste Kommunalwahl. Das macht die Bürgermeisterposition zum Hauptgewinn im kommunalpolitischen Spiel. Da absolute Mehrheiten selten geworden sind, mußte die stärkste Fraktion Partner 4 Zahlreiche Autoren zählen auch Personalentscheidungen des Volkes, d. h. Wahlen, und hier besonders die Direktwahl der Bürgermeister und ein personalisiertes Wahlrecht, zur direkten Demokratie (statt vieler von Arnim 1990: 85ff. und Knemeyer 1997: 42ff.). Hier wird stattdessen dem überwiegenden Verständnis der Alltags- und Politiksprache gefolgt, wonach die repräsentative Demokratie mit den Entscheidungen der Bürger über ihre Repräsentanten und die direkte Demokratie ausschließlich mit den Sachentscheidungen der Bürger befaßt ist.

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suchen, die bereit waren, den von ihr vorgeschlagenen Bürgermeisterkandidaten mitzuwählen. Der Preis für die Partnerstimmen war häufig eine feste, für die Dauer der Wahlperiode abgeschlossene Koalitionsvereinbarung. Feste Koalitionen schränken die kommunalpolitische Handlungsfähigkeit jedoch in mehrfacher Hinsicht ein: - Die Koalitionäre vereinbaren ein Politikprogramm und schließen zugleich Abstimmungen mit wechselnden Mehrheiten aus. Ein politischer Kurswechsel, mag er wegen veränderter Verhältnisse noch so sinnvoll sein, ist daher nur möglich, wenn ihm alle Partner zustimmen. Ist die Einigung nicht zu erreichen und will die dominierende Fraktion die Koalition nicht platzen lassen, weil sie keine Alternative sieht, ist sie gezwungen, eine in ihren Augen falsche Politik fortzusetzen. Auch Einzelentscheidungen unterliegen dem Gesetz des kleinsten gemeinsamen Koalitionsnenners. Im Ergebnis neigen Koalitionen dazu, die strategischen und taktischen Spielräume einzuengen und politische Stagnation zu begünstigen. - Sämtliche Koalitionspartner versuchen, ihre Wünsche im Koalitionsvertrag unterzubringen. Diese Wünsche kosten in der Regel Geld. Ihre Addition kann schnell zur Überschuldung des Haushalts und damit zur politischen Handlungsunfahigkeit führen. Wird hingegen der Hauptgewinn Bürgermeister nicht zwischen den Fraktionen ausgehandelt, sondern unmittelbar von den Wählern bestimmt, entfällt der Hauptgrund für die Bildung einer Koalition5 . Der Wegfall des Zwangs, ein ausgehandeltes Politikprogramm verwirklichen und zu diesem Zweck Fraktionsdisziplin üben zu müssen, macht die örtliche Politik beweglicher und kompromißfähiger. Ein personalisiertes Wahlrecht mit Kumulieren und Panaschieren verstärkt diesen Trend, indem es selbstbewußte, weniger parteiabhängige Gemeindevertreter erzeugt. Nun bedeutet prinzipielle Politikfahigkeit nicht schon hohe Problemlösungsfahigkeit, denn Gestaltungspotential aktualisiert sich nicht von selbst. Hier kommt der urgewählte Bürgermeister mit seiner Führungsaufgabe ins Spiel. Er verfügt im Vergleich zu seinem vom Rat gewählten Kollegen über bemerkenswerte Handlungsvorteile: Aufgrund seiner Legitimation durch das Volk kann er, ohne den Verratsvorwurf seiner Partei fürchten zu müssen, unbefangen mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften und mit den Medien kommunizieren. Das gibt ihm nicht nur die Möglich5 Ein weiteres Motiv für interfraktionelle Absprachen, die sich im Einzelfall zu einer fönnlichen Koalition verdichten können, ist die Wahl der Beigeordneten durch die Gemeindevertretung. Dieses Motiv entfällt, wenn die Beigeordnetenstellen nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen besetzt werden, wie dies die Gemeindeordnungen von Baden-Württemberg, Sachsen und Schleswig-Holstein zweckmäßigerweise vorgeben.

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keit, in der Gemeindevertretung Pattsituationen auflösen und von Fall zu Fall Mehrheiten zu suchen, sondern erlaubt ihm auch, Interessenvertreter zusammenzubringen, die sich spontan niemals an einen Tisch setzen würden (eine Einladung des Bürgermeisters kann man schlecht ablehnen), Netzwerke zu knüpfen, latente Kooperationspotentiale zu aktivieren und neue strategische Optionen zu erschließen. Die Initiative, die ihm das System erlaubt, zu der sein Wahlprogramm ihn zwingt und die Gemeindevertretung und Bürgerschaft in der Regel auch von ihm erwarten, macht ihn zum Ausgangspunkt und Katalysator eines dynamischen Politikstils. Soweit zu den besonderen politischen Handlungschancen, die die Urwahl bereithält, sobald sie in ein insgesamt urwahlkompatibles Normenumfeld eingebettet ist. Ob eine Kommune ihre Handlungschancen dann auch realisiert, hängt sehr von den örtlichen Umständen und vor allem von der Persönlichkeit und dem politischen Talent des Bürgermeisters (oder der noch immer kleinen, aber wachsenden Zahl der Bürgermeisterinnen) ab. In Baden-Württemberg gibt es nun eine rechtliche Konstellation, die den Bürgermeister über den beschriebenen "Normaleffekt" der Urwahl hinaus stärkt und die Wahrscheinlichkeit, daß die Gemeinden ihr Politikpotentiat optimal ausspielen, erhöht: - An erster Stelle ist die Parteiunabhängigkeit der Bürgermeister zu nennen. Baden-Württemberg ist das einzige Land, in dem die politischen Parteien und Gruppierungen nicht das Recht haben, Bürgermeisterkandidaten vorzuschlagen. Jeder Interessent kann kandidieren und hat die Chance, auch ohne das Plazet seiner Partei, ja sogar gegen deren Willen gewählt und wiedergewählt zu werden. In Verbindung mit der relativ langen Wahlzeit von 8 Jahren führt das dazu, daß die Bürgermeister ihre Spielräume risikoloser und konsequenter als anderswo in Gemeindehandeln umsetzen können. - Zum zweiten ist der Bürgermeister stimmberechtigter Vorsitzender der Gemeindevertretung und aller Ausschüsse. Er weiß, daß die Wähler dazu neigen, den Bürgermeister persönlich für einen aus dem Ruder gelaufenen Haushaltsplan verantwortlich zu machen. Da seine Stellung als Leiter der Verwaltung eindeutig formuliert ist - er ist auch gegenüber den Beigeordneten weisungsberechtigt - kann er normalerweise verhindern, daß Vorhaben, die die Gemeinde sich finanziell nicht leisten kann, auf die politische Tagesordnung gelangen. So kann er eine verantwortliche, die nachhaltige Handlungsfähigkeit der Gemeinde gewährleistende Finanzwirtschaft durchsetzen. - Von Bedeutung ist schließlich, daß der für die Personalentscheidungen zuständige Gemeinderat diese nur im Einvernehmen mit dem Bürgermeister treffen kann. Dessen unabhängige Stellung macht es ihm leicht, das Einvernehmen zu verweigern, wenn er Zweifel an der vom Gemeinderat

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gewünschten Entscheidung hat. Die fehlende Zustimmung des Bürgermeisters kann der Gemeinderat mit einer Zweidrittelmehrheit ersetzen. Doch dann spätestens wird der Konflikt öffentlich. Hat der Bürgermeister gute Argumente, wird er die öffentliche Meinung auf seiner Seite haben. 3. Übrige Länder: Nachbesserungsbedarf bei der repräsentativen Demokratie

In der Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie sind alle anderen Bundesländer - mit unterschiedlichem Abstand - hinter Baden-Württemberg zurückgeblieben. So halten Hessen, Nordrhein-Westfalen, das Saarland und Schleswig-Holstein am starren Listenwahlrecht fest und konservieren damit einen Politikstil, der die Energien der Gemeindevertreter auf die partei- und binnenorientierten Interessen des PAK fokussiert und sie im gleichen Maße von den Bürgerproblemen ablenkt. Auch im Hinblick auf die politische Handlungsfähigkeit der Gemeinde zeigt sich ein allgemeiner Rückstand gegenüber dem baden-württembergischen Modell. So haben sich überall die Parteien das Nominierungsrecht für Bürgermeisterkandidaten vorbehalten, was Einzelkandidaturen zur hindernisreichen Ausnahme macht. Der Bürgermeister ist nicht überall Vorsitzender der Gemeindevertretung und noch seltener Vorsitzender der Ausschüsse. Sein Einfluß auf die Personalentscheidungen ist in der Regel schwächer als in Baden-Württemberg. Vielfach hat er nur geringen Einfluß auf die Dezematsverteilung, und in Hessen und Nordrhein-Westfalen verfügt er - aus unterschiedlichen Gründen - nur über minimale originäre Entscheidungszuständigkeiten. Alle diese fortgeltenden Einschränkungen verfolgen den Zweck, den Bürgermeister nicht zu parteiunabhängig werden zu lassen. In den meisten Landtagen - eine Ausnahme machte Sachsen - setzte sich die Tendenz durch, die unvermeidlich gewordene Urwahl hinzunehmen, ihre Wirkungen aber einzudämmen, um den traditionellen kommunalen Politikstil beibehalten zu können. Daß man damit Bürgerorientierung und Handlungschancen verschenkte, wurde nicht gesehen, gering geschätzt oder geleugnet. So entstanden Systeminkonsistenzen, deren spektakulärster Fall Hessen ist. Hier bleibt der Bürgermeister auch nach Einführung der Urwahl in den kollegialen Gemeindevorstand (Magistrat) eingebunden. Findet er für ein Vorhaben im nichtöffentlich tagenden Magistrat keine Mehrheit, kann er es nicht in die Gemeindevertretung und in die Öffentlichkeit bringen. Das macht einem Bürgermeister, der im Magistrat eine politische Mehrheit gegen sich hat, die Ausübung seines Amtes schwer bis unmöglich, wenn

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diese Mehrheit systematisch im Sinne einer "Mobbing-Koalition" (Wehling) gegen ihn in Stellung gebracht wird. Er kann dann das politische Programm, für das die Wähler ihn in sein Amt berufen haben, allenfalls in Bruchstücken durchsetzen. Daß daran meist nicht persönliche Durchsetzungsschwäche, sondern der objektive Mangel an rechtlichen Handlungsmöglichkeiten schuld ist, ist der Öffentlichkeit kaum zu vermitteln. Um dennoch als erfolgreich zu gelten und wiedergewählt zu werden, muß sich der Bürgermeister Rückhalt in der Bürgerschaft holen und besonders engen Kontakt zu den örtlichen Vereinen, Gruppierungen und Multiplikatoren pflegen. Ist er darin erfolgreich, macht er es dem Magistrat und der Gemeindevertretung schwerer, ihn politisch auszubremsen. Für einen solchen Bürgermeister oder eine solche Bürgermeisterin wird ein Sechzehnstundenlag schnell zur Regel. In der Gemeindevertretung begünstigt die starre Listenwahl und im Magistrat fördert die Mehrheitsregel ein partei- und machtpolitisch geprägtes Entscheidungsverhalten, das den Hauptvorteil der Urwahl, der Gemeinde einen Zuwachs an politischer Handlungsfahigkeit zu erschließen, konterkariert. Starre Liste und Magistratsverfassung auf der einen, Urwahl und personalisiertes Wabirecht auf der anderen Seite gehören zu grundlegend verschiedenen Politikkonzeptionen. Werden diese Institutionen zusammengewürfelt, kommt es nahezu zwangsläufig zu Konflikten und Handlungsblockaden. In Hessen hat man die Bürgermeister-Urwahl einem politischen System, das nicht auf öffentliche Diskussion und Auseinandersetzung, Kompromiß und neue Politikoptionen, sondern auf politischen Gleichschritt der Gemeindeorgane angelegt ist, einfach aufgepfropft. Die Abschaffung der Magistratsverfassung zugunsten einer monokratischen Verwaltungsleitung gilt in Hessen derzeit als politisch nicht durchsetzbar. Es wird aber erwartet, daß eine novellierte Gemeindeordnung die Stellung des Bürgermeisters stärken wird. Neben der uneinschränkbaren Zuständigkeit zur Dezernatsverteilung soll er ein eigenes Antragsrecht in der Gemeindevertretung sowie die Möglichkeit erhalten, rechtswidrigen oder dem Wohl der Gemeinde abträglichen Beschlüssen der Vertretung zu widersprechen. Die beiden letztgenannten Rechte sind gut kombinierbar und würden den hessischen Bürgermeister erstmals in die Lage versetzen, seine politischen Vorstellungen in die Öffentlichkeit zu tragen und eine Diskussion darüber zu erzwingen. Auch die nordrhein-westfälische Gemeindeordnung ist auf politischen Gleichklang zwischen Bürgermeister und Gemeindevertretung bedacht6 6 Nachdem die Urwahl das quasi parlamentarische kommunale Politiksystem durch ein quasi präsidiales ersetzt hat, muß bezweifelt werden, daß dieser Gleichklang noch ein vernünftiges politisches Ziel ist (von Arnim 1997: 325).

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und will ihn durch die "verbundene Bürgermeisterwahl" fördern: Der Bürgermeister wird zugleich mit der Gemeindevertretung für deren Mandatsdauer (5 Jahre) gewählt. Von dieser Konstruktion erhoffte sich der Gesetzgeber ein Durchschlagen des parteipolitischen Akzents der Kommunalwahl auf die BürgermeisterwahL Um diesen Effekt auf Dauer zu sichern, galt es, die Wahltermine von Vertretung und Bürgermeister permanent synchron zu halten. Daher bestimmt die Gemeindeordnung - in der Bundesrepublik einmalig -, daß bei einer Vakanz der Bürgermeisterposition zwischen den Wahlterminen ein Nachfolger für den Rest der Wahlzeit der Gemeindevertretung von dieser gewählt wird, was in der Regel wieder eine Koalitionsabsprache mit allen Nachteilen erzwingt. In Nordrhein-Westfalen wird es mithin in Zukunft Bürgermeister erster (volksgewählt) und zweiter Klasse (vertretungsgewählt) geben. Eine Verlängerung der Amtszeit der Bürgermeister würde das Problem beseitigen. Das Thema dürfte in der nächsten Legislaturperiode auf den Tisch des Landtags kommen. Abgesehen von der systematischen Unverträglichkeit der verbundenen Bürgermeisterwahl mit der Entscheidung für die Urwahl ist eine 5-jährige Amtszeit auch objektiv zu kurz. Entwicklungen im politischen Milieu der Kommunalverwaltung sind in der Regel umstrittener und zeitaufwendiger als Strukturveränderungen, wie sie etwa der Vorstand einer Aktiengesellschaft zu verantworten hat. Hinzu kommt, daß fähige Bewerber um das Bürgermeisteramt Kommunen bevorzugen, in denen die Amtszeit für einen gediegenen Erfolgsnachweis ausreicht. Mit ihrer Amtszeit von 5 Jahren leisten sich Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen insofern einen Standortnachteil. Wie stehen die Chancen für eine weitere Annäherung der repräsentativen Demokratie an die Erfordernisse der Bürgerkommune nach baden-württembergischen Vorbild? Immer deutlicher wird, daß die Bürger die Verkrustungen des PAK aufbrechen möchten. Alte und neue Urwahlerfahrungen zeigen, daß sie gar nicht ungern Bürgermeister wählen, die politisch nicht zur Ratsmehrheit passen, in der Erwartung, daß Vertretung und Bürgermeister sich gegenseitig auf die Finger sehen und der "Filz" in Grenzen gehalten wird. Die Bürger werden fordern, daß auch eine andersdenkende Mehrheit den von ihnen Gewählten seine Arbeit tun läßt. Die Aussichten, daß mittelfristig zumindest die krassesten Unverträglichkeiten bereinigt werden, stehen daher gar nicht schlecht. Hier und da könnten Volksbegehren oder die Drohung damit den Modernisierungsprozeß befördern, etwa wenn es um die Einführung von Kumulieren und Panaschieren geht. Abschließend sei daran erinnert, daß auch eine optimierte repräsentative Demokratie nur einen begrenzten Beitrag zur Herausbildung der Bürgerkommune leisten kann. Indem sie den Wahlbürgern Gelegenheit gibt, besonders bürgerzugewandte Gemeindevertreter ins Amt zu bringen, ver-

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bessert sie die Chancen einer am Bürgerwillen orientierten Kommunalpolitik. Über die rechtliche Ausstattung des Bürgermeisteramts ist sie ferner in der Lage, die politische Handlungsfahigkeit der Kommune, die ja zu einem erheblichen Teil im Institutionellen wurzelt, zu steigern. Einen direkten Zugriff auf die kommunalen Entscheidungen vermittelt sie den Bürgern jedoch nicht. Die Bürger werden nicht Akteure, sie bleiben Wähler. Daher ist die Optimierung der repräsentativen Demokratie nur der erste, allerdings unverzichtbare Schritt auf dem Weg in die Bürgerkommune.

111. Der Bürger als kommunalpolitischer Akteur: Seine Ermächtigung durch Optimierung der direkten und Entfaltung der kooperativen Demokratie 1. Generalüberholung der direkten Demokratie aus der Sicht der Bürgerkommune Das zunächst nur in Baden-Württemberg normierte Recht des Souveräns, seine für den Normalfall aus Zweckmäßigkeitsgründen an die Gemeindevertretung delegierte Sachentscheidungsbefugnis im Einzelfall wieder an sich zu ziehen (Bürgerentscheid), fand zwischen 1990 und 1997 Eingang in alle Gemeindeordnungen und in acht Kreisordnungen. Mit der Möglichkeit, Kommunalpolitik unmittelbar zu gestalten, wächst der Bürger über die bloße Wählerrolle hinaus und wird zum vollwertigen Akteur der Kommunalpolitik. Das Instrumentarium der direkten Demokratie, bestehend aus Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, unterstützt die Herausbildung der Bürgerkommune in zweifacher Hinsicht. Im speziellen Fall führt der Bürgerentscheid zu einer hoch legitimierten und daher befriedenden Entscheidung eines kommunalpolitischen Streits. Generell bewirkt das Instrumentarium, daß Gemeindevertretung und Bürgermeister, wenn sie Bürgerbegehren und -entscheide nicht geradezu heraufbeschwören wollen, sich mehr als zuvor anstrengen müssen, im Einklang mit dem Bürgerwillen zu handeln. Die Einfügung direktdemokratischer Elemente in die Kommunalverfassungen zielt also nicht auf die Ablösung des repräsentativen Grundmodells ab - die Volksvertretung wird auch in Zukunft der zentrale Ort der politischen Auseinandersetzung und Entscheidung sein -, sondern will im Gegenteil dessen Funktionsfahigkeit durch eine stärkere Rückbindung an die Bürgerschaft verbessern. Wenn aber diese verbessernde Wirkung eintreten soll, muß das Instrument scharf und von seinen Modalitäten her praktikabel sein. Daran gemessen nehmen sich die derzeitigen direktdemokratischen Rege10 Speyer 133

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Iungen halbherzig und geradezu abwehrend aus. Es ist an der Zeit, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid einer Generalüberholung zu unterziehen und sie im kommunalverfassungsrechtlichen Normenarrangement neu zu positionieren. Vom Denkansatz her geht darum, im Bürger nicht mehr - so die uneingestandene Grundannahme des PAK - den geborenen potentiellen Störer, sondern vielmehr die größte potentielle Ressource der Kommunalpolitik zu sehen. Wie muß eine auf die Bürgerkommune hin umgebaute direkte Demokratie aussehen? Bürgerbegehren und Bürgerentscheid sind nicht grenzenlos denkbar. In materieller Hinsicht können sie nur im Selbstverwaltungsbereich zum Zuge kommen, was den "übertragenen Wirkungskreis" ausschließt. Einige Gemeindeordnungen schränken darüber hinaus Bürgerbegehren auf "wichtige Gemeindeangelegenheiten" ein, die sie teilweise in einem sogenannten Positivkatalog enumerativ aufführen. In Baden-Württemberg, das die älteste, aber mittlerweile in mancher Hinsicht auch die rückständigste Regelung der direkten Demokratie hat, heißt die wesentliche Möglichkeit für einen Bürgerentscheid: "die Errichtung, wesentliche Erweiterung und Aufhebung einer öffentlichen Einrichtung, die der Gesamtheit der Bürger zu dienen bestimmt ist" (§ 21 Abs. 1 Ziff. 1 GO B-W). Nicht dazu gehören einmalige Veranstaltungen (Ausstellungen, Messen), Kindergärten in einem Ortsteil, der Neubau von Rathäusern (!). Straßenbaumaßnahmen sind dem Bürgerentscheid nur zugänglich, wenn die Hauptsatzung dies vorsieht (Wehling 1998: 28). Mit der Idee der Bürgerkommune sind Positivkataloge nicht vereinbar, die Bürger müssen selbst entscheiden können, was für sie eine wichtige Gemeindeangelegenheit ist. Weitere materielle Einschränkungen enthalten die Negativkataloge, die alle Bundesländer kennen und die zum Teil recht umfangreich sind. Den kürzesten und insofern beispielhaften Negativkatalog hat Bayern, was sich daraus erklärt, daß dort die direktdemokratischen Instrumente nicht auf die Initiative des Gesetzgebers zurückgehen, sondern 1995 durch Volksbegehren und nachfolgenden Volksentscheid "von unten" erzwungen wurden. Er lautet: "Ein Bürgerentscheid findet nicht statt über Angelegenheiten, die kraft Gesetzes dem ersten Bürgermeister obliegen, über Fragen der inneren Organisation der Gemeindeverwaltung, über die Rechtsverhältnisse der Gemeinderatsmitglieder, der Bürgermeister und der Gemeindebediensteten und über die Haushaltssatzung" (Art. 18 a Abs. 3 GO Bay). Aus diesem Katalog könnten ohne Schaden für die Gemeinden die Haushaltsangelegenheiten gestrichen und damit dem Bürgerentscheid zugänglich gemacht werden. Gerade in finanziellen Angelegenheiten sind die Bürger eher vernünftiger als die Gemeindevertreter, die gelegentlich teuren populistischen Versuchungen erliegen. Grundsätzlich sollte alles, worüber die Gemeindevertretung entscheiden kann, auch dem Bürgerentscheid zugänglich sein.

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Von den verfahrensmäßigen Regelungen der direkten Demokratie ist an erster Stelle das Unterschriftenquorum beim Bürgerbegehren zu nennen. Es liegt je nach Gemeindeordnung bei 10, 15 oder sogar 20% (Thüringen) der Stimmberechtigten und sinkt in einigen, aber nicht allen Fällen mit zunehmender Einwohnerzahl der Gemeinde. Das Unterschriftenquorum hat die Funktion einer Relevanzprüfung und muß beibehalten werden. Bürgerentscheide sind teuer und dürfen daher nur stattfinden, wenn die Bürgerschaft ein wirkliches Interesse am Thema erkennen läßt. Völlig anders ist das sogenannte Zustimmungsquorum für den Bürgerentscheid zu beurteilen. Es sieht so aus, daß die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen gleichzeitig einen Mindestprozentsatz der Stimmberechtigten ausmachen muß. Dieser beträgt in den meisten Gemeindeordnungen 25%, in einigen, darunter Baden-Württemberg, sogar 30%. Bei knappem Abstimmungsergebnis bedeutet das, daß im ersten Fall mehr als die Hälfte, im zweiten Fall mehr als 60% der Bürger an der Abstimmung teilnehmen müssen, eine Beteiligung, die in Gemeinden über 20.000 Einwohner nicht leicht und in Gemeinden über 50.000 Einwohner kaum noch erreichbar ist. In Baden-Württemberg, dem einzigen Land mit jahrzehntelanger direktdemokratischer Erfahrung, war nur zweimal ein Bürgerentscheid in einer Großstadt erfolgreich: 1990 in Ulm und 1996 in Karlsruhe. Von den zwischen 1976 und 1996 in Baden-Württemberg durchgeführten 149 Bürgerentscheiden - eine sehr geringe Zahl, vor allem wenn man berücksichtigt, daß 46 davon nicht durch Bürgerbegehren, sondern durch Gemeinderatsbeschluß in Gang gesetzt wurden - sind 48, d. h. fast ein Drittel daran gescheitert, daß die Mehrheit nicht die vorgeschriebenen 30% der Stimmberechtigten erreichte (Wehling 1998: 30). Die Kombination "breiter Negativkatalog plus hohes Erfolgsquorum" läßt das direktdemokratische Instrumentarium in der Praxis zur quantite negligeable schrumpfen und nimmt ihm die präventive Fähigkeit, das repräsentative Entscheidungssystem zur stärkeren Orientierung am Bürgerwillen zu zwingen. Dies hat schwerwiegende Folgen für die Beziehungsqualität zwischen Kommune und Bürgerschaft. Hohe Zustimmungsquaren machen es für die Gegner des mit dem Bürgerbegehren verfolgten Anliegens, zu denen meist auch das Rathaus gehört, zu einer lohnenden Strategie, gar nichts zu tun und die Sache totzuschweigen in der Erwartung, daß dann die notwendige Stimmbeteiligung und damit das erforderliche Quorum nicht zustande kommen. So geringschätzig mit einem Teil der Bürgerschaft umzugehen, sollte aber einer Gemeinde im demokratischen Staat nicht erlaubt sein. Zur kommunalen Demokratie gehört, daß strittige Themen öffentlich diskutiert und ausgetragen werden. Die Gegner des mit dem Bürgerbegehren verfolgten Anliegens müssen gezwungen sein, zu argumentieren und ihre eigene Anhängerschaft zu mobilisieren. Wer das will, darf kein Erfolgsquorum einführen (Wehling 10•

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1998: 29). Im Mutterland der direkten Demokratie, der Schweiz, sind Zustimmungsquaren unbekannt. Auch bei geringer Stimmbeteiligung entscheidet die Mehrheit. Bürger, die nicht zur Abstimmung gehen, wissen, daß sie auch damit eine Entscheidung treffen und daß sie sich folglich über ein Ergebnis, das ihnen nicht paßt, nicht beklagen können. In Deutschland mit seiner völlig anderen Denktradition stößt der Verzicht auf Zustimmungsquaren einstweilen auf erheblichen Widerstand der Repräsentanten auf der Kommunal- und Landesebene. Bayern, wo die Volksgesetzgebung das Nullquorum durchgesetzt hatte, wird aufgrund eines Urteils des dortigen Verfassungsgerichtshofs voraussichtlich ein moderates Quorum einführen. Aus der Sicht der Bürgerkommune wäre ein Zustimmungsquorum von höchstens 20%, das mit zunehmender Gemeindegröße absinkt, für eine Übergangszeit hinnehmbar. Es sollte auch daran festgehalten werden, daß Bürgerbegehren mit einem Kostendeckungsvorschlag zu verbinden sind. Die Bürgerkommune lebt vom gemeinschaftsverantwortlichen Bürger, der bei seinen Forderungen auch die finanzielle Leistungsfähigkeit seiner Gemeinde und die Belastungswirkungen für die Mitbürger bedenkt. Ebenso wie die inhaltliche muß sich auch die finanzielle Seite der verlangten Maßnahme der öffentlichen Diskussion und den (Gegen)Argumenten des Rathauses stellen. Die Qualität des Kostendeckungsvorschlags zu beurteilen muß Sache der Abstimmenden selbst sein und sollte nicht, wie einige Gemeindeordnungen dies heute regeln, zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen des Bürgerbegehrens gehören, über die letztlich die Verwaltungsgerichte entscheiden. Manche Kommunen tun sich mit der direkten Demokratie schwer und behandeln die Begehrenden nicht wie Bürger, die ihr demokratisches Recht wahrnehmen, sondern wie Störenfriede. Manches beruht auf Unsicherheit und erklärt sich aus der fehlenden Erfahrung mit dem direktdemokratischen Instrumentarium. Gelegentlich ist das Rathausverhalten aber nicht nur unfair, sondern geradezu schikanös, etwa wenn versucht wird, ein Bürgerbegehren dadurch zu unterlaufen, daß rasch noch vollendete Tatsachen geschaffen werden. Um die Beziehung Rathaus-Bürger zu entspannen und einen demokratischen Stil des partnerschaftliehen Umgangs mit den Vertretern von Bürgerbegehren zu fördern, sollte in die Gemeindeordnungen eine Auskunfts- und Beratungspflicht der Gemeinde aufgenommen werden. Das derzeit laufende Volksbegehren "Mehr Demokratie in Baden-Württemberg - Bürgerentscheide in Gemeinden und Landkreisen" (Geitmann 1998) formuliert diese Pflicht in seinem Gesetzentwurf wie folgt: "Die Gemeindeverwaltung erteilt sachdienliche Auskünfte und berät die Vertreterinnen und Vertreter eines Bürgerbegehrens auf deren Wunsch bei der Ausarbeitung des Bürgerbegehrens und insbesondere des Kostendeckungsvorschlages."

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Bezüglich des Kostendeckungsvorschlags kennt bereits Mecklenburg-Vorpommern ein solches Beratungsrecht ( § 20 Abs. 6 Satz 2 GO MeVo). Andere Beschränkungen, etwa die Einhaltung von Fristen sind, auch wenn hier noch manches verbesserungsfähig ist, kein ernsthaftes Hindernis für den vermehrten Einsatz von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Wenn es gelingt, das direktdemokratische Instrumentarium dergestalt auf die Bürgerkommune hin zu optimieren, dann ergeben sich im Hinblick auf die drei Kriterien Beziehungsqualität, bürgerorientierte Kommunalpolitik und politische Handlungsfähigkeit folgende Vorteile: Allein dadurch, daß der PAK Konkurrenz "von unten" bekommt und seinen Alleinentscheidungsanspruch in Frage gestellt sieht, wird die örtliche Politik für die Bürgererwartungen sensibler. Oft wird die bloße Drohung mit einem Bürgerbegehren ausreichen, im Rathaus Bereitschaft zur Diskussion von Alternativen zur bisherigen Politik zu erzeugen. Echte Entscheidungsrechte der Bürger wirken einem zentralen Mangel von Bürgerinitiativen entgegen: Dort geben oft artikulationsstarke Interessenten - die eigentlichen Profiteure des für sie besonders anfälligen repräsentativen Systems - den Ton an. Allgemeine Abstimmungen, bei denen nicht nur Interessenten das Wort führen, sondern jeder Bürger eine Stimme besitzt, können dagegen ein wirksames demokratisches Gegengewicht gegen Partikularinteressen bilden (von Amim 1997: 319). Vieles spricht dafür, daß die breitere Anwendung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid die Selbstüberforderung vieler Gemeinden mit Aufgaben und die daraus folgende Verschuldung senken und damit ihren politischen Handlungsspielraum7 verbessern würde (vgl. Eichenherger in diesem Band). Im Hinblick auf die zunehmende Zahl von Volksbegehren in den Ländern mit dem Ziel, die gesetzlichen Hürden für Bürgerbegehren und Bürgerentscheid zu senken, kann in Zukunft mit einer häufigeren praktischen 7 Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat sich dem Problem der kommunalen Handlungsfähigkeit unter einem ganz anderen Aspekt zugewandt. In seiner Entscheidung vom 29. 8. 1997 (Bay VBl 1997: 622ff.) hat er einige Bestimmungen der durch Volksgesetzgebung durchgesetzten Regelung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid mit der Begründung für verfassungswidrig erklärt, sie gefährdeten die Funktionsfähigkeit der kommunalen Organe und damit die kommunale Handlungsfähigkeit in einem das kommunale Selbstverwaltungsrecht verletzenden Ausmaß. Man braucht die Entscheidung im Ergebnis nicht für falsch zu halten, um es bemerkenswert zu finden, daß das Gericht das kommunale Selbstverwaltungsrecht, ein Recht der Gemeindebürger, von Seiten eben dieser Gemeindebürger für gefährdet hält. Das ist weder begrifflich ganz leicht nachzuvollziehen noch empirisch belegt. Nach den bisherigen Erfahrungen wird der Bürgerentscheid selbst in seiner jetzigen Form ein Ausnahmeerscheinung bleiben, mit der im Durchschnitt aller bayerischen Gemeinden etwa alle 8 Jahre zu rechnen ist.

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Erprobung dieser Instrumente gerechnet werden. Erst dann kann die direkte Demokratie einen spürbaren kulturverändernden, die Akteurrolle der Bürger in der Kommunalpolitik befestigenden Beitrag leisten. Bei alledem darf man nicht darüber hinwegsehen, daß viele Bürgerbegehren auf die Bewahrung des Bestehenden hinauslaufen. Die Bürger möchten, daß die Dinge bleiben wie sie sind. Eine Kommunalpolitik, die auf Chancenwahrung für die örtliche Gemeinschaft und damit auch auf Veränderung zielt, muß die Bürgerschaft "mitnehmen". Das muß scheitern, wenn das Rathaus den Bürgern ohne Vorbereitung fertige Lösungen vorsetzt. Dieser Zusammenhang zwingt jede Kommune, die eine bürgerorientierte Politik machen und gleichzeitig ihre künftigen Handlungsspielräume sichern will, ihre politischen Ziele und Entwicklungsvorstellungen viel wirksamer zu kommunizieren, als dies heute üblich ist. Hier, in der Kommunikation von Politik durch aktive Überzeugungsarbeit, liegt die größte Herausforderung an die Bürgerkommune. Diese Wende fällt den Kommunen, die ihre Bürgerbeziehungen in der Vergangenheit relativ straflos vernachlässigen konnten, nicht leicht. Sie ist aber unausweichlich, denn der Bürger selbst hat sich verändert und ist nicht mehr bereit, die traditionelle Kabinettspolitik des PAK klaglos hinzunehmen.

2. Entfaltung der kooperativen Demokratie Wie gezeigt wurde, gibt es im repräsentativ- und direktdemokratischen Bereich Demokratiereserven. Sowohl die Fähigkeit der Wahlbürger, eine Kommunalpolitik zu belohnen oder zu sanktionieren als auch die Fähigkeit der Akteurbürger, anstelle der Volksvertretung Sachentscheidungen zu treffen, läßt sich mit mehr Biß versehen. Es ist absehbar, daß die Bürger diese zusätzlichen politischen Handlungsressourcen einfordern und damit mittelfristig erfolgreich sein werden. Man muß allerdings sehen, daß die Demokratiereserven im Wahlrecht objektiv begrenzt sind und daß die wesentlich größeren Reserven der Bürgerermächtigung, die im Referendumsrecht angelegt sind, nicht voll genutzt werden dürften: Eine "Verschweizerung" unseres lokalen politischen Systems ist nicht zu erwarten und vielleicht nicht einmal wünschenswert. Die Einsicht in diese Grenzen sollte verstärktes Interesse auf das ungleich ausgedehntere, aber bisher unterschätzte, ja übersehene Potential der kooperativen Demokratie lenken. Zunächst sei ein Blick auf die Art und Weise geworfen, wie die Bürger in den drei Demokratievarianten Einfluß auf die politischen Entscheidungen nehmen:

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Der Entscheidungszugriff der Bürger in der repräsentativen, direkten und kooperativen Demokratie Repräsentativer Modus

Direkter Modus

Bürgerrolle

Wähler

Akteur (Entscheider Akteur (Partner des Ratanstelle der hauses) Gemeindeorgane)

Gegenstand

Eingeengt auf Per- Begrenzter Bereich Unbegrenztes Feld für sonalentscheidungen von Sachentschei- Problemlösungen (Gemeindevertredungen tung, Bürgermeister)

Auslöser

Gesetz (GO, KommWahlG)

Rathaus, BürgerinitiatiBürgerinitiativen, Einzelbürger, ven, Verbände, Vereine Parteien, Verbände, Vereine

Formalisierungsgrad

Hoch (gesetzlich geregelt)

Hoch (gesetzlich geregelt)

Zeitpunkt

Wahltermin

Gegebener Dauernd, bei wechselnthematischer Anlaß den Themen

Interventionsklima

Eher unemotional ("demokratische Pflichtübung")

Heute meist antagonistisch

Partnerschaftlich, konsensorientiert

Durchsetzungs- Sehr hoch, da chance zuverlässig gesetzlich abgesichert

Bei hohen gesetzlichen Hürden gering, bei niedrigen Hürden höher

Fall-, engagement- und verhandlungsabhängig

Gering, da nur mittelbar über gewählte Vertreter wirkend

Bei Entscheid im Sinne des Begehrens sehr hoch

Fall-, engagement- und verhandlungsabhängig

Bei hohen gesetzlichen Hürden gering, bei niedrigen Hürden höher

Mit zunehmender Praktizierung steigend (Verlagerung von fach- und parteiorientierter zu bürgerorientierter Kommunalpolitik)

Einfluß auf Inhalte der Kommunalpolitik

Öffnungsdruck Bei starrer Liste null, bei personaaufden PAK lisiertem Wahlrecht etwas höher

Kooperativer Modus

Gering oder null ("alles ist erlaubt")

Beim Vergleich der drei Demokratiemodi fällt ins Auge, daß die Beziehung Rathaus-Bürger im kooperativen Modus prinzipiell partnerschaftlieh (statt unemotional oder antagonistisch) geprägt ist; gar nicht oder nur gering formalisiert, d. h. nahezu beliebig gestaltbar ist;

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- nicht auf einseitige Bürgerentscheidung eingegrenzt, sondern auf kooperative Problemlösung angelegt ist; - nicht gegenständlich begrenzt ist und daher grundsätzlich in alle Bereiche der Kommunalpolitik hineinwirken kann. Wenn Demokratie als Mitwirkung des Volkes an der Herrschaft definiert ist, dann besteht die Einmaligkeit der kommunalen Demokratie in der nahezu flächendeckenden Mitwirkungsmöglichkeit der Bürger. Sie ist darauf zurückzuführen, daß kommunale Herrschaft nur zum geringsten Teil mit gesetzesgebundenen, an Einzelne adressierten Hoheitsakten zu tun hat, sondern weit überwiegend mit gestaltbaren Entwicklungs- und Infrastrukturleistungen sowie persönlichen Dienstleistungen, die ihrer Natur nach viele oder alle Bürger betreffen. Im Vergleich zum Staat sind in den Kommunen die Kontaktflächen zwischen Obrigkeit und Bürgerschaft weit ausgedehnter, die Kontaktformen ungleich vielgestaltiger, die gegenseitigen Beeinflussungschancen intensiver und die Beziehungsqualität gestaltbarer. Erst in ihrer kooperativen Variante kann sich die integrative Qualität der kommunalen Demokratie voll entfalten, und dies, obwohl (oder weil?) die Bürger hier nicht zur Letztentscheidung, sondern "nur" zur Mitgestaltung von Politik berufen sind. In der Partnerschaft Rathaus-Bürger kommt es auf beiden Seiten zu einer Rollendifferenzierung. Die neuen Bürgerrollen lassen sich (in modifizierter Anlehnung an Oppen 1998) grob wie folgt einteilen: - Bürger als Koplaner des Rathauses mit dem Ziel, politisch tragfähige Entscheidungen zu erzeugen: Stadtteilsanierung; Zentrumserneuerung; Verkehrs- und Energieplanung; Umwidmung ehemaliger Industrieanlagen und -grundstücke; Planung und Koordination kinder- und familienfreundlicher Dienstleistungen im Verbund zwischen öffentlichen und privaten Anbietern; stadtteilbezogene Projekte der Sozialintegration und Prävention; Ordnungspartnerschaften. - Bürger als Berater (Consultants) des Rathauses: Leitbildentwicklung für die Kommune insgesamt oder politikfeldspezifisch (Kinderpolitik, Seniorenpolitik); Planungszellen zur Erstellung von Bürgergutachten (Dienel 1997); Agenda 21; Haushaltsplanung; Elternvertretungen in Schulen oder Kitas; Nutzer- und Bewohnerbeiräte; aktives Beschwerdemanagement; Zufriedenheitsabfragen in bezug auf Dienstleistungen. - Bürger oder Vereine als "Unternehmer", d. h. als Träger, Betreiber oder Verwalter von Projekten oder Einrichtungen, die von der Kommune ideell und/oder finanziell gefördert werden: Selbsthilfegruppen; Initiativen zur Verbesserung der Wohn- und Lebensqualität in NachbarschafteD und Stadtteilen; Schwimmbäder; Spiel-, Sport- und Freizeitanlagen;

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Übernahme von Dienstleistungsfunktionen in Schulen oder Senioreneinrichtungen. Parallel dazu überschreitet auch das Rathaus seine klassische Rolle als Dienstleistungsproduzent und sieht sich gezwungen, neue Rollen zu lernen: Aktivierer bürgerschaftliehen Potentials, Bündelungsinstanz der lokalen Kräfte, Moderator widerstreitender Interessen, Kontaktvermittler, Kontraktpartner, ideeller und/oder finanzieller Förderer. Die neuen Rollen fordern den Kommunen ungewohnte kommunikative und moderatarische Fähigkeiten ab. Das gilt besonders für die anspruchsvollste Variante der Bürgerbeteiligung, die kooperativen Planungsprojekte. Diese können nur auf Erfolg hoffen, wenn konträre Interessen bewußt an einen Tisch gebracht und unter Moderation in einem geduldigen allseitigen Lernprozeß zum Ausgleich gebracht werden. Städte wie Heidelberg, Passau und Neustadt an der Weinstraße können auf gelungene Beispiele dieser Art verweisen (Weber 1998: 26ff., Schmöller 1998: 43ff., Ressmann 1999). In solchen Zusammenhängen werden den Kommunen zunehmend Networking-Fähigkeiten abverlangt. Eine Ordnungspartnerschaft zur Verbesserung der Sicherheit in Innenstädten oder Ortsteilen, an Schulen, auf Bahnhöfen und zur Vermeidung von Kinderunfällen erfordert die Zusammenarbeit der Kommune nicht nur mit Eltern und Geschäftsleuten, sondern auch mit Polizei, Justiz, Schulen, Verbänden und ÖPNV-Betreibern. Ähnliche Beispiele finden sich in der Jugend- und Sozialhilfe oder in der Wirtschaftsförderung. Komplexe Problemsituationen können nur mit komplexen, auf den Einzelfall zugeschnittenen Formen organisierter Zusammenarbeit der verschiedensten Partner bewältigt werden. In dem Augenblick, da die Kommunen den simplen Gegensatz Obrigkeit-Untertan hinter sich gelassen haben und beginnen, den Bürger als Partner zu begreifen, entdecken sie, daß sie diesen Partnerschaftsanspruch nur einlösen können, wenn sie zugleich das gesamte staatlich-gesellschaftliche Umfeld der Kommunalverwaltung in den Blick nehmen. Die Bürgerkommune muß jenseits ihrer Produzentenrolle zum Ermöglicher, Gewährleister und Katalysator örtlicher Problemlösungen werden, das klassische "vertikale" local government sich zur "horizontalen" community governance weiterentwickeln. Genau diese Gesamtverantwortung zur Bearbeitung der Probleme der örtlichen Gemeinschaft meint Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes, der den Gemeinden das Recht gewährleistet, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Obwohl die Zahl der Kommunen, die sich an das Potential der kooperativen Demokratie aktiv herantasten, zusehends wächst8 , denken viele beim 8 Dabei spielte und spielt der Blick auf die Bürgerbeteiligungsstrategien in führenden ausländischen Kommunen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Er wurde

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Thema Bürgerbeteiligung noch immer in den Grenzen der Verfahren, die die sogenannten Demokratisierungsnovellen der siebziger Jahre in die Gemeindeordnungen eingefügt haben, um dem damaligen Partizipationsdruck notdürftig Rechnung zu tragen: Bürgerfragestunden, Anhörungen, Erörterungsveranstaltungen, Bürgerversammlungen, Unterrichtungspflichten der Gemeinde - ein Instrumentarium, dem eine den unmittelbaren Bürgerkontakt eher ängstlich einschränkende Tendenz innewohnt, das die Pflichten der Gemeinden nur vage formuliert und von diesen eher zurückhaltend genutzt wird. Wie erklärt sich diese Genügsamkeit? Ein Grund ist sicher der eingewurzelte Abwehrreflex gegen Bürgermitwirkung, der vielen Kommunalpolitikern und -beamten bis heute eigen ist. Ein weiterer Grund könnte in der spezifisch deutschen Neigung liegen, Verwaltungshandeln mehr oder weniger mit Gesetzesvollzug gleichzusetzen. Danach wird, was nicht explizit im Gesetz geregelt oder erlaubt ist, leicht in die Nachbarschaft der Illegalität gerückt, worauf es im Zweifel unterbleibt. Aufs Ganze gesehen lohnt es kaum, den Instrumentenkasten der 70er Jahre verbessern zu wollen. Die Kommunen werden in den nächsten Jahren spontan ihre eigenen Pfade der Bürgermitwirkung entdecken und nutzen. Grundsätzlich ist auf diesem Gebiet alles erlaubt. In einem einzigen Punkt sollte das 70er Instrumentarium ergänzt werden, weil hier ein strategischer Hebel zur Verbesserung der Chancen der Bürgermitwirkung insgesamt liegt: In der baden-württembergischen (§ 20a Abs. I) und der brandenburgischen (§ 17 Abs. 1) Gemeindeordnung heißt es: "Wichtige Gemeindeangelegenheiten sollen mit den Einwohnern erörtert werden". Hinzugefügt wird, daß zu diesem Zweck Einwohnerversammlungen durchzuführen sind, die in größeren Gemeinden auch auf Teile der Gemeinde begrenzt werden können. Diese Bestimmung verpflichtet die Gemeinde, bei Vorliegen einer "wichtigen Gemeindeangelegenheit" von sich aus auf die Bürger zuzugehen und die Angelegenheit mit ihnen zu erörtern. Eine solche Pflicht zum Dialog mit den Bürgern geht über die übliche Unterrichtungspflicht hinaus und ist unserer derzeitigen Verwaltungskultur im Grunde fremd. Wahrscheinlich liegt es daran, daß sie in der kommunalen Praxis und von den Aufsichtsbehörden weitgehend ignoriert wird. Zu ihrer Nichtbeachtung trägt ohne Zweifel die Allgemeinheit der Formulierung "wichtige Gemeindeangelegenheiten" bei. Die Einfügung einer beispielhaften Konkretisierung wäre geeignet, die Vorschrift zu aktivieren. Es böte sich an, nach maßgeblich von den auf dem Cari-Bertelsmann-Preis 1993 aufbauenden Forschungen des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) vermittelt (siehe die Beiträge von Maria Oppen in Naschold, Oppen und Wegener 1997 und in dens. 1998), die derzeit in die Projekte "Bürgerorientierte Kommune" (Träger: Bertelsmann Stiftung und Verein Aktive Bürgerschaft e. V.), "Netzwerk Kommunen der Zukunft" (Träger: Bertelsmann Stiftung, Hans-Böckler-Stiftung und KGSt) und in das Arbeitsvorhaben "Aktive Bürger" der KGSt einfließen.

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"Gemeindeangelegenheiten" die Worte "insbesondere der Haushaltsplanentwurf' einzufügen.9 Der Haushaltsplan ist unbestreitbar eine wichtige Gemeindeangelegenheit. Er legt die Spielräume der Kommunalpolitik nicht nur für das kommende Haushaltsjahr, sondern - man denke an die Investitions- und Stellenplanentscheidungen mit ihren Folgekosten und an die in den Wirtschaftsplänen der kommunalen Unternehmen enthaltenen haushaltswirksamen Vorentscheidungen - weit darüber hinaus fest. Die gesetzlich vorgeschriebene Offenlegung des Entwurfs zu jedermanns Einsicht ist sicher kein ernstzunehmendes Instrument bürgerschaftlieber Mitwirkung. Selbst die - mittelfristig eher unwahrscheinliche - Öffnung des Haushaltsplans für den Bürgerentscheid würde den Bürgern nur punktuelle Zugriffe erlauben und könnte den Dialog zwischen Rathaus und Bürgerschaft über die politische Gesamtperspektive der Gemeinde keinesfalls ersetzen. Daß den Bürgern ausgerechnet auf das zentrale "Kursbuch der Gemeinde" (Knemeyer) faktisch keinerlei Einfluß eingeräumt ist, ist unter Demokratiegesichtspunkten weder verständlich noch erträglich. Da der Haushaltsplanentwurf das Interesse der Gemeindevertretung und der Medien auf einen kompakten Zeitraum des Jahres fokussiert, ist er ein besonders geeigneter Ansatzpunkt für die Einleitung eines dauerhaften Dialogs zwischen Bürgerschaft und Gemeinde. Die öffentliche Erörterung des Haushaltsplanentwurfs in einer vereinfachten Form würde mit einiger Sicherheit dazu führen, daß schrittweise auch die übrigen wichtigen Gemeindeangelegenheiten, etwa zentrale Bau-, Gestaltungs- und Verkehrsvorhaben, in den Dialog Bürgerschaft - Gemeinde einbezogen würden. In Neuseeland verpflichtet das Gesetz die Kommunen, wichtige Angelegenheiten mit der Bürgerschaft zu erörtern, bevor der Rat seine endgültige Entscheidung trifft. Zu den wichtigen Angelegenheiten gehört ausdrücklich der vom Rat beschlossene draft annual plan (Neuseel. Innenministerium 1995). Die Praxis versteht darunter eine kompakte, für Laien verständlich gemachte Version des Haushaltsplanentwurfs, aus der die kommunalen Entwicklungsvorstellungen und Prioritäten und wichtige Einzelvorhaben deutlich werden. In dem Anhörungsverfahren werden folgende Vorteile gesehen: - Die Verwaltung wird gezwungen, den vom Rat beschlossenen Entwurf in eine vereinfachte Form zu bringen, die es ermöglicht, ihn mit der Bürgerschaft zu diskutieren. - Bürger und Gruppen lernen die kommunalpolitischen Vorstellungen aus erster Hand kennen und können dazu ihre Meinung äußern. So haben sie die Chance, die Kommunalpolitiker zu beeinflussen und auf die Prioritä9 So der Vorschlag im Abschlußbericht (S. 5 und 45 f.) der vom Landtag Brandenburg eingesetzten Enquetekommission "Gemeindegebietsrefonn im Land Brandenburg" (Landtagsdrucksache 2/6260, ausgegeben am 23.4.1999).

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ten einzuwirken. Bürger, die beteiligt wurden, werden sich eher mit dem vom Rat beschlossenen Ergebnis identifizieren. - Rat und Verwaltung lernen die örtlichen Meinungsströmungen unmittelbar und aktuell kennen. Wenn der Rat endgültig über den Plan entscheidet, turnt er mit Netz. - Einmal im Jahr hat die Gemeinde Gelegenheit, die Bürgerschaft mit dem Gesamttableau der kommunalen Möglichkeiten, Probleme und finanziellen Grenzen bekannt zu machen. Darin liegt für das Rathaus die Chance, das verbreitete Ein-Themen-Denken aufzulockern, Klientelinteressen zu relativieren, an die Gemeinschaftsverantwortung der Bürger zu appellieren und gleichzeitig Unterstützung für eine zukunftsorientierte, strategische Kommunalpolitik zu gewinnen. - Viele Gemeinden sind zu der Auffassung gelangt, daß der gesetzlich vorgesehene Anhörungszeitraum für eine gründliche Diskussion zu kurz ist und daß er zu spät liegt, um noch wesentliche Änderungen in den Plan einzubauen. Sie verlagern daher das Verfahren um einige Monate nach vom, wobei die erste Phase des Diskussionsprozesses häufig in den Stadtbezirken oder Ortsteilen staatfindet Würde die Pflicht, wichtige Gemeindeangelegenheiten und insbesondere den Haushaltsplanentwurf mit den Bürgern zu erörtern, in allen Gemeindeordnungen verankert, könnte dies durchaus die Anteilnahme der Bürger am kommunalen Geschehen steigern. Eine solche Maßnahme könnte auch dazu beitragen, die in den Gemeindeordnungen statuierten, aber schwach ausgestalteten und in der Praxis häufig leerlaufenden Unterrichtungspflichten mit Leben zu erfüllen. In Deutschland wurde das Anhörungsverfahren zum Haushaltsplanentwurf im Herbst 1998 erstmals in zwei baden-württembergischen Gemeinden (Blumberg, 10.000 Einwohner, und Mönchweiler, 3000 Einwohner) mit ermutigendem Erfolg getestet, und zwar im Rahmen des schon erwähnten Netzwerks "Kommunen der Zukunft". IV. Bürgerkommune ante portas?

Ein Blick auf die Umsetzungschancen einer optimierten repräsentativen, direkten und kooperativen kommunalen Demokratie zeigt folgendes: Eine aus der Sicht der Bürgerkommune optimierte repräsentative Demokratie ist selbstimplementierend, weil die Wahlgesetze zu beachten sind. Bei der direkten Demokratie handelt es sich um ein gesetzliches Angebot an die Bürger, das diese örtlich unterschiedlich nutzen werden und das keine besonderen Implementierungsanstrengungen erfordert. In scharfem Kontrast dazu steht die kooperative Demokratie. Ihr Umsetzungsgrad hängt entscheidend von örtlichen Faktoren ab, zunächst vom Vorhandensein akuter Kooperationsforderungen der Bürger und einer grundsätzlichen Koopera-

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tionsbereitschaft des Rathauses. Dies reicht jedoch für eine lebendige kooperative Demokratie nicht aus. Hinzu kommen muß beträchtliches Umsetzungsengagement auf beiden Seiten - eben Kooperation! - damit die Formenvielfalt der kooperativen Demokratie zum Tragen kommen und ihre sozialintegrative Wirkung entfalten kann. Da diese Bedingungen in der kommunalen Landschaft ungleich verteilt sind, ist bezüglich Tempo und Breite der Umsetzung kooperationsdemokratischer Verfahren erhebliche Varianz zu erwarten und auch heute schon zu beobachten. Die folgenden Passagen konzentrieren sich auf die voraussichtliche Weiterentwicklung der kooperativen Demokratie. Vor einer abschließenden Prognose ist es nützlich, die auf dem Spielfeld "kooperative Demokratie" agierenden Spieler und die dort herrschenden Spielregeln idealtypisch zu skizzieren. Die Spieler lassen sich in "Skeptiker" und "Labile" einteilen. Zu den Skeptikern, zuweilen auch Gegnern einer entfalteten kooperativen Demokratie gehören neben vielen Kommunalpolitikern und den Ortsparteien deren privilegierte Gesprächspartner in der Bürgerschaft sowie Teile der Verwaltung. Zu den Labilen, deren Einstellungsskala von "eher dafür" bis "abwartend" reicht, zählen die Bürger, die Bürgermeister und die örtlichen Medien. Obwohl die Kommunalpolitiker häufig verbal Bürgermitwirkung einfordern, sind sie in diesem Bereich bislang nicht sonderlich initiativ (Bogumil/Holtkamp 1999). Die eigentlichen Initiativen gehen meist von den Bürgern selbst oder von den Verwaltungsspitzen aus. Der Grund, weshalb viele Kommunalpolitiker sich mit der Bürgermitwirkung schwertun, ist Unsicherheit: Wie verändern sich die Entscheidungen, wenn Politikalternativen zunehmend öffentlich diskutiert werden? Welche Folgen hat ein offenerer Politikstil für die vielen Absprachen und Arrangements, die selbst in der geschlossenen Gesellschaft des PAK nur mühsam zu erzielen und in der Balance zu halten sind? Wie werden bisher privilegierte Gruppen auf die neue Transparenz reagieren? Wie steht es um meine eigene Fähigkeit, Kommunalpolitik in der Öffentlichkeit zu kommunizieren? Zu wessen Vorund Nachteil werden Sichtbarkeits- und Karrierechancen umverteilt? Handlungsbedarf steht allerdings vor der Tür. Die laufende Verwaltungsmodernisierung führt nicht nur zu einer verstärkten Bürgerfreundlichkeit der Verwaltungen; die Verwaltungseinheiten beginnen auch, freier als in der Vergangenheit mit ihrem jeweiligen Bürger- und Kundensegment über Problemlösungen ins Gespräch zu kommen. Wenn die Kommunalpolitiker nicht vom Informationskreislauf abgeklemmt werden und das Verdienst wachsender Bürgerorientierung nicht den Verwaltungen allein überlassen wollen, sind sie gezwungen, sich wieder um unmittelbaren Bürgerkontakt zu bemühen. Sie werden erkennen, daß darin auch neue Profilierungschancen im Wettbewerb um Wählerstimmen liegen. In dieselbe Richtung wirkt

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die immer stärker spürbare Forderung der Bürger an die Politiker, sich um ihre wirklichen Probleme zu kümmern, statt zentral vorgestanzte Parteiantworten als örtliche Problemlösung auszugeben und politische Meinungsnuancen zu fundamentalen Gegensätzen aufzubauschen. Eine informierter und fluider gewordene Wählerschaft wird auf solche Abgrenzungsstrategien immer unwilliger reagieren. Wenn die Ortsparteien sich weiter darauf versteifen, bundes- oder landespolitisch zu argumentieren, statt die von den Bürgern empfundenen Probleme in größtmöglichem Konsens anzugehen, werden sie selbst in Großstädten die Dominanz über die örtlichen Vorgänge verlieren. Ob dies langfristig auf die Herausbildung eigener örtlicher Politiksysteme hinausläuft, die sich von ihren Mutterformationen auf staatlicher Ebene zunehmend abkoppeln, bleibt abzuwarten. Im Ausland sind derartige Emanzipationsvorgänge nicht ohne Vorbild. Die verstärkte Bürgermitwirkung der kooperativen Demokratie wird auch von den traditionell privilegierten Gesprächspartnern des Rathauses (Sportvereine, Wohlfahrtsverbände, Kulturinitiativen und sonstige verbalisierungsstarke Gruppen) mit Mißtrauen betrachtet. Die neue Konkurrenz bewirkt, daß deren bevorzugte Alimentierung aus dem kommunalen Haushalt in die öffentliche Diskussion und damit in Gefahr gerät. Kommunalpolitiker, die auf Klientelpolitik setzen, sehen sich Begründungszwängen auch im eigenen politischen Lager ausgesetzt. Es ist kein Zufall, daß die wenigen bisher von Kommunen veröffentlichten Subventionsberichte immer Anlaß zu Streit um die Frage gegeben haben, was als Subvention und was als (im Bericht nicht zu erwähnende) "kommunale Pflichtaufgabe" anzusehen sei. Mehr Transparenz und Öffentlichkeit geben nicht nur den nicht privilegierten Bevölkerungsgruppen, sondern auch den nicht klientelistischen Kommunalpolitikern eine neue demokratische Chance. Die kooperative Demokratie weitet die durch das Neue Steuerungsmodell geschaffene Transparenz der internen Verwaltungsvorgänge auf den Bereich der Kommunalpolitik aus. Daß dies zunächst Widerstand auslöst, braucht nicht zu verwundern. Zu den Skeptikern gehören auch Teile des Verwaltungsapparats. Der hierarchisch geprägte Kooperationsstil, die starke Arbeitsteilung mit dem daraus folgenden Ressortegoismus, der überhöhte Status professioneller Standards und die Überzeugung, daß die Bürger von Verwaltung nichts verstehen und sich daher auch nicht einmischen sollten, sind die "natürlichen Feinde" der Bürgermitwirkung (Oppen 1998: 7, Banner 1998: 182ff.). Auf der anderen Seite hat eine veränderte Verwaltungspraxis die ursprüngliche Fundamentalopposition gegen kooperative Demokratie zurückgedrängt. Die Verwaltungsmodernisierung bleibt ja nicht bei der Delegation von Ressourcenverantwortung an die Fachbereiche stehen, sondern fördert die Herausbildung dezentraler Regelkreise, die oft souverän mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld interagieren (was neue, in der Praxis oft vernachlässigte Pro-

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bleme zentraler Steuerung schafft). Langsam scheint sich auch der Blick des Verwaltungspersonals auf die Bürger zu verändern. Die Neigung, sich hinter anonymen bürokratischen Verfahren zu verschanzen, nimmt ab, und Techniken der Interaktion mit dem Publikum finden zunehmend Eingang in die Aus- und Fortbildungsprogramme einzelner Disziplinen (Planer, Verwaltungsbeamte). Nun zu den "labilen" Spielern auf dem Terrain der kooperativen Demokratie. An erster Stelle sind die Bürger selbst zu nennen. Von einer breiten Forderungswelle nach bürgerschaftlieber Mitsprache kann nun einmal keine Rede sein. Daß Normalbürger Einfluß auf politische Entscheidungen ausüben könnten, ist für die meisten nur schwer vorstellbar. Noch weniger kann man sich vorstellen, daß einzelne Kommunalpolitiker genau dies wünschen. Dieselben Bürger können allerdings fast täglich in der Zeitung lesen, daß ihre aktiveren Zeitgenossen sich politische Ziele setzen und dabei nicht selten erfolgreich sind. Einiges spricht dafür, daß mehr Bürger sich fallweise an der Politik beteiligen würden, wenn es mehr Beteiligungsangebote gäbe, daß aber bei Ausbleiben solcher Angebote das politische Aktivitätsniveau unverändert niedrig bleiben wird. Daher ist die Versuchung für den PAK, das Beteiligungsangebot weiter schmal zu halten, groß. Sie wird noch dadurch verstärkt, daß aktive Bürgerreaktionen sich immer nur punktuell gegen empfundene Mißstände oder unliebsame Ratsbeschlüsse richten. So bietet es sich an, sie auch punktuell "abzufedern", sei es durch Stattgeben, Aussitzen oder Inkaufnahme eines Bürgerbegehrens (dem man notfalls immer noch stattgeben kann). Zum aktiv-konzeptionellen Aufgreifen und zur bewußten Nutzung des Phänomens "Bürgerreaktionen" sieht der durchschnittliche PAK jedenfalls heute noch keinen Anlaß. Gäbe es die oben empfohlene Pflicht der Gemeinden, den Haushaltsplanentwurf mit der Bürgerschaft zu diskutieren, wäre der Anreiz für den PAK, eine Bürgerpolitik (zum Begriff Banner 1989: 38) explizit zu formulieren, schon wesentlich stärker. Wenn die Einstellung der meisten Bürgermeister zur kooperativen Demokratie ebenfalls als labil eingestuft werden muß, liegt das daran, daß sie mit einem Bein im PAK stehen, dessen Unsicherheit sie nachvollziehen können und mit dem anderen in der Bürgerschaft, von der sie ihr Mandat haben. Die generalisierte Bürgermeister-Urwahl dürfte die Diskussion entscheidend verändern und der Idee der Bürgerkommune neuen Schub geben. Bei Bürgermeisterkandidaten und -kandidatinnen, die sich erstmals der Urwahl stellen, werden teilweise frappierende Einstellungsveränderungen zum Thema "Rathaus und Bürger" beobachtet. Für einen urgewählten Bürgermeister ist es durchaus attraktiv (wenn auch nicht ganz risikolos), über die Ausweitung von Mitwirkungsangeboten folgende Anliegen zu . verfolgen: eine höhere persönliche Sichtbarkeit, wahrgenommene Bürgemähe und Parteiunabhän-

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gigkeit, qualitativ bessere, politisch akzeptierte Entscheidungen, Unterstützung der Bemühungen um einen ausgeglichenen Haushalt, Unterstützung einer sozialintegrativen Kommunalpolitik, die auch weniger artikulationsstarke Gruppen einbezieht und schließlich die Verbesserung der eigenen Wiederwahlchancen. Mit der Urwahl der Bürgermeister bekommt die Kommunalpolitik einen voluntaristischen Zug: Der eine Bürgermeister läßt Bürgerreaktionen auf sich zukommen und vertraut im Ernstfall auf seine Fähigkeiten als trouble shooter, während sein Kollege strategisch denkt und gemeinsam mit seinem Rat und der Bürgerschaft ein Leitbild der Kommune formuliert, das eine explizite Bürgerpolitik 10 einschließt. Es könnte sein, daß die kommende gesellschaftliche Entwicklung die strategische Variante prämiiert. Vermutlich ist die persönliche Einstellung des Bürgermeisters oder der Bürgermeisterin zur Idee der Bürgerkommune der mittelfristig einflußreichste Parameter für die Entwicklung der kooperativen Demokratie vor Ort. Wie die örtlichen Medien auf die Prozesse kooperativer Demokratie reagieren, hängt wohl vor allem von der Einstellung der leitenden Lokalredakteure und der örtlichen Konkurrenzsituation ab, sicher aber auch von der Fähigkeit der Verwaltungsspitze, ihre auf Diskurs und Konsens angelegte Politik zu vermitteln. Eine Zeitung, die am liebsten über Konflikte berichtet, wird eine solche Politik nicht immer produktiv begleiten (Weber 1998: 32). Steht die Bürgerkommune mit ihrem politischen Schlußstein, der kooperativen Demokratie, vor der Tür? So groß die Zahl ihrer Skeptiker und Gegner heute noch sein mag, vieles spricht dafür, daß deren Aktivitäten den Weg in die Bürgerkommune nur noch verlangsamen, aber nicht mehr blockieren können. Der größte Trumpf der Bürgerkommune ist die gesellschaftspolitische Großwetterlage. Wir haben es mit einem Grundanliegen, nicht mit einer vorübergehenden Modeerscheinung zu tun. Die Folge ist, daß die Bürgerkommune noch mit verschleiemden Argumenten behindert, aber nicht mehr offen in Frage gestellt wird. Beliebte Gegenargumente wie die Behauptung, ein "Übermaß" an Bürgermitwirkung mache eine Kommune handlungsunfä10 Das weitestgehende Engagement im Sinne einer Bürgerpolitik hat, soweit bekannt, die finnische Stadt Hämeenlinna in ihrer "Charter of Democracy" formuliert. In diesem Dokument verpflichtet der Rat sich selbst und die Verwaltungsführung: - die Zugänglichkeit zu, Wahlmöglichkeit zwischen und Transparenz aller Leistungsangebote zu verbessern; - die Koplanung und Mitwirkung auf alle Politikfelder auszudehnen; - gemeinsam mit den Bürgern kontinuierlich nach Verbesserungen und neuen, auch bereichsübergreifenden Problemlösungen zu suchen; - die Leistungsfahigkeit und Servicefreundlichkeit der Verwaltung laufend zu messen und mit anderen Anbietern zu vergleichen (Oppen 1998: 6).

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hig, haben an Überzeugungskraft eingebüßt, seit klar ist, daß die wirksamste Behinderung der kommunalen Handlungsfahigkeit gerade von den Protestreaktionen nicht beteiligter und deswegen verärgerter Bürger ausgeht. Kooperative Politikpraxis entwickelt Eigendynamik. Jedes Mehr an Bürgermitwirkung erzeugt gemeinsame Lernerfahrungen, die dazu angetan sind, die Vertrauenslücke zwischen Rathaus und Bürgerschaft zu verringern und zur Einbeziehung weiterer Politikfelder zu ermutigen. Ebenso zieht die Verlagerung von Verantwortung auf Bürger oder Vereine zwangsläufig deren Mitsprache nach sich. Allmählich verbessert sich das Kooperationsklima, Schritt für Schritt wird Kommunalpolitik transparenter und "öffentlicher". Transparenz- und attraktivitätssteigernd wäre auch ein periodischer Kooperationsbericht, der darstellt, auf welchen Gebieten und in welchen Formen es schon Zusammenarbeit zwischen Rathaus und Bürgerschaft gibt und welche weiteren Schritte - im Sinne der soeben zitierten Charter of Democracy - die Kommune beabsichtigt. Politische Eigendynamik bedeutet nicht Automatismus. Die Bürgerkommune braucht die Unterstützung der Gemeindevertretung und das Dauerengagement der Verwaltungsspitze. Und sie muß organisiert werden. Klar muß sein, wo die Verantwortung der Bürger endet und die der Gemeindevertretung beginnt. Von der direktdemokratischen Ausnahme abgesehen, entfaltet sich kommunale Demokratie im Schatten der Repräsentation. Der bewußten Organisation .bedürfen auch die vielen Möglichkeiten, durch Verfahrensinnovation und Einsatz von Informationstechnik in die Bürgerkommune zu investieren und insbesondere die Entscheidungsvorbereitung durch Bündelung von Gesichtspunkten zu verbessern. Dazu abschließend ein Zitat von Klaus Lenk: "Abstimmungen per Knopfdruck, die immer wieder als Inkarnation der "Electronic Democracy" ausgegeben werden, haben eine viel geringere Bedeutung als Verfahrensinnovationen, welche die Entscheidungsstrukturierung betreffen und damit das Mitreden einer großen Zahl von Teilnehmern strukturieren können. Eine gestufte, bottom-up funktionierende Rätedemokratie einerseits, eine impulsabsorbierende und oftmals -verzerrende repräsentative Demokratie andererseits waren bislang die einzigen Organisationsformen, die zur Verfügung standen. Daher kann gesagt werden, daß jetzt der Weg von der Abstimmungs- zur Mitwirkungsdemokratie führt" (Lenk 1999: 253, Hervorhebung G. B.) Die Bürgerkommune ist die kommunale Antwort auf die Anforderungen der Bürgergesellschaft Sie kommt umso schneller, je engagierter Stadtmanagement und Bürgerschaft gemeinsam an ihr arbeiten. Aufzuhalten ist sie nicht mehr.

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Die Unterscheidung von konstitutioneller Ebene ("Spielregeln") und täglicher Politik ("Spiel") im Ansatz der Neuen Polinsehen Ökonomie und der Staatsrechtslehre Von Martin Morlok

I. Einordnung in das Tagungsthema Politik wird von Menschen gemacht. Diese Menschen handeln aber immer unter bestimmten Bedingungen. Wenn man, so wohl die geschichtliche Bilanz, die Menschen nicht so leicht ändern kann - gerade die bisherigen Versuche einer Änderung der Menschen, die zum Totalitarismus, gar zur "terreur" geführt haben, sprechen gegen die Änderbarkeit -, wenn man gleichwohl eine Änderung des menschlichen Handeins erreichen möchte, so empfiehlt es sich, mit einer Änderung der Umstände, unter denen gehandelt wird, zu beginnen. Damit ist mit anderen Worten das Tagungsthema umschrieben: Die institutionellen Bedingungen des politischen Handeins sollen darauf hin überprüft werden, ob sie es mehr oder weniger wahrscheinlich machen, daß sich wünschenswertes politisches Handeln auch tatsächlich einstellt. Die Reformulierung in der Weise, daß Akteure unter vorgegebenen Bedingungen handeln, die veränderbar sind, wohingegen die Motivation der Akteure als stabil unterstellt wird, entspricht dem ökonomischen Denken. In den letzten Jahrzehnten hat die ökonomische Theorie über den Bereich des Wirtschaftslebens hinausgegriffen und grundsätzlich alle Bereiche des menschlichen Sozialverhaltens mit Hilfe dieser Grundannahmen des rational seinen Nutzen mehrenden homo oeconomicus theoretisch zu erfassen versucht 1• Im Bereich der Politik ist insbesondere die sog. Neue Politische Ökonomie2 1 S. insb. die wegweisenden Arbeiten von Gerry S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, 1982; ders., A Theory of Marriage, in: Journal of Political Economy 81 (1973), 813ff. und Journal of Political Economy 82 (1974), supplement, 1lff.; ders., Habits, Addictions, and Traditions, in: Kyklos 45 (1972), S. 327ff.; s. weiter ausführlich und m. w.N. G. Kirchgässner, Homo oeconomicus, 1991. Kritische Anfragen zum Menschenbild der ökonomischen Theorie stellt R. Gröschner, Der Homo oeconomicus und das Menschenbild des Grundgesetzes, in Ch. Engel/M. Morlok (Hrsg.), Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung 1998, S. 31 ff.; dazu die Entgegnung von G. Kirchgässner,

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bekannt geworden, in der es darum geht, den Zuschnitt von Institutionen so einzurichten, daß die Eigennützigkeit der Handelnden einerseits ausgenützt wird für ein akzeptables Resultat des Handeins der vielen Einzelnen, auf der anderen Seite jedenfalls auch den eigensüchtigen Motiven der politisch Handelnden hinreichend Aufmerksamkeit gezollt wird, was bei anderen Ansätzen der Politikbetrachtung nicht im gebotenen Maße der Fall sei; insbesondere die Schule der "Public Choice"3 hat auf diesen Aspekt hingewiesen. Aus dieser Perspektive geht es darum, angemessene Regeln für das politische Handeln aufzustellen - Regeln, die "gute" Politik wahrscheinlicher machen. Dazu zählt auch, daß die institutionellen Handlungsbedingungen möglichst so geartet sind, daß sie in Übereinstimmung mit den "natürlichen" - also den als gegeben vorausgesetzten - Motiven der Handelnden stehen, anders formuliert, daß die politisch Handelnden keine Heiligen zu sein brauchen, sondern entsprechend ihren normalen Neigungen agieren können. Dies ist eine in der abendländischen Philosophie wiederholt formulierte Erkenntnis. Schon Baruch de Spinoza wußte: "Ein Staatswesen, dessen Heil von der Gewissenhaftigkeit eines Menschen abhängt und dessen Geschäfte nur dann gehörig besorgt werden können, wenn die, denen sie obliegen, gewissenhaft handeln, ein solches Staatswesen kann nicht von Bestand sein·. Seine öffentlichen Angelegenheiten müssen vielmehr, damit es bestehen kann, so geordnet sein, daß die mit ihrer Verwaltung Beauftragten überhaupt nicht in die Lage kommen können, gewissenlos zu sein oder schlecht zu handeln, ganz einerlei, ob sie der Vernunft oder den Affekten folgen. " 4 James Madison machte sich dieses Argument in der Diskussion um die Verabschiedung einer amerikanischen Bundesverfassung nach dem Verfassungskonvent von Philadelphia 1787 zu eigen: "Es wirft ein schlechtes Licht auf die menschliche Natur, daß solche Vorkehrungen nötig sind, um den Mißbrauch der Regierungsgewalt zu verhindern. Aber ist nicht die Notwendigkeit von Regierung schon an sich die stärkste Kritik an der Es gibt keinen Gegensatz zwischen dem Menschenbild des Grundgesetzes und dem Homo oeconomicus!, ebda, S. 49ff. 2 Zur Neuen Ökonomischen Theorie vgl.: J. M. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit: Zwischen Anarchie und Leviathan, 1984; P. Bemholz/F. Breyer, Grundlagen der Politischen Ökonomie, 3. Aufl., Bd. 2: Ökonomische Theorie der Politik, 1994; A. Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, 1968; G. Kirsch, Neue Politische Ökonomie, 4. Aufl. 1994. 3 Dazu etwa: P. Bemholz, Public Choice Theory, in: Public Choice 77 (1993), S. 29ff.; J. M. Buchanan/G. Tullock, The Calculus of Consent, 1987; als Beispiel zu einem speziellen Thema G. Tullock, On Voting, 1998. 4 B. de Spinoza, Tractatus politicus, 1. Kapitel § 6; zitiert nach folgender Aus~.abe: Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes/Abhandlung vom Staate. Ubers., Anm. u. Reg. von C. Gebhardt, 5. Aufl., 1977, S. 58.

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menschlichen Natur? Wenn die Menschen Engel wären, so bräuchten sie keine Regierung. Wenn Engel die Menschen regierten, dann bedürfte es weder innerer noch äußerer Kontrollen der Regierenden. Entwirft man jedoch ein Regierungssystem von Menschen über Menschen, dann besteht die große Schwierigkeit darin: Man muß zuerst die Regierung befähigen, die Regierten zu beherrschen und sie dann zwingen, die Schranken der eigenen Macht zu beachten. " 5 Für Immanuel Kant schließlich ist weniger von Interesse, daß Engel keine Regierung bräuchten, sondern daß sogar radikal böse Wesen eine solche einrichten würden: "Das Problem der Staatserrichtung ist, . . ., selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar ... Denn es ist nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanismus der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstand ihrer unfriedlichen Gesinnung in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nötigen." 6 • In der heutigen Sprache der Ökonomie übersetzt lauten diese philosophischen Erkenntnisse: Die "Anreizkompatibilität" des institutionellen Designs ist einer der Punkte, auf welchen der ökonomische Theoretiker der politischen Institutionen sein Augenmerk richtet. Aus dem größeren Zusammenhang all dieser Fragen beschränke ich mich auf einen Aspekt: die im Titel genannte Unterscheidung zwischen dem Aufstellen von Regeln, "Spielregeln", und dem Handeln nach diesen Regeln, dem "Spiel". Ich werde zunächst diese Unterscheidung kurz darstellen, so wie sie von der ökonomischen Seite entwickelt wird, und einige der Gründe aufführen, weshalb sich ihre Beachtung empfiehlt (II.). In einem weiteren Abschnitt geht es mir um Entsprechungen dieser Unterscheidung innerhalb der Rechtswissenschaft, um parallele Figuren und Diskussionszusammenhänge, in denen die nämlichen oder jedenfalls ähnliche Probleme erörtert werden. Ein ganz knapper Blick auf Entsprechungen in anderen Disziplinen schließt sich an (III.). Mein vierter Teil versucht, die Bedeutung der Unterscheidung von konstitutioneller Ebene und alltäglicher Politik für unser Tagungsthema dingfest zu machen (IV.), wohingegen der Schlußabschnitt (V.) von Grenzen dieser Betrachtungsweise und einigen Einwänden gegen sie handeln soll.

5 J. Madison: 51. Artikel der Federalist Papers; zitiert nach: A. Hamilton/J. Madison/J. Jay, Die Federalist-Artikel- Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter, hrsg. v. A. Adams und W. P. Adams, 1994, S. 314. 6 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Zusatz, 1., A 60.

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II. Die Unterscheidung der Setzung von Spielregeln vom Spiel unter diesen Regeln

1. Der Inhalt der Unterscheidung von Spielregelsetzung und Spiel Die Darstellung dessen, was die ökonomische Theorie mit der Unterscheidung zwischen "Wahl der Spielregeln" und "Entscheidungenunter geltenden Regeln innerhalb eines Spiels" meint, kann relativ knapp gehalten werden, weil das Gemeinte ohne weiteres einleuchtet. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, daß im sozialen Zusammenleben Regeln wichtig sind7 • Dementsprechend ist die Festlegung, nach welchen Regeln gehandelt wird, eine wichtige, ja zentrale Entscheidung. Es geht also um die bewußte Wahl von handlungsleitenden Normen. Diese werden von den Ökonomen häufig als "Spielregeln" bezeichnet8 , die einzelnen Handlungen unter der Geltung dieser Regeln werden demgemäß als Spielzüge benannt. Die "Spielregeln" wirken dabei nicht als unwiderstehlicher Zwang, sie sind vielmehr Gegenstand von Entscheidungen und nicht einfach gegeben9 ; man folgt ihnen nicht deswegen, weil man nicht anders könnte, sondern weil man sich auf diese - und keine andere - Spielregel geeinigt hat (und man die Kosten einer Sanktion für den Verstoß gegen die Spielregel fürchtet). Entscheidungen über die Spielregeln sind in verschiedener Hinsicht abgehoben von den Entscheidungen, die es im Spiel nach diesen Regeln zu treffen gilt. Die jeweiligen Entscheidungen haben einen anderen Gegenstand, beim Für und Wider der Entscheidung über eine Spielregel sind andere Gesichtspunkte einschlägig als bei den Entscheidungen, die es innerhalb eines Spiels zu treffen gilt. Nicht nur die Art der Fragestellung und die maßgebenden Kriterien, auch das Ergebnis dieser Entscheidungen sind deutlich voneinander abgehoben: Auf der einen Seite geht es um ein Regelwerk, das eben das künftige Verhalten, das "Spiel", maßgebend bestimmen wird, auf der anderen Seite hängt es vom Geschick bei den Entscheidungen im Spiel ab, ob man Erfolg hat, ob man also beim Mensch-ärger-dich-nicht oder beim Monopoly zu den Gewinnern oder zu den Verlierern gehört; im gesellschaftlichen "Spiel" der Ökonomie oder der Politik geht es dabei um die Verteilung wirtschaftlicher Vorteile oder politischer Macht.

7 Vgl. G. Brennan/J. M. Buchanan, The Reason of Rules, auf deutsch: Die Begründung von Regeln, 1993, S. XIXff., 3ff., 21ff. 8 Vgl. z.B.: G. Brennan/J. M. Buchanan, Die Begründung von Regeln (Fn. 7), s. 7ff. 9 So G. Brennan/J. M. Buchanan, Die Begründung von Regeln (Fn. 7), S. Sf., 23f.

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Auf einen Punkt ist trotz dieser grundsätzlichen Trennung hinzuweisen: Die Entscheidungen über Spielregeln treffen auch schon Vorentscheidungen über die Art von Spielergebnissen, mit denen zu rechnen ist 10. Konkret gesprochen, Verteilungskurven werden wesentlich schon von Spielregeln beeinflußt, auch wenh die Wahl der Regeln nicht sagt, welche Individuen am Ende zu den Gewinnern und welche zu den Verlierern zählen werden. Dies hervorzuheben ist deswegen wichtig, weil bei den Entscheidungen während eines Spiels den Spielern häufig nicht klar ist, daß ihr relativer Erfolg oder Mißerfolg nicht nur von ihrem Geschick abhängt, sondern auch von den Regeln, nach denen gespielt wird. Mir scheint die Tatsache, daß die ökonomische Theorie den Unterschied zwischen der Entscheidung über die Spielregeln und den Entscheidungen im Spiel so forciert hervorhebt, damit zu tun zu haben, daß im ökonomischen Bereich die Wahl der Regeln tendentiell unterbelichtet war- weil die Regeln als selbstverständlich vorausgesetzt wurden. Man befand sich eben und argumentierte im Spiel einer Marktwirtschaft. Selbstverständlich war theoretisch immer klar, daß es auch andere Spielregeln gibt. Historisch gerichtete Untersuchungen haben die Bedeutung der Spielregeln für die wirtschaftliche Entwicklung herausgearbeitet 11 , ethnologisch vergleichende Studien haben dies geleistet 12 und vor allen Dingen natürlich die Auseinandersetzung mit dem welthistorischen Gegenmodell des Sozialismus. Das Nachdenken über die Regeln einer Marktwirtschaft ist nicht zufällig auf dem Hintergrund dieses Systemgegensatzes entstanden, die deutsche ordoliberale Schule, aber auch der Großdenker Hayek, haben ihre Theorien über die unterschiedlichen Regeln des Wirtschaftens explizit im Hinblick auf diese weltgeschichtliche Alternative formuliert. Allgemeine Anerkennung und Aufmerksamkeit fanden diese Erkenntnisse mit den Arbeiten von Hayek 13 , von North 14 und von Buchanan und seinen Mitstreitern, die auch ganz bewußt den anspruchsvollen Titel einer politischen Ökonomie oder einer neuen politischen Ökonomie 15 gewählt haben. Das läßt sich so deuten, daß sie ökonomische Modelle auch auf die Politik angewendet 10 Beispielhaft belegt bei G. Brennan/J. M. Buchanan, Die Begründung von Regeln (Fn. 7), S. 8. 11 So insbesondere die Arbeiten von D. C. North, Theorie des institutionellen Wandels, 1988; ders., Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsforschung, 1992. 12 S. etwa B. Malinowski, Argonauts of the Western Pacific, zuerst 1922. 13 F. A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 2. Aufl. 1983; ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, 1980, 1981; ders., Regeln und Ordnung, München 1981; ders., Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 2. Aufl. 1976. 14 D. C. North, Theorie des institutionellen Wandels (Fn. 11); ders., Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung (Fn. 11). 15 S. dazu insbesondere die Nachweise in Fn. 2.

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haben, aber eben so, daß sie die politische Bedeutung der zentralen Regelentscheidungen damit zum Ausdruck gebracht haben. Damit ist als erstes Ergebnis der ökonomischen Betrachtung festzuhalten: Die Entscheidungen über Regeln bilden eine eigene Kategorie von Entscheidungen nach besonderen Kriterien. Die Wahl der Institutionen (choice of institutions) ist dabei ein wichtiges Thema, das alle Aufmerksamkeit verdient. So weit, so gut - so trivial? 2. Gründe für die Sonderung der Entscheidungen über die Spielregeln

Neben der gesteigerten Bedeutung und dem besonderen Inhalt der Entscheidungen über die Spielregeln lassen sich eine Reihe von Gründen anführen, welche die Besonderheit der Entscheidungen über die Spielregeln ausmachen. Zunächst sind diese Entscheidungen besonders wichtig: Sie sind Entscheidungen über die Wirkungen der Entscheidungen im Spiel, über Entscheidungssituationen, in welche die Spieler kommen können, und damit über die motivbildenden Umstände der einzelnen Spieler. Vor allem aber gibt es eine Reihe von bemerkenswerten Eigenarten, die mit diesen Entscheidungen über konkrete Spielregeln verknüpft sind. Diese Besonderheiten leuchten bereits vor-theoretisch ein, die konstitutionelle politische Ökonomie verbindet mit ihnen aber auch relativ weittragende Überlegungen. a) Zunächst ist die Abschichtung dieser besonderen Art von Entscheidungen ein Gebot der Rationalität16 • Entscheidungen mit unterschiedlichem Gegenstand und unterschiedlichen Beurteilungsmaßstäben auseinanderzuhalten, bringt offensichtlich Vorteile. Die Konzentration auf bestimmte Probleme und die einstweilige Ausklammerung anderer verhilft zu mehr Übersicht und ermöglicht eine gesteigerte Informationsverarbeitung zur Lösung des anstehenden Problems. Umgekehrt kann später die ungeteilte Aufmerksamkeit den ad hoc-Entscheidungen gewidmet werden, diejenigen über die Regeln sind ja bereits gefallen. b) Vor allem bedeutet die Separierung der Entscheidungen über die Spielregeln eine Generalisierung in zeitlicher und damit auch personeller, sachlicher und räumlicher Hinsicht. Wenn über die Regeln befunden wird, so kann dies weitgehend ohne Rücksicht auf konkrete Anwendungsbereiche, auf konkrete Sachfragen, die nach dieser Regel entschieden werden, und vor allem auch unabhängig von konkreten Personen (mit ihren Interes16 Zu Komponenten des Rationalitätsbegriffs M. Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988, S. 149ff., insbesondere zu den Grenzen der Informationsverarbeitungskapazität, die eine mehrstufige Arbeitsweise nahelegen, S. 155 ff.

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sen), die nach diesen Regeln handeln sollen, geschehen 17• Damit wird eine breitere Perspektive eröffnet, die eine deutlich größere Chance hat, alle erheblichen Gesichtspunkte in den Blick zu bekommen, als wenn die Entscheidung aus einer aktuellen Situation mit ihren drängenden Fragen von den daran beteiligten Personen selbst mit ihren jeweiligen Interessenverflechtungen oder jedenfalls im Hinblick auf sie getroffen würde. Die Separierung der Entscheidung über die Regeln ermöglicht also eine Entscheidung ohne Ansehen konkreter Personen und fördert damit die Sachlichkeit der Entscheidung. Die Ausblendung konkreter Anwendungssituationen und konkreter Gruppen von Betroffenen mindert den Einfluß von Partialinteressen auf die Entscheidungstindung und steigert die Chance einer vernünftigen Entscheidung. c) Die konstitutionelle politische Ökonomie setzt auf diese Besonderheiten große Stücke; sie schreibt diesen sogar strategischen Stellenwert zu, weil sie die Konsenschancen deutlich vergrößerten 18. Während eine Einigung in der konkreten Spielsituation, sprich angesichts eines aufgetretenen ökonomischen oder politischen Konfliktes, relativ unwahrscheinlich sei weil die Einigungsmöglichkeiten von den Interessen der Beteiligten blokkiert würden -, stünden die Dinge bei Entscheidungen über die Spielregeln selbst anders. Hier nämlich verhülle der (bei John Rawls 19 ausgeborgte) Schleier der Unwissenheit (oder der Ungewißheit20) die künftige Interessensituation der Spieler, was die Einigungschancen auf bestimmte Regeln erheblich vergrößere. In mehreren Hinsichten seien die Spieler nämlich über ihre künftigen eigenen Interessen im Ungewissen. Dies beginne bereits damit, daß man über eigene künftige Affektionen und Präferenzen nicht sicher Bescheid wissen könne. "Vielleicht bin ich morgen ein ganz anderer und hänge ganz neuen Wertvorstellungen an!"21 Bei der Entscheidung über Regeln handelten die Beteiligten in Unkenntnis der Situation, in der sie von der Regel betroffen werden. Vor allem aber gelten Regeln auch für längere Zeit, so daß es wahrscheinlich ist, daß der einzelne in unterschiedlichen Situationen und in unterschiedlicher Befindlichkeit am Spiel teilnehmen würde. Diese Ungewißheiten dämpften die G. Brennan/J. M. Buchanan, Die Begründung von Regeln (Fn. 7), S. 37ff. S. hierzu und zum folgenden G. Brennan/J. M. Buchanan, Die Begründung von Regeln (Fn. 7), S. 23, 39ff., 95ff., 192ff. 19 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 9. Aufl., 1996, S. 29, 36 und öfter; ders., Die Idee des politischen Liberalismus, 1992, S. 61 f., 66f., 90f., 271 ff. und öfter. 20 Zum Unterschied und zu den Gründen, die für die Ungewißheitskonzeption sprechen G. Brennan/J. M. Buchanan, Die Begründung von Regeln (Fn. 7), S. 40ff. 21 Vgl. zu solchen Problemen F. M. Tenbruck, Zur Kritik der planenden Vernunft, 1972, S. 82 ff. 17 18

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Hartnäckigkeit, mit der bestimmte Interessen verfochten werden, und zwar genau deswegen, weil man nicht wissen kann, welches die eigenen künftigen Interessen sein werden. Angesichts dieser Ungewißheit sei im konstitutionellen Prozeß der Regelsetzung auf Einigung zu hoffen. Diese gebündelte Ungewißheit führt die konstitutionelle politische Ökonomie22 zu einem konstitutionellen Optimismus hinsichtlich der Möglichkeiten, sich über die Spielregeln selbst zu einigen und solche einvernehmlich in Kraft zu setzen. Damit ist der wesentliche Inhalt dessen, was die konstitutionelle politische Ökonomie als Entscheidung über die Spielregeln hervorhebt, umschrieben. 111. Juristische Entsprechungen

So einleuchtend diese Erkenntnisse zunächst sind, so wenig spektakulären Charakter dürften sie haben, jedenfalls in den Augen von Juristen. Etliche der Erkenntnisse, die von der konstitutionellen politischen Ökonomie vorgetragen werden, gehören durchaus zur alltäglichen Ausstattung des guten Juristen. In langen Jahrhunderten gewachsene Klugheit im Umgang mit Handlungsproblemen hat diese Erkenntnisse in den juridischen Erfahrungsschatz aufgenommen, ohne daß allzu großes Aufsehen davon gemacht würde. So ist es eine ehrenwerte und nützliche Erkenntnis, daß Entscheidungen über bestimmte Regeln oder Kriterien um der Sachlichkeit willen unabhängig getroffen werden von konkreten Personen, die danach zu beurteilen sind. Die Entscheidung eben "ohne Ansehen der Person" ist als empfehlenswerte Maxime Teil der juristischen Hausapotheke - freilich sei zugestanden ebenso auch der Trickkiste: durch bewußte oder gar verborgene Aufhebung dieser Trennung der Sachkriterien von der Personalentscheidung kann taktisch gespielt werden. Aber eben diese Umkehrung bestätigt die Bedeutung der getrennten Behandlung von Personalfragen und damit zusammenhängender Sachfragen. So kann man sich vor einer anstehenden Personalentscheidung zunächst in Isolation von möglichen Kandidaten auf ein Anforderungsprofil verständigen, um sich erst hiernach die Liste der Kandidaten anzusehen. Selbstverständlich kennen wir alle aber auch die gegenläufige Praxis, daß nur scheinbar unabhängig von konkreten Personen ein Kriterienkatalog aufgestellt wird, dem die Bewerber zu entsprechen haben. Tatsächlich haben die Beteiligten allerdings bei dieser Diskussion um die Kriterien bereits ihre eigenen Favoriten im Kopf. Dementsprechend wird hart - und mit sinkenden Einigungschancen - um diese Kriterien 22

Zur Bezeichnung G. Brennan/J. M. Buchanan, Die Begründung von Regeln

(Fn. 7), S. 2 f.

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gerungen, die entweder den einen oder - bei Wahl anderer Kriterien - eben andere aus dem Kreis der Bewerber besser aussehen lassen. Wie gesagt, in dieser und in anderen Formen ist der Rechtswissenschaft der besondere Charakter von Entscheidungen über Regeln, abgehoben vom Verhalten gemäß diesen Regeln und ihrer Anwendung, durchaus bekannt. 1. Die Entgegensetzung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung Ein besonders markantes Profil hat diese Unterscheidung gewonnen in Gestalt der Entgegensetzung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung. a) Die Vorstellung, rechtsetzende und rechtsanwendende Akte auseinanderzuhalten, ist in der Rechtswissenschaft fest verankert23 . Die Herstellungsverfahren für Rechtsnormen, also verbindlicher Vorschriften genereller und abstrakter Natur, ebenso wie deren Geltungsbedingungen unterscheiden sich deutlich von der Anwendung dieser Rechtsnormen in einem Einzelfall. Auch die Rechtsschutzmöglichkeiten und -formen differieren. Schließlich heben sich statuierte Rechtsnormen auch in der Erwartung der Bürger von Einzelfällen ihrer Anwendung durchaus ab. In den unterschiedlichen Arten der Produktion von Rechtsetzung und Einzelentscheidungen spiegeln sich die unterschiedlichen Probleme und Horizonte wider, unter denen Regelsetzung einerseits und die Anwendung dieser Regel in einem Einzelfall andererseits stehen. 24 b) In der weitgehenden Isolierung der Rechtssetzung von konkreten Einzelflillen25 ist die Annahme eingeschlossen, die Verallgemeinerbarkeit einer Regel stelle eine Richtigkeilsgewähr dar. Was in der zeitgenössischen ethischen Diskussion als Universalisierung diskutiert wird26, was aber lange zurückreicht, man denke etwa an die goldene Regel oder den kategorischen Imperativ, gilt als ein in aller Regel unverzichtbarer Schutz gegen eine Rechtsetzung, die mißbräuchlich zugunsten der einen oder zu Lasten anderer Personen oder Interessen eingesetzt wird. Was für alle gelten soll, kann nicht gezielt gegen oder für bestimmte Personen oder Gruppen instrumentalisiert werden. Das Rechtsgebot der Allgemeinheit der Gesetze21 , das für 23 Zur dogmatischen Unterscheidung zwischen Normen und Einzelakten s. m.w.N. M. Morlok, Die Folgen von Verfahrensfehlern am Beispiel von kommunalen Satzungen, 1988, S. 102 ff. 24 Dazu grundsätzlich K. Günther, Der Sinn für Angemessenheit, 1988, bes. S. 28 ff., 45 ff. 25 - was aber nicht partielle funktionale Äquivalenzen und Austauschbarkeilen ausschließt. 26 UmHinglich hierzu R. Wimmer, Universalisierung in der Ethik, 1980. 27 Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund des Allgemeinheitspostulats siehe die Beiträge in Ch. Starck (Hrsg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, Abhandlungen der

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Grundrechtseinschränkungen in Art. 19 I 1 GG eigens normiert wurde, bringt dies auf eine anerkannte Formel. Das, was mit dem "Schleier des Nichtwissens" oder der "Ungewißheit" gemeint ist, stellt sich dar als Vorkehrung zur Gewährleistung der Allgemeinheit des Gesetzes, des universalistischen Charakters der verabschiedeten Regelungen: Wer nicht sicher sein kann, in welcher Situation er von der Regel betroffen wird, tut gut daran, sie so zu formulieren, daß er in der einen wie in der anderen Konstellation mit der verabschiedeten Regel leben kann. Die Trennung der Rechtsetzung von den Anwendungsakten wird in der Staatsrechtslehre in Gestalt der Doktrin von der Allgemeinheit der Gesetze normativ unterfangen und gleichzeitig auf ihre Gründe expliziert. Die Abhebung der Rechtsetzung von der Rechtsanwendung bringt gleichzeitig die anderen bekannten Vorteile mit sich, daß nämlich bestimmte Umstände des aktuell anstehenden Problems nicht überbewertet werden und andere Momente, die gegenwärtig keine Rolle spielen, nicht außer Betracht bleiben. Insbesondere ein Schutz von längerfristigen Interessen ist mit der getrennten Rechtsetzung verbunden. c) Institutionell ist die Abhebung der Rechtsetzung von der Rechtsanwendung in der Gewaltenteilung aufgehoben. In Gestalt von Legislative, Exekutive und Judikative gibt es unterschiedliche Institutionen, die nach verschiedenen Verfahren arbeiten und die vor allen Dingen auch nach einem unterschiedlichen Modus mit unterschiedlichen Personen besetzt werden. Daß die Rechtsetzung einer Volksvertretung vorbehalten bleibt, soll die Interessensensibilität befördern. Die Gleichheit des Wahlrechts und die Gleichheit der Rechte aller Abgeordneten sollen die gleiche Chance aller Interessen auf Einbringung sicherstellen, wohingegen die Fachausbildung der bestellten Rechtsanwender die Kunstgerechtheit der Anwendung der Regeln und damit auch die Treue gegenüber den Regeln gewährleisten soll. 2. Sonderfall der Verfassunggebung

Eine ganz besondere Art von Regelsetzung hat die Wissenschaft vom Verfassungsrecht in Gestalt der Verfassunggebung und der Verfassungsänderung hervorgehoben. In gesteigertem Maße handelt es sich bei der Setzung von Verfassungsrecht um Entscheidungen über "Spielregeln" gegenüber dem laufenden "Spiel". Selbstverständlich sind normale Gesetze Rechtsregeln, deswegen wurden sie soeben ja auch unter dem Gegensatzpaar von Regelschaffung und Regelanwendung diskutiert. Für den politischen Prozeß Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, 3. Folge, Bd. 168, 1987, insbes. H. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, S. 9ff., auch in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 260ff.

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gilt aber zu einem guten Teil, daß die Entscheidungen, auf die er hinzielt, solche über Gesetze sind. "An der Macht zu sein" bedeutet zentral die Fähigkeit, Gesetze verabschieden zu können. Zu regieren meint, Gesetze erlassen zu können: "gouverner c'est legiferer". Angesichts dieses Befundes, wonach sich die alltägliche Gesetzgebungsarbeit darstellt als Zug im politischen Spiel, gewinnt die demgegenüber sich als Meta-Ebene darstellende Schicht des Verfassungsrechts eine eigene Bedeutung, eben die, welche wir idealtypisch bisher der Regelsetzung an sich zugeschrieben haben. Die Überlegungen zur Rationalisierung der Entscheidung über die Regeln gelten hier in verstärktem Maße. Insbesondere die Enthebung von ganz bestimmten Kontexten ist für die Verfassunggebung zu empfehlen. Man ändert nicht, jedenfalls nicht vernünftigerweise, wegen eines aktuell anstehenden einzelnen Problems die Verfassung, sondern nur dann und insofern, als sich voraussehbar auf Dauer die ins Auge gefaßte Regelung für eine große Zahl von Situationen als angemessen und notwendig darstellt. Der besondere Charakter der Verfassunggebung und der -änderung wird normativ und institutionell hervorgehoben durch die besonderen Verfahren, die bei einer Verfassungsänderung zu beachten sind. Die besondere Qualität der konstitutionellen Regeln wird schließlich durch den Vorrang28 und auch die Ausstrahlungswirkung der Verfassung auf die übrige Rechtsordnung29 gesichert, als oberste Rechtsnorm hat sie die größte Bedeutung und ist die letzte Regelinstanz. Dies ist auch deswegen wichtig, weil es innerhalb des Rechts keine höhere Instanz gibt, kein anderes Spiel betrieben oder gar das "Spiel" abgebrochen werden kann. Schließlich gibt es auch eigene Institutionen, die speziell mit der Durchsetzung des Verfassungsrechts befaßt sind, insbesondere das Verfassungsgericht30. Im Spiel der alltäglichen Politik hat es die Rolle eines besonderen Garanten für die Beachtung der konstitutionell getroffenen Entscheidungen. 3. Entsprechungen auf anderen Gebieten

Nur ganz kurz ist darauf hinzuweisen, daß sich unsere Unterscheidung von Entscheidungen über Spielregeln und EntscheidungeQ. über Spielzüge auch in anderen Zusammenhängen wiederfindet. Das nimmt nicht wunder: Dazu R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 ( 1981 ), 485 ff. Ausformuliert wird diese hauptsächlich für die Grundrechte, die auch als Elemente objektiver Ordnung fungierten, s. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auf!. 1995, Rn. 293ff.; zur Diskussion m.w. N. H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 41ff. 30 Zur Rolle eines Verfassungsgerichts im Zusammenspiel der Ebenen des Rechts und bei der Praktizierung des Verfassungsrechts R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), 485 (499ff.). 28

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Eine im gezeigten Sinne durchgeführte Abhebung von grundlegenden Entscheidungen gegenüber Detailentscheidungen ist einfach zu vorteilhaft, als daß diese sich nicht in den verschiedensten Zusammenhängen und unter den verschiedensten_Bezeichnungen etabliert hätte. So wie es einerseits notwendig ist, den Gegebenheiten der konkreten Situation gerecht zu werden, so ist es andererseits nur vernünftig, zeitliche, personelle, sachliche und räumliche Dekontextierungen, also Verallgemeinerungen vorzunehmen. Genannt werden sollen nur die aus dem Militärischen bekannte Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik, oder aus der Organisationslehre die Trennung von Aufbauorganisation und Ablauforganisation, weiter die Entgegensetzung von Organisation einerseits und Verfahrensregeln andererseits oder auch die Unterscheidung zwischen einem bestimmten Kunststil und einem einzelnen Kunstwerk dieser Ausrichtung 31 • IV. Positiver Ertrag Die Unterscheidung der Setzung von Spielregeln einerseits und dem Handeln unter und gemäß diesen Regeln auf der anderen Seite bringt mehrere Vorteile mit sich; sie ist hilfreich für die Durchdringung und damit auch praktische Meisterung regelorientierten Handelns. Im einzelnen mag man folgende Punkte nennen:

1. Rationalitätsgewähr Die Abschichtung unterschiedlicher Arten von Entscheidungen und ihre getrennte Behandlung bringt einen Rationalitätsgewinn32 , gerade auch in der Politik! Verschiedene Aspekte getrennt voneinander und mit spezieller Aufmerksamkeit für die jeweils dominierenden Aspekte zu behandeln, erhöht die Wahrscheinlichkeit eines guten Ergebnisses.

2. Regelsetzung als eigenes Thema Die auf die Besonderheiten der Regelsetzung gerichtete Aufmerksamkeit sichert dieser besonderen Art von Entscheidung die ihr gebührende Aufmerksamkeit. Die "choice of rules" 33 wird als Thema etabliert und gesichert - und damit werden eben auch eigene Vorkehrungen institutioneller 31 Zu diesem Konzept informiert breit H. G. Gumbrecht/K. L Pfeiffer (Hrsg.), Stil, 1986. 32 Zur Theorie der begrenzten Rationalität vgl. H. Simon, Models of Man, 1957, S. 241 ff.; ders., A Behavioral Model of Rational Choice, Quaterly Journal of Economics 69 (1955), 99- 118; für w.N. M. Morlok, Verfassungstheorie (Fn. 14),

s. 155ff.

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und prozeduraler Art nahegelegt und die Entwicklung von Kriterien zur Beurteilung der Qualität von Regeln befördert. In dem Maße, in dem die Wahl der Regeln zum bewußten Gegenstand wird, kann es zur Entwicklung von Metaregeln, von Beurteilung~- und Selektionskriterien für die Wahl der Regeln kommen34. Dies ist auch deswegen politisch beachtlich, weil damit Raum für die politische Gestaltung freigesetzt wird. Das, was festgelegt werden soll, ist nur noch zu einem Teil determiniert und im übrigen der Zweckmäßigkeitserwägung und dem politischen Gestaltungswillen ausgesetzt. Insbesondere die Unterscheidung zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht macht dies sichtbar: Die konstitutionellen Vorgaben determinieren den Gesetzgebungsprozeß nur sehr begrenzt und machen die Verantwortung für die eigentliche Gesetzgebungsarbeit deutlich.

3. Sicherung zur Erhaltung der Differenz Angesichts der Bedeutung der Unterscheidung von Regelfestsetzung und Handeln unter verabschiedeten Regeln und angesichts der damit verbundenen Vorteile empfehlen sich Sicherungen, um diese Verschiedenartigkeit zu stabilisieren und um die unterschiedlichen Vorgehensweisen und AufmerksamkeitszentreD gegen eine Verwischung zu sichern. Das Ensemble der verfassungsrechtlichen Einrichtungen, das sich um die Idee der Gewaltenteilung (oder Funktionenverteilung) entwickelt hat, steht dafür und erhält von den Betrachtungen der neuen konstitutionellen Ökonomie eine zusätzliche Rechtfertigung. Auf diese Differenz hinzuweisen, besteht durchaus Anlaß: Wenn die Zeichen nicht trügen, gibt es gegenwärtig durchaus deutliche Tendenzen für eine Verwischung der Differenz von Rechtsetzung und Rechtsanwendung. Rechtsetzung wird zunehmend mit Einzelfragen behelligt und gerät auch in der Form bisweilen in die Nähe von Instruktionen für den Einzelfall. Selbst auf Verfassungsebene lesen sich die jüngsten Änderungen wie ihre eigenen Ausführungsverordnungen (siehe Art. 16a, 13, aber auch 23 GG35 ). Die Gesetzgebungsarbeit gerät in die Gefahr, zu sehr mit der Lösung von Einzelproblemen präokkupiert zu sein; umgekehrt gerät die Rechtsprechung unter Druck -oder in die Versuchung?-, selbst rechtssetzend tätig zu werden und Grundentscheidungen über künftige Entscheidungen selbst zu treffen und nicht dem Gesetzgeber zu überlassen.36

33 Vgl. zur "choice of rules" allgemein und umfassend: R. M. Czada (Hrsg.), Political Choice: Institutions, Rules, and the Limits of Rationality, 1991. 34 Hierzu z.B. G. Brennan/J. M. Buchanan, Die Begründung von Regeln (Fn. 7), S. 139ff. 35 Kritisch zu dieser Tendenz bei der Formulierung von Verfassungstexten A. Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), 35 ff.

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4. Beachtung der Differenz als Voraussetzung für eine gute und bürgernahe Politik Wenn das, was ich hier ausgeführt habe, einigermaßen zutrifft, dann ist die Beachtung der Differenz zwischen der konstitutionellen Ebene und derjenigen der praktischen Politik eine wichtige institutionelle Voraussetzung guter und bürgernaher Politik. Das bedeutet verschiedenes, worauf in der Diskussion noch eingegangen werden mag. Hinzuweisen ist jetzt jedenfalls auf die gerade angesprochenen Tendenzen zur Verwischung der Unterschiede von Rechtsetzung und Rechtsprechung, zum anderen ist die Besonderheit der Regeln der Verfassung zu beachten, welche eine langfristige und generelle Ausrichtung und eben darin ihr Schwergewicht haben. Dagegen sollten sie nicht zur parteipolitisch motivierten Unterstützung von politischen Einzelvorhaben mißbraucht werden, etwa im Sinne dessen, daß der eigene Vorschlag unbedingt verfassungsgeboten und eine andere Möglichkeit ausgeschlossen sei. In aller Regel lassen die Vorgaben des Verfassungsrechts durchaus Spielraum für das Agieren der praktischen Politik. Das zu beachten, ist förderlich für die Politik und es pflegt auch das Verfassungsrecht 5. Die Frage nach Transformationsregeln Hält man Entscheidungen über Regeln und damit über künftige Entscheidungen getrennt von den Entscheidungen der alltäglichen Politik, so ist damit ein Problem noch nicht beantwortet: Wie können die bestehenden Regeln geändert werden? Die Änderungsentscheidungen erfolgen ja nicht in einem völlig anderen Raum, sondern sind - in der Demokratie notwendigerweise - eben eingestellt in den normalen politischen Prozeß. Dieser hat, wie oben unter Heranziehung der Argumente der neuen politischen Ökonomie gezeigt, seine unvermeidlichen Einschränkungen und Borniertheiten. Er ist stark bestehenden Interessen verpflichtet und damit ex ante betrachtet wenig geeignet, Veränderungen zuwege zu bringen, die diesen Interessen zuwiderlaufen. Hans Herbert von Arnim hat dies ja wiederholt am Beispiel der sog. "Entscheidungen in eigener Sache" bei der Parteienfinanzierung und der Alimentation und Versorgung des politischen Personals gezeigt. 37 Eine Patentlösung für das Problem der konsensualen oder jedenfalls mit Mehrheit erfolgenden Transformation einer politischen Ordnung läßt sich auch der konstitutionellen politischen Ökonomie nicht entnehmen. Immerhin scheint mir der Gedanke verfolgenswert zu sein, daß im Zustande der Unge36 Vgl. die Warnung vor solchen Tendenzen unlängst bei H.-P. Schneider, Gesetzgebung und Einzelfallgerechtigkeit, ZRP 1998, S. 325 f. 37 Zum Problem und zu Abhilfemöglichkeiten s. H. H von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern, 1997, S. 307ff.

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wißheit über die eigenen künftigen Interessen die Konsenschancen größer sind als in der Verstrickung in aktuelle Auseinandersetzungen um bekannte Interessen38 . Wenn Verfassungen in besonderem Maße für alle akzeptable Regelungen enthalten sollen, also dem Universalisierungsgebot in besonderer Weise verpflichtet sind, so kann dies pragmatisch dahingehend umformuliert werden, daß die Wahrscheinlichkeit einer Einigung auf gute Verfassungsregeln mit der Unsicherheit über die eigenen künftigen Interessenlagen wächst. Daraus ist zu folgern, daß Prozesse der Regelsetzung oder der Regeländerung, insbesondere der Verfassungsänderung, dann besonders gut gelingen, wenn die Beteiligten auf Abstand von aktuellen Interessen gehen können oder müssen und zu einer breiteren Perspektive befähigt sind, zu einer Generalisierung in personeller, sachlicher und zeitlicher Hinsicht, kurz, wenn sie sich vom gegenwärtigen Kontext lösen können - mindestens in den dabei angestellten maßgeblichen Betrachtungen. Damit empfiehlt sich eine Forcierung der Außeralltäglichkeit von Änderungen der konstitutionellen Regeln. Nicht nur in Gestalt von Mehrheitserfordernissen, sondern auch in weiteren institutionellen Arrangements ist - auch symbolisch - hervorzuheben, daß Entscheidungen einer ganz anderen Tragweite getroffen werden als diejenigen, die laufend im politischen Spiel gefällt werden. Zu denken ist an eine besondere Form der Initiative für eine Verfassungsänderung39 Erwägenswert ist auch der Einbau einer zeitlichen Komponente, um die Loslösung von der aktuellen Situation zu erleichtern40. Zu denken ist auch daran, daß eine Verfassungsänderung erst für das künftige Parlament in Kraft tritt oder gar von diesem gebilligt werden muß41 . Auch an eine Vergrößerung der Zahl der Zustimmungsberechtigten in Gestalt von Volksentscheiden42 kommt in Betracht, wenn es um die Möglichkeiten der Distanzierung von den aktuellen Positionen der Hauptakteure im politischen Spiel geht. Alles, was die Augenblicksverbundenheit lockert, erscheint für die Einnahme der konstitutionellen Perspektive vorteilhaft. Paradoxerweise können dies auch Erschwerungen des Prozesses der Verfassungsänderung herbeiführen. All diese Aussagen sind nur unter dem einen hier angesprochenen Aspekt gemacht. Eine ganz andere Frage, die hier nicht behandelt wird, ist die, welche Bedeutung die Volkssouveränität im Hinblick auf verfassungsmäßige Fixierungen hat. Unter diesem Gesichtspunkt ist nämlich durchaus fragwürdig, daß eine Gene38 G. Brennan/J. M. Buchanan, Die Begründung von Regeln (Fn. 7), S. 37ff. und allgemeiner 177 ff. 39 S. z.B. Art. 121 Verfassung der Schweiz. 40 Siehe etwa Art. 286 I Verfassung von Portugal. 41 Für diesen Modus s. Art. 110 III Verfassung Griechenlands. 42 Beispielsweise ist Art. 89 II Verfassung Frankreichs zu nennen.

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ration Entscheidungen getroffen hat und damit auch künftige Generationen bindet oder ihnen jedenfalls Änderungen besonders schwer macht. 43

V. Grenzen und Defizite der Unterscheidung der neuen konstitutionellen Ökonomie Neben diesen Punkten, die dem durch die konstitutionelle politische Ökonomie inspirierten Denken gutzuschreiben sind, sind freilich auch einige Bedenken namhaft zu machen. 44 1. Die Bezeichnung als "Spielregeln" Mein erster Kritikpunkt betrifft scheinbar nur die Terminologie. Sie darf dabei keinesfalls als Kritik an der Spieltheorie45 und ihrer wissenschaftlichen Fruchtbarkeit verstanden werden. Die Rede von "Spiel" und "Spielregeln", wenn es um Verfassungsfragen geht, ist durchaus unangemessen. "Spiel" hat die wesentliche Bedeutungskomponente des Unwesentlichen, dessen, daß man dann, wenn es einem nicht mehr gefallt, aufhört und sich einem neuen, insbesondere einem Spiel nach anderen Regeln, zuwendet. Die grundlegenden Regeln des gesellschaftlichen Zusarnmenwirkens, sei es in der Wirtschaft, sei es in einem anderen Lebensbereich oder seien es die grundlegenden Regeln der Verfassung, sind demgegenüber von einem ganz anderen Charakter. Hier wird nicht gespielt, hier wird ernstlich, insbesondere unwiederholbar gelebt und ggf. gelitten, hier gibt es keinen einfachen Ausstieg und nicht die schlichte Hinwendung zu einem neuen Spiel. Aus der Geschichte und auch aus dem einzelnen Leben kann man nicht aussteigen und einfach ein neues "Spiel" beginnen. Auch wenn die Situation noch so verfahren ist, man muß am bestehenden Zustand weitermachen. Dieser Umstand wird in der Redeweise von "Spielen" dramatisch verniedlicht; das beschwört die Gefahr herauf, existentielle Entscheidungen als solche zu verkennen. "Spielregeln" dürfen beliebig sein - ggf. ist das Spiel langweilig oder unfair gegenüber bestimmten Mitspielern, was schnell dazu führen wird, das Spiel abzubrechen oder jedenfalls kein neues Spiel dieser Art zu 43 Hierzu H. Dreier, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 79 III Rn. 14 m. w. N.; ders., Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, 741 (747ff.). 44 Umfassender zu Einwänden M. Morlok, Vom Reiz und Nutzen, von den Schwierigkeiten und den Gefahren der Ökonomischen Theorie für das Öffentliche Recht, in Ch. Engel/M. Morlok (Fn. 1), S. 21 ff. 45 Vgl. zur Spieltheorie für rechtliche Anwendungszusammenhänge insbesondere: D. G. Baird/R. U. Gertner/R. G . Picker, Game Theory and the Law, 1995. Einen einführenden Überblick geben: M. J. Holler/G. Illing, Einführung in die Spieltheorie, 3. Aufl. 1996; C. Rieck, Spieltheorie: Einführung für Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, 1993.

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beginnen. Demgegenüber geht es im Recht, besonders im Verfassungsrecht, um unausweichliches soziales Zusammenleben, das der normativen Regelung bedarf. Zu einem bestimmten Teil finden sich im Verfassungsrecht sogar notwendige Regeln in dem Sinne, daß es zu ihnen kaum eine vernünftige Alternative gibt. All dies wird mit der Rede von "Spielregeln" verdeckt46. Die Spielmetapher ist für die Anwendung auf die Grundprobleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens von frivolem Unernst und damit gänzlich inadäquat. 2. Ergänzungsbedürftigkeit um Anwendungsregeln

Ein zweiter Punkt bedeutet eher eine Ergänzung als einen Einwand. Die Konzentration auf die formalen Regeln allein läßt durchaus zu Unrecht die Maßgeblich.keit der nötigen und unvermeidlicherweise entstehenden informalen Regeln außer acht47. Jedes Regelwerk bedarf der Ergänzung um solche weiteren Regeln: - um Anwendungsregeln, die sagen, wann und in welcher Weise eine bestimmte Regel anzuwenden ist; - um Spezifizierungsregeln, die abstrakte Regeln auf konkrete Inhalte hin kleinarbeiten. Beide Arten von Regeln sind meist informaler Natur, sie werden selten fqrmlich verabschiedet, oft sind sie nicht einmal literaturfähig, gleichwohl sind sie wirksam, ja unabdingbar. Die Wirklichkeit der Regeln wird erst durch das Zusammenspiel von formalen Regeln und informalen Regeln geschaffen, weshalb systematischerweise von Anfang an der Blick auch auf letztere zu richten ist. Diese umfassen juristisches dogmatisches Wissen ("diese Norm ist so und so zu verstehen"), für unser Thema wichtig sind dabei auch die Regeln der politischen Kultur48 . Auch wenn diese informalen Regeln nicht meinen Gegenstand bilden, eine zureichende Behandlung jeder Art von Regeln muß immer auch der Frage nachgehen, zu welchen informalen Regeln verlocken die formalen? Werden sie durch diese informalen Regeln eher umgangen oder eher bekräftigt? Und auch die weitere Frage, gerade im Hinblick auf einen normativ aufgeladenen Begriff der 46 S. auch die Betonung des Unterschiedes zwischen "Spielregeln" und sozialen Normen bei F. Tugendhat, Probleme der Ethik, 1984, bes. S. 74f. 47 H. Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, 1984; ders., Das Verhältnis von formaler und informaler Verfassung, in: A. Görlitz/H.-P. Burth (Hrsg.). Informale Verfassung, 1998, S. 25 ff. 48 Der Klassiker hierzu inzwischen G. Almond/S. Verba: Civic Culture, 1963; dies. (ed.) The Civic Culture Revisted, 1989; für den deutschen Sprachraum D. Berg-Schlosser (Hrsg.), Politische Kultur in Deutschland - Bilanz und Perspektiven der Forschung, 1987.

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politischen Kultur, ist zu stellen: Wie wirken sich die formalen Regeln auf diejenigen der politischen Kultur aus? Wie sind letztere zu pflegen? 3. Notwendige Qualität von Verfassungsregeln

Schließlich möchte ich ein Fragezeichen anbringen am Vertrauen auf die Nützlichkeit des "Schleiers des Nichtwissens" um die Konsequenzen von Regeln, die in der Diskussion sind. Die konstitutionelle politische Ökonomie vertraut darauf, daß das Nichtwissen oder die Ungewißheit die Wahrscheinlichkeit der Annahme bestimmter Regeln erhöht. Dies dürfte in der Tat so sein, auch ich habe gerade mit dieser Annahme gearbeitet. Gleichwohl gilt es, etliches gegen dieses Bauen auf - immer nur vorläufige - Unkenntnis oder gar auf Täuschung über die eigene Interessenlage einzuwenden. Auch wenn vor dem Schleier der Unwissenheit Regeln akzeptiert werden, so wird doch die Anwendung dieser Regel im Laufe der Zeit den Beteiligten deutlich, oft allzu deutlich machen, ob sie für sie vorteilhaft oder abträglich sind. Eben wenn Regeln, zumal konstitutioneller Natur, auf längere Sicht hin gelten sollen, so läßt sich nicht verhindern, daß sich der Schleier für die Betroffenen hebt und sie vom Baum der Erkenntnis essen. Die Tatsache, daß der Verfassungskonsens bereits festgeschrieben wurde, ist dann nur begrenzt hilfreich. Wenn man unter dem Schleier der Unwissenheit zur Annahme einer Regelung gebracht wurde, ist dies eine Sache. Das kann aber dazu führen, bei nächstbester Gelegenheit den Verfassungskonsens aufzukündigen, jedenfalls die Loyalität zur Verfassung abzuschwächen. Die erwünschte Beständigkeit der Verfassung läßt sich nicht durch Überraschungs- und Überrumpelungseffekte erreichen. Der Unernst des Denkens in Spielen zeigt sich auch an dieser Stelle. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß Verfassungsregeln - schon allein deswegen, weil sie letztlich nicht erzwungen werden können und von der freiwilligen Akzeptanz aller Betroffenen abhängen - ihre Effektivität wesentlich daraus beziehen, daß sie den Adressaten, und damit letztlich allen Bürgern, eine inhaltlich überzeugende Regel anbieten. Die Effektivität der Verfassung hängt ab von ihrer nachhaltigen Überzeugungskraft49 . Die Reduzierung auf das Annahmeproblem im Zeitpunkt der Verfassunggebung erweist sich damit als technokratisch, oder verfassungstheoretisch gesprochen als formalistisch. Die Legitimation der Verfassung muß sich immer neu erweisen, sozusagen als creatio continua, in einem plebiscite de tous les jours. Um ihrer Effektivität willen ist die Orientierung der Verfassung auf inhaltliche Qualitäten nötig: Nur eine gute Verfassung ist eine tatsächlich wirksame Verfassung. 49 Dazu M. Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988, S. 96ff.

Direkte Demokratie statt Reformstau Volksabstimmungen als Erfrischungskur Überblick über die Aktivitäten von "Mehr Demokratie" Von Thomas Mayer "Welche Regierung die beste sei? Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren"! Johann Wolfgang von Goethe

Die Frage, warum brauchen wir Direkte Demokratie?, ist falsch gestellt. Fraglich ist doch, wieso es in einer Demokratie keine Volksabstimmungen geben sollte. Heißt Demokratie doch nichts anderes, als daß die Herrschaft vom Volke ausgeht. Daß also die Bürgerinnen und Bürger ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Mir ging es in Begegnungen mit Schweizern oft so, daß diese zunächst gar nicht richtig verstanden, daß es in Deutschland gar keine Volksabstimmungen gibt. Für sie war die Direkte Demokratie so selbstverständlich, daß sie sich gar nichts anderes vorstellen konnten. Damit diese Grundempfindung, dieses Selbstverständnis des Bürgers, Ausgangspunkt der Demokratie zu sein, in Deutschland bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht so auftritt, gibt es eine Einengung unseres Grundgesetzes mit dem Begriff "repräsentative Demokratie". Immer und immer wiederholen Vertreter des Parteienprinzips, daß wir eine repräsentative Demokratie hätten. Im Grundgesetz steht dies zwar nirgends. Dort heißt es, alle Staatsgewalt geht vom Volke aus und wird durch Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Woher kommt nur dieser Begriff der "repräsentativen Demokratie"? Ich konnte oft bemerken, daß die Vertreter der "repräsentativen Demokratie" selbst gar kein Bewußtsein darüber haben, was dieses Wort eigentlich bedeutet. Der Repräsentationsgedanke ist ideengeschichtlich ein vordemokratischer Begriff und diente zur Rechtfertigung des Monarchie. Die Könige repräsentierten im Mittelalter Gott. Nach dem Beginn der Neuzeit im 15. Jahrhundert, war dieser Repräsentationsbegriff nicht mehr zu halten, was mit der Aufklärung zu tun hat, aber auch mit der zunehmenden Dekadenz der Monarchen. Anstatt Gott repräsentierten die Könige nun das Volk, so die neue Legitimation der Macht der Könige. Das Volk hatte im Laufe

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der Zeit aber keine Lust mehr, von den Königen und Fürsten repräsentiert zu werden. Und so wurden die Könige nach und nach entmachtet. Auch in Deutschland haben wir die Kronen ins Museum gestellt. Die äußeren Indizien der Monarchie sind verschwunden. Doch immer noch verwenden wir Begriffe der Monarchie. Ein Reformprozeß sitzt nur dann wirklich tief, wenn auch die Begriffe anders werden. Sicher, um ein Mißverständnis zu vermeiden, Parlamente sind notwendig. Ich hätte keine Zeit und keine Lust, mich als Bürger um alle Fragen, die gesetzlich geregelt werden sollten, zu kümmern. Ich will und muß mich hier auf das Wesentliche beschränken. Eine Arbeitsteilung zwischen Bürgern und Parlamenten ist notwendig, genauso wie auch in der Wirtschaft eine Arbeitsteilung notwendig ist. Eine arbeitsteilige Erledigung der demokratischen Aufgaben liegt in der Natur der Sache. Man könnte also von "arbeitsteiliger Demokratie" sprechen. Dagegen kommt mit dem Begriff "repräsentative Demokratie" ein Vordemokratisches Element herein und wir erleben ja auch immer wieder die Anmaßung der Politiker, Vormünder der Bürger zu sein. These 1: Wir brauchen praktikable Regelungen für Volksabstimmungen auf allen politischen Ebenen damit neue Konzepte in der Öffentlichkeit diskutiert werden, - damit es einen Wettbewerb der Ideen gibt, - damit die Parteienverdrossenheit nicht in Demokratieverdrossenheit umschlägt, - damit die Bürgerinnen und Bürger ernst genommen werden und in wichtigen Sackfragen (z. B. Währungsunion, Steuerreform, Energiepolitik, etc.) selbst entscheiden können.

Eine gelebte Direkte Demokratie verändert die politische Kultur und erhöht die Lebensqualität. Einige Stichpunkte dazu: Die Bürgerinnen und Bürger erleben sich ernster genommen, wenn sie in Sachfragen mitentscheiden können. - Die Direkte Demokratie ist ein Ausweg aus der Ohnmacht ("die da oben machen doch, was sie wollen"). Diese Ohnmachtsempfindung führt allzuoft zu privater Resignation, Zynismus oder politischer Aggression. Wer eine Chance hat, sein Anliegen in einem fairen Verfahren zur Entscheidung zu bringen und dann verliert, der kann das Ergebnis eher akzeptieren, als wenn er sich von Anfang an einer geschlossen und ablehnenden Mauer der Parlamentsmehrheit gegenübergestellt sieht. Das ist die befriedigende Wirkung der Direkten Demokratie.

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- Das politisches Interesse und die Verantwortungsbereitschaft der Menschen wächst. Da die Menschen selbst entscheiden können, interessieren sie sich auch mehr um die strittige Sachfrage. Vor jedem Volksentscheid finden ausführliche öffentliche Diskussionen statt - eine Chance für jeden, etwas dazuzulernen. Mit jedem Volksentscheid verbindet man sich ein Stück mehr mit dem Gemeinwesen. Politiker können Probleme nicht mehr so aussitzen wie bisher ("Arroganz der Macht"). Die Rolle der Politiker ändert sich mit der Direkten Demokratie. Diese müssen sich nun mehr darum kümmern, ihre Vorschläge zu vermitteln und die Bürgerinnen und Bürger zu überzeugen. Damit wird die Distanz zwischen Regierenden und Regierten kleiner. - Neue Ideen haben größere Chancen, auf die öffentliche Tagesordnung zu kommen. Es gibt mehr Wettbewerb zwischen Vorschlägen zur Gestaltung unseres Gemeinwesens. Damit wächst die Lern- und Erneuerungsfähigkeit der Gesellschaft und wir haben größere Chancen, die Aufgaben der Zukunft zu bewältigen. These 2: Seit 1990 wurde in allen Bundesländern auf Landes- und Kommunalebene Regelungen für Bürger- und Volksbegehren eingeführt. Jedoch ging es den Landesparlamenten bei den gesetzlichen Regelungen nicht darum, Bürgermitbestimmung zu ermöglichen. Sondern die Verhinderung der Bürgermitbestimmung sollte zementiert und erfolgreiche Bürgerentscheide zu einem Ausnahmefall gemacht werden. Deshalb beschlossen die Landesparlamente eine Fülle von Themenausschlüssen und Klauseln, die das Mitbestimmungsrecht meistens zu einem bedeutungslosen Papiertiger machen. Es gibt ein ganzes Arsenal von Hürden und Hindernissen, mit denen die Landesparlamente eine gelebte Direkte Demokratie in den Gemeinden und Ländern verhindem wollen. Hier die wichtigsten, wobei zu beachten ist, daß in jedem Bundesland andere Hürdenkombinationen gelten. Themenausschluß: Zu folgenden Themen werden Bürgerentscheide meistens ausgeschlossen: Bauleitplanung, finanzwirksame Vorschläge, Gebühren und Abgaben, alle Fragen, die nicht die Gesamtheit der Gemeindebürgerinnen betrifft (z. B. Rathaus, da es den Beamten dient), und weiteres mehr. Bezieht sich ein Bürgerbegehren auf einen Gemeinderatsbeschluß, so muß dieses innerhalb von vier oder sechs Wochen nach dem Beschluß eingereicht werden. Jedoch: - In der Schweiz, Hessen und Bayern wird ständig von den Bürgern über Fragen der Bauleitplanung entschieden. Probleme sind nicht bekannt.

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- Warum sollen die Steuerzahler nicht über die Verwendung ihrer Steuergelder entscheiden? - Warum sollen die Bürgerinnen und Bürger nicht über Rathäuser, Kindergärten in Ortsteilen, Straßen, usw. entscheiden? - Warum kann .der Getiteinderat jederzeit einen früheren Beschluß rückgängig machen, während ein Bürgerbegehren gegen den Bau einer Straße unzulässig ist, weil es eine Grundsatzentscheidung vor 15 Jahren gab? Hürden beim Bürger-/Volksbegehren: Die Hürden für Volksbegehren werden unerreichbar hoch gelegt, z. B. Unterschrift von 20 Prozent der Stimmberechtigten in zwei Wochen bei reiner Amtseintragung ohne eine Benachrichtigung der Bürger/innen. Jedoch: Alle praktischen Erfahrungen im In- und Ausland zeigen, daß Zulassungsquoren zwischen 2 bis 5 Prozent als Einstiegshürde ausreichen und nicht zu einer Überzahl von Initiativen führen. Zustimmungsklauseln beim Bürger-/Volksentscheid: Wird eine bestimmte Zustimmungsquote (zwischen 25 und 50% bezogen auf alle Stimmberechtigten) nicht erreicht, so zählt die Mehrheitsentscheidung eines Bürgerentscheides nicht und kann von den Politikern mißachtet werden. Jedoch: - In der Schweiz, den Bundesstaaten der USA und Bayern, also in all den Staaten, wo die Bevölkerung selbst die Direkte Demokratie erkämpft hat, gibt es keine Zustimmungsklauseln. Es entscheidet immer die Mehrheit der Abstimmenden, wie bei jeder Wahl. Es gibt in diesen Ländern keinerlei Hinweis darauf, daß Zustimmungsklauseln fehlen würden. Auch bei vergleichsweise niedrigen Abstimmungsbeteiligungen werden die Ergebnisse von allen akzeptiert. (So z. B. beim heiß umstrittenen Bürgerentscheid um den Bau von drei Tunnels 1996 in München mit einer Beteiligung von 32 %; obwohl die Tunnelbefürworter nur ein halbes Prozentpunkt Vorsprung hatten, ist der Tunnelbau jetzt völlig unumstritten, auch bei den Tunnelgegnern.) - Hier eine kurze Zusammenfassung der Argumente gegen Zustimmungsklauseln: In einer Demokratie entscheiden die Bürgerinnen und Bürger, die ihre Rechte wahrnehmen und sich äußern. Eine Abstimmungsklausel würde nur dazu führen, daß Stimmenthaltungen als Nein-Stimmen gewertet werden. Die Demokratie würde auf den Kopf gestellt: Nicht diejenigen, die zur Urne gehen entscheiden, sondern diejenigen, die zu Hause bleiben. Den Bürgerinnen und Bürgern wird das Recht auf Stimmenthaltung genommen. Die Gegner eines Bürgerbegehrens werden verlockt, durch Diskussionsboykotte, schlechte Abstimmungsbedingun-

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gen (z. B. keine Briefwahl, nur wenige Stimmlokale, keine persönliche Abstimmungsbenachrichtigung) die Abstimmungsbeteiligung zu senken. Da Mehrheitsentscheidungen aufgrund einer Abstimmungsklausel nicht immer zählen, kann sich letztlich die Minderheit durchsetzen. - Lustig ist das Hauptargument der Klauselbefürworter, daß damit verhindert werden soll, daß sich "eine beliebige Minderheit gegen die Mehrheit" durchsetzt. Ein Beispiel: Der Reuttinger Stadtrat wollte einen Bunker bauen. Eine Bürgerinitiative führte ein Bürgerbegehren durch. Es kam 1986 zum Bürgerentscheid. 69.932 Bürgerlinnen waren stimmberechtigt. In Baden-Württemberg müssen 30% der Stimmberechtigten zustimmen, damit der Bürgerentscheid gültig ist (Zustimmungsquorum). 16.784 Stimmen waren gegen den Bunker (= 24% der Stimmberechtigten). 2.126 Stimmen waren für den Bunker(= 3% der Stimmberechtigten). Da das 30%-Zustimmungsquorum nicht erreicht wurde, trat der Bürgerentscheid nicht in Kraft und der Bunker wurde gebaut. Es hat sich also die Minderheit von 2.126 gegen die Mehrheit von 16.784 durchgesetzt! Ein Mißachtung des Mehrheitswillens wird erst durch eine Zustimmungsklausel möglich. Solange das Mehrheitprinzip durch die Zustimmungsklausel nicht aufgehoben wird, entscheidet immer die Mehrheit. Fazit: Diese von den Landesparlamenten beliebten Hürden sind völlig überflüssig. Sie dienen allein dazu, daß es zu möglichst wenig Bürgerentscheiden kommt. Diese Hürden sind ein Bollwerk der Parteien gegen aktive Bürgermitwirkung. I. Auswirkungen der Hürden am Beispiel Harnburg Die vom Hamburger Landesparlament beschlossene Regelung von Volksentscheiden sieht vor, daß ein Volksentscheid in Harnburg nur gültig ist, wenn die Mehrheit der Abstimmenden bei einfachen Gesetzen 25 % der Stimmberechtigten, bei Verfasungsänderungen 50% der Stimmberechtigten ausmacht. Mit diesen Hamburger Abstimmungsklauseln wären alle Volksentscheide in Bayern und München in den Papierkorb gewandert, was folgende Aufstellung zeigt:

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Abstimmungsbeteiligung

Ja-Anteil der Abstimmenden

Ja-Anteil Harnder Stimm- burger berechKlausel tigten

7.7.68

Christliche Gemeinschaftsschule

41%

76%

30%

50%

24.5. 70

Herabsetzung des Wahlalters auf 18

38%

55%

21%

50%

1. 7. 73

Rundfunkfreiheit

23%

87%

20%

50%

1. 7. 73

5%-Klausel

23%

85%

19,5%

50%

17.6.84

Staatsziel Umweltschutz

46%

94%

42%

50%

(gleichzeitig Europawahl) 17.2.91

Das Bessere Müllkonzept

44%

Volksbegehren Landtagsentwurf

47%

19%

54%

23%

25%

58%

21%

50%

25%

1.10.1995 Mehr Demokratie in Bayern

37%

24. 6. 1996 München: Drei Tunnels

32%

50,2

16%

25%

1997

München: Bebauung Aubing/Trudering

22%

65%

14%

25%

8.2.98

Abschaffung des Senats

40%

69%

28%

50%

Die Unmöglichkeit der Überwindung der Zustimmungsklauseln störte die Hamburger Politiker bei der Einfüluung der Volksabstimmung aber überhaupt nicht. Denn das war ja gewollt. Gegenüber der Öffentlichkeit wurde dies jedoch nur verdeckt formuliert. Statt dessen gab es viel BlaBla über die Stärkung der Bürgermitwirkung. Von medialen Darstellungen sollte man sich nicht täuschen lassen, zu den Absichten dringt man nur vor, wenn man sich die Taten ansieht. "An den Taten werdet ihr sie erkennen." Bislang gab es in Harnburg einen einzigen Volksentscheid, nämlich von Mehr Demokratie zur Abschaffung der Zustimmungsklauseln und zur Einfüluung des Bürgerentscheids in den Stadtbezirken. Dabei versuchten wir, das einzige offene Fenster zu nützen, eine Koppelung der Volksabstimmung mit der Bundestagswahl, was die Abstimmungsbeteiligung stark erhöht. Am 27. 10. 1998 konnte so der Bürgerentscheid in den Stadtbezirken eingeführt werden. Jedoch konnte die 50%-Zustimmungsklausel trotz einer Zustimmung von 75% der Abstimmenden nicht übersprungen werden, so daß die unüberwindlichen Hürden für harnburgweite Volksentscheide im Moment noch weiter gelten.

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II. Auswirkungen der Hürden anband der Häufigkeit von Bürgerentscheiden

Je nach den jeweils vorhandenen Hürden finden Volksentscheide auf Landesebene, bzw. Bürgerentscheide auf Gemeindeebene in der Praxis statt bzw. nicht statt. In manchen Bundesländern müßte man, als statistischer Bürger, sehr alt werden, um überhaupt einmal einen Bürgerentscheid mitzuerleben. Hochgerechnet gibt es pro Gemeinde ein Bürgerentscheid: alle 15 Jahre

in Bayern

alle 48 Jahre

in Hessen

alle 41 Jahre

in NRW

alle 73 Jahre

in Sachsen

alle 101 Jahre

in Schleswig-Holstein

alle 128 Jahre

in Brandenburg

alle 185 Jahre

in Baden-Württemberg

alle 229 Jahre

in Niedersachsen

alle 281 Jahre

in Sachsen-Anhalt

alle 452 Jahre

in Rheinland-Pfalz

alle 753 Jahre

in Thüringen

alle 1073 Jahre

in Mecklenburg-Vorpommern

(Stand Febr. 1998) Achtung: Von den durchgeführten Bürgerentscheiden werden viele hinterher durch die Abstimmungsklauseln für ungültig erklärt. Von den 32 Bürgerentscheiden in NRW wurden allein 14 annuliert und mißachtet.

These 3: Praktikable Bedingungen für kommunale Bürgerbegehren und Bürgerentscheide findet man in Bayern. Mehr Demokratie e. V. leitete 1995 ein landesweites Volksbegehren ein mit dem Ziel, eine praktikable und für die anderen Bundesländer vorbildliche Regelung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden in Gemeinden und Städten einzuführen. Am 1. Okt. 1995 setzte sich die Bürgeraktion gegen den erbitterten Widerstand der CSU und der kommunalen Spitzenverbände in einer Volksabstimmung durch. Seither haben an die 400 Bürgerentscheide stattgefunden, was die politische Kultur in Bayern verändert.

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Einige Schlaglichter aus der Praxis des Bürgerentscheids in Bayern: - In 3 Jahren gab es ca. 400 Bürgerentscheide (bei ca. 2.000 Gemeinden, Städten und Kreisen) - In größeren Städten kommt es häufiger zu Bürgerbegehren als in kleinen Gemeinden. - Zwei Drittel der Bürgerbegehren wurden von bislang unorganisierten Bürgerinnen und Bürgern gestartet. - Alle Parteien starten Bürgerbegehren. - 50% der Begehren sind Gaspedal (eigene Vorschläge), 50% der Begehren sind Bremse (nur Ablehnung der Gemeinderatsposition) - Die Beteiligung bei Bürgerentscheiden liegt durchschnittlich bei 48%. In Großstädten ist die Beteiligung wesentlich geringer als in kleinen Gemeinden. - In 60% der Bürgerentscheide wurde die Position der Gemeinderatsmehrheit bestätigt, in 40% korrigiert. - Ein Bürgerbegehren hat bessere Chancen, im Bürgerentscheid die Mehrheit zu erhalten: - in größeren Städten, - bei vielen Bündnispartnern, - bei Mitarbeit von Experten in der Initiative, - bei einem eigenen Planungsvorschlag, - wenn ein Allgemeininteresse nachgewiesen und nicht ein reines Anliegerinteresse vertreten wird, - wenn Einsparungen verlangt werden, - bei Umweltfreundlichkeit Man erkennt anband dieser Erfolgsfaktoren die Rationalität der Direkten Demokratie. Dies sind alles Ergebnisse einer empirischen Untersuchung von Mayer/ Weber, abgedruckt in Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, Bayerische Landeszentrale für politische Bildung, 1998. Der Bürgerentscheid ist in Bayern zum Alltag geworden. Selbst die Gegner des Bürgerentscheides sind gelassener geworden, wie man folgenden Zitaten entnehmen kann: - Bayerischer Innenminister Günter Beckstein: "Das mancherorts durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid befürchtete Chaos ist nicht eingetreten. Positiv zu vermerken ist weiter, daß Mandatsträger umstrittene Projekte der Öffentlichkeit gegenüber noch überzeugender vertreten müssen . . . Bei den Bürgern wird zumindest das Interesse für konkrete Sachfragen geweckt ... " (in: Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, Landeszentrale f. pol. Bildung 1998, S. 63)

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- Vorsitzender des bay. Gemeindetags, Heribert Thallmair: "Ich mache keinen Hehl daraus, daß ich ein Anhänger eines Zustimmungsquorums war und ohne dieses Quorum eine Inflation von Bürgerbegehren befürchtet habe. Dies hat sich nicht bewahrheitet. Wenn sich das weiter so entwickelt, ist das ein vernünftiger Weg." (in natur, 10/96, Seite 43) These 4: Da mit der Direkten Demokratie die Bevölkerung als politischer Akteur auftritt und das Gesetzgebungsmonopol der Parteien aufgehoben wird, führt dies zu erheblichem Widerstand durch die Regierenden, die befürchten, durch Volksabstimmungen Macht zu verlieren. Da dieses Motiv für eine öffentliche Argumentation nicht tauglich ist, versuchen die Regierenden mit Angstkampagnen entgegenzuhalten. Dabei wird immer das Menschenbild verbreitet, daß die Bürgerinnen und Bürger gefährliche Egoisten und Schlafmützen seinen, weshalb ein starker und guter Vater Staat in Form der Parteien durch dirigistische Maßnahmen das Gemeinwohl verteidigen müsse. Mit dieser Ansicht fühlen sich viele Politiker wohl, da sie damit auf der guten Seite stehen und eine für die Gesellschaft sehr wichtige Rolle bekommen. Diese Angstkampagne soll am Beispiel des Volksentscheides Mehr Demokratie in Bayern dargestellt werden. An anderen Orten laufen die Diskussionen nach den gleichen Grundmustern, nur die Beispiele und Bilder ändern sich. Die zentralen und immer wiederholten Slogans der CSU-Landtagsfraktion vor dem Volksentscheid am 1. Okt. 1995 waren: "Mehr Demokratie in Bayern ist ein unkalkulierbares Risiko - für die Arbeitsplätze - für neue soziale Einrichtungen wie Kindergärten - für gesunde Kommunalfinanzen" Der CSU-Fraktionschef Alois Glück schrieb in einem Brief an alle bayerischen Vereine, daß mit Mehr Demokratie neue Vereinsheime gefährdet seien. Ministerpräsident Edmund Stoiber sah sogar das Münchner Oktoberfest durch Anlieger, die ein Bürgerbegehren starten, gefährdet. Und der CSU-Generalsekretär Protzner sorgte sich um das Aufstellen von Maibäumen und Läuten von Kirchenglocken. Mit solchen Bildern erzeugten die Bürgerentscheidsgegner eine Weltbzw. Bayern-Untergangsstimmung. Was ist die Realität heute?

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- Arbeitsplätze: Insgesamt wurden 9 Gewerbegebiete angenommen, nur 2 abgelehnt. - Kindergärten: Es gab nur Bürgerbegehren für den Bau von Kindergärten - Öffentliche Finanzen: Im ersten Praxisjahr hatten 60 Bürgerentscheide keine Auswirkungen auf die Finanzen der Gemeinde, 13 Bürgerentscheide führten zu Einsparungen und nur 4 Bürgerentscheide zu Mehrausgaben. - Vereinsheime: Es gab nur Bürgerbegehren für den Bau von Vereinsheimen. Oktoberfest: Es gab kein Bürgerbegehren. Maibäume und Kirchenglocken: Es gab keine Bürgerbegehren. Die Befürchtungen und Ängste waren also völlig unbegründet. Doch das wußte 1995 auch schon jeder, der sich etwas mit der Praxis von Direkter Demokratie in anderen Ländern befaßt hat. Doch mit den Bürgerentscheidsgegnern konnte man sich gar nicht darüber unterhalten. Sie lehnten es geradezu ab, sich mit praktischen Erfahrungen zu beschäftigen, wie ich in vielen Podiums-, Radio- und TV-Diskussionen erleben konnte. Es stellt sich die Frage: Warum interessieren sich die Bürgerentscheidsgegner nicht für die praktischen Erfahrungen? Hier auf Basis vieler Begegnungen und Konfrontationen, die ich machen konnte, ein Antwortversuch: - Es geht um Interessen, nicht um Argumente. - In hierarchischen Systemen haben Mächtige meistens Angst vor Machtverlust. Bürgerentscheid heißt Zurückgabe der Macht an die Bürger. Achtung: Macht ist ein Tabuthema, man spricht nicht offen darüber, sondern schiebt andere Argumente vor. - Die Alten stehen den Jungen im Weg. Die meisten profilierten Bürgerentscheidsgegner sind Männer über 50, die ihre Jugend im Obrigkeitsstaat Adenauers verbracht haben. - Man mag den Willen des anderen nicht ertragen. - Man ärgert sich über die Arbeit, die Bürgerbegehren machen. Dogmatismus einer gewissen Richtung der Juristerei: Eine bestimmte Richtung von Juristen denkt dogmatisch und geht nicht von Erfahrungen aus.

These 5: Diese Angstkampagnen finden in der Öffentlichkeit eine gewisse Wirkung, da durch die immer noch unverarbeitete Nazi-Zeit und einer daraus folgenden tiefsitzenden Angst, bei manchen die Ansicht besteht, man müsse das Volk vor sich selbst schützen.

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Rein sachlich gesehen könnten die Diskussionen zur Einführung der Volksabstimmung schnell beendet sein. In den Ländern, wo es Volksabstimmungen gibt (z.B. Bayern, Schweiz, US-Bundestaaten) funktioniert es. Das kann jeder nach einer Stunde Literaturstudium feststellen. Also können wir es auch in Deutschland machen. Punkt. Doch so einfach geht es leider nicht. Denn das Thema ist emotional belastet. Immer schwingt die Frage des Menschenbildes mit. Für was halten wir uns als Mensch? Wie sehen wir die anderen? Da wir in Deutschland alle mehr oder weniger unverständlich vor dem schrecklichen Phänomen des Nazi-Reiches stehen, gibt es, als Folge davon, eine irrationale Angst vor uns selbst. Thematisiert man die Direkte Demokratie, so tritt diese Angst hervor. Die Politiker haben Angst vor dem Volk und auch das Volk hat Angst vor sich selbst. Wir haben uns in Deutschland ziemlich verwurstelt. So gesehen sind die Kampagnen zur Einführung der Direkten Demokratie ein großangelegter psychotherapeuthiseher Prozeß mit dem Ziel, Vertrauen in und für uns selbst zu erzeugen. These 6: Seit 1996 bereitet Mehr Demokratie e. V. Volksbegehren für praktikable Regelungen der Direkten Demokratie in anderen Bundesländern vor. Beim Volksentscheid in Harnburg am 27. 9.1998 stimmten 75 Prozent der Wählerinnen und Wähler für Mehr Demokratie. Weitere Volksbegehren werden zur Zeit in Bremen, Baden-Württemberg, Berlin, NRW und Bayern (Schutz des kommunalen Bürgerentscheids durch eine Absicherung in der Verfassung und Erleichterung von landesweiten Volksbegehren) eingeleitet. Die Bürgeraktion Mehr Demokratie e. V. ist bundesweit als Verein organisiert und hat mit Stand Okt. 1998 ca. 1.800 Mitglieder. In 10 Büros und den örtlichen Aktionskreisen wird vor allem ehrenamtlich gearbeitet. Es gibt nur wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die etwas Honorar erhalten und die Aufgabe haben, den nötigen Rahmen für die ehrenamtliche Arbeit zu schaffen. Mehr Demokratie e. V. finanziert sich ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Deshalb sind die Aktionen zur Einführung der Direkten Demokratie davon abhängig, wie stark der Mitglieder- und Spendenzuwachs ist. These 7: Nach der Aufbauphase durch die Mehr-Demokratie-Volksbegehren auf Iiinderebene startet Mehr Demokratie im Jahr 2001 die Kampagne zur Einführung der Volksabstimmung auf Bundesebene. Auch hier wenden wir uns wieder direkt an die Bürgerinnen und Bürger und nicht an das Parlament.

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Die Kampagne ist schon genau ausgearbeitet und wird nun Schritt für Schritt vorbereitet.

These 8: Volksabstimmungen sind in meinen Augen zur Zeit der einzige Weg, weitreichende Strukturveränderungen herbeizuführen und den Reformstau überwinden zu können. Denn nur so kann der Gruppenegoismus der Parteien, der auf Machterwerb und Machterhalt aus ist, überwunden werden. Strukturveränderungen müssen zudem immer von den Bürgerinnen und Bürger verstanden und mitgetragen werden, damit diese tatsächlich umgesetzt werden. Einige konkrete Beispiele, was durch Volksbegehren möglich wird, was jedoch in der reinen Parteiendemokratie undenkbar wäre: - In Schleswig-Holstein steht ein Volksbegehren "Schule in Freiheit" bevor, das mehr pädagogische Freiheit und Engagement durch eine Selbstverwaltung der Schulen und eine Gleichberechtigung von freien und staatlichen Schulen erreichen will. - In München initiiere ich im Rahmen des "Omnibus - gemeinnützige GmbH für Direkte Demokratie" zur Zeit das Bürgerbegehren "Unser München aus der Schuldenfalle ", das Bürgerbeteiligung und mehr Transparenz in der städtischen Finanzplanung einführen will, z. B. durch Bürgergutachten, Mitarbeiterbeteiligung in Qualitätszirkeln und eine frühzeitige und aktive Offenlegung der Haushaltsplanung. - In Bayern wird zur Zeit ein Volksbegehren "Unabhängige Richterinnen und Richter" zur Änderung des Richterwahlverfahrens vorbereitet, um die massive Steuerung der Richtereinstellung und -beförderung durch die Mehrheitspartei des bayerischen Landtags zu begrenzen. - Auch die Mehr Demokratie Volksbegehren gehören in die Reihe der Strukturveränderungen, die in einer reinen Parteiendemokratie ausgeschlossen wären.

Hinweise: - Zur Vertiefung dieses Vortrages können folgende Schriften bestellt werden. - Direkte Demokratie, Argumente, Informationen, Hintergründe, 1998, 58 Seiten. Hrsg.: Mehr Demokratie e. V. - Silvano Möckli: Direkte Demokratie - ein internationaler Vergleich, 1994, 436 Seiten.

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- Tim Weber: Direktdemokratische Prozesse auf der Kommunalebene eine empirische Studie zu den Erfahrungen mit dem bayerischen Bürgerentscheid. Es können auch Unterlagen zur Mitgliedschaft-/Förderung bestellt werden. Kontakt: Mehr Demokratie e. V., Fritz-Beme-Str. 1, 81241 München, Tel. 089-8211774, Fax 089-8211176, Internet: http//www.mehr-demokratie.de

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Der deutsche Bund der Steuerzahler und amerikanische Public Interest Groups: Widerlegen sie Olsons Thesen von der Organisationsschwäche allgemeiner Interessen? Von Karl-Heinz Däke In dem 1969 erschienenen Buch "Die Logik des kollektiven Verhaltens, kollektive Güter und die Theorie der Gruppen", kommt Mancur Olson u.a. zu dem Ergebnis, daß allgemeine Interessen schwer zu organisieren seien, es sei denn, die Organisation stellt gewisse nicht-kollektive Güter zur Verfügung, um potentiellen Mitgliedern einen Anreiz zur Mitgliedschaft zu geben. Diese These entwickelte Olson vor dem rapiden Anstieg mitgliederstarker sozialer Bewegungen in den USA. Und vor dem Hintergrund der Bürgerrechtsbewegung und der Frauenbewegung. Diese Gruppen verfolgten zwar noch gruppenspezifische Ziele politischer und ökonomischer Art, aber sie schienen bereits gegen Olsons These zu verstoßen. Denn diese Gruppen stellten ihren Mitgliedern keine nicht-kollektiven Güter zur Verfügung. Unter nicht-kollektiven Gütern verstehe ich im weiteren Sinne Dienstleistungen, die einen individuellen Nutzen haben und auf die jedes Mitglied einer Gruppe einen Anspruch hat. Nun könnte man heute auch zu dem Ergebnis kommen, daß Olsons These eine neue Bedeutung bekommt. Und zwar um so mehr, als die Gesellschaft sich zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickelt, in der die Kosten-Nutzen-Überlegungen für eine Entscheidung eine immer größere Rollen spielen. Nicht zu unterschätzen ist auch in diesem Zusammenhang die ' Auffassung, daß sich unsere Gesellschaft immer mehf zu einer Ego-Gesellschaft entwickelt, wie es Bundespräsident Herzog vor einiger Zeit einmal in einem Focus-Interview geäußert hat."Das heißt, daß jeder einzelne in erster Linie auf seinen persönlichen Vorteil bedacht ist. Der persönliche Nutzen steht oftmals vor dem Einsatz für allgemeine oder soziale Belange. Nun mögen Sie einwenden, daß dem die oftmals bewiesene Opferbereitschaft oder Spendenfreudigkeit entgegenstehe. Hierin sehe ich aber nicht eine Zuwendung für einen allgemeinen Zweck, sondern, überspitzt ausgedrückt, eine soziale Triebbefriedigung, ohne das negativ zu werten. !3•

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I. Entwicklung der Verbände in Deutschland

Die Verbände in Deutschlands organisierten Gruppen der unterschiedlichsten Interessen und Interessenten haben sich diesem Trend gebeugt. Sie sind zum großen Teil von Interessenverbänden zu Dienstleistungsverbänden mutiert. Am deutlichsten ist das am ADAC zu erkennen. Die Entscheidung des Beitritts zu diesem Verein wird vor allem durch die Tatsache begünstigt, daß jeder Autofahrer sich davor fürchtet, einmal auf der Autobahn liegenzubleiben und von den sogenannten gelben Engeln Hilfe erwarten kann. Die reine Interessenvertretung gegenüber der Politik und als Pendant zu Umweltorganisationen spielt bei der Entscheidung eine untergeordnete, wenn überhaupt eine Rolle. Möglicherweise gibt es aber auch einen ganz banalen Grund für die Wandlung der Verbände. Es ist ein gewisser Selbsterhaltungstrieb nicht nur des Verbandes, sondern vor allem der Verbandsgeschäftsführer. Ihr Erfolg wird u. a. daran gemessen, ob der Verband seine Mitgliederzahl erhöht oder halten kann. Um das zu erreichen, muß er zwangsläufig immer mehr Dienstleistungen den Mitgliedern des Verbandes anbieten, um sie so bei der Stange zu halten. Zwangsläufig treten die traditionellen Aufgaben der Verbände, die gruppenspezifischen Interessen der Mitglieder zu vertreten, in den Hintergrund. Um wieviel schwerer müssen es dann Organisationen haben, die keine speziellen Interessen, sondern allgemeine Interessen vertreten wollen, ihre Mitglieder zu halten, geschweige denn überhaupt zu gewinnen. Auf einem Verbandsmanagement-Kongreß (so etwas gibt es heute tatsächlich) habe ich die anwesenden Verbandsgeschäftsführer mit der Aufforderung verschreckt, daß die Verbände auch die Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder als individuelle Dienstleistung begreifen müßten. Sie müßten sich mehr auf den Zweck des Verbandes besinnen. Sofort wurde natürlich damit gekontert, daß Interessenvertretung nur dann möglich sei, wenn eine ausreichende Anzahl an Mitgliedern vorhanden sei. Das ist zwar auch richtig, aber gruppenspezifische Interessen können nicht dadurch gelöst werden, indem man Dienstleistungen anbietet, die sich das Mitglied möglicherweise auch woanders einkaufen kann. Um unsere Fragestellung beantworten zu können, ist ganz nützlich, dem Bedürfnis der Deutschen nachzukommen, nämlich erst einmal eine Definition vorzunehmen. Unter allgemeinen Interessen kann man solche mit staatspolitischen oder gesellschaftlichen Zielsetzungen verstehen. z. B. sozialer Friede, Gerechtigkeit, Umweltschutz, Sicherheit usw. Allgemeine Interessen können Ausfluß von gesellschaftlichen Werten oder Bedürfnissen sein oder die Summe aller individuellen Bedürfnisse. Sie werden so zum öffentlichen Interesse und bekommen eine mehr oder weniger politische Relevanz. Das vor allem

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dann, wenn die Politik erkennt, daß mit der Übernahme solcher Interessen Wählerstimmen gewonnen werden können. Am Beispiel der Grünen wird das deutlich. Das steigende gesellschaftliche Interesse nach einer Verstärkung des Umweltschutzes hat aus den verschiedensten Umweltorganisationen eine politische Partei entstehen lassen. Deren Zielsetzungen sind aber - wenn auch mit einem gewissen timelag - von anderen Parteien adaptiert worden. Voraussetzung für das Entstehern erkennbarer öffentlicher oder allgemeiner Interessen ist, daß sie nicht nur organisiert, sondern vor allem auch artikuliert werden müssen. II. Die Organisation allgemeiner Interessen am Beispiel des Bundes der Steuerzahler Der Bund der Steuerzahler in Deutschland (BdSt) hat heute mehr als 430000 Mitglieder. Das mag wenig im Verhältnis zu den Steuerzahlern in Deutschland sein, ist aber viel im Vergleich zu ähnlichen Organisationen auf der ganzen Welt. Trotz dieser relativ geringen, dennoch aber großen Mitgliederzahl ist es dem BdSt gelungen, zu einer politischen Ersatzautorität zu werden, wie kürzlich der Rheinische Merkur schrieb. Die FAZ meinte am 19. September in einem Kommentar: "Wenn es den BdSt nicht schon gäbe, müßte er sofort gegründet werden." Meinungsumfragen ergeben, daß der BdSt als die Interessenvertretung aller Steuerzahler gesehen wird, die sich für die Rechte der Steuerzahler einsetzt, dem Staat auf die Finger schaut, sich für Sparsamkeit im Umgang mit Steuergeldem kümmert. Ebenso häufig wird die Meinung vertreten, daß die steuer- und finanzpolitische Diskussion zum großen Teil vom BdSt mitbestimmt und geprägt wird. Woran liegt das? Seit seiner Gründung im Jahre 1949 hat der Verein mit Beharrlichkeit u. a. folgende Ziele vertreten: - die Bevölkerung über die Zusammenhänge in der öffentlichen Finanzwirtschaft zu informieren, - sich für Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit im Umgang mit Steuergeldern einzusetzen, - eine für alle Teile der Bevölkerung erträgliche Steuer- und Abgabenbelastung anzumahnen, - die öffentliche Verwaltung auf das Notwendige zu beschränken. Damit hat er die in den meisten Bürgern schlummernden Bedürfnisse als Steuerzahler gebündelt. So kam auch einer seiner ersten Slogans "Wer Steuern zahlt, will Sparsamkeit" zustande.

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111. Bedeutung des Organisationsgrades Nun kann in einem modernen Parteienstaat die Bedeutung des Organisationsgrades einer Interessengruppe für seine politischen Einflußmöglichkeiten nicht bestritten werden. Aber bei der wirksamen Organisation oder Durchsetzung allgemeiner Interessen ist deren Durchsetzungskraft nicht nur von dem direkten Organisationsgrad abhängig. Eine ebenso große Rolle spielt der indirekte Organisationsgrad, also das Verhältnis der Mitglieder einer Organisation zu Nichtmitgliedern, die sich aber mit den Zielen dieser Organisation identifizieren. Folglich ist bei der Beurteilung der Organisationsstärke oder Organisationsschwäche innerhalb eines bestimmten Organisationsbereiches allgemeiner Interessen dem indirekten Organisationsgrad besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Man kann auch, was ich auch bevorzuge, den Begriff Organisationsbereich aufteilen in Mitglieder der Organisation und der Quasi-Gruppe. Unter der Quasi-Gruppe verstehe ich die Summe der Individuen, die aufgrund ihrer sozialen Situation einem bestimmten Organisationszweck zugeordnet werden können, d. h. Mitglieder der Interessengruppe sein könnten und sich mit den Zielen der Interessengruppe identifizieren. Der indirekte Organisationsgrad erhöht vor allem dann das Gewicht der Interessengruppe, wenn es ihr gelingt, das persönliche Interesse der Mitglieder der Quasi-Gruppe mit dem eigenen Interesse in Einklang zu bringen. Die Interessengruppe muß also jedes Mitglied der Quasi-Gruppe von der Identität seiner Interessen mit denen der Einrichtung und ihrer Wirkung überzeugen. Die politischen Entscheidungsträger wiederum werden vor allem dann die Belange einer Interessengruppe in ihrem Entscheidungsprozeß berücksichtigen, wenn sie sehen, daß die von einer Gruppe vertretenen Interessen von weiten Teilen der Bevölkerung mitgetragen werden, also der QuasiGruppe. Zudem müssen diese Interessen für das Gesamtwohl des Staates unschädlich sein, - mit dem eigenen Wertesystem übereinstimmen und dürfen keine allzu heftigen Gegenreaktionen anderer gesellschaftlicher Kräfte hervorrufen (z. B. der Medien). Obwohl die Steuerzahler eine äußerst heterogene Gruppe sind (Arbeitnehmer, Unternehmer, Geringverdiener, Spitzenverdiener, Alleinstehende und Verheiratete, Junge und Alte, Beamte und Freiberufler), ist es dem BdSt offenbar gelungen, die unterschiedlichsten Individualinteressen zu bündeln. Ich nenne nur einige wenige Oberbegriffe, die das verdeutlichen: Steuerentlastung, Steuervereinfachung, Steuergerechtigkeit, Sparsamkeit im Umgang mit Steuergeldern.

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Er nimmt für sich in Anspruch, sich als Anwalt der Steuerzahler zu verstehen, zum Schutz allgemeiner Interessen, die sich gerade wegen ihrer Allgemeinheit nur schwer durchsetzen lassen. Im Laufe der Jahre ist es ihm gelungen, die Einzelinteressen der Mitglieder und Nichtmitglieder unter allgemeine Interessen zu subsumieren, aus der Summe bestimmter Einzelinteressen ein allgemeines Interesse entstehen zu lassen, - und Einzelinteressen von einzelnen Mitgliedern keine besondere Bedeutung für die innerverbandliehe Willensbildung zukommen zu lassen. -

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Ich möchte einige Beispiele nennen, wie dem BdSt das gelungen ist: Steuerentlastung durch ständige Information über die Gesamtbelastung und Steuerzahlergedenktag Steuervereinfachung: schon 1972: Der Weg zu einem zeitgemäßen Steuersystem Verschuldung: Schuldenuhr Sparsame Haushaltsführung: Öffentliche Verschwendung Steuergerechtigkeit: Musterprozesse Aktionen: rote Karte für Steuererhöher, 12mal ist der Staat dabei, wenn Sie einkaufen, Aktion Steuerschrott, Schreiben Sie Ihrem Abgeordneten usw., Runter mit der Verschuldung.

Abschließend muß gesagt werden, daß es dem BdSt gelungen ist, ein Steuerzahlerbewußtsein zu wecken, das für die Denkweise der Politik von großer Bedeutung ist. Nicht zuletzt durch seinen Einsatz gegen die Verankerung der Anhebung der Diäten im Grundgesetz hat er bewiesen, daß er in der Lage ist, allgemeine Interessen wirkungsvoll zu vertreten, seine Mitgliederzahl ständig zu vergrößern und damit der These Olsons in vollem Sinne zu widersprechen. Allgemeine Steuerzahlerinteressen können also wirkungsvoll organisiert werden, wenn man die traditionellen Rahmenbedingungen für die Definition der Organisationsstärke verläßt. Voraussetzung für eine erfolgreiche Durchsetzung sind natürlich eine hochqualifizierte Sacharbeit, Glaubwürdigkeit, ständige Präsenz in der öffentlichen Diskussion und eine Öffentlichkeitsarbeit, die die Organisation und ihre Arbeit wirkungsvoll unterstützt.

IV. Die amerikaDisehe Public Ioterest Group (PIG) Die amerikanischen PIG, die ich kenne und daher beurteilen kann, arbeiten nach einem anderen System als in Deutschland. Das liegt unter anderem auch daran, daß die Dienstleistungsgesellschaft in den USA noch

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weiter entwickelt ist als in Deutschland. Sie arbeiten stärker projektbezogen, achten dabei aber immer sehr stark darauf, daß die angegriffenen Projekte von einer großen Anzahl von Bürgern meinungsmäßig mitgetragen werden. Der Protest kaliforniseher Organisationen gegen die Erhöhung einer Art Vermögensteuer fand die Unterstützung der gesamten kaliforniseben Bevölkerung. Sie entwickelte sich zu einem allgemeinen Protest gegen die Steuererhöhungspolitik und die Steuerbelastung allgemein. Der spätere Präsident Ronald Reagan, der zu der Zeit des Protestes kaliforniseher Gouverneur war, setzte sich gewissermaßen an die Spitze der Protestler. Später als amerikanischer Präsident senkte er dann allgemein die Steuern. Diese Steuerreform wurde vorbildlich für alle weiteren Steuerreformen, auch für die Diskussion in Deutschland. Die amerikanischen Steuerzahlerorganisationen zehren noch heute von diesem Protest in Kalifornien. Anders als in Deutschland verfügen sie aber nicht über stattliche Mitgliederzahlen, sondern sammeln Geld für Steuerprotestaktionen. Neben den Mitgliedern spielen die sogenannten Donators eine genauso wichtige Rolle. Sie machen, und das war für mich eine interessante Beobachtung, einzelne Projekte zu allgemeinen Anliegen der Bevölkerung. Insbesondere organisieren sie landesweite Proteste gegenüber ihren Abgeordneten, z. B. durch Telefonaktionen. Sie publizieren in ihren Verbandsorganen die Telefonnummern und Anschriften der Abgeordneten und fordern ihre Mitglieder oder Aktivisten auf, dem Abgeordneten eines Wahlkreises ihre Haltung telefonisch mitzuteilen. Mit Erfolg. Hier ist es gelungen, aus Einzelinteressen allgemeine Interessen zu machen. Auch hier kann der Olsonschen These durch die praktische Umsetzung von Interessen entgegengetreten werden. Die Organisation macht sich die Betroffenheit einzelner Gruppen zu eigen und ist in der Lage, daraus ein öffentliches Interesse zu organisieren. Sie definieren ihre Aktivitäten als Dienstleistung für ihre Mitglieder und Donators. Aber nicht erst das Kennenlernen der amerikanischen Organisationen hat mich zu der Überzeugung kommen lassen, daß die Vertretung allgemeiner Interessen auch als Dienstleistung verstanden werden kann. So definiere ich den Bund der Steuerzahler in Deutschland auch als das größte Dienstleistungsunternehmen in Sachen Steuer- und Finanzpolitik. Als Dienst am Steuerzahler, aber auch im Selbstverständnis als staatstragende Organisation. Nicht nur ich alleine in diesem Raum weiß, daß unsere Arbeit von so manchen Politikern als Störung der political correctness verstanden wird. Der Vorwurf, die Staatsverdrossenheit zu schüren oder gar der Politikverdrossenheit Vorschub zu leisten, ist nur zu erklären, wenn

Der deutsche Bund der Steuerzahler und amerikanische Public Interest Groups 201

man weiß, daß Politiker in erster Linie an ihre Wiederwahl denken, aus welchen Gründen auch immer. Jeder, der ihnen dann in die Quere kommt, wird sofort abgestempelt, Populist zu sein. In Deutschland ist es eben so, daß derjenige, der die Dinge beim Namen nennt, zum Täter wird. Das zeigt aber auch, daß man ernstgenommen wird und seiner Aufgabe gerecht wird. Je mehr eine Organisation der Politik Konkurrenz macht, je mehr sie in der Lage ist, allgemeine Interessen wirkungsvoll nach außen zu vertreten und in die Rolle schlüpft, die eigentlich von politischen Institutionen, wie z.B. der Opposition wahrgenommen werden müßten, um so größer wird ihr Wirkungsgrad sein, auch wenn die Politik das niemals zugeben würde. Nach meinem Verständnis kann somit Olsons These von der Organisationsschwäche allgemeiner Interessen keinen Bestand mehr haben.

Regieren für statt durch das Volk? Demokratiedefizite in der Europäischen Union? Von Karl Albrecht Schachtschneider

I. Demokratie als Republik

Nur eine Republik kann demokratisch sein, aber eine Republik muß auch demokratisch sein; denn die Demokratie ist der Staat des Volkes, nicht etwa die Herrschaft des Volkes, die es weder gibt noch jemals gab noch geben kann. Das Volk kann frei sein, mehr oder weniger, oder beherrscht werden. Herrschaft wird immer nur von wenigen ausgeübt, heute von der politischen Klasse, vor allem der Parteienoligarchie. Wenn der Begriff der Demokratie griechisch und damit substantiell verstanden wird, ist er identisch mit dem lateinischen Begriff der res publica, die res populi sein soll, um der Menschheit des Menschen zu genügen. Die öffentliche, nämlich die allgemeine Sache soll Sache des Volkes sein. Der Staat des Volkes dient dem Allgemeinen, dem, was alle angeht, dem gemeinen Wohl, welches, wie es die Logik der Freiheit gebietet, die Sache aller, die Sache des Volkes, ist. Die allgemeine Sache wird vom Volk verantwortet. Verantworten kann und soll das Volk nur, was nach seinem Willen geschieht. Die volonte generale, der allgemeine Wille, muß den Staat regieren, wenn der Staat eine Republik oder eben ein Volksstaat, eine Demokratie, sein soll. Einen Willen haben heißt frei sein, oder: Freiheit ist die Autonomie des Willens, d. h. der Wille ist aus sich selbst heraus Gesetz 1 . Nur der homo noumenon, der Vernünftige also, hat einen Willen und ist darin frei; denn er ist unabhängig von allen sinnlichen, also von allen äußerlich erfahrbaren Determinanten, insbesondere ist er "unabhängig von eines anderen nötigender Willkür" (Kantf, also äußerlich frei. Seine innere Freiheit, seine Sittlichkeit, ist sein Vermögen, die Welt so zu gestalten, daß die Menschen, alle Menschen, ihrem Wesen gemäß, also in Würde, leben können, d. h. frei sind. Die Sittlichkeit und somit die allgemeine Freiheit kann nur gemein1 Dazu und zum Folgenden K. A. Schachtschneider, Res publica res populi. Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechtsund Staatslehre, 1994, insb. S. 275ff., 325ff., 410ff., 44lff. 2 Metaphysik der Sitten, ed. Weischedel, Bd. 7, S. 345.

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schaftlieh verwirklicht werden. Alle Menschen, die zusammenleben, müssen ihr Handeln darauf einschränken, daß niemand in seiner Freiheit, aber auch niemand in seinem Leben, in seiner körperlichen Integrität oder in seinem Eigentum verletzt wird. Der Grundsatz des gemeinsamen Lebens ist: neminem laede. Er kann nur durch und in allgemeiner Gesetzlichkeit verwirklicht werden. Das allgemeine Gesetz nämlich ist das Gesetz jedes Bürgers und damit das Gesetz jedes Menschen, der dort, wo er zu Hause ist, um der Menschenwürde willen als Bürger geachtet werden muß. Frei sind die Bürger somit dadurch und nur dadurch, daß ihr Wille ihr Handeln bestimmt. Ihren Willen machen die Bürger in den allgemeinen Gesetzen verbindlich. Das Gemeinwesen freier Menschen muß folglich ein Bürgerstaat sein, der dadurch qualifiziert ist, daß der Wille aller, formuliert im allgemeinen Gesetz, alle verbindet, wie Jean-Jacques Rousseau die Wirklichkeit der allgemeinen Freiheit konzipiert hat. Dadurch ist der "Staat (civitas) die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" (Kant? . Das Rechtsgesetz aber kann nur hervorgebracht werden, wenn alle Bürger guten Willens sind, die richtigen Gesetze zu erkennen und zu beschließen. Richtig sind die Gesetze, welche auf der Grundlage der Wahrheit das Richtige für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit möglich machen, die Gesetze nach universalisierbaren, verallgemeinerungsfähigen Maximen also. Das verlangt nach Sittlichkeit der Bürgerschaft. Diese setzt den guten Willen aller voraus, alle anderen als Bürger zu respektieren und anzuerkennen, daß jeder Mensch Zweck an sich ist, Subjekt und nicht Objekt der Zwecke anderer, daß eben alle Gottes Kinder sind. Dieser gute Wille ist die Moralität, welche ein gemeinsames Leben in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ermöglicht. Das Gesetz der Sittlichkeit ist das Sittengesetz, der kategorische Imperativ, der lautet: "Handle nur nach detjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde" (Kantl

Sittlich zu handeln ist moralisch Pflicht. Die Moralität ist die Haltung, welche die Politik bestimmen muß, wenn eine Republik gelingen soll; denn Politik ist "ausübende Rechtslehre" (Kantl Die Republik ist auf die Repräsentation angewiesen. Die Repräsentanten des Volkes in den Ämtern, die Abgeordneten, die Beamten und die Richter, sind somit Vertreter des ganzen Volkes in dessen Sittlichkeit6 . Ihre AmtsmaMetaphysik der Sitten, S. 431. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, ed. Weischedel, Bd. 6, S. 51 . 5 Zum ewigen Frieden, ed. Weischedel, Bd. 9, S. 228ff. 6 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff., auch zum Folgenden. 3

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xime ist der kategorische Imperativ. Sie sind ihrem Gewissen als dem Gerichtshof der Sittlichkeit verpflichtet und gerade darum an die Gesetze gebunden. So steht in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, daß die Abgeordneten ihrem Gewissen unterworfen sind. Darum sind sie unabhängig und an Weisungen nicht gebunden. Die Gewissensbindung ist nichts anderes als die Pflicht zur Sittlichkeit, sei es bei der Gesetzgebung, sei es bei dem Gesetzesvollzug. Die Bürger und ihre Vertreter in den staatlichen Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung müssen den guten Willen zur ethischen und juridischen Legalität haben, d. h. den guten Willen, das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit Wirklichkeit werden zu lassen. Dadurch wird ein Gemeinwesen frei, nämlich sittlich oder eben praktisch vernünftig. Dadurch ist der Staat ebenso ein Rechtsstaat wie ein Freistaat, also ein Bürgerstaat, eine Republik oder eine Demokratie. Dadurch wird Wirklichkeit, was Abraham Lincoln und mit ihm die aufgeklärte Modeme postuliert hatten: die Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk7 • Dieses Postulat ist nicht alteuropäische Nostalgie. Es ist vielmehr das fundamentale Prinzip der Menschheit. Darum steht am Anfang der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 12. Dezember 1948: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen."

Wenn dieses Weltrechtsprinzip Wirklichkeit sein soll, müssen die Menschen in Republiken leben können, die das demokratische Prinzip bestmöglich verwirklichen. Wenn das Weltrechtsprinzip Wirklichkeit ist, ist auch das Ethos der Christen (und nicht nur der Christen) verwirklicht, nämlich: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; denn ich bin der Herr" (3. Mose 19,18).

Das Postulat, welches sowohl das christliche Ethos als auch das Weltrechtsprinzip Wirklichkeit werden lassen kann, hat Kant mit dem kategorischen Imperativ formuliert. Die Wirklichkeit sieht anders aus: II. Gemeinschaftliche Staatlichkeil der europäischen Völker Selbst nach Auffassung des Maastricht-Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993 wird die Gemeinschaftspolitik von den nationalen Parlamenten demokratisch legitimiert8• Die Aufgaben und Befugnisse 7 Govemment of the people by the people for the people, vgl. auch Art. 2 Abs. 5 der Verfassung der Republik Frankreich vom 4. Oktober 1958: "Ihr Grundsatz ist: Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk."

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der Gemeinschaften der Europäischen Union werden durch die Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten begründet. Die gemeinschaftliche Ausübung der Staatsgewalt durch die Organe der jeweiligen Gemeinschaft ist nicht eigenständig legitimiert, ja diese Gemeinschaften sind nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht einmal ein Staat oder auch nur ein Bundesstaat9 , sondern ein "Verbund demokratischer Staaten", ein "Staatenverbund"10• Die Gemeinschaften der Union gehören jedoch zur Staatlichkeil der Unionsvölker und sind als solche funktional staatlich und somit als Institutionen Staaten 11 • Dennoch ist deren Staatlichkeit mangels eigener hinreichender demokratischer Legitimation, die nur auf allgemeinen, gleichen und freien Wahlen beruhen kann, wesentlich von den Mitgliedstaaten legitimiert. Die Gemeinschaftsorgane haben Teil an der mitgliedstaatliehen Ausübung der Staatsgewalt und gehören auch gerade deswegen zur mitgliedstaatliehen Staatlichkeit, die freilich gemeinschaftlich ausgeübt wird. Allein diese Sicht genügt dem Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Die Staatsgewalt muß auch vom Volke ausgehen, wenn die Völker in Freiheit leben wollen und somit als Republiken demokratisch verfaßt sein sollen. Die Europäische Union und deren Gemeinschaften sind nicht die staatliche Organisation eines Volkes, weil ein europäisches Volk weder besteht noch gar verfaßt ist. Es ist auch nicht zu erkennen, daß sich ein solches Volk der Europäer entwickelt. Das dürfte an den verschiedenen Sprachen der euro-päischen Völker, aber auch an dem politischen Willen derselben scheitern. Jedenfalls ist ein solcher Wille von keinem europäischen Volk erklärt. Visionen einzelner Politiker sind nicht schon der Wille eines Volkes. Ein Binnenmarkt schafft genausowenig ein Volk wie eine einheitliche Wäh-rung. Die Union ist eine Gemeinschaft von Völkern, die bestmöglich als "Föderalism freier Staaten" (Kant) 12, also als Republik von Republiken verfaßt ist. Nur ein verfaßtes Volk aber kann demokratisch legitimieren. Nur ein Volk kann als Demokratie, als Volksstaat, organisiert sein, weil ein Volk unvermeidlich eine Schicksalsgemeinschaft ist, deren existentielle Staatlichs BVerfGE 89, 155 (184ff.). 9 BVerfGE 89, 155 (188); auch BVerfGE 22, 293 (296) u.ö. 10 BVerfGE 89, 155 (184, 186, 188ff.). ll Dazu und zum Folgenden K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union. Ein Beitrag zur Lehre vom Staat nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag über die Europäische Union von Maastricht, in: W. Blomeyer/K. A. Schachtschneider (Hrsg.), Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75ff., insb. S. 87ff.; ders., Die Republik der Völker Europas, ARSP-Beiheft 71, 1997, s. 153ff. 12 Zum ewigen Frieden, S. 208ff.

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keit Sache des Volkes sein muß, wenn das demokratische Prinzip gewahrt bleiben soll. Demgemäß muß das Volk existentielle Befugnisse in der eigenen Verantwortung belassen, insbesondere die Verfassungshoheit, aber genauso eine substantielle Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungshoheit, also das wesentliche Wort in Sachen des Rechts. Existentiell sind auch die Ökonomie und die Ökologie, so daß um des demokratischen Prinzips willen weder die Wirtschafts-, Sozial- und Währungshoheit, noch die Umwelthoheit aus der Verantwortung eines Volkes entlassen werden darf. Dieses Prinzip der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung schließt eine gemeinschaftliche Politik der in einer Union verbundenen Völker keinesfalls aus, ganz im Gegenteil: Eine solche ist nicht nur von der Lage gefordert, weil alle Europäer, ja weitgehend alle Menschen dieser Erde, ein Schicksal teilen, also zusammenleben, sondern Pflicht, weil alle, die aufeinander einwirken können, unter einem gemeinsamen Recht leben sollen, welches sicherstellt, daß niemand dem anderen Unrecht tut. Nur so können die Menschen frei sein. Aber das Recht muß demokratisch legitimiert, also das Recht jedes Volkes sein. Darum müssen die Völker gemäß ihren Verfassungsgesetzen, die republikanisch sein sollen, das Recht setzen können, aber die Verträglichkeit ihres Rechts mit dem der anderen Völker, mit denen sie in Gemeinschaft leben, suchen. Das Instrument der gemeinschaftlichen Rechtsetzung sind die völkerrechtlichen Verträge, wie sie Grundlage der Europäischen Union sind. So dogmatisiert im Grundsatz auch das Bundesverfassungsgericht die Europäische Union und deren Gemeinschaften im Maastricht-Urteil, wonach die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen den "Rechtsanwendungsbefehl" aussprechen, der die Geltung des Gemeinschaftsrechts begründet, die Zustimmungsgesetze, welche durch "gegenläufigen Akt" auch wieder aufgehoben werden dürfen, weil die Völker die "Herren der Verträge" sind 13 . Die Staatlichkeit kann durchaus auf verschiedenen Ebenen institutionalisiert werden, wie die Bundes- und die Kommunalstaatlichkeit in Deutschland zeigen. Jede staatliche Ebene muß aber eigenständig demokratisch gestaltet, also von einem Volk oder einer Bürgerschaft legitimiert sein, um dem demokratischen Prinzip der Republik zu genügen. Das führt zu dem Verfassungsprinzip der Einheit der Gebietshoheit mit der demokratischen Legitimation, d. h. die Hoheitlichkeit eines Gebietes ist nicht demokratisch legitimiert, wenn sie nicht von einem Volk oder Teilvolk getragen wird, sei es auch nur für begrenzte staatliche Aufgaben und Befugnisse. Demokratische Legitimation der Staatlichkeil ist nichts anderes als die Wirklichkeit der allgemeinen Freiheit derer, die in dem Gebiet leben, für welches der 13

BVerfGE 89, 155 (190).

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Staat handelt. Jede Staatlichkeil muß, um legal zu sein, von allen, für welche sie eingerichtet ist, getragen sein, d. h. sie muß den allgemeinen Willen der jeweiligen Bürgerschaft verwirklichen. Sonst sind die Menschen nicht frei; denn Freiheit sind nicht die vom Staat gewährten Rechte der Willkür, welche Freiheiten genannt werden, sondern Freiheit ist die Autonomie des Willens, also die eigene (und zugleich allgemeine) Gesetzgeberschaft. Solche die Staatlichkeil tragenden Bürgerschaften können die Bürger einer Stadt, die eines Landes als eines Gliedstaates, die eines Bundesstaates wie Deutschland oder auch die der Europäischen Union sein. Die Europäische Union aber ist nicht als Bürgerschaft verlaßt, obwohl ihre Gemeinschaften für alle Unionsbürger verbindliche Rechtsakte, nämlich Richtlinien, Verordnungen u. a., erlassen. Die demokratische Legitimation oder eben die Freiheitlichkeit wahren die Gemeinschaftsorgane somit dadurch, daß sie den Willen der verbundenen Völker verwirklichen. Die Europäische Union ist strukturell exekutiv, aber doch Staat, weil sie zur Verwirklichung der gemeinschaftlichen Staatlichkeil institutionalisiert ist. Dieser Staat ohne echtes Parlament kann nur demokratisch sein, wenn seine Rechtsakte von den verbundenen Völkern legitimiert sind; denn nur echte Parlamente vermögen ein Volk demokratisch zu repräsentieren, soweit nicht die Völker plebiszitär (unmittelbar demokratisch) über ihr Recht abstimmen. Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes in den Erkenntnissen des Rechts 14. Die Verbindlichkeit der stellvertretenden Erkenntnisse des Parlaments ist der allgemeine Wille des Volkes. Diese Rechtsetzung ist zugleich repräsentativ und identitär, repräsentativ in der Sittlichkeit der Erkenntnis des Rechts und identitär im Willen jedes einzelnen Bürgers, daß die verabschiedeten Rechtserkenntnisse der Vertreter des ganzen Volkes für alle verbindlich sein sollen. Das allgemeine Gesetz ist das Gesetz, welches alle wollen. Jede Politik muß um des Rechts willen parlamentarisch verantwortet sein, wenn sie nicht unmittelbar vom Volk beschlossen wird. Die Gemeinschaftspolitik, welche nicht eigenständig von einem wirklichen Gemeinschaftsparlament verantwortet wird, muß .darum hinreichend von den nationalen Parlamenten verantwortet werden, wie das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil festgestellt hat 15.

14 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637ff., insb. S. 707ff., auch zum Folgenden. 1s BVerfGE 89, 155 (184ff.).

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lll. Demokratische Integration

1. Das demokratisch fundierte Prinzip des nationalen Parlamentsvorbehalts der Gemeinschaftsrechtsetzung verbietet Ermächtigungen der Gemeinschaftsorgane, die so weit gefaßt sind, daß ihre Ausübung mangels Bestimmtheit nicht mehr voraussehbar und dadurch nicht von den nationalen Parlamenten verantwortbar ist. Demgemäß ist das Prinzip der begrenzten Ermächtigung ein Eckstein des Gemeinschaftsrechts, wie ihn das Maastricht-Urteil, angelehnt an Art. 3 b Abs. 1 Getzt Art. 5 Abs. 1) EGV, richtig eingesetzt hat 16. Dieses Prinzip verlangt, daß die Gemeinschaftspolitiken hinreichend bestimmt in den Gemeinschaftsverträgen materialisiert werden, damit die nationalen Parlamente mittels ihrer Zustimmungsgesetze die Verantwortung für die Gemeinschaftspolitik übernehmen können. Allerdings kann keine Rede davon sein, daß das Prinzip der begrenzten Ermächtigung in der Gemeinschaftspraxis eingehalten wird. Der Sache nach wird ein Prinzip offener Ermächtigungen praktiziert, welches die Verantwortbarkeit der Gemeinschaftspolitik durch die nationalen Parlamente unterläuft17. Die Ermächtigungsnormen der verschiedenen Politiken sind nicht nur weit formuliert, sondern den denkbar weiten Zielen der Union und der Gemeinschaften werden Ermächtigungen zu Aufgaben und Befugnissen abgewonnen, welche das Bundesverfassungsgericht veranlaßt haben, die Achtung der Grenze zwischen Vertragsauslegung und Vertragsgestaltung anzumahnen 18. Nach Art. 308 EGV kann sich die Gemeinschaft sogar durch einstimmigen Beschluß des Rates auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der Versammlung durch geeignete Vorschriften die erforderlichen Befugnisse verschaffen, wenn diese im Vertrag nicht vorgesehen sind, aber für eine Tätigkeit der Gemeinschaft erforderlich erscheinen, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen. Neben dieser kleinen Ermächtigungsnorm, die angesichts der Weite der Ziele der Gemeinschaft Politiken derselben ermöglicht, welche mangels Vorhersehbarkeit von den Völkern nicht mehr demokratisch legitimiert sind, hat der Unionsvertrag in Art. F Abs. 3 Getzt Art. 6 Abs. 4 EUV) eine große Ermächtigungsklausel vorgesehen, nach der die Union sich mit den Mitteln ausstatten durfte, "die zum Erreichen ihrer Ziele und zur Durchführung ihrer Poltiken erforderlich sind". Das Bundesverfassungsgericht hat diese Klausel, welche an das Ermächtigungsgesetz von 1933 denken läßt, als bloße Erklärung "politischBVerfGE 89, 155 (187f., 188ff., 191ff.). K. A. SchachtschneiderI A. Emmerich-Fritsche/Th. C. W. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, JZ 1993, 751ff.; vgl. auch Th. C. W. Beyer, Die Ermächtigung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, Der Staat 35 (1996), S. 189ff. 1s BVerfGE 89, 155 (210). 16

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programmatischer Absicht" beiseite geschoben 19, so daß sie jedenfalls gegenüber Deutschland als Vertragsgrundlage neuer Aufgaben und Befugnisse (vorerst) nicht genutzt werden kann. Ob diese demokratiedogmatisch begründete Erkenntnis vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben wird, steht dahin. Wären die Ermächtigungen eng und würden diese demgemäß vom Gerichtshof praktiziert, ließe sich die demokratische Legitimation der Rechtsakte der Gemeinschaft auf Grund der nationalen Zustimmungen zu den Gemeinschaftsverträgen schwerlich bestreiten, abgesehen von den echten supranationalen Wirkungsfeldern der Gemeinschaft, wie vor allem dem der Währungsunion, welche ihrer Eigenart gemäß keine Mitwirkung der nationalen Verfassungsorgane an der Gemeinschaftspolitik erlauben. 2. Soweit die Ermächtigungen hinreichend bestimmt und dadurch die darauf gestützte Gemeinschaftspolitik national durch die Zustimmung zu den Verträgen verantwortet ist, bleibt das demokratische Prinzip deshalb gewahrt, weil die nationalen Repräsentanten jedenfalls in dem maßgeblichen Rechtsetzungsorgan, dem Rat, mitwirken und durch nationale Entscheidungen der unmittelbar demokratisch legitimierten Legislative gebunden werden können. Freilich werden dadurch nur die Abstimmungen des nationalen Vertreters im Rat demokratisch legitimiert, obwohl prinzipiell alle Amtswalter eines staatlichen Organs der demokratischen Legitimation bedürfen, um dessen Rechtsakte zu rechtfertigen20. Dieses demokratische Defizit ist aber um der Gemeinschaftlichkeit der Rechtsakte willen hinzunehmen, weil schließlich alle Mitgliedstaaten Einfluß auf die Rechtsakte haben müssen, so daß es im Staatenverbund unmöglich ist, daß alle Organwalter der Gemeinschaft von allen Völkern gewählt werden. Sonst müßten alle Regierungsmitglieder, die im Rat mitwirken, von allen Völkern, zumindest mittelbar, gewählt werden. Das würde allemal den einheitlichen Staat begründen. Die Völker verlören ihre Selbständigkeit. Dieses demokratische Defizit wird somit durch das Integrationsprinzip gerechtfertigt21 , jedenfalls im Rahmen begrenzter Ermächtigungen. Immerhin bedarf die Ernennung der Mitglieder der Kommission, die allerdings gegenüber den Mitgliedstaaten unabhängig sind (Art. 213 Abs. 2 EGV), u.a. des Einvernehmens aller nationalen Regierungen (Art. 214 Abs. 2 EGV). 3. Die demokratische Legitimation der Gemeinschaftsrechtsakte würde durch ein durchgängiges Prinzip der Einstimmigkeit von Ratsbeschlüssen gestärkt. Darunter würde allerdings die Effizienz der Gemeinschaft leiden. Mit der Zahl der an der Union beteiligten Völker steigt die Notwendigkeit der Mehrheitsregel, obwohl diese die politischen Verhältnisse vor allem BVerfGE 89, 155 (194ff.). BVerfGE 47, 253 (275); vgl. auch BVerfGE 52, 95 (112, 120, 130); 83, 60 (72); 89, 155 (182). 21 I.d.S. BVerfGE 89, 155 (l82ff.). 19

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dadurch tiefgehend verändert, daß es Bündnisse der einen zu Lasten der anderen ermöglicht, welche der Minderheit den· Einfluß auf die Politiken nimmt, die auch in ihren Ländern verbindlich werden. Die Mehrheitsregel ist somit nur legitim, wenn sie der Verwirklichung der praktischen Vernunft dient, d. h. den kategorischen Imperativ achtet. Die Mehrheitsregel darf rechtens nur zur Entscheidung zwischen unterschiedlichen Erkenntnissen dessen, was Recht ist, dienen, nicht zur Durchsetzung der Interessen der Mehrheit gegen die der Minderheit. Bündnisse zu Lasten Dritter sind durchgehend sittenwidrig, nicht nur Kartelle. Die Mehrheitsregel ist eine prozedurale Hilfe, um divergente Erkenntnisse entscheidbar zu machen, nicht aber ein Mittel, um Macht zuzuteilen, die Interessen durchzusetzen erlaubt. Das gilt demokratiedogmatisch allgemein22, wird aber zum Schaden der Republik kaum geachtet. Auch das Bundesverfassungsgericht hat der Mehrheitsregel Grenzen gesetzt. Wenn nämlich Verfassungsprinzipien oder elementare Interessen eines Mitgliedstaates durch einen Rechtsakt der Gemeinschaft belastet werden, verbietet es "das Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme aus der Gemeinschaftstreue", den betroffenen Mitgliedstaat zu überstimmen23 . Dieses prozedurale Prinzip ist der Praxis des Luxemburger Kompromisses von 1966 erwachsen und wird meist vertraulich praktiziert. Jeder Mitgliedstaat reklamiert, welchen Rechtsakten er nicht zuzustimmen bereit ist. Das veranlaßt die Suche nach einem Kompromiß. Gegebenenfalls lassen sich Regierungen im Rat mit Augurenlächeln überstimmen, um der Öffentlichkeit ihres Landes vorzutäuschen, sie hätten dessen Interessen wahrgenommen, und signalisieren, daß sie rechtliche Bedenken nicht vor den Europäischen Gerichtshof tragen werden, wohl wissend, daß dieses Gericht im Zweifel und regelmäßig die Politik der Kommission unterstützt, welche schließlich den.jeweiligen Rechtsakt vorgeschlagen haben muß. 4. Angesichts der weiten Ermächtigungen ist die demokratische Legitimation der exekutivistischen Ratsmitglieder und damit der nationalen Regierungen, welche den im Rat agierenden Ministern das Abstimmungsverhalten vorschreiben dürfen, defizitär. Dieses Defizit könnten die nationalen Parlamente oder die nationalen Legislativorgane ausgleichen, wenn und insoweit diesen ein bestimmender Einfluß auf die Regierungspolitik in europäischen Angelegenheiten zusteht. Der Europaartikel des Art. 23 GG läßt sich, so unklar er formuliert ist, dahingehend interpretieren. Nach Absatz 2 Satz 2 dieser Vorschrift hat die Bundesregierung den Bundestag und den Bundesrat "umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt in Angelegenheiten der Europäischen Union zu unterrichten", nach Absatz 3 Satz 1 hat sie dem Bundestag "Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer 22 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 105ff., auch S. 637ff., 707ff. 23 BVerfGE 89, 155 (184). !4•

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Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union zu geben" und nach Satz 2 dieses Absatzes die "Stellungnahme des Bundestages zu berücksichtigen". Der Bundesrat ist nach Maßgabe der Absätze 4 bis 6 des Art. 23 GG an der Willensbildung des Bundes in Angelegenheiten der Europäischen Union zu beteiligen. Auch. seine Stellungnahmen sind zu berücksichtigen. Wenn die Länder im Schwerpunkt die (nationalen) Gesetzgebungsbefugnisse haben oder die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen ist, ist die Auffassung des Bundesrates sogar maßgeblich zu berücksichtigen (Abs. 5, S. 2). Die Intensität der Berücksichtigungspflicht ist strittig. Zum einen soll die Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäischen Union das letzte Wort haben, so daß die Stellungnahmen der Gesetzgebenden Häuser sie nicht binden24• Zum anderen sollen diese Stellungnahmen die Bundesregierung binden können, wenn die Bundesregierung dies mit einem oder beiden Gesetzgebenden Häusern vereinbart hat25 . Das gebietet das Prinzip der Organtreue. Dahingehend hat sich auch das Bundesverfassungsgericht sowohl im Maastricht-Urteil als auch im Euro-Beschluß eingelassen26 . Für eine weitgehende Bindungswirkung der Stellungnahmen spricht spezifisch das demokratische Prinzip, weil diese Bindung das demokratische Defizit der exekutivistischen Gemeinschaftsrechtsakte mildert. Der Bundestag hätte zwar die Möglichkeit, den Bundeskanzler und damit die Bundesregierung durch konstruktives Mißtrauensvotum nach Art. 67 Abs. 1 GG abzulösen oder sogar auf Grund des Prinzips der ständigen Freiwilligkeit der Integration in die Europäische Union das Zustimmungsgesetz zu dem betroffenen Gemeinschaftsvertrag aufzuheben 27 , aber beide Maßnahmen sind derart weitreichend, daß sie in der Praxis nicht in Betracht kommen, um einen bedenklichen Rechtsakt zu verhindern. Darum müssen die Einflußmöglichkeiten der Gesetzgebenden Häuser spezifisch auf die europäische Rechtsetzung um des demokratischen Prinzips willen gestärkt werden. Allemal ist die Bundesregierung gebunden, wenn eines der Häuser rechtliche Bedenken gegen einen Rechtsakt der Gemeinschaft beschließt28 . Über derartige Bedenken darf sich die Bundesregierung nicht hinwegsetzen dürfen. Sie muß vielmehr in Analogie zu Art. 93 Abs. l Nr. 2 GG bei diesen Meinungsverschiedenheiten das Bun24 25

R. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, 1996, Art. 23, Rdn. 116 ff. Dazu näher (in diesem Sinne) K. A. Schachtschneider, Die Verantwortlichkeit

des Bundesrates beim Schritt zur dritten Stufe der Währungsunion, 1998, bisher unveröffentlicht. 26 BVerfGE 89, 155 (191); 97, 350 (374f.) 27 BVerfGE 89, 155 (190); K. A. Schachtschneider, Existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 101 f.; ders./ A. Emmerich-Fritsche/Th. C. W. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, JZ 1993, 758f. 28 K. A. Schachtschneider, Die Verantwortlichkeit des Bundesrates beim Schritt zur dritten Stufe der Währungsunion.

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desverfassungsgericht um Klärung des Rechts bemühen. Die Verantwortung der Legislative für das Recht darf nicht angetastet werden, solange nicht das Bundesverfassungsgericht Recht gesprochen hat. Dieses zumindest verfassungskonforme Verständnis der Verantwortung des Parlaments und auch der Länderkammer in Gemeinschaftssachen mindert das Demokratiedefizit, zumal die wichtige Politik weitgehend Sache der Europäischen Union geworden ist, allemal im Wirtschaftsrecht Bald wird auch das Sozialrecht wesentlich integriert sein. Nicht nur die demokratische Legitimation leidet unter der Exekutivität der Gemeinschaftspolitik, sondern auch das Prinzip der gewaltenteiligen Funktionenordnung29, welches als Baustein eines Rechtsstaates ebenfalls demokratisch begründet ist.

IV. Demokratiewidriger Parteienstaat Deutschland ist mehr als die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein Parteienstaat Die deutsche Parteienstaatlichkeit muß bedacht werden, wenn das "Demokratiedefizit in der Europäischen Union" erörtert wird; denn alle Staatsgewalt soll vom Volke ausgehen. Was nutzen jedoch Befugnisse der Gesetzgebenden Häuser, insbesondere die des Parlaments, im Parteienstaat? Der Parteienstaat, der sich zu einem nahezu absolutistischen Caesarismus des oder der Parteiführer entwickelt hat, hat die Republik substantiell entparlamentarisiert30 und damit das Gemeinwesen entdemokratisiert. Immerhin gibt es noch gewisse Kräfte, welche die Macht der Parteienoligarchie einschränken, solange die Möglichkeit besteht, die herrschenden Parteien abzuwählen und solange es noch parteiunabhängige Institutionen gibt, wie im wesentlichen die Universitäten, zum Teil die Medien, zum Teil die Kirchen, im begrenzten Umfang durchaus die Verwaltungen, aber auch die Unternehmen, zumal die internationalistischen. Das Oppositionsprinzip jedoch hat versagt. Wenn es um wichtige politische Entwicklungen geht, wirkt die politische Klasse zusammen. Der Streit der Lager ist weitestgehend nur Mittel, um die Wählerschaft zur Teilnahme an der Wahl zu bewegen, weil die Wahlbeteiligung noch immer die wesentliche Legitimation für die politische Klasse ist. Dieser geht es um Ämter und Pfründen, nicht wesentlich um das gemeine Wohl. Hans Herbert von Amim hat die Verhältnisse des entwickelten Parteienstaates in Deutschland trefflich vorgeführt, etwa 1997 in seinem Buch "Fetter Bauch regiert nicht gern". Es gibt keine Demokratie ohne echten Parlamentarismus, weil demokratische Politik im bürgerschaftliehen Gemeinwesen prinzipiell repräsentativ gestal29 Dazu K. A. Schachtschneider, Das Rechtsstaatsprinzip der Republik, Lehrstuhlskript, 4. Aufl. 1992, S. 45ff., 54ff., 66ff. 30 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 772ff., auch S. 1045 ff., auch zum Folgenden.

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tet wird. Die Wirklichkeit des demokratischen Prinzips steht und fällt mit einem Parlamentarismus im Sinne des Art. 38 Abs. 1 GG. Dieser darf durch die Mitwirkung von Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes, die Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG zuläßt, nicht verfälscht werden. Die Parteien sollen auch lediglich "mitwirken" dürfen, nicht aber die Bürgerschaft von der Politik ausschließen. Dahin hat sich jedoch die Parteiendemokratie in Deutschland entwickelt. In den Parteien aktiv sind allenfalls 0,5% der Bürgerschaft, d. h. 99,5% der Bürger im Lande haben auf die Politik keinen Einfluß, abgesehen davon, daß sie durch die Wahlen das vermeintlich geringere Übel an die Stelle des größeren setzen dürfen. Immer bleibt es die sehr kleine politische Klasse, welche das Land beherrscht. Der Föderalismus in Deutschland hat, mit gewissen Eigenständigkeiten des Freistaates Bayern, fast nur noch parteienstaatliche Funktion und ermöglicht der gesamten politischen Klasse, hinreichend mit Ämtern und Pfründen versorgt zu werden. Wenn auch die Mehrheitsparteien nicht so agieren können, wie sie wollen, falls im Bundesrat, der föderalen Länderkammer, die Opposition die Mehrheit hat, so entlastet eine solche Situation doch die gesamte Parteienoligarchie von der Verantwortung, die sie so ungern übernimmt, weil sie die Befähigung zur Verantwortung meist gar nicht hat. Die "organisierte Verantwortungslosigkeit" 31 ist ja eine Entwicklung des Parteienstaates und könnte und müßte von den maßgeblichen Organwaltern beseitigt werden. Diese aber sind Parteifunktionäre, welche um ihrer Positionen willen gerade nicht bereit sind, Verantwortung auf sich zu nehmen. Das ist im Parteienstaat systembedingt, so daß die Parteien-klausel im Grundgesetz als systemwidrig kritisiert werden muß, jedenfalls soweit sie Grundlage des entwickelten Parteienstaates ist. Die Weimarer Reichsverfassung kannte eine solche Parteienklausel denn auch nicht. Der Parteienstaat ist die Verfallserscheinung der Republik; denn die Parteien sind ihrem Begriff und ihrem Wesen nach parteilich32 . Sie sind der Rechtserkenntnis nicht fähig, weil sie Bündnisse der Macht und des Vorteils sind. Rechtserkenntnisse, die vornehmste Aufgabe der Parlamente, setzen aber bestmögliche Befähigung und größtmögliche Unabhängigkeit zur Erkenntnis lies Rechts voraus. Wichtigstes Qualifikationsmerkmal ist die Fähigkeit zur Sittlichkeit, welche jedoch durch die Bündnisse erstickt wird. Der Parteienstaat bringt systembedingt eine Negativauslese in die Parlamente und mittels der Ämterpatronage in die Ämter der Exekutive und der Judikative. Das Interesse an der "Beute", an Ämtern, Pfründen und son31 H. H. von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse selbstbezogen und abgehoben, 1997, S. 147ff. 32 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1060ff., auch zum Folgenden.

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stigen Vorteilen, ist nicht der Hintergrund, der Erkenntnisse des Rechts fördert. Ganz im Gegenteil, er verhindert diese. Wemer Maihofer, der es wissen muß, hat von "der Deformation und Perversion von Prinzipien der Demokratie, wie der Republik im Parteienstaat der Gegenwart", gesprochen33. ·Richtig ist das Schlagwort: Parteien verhindem die Demokratie, nicht etwa das umgekehrte Schlagwort: Ohne Parteien keine Demokratie. Das letztere Schlagwort bestimmt aber die Demokratiedogmatik in Deutschland, jedenfalls die vermeintlich demokratische Praxis34. Wenn die Demokratie als Staatsform der Freiheit, also als Republik, begriffen wird, sind die festgefügten Parteien im Sinne des § 2 ParteienG Hindernis von Demokratie und Republik und damit Hindernis der allgemeinen Freiheit. Der Parteienbegriff des Art. 21 GG muß republikgemäß interpretiert werden. Das schließt festgefügte Parteien, die durch Führerschaft und Gefolgschaft definiert sind und deren Maxime die Geschlossenheit ist, aus. Parteien dürfen nur offene Gesprächskreise sein, die sich um bestmögliche Erkenntnis des Rechts bemühen und Kandidaten für die Wahlämter vorschlagen. Es verletzt augenscheinlich den Anstand, daß sich die Parteimitglieder gegenseitig vorschlagen und gegen ihre eigene Einsicht die Mitglieder ihrer Partei als amtsgeeignet propagieren. Solange freilich das Verhältniswahlsystem mit den Sperrklauseln nicht wegen seiner Verfassungswidrigkeit35 geändert ist und ein Verfahren der Kandidatenaufstellung eingerichtet ist, welches dem demokratischen Prinzip genügt, wird sich nichts ändern, zumal der Parteienstaat durch die untragbare 5 %-Sperrklausel nicht nur gestützt, sondern geradezu begründet wird. Allemal verletzt das Verhältniswahlsystem das Prinzip der Unmittelbarkeit der Wahl36 • Man mag aber auch nicht von einer Freiheit und Gleichheit der Wahl sprechen, solange die Parteien und damit die kleine Gruppe der politischen Klasse das faktische Nominationsmonopol hae7 und solange unehrliche Propaganda Grundlage der Wahlen ist. Der spröde Wahlakt ist das Minimum formaler Demokratie, aber noch keineswegs eine materiale Demokratie, wie sie das Freiheitsprinzip fordert. Kar[ Jaspers hat das bereits in den 60er Jahren dargelegt und die Entwicklung der Demokratie zur Parteienoligarchie vorausgesagt, aber auch davor gewarnt, daß die Parteienoligarchie sich zur Diktatur entwickeln könne38 . Verschiedene Politiken der politischen Klasse sind diktatorisch, besser 33 Abschließende Bemerkung der Herausgeber, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 1709. 34 Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1054ff. 3j K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1147f. mit Hinweisen auf die entgegengesetzte herrschende Meinung, insb. die ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 1, 208 (247ff.). 36 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1148, Fn. 468. 37 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 677. 38 Wohin treibt die Bundesrepublik?, 10. Aufl. 1988, S. 141 ff.

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despotisch, insbesondere die Euro-Politik, die gegen den Willen des Volkes durchgesetzt worden ist. Eine Volksabstimmung über die Währungsunion ist dem deutschen Volk verweigert worden. Nicht einmal Rechtsschutz wurde den Bürgern Deutschlands eingeräumt. Die Euro-Politik wird immer eine Politik im Unrecht sein. Falls die Währungsunion ökonomisch scheitert, wird sie Deutschland politisch destabilisieren und den Versuch eines freiheitlichen Gemeinwesens, einer Republik, in Gefahr bringen. Wenn die Verfassung nicht in Ordnung ist, ist eine ordentliche Politik nicht zu erwarten. Demokratie und Republik sind überaus anspruchsvolle Staats- und Regierungsformen, welche die Rechtlichkeit des gemeinsamen Lebens sichern sollen. Das heißt aber, die Sittlichkeit des kategorischen Imperativs verwirklichen. Ohne Moralität der Politiker kann Politik nicht zum Recht finden. Politische Bündnisse und bürgerliche Sittlichkeit aber sind ein Widerspruch. Das wesentliche Demokratiedefizit ist der entwickelte Parteienstaat Dieses Defizit schlägt auf die Europäische Union durch und verstärkt deren demokratische Mängel, die (zusammengefaßt) aus der exekutivistischen Struktur folgen. Das europäisierte Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts ist im republikanischen Sinne der Freiheit keine Demokratie. Es genügt den Grundsätzen des Art. 6 Abs. I EUV, nämlich "der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit" allenfalls, wenn diese Grundsätze liberalistisch im Sinne herrschaftlicher Obrigkeiten und untertäniger Bürgerschaften minimiert, nicht aber wenn sie republikanisch in der Tradition der Aufklärung und der Menschenrechtserklärungen im Sinne der Gleichheit aller in der Freiheit entfaltet werden. Diese Kritik soll durch einige besondere Aspekte ergänzt werden. V. Demokratiewidrige Integration zum europäischen Großstaat

In Europa entsteht ein Bundesstaat, ohne daß die beteiligten Völker das wollen. Jedenfalls ist deren Wille, in einem gemeinsamen existentiellen Staat zu leben und die existentielle Staatlichkelt ihrer Völker aufzugeben, nicht erklärt. Das setzt Verfassungsreferenden in jedem der beteiligten Völker voraus, welche die Entscheidung zur Abstimmung der Völker stellen, ob sie ihre nationale zu Gunsten einer europäischen existentiellen Staatlichkelt beenden wollen. Die Verfassungshoheit des Volkes ist das Fundament der Demokratie. Jedes Volk hat das Recht der Selbstbestimmung, wie das in vielen völkerrechtlichen Verträgen anerkannt ise9 . 39 Etwa Art. 55 Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945; Art. 1 Abs. I Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember

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Die Wirtschafts- und Währungsunion, die geradezu zwangsläufig die Sozialunion nach sich zieht, ist der Hebel, mit dem die politische Union, der existentielle europäische Staat, erzwungen werden soll, weil jedenfalls die Währungsunion ohne politische Union nach fast allgemeiner Einsicht erfolglos bleiben muß40. Nachdem die deutsche Politik, vor der Währungsunion eine politische Union zu schaffen, in Maastricht gescheitert war, hat die politische Klasse in Deutschland unter Führung des Bundeskanzlers die Krönungs- durch die Hebeltheorie ersetzt und eine Währungsunion akzeptiert, welche um ihres Erfolgs willen die politische Union nach sich ziehen soll. Mit dieser Politik ist die existentielle Staatlichkeit jedenfalls Deutschlands aufgegeben. Die Deutschen sind nicht einmal gefragt worden, ob sie eine Währungsunion befürworten. Eine dahingehende Volksabstimmung wäre nach aller Erwartung gescheitert. Deswegen ist sie auch nicht durchgeführt worden. Die Integrationspolitik vergewaltigt das deutsche Volk. Anderen Völkern ist wenigstens die Abstimmung über die Währungsunion zugestanden worden. Ob sie wußten, daß sie mit der Zustimmung zur Währungsunion ihre existentielle Staatlichkeil in Frage stellen, steht dahin. Die existentielle Staatlichkeil wird Opfer der ökonomischen Zwänge einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Das ist erklärter Wille der politischen Klasse und widerspricht nach allen Umfragen jedenfalls dem Willen der großen Mehrheit der Deutschen. Der Wille Deutschlands hätte in einem Verfassungsreferendum geklärt werden können und müssen. Die Integrationspolitik mißachtet den Willen des Volkes sogar bei der fundamentalen Frage der eigenen existentiellen Staatlichkeit. Krasser kann das demokratische Prinzip nicht verletzt werden. Dieser Verfassungsbruch wird dadurch kaschiert, daß die weitentwickelte, jedenfalls intendierte, existentielle Staatlichkeil Europas nicht zugestanden wird. Auch das Bundesverfassungsgericht leugnet, daß Europa ein Staat oder ein Bundesstaat sei. Die Erkenntnis, daß der Schritt in die europäische existentielle Staatlichkeil jedenfalls mit der Währungsunion gemacht ist, wird zurückgedrängt, weil sie gebieten würde, die weitere Integration zurückzustellen, insbesondere die Währungsunion. Nicht einmal die vertraglichen Voraussetzungen für den Beginn der dritten Stufe der Währungsunion sind eingehalten worden41 • Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Euro-Klage als "offensichtlich unbegründet" verworfen und damit den Bürgern Rechts1966; Art. I Abs. 1 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966; Korb 1, VIII der Schlußakte von Helsinki vom 1. August 1975. 40 Dazu und zum Folgenden W. Hankel/W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muß, rororo aktuell, 1998, S. 25ff., 247ff. 41 W. Hanke! u.a., Die Euro-Klage, S. 214ff.

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schutz gegen die Vertragsverletzung und damit gegen die Beendigung der existentiellen Staatlichkeil Deutschlands, ohne daß das deutsche Volk dazu seinen Willen hat äußern dürfen, mittels einer grundrechtsminimierenden neuen Dogmatik verweigert42 . Die vertragliche (notwendige) Voraussetzung der einheitlichen Währung, die Konvergenz gemäß Art. 109 j Abs. 1 (jetzt Art. 121 Abs. 1) EGV, war nicht erfüllt, so daß die Währungsunion nicht nur Unrecht, sondern nach dem Selbstverständnis des Vertrages ökonomisch zum Scheitern, ihre vierte Stufe, verurteilt ist43 . Das Grundgesetz verankert die existentielle Staatlichkeil Deutschlands in Art. 20 GG, die wegen der schon genannten Unabänderlichkeltsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG nicht zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers steht44 und damit dem volksfernen Integrationismus der politischen Klasse Grenzen zieht. Die Führer Europas haben aber gegen den Willen jedenfalls der Deutschen und wohl auch der meisten anderen Völker Europas die Integration der Gemeinschaft zu einem existentiellen Großstaat zu ihrem Ziel gemacht. VI. Entdemokratisierung durch entstaatlichende Integration 1. Der Großstaat Europa wird nicht nur unter Mißachtung des demokratischen Prinzips von der politischen Klasse ertrotzt. Er wird auch dem demokratischen Prinzip keine Entfaltungschancen lassen, weil dieses mit dem Prinzip der kleinen Einheit verbunden ist. Weder der Föderalismus noch das Subsidiaritätsprinzip gewährleisten die Wirklichkeit der Republik als freiheitlicher Demokratie, wenn die Wirtschafts-, Währungs- und vor allem Sozialpolitik von einem Großstaat verantwortet werden. Jeder Staat ist dem Zwang, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse seiner Bürger zu fördern, unterworfen. Die Entwicklung Deutschlands beweist das. So steht es auch in den Gemeinschaftsverträgen (Art. 2 und Art. 158 EGV). Transferleistungen und vor allem ein europaweiter Finanzausgleich werden den sozialen Ausgleich in der Union zu bewerkstelligen haben. Ob die wirtschaftliche und vor allem die soziale Homogenität der europäischen Völker hinreicht, um die politische Union zu verwirklichen, ist mehr als fragwürdig. Jedenfalls wird der Großstaat Europa nicht demokratisch sein, weil das demokratische Prinzip nicht schon durch die Wahl eines Parlaments verwirklicht wird. Vielmehr muß die sittliche Einheit möglich sein, welche ein diskursi42 BVerfGE 97, 350 (376f.) dazu meine Kritik, Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, in: IHI-Schriften 9 (1998), S. 19ff., insb. S. 22ff. (auch im Internet: www. wiso. uni -erlangen.de /WiSo/Wirecht/ oere/). 43 Dazu W. Hankel u.a., S. 192ff., 214ff., 247ff., auch S. 25ff.; K. A. Schachtschneider, Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 43 ff. 44 Dazu K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeil der Völker Europas, S. 75 ff.

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ves Miteinander voraussetzt, in dem das beste Argument die Politik bestimmt. Wenn die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse allzu heterogen sind, können nur gegenläufige Interessen die Verhältnisse bestimmen, so daß ein interessenhaftes Mehrheitsprinzip politisch maßgeblich wird. 2. Die Heterogenität wird politisch durch die privatisierende Deregulierung nivelliert, welche die Bewältigung der Lebensverhältnisse den lndustrieunternehmen, Banken und Versicherungen überläßt. Wie sich deutlich zeigt, ermöglicht das privatistische Lebensverhältnisse, in denen die soziale Frage vernachlässigt wird, ohne daß die Entstaatlichung die größere Leistungsfa.higkeit sicherstellt. Vielmehr gewinnen typisch privatistische Gegebenheiten die Oberhand. Dazu gehören auch Korruption und Kriminalität, ohne daß behauptet werden soll, daß staatliche Amtswalter davon verschont wären. Die staatlichen Organe, Behörden und Gerichte, sind aber die Institutionen, in denen privatistische Interessen zurückgedrängt werden können, während ein Übermaß an privattypischer Bewältigung der Lebensverhältnisse der sozialen Realisation widerstreitet. Das demokratische Prinzip ist untrennbar mit dem Sozialprinzip verbunden, welches um der Autonomie des Willens jedes Bürgers willen dessen Selbständigkeit zu fördern gebietet45. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind eine Einheit, welche nur in der durch die allgemeine Freiheit definierten Demokratie als einer Republik Wirklichkeit finden kann. Die kleine Einheit aber ist ein Strukturprinzip des Republikanismus. 3. Die Reduzierung der nationalen Staatlichkeit mindert die demokratische Realisation, weil die Gemeinschaften der Europäischen Union über keine eigenständige demokratische Legitimation verfügen. Jede Übertragung nationaler Hoheitsrechte auf die Europäische Union vergrößert somit das Demokratiedefizit Selbst das Bundesverfassungsgericht hat, als es sich der integrationistischen Ideologie noch nicht gänzlich gebeugt hatte, festgestellt, daß um der demokratischen Legitimation willen "dem Deutschen Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben müssen"46, daß aber "durch den Umfang der eingeräumten Aufgaben und Befugnisse und die im Vertrag geregelte Form der Willensbildung in der Europäischen Union und den Organen der Europäischen Gemeinschaften die Entscheidungs- und Kontrollzuständigkeit des Deutschen Bundestages noch nicht in einer Weise entleert ist, die das Demokratieprinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärt, verletzt"47, und daß "die im Unionsvertrag vorgesehene Einräumung von Aufgaben und Befugnissen europäischer Organe dem Deutschen Bundestag noch hinreichende 45

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Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 234ff. BVerfGE 89, 155 (186). BVerfGE 89, 155 (181).

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Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischen Gewicht beläßt"48. Das Gericht hatte freilich die Aufgaben und Befugnisse der Gemeinschaften und der Union nur knapp skizziert und die Kompetenzfülle der Gemeinschaft nicht wirklich ausgelotet49 . Die Aufgaben und Befugnisse der Gemeinschaften sind nicht nur überaus weit formuliert, sie werden darüber hinaus extensiv interpretiert, und die Ziele der Gemeinschaften werden, wie schon angedeutet, auf der Grundlage des Art. 308 EGV zur Grundlage weiterer Befugnisse genutzt. Die Sachzwänge vor allem der Wirtschafts- und Währungsunion werden zu einer weiteren Unitarisierung des sogenannten Staatenverbundes führen, so daß die existentielle Staatlichkeil der Union nicht mehr bestritten werden wird. Das Prinzip der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse wird die Entwicklung zum existentiellen Staat mit umfassender Verantwortung für die Wirtschaft, die Währung und das Soziale50 zur Folge haben. Daß die Europäische Union sich zum Bundesstaat entwickelt, wird kaum noch bestritten. Das wird vielmehr bezweckt, vor allem durch die Politik der Währungsunion. Spätestens mit der Einführung der einheitlichen Währung, dem Beginn der dritten Stufe der Währungsunion also, verlieren die Völker wesentliche Elemente ihrer existentiellen Staatlichkeit51 und damit die nationalen Parlamente ihr substantielles Gewicht. Damit werden die Nationen wesentlich entdemokratisiert. Diese Entwicklung ist von anderen entdemokratisierenden Politiken begleitet, insbesondere von der weitreichenden Deregulierung der Rechtsordnung, die Folge der unmittelbaren Wirkung der Grundfreiheiten52 (der Warenverkehrs-, der Dienstleistungs-, der Niederlassungs- und der Kapitalverkehrsfreiheit) ist, zumal die Grundfreiheiten vom Europäischen Gerichtshof mit großer Intensität durchgesetzt werden. Demgegenüber ist die gemeinschaftsrechtliche Regulierung der Lebensverhältnisse zögerlich, weil jedenfalls hohe Standards die Leistungsfähigkeit der schwächeren Volkswirtschaften überfordern und niedrige Standards nicht nur Deregulierung bedeuten, sondern auch die Völker der Mitgliedstaaten mit hohem Standard in ihrer Entwicklung zurückwerfen, durchaus auch Deutschland. Der vielgerühmte Wettbewerb der Systeme bewirkt in der Union die Nivellierung der Staatlichkeil und damit die Nivellierung BVerfGE 89, 155 (207). Dazu K. A. SchachtschneiderI A. Ernmerich-FritscheiTh. C. W. Beyer, JZ 1993, 751 ff.; Th. C. W. Beyer, Der Staat, 35 (1996), S. 189ff., insb. S. 195ff. 50 Dazu J. Ringler, Die Europäische Sozialunion, 1997. 51 K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, s. 129ff. 52 Seit EuGH - Rs. 26162 (van GendiLoos), Slg. 1963, lff., st. Rspr.; vgl. Th. Oppermann, Europarecht, 1990, Rdn. 536 ff., K. A. SchachtschneiderI A. ErnrnerichFritsche, Das Verhältnis des europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, DSWR 99, S. 17ff., 81 ff., 116ff. 48 49

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der demokratischen Realisation. Ein Beispiel ist die Steuerpolitik. Die Reduzierung des Steueraufkommens hat notwendigerweise Konsequenzen für die soziale Realisation. Verschiedene Zwänge in der Union haben somit entdemokratisierende Effekte. Maßgebliche Kräfte begrüßen das, weil .der Privatismus durch die Entstaatlichung gestärkt und damit die Verwirklichung der weltweiten Kapitalinteressen chancenreicher wird und bereits geworden ist. Das mag eine vorübergehende Phase der Integrationsentwicklung sein, die von einer sozialistischen Phase abgelöst werden könnte, wenn die Europäische Union über die entsprechenden politischen Strukturen verfügen sollte. Derzeit wird der Einfluß der Völker auf ihre Lebensverhältnisse gemindert. Diese Entwicklung wird von einem Verfall der Wirkkraft der demokratischen Idee begleitet. Die Demokratie wird von verschiedenen Seiten mächtig bedrängt, so daß sich allmählich eine revolutionäre Situation aufbaut. Das Bundesverfassungsgericht hat dem das demokratische Prinzip verwirklichenden nationalen Parlamentarismus noch ein substantielles Gewicht beigemessen, weil neben dem "Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung" auch das Subsidiaritätsprinzip53 und das Verhältnismäßigkeitsprinzip54 die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten wahren würden5 5 . Alle drei Aspekte sind irrig. Das Prinzip der Einzelermächtigung ist durch die offenen Ermächtigungsklauseln in sein Gegenteil verkehrt, das Subsidiaritätsprinzip wird nicht ernsthaft durchgesetzt, ja von wichtigen Mitgliedstaaten nicht einmal verstanden, geschweige denn vom Europäischen Gerichtshof judiziert, und das Verhältnismäßigkeilsprinzip als ein allgemeines Prinzip des rechten Maßes hat (jedenfalls in der Praxis) keine hinreichende Relevanz für die Verteidigung der Staatlichkeil der Mitgliedstaaten56 .

VII. Europäischer Gerichtshof als demokratiewidrige Ordnungsmacht 1. Die Entmachtung und damit Entdemokratisierung der Mitgliedstaaten ist auch eine Folge der durchgreifenden Rechtsprechung des Europäischen 53 Zum gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzip H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip: Strukturprinzip einer europäischen Union, 1993; vgl. auch K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 85 mit weiteren Hinweisen. 54 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung mit Beiträgen zu einer gemeineuropäischen Grundrechtslehre sowie zum Lebensmittelrecht, 1999. 55 BVerfGE 89, 155 (207 ff.). 56 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Drittes Kap., A, II.

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Gerichtshofs, der sich nicht auf die Klärung von Vertragsstreitigkeiten beschränkt, wie Art. 220 EGV in dem demokratischen Prinzip gemäßer restriktiver Interpretation verstanden werden könnte, sondern allgemein Rechtsklärung praktiziert. Zum einen hat der Gerichtshof die Grundfreiheiten entgegen der Intention des Vertrags über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zum unmittelbar anwendbaren Recht erklärt, so daß sich jeder Bürger in jedem Verfahren auf die Grundfreiheiten berufen darf und nicht lediglich die Mitgliedstaaten untereinander verpflichtet sind, die Grundfreiheiten zu verwirklichen57 . Das hat die Wirkung der Grundfreiheiten potenziert und vor allem dem Gerichtshof die Möglichkeit gegeben, tiefgreifend in die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten einzugreifen. Die Hoheit der Völker über ihr Recht ist dadurch weitestgehend verloren gegangen und das demokratische Defizit dadurch wesentlich erhöht. Der Gerichtshof entfaltet eine eigenständige Rechtsordnung, welche das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten ebenso verändert wie das Verwaltungs-, das Privat- und vor allem das Wirtschaftsrecht Vor allem hat sich der Gerichtshof auf das Drängen des Bundesverfassungsgerichts in den Solange-Entscheidungen58 zu einem Grundrechtsgericht erklärt, obwohl nicht einmal ein Grundrechtstext vorlag. Textlos, aber orientiert an der europäischen Grundrechtstradition und an der europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, reklamiert der Gerichtshof, Grundrechtsschutz zu geben und ist in dieser Befugnis durch Art. F Abs. 2 (jetzt Art. 6 Abs. 2) EUV bestätigt worden. Allerdings hat der Gerichtshof noch nicht ein einziges Mal zu erkennen vermocht, daß ein Gemeinschaftsrechtsakt grundrechtswidrig im eigentlichen Sinne sei59 . Der Grundrechtsschutz, ein wesentlicher Baustein der materialen Demokratie, deren Zweck nichts anderes ist als die Verwirklichung des Rechtsprinzips, ist beim Europäischen Gerichtshof in schlechten Händen, weil der Grundrechtsschutz die Integration eher hemmen würde, der Gerichtshof sich jedoch als deren Motor betätigt. Das ist selbst dem Bundesverfassungsgericht zu weit gegangen, so daß es seine Judikatur, keinen Grundrechtsschutz gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten zu geben60, revidiert und im Maastricht-Urteil versprochen hat, den "unabdingbaren" Grundrechtsstandard, d. h. den Wesensgehalt der Grundrechte, auch gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten zu verteidigen und in einem "Kooperationsverhältnis" mit dem Europäischen Gerichtshof, der den GrundrechtsVgl. die Hinweise in Fn. 52. BVerfGE 37, 271 ff.; 73, 339ff. 59 Vgl. dazu A. Emmerich-Fritsche, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Drittes Kap., C, VII. 60 BVerfGE 22, 31 (92); 22, 293 (295); 37, 271 (283, 285ff.); insb. BVerfGE 58, 1 (27). 57

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schutz in allen Einzelfallen leisten solle, für die Verwirklichung der Grundrechte Sorge zu tragen61 . Freilich hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Euro-Beschluß dieses Versprechen verletzt und den Bürgerschutz gegenüber der fraglos rechtswidrigen, weil vertragswidrigen, Einführung des Euro mit dem rechtlosen Argument verweigert, im "Bereich rechtlich offener Tatbestände zwischen ökonomischer Erkenntnis und politischer Gestaltung" weise "das Grundgesetz die Entscheidungsverantwortlichkeiten Parlament und Regierung zu"62. Mit der Minimierung des Grundrechtsschutzes ist die Republik empfindlich geschwächt worden. Es gibt aber keine Demokratie ohne Rechtsstaat, wie es auch keinen Rechtsstaat ohne Demokratie gibt (Jürgen Habermas) 63 .

2. Der Europäische Gerichtshof hat die Befugnisse eines Verfassungsgerichts erobert, und ein Verfassungsgericht ist funktional ein wesentlicher Gesetzgeber. Der Gerichtshof entbehrt der demokratischen Legitimation. Nur eine enge Bindung an den Vertragstext vermag das demokratische Defizit des Gerichtshofs auszugleichen. Der Gerichtshof soll "die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages sichern" (Art. 220 EGV), nicht aber sich zur höchsten Instanz des Rechts aufschwingen. Die Verbindlichkeit der Erkenntnisse des Gerichtshofs, welche vorn Gemeinschaftsrecht durchaus zurückhaltend geregelt ist, hat mittels deren Akzeptanz durch die nationalen Gerichte eine außerordentliche Stärkung erfahren. Der Gerichtshof ist keine internationale Schlichtungsstelle, sondern quasi oberstes Verfassungsorgan der Europäischen Union mit gottgleicher Allmacht. Demokratisch legitimiert ist der Gerichtshof schon deswegen nicht, weil jeder Mitgliedstaat nur einen Richter stellt, so daß die große Mehrheit der Richter weder von den streitbeteiligten Mitgliedstaaten, noch gar von den Bürgern, die vor dem Gerichtshof prozessieren, demokratisch legitimiert sind, obwohl sie "von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen" ernannt werden (Art. 223 Abs. 1 EGV). Dadurch sind sie zwar nicht gänzlich ohne demokratische Legitimation in ihr Amt berufen, aber doch keinesfalls ausreichend demokratisch legitimiert, weil die Regierungen als Exekutivorgane spezifisch Richter nicht demokratisch zu legitimieren vermögen. Die außerordentlich mächtigen Richter des Europäischen Gerichtshofs müßten entweder die Zustimmung aller Völker haben oder die Zustimmung aller nationalen Parlamente und zusätzlich in einem geeigneten Verfahren von den RichterschafteD der Mitgliedstaaten vorgeschlagen werden, wenn überhaupt ein supranationales Gericht gebildet 61

62 63

293.

BVerfGE 89, 155 (175). BVerfGE 97, 350 (374). Die Einbeziehung des Anderen, Studien zur politischen Theorie, 1996, S. 251,

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werden soll. In Frage käme auch ein internationales Gericht, das als ein gemeinsames Gericht der Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten eingerichtet werden könnte. Derzeit reicht die demokratische Legitimation für die politische Macht des Europäischen Gerichtshofs in keiner Weise. 3. Die Wirkung des Gerichts ist denn auch, wenn man sie am Demokratieprinzip mißt, verheerend. Das Gericht verändert die Rechtsordnung und damit die Lebensverhältnisse in der Europäischen Union mit großem Eifer und durchaus tiefgreifend, oft überraschend. Wenn das Gericht den Willen der Völker, nämlich das Recht, erkennt, ist das allenfalls zufallig. Meist verfolgt das Gericht schlicht das von der Kommission definierte Gemeinschaftsinteresse. Die nationalen Legislativen und darum auch die nationalen Parlamente sind somit nicht nur durch die Übertragung der Gesetzgebungshoheit auf die Gemeinschaften der Europäischen Union entmachtet, sondern auch durch die deregulierende Wirkung der Grundfreiheiten (aber auch anderer Gemeinschaftsprinzipien) und vor allem durch die Praxis des Europäischen Gerichtshofs. Das vergrößert das Demokratiedefizit Mehr als die Hälfte der legislativen Tätigkeit von Bundestag und Bundesrat ist Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien, für die sich die Einrichtung der Gesetzgebenden Häuser nicht lohnt. Im übrigen ist die Gesetzgebung nicht nur an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebunden, die ihr systembedingt keinen allzu großen Spielraum läßt, sondern auch an die geradezu dirigistische Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, ganz abgesehen von den Bindungen an die Fraktionsvereinbarungen, Parteitagsbeschlüsse und Weisungen der Parteiführer. Insgesamt in Deutschland von einem demokratischen Parlamentarismus zu sprechen, ist Euphemismus, der zur Legitimation des längst entdemokratisierten Regierungssystems propagiert wird. VIII. Unechter Unionsparlamentarismus ohne demokratische Wahlen 1. Das Europäische Parlament begründet keine demokratische Legitimation. Es vertritt nicht ein Unionsvolk, sondern die Unionsvölker. Das Parlament ist nicht demokratisch gewählt, nämlich nicht allgemein und gleich. Ihm fehlen die wesentlichen Rechte eines Parlaments, wenn es auch bis an die Grenze dessen mit Befugnissen ausgestattet worden ist, was mit der existentiellen Staatlichkeil der Völker noch vereinbar ist. Allenfalls stützt das Parlament die demokratische Legitimation der Gemeinschaften, die wesentlich von den nationalen Parlamenten legitimiert werden, wie das Bundesverfassungsgericht meint64. Wenn nämlich das Europäische Parlament ein 64

BVerfGE 89, 155 (184).

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echtes Parlament mit substantiellen Parlamentsrechten wäre, wäre die Europäische Union ein existentieller Staat, freilich ein Staat ohne hinreichendes Verfassungsgesetz. Die Gemeinschaftsverträge sind ein solches Verfassungsgesetz nicht65 und schon gar nicht die Verfassung der Europäer66• Letztere ist vielmehr deren Freiheit. Die Versammlung der Vertreter der Völker, welche Art. 7 und Art. 189 EGV propagandistisch "Europäisches Parlament" nennen, ist kein eigentliches Parlament. Wenn die allgemeine Freiheit durch einen existentiellen europäischen Staat verwirklicht werden sollte, müßte dieser einen echten Parlamentarismus einrichten; denn die Vertretung des ganzen Volkes bei der Erkenntnis des Richtigen für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit, die Erkenntnis der Recht schaffenden Gesetze also, durch Abgeordnete, die um der repräsentativen Sittlichkeit willen ausschließlich ihrem Gewissen verantwortlich sind, ist ein unverzichtbares Postulat einer bürgerlichen Verfassung der allgemeinen Freiheit67 : "Eine wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen" (Kant)68 •

Ein echter Parlamentarismus der Union stößt zur Zeit auf unüberwindbare Verfassungsgrenzen, weil er die Europäische Union zu einem existentiellen Staat machen würde69. Das setzt aber ein staatsbegründendes Verfassungsgesetz voraus, welches die existentielle Staatlichkeit der Völker aufheben würde. Das geht, wenn das Recht gewahrt werden soll, nur mit Zustimmung der Völker. Notwendiges (wenn auch nicht hinreichendes) Kriterium eines echten Parlamentarismus ist die Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments. Davon ist das Europäische Parlament weit entfernt, wie schon angesprochen wurde. In begrenzten Politikbereichen, die im Vertrag von Amsterdam erweitert worden sind, ist ihm ein negatives Veto eingeräumt, das aber die absolute Mehrheit der Mitglieder des Parlaments erfordert (Art. 251 Abs. 2 lit b EGV). Das Parlament hat nicht einmal das Gesetzesinitiativrecht (vgl. Art. 192 Abs. 2 EGV). Immerhin bedarf die Kommission der Zustimmung des Europäischen Parlaments (Art. 214 Abs. 2 EGV). Das A. A. EuGH - Rs. 224/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1365. Zum Unterschied der Verfassung als der allgemeinen Freiheit der miteinander lebenden Menschen von den Verfassungsgesetzen als den Grundgesetzen der Staaten K. A. Schachtschneider (0. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution. Kritik der Altschuldenpolitik. Ein Beitrag zur Lehre von Recht und Unrecht, 1996, S. 29ff., auch S. 50ff. 67 K. A. Schachtschneider, Res puplica res populi, S. 637ff., 707ff., 772ff. 68 Metaphysik der Sitten, S. 464. 69 K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. ll4ff., auch zum Folgenden. 65

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Parlament bleibt dennoch nur eine Versammlung von Vertretern der Völker70 . 2. Ohne unionsweites egalitäres Wahlrecht aller Unionsbürger ist eine Gemeinschaftsgesetzgebung eines Unionsparlaments, die nicht auf die Ausführung der Politik der Völker gemäß dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung beschränkt ist, ohne demokratische Legitimation. Demokratische Legitimation kann nur aus egalitären Wahlen erwachsen71 . Wahlen, die trotz einheitlicher Wahlprinzipien die grundsätzliche Gleichheit der Wähler, d. h. vor allem die Gleichheit des Einflusses jedes Wählers auf das Parlament, nicht wahren, sind nicht egalitär und verletzen dadurch die allgemeine Freiheit. Solange die Zahl der Vertreter der Völker im Europäischen Parlament nicht von der Zahl· der Bürger des jeweiligen Volkes abhängt, solange also das Europäische Parlament vom föderalen Prinzip dominiert ist und ein Vertreter Luxemburgs etwa 65.000 und ein Vertreter Deutschlands etwa 800.000 Bürger vertritt, ist das Parlament nicht nur nicht egalitär gewählt, sondern im freiheitlichen Sinne keine Vertretung des ganzen Volkes, also kein echtes Parlament; denn die Bürger müssen wegen der Gleichheit in der Freiheit gleichheitlieh vertreten sein. Die Wahlen müssen im übrigen so verfaßt sein, daß die Parlamentarier nicht mehr Vertreter der Völker, sondern abgeordnete Vertreter des ganzen Unionsvolkes, also aller Unionsbürger, sind. Die nationalen Elemente müßten aus einem echten Unionsparlament verdrängt sein. Das Bundesverfassungsgericht meint, die "stützende Funktion" des Europäischen Parlaments ließ sich verstärken, "wenn es nach einem in allen Mitgliedstaaten übereinstimmenden Wahlrecht gemäß Art. 138 Abs. 3 EGV gewählt würde und sein Einfluß auf die Politik und die rechtsetzenden europäischen Gemeinschaften wüchse"72 . Art. 138 Abs. 3 EGV (a. F., jetzt Art. 190 Abs. 4) intendiert "allgemeine unmittelbare Wahlen nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten". Das wären die egalitären Wahlen. Das Wahlrecht ist die eigentliche Staatsverfassung, wenn das gewählte Parlament echter Gesetzgeber ist. Ein Verfassungsgesetz schafft ein Volk und einen Staat im existentiellen Sinne; denn, wie schon gesagt, "ein Staat ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" (Kant) 73 . Einer egalitären Wahlverfassung steht somit die existentielle Staatlichkeit der Völker entgegen, so daß ein echter Parlamentarismus und damit eine eigenständige demokratische Legitimation durch das Europäi70 Zum Parlamentarismus der Gemeinschaft K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, Lehrstuhlskript, 1997, § 7, S. 156ff. 71 BVerfGE 1, 203 (247, 249); 4, 31 (39f.); 4, 375 (393f.); 11, 266 (272); 11, 351 (360f.); st. Rspr. 72 BVerfGE 89, 155 (186). 73 Metaphysik der Sitten, S. 431.

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sehe Parlament solange ausgeschlossen sind, als die Europäische Union nicht durch ein Verfassungsgesetz der Unionsbürger zum existentiellen Staat gemacht wurde. Alle Völker der Union müßten entscheiden, daß sie ihre existentielle Staatlichkeil einschränken oder beenden, um mit allen verbundenen Bürgerschaften einen Staat im existentiellen Sinne zu begründen. Alle Bürger der Union müßten eine Schicksalsgemeinschaft74, nicht nur eine weitgehende Markt- und Wettbewerbsunion sowie eine Währungsunion und in Grenzen eine Sozialunion (neben anderen gemeinsamen Politiken) wollen, sondern die Vereinigten Staaten von Europa, den großen Staat Europa, der die Nationalstaaten der alten Völker aufhebt. Das Bundesverfassungsgericht hat durch seine sibyllinische Formulierung vom "Zusammenwachsen der europäischen Nationen"75 integrationistische Hoffnungen geweckt, ohne die staatsrechtlichen Voraussetzungen und auch Folgen zu erörtern, die aber gefordert sind, wenn die Leitentscheidung aufklärerischer Gemeinwesen, denen alle europäischen Staaten nach dem Selbstverständnis der Europäischen Union selbst verpflichtet sind, nämlich die allgemeine Freiheit (Präambel des Unionsvertrages, 3. Erwägungsgrund, Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte), beachtet werden soll. Die weitere Integration der Union setzt den echten Parlamentarismus der Union, dieser aber das egalitäre Unionswahlrecht und dieses den existentiellen Unionsstaat und zugleich ein Unionsvolk voraus, welche nur durch eine Unionsverfassung geschaffen werden könnten, denen alle Völker in Verfassungsreferenden zustimmen. Es gibt keinen echten Parlamentarismus in der Europäischen Union und es wird diesen im Europa der Völker nicht geben. Aber nur ein Europa der Völker wird ein Europa der Bürger sein können. Ein existentieller Staat Europa wird wegen seiner Größe ein Europa der Herren und der Untertanen sein. Dahin entwickelt sich die europäische Integration spezifisch wegen ihres Demokratiedefizits. IX. Demokratiewidriges Herkunftslandprinzip 1. Im europäischen Gemeinschaftsrecht hat sich, gestützt auf die Cassisde-Dijon-Rechtsprechung76, das Herkunftslandprinzip durchgesetzt77 . Die74 Vgl. J. Isensee, Buropa - die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders. (Hrsg.), Buropa als politische Idee und als rechtliche Form, 1993, S. 109. 75 BVerfGE 89, 155 (185 f.). 76 EuGH - Rs. 120178 (Rewe/Bundesmonopo1verwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 649ff.; dazu A. Emmerich-Fritsche, Einführung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, Skript des Lehrstuhls für Öffentliches Recht/Schachtschneider, 1997, S. 75ff. 77 A. Emmerich-Fritsche, ebd., S. 83ff.; Th. C. W. Beyer, Rechtsnormanerkennung im Binnenmarkt. Zur Interpretation von Art. 100 b des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Spannungsfeld von Äquivalenzgrundsatz,

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ses Prinzip besagt, daß die Legalität von Waren und Dienstleistungen sich grundsätzlich nach den Gesetzen · des Landes bestimmt, aus denen die Ware oder die Dienstleistung stammt. Allerdings sind die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, welche bemüht sind, einheitliche Standards durchzusetzen, zu beachten. Das Herkunftslandprinzip beruht somit auf der gegenseitigen Anerkennung der Wirtschaftsordnungen und fördert dadurch die Wahrnehmung der Grundfreiheiten, insbesondere der Warenverkehrsund der Dienstleistungsfreiheit Wenn Lieferanten oder Dienstleister aus anderen Mitgliedstaaten die höheren Standards eines Empfängerlandes der Ware oder Dienstleistung einhalten müßten, wären sie im Wettbewerb mit inländischen Unternehmern im Nachteil, weil diese auf die höheren Standards eingerichtet sind. Insbesondere wären die Lieferanten und Dienstleister veranlaßt, in unterschiedlichen Standards zu produzieren und zu leisten, was die Kosten erhöht und im Wettbewerb benachteiligt. Hohe Standards verursachen höhere Kosten. Das Herkunftslandprinzip bewirkt eher eine Nivellierung der Standards und nimmt dadurch Rücksicht auf die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten mit geringerer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, die regelmäßig mit geringeren Standards verbunden ist. Das Herkunftslandprinzip fördert somit den Wettbewerb und die Wettbewerbschancen der Mitgliedstaaten mit niedrigeren Standards. Die Mitgliedstaaten mit hohen Standards müssen dafür in Kauf nehmen, daß auch in ihren Ländern Waren und Dienstleistungen niedrigeren Standards legal sind. Das trifft vor allem Deutschland. Es liegt auf der Hand, daß die Anerkennung der Standards der Herkunftsländer den Verzicht auf die Verbindlichkeit der eigenen Rechtsordnung für Waren und Dienstleistung aus anderen Ländern der Union bedeutet, weil die Rechtsordnungen der Herkunftsländer maßgeblich werden. Die inländischen Unternehmen dürfen sich zwar auf die ausländischen Standards für ihre im Inland hergestellten Waren und geschaffenen Dienstleistung nicht berufen, weil ein Grundsatz der Inländergleichbehandlung (Verbot umgekehrter Diskriminierung) sich (noch) nicht durchgesetzt hat78, sie haben aber das Recht, in den Mitgliedstaaten mit niedrigeren Standards zu produzieren und ihre Dienstleistungen vorzubereiten. Das ergibt sich aus der Niederlassungsfreiheit Im Inland behauptet sich durch das Herkunftslandprinzip eine Rechtsordnung, welche die Bürgerschaft nicht gewollt hat. Das ist vor allem für Lebensmittel und umweltlieh empfindliche Güter fragwürdig. Die Gesundheitspolitik zieht allerdings die Harmonisierung vor. Jedenfalls wird das Demokratiedefizit erhöht, weil die Bürgerschaft auf die Rechtsordnungen Prinzip des gemeinschaftsrechtlichen Mindestrechtsgüterschutzes und mitgliedstaatlicher Regelungskompetenz, 1998, S. 28ff. 78 EuGH- verb. Rs. 35 und 36/82 (Morson-Jhanjan/Niederländischer Staat), Slg. 1982, 3723ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rdn. 1429.

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des Herkunftslandes der Waren und Dienstleistungen keinen Einfluß hat und weil die Notwendigkeit einheitlicher Standards in der Gemeinschaft die Harmonisierungsbefugnisse derselben aktiviert, welche sie in verschiedenen Sonderregelungen und allgemein in Art. 95 EGV vorfindet. Mittels des Herkunftslandprinzips leben wir zunehmend in einer Ordnung, auf die wir keinen oder nur den geringen Einfluß haben, den das Gemeinschaftsrecht zuläßt. Insbesondere ist das Gemeinschaftsrecht, wie dargestellt, exekutivistisch und dadurch demokratisch defizitär. Dieser Mangel wird durch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung79 nicht ausgeglichen. Wenn auch die Republikanität aller Mitgliedstaaten anzuerkennen ist, zumal die Verwirklichung demokratischer Standards Voraussetzung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist, die sich "zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit" bekennt (3. Erwägungsgrund des Maastricht-Vertrages), so hat das Herkunftslandprinzip doch wettbewerbspolitische Gründe. 2. Nicht nur die Rechtsordnungen, denen Waren und Dienstleistung genügen müssen, sind dem Einfluß der Mitgliedstaaten (abgesehen von dem gemeinschaftlichen Einfluß) entzogen, sondern auch und vor allem die Administration der Legalität, die Verwaltung also. Das demokratische Prinzip gebietet, daß jeder staatliche Amtswalter durch eine ununterbrochene Kette von Berufungsakten in seinem Amt vom Volk legitimiert ist80. Auf die Auswahl der Amtswalter in anderen Mitgliedstaaten hat kein Mitgliedstaat Einfluß, so daß der Gesetzesvollzug bei der Prüfung der Waren und Dienstleistung auf ihre Legalität nicht demokratisch legitimiert ist. Systematische Untersuchungen der Waren und Dienstleistungen scheiden aus; allenfalls Stichproben werden den Bestimmungsländern zugestanden81 • Die Legalität, d. h. die Sicherheit der Waren und Dienstleistungen, ist vornehmlich Sache der Administration. Mittels des Herkunftslandprinzips werden somit auch, verdinglicht in den Waren- und Dienstleistungen, die administrativen Verhältnisse, etwa die Korruption, von dem Herkunftsland in das Bestimmungsland exportiert. Nicht nur die entwickelten Standards, die auch wirtschaftlich leistbar sein müssen, geraten unter den Druck der Wettbewerbsordnung der Gemeinschaft, sondern auch das demokratische Prinzip. Die Wirtschaftsunion minimalisiert den Bürgerstaat

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Dazu Th. C. W. Beyer, Rechtsnormanerkennung im Binnenmarkt, S. 25 ff.

so BVerfGE 47, 253 (275).

81 Vgl. EuGH - Rs. 124/81 (Kommission/Vereinigtes Königreich, UHT), Slg. 1983, S. 203ff., insb. S. 236, Rdn. 18; EuGH - Rs. C - 186/88 (Kommission/ Deutschland), Slg. 1989, S. 3997ff., insb. S. 4010f., Rdn. 4ff., 8; A. EmmerichFritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Viertes Kap. E, II, 1.

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X. Europäische Währungspolitik ohne demokratische Einbindung 1. Die wirtschaftlich existentielle Währungspolitik der Europäischen Union entbehrt der demokratischen Einbindung. Das Bundesverfassungsgericht hat zugestanden, daß "die Einflußmöglichkeiten des Bundestages und damit der Wähler auf die Wahmehmung von Hoheitsrechten durch europäische Organe . . . nahezu vollständig zurückgenommen" seien, "soweit die Europäische Zentralbank mit Unabhängigkeit gegenüber der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten ausgestattet" werde (Art. 108 EGV). "Diese Einschränkung der von den Wählern in den Mitgliedstaaten ausgehenden demokratischen Legitimation berührt das Demokratieprinzip, ist jedoch als eine in Art. 88 Satz 2 GG vorgesehene Modifikation dieses Prinzips mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar ... Diese Modifikation des Demokratieprinzips im Dienste der Sicherung des in eine Währung gesetzten Einlösungsvertrauen ist vertretbar, weil es der - in der deutschen Rechtsordnung erprobten und, auch aus wissenschaft-licher Sicht, bewährten - Besonderheit Rechnung trägt, daß eine unabhängige Zentralbank den Geldwert und damit die allgemeine ökonomische Grundlage für die staatliche Baushaltspolitik und für private Planung und Disposition bei der Wahrnehmung wirtschaftlicher Freiheitsrechte eher sichert als Hoheitsorgane, die ihrerseits in ihren Handlungsmöglichkeiten und Handlungsmitteln wesentlich von Geldwert und Geldmenge abhängen und auf die kurzfristige Zustimmung politischer Kräfte angewiesen sind. Insofern genügt die Verselbständigung der Währungspolitik in der Hoheitskompetenz einer unabhängigen Europäischen Zentralbank, die sich nicht auf andere Politikbereiche übertragen läßt, den verfassungsrechtlichen Anforderungen, nach denen das Demokratieprinzip modifiziert werden darf' 82•

Das demokratische Prinzip wird also entgegen Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, den Art. 79 Abs. 3 GG für unabänderlich erklärt, und auch entgegen Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, der die deutsche Integration in die Europäische Union davon abhängig macht, daß die Union (u. a.) dem demokratischen Grundsatz verpflichtet ist und bleibt, um einer überzogenen Unabhängigkeit des Europäischen Systems der Zentralbanken und insbesondere der Europäischen Zentralbank willen aufgegeben. Auch die Europäische Union bekennt sich, wie gesagt, zu "den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschernechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit" (Art. 6 Abs. 1 EUV), hält aber dieses Bekenntnis in den näheren Vertragsregelungen nicht durch; denn die genannten Grundsätze führen zu dem Prinzip der politischen Freiheit als der Autonomie des Willens, welches nur in der Republik als der Einheit von Demokratie und Rechtsstaat Wirklichkeit zu finden vermag. Während die Deutsche Bundesbank durchaus in das System der staatlichen Willensbildung eingebunden ist, hat die Europäische Zentralbank zwar s2

BVerfGE 89, 155 (207ff.).

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in dem Unionsvertrag nicht nur ihre Einrichtung, sondern auch ihre Ordnung, nämlich ihre Zielsetzung einer einheitlichen, stabilen Währung, ihre Aufgaben (Art. 105 EGV) und weitgehend ihre Instrumente gefunden, ist aber doch, abgesehen von der Bindung an den Vertrag, durch Art. 108 EGV mit einer außerordentlichen Unabhängigkeit ausgestattet. Immerhin kann die Wahrung der primärrechtlichen währungspolitischen Ordnung gerichtlich durchgesetzt werden83 . Der Kern der Politik der Europäischen Zentralbank (wie auch des Europäischen Systems der Zentralbanken) ist jedoch nicht judiziabel, nämlich die währungspolitischen Beschlüsse, von denen das wirtschaftliche Schicksal der Union und der Unionsvölker abhängt. Der Europäische Zentralbankrat ist, einmal eingesetzt, niemandem mehr verantwortlich, sondern nur der Sache der einheitlichen, stabilen Wärung (6. Erwägungsgrund der Präambel des EUV). Die Unabhängigkeit der Bundesbank hat nach herrschender Meinung keinen Verfassungsrang84. Sie beruhte allein auf§ 12 BBankG, der jedenfalls vor der Novellierung des Art. 88 GG zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stand. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank ist im Vertrag über die Europäische Gemeinschaft verankert und kann nur durch einen neuen Vertrag der (z.Z.) 15 Mitgliedstaaten aufgehoben werden. Das würde im übrigen dem (neuen) Art. 88 S. 2 GG widersprechen, dem das Bundesverfassungsgericht gerade die Rechtfertigung des demokratischen Defizits der Europäischen Zentralbank abgerungen hat. Die Bundesbank war aber in ihren Zielen, Aufgaben, Mitteln und auch in ihrer Einrichtung vom einfacheR Gesetz abhängig, so daß die Legislative jederzeit in die Ordnung und Arbeit der Bundesbank eingreifen und dieser eine Politik in ihrem Sinne oktroyieren konnte. Das wäre zwar, solange nicht außerordentliche Lagen die Ingerenz nahegelegt hätten, nicht klug gewesen, aber doch rechtmäßig. Die letzte Verantwortung für die Währungspolitik Deutschlands hatte die Legislative, insbesondere der Bundestag. Die Deutsche Bundesbank war somit hinreichend, ja sachgerecht, demokratisch eingebunden. Das Europäische System der Zentralbanken besteht demgegenüber aus den unabhängigen nationalen Zentralbanken (Art. 7 des 3. Protokolls), welche einen erheblichen Einfluß auf die Währungslage der Euro-Länder haben. Die Europäische Zentralbank, nunmehr errichtet und eingerichtet, darf durch kein demokratisch legitimiertes Organ beeinflußt werden, nicht einmal durch Gemeinschaftsorgane (Art. 108 EGV), außer bei Verletzungen des Gemeinschaftsvertrages durch den Europäischen Gerichtshof. Durch Gemeinschaftsrechtsakte können zwar in begrenztem Umfang die Instrumente der Währungspolitik geändert werden. 83 Vgl. Art. 230 Abs. 1 und 3, Art. 232 Abs. 4 und Art. 234 Abs. 1 lit. b) EGV, aber auch Art. 35 des 3. Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank. 84 BVerwGE 41, 334 (354ff.); H. H. Hahn, Währungsrecht, 1990, S. 261ff.; vgl. P. J. Tettinger, in: Sachs, GG, Rdn. 6 zu Art. 88.

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Das muß aber die Europäische Zentralbank selbst empfehlen (Art. 41 des 3. Protokolls). Die Europäische Zentralbank wird ihre Aufgaben und Befugnisse ohne jede demokratische Einbindung wahrnehmen können. Hinzu kommt, daß die Mitglieder des maßgeblichen Europäischen Zentralbankrates, dessen Beschlüsse die nationalen Wirtschaften und die Vermögen der Bürger ruinieren können, die aber auch die nationale Sozialpolitik konterkarieren kann (usw.), nur in äußerst geringem Umfang national und damit demokratisch legitimiert sein werden; denn die Präsidenten der jeweiligen nationalen Zentralbanken sind geborene Mitglieder der Europäischen Zentralbank (Art. 112 EGV), werden aber von den Mitgliedstaaten ausgewählt und im übrigen durch Art. 14 des 3. Protokolls in ihrer persönlichen Unabhängigkeit gestärkt. Lediglich die Mitglieder des Direktoriums werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf der Ebene der Staatsund Regierungschefs einvernehmlich ausgewählt und ernannt, aber auch nur auf Empfehlung des Rates, der hierzu das Europäische Parlament und den EZB-Rat anhört (Art. 112 Abs. 2 EGV). Das Direktorium verfügt jedoch im Europäischen Zentralbankrat nicht über die Mehrheit. Die nationale Legitimation in einem Mitgliedstaat schafft nun einmal keine demokratische Legitimation, ein Amt für ein anderes Land auszuüben. Auch der Rat der Europäischen Zentralbank beschließt grundsätzlich mit einfacher Mehrheit (Art. 10 Abs. 2 des 3. Protokolls), so daß die Vertreter jedes Mitgliedstaates überstimmt werden können. Diese wirklich supranationale Einrichtung des Europäischen Systems der Zentralbanken steht somit außerhalb des demokratischen Legitimationssystems, obwohl es hervorragende politische Bedeutung für die Völker hat. 2. Das Bundesverfassungsgericht hat die ,,Modifizierung" des demokratischen Prinzips mit dem Gebot der Wissenschaftlichkeit der Geldpolitik zu rechtfertigen versucht. Diese Argumentation verrät ein grundsätzliches Mißverständnis des demokratischen Prinzips. Die Erfahrung der Völker lehrt, daß die freiheitliche Demokratie oder eben die Republik die beste Staatsund Regierungsform ist, um die Sachlichkeit zu gewährleisten. Sachlichkeit ist Wissenschaftlichkeit. Das demokratische Prinzip wird durch praktische Vernunft, d. h. Sittlichkeit als die Achtung des kategorischen Imperativs, verwirklicht. Das setzt den Respekt vor den bestmöglichen Theorien von der Wirklichkeit als der menschenmöglichen Wahrheit voraus. Nur eine Politik, die das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit sicherzustellen versucht, entspricht dem Recht. Das zu gewährleisten, wird die Gleichheit in der Freiheit anerkannt, weil die politische Ungleichheit Unsachlichkeit, nämlich Parteilichkeit, mit sich bringt und den sachgerechten, also gerechten, Interessenausgleich gefährdet. Es gibt keinen Grund, irgendeinen Bürger von der Politik auszuschließen; denn die Politik betrifft das Leben aller. Nur sein eigener Wille vermag den Bürger zu binden. Darum muß

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ein bestmögliches Procedere geschaffen werden, um den allgemeinen Willen hervorzubringen. Ohne allseitige Sittlichkeit, die, wie schon am Anfang gesagt, allseitige Moralität erfordert, ist nicht zur Sachlichkeit der Politik zu finden. Politik ist eben ausübende Rechtslehre. Der Politik geht es um Erkenntnis von Recht. Gerade diese Erkenntnis erfordert den allgemeinen Diskurs des Volkes, erfordert den Bürgerstaat, die Republik oder eben den Volksstaat, die Demokratie. Es gibt keinen Gegensatz von Sachlichkeit und Demokratie. Vielmehr ist die Demokratie Voraussetzung des Rechtsstaates. Der aber soll der Staat der Sachlichkeit sein. Keine Politik darf sich aus der demokratischen Einbindung lösen. Wenn das für erforderlich gehalten wird, erweist das nur, daß die politischen Institutionen im übrigen nicht mehr demokratisch sind. So ist denn auch die Wirklichkeit des Parteienstaates und die Wirklichkeit der Europäischen Union, in der nicht das Volk "durch das Volk" regiert, sondern vor allem die politische Klasse, die vorgibt, "für das Volk" zu regieren, aber doch vor allem ihre eigenen Interessen verfolgt. Das Vertrauen in die Amtswalter ist allzu oft enttäuscht worden, als daß die Völker auf die Demokratie verzichten könnten. Res publica res populi.

Das Volk muß immer klüger sein Von Konrad Adam Mehr als die Hälfte des Kongreßprogramms ist um. In diesem Augenblick, gewissermaßen in der Halbzeit also, gönnt man den Spielern und dem Publikum eine Pause. Herr von Amim war aufmerksam genug, sie auch Ihnen, den Vortragenden und den Hörern, zu bewilligen. Nur mir hat er diese Wohltat vorenthalten, indem er mich bat, ausgerechnet jetzt zu reden: Jetzt, da Sie wahrscheinlich alle lieber etwas anderes tun wollen als zuhören, nämlich essen und trinken. Da ich denselben Wunsch habe, bleibt nur eine Lösung: mich kurz zu fassen. Ich tue das um so lieber, als dieser Ausweg vermutlich auch ihren Absichten entgegenkommt. Wer in Harnbach spricht, muß über Harnbach reden, das heißt: über die Geschichte der Verfassungsbewegung in Deutschland. In dieser Geschichte nimmt Harnbach einen festen und ehrenvollen Platz ein. Sie alle kennen die historischen Darstellungen, die Stahl- und die Kupferstiche, auf denen zu sehen ist, wie es hier zuging, als sich im Jahre 1832 einige zehntausend Menschen zusammenfanden, um für die Einigkeit und für die Freiheit einzutreten. In Schlangenlinien wälzte sich der Festzug den Berg hinauf bis zum Schloß. An jeder Biegung des Weges und an seinem Ende, oben am Fuß der Burg, waren Zelte aufgeschlagen. Das waren die Plätze, an denen patriotische Lieder gesungen und ebensolche Reden gehalten wurden. Unterbrechung und Unterhaltung waren aber nicht der einzige Zweck dieser Bauten; sie erfüllten auch eine andere, viel handfestere Bestimmung. Sie waren als Unterstände gedacht, sollten Schutz bieten gegen die Unbilden des Wetters. Das Schloß, die Maxburg, stand damals ja noch als Ruine da. Es war zerstört und ausgebrannt, und durch die leeren Fensterhöhlen konnte man den blauen Himmel sehen. In dieser Gestalt bot das Gemäuer, ein altes, Staufisches Kastell, die passende Kulisse für das, was sich zu seinen Füßen abspielte. Das Alte Reich war verloren, das neue, das zweite Kaiserreich noch lange nicht in Sicht, schon gar nicht in den soliden, verfassungsmäßigen Formen, von denen die Festteilnehmer träumten. Der Staat stand als Ruine da, halbfertig oder halbzerstört, wie man es sehen wollte oder konnte. Der starke Mann war damals Clernens Fürst von Metternich; und was der von dem Vorgang hielt, brachte er in einem einzigen Wort zum Ausdruck, als er von dem Skandal von Harnbach sprach. Seine Abneigung änderte freilich nichts daran, daß

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ihm die Sache sehr zupaß kam. In einem Brief an den Österreichischen Gesandten in Berlin äußerte er sich so: "Klare Verhältnisse sind komplizierten stets vorzuziehen. Und so sind mir die Szenen, die sich kürzlich in Harnbach abgespielt haben, eindeutig lieber als gewisse Debatten, die man heutzutage in den Abgeordnetenkammern so vieler deutscher Staaten führt. In Harnbach wurde kein Blatt vor den Mund genommen." Und dann sein Resümee: "Die Fragen stehen nun also klar im Raum; sie erfordern eine ebenso klare Antwort, und die kann nur handeln heißen". Handeln, das bedeutete im Weltbild Metternichs soviel wie Überwachen, Festnehmen und Verurteilen. Was denn ja auch reichlich geschehen ist. Wie man sieht, steht dasselbe Harnbach für zwei ganz unterschiedliche Traditionsstränge der deutschen Geschichte: für den autoritären und den demokratischen Staat, für den von oben und für den von unten, für Obrigkeit und Untertan, für die Interessen der Regierenden und für die Sache der Regierten. Das bestimmte die weitere, sehr wechselhafte Geschichte der Maxburg. Nachdem ein erster Versuch, das Schloß in alten Formen wiederherzustellen, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts liegengeblieben war, ging man hundert Jahre später zum zweiten Mal an die Arbeit. Das Revolutionssymbol wurde zum Gegenstand der Restauration, ein Vorgang, den man wohl seinerseits symbolisch nennen darf. 1982, zum 150. Jahrestag des großen Festes, war es dann endlich so weit: Bernhard Vogel, der damalige Ministerpräsident des Landes, beschrieb in sein.er Festanspr,ache:den Unte~­ schied von einst und jetzt. Er kam dabei, wen wundert es, zu einem rundum glänzenden Ergebnis. Früher, sagte er, "begehrte das Volk gegen die Regierung auf; heute regiert das Volk". Und zum Beweis dafür, wie fest die Volksherrschaft in der Bundesrepublik verankert sei, erwähnte Vogel gleich auch die Parteien. Aus seiner Sicht sind sie die Träger und Garanten der Verfassung, verbürgen sie Mitbestimmung, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und was dergleichen gute Dinge mehr sind. Solange die Parteien darauf achten würden, ihre Gemeinsamkeiten zu pflegen und zu bewahren, läge die Zukunft des Landes in guten Händen. Meinte, wie ich schon sagte, Bernhard Vogel. Nötig war seine väterliche Ermahnung schon damals nicht, denn zur Gemeinsamkeit brauchten die politischen Parteien gar nicht mehr eingeladen zu werden. Die pflegten sie von sich aus, ganz von selbst, aus Eigennutz und Machtinstinkt. Wenn es um ihre gemeinsamen Ansprüche, ihre gemeinsamen Interessen und ihre gemeinsamen Privilegien ging, haben die Parteien seit eh und je durch dick und dünn zusammengehalten. Gemeinsam haben sie ihre Finanzierung aus öffentlichen Mitteln durchgesetzt; gemeinsam sind sie vor dem Bundesverfassungsgericht erschienen, das ihrer Selbstbedienung Grenzen ziehen wollte; gemeinsam haben sie den Versuch unternommen, das Grundgesetz zu ihren Gunsten zu verändern. Wo

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sie sich selbst einen Gefallen tun konnten, ging alles schnell und reibungslos voran - bedeutend schneller jedenfalls als bei den lästigen und schwierigen Refonnvorhaben, die den Bürgern, den Menschen draußen im Lande, zu gute kommen sollten. Das haben wir in den letzten vier Jahren erlebt, und es sieht ganz so aus, als sollten wir es in den nächsten vier Jahren noch einmal erleben. Es scheint so etwas wie eine überparteiliche Vereinbarung zu geben, nach der eine Steuerreform zwar lange brauchen muß, aber nicht viel bringen darf. Jedenfalls nicht für die Bürger. Die Parteienvertreter haben das Grundgesetz gelesen. Daher wissen sie, daß einerseits alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Auf der anderen Seite wissen sie auch, daß die Parteien dazu berufen sind, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Dies Privileg, wie man es passenderweise genannt hat, haben die Parteien wörtlich genommen und daraus eine Art Alleinvertretungsanspruch in politicis entwickelt. Vom Gegenstück, von einer Mitwirkung des Volkes an der politischen Willensbildung in den Parteien, steht ja bekanntlich nichts in der Verfassung; und das beachten die Parteien selbstverständlich auch. Als Mutprobe, die den Parteigenossen von dem Volksgenossen trennt, dient die sogenannte Ochsentour, das Hocharbeiten von der Basis. Auf eine solche Prozedur lassen sich nämlich nur Leute ein, die programmatische Anspruchslosigkeit mit großem persönlichen Ehrgeiz verbinden. Wenn sie es schaffen und nach oben gelangen, bilden sie die politische Klasse Deutschlands. Die Ochsentour ist so etwas wie ein Initiationsritus, der sicherstellt, daß nur die robusten Typen durchkommen, die Machtbesessenen, die auf dem Weg nach oben vor keinem Widerspruch zurückschrecken. Um bei der CDU mitzumachen, muß man die Familienwerte in Ehren halten, gleichzeitig aber für ein uferloses Fernsehangebot eintreten, das diese Werte sabotiert. Von einem SPD-Mitglied wird erwartet, daß es die Arbeit als erstes und letztes Menschenrecht verteidigt, sie aber gleichzeitig durch Steuern und Abgaben so teuer macht, daß sie kein Mensch mehr bezahlen kann. Als Grüner muß ich vor jedem Feuchtbiotop eine Mahnwache aufstellen, jede Abtreibung aber als sichtbaren Beweis für die gelungene Emanzipation begrüßen. Und bei der FDP bin ich gehalten, die wirtschaftlichen Freiheiten so hoch zu schätzen, daß die politischen dabei verkümmern; es war doch kein Zufall, daß von den drei Parolen, mit denen die liberale Partei um Wähler wirbt - "Es sind Ihre Steuern, Es ist Ihre Freiheit, Es ist Ihr Land" die Steuern an der ersten Stelle stehen. Wer zu solchen Opfern an politischer Vernunft, an Redlichkeit und Konsequenz nicht bereit ist, wird den Parteien fernbleiben. Er gilt als Querdenker oder, wenn er an seinem Anspruch auf politische Mitwirkung festhält, als Quereinsteiger. Das eine Etikett ist lästig, das andere geradezu tödlich, weil es einem die Mandatsund Postenjäger auf den Hals hetzt, die in der Partei, mit der Partei und

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durch die Partei etwas werden wollen. Diese Leute geben erst dann auf, wenn sie den unerwünschten Konkurrenten dazu gezwungen haben, von sich aus die Arena wieder zu verlassen.

Das ist die alte feudale Ordnung in neuer Gestalt: der Gegensatz zwischen den wenigen, die dazugehören, und den vielen, die draußenbleiben müssen, weil die Machtmenschen die Sache unter sich ausmachen möchten. Nur daß der Antagonismus jetzt etwas schwerer zu durchschauen ist als früher, weil .er von lauter schönen Aoskeln, die das Gegenteil behaupten, verdeckt und zugeschüttet wird. In Wahrheit sähe sich eine Partei, auch eine sogenannte Volkspartei, durch nichts in größere Verlegenheit gestürzt als durch die Absicht breiter Schichten, politisch mitzumachen. Das Volk draußenzuhalten, ist durchaus erwünscht, denn kleine Zahlen bedeuten wenig Konkurrenz, und für das Geld, das die Parteien nötig haben, sorgt ja der Staat. Dies Kalkül hat dazu geführt, daß die beiden Seiten, die für einen Mann wie Lincoln zusammengehörten, govemment for the people und govemment by the people, in Deutschland immer weiter auseinanderfallen. Das eherne Gesetz der Oligarchie, das seinerzeit beim Blick auf die Führungsstrukturen der Sozialdemokratischen Partei entdeckt worden war, gilt nach wie vor; und nicht nur in der SPD. An alles das kann man sich hier erinnert fühlen. Harnbach steht eben nicht nur für den großen Bürgerverein, der seinerzeit an diesem Platz zusammenkam, um Autonomie und Selbstregierung zu verlangen. Der Name steht auch für den Handlanger, den Speichellecker, den Untertan, der seine Unselbständigkeit genießt und froh ist, daß es andere gibt, die ihm die Last der eigenen Entscheidung abnehmen. Bei der Vierzigjahrfeier von 1872 - Bismarck hatte soeben sein Reich begründet, und viele Deutsche übten sich in Liebedienerei - , bei dieser Gelegenheit amüsierte sich ein norddeutscher Beobachter über die Masse der parfümierten Ergebenheitsadressen, die in Harnbach verlesen worden waren, und reimte: Geht hin und küsset IHM die Sohlen Und fleht dabei um einen Tritt! Mög' euch recht bald der Teufel holen Und all die andem Lumpen mit! Das war auf die Monarchie gemünzt, gilt aber, wie Sie wissen, immer noch. Der Autoritarismus ist nichts, was Königen und Kaisem vorbehalten wäre. Parteiführer und Parteivorsitzende beherrschen diesen Stil genauso gut. Traditionen, Bekenntnisse, Erinnerungsfeierlichkeiten - so etwas hat es in Harnbach immer wieder gegeben, in dieser und in jener Form. Vom Geist der Freiheit und des unzensierten Bürgertums, der hier ursprünglich einmal beschworen worden war, hat sich das alles aber mit der Zeit entfernt. Um diesen Geist kennenzulemen, greift man am besten auf das Origi-

Das Volk muß immer klüger sein

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nal, auf das Ereignis selbst zurück. Ich denke an die folgende Episode: Als Siebenpfeiffer, einer der Organisatoren des großen Festes, drei Wochen nach dem Skandal verhaftet werden sollte, suchte er die Menge, die sich auf das Gerücht hin vor seinem Haus versammelt hatte, mit einer kurzen Ansprache zu beruhigen. Der Überlieferung nach geschah das mit den Worten, das Volk müsse immer klüger sein: klüger als die Regierung. In diesem Falle war es das dann auch. Die Leute hielten sich zurück und vermieden es, der Obrigkeit einen Anlaß zu geben, auf ihre Weise für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Immer ist darauf sicher nicht Verlaß. Aber wenn schon nicht klüger, ist das Volk doch auch nicht ganz so dumm, wie es von seinen Vormündern gern hingestellt wird. Wer von den Bürgern wäre schon auf den Gedanken gekommen, das Arbeitsrecht so einzurichten, daß Nicht-Arbeit einträglicher ist als Arbeit? Wem aus dem Volk wäre es eingefallen, die Krankenversicherung so zu gestalten, daß der Verbrauch belohnt und Sparsamkeit bestraft wird? Welcher Normalbürger hätte ein Rentenversicherungsrecht gebilligt, das Kinderlosigkeit prämiert und damit das System, statt es zu garantieren, zum Einsturz bringen muß? Es waren doch nicht Plebiszite, die so etwas verlangt und durchgesetzt haben, sondern die Weitsicht unserer gesetzgebenden Berufspolitiker. Sie sind dafür verantwortlich zu machen, daß wir inzwischen ein Sozialrecht haben, das die Risiken, vor denen es ursprünglich einmal bewahren wollte, nun seinerseits hervortreibt Wenn wir als Bürger dazu eingeladen werden, soziale Sicherheit nicht länger nur vom Staat zu erwarten, sondern in eigener Person vorzusorgen, gesteht der Vormund selbst doch seine Fehler ein. Die dauerhafte Funktionsfähigkeit der öffentlichen Hand hänge von einer Begrenzung ihrer politischen Handlungsmöglichkeiten ab, lese ich in einem der vorbereiteten Papiere. Eben! Der drohende Staatsbankrott hat die Augen wieder geöffnet für eine Grundregel der Demokratie. Er hat daran erinnert, daß man alleine meistens weiterkommt als unter Aufsicht. Aber es braucht wohl noch, bis diese Lehre auch in Bonn und anderswo beachtet wird. Was die Obrigkeit dazu treibt, immer weiter auszugreifen und sich ein Protektorat nach dem anderen einzuverleiben, ist doch nicht Fürsorglichkeit. Allein der Zeitpunkt, an dem die Sozialverwaltung auf den Gedanken kam, nun auch die geringwertigen Arbeitsverhältnisse, die sogenannten 620-Mark-Jobs, der allgemeinen Versicherungspflicht zu unterwerfen, muß Zweifel an ihren Motiven wecken. Oder besser: er räumt jeden Zweifel an diesen Motiven aus. Die Dresslers, Blüms und wie sie sonst noch heißen wollen doch nicht den Haushalt der kleinen Leute sanieren, sondern ihren eigenen. Dazu besteht auch aller Grund. Die Sanierung gelänge freilich besser, wenn sich die Fürsorgepolitiker dazu entschließen könnten, bei den Ausgaben zu sparen und nicht immer nur die Einnahmen hochzutreiben.

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Was ihnen den Bruch mit diesen alten und schlechten Gewohnheiten so schwer macht, ist das eigennützige Kalkül der Parteien: denn nur so, durch immer weitere Tributverhältnisse, können sie sich den Wunsch erfüllen, die Menschen abhängig zu halten, aus Wählern Stammwähler zu machen, aus Bürgern Pfahlbürger, aus Selbständigen Angestellte, und so fort. Um zum erwarteten und längst versprochenen Schluß zu kommen: Die Politiker haben sich übernommen. Sie bilden sich ein, immer und überall gefordert zu sein, weiter zu blicken und besser Bescheid zu wissen als die Bürger selbst. Das war und ist jedoch ein teurer Irrtum. Die meisten Bürger wissen ganz gut, was ihnen zuträglich ist. Sie können - und sie wollen auch - die Rolle ausfüllen, die ihnen die Verfassung angesonnen hat, die eines selbständigen Subjekts - vorausgesetzt, ihr ungebetener Protektor, das Parteienkartell, läßt so etwas zu. "Wenn man mich läßt", dieses Wort eines verzweifelten Bürgers, der sich von den untätigen und korrupten Behörden seines Landes ein übers andere Mal betrogen sah, ist als Zitat nicht zufällig um die Welt gegangen. Es war in Belgien gesprochen worden, gilt aber auch für andere Länder. Die Menschen sind es leid, von anderen, die auch nicht weiter sehen als sie selbst, am Zügel herumgeführt zu werden. Jede Gesellschaft, sagt man, hat die Regierung, die sie verdient. Nicht jede, möchte ich ergänzen. Nur die, die sich so etwas bieten läßt.

Schranken für den Leviathan: Grenzen für staatliche Abgaben, Kredite und Ausgaben in den Verfassungen des Bundes und der Länder? Von Cay Folkers

I. Die grundlegenden Probleme Zwischen den Anforderungen des Staates an seine Bürger und den für sie erbrachten Leistungen öffnet sich zunehmend eine Schere. Die Einkommen weiter Bevölkerungsteile stagnieren, aber Steuern, Beiträge und Gebühren steigen. Wichtige Staatsaufgaben wie Erziehung, Bildung oder Soziales werden Sparzwängen unterworfen, während früher unvorstellbare Schulden angehäuft werden und hohe Zukunftslasten entstehen. Das Steuerchaos wächst, die Staatshaushalte werden immer kurzlebiger und erfordern immer häufiger Sanierungsmaßnahmen. Durchgreifende Reformen sind trotz wachsender Probleme kaum noch möglich. Der Staat scheint in dramatischer Weise an seine Grenzen gestoßen zu sein: Die staatliche Aufgabenerfüllung ist mit dem bisherigen politischen Verfahren nicht mehr gesichert; staatliches Handeln stellt sich in der heutigen Form selbst in Frage. Ein ungeordneter Rückzug des Staates hat allerdings nichts mit der notwendigen Beschneidung staatlicher Tätigkeiten zu tun. Vielmehr muß es darum gehen, den Staat auf die wesentlichen Aufgaben zu beschränken und durch geeignete institutionelle Regeln eine funktionsfähige Staatstätigkeit zu gewährleisten. Die Probleme der öffentlichen Finanzen treten bei der Staatsverschuldung besonders auffallend in Erscheinung. Öffentliche Kredite sind von einer nur ausnahmsweise zulässigen Finanzierungsform zu einer normalen, permanent genutzten Einnahmeart des Staates geworden und führen zusammen mit den gestiegenen Ansprüchen aus Sozialversicherung, Pensionslasten u. a. zu wachsenden Belastungen künftiger Generationen. Die bisherige Finanzpolitik kann auf Dauer nicht durchgehalten werden, sondern erzwingt entweder weiter steigende Abgaben mit negativen Anreiz- und Wohlfahrtseffekten oder Einschränkungen der öffentlichen Aufgabenerfüllung bei steigendem Schuldendienst Die absehbaren Entwicklungen stellen die Erfüllung öffentlicher Aufgaben in Frage, lassen aufgrund der intertemporalen Unausgewogenheit der Belastungen Konflikte zwischen den Generationen erwarten, 16 Speyer 133

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gefährden die Marktwirtschaft und beschwören letztlich die Gefahr verstärkter Eingriffe des Staates herauf. Diese Entwicklungen sind durch die Entscheidungs- und Kontrollverfahren der Demokratie offensichtlich nicht beherrschbar. Sie stellen vielmehr das vorhersehbare Ergebnis der bestehenden politischen Prozesse dar. Die Mechanismen des politischen Systems bieten keine hinreichende Gewähr gegen fundamentale Fehlentwicklungen, so daß sich die Notwendigkeit stellt, durch zusätzliche Regeln, vor allem im Bereich der Finanzverfassung, wirksam gegenzusteuern. Zur Behebung der Probleme müssen die systematisch durch politische Prozesse bedingten Ursachen der Entwicklung, d. h. die Mechanismen des Staatsversagens, aufgedeckt werden, denn nur auf dieser Grundlage können geeignete verfassungsmäßige Beschränkungen staatlicher Tätigkeiten begründet werden. Staatsversagen kann nicht durch interventionistische Maßnahmen behoben werden, denn hierfür fehlt es schon an der notwendigen Eingriffsinstitution, sondern es erfordert dauerhafte institutionelle Regeln, die für unterschiedliche Konstellationen der Zukunft verbesserte Entscheidungen erwarten lassen. Diese Grundorientierung steht im Gegensatz zu der vorherrschenden interventionistischen Ausrichtung in Fällen von Marktversagen, wie sie beispielsweise in umweltpolitischen Konzepten zum Ausdruck kommt. Es gibt genügend Reformvorschläge aus Wissenschaft und Praxis, sie haben jedoch regelmäßig in der Politik keine Chance. Daher erscheint es wenig sinnvoll, weitere Reformkonzepte zu entwickeln, vielmehr müssen neue Verfahren für staatliches Handeln eingeführt werden, die bessere Ergebnisse erwarten lassen. Bei steigendem Druck auf die öffentlichen Finanzen stellt sich irgendwann die Frage der Zukunftsfähigkeit der Demokratie, denn das Vertrauen der Bürger in die demokratischen Institutionen hängt nicht zuletzt von der Funktionsfahigkeit des öffentlichen Finanzsystems ab. Verfassungsmäßige Einschränkungen staatlicher Entscheidungsbefugnisse bedeuten keinen Abbau demokratischer Entscheidungsrechte, sondern sind ein Beitrag zu einer zukunftsfahigen Demokratie. Die Ursachen der aufgeführten Probleme dürften kaum auf Sondereinflüssen beruhen, da vergleichbare Entwicklungen auch unabhängig von einmaligen Faktoren wie der deutschen Wiedervereinigung in den meisten Staaten auftreten. Die Probleme unterscheiden sich jedoch erkennbar in Abhängigkeit von den jeweiligen institutionellen Regelungen des öffentlichen Sektors. Ein entscheidender Faktor ist der aufgrund interventionistischer Ideen in den vergangeneo Jahrzehnten erfolgte Abbau früher wirksamer Beschränkungen staatlichen Handelns. Diese von ungetrübtem Vertrauen in die überlegenen Fähigkeiten des Staates getragene politische Entwicklung markiert den Ausgangspunkt der bestehenden Probleme und macht deutlich, in welche Richtung die notwendigen Abhilfemaßnahmen weisen müssen.

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Bei allen politischen Entscheidungen in der Demokratie stellen distributive Zielsetzungen ausschlaggebende Argumente dar. Die Gewinnung von Mehrheiten unter dem Einfluß von Interessengruppen bedeutet, daß Entscheidungen über staatliche Aktivitäten vor allem im Hinblick auf die Gewinnung von Verteilungsvorteilen für einzelne Gruppen gestaltet werden. Die distributive Ausrichtung findet ihre Entsprechung in der grundsätzlich kurzfristigen Orientierung demokratischer Entscheidungen (Downs, 1957). Politiker sind bei ihren Entscheidungen primär auf die für sie relevanten Wahlzyklen bzw. Amtsperioden fixiert, da sie keine Eigentumsrechte an politischen Ämtern besitzen, die sie mit den längerfristigen Konsequenzen ihrer Aktivitäten konfrontieren. Hinzu kommt ein erklärliches Eigeninteresse von Politikern und Bürokraten an der Ausweitung ihrer Aufgaben. Als Konsequenz resultieren durch Stimmentausch zwischen unterschiedlichen Interessenpositionen insgesamt überhöhte Ausgaben, die partikuläre Verteilungsvorteile für zahlreiche Gruppen ohne Rücksicht auf Effizienz und langfristige Effekte beinhalten (Folkers, 1983 b, 1985, 1994). Ohne stabilisierende Institutionen, welche diese generell vorhandenen Tendenzen wirksam begrenzen, sind die öffentlichen Finanzsysteme der Demokratie aufgrund ihrer permanenten Überforderung durch partikuläre Interessen nicht zukunftsfähig. Die notwendigen Institutionen können verfassungsmäßig oder gesetzlich festgelegte Restriktionen für die Handlungen von Politikern und Bürokraten oder allgemein anerkannte, informelle Regeln sein. Die verstärkten Probleme lassen erkennen, daß die Wirksamkeit der stabilisierenden Kräfte sich vermindert hat bzw. daß früher wirksame Institutionen abgebaut worden sind. Zwei Entwicklungen sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Die fortschreitende Erosion und Diskreditierung liberaler Grundauffassungen des modernen Staates im Zuge des gesellschaftlichen Wertewandels und der damit einhergehende Abbau formeller Restriktionen. Subsidiarität, Beschränkung der Staatstätigkeit auf das unerläßliche Maß für eine Gesellschaft freier Individuen und Neutralität staatlicher Tätigkeit bezüglich privater Entscheidungen (v. Amim, 1984, S. 65) waren die - teilweise ungeschriebenen - Grundsätze des liberalen Staates, die das Ausufern partikulärer Vorteilsgewährungen in Grenzen hielten. Zentraler Grundsatz der Haushaltswirtschaft war das Prinzip des materiellen Haushaltsausgleichs, das eine öffentliche Schuldenfinanzierung nur für Ausnahmefälle, insbesondere wirtschaftliche oder politische Krisen, mit anschließender Verpflichtung zur Rückzahlung vorsah. Mit dem Vordringen kurzfristiger keynesianischer Konzepte, die von der Idee einer weitgehenden Steuerbarkeit ökonomischer Abläufe nach gesellschaftlich festgelegten Kriterien durchdrungen waren und die langfristigen Belastungswirkungen der Staatsverschuldung als antiquierte Vorurteile abtaten, wurden die Haushaltsausgleichsvorschriften im Hinblick auf die Behebung gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte 16*

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relativiert. Gleichzeitig wurden zahlreiche neue Lenkungsaufgaben für die staatlichen Einnahmen und Ausgaben begründet. Als Ergebnis des Abbaus hergebrachter Beschränkungen stand eine Vielzahl politisch gestaltbarer Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung, die redistributive Potentiale aufwiesen. Dies wurde von den Interessengruppen wahrgenommen und führte zu entsprechendem Druck auf das politische System. Die Interessengruppen sind jedoch nicht ursächlich für die Fehlentwicklungen, ihre Tätigkeit ist vielmehr erst die Folge der Schaffung institutioneller Möglichkeiten zur Bildung und Durchsetzung von Gruppeninteressen. II. Konzept und Funktionsweise verfassungsmäßiger Begrenzungen Aus den dargestellten Zusammenhängen geht hervor, daß eine dauerhafte finanzwirtschaftliche Funktionsfähigkeit der öffentlichen Tätigkeit wesentlich von den Institutionen abhängt, unter denen staatliche Entscheidungen erfolgen. Während unbestritten ist, daß ordnungspolitische Maßnahmen zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Marktes notwendig sind, hat sich dieser Gedanke im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Staates nur zögernd durchgesetzt, wohl weil traditionell die Vorstellung bestand, daß staatliche Entscheidungen nicht auf individuelle Vorteile, sondern auf das Gemeinwohl gerichtet seien. Seit den Untersuchungen von Downs (1957) ist bekannt, daß die allgemeinen politischen Verfahren, z. B. Wahlmechanismen und Parteienkonkurrenz, nur unvollkommen zur Lenkung politischer Entscheidungen im Sinn der Präferenzen der Bürger geeignet sind und den Politikern erheblichen Spielraum zur Verfolgung eigener Ziele jenseits der Wählerwünsche ermöglichen. Daher kommt der Einführung und Durchsetzung wirksamer Regeln bzw. Beschränkungen politischen Verhaltens zentrale Bedeutung für die Frage zu, ob Politik im Interesse der Bürger gemacht wird. Die Notwendigkeit zusätzlicher institutioneller Regeln filr demokratische Mehrheitsentscheidungen, d. h. die Notwendigkeit einer Verfassung, entsteht immer dann, wenn die politischen Prozesse der Demokratie unvollkommen funktionieren und unerwünschte Ergebnisse erwarten lassen. Die bestehenden Verfassungsregeln, beispielsweise die Vorschriften zur Begrenzung der Staatsverschuldung, sind Ausdruck der im normalen Verfahren erwarteten Versagenstatbestände. Andernfalls wären sie redundant oder würden den Staat an der Realisierung besserer Politiken hindern. Die Funktion verfassungsmäßiger Regeln besteht folglich darin, systematisch erkennbaren Unvollkommenheiten politischen Handeins entgegenzuwirken und Anreize zu setzen, welche die Akteure im Rahmen ihrer Zielsetzungen auf die Interessen der Bürger verpflichten. Von diesen Grundüberlegungen geht die ökonomische Theorie der Verfassung (Folkers, 1996) aus. Sie sucht dauerhaft geltende Regeln zu begrün-

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den, die unabhängig vom konkreten EinzelfaiJ langfristig optimale Ergebnisse staatlichen Handeins für die Bürger erwarten lassen. In dieser Sichtweise werden keine Empfehlungen für optimale Entscheidungen staatlicher Akteure gegeben, vielmehr werden die Verfahren für öffentliche Entscheidungen generell geregelt. D. h. der Ansatz ist verfahrens-, nicht ergebnisorientiert. Die Begründung wirksamer verfassungsmäßiger Regeln erfordert Analysen der politischen Mechanismen und der Effekte alternativer Regeln auf die Ergebnisse dieser Mechanismen. Beispielsweise sind Restriktionen, bei deren Begründung die prognostizierbaren Reaktionen staatlicher Entscheidungsträger nicht berücksichtigt werden, häufig auch dann unwirksam, wenn sie formal eingehalten werden. Konstitutionell vorteilhafte Regeln müssen nicht in jeder konkreten Situation den Interessen aller Beteiligten entsprechen. So werden Unternehmen im Einzelfall Kartellbil~ungen vorziehen, auch wenn sie Wettbewerbsregeln generell als vorteilhaft erkennen. Die Begründung verfassungsmäßiger Regeln impliziert einen Konsens der Bürger unter der Bedingung, daß Interessenunterschiede und Meinungsdivergenzen bezüglich der zu regelnden Fragen bei der Regelentscheidung keine Rolle spielen. Dies setzt gedanklich einen "Schleier der Unwissenheit" (Rawls, 1971) über die zukünftige individuelle Position und ein allgemein akzeptiertes Modell des zu regelnden Verhaltens, in diesem Fall ein Modell staatlichen Verhaltens, voraus. In gleicher Weise wird für die Begründung von Wettbewerbsregeln ein allgemein akzeptiertes Modell Unternehmerischen Verhaltens zugrundegelegt Die Bürger werden dem Staat nur dann Kompetenzen übertragen, wenn sie dies für vorteilhaft ansehen, d. h. wenn voraussehbare Entscheidungen gegen ihre Interessen so weit wie möglich verhindert werden. Verfassungsmäßige Restriktionen stellen bei gegebenen Unvollkommenheiten politischer Mechanismen somit die Voraussetzung für die Übertragung staatlicher Aufgaben und die Bedingung für eine an individuellen Präferenzen ausgerichtete Staatstätigkeit dar. 111. Arten und Regelungsbereiche fiskalischer Restriktionen

Für die betrachteten Zusammenhänge bietet es sich an, zwei Arten verfassungsmäßiger Regeln zu unterscheiden: Allgemeinpolitische Institutionen, d. h. W abiregeln und politische Entscheidungsregeln, sowie die besonderen Regelungen für einzelne Teilbereiche der politischen und administrativen Prozesse, hier primär die Regelungen der Finanzverfassung (Folkers, 1983 a, S. 29ff.). Warum gibt es spezielle Regeln neben den allgemeinpolitischen Institutionen der Demokratie? Aus den bisherigen Überlegungen folgt, daß Einschränkungen der finanzwirtschaftliehen Handlungsfreiheit redundant wären, wenn die allgemeinpolitischen Mechanismen gute finanzwirtschaft-

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liehe Entscheidungen gewährleisten würden. Offensichtlich ist dies nicht der Fall. Daher ist es notwendig, den anders nicht behebbaren Verzerrungen finanzwirtschaftlicher Entscheidungen durch geeignete Restriktionen in diesem Bereich zu begegnen. Fiskalische Restriktionen erwachsen nicht aus einem Vorurteil gegen den Staat und sollen staatliche Aufgaben nicht einseitig reduzieren oder erschweren, sondern sie sollen bestehende Verzerrungen staatlicher Entscheidungen ausgleichen und damit die Ergebnisse politischer Entscheidungen generell verbessern. Das Konzept ist nicht gegen den Staat gerichtet, sondern sucht den Staat im Interesse der Bürger funktionsfähig zu machen. Damit sind Elemente einer "Ordnungspolitik für den öffentliche Sektor" beschrieben. Ihr zentrales Problem besteht darin, eine geeignete Balance zwischen gebotenen Einschränkungen und erforderlichen Handlungsspielräumen für politische Entscheidungen zu suchen. Die Tatsache, daß es eine detaillierte Finanzverfassung gibt, belegt die Notwendigkeit für spezielle kompensatorische Restriktionen. Die beschriebenen Fehlentwicklungen der öffentlichen Finanzen demonstrieren andererseits, daß die Regeln in ihrer gegenwärtigen Form nicht hinreichend geeignet sind, ihre Aufgabe zu erfüllen. Der Grund ist u. a. darin zu sehen, daß die bestehenden Rechtsnormen nicht ausdrücklich aus politisch-ökonomischen Zusammenhängen begründet sind und daher funktionale Konstruktionsmängel aufweisen. Bei dieser Diagnose besteht die Aufgabe darin, einen wirksamen ordnungspolitischen Rahmen für den öffentlichen Sektor durch konstitutionenökonomisch fundierte Restriktionen öffentlicher Entscheidungen zu setzen. Die darin enthaltenen fiskalischen Restriktionen können grundsätzlich quantitativer oder verfahrensmäßiger Art sein. Eine quantitative Restriktion stellt beispielsweise die Beschränkung des Art. 115 GG dar, die das Ausmaß der öffentlichen Kreditnahme auf das Volumen der staatlichen Investitionen begrenzt. Demgegenüber wird mit dem Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung eine durch das Verfahren der Steuergesetzgebung wirksame Grenze der Steuergewalt gezogen. Im einen Fall sollen bestimmte, als unerwünscht angesehene Ergebnisse fiskalischer Tätigkeit ausgeschlossen werden, im anderen sollen durch Regeln für zulässige Entscheidungen erwünschte Ergebnisse gefördert und unerwünschte erschwert werden. Verfahrensmäßige Restriktionen sind im allgemeinen flexibler im Hinblick auf geänderte wirtschaftliche Entwicklungen, quantitative Restriktionen können demgegenüber, sofern Umgehungsmöglichkeiten ausgeschlossen sind, unmittelbarer wirken. Fragt man, in welchen Bereichen der öffentlichen Finanzwirtschaft zusätzliche bzw. neuartige Restriktionen erforderlich sind, so drängt sich aufgrund der bedrohlichen Entwicklung zunächst der Bereich der Staatsverschuldung auf. Die bestehenden Anreize zum Mißbrauch vorhandener Möglichkeiten der Staatsverschuldung und die daraus resultierenden Entwicklun-

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gen der vergangeneo Jahre demonstrieren mit aller Deutlichkeit die Probleme fehlender oder ineffektiver Begrenzungen staatlicher Tätigkeit. Die Notwendigkeit fiskalischer Restriktionen ist jedoch nicht auf den Bereich der Staatsverschuldung beschränkt, sondern gilt auch für die übrigen Bereiche des öffentlichen Finanzwesens, d. h. die Besteuerung, das Ausgaben- und Haushaltswesen sowie den fiskalischen Föderalismus. Im folgenden werden konkrete Reformen der fiskalischen Regeln für die einzelnen finanzwirtschaftliehen Teilbereiche betrachtet, welche einen Konsens unter informierten Bürgern finden würden und die staatliche Aufgabenerfüllung auf Dauer sicherstellen könnten. IV. Begrenzungen der Staatsverschuldung

Wahlentscheidungen in der Demokratie hängen wesentlich davon ab, welche Vor- und Nachteile die Wähler von den zur Wahl stehenden Politikern bzw. Parteien erwarten. Wenn es Ziel politischer Strategien ist, die Macht zu erhalten bzw. zu gewinnen, sind finanzpolitische Maßnahmen vorteilhaft, die entscheidenden Wählergruppen erkennbare Vorteile versprechen, gleichzeitig aber die resultierenden Belastungen für die Bürger möglichst wenig fühlbar werden lassen. Daher sind die spezifischen Vorteilsgewährungen für vielfaltige Gruppen in Form von Transfers oder Subventionen anteilsmäßig stark angestiegen, während diejenigen Finanzierungsmethoden ausgedehnt wurden, die für die Bürger nicht merklich sind. Hierzu gehören neben bestimmten Steuern, beispielsweise den Verbrauchsteuern, vor allem die Staatsschulden. Staatsverschuldung bedeutet, daß die Individuen keine unfreiwilligen Einbußen ihres Einkommens erleiden, so daß die Illusion öffentlicher Leistungsabgabe ohne entsprechende Belastungen entsteht. Der dadurch bewirkte Eindruck einer Preissubvention für öffentliche Leistungen führt zu einer Übernachfrage nach staatlich bereitgestellten Gütern und Diensten (Buchanan/Wagner, 1977). Die Folge ist eine Überausdehnung der Staatsausgaben, die eine weiter steigende Staatsverschuldung nach sich zieht. Wie die Entwicklung verdeutlicht, kann die ausufernde Staatsverschuldung in der Tat nicht mit ökonomischen Ursachen, beispielsweise aufgetretenen Rezessionen, erklärt werden, sondern ist primär auf die politischen Mechanismen zurückzuführen. Die bestehenden Haushaltsausgleichsvorschriften und Schuldengrenzen in den staatlichen Finanzverfassungen machen deutlich, daß die Tendenzen zum Mißbrauch der Staatsverschuldung nicht erst heute als regelungsbedürftig angesehen werden. Mit dem Aufweichen der Grenzen im Zuge keynesianischer Konzepte entwickelte sich die Verschuldung zum zentralen Problem für die Finanzpolitik, ohne daß die beschäftigungspolitischen Ziele erreicht wurden. Die permanenten Haushaltsdefizite haben sich auf Dauer

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eher als Bremse für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung erwiesen. Die Entwicklung in Deutschland ist während der vergangenen Jahrzehnte durch einen jährlichen Zuwachs der Staatsschuld, d. h. eine permanente Kreditaufnahme ohne Nettoschuldentilgung, gekennzeichet. Hinzu kommt, vermehrt seit der Wiedervereinigung, eine Flucht aus den öffentlichen Haushalten in vielfältige Nebenhaushalte. Die Schuldenstandsquote am Bruttoinlandsprodukt ist auf über 60% angewachsen und die Zinslastquote an den öffentlichen Gesamtausgaben beträgt ca. 12% (von Weizsäcker, 1997, S. 127). Damit wird der Staatshaushalt aufgrund der laufenden Refinanzierung bestehender Schulden außerordentlich anfällig gegenüber Zinsänderungen. Unter den derzeit günstigen Zinskonditionen muß der Bund ca. ein Viertel der Steuereinnahmen für den Schuldendienst aufwenden; Zinserhöhungen würden den Handlungsspielraum selbst bei konstantem Schuldenstand zusätzlich einschränken. Wenn der Schuldenstand laufend stärker wächst als das Sozialprodukt, d. h. wenn die Schuldenquote unbegrenzt ansteigt, kann die bisherige Finanzpolitik nicht durchgehalten werden. Eine Stabilisierung der Schuldenquote setzt bei niedrigen Wachstumsraten des Sozialprodukts voraus, daß der, Haushalt ohne die Zinszahlungen, der sogenannte Primärhaushalt, Überschüsse aufweist. Eine Politik, welche lediglich eine bereits bestehende Schuldenquote halten will, erfordert somit bereits Einschnitte in die Leistungserstellung des Staates bzw. höhere Steuern. Das kurzfristige Ziel der Gewinnung von Haushaltsspielräumen durch Kreditaufnahme führt somit auf längere Sicht zu Einschränkungen, die um so höher sind, je höher die bereits aufgelaufene Schuldenquote ist. Da eine hohe Schuldenquote negative wirtschaftliche Effekte hat, genügt es für eine Politik der Nachhaltigkeit im allgemeinen nicht, die Schuldenquote lediglich zu stabilisieren, sondern es ist notwendig, sie durch verstärkte ·Primärüberschüsse auf ein gesamtwirtschaftlich unschädliches Maß zurückzuführen. Angesichts der Kurzfristorientierung einer Politik, die sehenden Auges langfristige Haushaltsproblerne in Kauf nimmt, um kurzfristige Vorteile zu gewinnen, erscheint eine derart einschneidende Sanierung kaum durchsetzbar. Die Wiedergewinnung und Erhaltung der finanzpolitischen Handlungsfähigkeit macht daher wirksame Beschränkungen der öffentlichen Kreditaufnahme unumgänglich. Die Kreditbegrenzung in Art. 115 GG, nach der die Einnahmen des Bundes aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten dürfen, ist schon wegen des interpretationsfähigen Investitionsbegriffs relativ vage; ihre bedingte Rücknahme in Art. 109 Abs. 2 GG, der als Abwehrmaßnahme gegen Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts eine höhere Verschuldung zuläßt bzw. vorschreibt, nimmt ihr zusätzlich die Wirksamkeit, denn da der

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Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts empirisch kaum konkretisierbar ist, fehlt in vielen Fällen jede Begrenzung. Die Verfassung geht zwar grundsätzlich von der Notwendigkeit einer Begrenzung aus, die vorgeschriebene Grenze ist jedoch nicht effektiv und hat sich in der Praxis nicht als Einschränkung erwiesen. Wirksame Begrenzungsvorschriften müssen exakt definierte, quantifizierbare und justiziable Größen enthalten und gegen Umgehungsmöglichkeiten, beispielsweise die Möglichkeit zur Flucht aus dem Budget, gesichert sein. Im Rahmen des Vertrags von Maastricht wurde erstmals der Weg beschritten, quantitative fiskalische Restriktionen in Form einer Grenze für die Defizitquote in Höhe von 3% und einer Schuldenquote von 60% festzulegen. Diese Restriktionen haben durchaus zu Verhaltensänderungen bei den beteiligten Regierungen geführt, auch wenn sie zu vielfaltigen Anpassungs- bzw. Umgehungsaktivitäten Anlaß gegeben haben. Mit diesen Quoten, die sich im wesentlichen als Ausdruck des bisherigen Normalverhaltens der beteiligten Regierungen qualifizieren, ist Nachhaltigkeil jedoch nicht garantiert. Außerdem werden derartige Obergrenzen in der Praxis üblicherweise zu ständig realisierten Normalwerten. Anstelle der Festlegung quantitativer Restriktionen erscheint es daher unverzichtbar, zur hergebrachten Form der Haushaltsdisziplin zurückzukehren und den materiellen Haushaltsausgleich als grundlegende Vorschrift der Finanzverfassung mit bestimmten zusätzlichen Regelungen wieder einzuführen. Bei konjunkturellen Schwankungen der Steuereinnahmen könnte eine vorübergehende Hinnahme geringfügiger Defizite zulässig sein, aber der Haushalt sollte stets über eine Legislaturperiode ausgeglichen sein, damit eine Regierung die nachfolgenden Regierungen nicht belasten kann. Für Entscheidungen über Defizite sollten qualifizierte Mehrheiten und verbindlich verabschiedete Tilgungspläne vorgeschrieben sein. Als Voraussetzung müßte ein unabhängiger Verschuldungsrat die Feststellung treffen, daß die Verschuldung in der Tat konjunkturell bedingt ist. Dieses Gremium sollte sämtliche zukunftswirksamen Beschlüsse im Rahmen einer intergenerationalen Buchführung bewerten und bei intergenerativ unausgewogenen Maßnahmen zu Lasten der Zukunft Einspruch einlegen. Unberührt von der AusgleiChsvorschrift müssen lediglich Ausnahmeregelungen für nationale Krisen- und Katastrophenfälle bleiben, die mit qualifizierten Mehrheiten und zustimmenden Voten des Verschuldungsrats in Kraft gesetzt werden können. Die gegenwärtig bestehende Möglichkeit zur Defizitbildung in Höhe der öffentlichen Investitionen wird damit begründet, daß Unterinvestitionen vermieden und gerechte Belastungen zukünftiger Nutzer bewirkt werden sollen. Um diese Ziele zu erreichen, müßte allerdings eine Tilgung der Kredite entsprechend dem durchschnittlichen Abschreibungsverlauf der öffentlichen Investitionen vorgeschrieben sein. Bei konstanten öffentlichen Investitionen

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würde die anfallende Tilgung dann gerade der zulässigen Neuverschuldung entsprechen, so daß eine Nettokreditaufnahme nicht mehr erfolgen dürfte. Lediglich bei steigenden öffentlichen Investitionen wäre eine Nettokreditaufnahme möglich. Die Verfassungsvorschrift muß daher so geändert werden, daß eine Kreditaufnahme nicht im Ausmaß der öffentlichen Investitionen, sondern lediglich im Maß ihres Zuwachses gegenüber der Vorperiode zulässig ist. Bei Verminderung der öffentlichen Investitionen müssen aus den Tilgungsbeträgen entsprechende Überschüsse gebildet werden. In dieser Form entspricht die Verschuldungsregel dem Ziel einer intertemporal ausgewogenen Investitionsfinanzierung. Außerdem hat sie den Vorteil, Anreize für öffentliche Investitionen zu vermitteln und der kurzsichtigen Strategie entgegenzuwirken, bei Haushaltsengpässen zuerst die Investitionen zu kürzen. Voraussetzung für die Wirksamkeit der Vorschrift ist eine rechtliche Konkretisierung des Begriffs der öffentlichen Investitionen. Der Übergang zu einer neuen Haushaltsausgleichsvorschrift der dargestellten Art muß durch Übergangsregelungen sichergestellt werden, die einen Abbau der Kreditaufnahme über mehrere Jahre vorsehen und Vorschriften über die Tilgung des bestehenden Vermögensbestands enthalten. Dies könnte etwa im Sinn des amerikanischen Gramm-Rudman-HollingsGesetzes erfolgen, das über eine vorgegebene Anzahl von Jahren die Reduzierung des bestehenden Budgetdefizits auf Null vorschrieb (Folkers, 1986). Auch wenn das Gesetz nicht präzise in der Weise funktioniert hat, wie es zunächst beschlossen worden war, hat es das öffentliche Bewußtsein für die Probleme staatlicher Kreditaufnahme geschärft und zu einem veränderten Haushaltsgebaren in den USA geführt, dessen Ergebnis der inzwischen erreichte Haushaltsausgleich ist. Neben Übergangsvorschriften sind in einer neugeregelten Finanzverfassung auch für die Steuer- und Ausgabenpolitik Restriktionen vorzusehen, welche die Anreize zur Staatsverschuldung mindern. Dies kann beispielsweise eine deutliche Begrenzung von Steuervergünstigungen oder Subventionen bedeuten, die in besonderer Weise zur Aufblähung der Haushalte und zu einer höheren Verschuldung beitragen. V. Begrenzungen der Besteuerungsgewalt

Im Grundgesetz werden neben der Staatsverschuldung das Haushaltswesen und der Finanzföderalismus geregelt, bezüglich der Besteuerungsgewalt, d. h. des Rechts zur Erhebung von Zwangsabgaben, finden sich abgesehen vom Steuerbewilligungsrecht des Parlamentes jedoch keine expliziten Regelungen. Eine Begrenzung der Besteuerungsgewalt folgt aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG, der das Verhältnis zwischen den Steuerzahlern im Sinn einer Besteuerung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit regelt. Die vordringliche Frage des Verhältnisses zwi-

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sehen Bürgern und Staat erfahrt keine Würdigung. Der Gleichbehandlungsgrundsatz stellt allerdings auch eine Begrenzungsnorm für das Ausmaß der Besteuerung dar. Durch steuerliche Differenzierungen könnte der Staat ähnlich einem preisdifferenzierenden Unternehmen höhere Einnahmen erzielen als bei Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Ein solcher Staat wird von Brennan/Buchanan (1980 - 1988) als Leviathan-Staat bezeichnet. Der Staat könnte auch durch steuerliche Begünstigung der bestimmenden Mehrheit zu Lasten von Minderheiten eine Subventionierung der von der Mehrheit präfeeierten öffentlichen Leistungen erreichen und damit eine Übemachfrage nach diesen Leistungen hervorrufen. Derartige Effekte sind bei konsequenter steuerlicher Gleichbehandlung nicht möglich. Die Erosion des Gleichbehandlungsgrundsatzes birgt somit nicht nur Gefahren für die steuerliche Gerechtigkeit. Den Gefahren muß durch konstitutionelle Restriktionen begegnet werden. Struktur und Ausmaß der Besteuerung sind, wie die Diskussion um den Standort Deutschland zeigt, auch im internationalen Wettbewerb nicht aufrechterhaltbar. Die durch Änderung von § 3 AO erfolgte Erweiterung steuerlicher Erhebungsmöglichkeiten auf nichtfiskalische Zwecke hat zu einem Gewirr an interventionistischen Be- und Entlastungen geführt, denn diese Möglichkeiten wurden ohne wirksame Beschränkungen eingeführt. Die Funktionsfähigkeit des marktwirtschaftliehen Systems als Grundlage der Steuererhebung erfordert dringend konstitutionelle Restriktionen für Struktur und Ausmaß der Besteuerung. Eine grundlegende Grenze wurde vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Zinsbesteuerung im Jahr 1995 gezogen. Danach folgt aus der persönlichen und der Eigentümerfreiheit nach Art. 2 und Art. 14 GG ein Verbot des Eingriffs der Besteuerung in die Vermögenssubstanz und eine quantitative verfassungsmäßige Begrenzung der Besteuerungsgewalt insgesamt auf bis etwa zur Hälfte der Erträge eines Individuums aus seiner wirtschaftlichen Tätigkeit (Kirchhof, 1995). Dieser Grundsatz der Halbteilung beinhaltet keine Begrenzung eines einzelnen Steuersatzes, sondern eine Begrenzung der individuellen Steuerquote des Bürgers. Außerdem resultiert aus dem Freiheitsrecht eine Einschränkung der Bemessungsgrundlage, die eine Herausnahme des Existenzminimums aus der Besteuerung gebietet und das persönliche Gebrauchsvermögen verfassungsrechtlich besonders schützt. Die Verfassung zieht somit aufgrund allgemeiner Normen bestimmte Grenzen für die Besteuerungsgewalt. Für eine wirksame Begrenzung ist jedoch eine Steuerverfassung mit weitergehenden Regelungen notwendig. Die Steuerverfassung muß wirksame Begrenzungen der individuellen Steuerlasten, der Steuertatbestände und der Bemessungsgrundlagen, spezifische Regelungen der Allgemeinheit und Gleichheit der Besteuerung sowie konkrete Vorschriften über Einfachheit, Klarheit und Fühlbarkeit der Besteuerung enthalten. Notwendig sind außerdem die langfristige Gültigkeit und eindeutige Definition der steuerlichen Tatbestände

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und Tarifvorschriften, Beschränkungen der Interventionsmöglichkeiten auf im einzelnen genau begründete Tatbestände und Formen sowie geeignete Verfahren der parlamentarischen Entscheidungsfindung sowie ein Ausschluß automatischer Steuererhöhungen. Damit sind wesentliche Fragen angesprochen, zu denen einige Stichpunkte gegeben werden sollen. Die dauerhafte Festschreibung einer maximalen Steuerquote erscheint aufgrund der fehlenden Flexibilität wenig geeignet. Demgegenüber kann der auf die individuelle Sphäre bezogene Halbteilungsgrundsatz als brauchbarer und überzeugender Begrenzungsansatz gesehen werden, der auch die gesamtwirtschaftliche Steuerquote begrenzt. Seine Konkretisierung wirft allerdings eine Reihe von Berechnungsproblemen auf, für die überzeugende Lösungen gefunden werden müssen. Daneben bedarf es der Beschränkung des staatlichen Zugriffs auf wenige allgemeine Abgaben und einer Begrenzung der jeweiligen Bemessungsgrundlagen. Differenzierungen der Bemessungsgrundlagen sind auf wenige, präzise definierte Ausnahmen zu beschränken. Außerdem ist die Einfachheit der Besteuerung durch Regeln für die Tarifgestaltung und die Bestimmung der Bemessungsgrundlagen zu gewährleisten. Freiheit und ökonomische Effizienz erfordern Durchschaubarkeit und Merklichkeit, langfristig stabile und vorhersehbare Steuerinstitutionen und niedrige Transaktionskosten der Besteuerung. Eine wesentliche Aufgabe ist darin zu sehen, durch enge und präzise Definitionen zulässiger Ausnahmetatbestände die politischen Spielräume für Steuervergünstigungen auf Dauer einzuengen. Änderungen steuerlicher Regeln sollten grundsätzlich nur mit qualifizierten Mehrheiten möglich sein. Abgesehen von wenigen, in ihren Wirkungen abgesicherten Ausnahmen muß die Besteuerung das Ziel verfolgen, freie und effiziente Entscheidungen durch Neutralität, dauerhafte Gültigkeit und Merklichkeit der steuerlichen Regeln zu ermöglichen. Schließlich sollten automatische Steuererhöhungen, die aufgrund der Progression im Zuge von Wachsturn und Inflation erfolgen, durch Indexierung des Tarifs der Einkommensteuer ausgeschlossen werden. Steuererhöhungen sollten nur mit expliziten parlamentarischen Entscheidungen möglich sein, da ansonsten wegen fehlender Wählerkontrolle die Tendenz zu überhöhten Ausgaben besteht. Der bisherige Wildwuchs der Besteuerung, der das Ergebnis der vorherrschenden politischen Prozesse ist, kann auf Dauer nicht aufrechterhalten werden. Er unterminiert das Vertrauen der Bürger, die Funktionsfahigkeit des Marktes und die Finanzierbarkeit des Staates. Es ist daher geboten, die Besteuerungsgewalt in einer besonderen Steuerverfassung zu begrenzen.

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VI. Verfassungsregeln für die öffentliche Aufgabenerfdllung In Anbetracht der durch die politischen Mechanismen bewirkten Tendenzen zu überhöhten und ineffizienten Ausgaben sind auch bindende verfassungsmäßige Restriktionen für die staatliche Aufgabenübernahme sowie Vorschriften für die Überprüfung und Rückführung der zur Zeit vom Staat übernommenen Aufgaben, eine strikte Begrenzung der öffentlichen Ausgaben und eine wirksame Sicherstellung der Wirtschaftlichkeit der dem Staat nach dem Subsidiaritätsprinzip verbleibenden Aufgaben erforderlich. Eine Ausgabenbegrenzung wird grundsätzlich durch die vorgeschlagenen Einnahmenbegrenzungen im Zusammmenhang mit der Vorschrift des materiellen Haushaltsausgleichs bewirkt. Ebenso wichtig ist es, im Haushaltsverfahren die Anreize zur Ausweitung der Aufgaben abzubauen und wirksame Anreize für ökonomische Rationalität auf allen Stufen des Verfahrens einzuführen. Grundlage der Aufgabenübernahme muß die Sicherstellung des Prinzips der Subsidiarität sein. Dafür sind spezifische Prüfungsverfahren vorzuschreiben. Im Zusammenhang damit ist ein Privatisierungsgebot in die Verfassung aufzunehmen, das eine Umkehr der ansonsten meist irreversiblen Aufgabenübernahme bei Zweifeln an der Erfüllung der normativen Voraussetzungen für staatliche Tätigkeit bewirkt. Die Transfer-, Subventions- und Steuervergünstigungsprogramme sind streng auf Wirksamkeit und Notwendigkeit zu überprüfen, grundsätzlich auf eine fest vorgegebene, kurze Dauer zu befristen und danach dem Zwang parlamentarischer Neuentscheidungen zu unterwerfen. Für eine Übergangszeit ist sicherzustellen, daß das Volumen der Maßnahmen jährlich um einen bestimmten Prozentsatz gesenkt wird, bis nur noch die den strengen Kriterien genügenden Maßnahmen verbleiben (Folkers, 1985, S. 300). Für die vom Staat zu erfüllenden Aufgaben muß das strikte Verbot von Sonderhaushalten mit Vorkehrungen gegen Umgehungsmöglichkeiten durchgesetzt werden. Diese Regel, die sich bereits im Hinblick auf die Verschuldung als notwendig erweist, soll die Möglichkeit zum Vergleich der relativen Dringlichkeit einzelner Aufgaben schaffen und die unkontrollierte Durchführung anders nicht durchsetzbarer Ausgabenprogramme verhindern. Eine an ökonomischen Kriterien ausgerichtete Übernahme und Durchführung staatlicher Aufgaben ist die Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit staatlicher Tätigkeit. Hier bedarf es gegenüber geltenden, an überkommenen Vorstellungen ausgerichteten Grundsätzen einer neuen Konzeption moderner Staatstätigkeit und entsprechender verfassungsmäßiger Regeln. Frühere Versuche, wie die Einführung eines Planning Programming Budgeting System oder der Mittelfristigen Finanzplanung, mußten erfolglos bleiben, weil sie nicht von geeigneten Organisationsstrukturen im Staat ausgingen. Neue Formen des Public Sector Management weisen den Weg zu einer verbesserten Staatstätigkeit Dafür bedarf es konkreter Vorgaben für neue

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Organisations- und Anreizsysteme, d. h. einer Art Gesellschaftsrecht für den öffentlichen Sektor. Unter diesem Gesichtspunkt sind auch die Kontrollpflichten und -befugnisse der Rechnungshöfe neu zu fassen und zu intensivieren. Quantitative Ausgabenbegrenzungen, wie sie vor allem in den USA diskutiert werden (Folkers, 1986 b), erscheinen wie die entsprechenden Steueraufkommensgrenzen wenig geeignet und sind redundant, wenn die erwähnten verfahrensmäßigen Regeln eingeführt werden. Das zentrale Ziel einer Neuregelung des Ausgabenwesens muß darin bestehen, den Bürger vor unangemessenen Eingriffen in seine Entscheidungen zu schützen und einen wirtschaftlichen Einsatz der dem Staat zugewiesenen Mittel entsprechend den Präferenzen der Bürger zu sichern. Ein zukunftsfahiger Staat muß nach modernen ökonomischen Gesichtspunkten strukturiert sein, seine Aufgaben mit . geringeren Mitteln unter stärkerem Bezug auf die Präferenzen der Bürger erfüllen und die durch das politische Verfahren bedingte Kurzsichtigkeit und Interessenbezogenheit der Maßnahmen abbauen. VII. Fiskalischer Föderalismus als fiskalische Restriktion Neben wirksamen Begrenzungen für Kreditaufnahme, Besteuerung und Ausgabentätigkeit stellt ein funktionsfahiges System des fiskalischen Föderalismus eine zentrale verfassungsmäßige Beschränkung staatlicher Tätigkeiten dar, die zugleich wesentliche Anreize für effizientes Staatshandeln vermittelt. Der Föderalismus sucht die Vorteile der Dezentralisation und des Wettbewerbs auch für den staatlichen Bereich nutzbar zu machen. Er setzt das Prinzip der Subsidiarität an die Stelle zentraler Aufgabenkompetenz und verweist öffentliche Aufgaben nur dann an die übergeordnete Instanz, wenn sie auf der unteren Ebene nicht vergleichbar bewältigt werden können. Das gegenwärtige System des Föderalismus in Deutschland weist erhebliche Funktionsmängel auf, die den Föderalismus ins Gerede gebracht haben. Dadurch wird deutlich, daß der Föderalismus nicht in jeder Ausprägung vorteilhaft sein muß, sondern daß es auf seine institutionelle Gestaltung ankommt. Grundlegend für einen funktionsfähigen Föderalismus ist das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz (Olson, 1969), nach dem die jeweilige staatliche Ebene autonom über die Durchführung und Finanzierung ihrer öffentlichen Aufgaben entscheidet und die erforderlichen Einnahmen von ihren Bürgern erhebt. Nur unter dieser Bedingung ist eine Abwägung der Nutzen und Kosten und eine Leistungserstellung entsprechend den Präferenzen der betroffenen Einwohner zu erwarten. Der deutsche Finanzföderalismus wird dem Grundprinzip der fiskalischen Äquivalenz nur wenig gerecht. Entscheidungen des Bundes über die Aufgaben und Steuern anderer Ebenen, Beteiligungen der Länder an Entscheidungen über Bundesangelegenheiten, Gemeinschaftsfinanzierungen sowie Finanzzuweisungen mit

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Einwirkungsrechten der oberen Gebietskörperschaften sind Kennzeichen des Systems. Die Regelungen des Länderfinanzausgleichs gelten zunehmend als ungerecht und anreizfeindlich. Die Tendenz zu strukturellen Dysfunktionalitäten ist Ausdruck der Tatsache, daß der Föderalismus aufgrund der bestehenden politischen Mechanismen eine inhärente Instabilität aufweist und ohne zusätzliche institutionelle Regelungen, die Anreize zur Selbsterhaltung des Systems vermitteln, nicht nachhaltig funktionsfähig ist. Die Instabilität folgt u. a. daraus, daß sich die Interessen der unteren Körperschaften an Verschiebungen von Finanzierungslasten nach oben mit den Interessen der oberen Körperschaften an Aufgabenausweitungen treffen. Außerdem besteht im Wettbewerb zwischen staatlichen Körperschaften wie auf Märkten ein Interesse der Konkurrenten, den Wettbewerbsdruck abzuschwächen. Dies geschieht im staatlichen Bereich durch institutionelle Veränderungen des föderativen Systems, z. B. durch einheitliche Regelungen der Steuerstrukturen. Dadurch wird der Steuerwettbewerb beschränkt und statt seiner ein Steuerkartell der Gebietskörperschaften begründet. Der Finanzausgleich ist in diesem System im wesentlichen eine Institution zur Aufrechterhaltung dieses Einnahmenkartells (Brennan/Buchanan, 1980- 1988, S. 229ff.). Bei dieser Diagnose ist es analog zum marktliehen Wettbewerbsprozeß geboten, die Tendenzen zur Selbstaufhebung des föderativen Wettbewerbs durch wirksame Restriktionen zu bekämpfen. Ein funktionsfähiger Föderalismus stellt eine effektive Begrenzung staatlicher Tätigkeiten dar. Reformen des Föderalismus müssen darauf gerichtet sein, das System so zu strukturieren, daß es seine Aufgaben erfüllen kann und daß den Tendenzen zur Selbstaufhebung dieser Strukturen begegnet wird. Grundlage eines reformierten Systems des Finanzföderalismus muß die Autonomie der Gebietskörperschaften bei der Aufgabenerfüllung und der Finanzierung sein, wobei die Aufgabenzuweisung strikt nach dem Prinzip der Subsidiarität erfolgen muß. Wichtig ist, daß nicht nur die Kompetenz zur verwaltungsmäßigen Durchführung, sondern auch zur Gesetzgebung auf der jeweiligen Ebene liegt. Mischfinanzierungen, Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen haben keine Berechtigung in einem solchen System. Das deutsche System des Steuerverbunds mit der Gesetzgebungshoheit bei der Zentrale entspricht nicht dem ursprünglich im Grundgesetz vorgesehenen Trennsystem. Der Finanzausgleich darf keine Angleichung der fiskalischen Strukturen bewirken, sondern muß die Unterschiedlichkeit der gefundenen Lösungen respektieren. Er soll dazu dienen, die Gebietskörperschaften durch begrenzte redistributive Maßnahmen in den Stand zu setzen, ihre Aufgaben zu erfüllen und die Unterschiede ihrer Finanzkraft durch geeignete Maßnahmen abzubauen. Der Finanzausgleich sollte in der Form umstrukturiert werden, daß durch die Art der Berechnung die Anreize zur

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Stärkung der Finanzkraft systematisch gefördert werden (vgl. z. B. Blankart, 1998, s. 558ff.). Die Selbstdurchsetzungsfähigkeit gegenüber den bestehenden politischen Tendenzen zur Destabilisierung eines funktionsfähigen föderativen Fiskalsystems wird entscheidend durch wirksame fiskalische Begrenzungen für die Aufgabenübernahme, die Besteuerung und die Verschuldung gewährleistet. Wenn die Möglichkeiten zur Ausdehnung der öffentlichen Finanzen zu Lasten der Bürger und zur Gewährung von Vorteilen für unterschiedliche Gruppen beschränkt sind, ist auch der Spielraum für Einwirkungen auf andere Gebietskörperschaften gering. Wichtig ist die Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips zwischen den Gebietskörperschaften durch entsprechende Restriktionen, wie sie für die staatliche Aufgabenübernahme begründet wurden. Eine Zentralisierung von Aufgaben sollte nur mit qualifizierten Mehrheiten zulässig sein, während eine Dezentralisierung oder eine Privatisierung mit einfacher Mehrheitsentscheidung erfolgen kann. Der Föderalismus ist nur dann nachhaltig funktionsfahig, wenn er durch geeignete verfassungsmäßige Restriktionen der öffentlichen Finanzwirtschaft abgesichert wird. Ein solcher Föderalismus ist aufgrund des Konkurrenzdrucks unter den Körperschaften eine wirksame Begrenzung für die Ausweitungstendenzen staatlicher Aktivitäten und für den Hang zum Interventionismus. Es besteht somit ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen wirksamen Begrenzungen von Einnahmen und Ausgaben und dem System des Finanzföderalismus: Der Föderalismus stellt ein Verfahren zur Durchsetzung der Restriktionen und zur weitgehenden Verhinderung von Umgehungsaktivitäten dar, während Begrenzungen der Einnahmen und Ausgaben der inhärenten Tendenz zur Instabilität des föderativen Systems entgegenwirken. Nur als Ganzes kann eine Finanzverfassung ihre Aufgaben nachhaltig erfüllen. Dies muß bei allen ernst gemeinten Reformen berücksichtigt werden.

VIII. Zur Implementierung verfassungsmäßiger Begrenzungen Bei den als notwendig erkannten Restriktionen stellt sich abschließend die Frage, wie derartige Regeln implementiert werden können, d. h. wie kurzsichtig agierende Politiker im Rahmen ihrer Zielsetzungen dazu gebracht werden können, sich selbst durch Verfassungsreformen Restriktionen aufzuerlegen, die zwar in einem längerfristigen gesellschaftlichen Interesse liegen, die politischen Aktivitäten aus Sicht der Politiker jedoch aktuell erschweren und ihnen bisher .gegebene Handlungsmöglichkeiten nehmen. Die Antwort ist in gewisser Weise die Nagelprobe des gesamten Konzepts und sie ist nicht einfach zu geben. Solange die politischen und ökonomischen Prozesse ohne allzu große Störungen verlaufen und die Pro-

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bleme erst in einer ungewissen Zukunft zu befürchten sind, sind Politiker kaum für Reformen zu gewinnen und die Öffentlichkeit ist kaum zu mobilisieren, den notwendigen Druck auf die Politiker auszuüben. Weit vorausschauende konstitutionelle Regelungen, die persönliche Interessen wie unter einem Schleier der Unwissenheit ausklammern, sind in der Geschichte vor allem dann möglich gewesen, wenn große Umbrüche erfolgten und einheitliche historische Erfahrungen zu übereinstimmenden Lösungen für die Zukunft führten. Beispiele sind die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika, die Gründung des Deutschen Reiches oder die Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Die deutsche Wiedervereinigung hat kaum derartige Impulse freigesetzt. Es ist auch mehr als fraglich, ob die Entwicklung zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion die Grundlage für entsprechende Verfassungsregeln unter Hintaustellung kurzfristiger Eigeninteressen abgeben kann. Notwendige Reformen haben außerhalb historischer Aufbruchsituationen erst dann eine Chance, wenn die Probleme aktuell spürbar und so gravierend werden, daß die Lebensbedingungen der Bürger sich bereits heute deutlich verschlechtern. Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und des Standorts Deutschland, Steuerchaos, Schuldenlast und Rentenprobleme werfen spätestens seit der Wiedervereinigung so lange Schatten, daß der Druck auf die Politik zunimmt. In dieser Situation gilt es, Aufklärungsarbeit zu leisten und kurzfristig scheinbar plausibel erscheinende staatliche Interventionen, die exakt auf den Fehleinschätzungen beruhen, welche für die krisenhafte Entwicklung verantwortlich sind, zurückzuweisen. Es gilt, in der Öffentlichkeit deutlich zu machen, daß staatliche Aktivitäten im Interesse der Bürger ebenso strikter Regeln bedürfen wie marktliehe Austauschprozesse. In gleicher Weise wie die Notwendigkeit zur Ordnung der Wirtschaft als Voraussetzung für Freiheit und ökonomischen Erfolg anerkannt ist, muß auch die Notwendigkeit einer Ordnung des Staates ins Bewußtsein der Öffentlichkeit eindringen. Nur wenn geeignete fiskalische Restriktionen auf Dauer wirksam sind, kann die Zukunftsfahigkeit der staatlichen Leistungserstellung gesichert werden. Beschränkungen staatlicher Handlungsspielräume im Rahmen der Finanzverfassung stellen gleichzeitig wesentliche Voraussetzungen für die Gewährleistung der individuellen Freiheit, für die Zukunftsfähigkeit der Marktwirtschaft und für die dauerhafte Erfüllung der öffentlichen Aufgaben dar. Literatur v. Arnim, H. H. (1984): Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München. Blankart, Ch. B. (1998): Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 3. Aufl., München. - Brennan, G.IJ. M. Buchanan (1980- 1988): The Power to Tax, Cambridge 17 Speyer 133

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u. a. 0., deutsch: Besteuerung und Staatsgewalt, Hamburg. - Buchanan, J. M./R. E. Wagner (1977): Democracy in Deficit. The Political Legacy of Lord Keynes, New York u.a.O.- Downs, A. (1957): An Economic Theory of Democracy, New York. - Folkers, C. (1983a): Begrenzungen von Steuern und Staatsausgaben in den USA. Eine Untersuchung über Formen, Ursachen und Wirkungen vorgeschlagener und realisierter fiskalischer Restriktionen, Baden-Baden.- Folkers, C. (1983b): Zu einer positiven Theorie der Steuerreform, in: K. H. Hansmeyer, Hrsg., Staatsfinanzierung im Wandel, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F. Bd. 134, Berlin, S. 189ff. - Folkers, C. (1985): Steuerreforminteressen und Steuervergünstigungen in positiver und institutioneller Perspektive, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 36, S. 274ff. Folkers, C. (l986a): Das Dilemma des Defizits. Haushaltsentwicklung und gesetzliches Konsolidierungsverfahren in den USA, in: Finanzarchiv N. F. 44, S. 365ff.Folkers, C. (l986b): Effizienzsteigerung im staatlichen Bereich durch verfassungsmäßige Begrenzung öffentlicher Ausgaben?, in: E. Wille, Hrsg., Konkrete Probleme öffentlicher Planung. Staatliche Allokationspolitik im marktwirtschaftliehen System, Bd. 20, Frankfurt a.M. u.a.O., S. 223ff.- Folkers, C. (1994): Politische Präferenzen und institutionelle Bedingungen der lnteressenpolitik, in: D. Grimm, Hrsg., Staatsaufgaben, Baden-Baden, S. 125ff. - Folkers, C. (1995): Wirkungen der Energiebesteuerung: Einkommens- und Lenkungsaspekte, Inzidenzproblematik, Grenzen der Energiebesteuerung - Theorie und empirischer Befund -, in: K. H. Hansmeyer, P. Klemmer, D. Schmitt, Hrsg., Energiebesteuerung und ökologischer Umbau des Steuersystems, Essen, S. 87ff.- Folkers, C. (1996): Konstitutionelle Ökonomik und Finanzwissenschaft, in: I. Pies, M. Leschke, Hrsg., James Buchanans konstitutionelle Ökonomik, Tübingen, S. 111 ff.- Kirchhof, P. (1995): ,.Der Bürger wird überfordert", in: DIE ZEIT Nr. 39, S. 27 f. - Olson, M. (1969): The Principle of "Fiscal Equivalence": The Division of Responsibilities Among Different Levels of Government, in: American Economic Review 59, S. 479ff. - Qian, Y.IB. R. Weingast (1997): Federalism as Commitment to Preserving Market lncentives, in: Journal of Economic Perspectives 11, S. 83ff.- Rawls, J. (1971): A Theory of Justice, Cambridge, Mass. - Weingast, B. R. (1995): The Economic RoJe of Politica1 Institutions: Market-Preserving Federalism and Economic Growth, in: Journal of Law, Economics and Organization 11, S. 1 ff. - von Weizsäcker, R. K., (1997): Finanzpolitik, in: Springers Handbuch der Volkswirtschaftslehre Bd. 2, Berlin u. a. 0., s. 123ff.

Mit direkter Demokratie zu besserer Wirtschafts- und Finanzpolitik: Theorie und Empirie Von Reiner Eichenberger* Die Politik einer staatlichen Einheit entspricht den Präferenzen ihrer Bürger um so besser, je umfassender deren direkt-demokratische Rechte, insbesondere die Initiativ- und Referendumsrechte, sind. Diese Regel gilt immer, ausser wenn alle Politiker ausschliesslich danach streben, die allgemeine Wohlfahrt zu erhöhen, und vollständig über alle Wünsche der Bürger und alle Auswirkungen aller möglichen Politikmassnahmen informiert sind. Nur unter dieser völlig unrealistischen Annahme ist direkte Demokratie überflüssig. Die meisten realen Politiker sind jedoch keine solche "allwissenden Heiligen", sondern normale Menschen. Sie verfolgen auch eigennützige Ziele und sind nur unvollständig informiert. Folglich weichen ihre Entscheidungen von den Präferenzen der Bürger ab. In diesem realistischen Fall verbessern direkt-demokratische Institutionen die Qualität der Politik. Dies zeigen theoretische Überlegungen und empirische Untersuchungen, welche die direkt- und repräsentativ-demokratischen Wirkungsmechanismen vergleichen. Direkte Demokratie dient nicht nur der Aufsummierung individueller Präferenzen zu gesellschaftlichen Entscheidungen. Ihre Wirkungsweise ist viel weitreichender. Sie erleichtert es den Bürgern, die Regierung zu kontrollieren, und fördert in vielfältiger Weise den politischen Wettbewerb- den Wettbewerb der verschiedenen Anbieter von Politik (den Parteien, Politikern, Regierungen) um die Gunst der Nachfrager von Politik (den Bürgern und Interessengruppen). Die sachbezogene politische Diskussion generiert Information über die Präferenzen der Bürger, die Positionen von Politikern und Parteien und die politischen Handlungsoptionen. Durch verschiedene Mechanismen wird der Einfluss der vergleichsweise schwach

* Reiner Eichenherger ist assoziierter Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Freiburg (Schweiz) und permanent visiting research fellow an der Universität Zürich. Anschrift: Misericorde, Universität Freiburg, CH-1700 Freiburg, Tel. 0041 263008265, Fax 0041 263009678, E-mail [email protected] Ich danke Bruno Frey und Alois Stutzer-Staub für wertvolle und hilfreiche Hinweise und Verbesserungsvorschläge. 17*

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organisierten Interessengruppen, v. a. der Konsumenten und Steuerzahler, gefördert. Direkte Demokratie stärkt somit sowohl die Anreize als auch die Möglichkeiten von Regierungen und Politikern, im Sinne der Bürger zu handeln. Im nächsten Abschnitt wird kurz erläutert, was in diesem Aufsatz unter "direkter Demokratie" verstanden wird. Im zweiten Abschnitt werden die Vorteile der direkten Demokratie aus theoretischer Sicht analysiert. Im dritten Abschnitt werden einige kritische Einwände diskutiert (und zurückgewiesen) und aufgezeigt, weshalb so viele Politiker gegen einen wirkungsvollen Ausbau der direkt-demokratischen Volksrechte sind. Im vierten Abschnitt werden die vorteilhaften Auswirkungen der direkten Demokratie anband illustrativer Beispiele und vieler ökonometrischer und politometrischer Untersuchungen belegt. Im letzten Abschnitt werden die Argumente zusammengefasst.

I. Direkte Demokratie, eine realistische Alternative 1. Vervollständigung, nicht Ersatz heutiger demokratischer Institutionen

In der direkten Demokratie treffen die Bürger die von ihnen als wichtig erachteten Entscheidungen selbst. Offensichtlich wichtige Entscheidungen werden obligatorisch durch Volksabstimmung (Bürgerentscheid) gefällt. Zugleich haben die Bürger das Recht, Volksabstimmungen über eigene Vorschläge (Initiativrecht) und über Regierungs- und Parlamentsbeschlüsse (Referendumsrecht) zu verlangen. Direkte Demokratie einzuführen bedeutet somit nicht, die repräsentativ-demokratischen Institutionen abzuschaffen, sondern den Einfluss der Bürger auf die Parlaments- und Regierungsarbeit zu stärken. Parlamente und Regierungen spielen in allen heute existierenden direkten Demokratien, sei es in der Schweiz, in US-Bundesstaaten, oder auf der kommunalen Ebene Bayerns eine wichtige Rolle, wenn auch eine andere als in repräsentativen Demokratien. Die gänzliche Abschaffung von Parlamenten als Orte der politischen Auseinandersetzung, Diskussion und Entscheidungsvorbereitung ist realistischerweise nur in kleinen politischen Körperschaften, insbesondere kleineren Kommunen möglich. So gibt es heute in vielen Schweizer Gemeinden und Städten mit bis zu 15000 Einwohner keine Parlamente, sondern sog. Gemeindeversammlungen, an denen jeder mündige Schweizer Einwohner teilnehmen kann und stimmberechtigt ist. Das gleiche gilt für einige wenige Kantone, wo die Bürger zu sog. Landsgemeinden zusammenkommen. Gemeindeversammlungen ersetzen jedoch nirgends die Regierung. Gerade in diesen kleinen politischen Einheiten existieren starke Regierungen, wobei die einzelnen Regierungsmitglieder zumeist direkt von den Bürgern gewählt werden. Gemeindeversammlungen übernehmen immer nur diejeni-

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gen Aufgaben, die ihnen durch eine Entscheidung der Bürger übertragen wurden, d. h. die sie aus Sicht der Bürger besser erfüllen als Regierung und Parlament. In grösseren politischen Einheiten spielen Parlamente stets eine wichtige Rolle in der Ausarbeitung von Politikvorlagen. Sie müssen jedoch die letzte Entscheidungsgewalt an die Bürger abtreten. Dadurch wird die parlamentarische Arbeit keineswegs unwichtig. Sie wird nur enger an die Präferenzen der Bürger gebunden. Im zweiten Abschnitt dieses Aufsatzes wird argumentiert, dass dadurch die repräsentativ-demokratischen Institutionen gestärkt werden. 2. Direkte und "direktere" Demokratie Die Einführung direkter Demokratie ist keine "entweder-oder" Entscheidung. Reale politische Systeme sind nicht entweder "direkt-demokratisch" oder "nicht direkt-demokratisch". Es existiert kaum ein demokratisches Land, wo es keinerlei Bürgerentscheide in der einen oder anderen Form gibt, und es existiert kein Land, wo alle Entscheidungen per Bürgerentscheid getroffen werden. Bedeutende Unterschiede bestehen jedoch im Ausmass an direkter Demokratie. Eigentlich müsste von "direkterer" und "weniger direkter" Demokratie gesprochen werden. Die direkt-demokratischen Bürgerrechte können sich auf mehr oder weniger Politikbereiche erstrecken (z. B. Verfassungs-, Gesetzes-, Verordnungsstufe; Budget-, Steuer- und Ausgabenentscheidungen; Bund-, Länder-, Gemeindekompetenzen); sie können stärker oder schwächer sein (z.B. können Bürger nur Parlamentsentscheidungen aufheben oder auch eigene Vorschläge vorbringen dürfen; die Rechtskraft der Bürgerentscheide kann von Beteiligungs- oder Zustirnmungsquoren abhängen); und sie können leichter oder schwerer einforderbar sein (z. B. können Bürgerentscheide obligatorisch oder fakultativ, oder die Unterschriftenquoren für Bürgerbegehren und die Unterschriftensammlungsvorschriften ganz unterschiedlich sein). 3. Illustration Ein besonders illustratives Beispiel für ~ine ausgebaute direkte Demokratie ist die Schweiz. So fanden in der Zeit von 1900-1993 von den weltweit 728 nationalen Volksabstimmungen (Bürgerentscheide) 357 und damit rund die Hälfte in der Schweiz statt (Butler und Ranney 1994, Tabelle 1-1). Dies bedeutet natürlich keineswegs, dass die dortigen Institutionen vorbildlich und perfekt sind. Vielmehr findet auch in der Schweiz eine intensive politische und wissenschaftliche Diskussion über die Reform der Volksrechte statt (vgl. z. B. Kleinewefers 1997), in der sowohl der Ausbau der direkten Demokratie als auch deren Einschränkung gefordert wird (z. B. Eicheoberger 1998 a und Rentsch 1998).

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In der Schweiz sind heute die direkt-demokratischen Institutionen auf allen staatlichen Ebenen, d. h. Bund, Kantone (Länder) und Gemeinden, vergleichsweise stark ausgeprägt (dazu ausführlich Klöti et al. 1999). Auf Bundesebene müssen alle Verfassungsänderungen vom Volk mit einfacher Mehrheit der Wählenden insgesamt und in der Mehrheit der Kantone angenommen werden (sog. obligatorisches Referendum); über vom Parlament beschlossene Gesetzesänderungen können 50000 Bürger (ca. 1,1% der Wahlberechtigten) eine Volksabstimmung verlangen (sog. fakultatives Referendum), in der die einfache Mehrheit der Abstimmenden entscheidet; und 100000 Bürger (ca. 2,2% der Wahlberechtigten) können eine Abstimmung über einen eigenen Verfassungsänderungsvorschlag verlangen (sog. Initiative), die wiederum von der Mehrheit der Wählenden und der Kantone angenommen werden muss. Da auf Bundesebene alle Steuern auf Verfassungsstufe festgelegt sind, unterliegen alle Steuerveränderungen dem obligatorischen Referendum. Finanzentscheidungen unterstehen weder dem obligatorischen noch dem fakultativen Referendum. Da jedoch die meisten wichtigen neuen Ausgaben Verfassungs- oder Gesetzesänderungen verlangen (wie etwa der Bau und die Finanzierung der neuen Eisenbahnalpentunnels), kann das Volk auch hier mitbestimmen. Überdies ist es möglich, gegen anstehende Ausgabenbeschlüsse des Parlaments vorbeugende Verfassungsänderungen zu verlangen, wie es kürzlich im Falle der Beschaffung neuer Kampfflugzeuge geschah. Auf kantonaler Ebene sind die direkt-demokratischen Bürgerrechte sehr unterschiedlich ausgebaut (siehe Trechsel und Serdült 1998). Über Verfassungsänderungen muss in allen Kantonen obligatorisch, und über Gesetzesänderungen je nach Kanton obligatorisch oder fakultativ abgestimmt werden. Immer kann auch eine zumeist kleine Zahl von Bürgern (zwischen rund 1 und 5 Prozent der Wahlberechtigten) Verfassungs- und Gesetzesinitiativen einreichen. In allen Kantonen unterliegen auch Finanzbeschlüsse des Parlaments ab einer bestimmten Ausgabenhöhe dem fakultativen oder obligatorischen Referendum. Beispielsweise können im Kanton Zürich mit rund 1,2 Mio. Einwohnern 5000 Wahlberechtigte einen Bürgerentscheid über Ausgabenbeschlüsse des Parlaments von mehr als SFr. 3 Mio. für einmalige und SFr. 0,3 Mio. für wiederkehrende Ausgaben verlangen. In vielen Kantonen muss auch über jede Änderung der Steuern abgestimmt werden. Dies ist besonders bedeutungsvoll, weil die Kantone und Gemeinden eigene Einkommens- und Vermögenssteuern erheben, die weit wichtiger sind als die Bundeseinkommenssteuern und je nach Kanton und Gemeinde unterschiedlich hoch sind. 1 In anderen Kantonen hingegen beschliessen die Bürger nur über die Steuergesetzgebung (Steuertarif, 1 1995 erhoben die Kantone rund 46%, die Gemeinden 37%, und der Bund nur 17% der gesamten Einkommens- und Vermögenssteuern.

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Bemessungsgrundlage, usw.), nicht aber über die letztendliche Steuerhöhe, die das Parlament durch einen Hebesatz auf den durch das Gesetz festgelegten Basissteuern (sog. einfache Staatssteuer) bestimmt. Die direkt-demokratischen Institutionen auf kommunaler Ebene unterscheiden sich nicht nur zwischen Kantonen, sondern auch zwischen Gemeinden, weil viele Kantone den Gemeinden grossen Spielraum in der Ausgestaltung ihrer politischen Strukturen belassen. Typischerweise sind die Volksrechte auf Gemeindeebene noch umfassender als auf kantonaler Ebene. In vielen Kantonen spielen in kleineren Gemeinden die bereits erwähnten Gemeindeversammlungen eine bedeutende Rolle, in denen normalerweise jeder Bürger Anträge stellen sowie Diskussion und Abstimmung verlangen kann. Über besonders umstrittene oder besonders wichtige Entscheidungen werden zumeist noch zusätzliche normale "Urnenabstimmungen" abgehalten, an denen alle Bürger persönlich oder brieflich teilnehmen können. Die Urnenabstimmungen der verschiedenen Ebenen werden zumeist zeitlich zusammengefasst. So kann dann z. B. ein Einwohner einer typischen grösseren Stadt über jährlich etwa 10 Vorlagen auf Bundesebene, 15 auf Kantonsebene und 10 auf Gemeindeebene abstimmen, die auf drei bis vier Abstimmungstermine verteilt werden. In allen Abstimmungen zählt das einfache Mehr der abgegebenen Stimmen, d. h. es gibt weder Beteiligungsnoch Zustimmungsquoren. Die Unterschriftenquaren sind tief und die Unterschriftensammlung vergleichsweise wenig reguliert. Insbesondere ist die Unterschriftensammlung auf der Strasse und in privaten Räumen erlaubt. II. Die Vorteile der direkten Demokratie: Theoretische Analyse Direkte Demokratie führt nicht zu perfekter Politik. Kein politisches System tut dies. Fruchtbare Einsichten gewährt folglich nur eine vergleichende Analyse der Wirkungsweisen verschiedener, real vorstellbarer politischer Systeme. Im folgenden wird deshalb zuerst analysiert, weshalb in repräsentativen Demokratien die Politik von den Präferenzen der Bürger abweicht (vgl. dazu auch Mueller 1989, Schweinsberg 1999). Sodann wird untersucht, inwiefern die Institution der direkten Demokratie zu einer besseren Erfüllung der Bürgerwünsche führt.

1. Problemursachen in der repräsentativen Demokratie Vier Aspekte sind für die Politik in der repräsentativen Politik prägend:

(1) Politiker veifolgen nicht aussschliesslich das Allgemeinwohl, sondern auch eigene Ziele. Selbstverständlich gibt es Politiker, denen nur das

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Gemeinwohl am Herzen liegt. Sie dürften jedoch eher Ausnahmen bilden. Reale Politiker . sind hingegen oft Interessengruppenvertreter und streben auch nach profaneren Dingen wie persönlichem Einfluss, Prestige, einem angenehmen, konfliktfreien Leben, hoher sozialer Sicherheit, schönen Büroräumlichkeiten, und nicht zuletzt einem hohen, "angemessenen" Einkommen. Dies ist kein negatives Bild der Politiker. Hier wird keineswegs behauptet diese seien schlechte Menschen. Vielmehr werden Politiker als ganz normale Individuen gesehen, die sowohl egoistische wie auch altruistische Züge aufweisen. Der Einwand, Politiker seien anders als andere Menschen, was sich u. a. darin zeige, dass sie oft ein tieferes Einkommen und ein konfliktreicheres Leben hätten als Vertreter anderer, vergleichbarer Berufsgruppen, ist nicht stichhaltig. Entscheidend ist, dass Politiker lieber mehr als weniger Einfluss, lieber mehr als weniger Einkommen, lieber schönere als hässlichere Büroräume usw. haben. Alle diese Ziele können Politiker in repräsentativen Demokratien um so besser erreichen, je höher ihr eigenes bzw. das gesamte Staatsbudget ist, je grösser die gesetzlichen Kompetenzen des Staates sind, und je weniger andere PolitikanbieteT mit ihnen konkurrieren. (2) Regierungen und Politiker verfügen über einen beträchtlichen Handlungsspielraum. In repräsentativen Demokratien können Regierungs- und Oppositionspolitiker bis zu einem gewissen Grad von den Präferenzen der Bürger abweichen und eigene Ziele verfolgen. Die Wähler können die Politiker nur bedingt kontrollieren. Wahlen finden je nach Amt mir alle vier bis acht Jahre (z. B. manche Bürgermeisterwahlen) statt. Da aber das Gedächtnis der Wähler nicht perfekt ist, zählen bei der Wiederwahl vor allem die Leistungen in dem den Wahlen unmittelbar vorangehenden Jahr, wie durch viele wissenschaftliche Studien belegt wird (vgl. Frey 1997a). Aber auch der Parteienwettbewerb engt den diskretionären Spielraum der Regierungspolitiker nicht vollständig ein. Oppositionspolitiker versuchen zwar, auf Missstände hinzuweisen und Fehler der Regierung herauszustreichen. Das eingeschränkte Erinnerungsvermögen der Wähler lässt sie aber davor zurückschrecken, ältere Geschichten auszugraben, weil sich die Wähler kaum noch daran erinnern können und die Regierung dann leicht Ausreden für ihre Fehler finden kann. Zugleich sind die Auswahlmöglichkeiten der Wähler stark eingeschränkt. Regierungen, die systematisch von den Präferenzen der Wähler abweichen, z. B. indem sie unnötig hohe Steuern erheben, werden nicht automatisch abgewählt. Die Bürger wissen nämlich, dass auch Oppositionsparteien dazu neigen, möglichst hohe Steuern zu erheben, falls sie an die Macht gelangen. Weil die heutige Opposition als Regierung unter den gleichen Einschränkungen stehen würde wie die heutige Regierung, dürfte sie ähnlich handeln und Spielräume zu ihren Gunsten ausnützen.

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(3) Wahlversprechen sind nicht bindend. Je schlechter Oppositionsparteien im Wahlkampf beweisen können, dass sie in der Vergangenheit eine bessere Politik betrieben hätten als die Regierung, desto bedeutender werden Wahlversprechen. Wahlversprechen sind jedoch rechtlich nicht bindend. Zudem fallt es Politikern zumeist leicht, kluge Erklärungen und Ausreden anzubieten, wenn sie ihre Versprechen nicht erfüllen konnten. (4) Unvollständige Information. Wahlen und politische Entscheidungen sind von unvollständiger Information geprägt. Weder Bürger noch Politiker können die Auswirkungen politischer Entscheidungen fehlerfrei abschätzen. Die Politiker kennen die Präferenzen und Bedürfnisse der Wähler nur unvollständig. Die Wähler kennen die tatsächlichen Positionen der Politiker und Parteien nicht exakt. Sie wissen nicht genau, was die einzelnen zur Wahl stehenden Politiker geleistet haben und was sie in Zukunft zu leisten beabsichtigen, geschweige denn, was sie in Zukunft tatsächlich leisten. 2. Repräsentative Demokratie nützt den Politikern und den starken Interessengruppen

Die vier diskutierten Aspekte haben schwerwiegende Folgen für das Funktionieren des repräsentativ-demokratischen politischen Prozesses:

(1) Politiker und Parteien betreiben eine Politik, die ihren Interessen dient und systematisch von den Präferenzen der Bürger abweicht. In Politikbereichen, wo die etablierten PolitikanbieteT gleichlaufende Interessen haben, ist der repräsentativ-demokratische Wettbewerb wenig wirksam. Parteien und Politiker verfolgen eine Politik, die zu höheren Budgets, weniger produktiven Staatsleistungen, höheren Defiziten, höherer Staatsverschuldung sowie einer höheren Regelungsdichte führt, als es die Bürger wünschen (vgl. Blankart 1998). Politiker neigen auch dazu, die Staatstätigkeit übermässig zu zentralisieren, weil sie der Wettbewerb zwischen den Gebietskörperschaften in dezentralen, föderalistischen Strukturen stört (Eichenberger 1998b). Sie betreiben oft eine kurzfristig auf die Wiederwahl ausgerichtete Politik, die langfristig beträchtliche Kosten hat. Beispielsweise lösen sie zuweilen sog. politische Konjunkturzyklen aus. Dabei bringen sie die Wirtschaft auf den Wahltermin hin mittels fiskal- und geldpolitischer Massnahmen in Schwung. Die Kosten dieser Politik, Inflation und als Reaktion darauf eine entsprechend restriktive Wirtschaftspolitik, fallen aber erst nach den Wahlen an (vgl. Frey 1997a). Schliesslich versuchen Politiker und Parteien, den politischen Wettbewerb zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Sie errichten Markteintrittsschranken für neue Parteien (wie die deutsche 5 %Klausel), und sie erlassen Parteien- und Fraktionsfinanzierungsgesetze und -massnahmen, die die grossen, etablierten Parteien entscheidend bevorteilen. Sie versuchen die Wahlkreise so zu ordnen, dass ihre Wiederwahl

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erleichtert wird, und sie teilen möglichst viele wichtige Arbeitsstellen im Staat und in vom Staat abhängigen Betrieben nach Parteienproporz auf ihre Parteigänger auf (dazu Wiesendabi 1999). (2) Das Gewicht der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen im politischen Prozess ist sehr ungleich. Die verschiedenen Interessengruppen unterscheiden sich stark bezüglich ihrer Möglichkeiten, Ressourcen aufzubringen und diese Politikern und Parteien als Gegenleistung für politische Vorteile anzubieten. Wohlorganisierte Interessengruppen können Politikern nicht nur grössere Wahlkampf- und Parteispenden, sondern auch gut bezahlte Verbandsfunktionell und andere attraktive berufliche Stellungen anbieten. Die Gruppen unterscheiden sich sodann hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, ihre Anliegen und ihre Betroffenheit durch Politikmassnahmen Politikern zu kommunizieren und ihre eigene Klienteie über die Leistungen der Politiker zu informieren. Je mehr aber ein Politiker über die Präferenzen einer Gruppe und die sie begünstigenden Politikrnassnahmen weiss, desto mehr lohnt es sich für ihn, sich für diese Gruppe einzusetzen. Selbst unvoreingenommene, uneigennützige Politiker setzen die knappen staatlichen Mittel lieber für wohlorganisierte Interessengruppen als für schlecht organisierte Gruppen wie die Steuerzahler oder die Konsumenten ein. Bei ersteren haben sie grössere Gewissheit über die Wirkung der Politik und darüber, dass ihnen die Vergünstigungen von den einzelnen Gruppenmitgliedern auch zugerechnet werden. Schliesslich können gut organisierte Interessengruppen die Einhaltung von Wahlversprechen besser sanktionieren als schlecht organisierte Gruppen. Sie können nicht nur besser überprüfen, ob, inwiefern und weshalb Wahlversprechen eingehalten oder gebrochen wurden, sondern sie verfügen auch über wirkungsvollere Drohmittel, um die Durchsetzung der Versprechen zu erreichen. Deshalb sind Wahlversprechen gegenüber solchen Gruppen glaubwürdiger und wirkungsvoller. Für Politiker lohnt es sich mehr, ernsthafte Versprechen an wohlorganisierte Gruppen zu richten und diese auch vergleichsweise gut einzuhalten. Schlecht organisierte Gruppen hingegen werden tendentiell mit oberflächlichen, wohlklingenden Versprechen abgespiesen, die sowieso nicht eingehalten werden (können). 3. Die direkte Demokratie verbessert den politischen Prozess, indem sie den politischen Wettbewerb stärkt Die in der repräsentativen Demokratie herrschenden Asymmetrien zugunsten etablierter Politikanbieter und wohlorganisierter Interessengruppen können verkleinert werden, indem der politische Wettbewerb gestärkt wird: Der repräsentativ-demokratische Wettbewerb zwischen den Parteien um die Regierungsposition, und der föderalistische Wettbewerb zwischen den

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Regierungen verschiedener politischer Körperschaften. Die Stärkung dieser beiden Wettbewerbselemente gäbe den Regierungen und Parteien vermehrt Anreize, sich auch um die schwach organisierten Gruppen, insbesondere die Steuerzahler zu kümmern. Wie jedoch bereits argumentiert wurde, ist der repräsentativ-demokratische und der föderalistische Wettbewerb nicht nur aus verschiedenen "natürlichen" Gründen (wie seltenen Wahlen oder hohen Wanderungskosten) eingeschränkt, sondern wird von den etablierten politischen Handlungsträgem aktiv behindert. Parteien sowie Regierungen von Gebietskörperschaften schliessen genau so eifrig implizite und explizite Kartelle wie Produzenten im wirtschaftlichen Bereich (vgl. z. B. Grossman und West 1994, Vaubel 1994). Was so schön grosse Koalition, runder Tisch, Politikharmonisierung oder Finanzausgleich heisst, dient oft nichts anderem als einem PolitikkartelL Wie aber können der repräsentativ-demokratische und der föderalistische Wettbewerb gestärkt und Politikkartelle aufgebrochen werden? Die Antwort lautet: Mit direkter Demokratie. Sie ist das dritte Element politischen Wettbewerbs, der Wettbewerb zwischen Ideen und Politikvorschlägen. Sie hilft, die anderen Elemente politischen Wettbewerbs abzusichern und weiterzuentwickeln. Ihre Wirksamkeit beruht auf vier Mechanismen: ( 1) Direkte Demokratie öffnet den Markt für Politik. Während in repräsentativen Demokratien die etablierten Parteien die politische Agenda dominieren und wenigstens für eine Wahlperiode praktisch ein Monopol auf Politikvorschläge besitzen, können in der direkten Demokratie die Bürger und neue politische Gruppierungen ganz unmittelbar auf die politische Agenda Einfluss nehmen. Dies zwingt die grossen Parteien, schneller auf neue politische Bedürfnisse zu reagieren und vermehrt auf schwach organisierte Gruppen Rücksicht zu nehmen. Sonst riskieren sie, dass neue politische Gruppierungen erfolgreiche Bürgerbegehren einreichen und sich so im politischen Markt etablieren. Direkte Demokratie schwächt auch den Einfluss der Parteiführung und -bürokratie. In repräsentativen Demokratien müssen Bürger, die an einem bestimmten politischen Problem interessiert sind und aktiv werden möchten, in den grossen Parteien zuerst die "Ochsentour" machen, der Parteiführung dienlich sein und Parteidisziplin wahren. Nur so erhalten sie einen guten Listenplatz und damit die Chance, Parlaments- und dann vielleicht sogar Regierungsmandate übernehmen zu können. Da diese Positionen mit ausserordentlich breiten Entscheidungskompetenzen ausgestattet sind, bleiben sie weiterhin abhängig von den jeweiligen Fachspezialisten einer Partei und damit der Partei selbst. In der direkten Demokratie hingegen können sie ihre Ideen ohne Umwege zu verwirklichen suchen, indem sie bei Initiativ- und Referendumsbewegungen mitarbeiten oder gar selbst solche Bewegungen gründen. Da solche Aktivitäten zumeist zeitlich befristet sind, erhalten auch Nicht-Berufspolitiker gute Chancen. So entsteht ein neuer Politikertyp: Während in repräsentati-

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ven Demokratien tendentiell Berufspolitiker dominieren, die in parteiinternen Hahnenkämpfen stark sind und von möglichst vielen Gebieten etwas (dafür zumeist wenig) verstehen, sind in der direkten Demokratie vermehrt auch inhaltlich orientierte Fachspezialisten mit zivilberufliehen Erfahrungen erfolg- und einflussreich. (2) Direkte Demokratie mindert das Kontrollproblem. Mit Referenden und Initiativen können die Wähler auch zwischen den Wahlen in die politische Agenda eingreifen und Entscheidungen von Regierung und Parlament korrigieren. So können sie die Politik viel stärker beeinflussen und die Politiker und Parteien besser kontrollieren. (3) Direkte Demokratie ermöglicht bindende, glaubwürdige Politikvorschläge. Bei Sachabstimmungen wird zumeist über Verfassungs- und Gesetzestexte oder andere klar formulierte Erlasse entschieden. Solche konkreten Vorlagen sind typischerweise viel eindeutiger ausformuliert und verbindlicher als die oft plakativen Versprechungen und ideologielastigen Perspektiven in Parteiprogramrnen. Damit gibt die direkte Demokratie allen politischen Gruppierungen die Möglichkeit, glaubwürdige Politikvorschläge vorzubringen. Dies verbessert insbesondere die Chancen neuer Parteien und junger Bewegungen, die noch wenig bekannt sind und wenig Reputation aufbauen konnten. Der Markt für Politik wird zusätzlich geöffnet und der politische Wettbewerb gestärkt. Als Ergebnis wissen die Bürger bei Sachabstimrnungen viel genauer als bei Wahlen, was die verschiedenen Optionen für Auswirkungen haben. (4) Direkte Demokratie schafft Information. Direkt-demokratischen Entscheidungen geht eine breite öffentliche Diskussion voraus, die viel intensiver ist als die öffentliche Diskussion vor wichtigen Entscheidungen in repräsentativen Demokratien. Solange das Parlament entscheidet, macht es für die Bürger kaum Sinn, sich über die anstehenden Entscheidungen gut zu informieren. In der direkten Demokratie hingegen diskutieren die Bürger über politische Fragen zur eigenen Orientierung, und um andere von der eigenen Position zu überzeugen. Weil ihre Einstellung zu Sachvorlagen typischerweise weniger stark ideologisch bestimmt ist als ihre Parteienpräferenzen, haben sie bei Sachentscheidungen mehr Orientierungsbedarf und auch bessere Chancen, andere zu überzeugen. Die Diskussion wird auch angeregt, weil durch die klare sachliche Abgrenzung der anstehenden Abstimmungen alle Bürger auf die gleichen politische Probleme und Lösungsvorschläge fokussiert sind, wohingegen sich die Bürger in Wahlen oft auf allzu unterschiedliche Dimensionen konzentrieren, als dass eine sinnvolle, inhaltliche Diskussion entbrennen könnte.

Eine intensive öffentliche Diskussion stärkt die Anreize der Bürger zusätzlich, politisch informiert zu sein. In der repräsentativen Demokratie nützt es einem isolierten einzelnen Wählern kaum etwas, sich politisch gut

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zu informieren, weil er nur einen absolut minimalen Einfluss auf das Wahlergebnis hat. Informiert zu sein ist gewissermassen ein öffentliches Gut, und für den einzelnen ist es nur rational, uninformiert zu bleiben (vgl. dazu Grofman 1995). Im Gegensatz dazu entfaltet die politische Diskussion in der direkten Demokratie eine grosse Dynamik. In gewisser Weise transformiert sie die individuelle politische Information in ein privates Gut. Weil Menschen in Diskussionen gerne Recht behalten und andere überzeugen, ist es ihnen wichtig, gut informiert zu sein und gute, inhaltliche Argumente zu haben (vgl. Frey und Kirchgässner 1993). Die Medien reagieren auf die Informationsnachfrage der Bürger und stellen entsprechende Angebote bereit. In der direkten Demokratie sind überdies auch die Anreize der Politiker und Parteien grösser, sich in konstruktiver Weise an der öffentlichen Diskussion zu beteiligen. In Wahlen lohnt es sich für Parteien und Politiker, vor allem über Themen zu sprechen, in denen sie sich für vergleichsweise "stark" erachten. Deshalb thematisieren die verschiedenen Parteien fast zwangsläufig unterschiedliche Aspekte und diskutieren systematisch aneinander vorbei. In der direkten Demokratie hingegen sind sie gezwungen, zu den anstehenden Sachabstimmungen Stellung zu beziehen und damit direkt und inhaltlich gegen andere Politiker und Parteien zu argumentieren. In diesem intensiven öffentlichen und privaten politischen Diskurs entsteht vielerlei neue Information. Es wird klarer, was genau die Vor- und Nachteile der verschiedenen Vorschläge sind. Oft werden neue Verbesserungsmöglichkeiten entdeckt. Die Politiker erfahren, was die Bedürfnisse und Probleme gerade auch der schlecht organisierten Interessengruppen sind, und die Bürger erfahren, was genau die Positionen der Politiker und Parteien sind und wofür sich diese einsetzen. 4. Vorteilhafte Auswirkungen direkter Demokratie

Durch die vier beschriebenen Mechanismen - Öffnung des Marktes für Politik, Minderung des Kontrollproblems, glaubwürdige Politikvorschläge, Informationsschaffung - verändert die direkte Demokratie die Politik nachhaltig. (1) Direkte Demokratie fördert Entscheidungen, die gegen die Interessen der Politiker laufen. Die Stärkung der Kontrolle der Politiker durch die Bürger und die Möglichkeit, mittels Initiativen glaubwürdige, bindende Politikvorschläge auf die politische Agenda zu bringen, erleichtert Entscheidungen, die nicht im Interesse der politischen Klasse liegen. Im folgenden werden die Mechanismen am Beispiel einer Steuersenkung illustriert. In einer repräsentativen Demokratie wird eine Oppositionspartei, die die Wahlen dank ihrem Versprechen gewinnt, die Steuern und die Zuwendun-

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gen an Interessengruppen massiv zu kürzen, dieses Versprechen kaum einlösen. Sobald sie an der Macht ist, ist sie nicht mehr an Steuersenkungen interessiert. Deshalb wird sie versuchen, die Umsetzung ihrer Versprechen zu verzögern. So wird sie schnell und mit grossem Getöse eine Steuerreformkommission einsetzen, die sich der Umsetzung der Pläne widmen soll. Typischerweise treten dann bald "unvorhersehbare Ereignisse" auf (Konjunkturabkühlung, Altlasten), die dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Steuersenkungspläne nicht umgesetzt werden können. Natürlich werden vernünftige Bürger durch das Vorgehen der neuen Regierung kaum überrascht. Vielmehr werden sie es vorausahnen und entsprechenden Versprechen wenig Glauben schenken. Folglich sind solche Versprechen, die den Interessen einer Regierung zuwider laufen, vergleichsweise unwirksam. Deshalb werden sie selten gemacht bzw. mit so grosser Oberflächlichkeit, dass die Reputation der Partei nicht geschädigt wird, wenn sie ihre Versprechen später bricht. In einer direkten Demokratie sind die Anreize der Parteien, Vorschläge vorzubringen, die gegen die Interessen der Regierung laufen, vollständig anders. Eine Oppositionspartei kann dort einen Bürgerentscheid über Gesetzes- oder Verfassungsartikel anstreben, die eine Steuersenkung verlangen. Solche Vorschläge erlangen mit ihrem Abstimmungserfolg Gesetzeskraft und können deshalb nicht einfach auf die lange Bank geschoben werden. Weil die Partei, die den Vorschlag macht, mit seinem Erfolg nicht automatisch Regierungspartei wird, hat sie auch Anreize, seine getreue Vollstrekkung durchzusetzen.

(2) Direkte Demokratie mindert die Asymmetrien zwischen Interessengruppen. In Abschnitt 2.b. wurde argumentiert, dass in repräsentativen Demokratien gut organisierte Interessengruppen mehr Einfluss als schlecht organisierte Gruppen haben, weil sie die Einhaltung der Wahlversprechen der Parteien besser kontrollieren können, weil ihre Mitglieder besser über die Positionen der Parteien informiert sind, und weil die Politiker besser über ihre Präferenzen informiert sind. Indem die direkte Demokratie die Kontrolle der Politiker und die Informationslage verbessert und glaubwürdigere politische Versprechen ermöglicht, mindert sie die Unterschiede zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. (3) Direkte Demokratie stärkt den Föderalismus und die Dezentralisierung. Effektive föderalistische Strukturen, insbesondere der föderalistische Steuer- und Leistungswettbewerb zwischen den Gebietskörperschaften, engt den Handlungsspielraum der Politiker und Regierungen ein und ist ihnen unangenehm. Deshalb neigen sie dazu, die Steuern zu harmonisieren und zu zentralisieren. Die Zentralisierung der Einnahmen bewirkt überdies, dass die Anreize der lokalen Wähler sinken, für einen haushälterischen Umgang mit den knappen Mitteln einzutreten. Schliesslich wird ja ein Grossteil der

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Ausgaben nicht mehr von der eigenen Gebietskörperschaft, sondern vom Bund und anderen Gebietskörperschaften getragen. Das dadurch induzierte und "wählergewünschte" Ausgabenwachstum kommt den meisten Politikern zumindest nicht ungelegen. Für die Bürger ist jedoch wirksamer Föderalismus vorteilhaft. Er schafft Bürgemähe und Anreize, die Mittel sparsam und effektiv einzusetzen, und er erleichtert es, die Politik an die lokal unterschiedlichen Präferenzen anzupassen. Dementsprechend wünschen die Bürger typischerweise mehr Föderalismus und Dezentralisierung als die Politiker. In der direkten Demokratie können sie ihrer Nachfrage nach Föderalismus Ausdruck und Einfluss verleihen.

(4) Direkte Demokratie stärkt die repräsentative Demokratie in vielfältiger Weise. Oft wird argumentiert, direkte Demokratie mache das Parlament und damit die Wahlen unwichtig und senke deshalb die Intensität der repräsentativ-demokratischen Auseinandersetzung. Das ist falsch. In der direkten Demokratie werden erstens die Regeln des repräsentativ-demokratischen Prozesses in sinnvoller und wettbewerbsstärkender Weise entwickelt (z. B. Abschaffung von Marktzutrittsschranken für neue Parteien, Reduktion der Parteienfinanzierung, Verbot von willkürlichen W ahlkreisveränderungen, Verkleinerung der Parlamente, Beschneidung überbordender Ruhestandsregelungen, usw.). Zweitens verändert sich auch das Verhalten der Wähler und der Politiker hin zu innovativerer, mutigerer Politik, wenn die Bürger über wirkungsvolle Instrumente zur Kontrolle der Politiker verfügen. Die Interaktion zwischen Bürgern und Politikern wird in einfacher Weise durch das Verhalten von vernünftigen Kutschern und ihren Pferden illustriert. Kutscher, die über gute Bremsen verfügen, spannen wildere Pferde ein und fahren schneller und riskanter, aber kommen trotzdem sicherer zum Ziel als Kutscher, die schlechte Bremsen haben. Analog dazu wählen Bürger, die wirkungsvolle direkt-demokratische Instrumente zur Zügelung "ausgebrochener" Politiker besitzen, wildere und riskantere, d. h. originellere, visionärere und innovativere Politiker und Parteien als Bürger, die nicht über direkt-demokratische Bremsen verfügen und deshalb keine Risiken eingehen wollen. Aber nicht nur die Kutscher, auch die Pferde passen sich an. Gutwillige Pferde gehen schneller, wenn sie wissen, dass der Kutscher bremsen kann, ohne gleich die Pferde zu schlachten. Genau so handeln Politiker mutiger und innovativer, wenn sie wissen, dass die Bürger ihre Vorschläge ablehnen können, ohne gleich die verantwortlichen Politiker beim nächsten Wahltermin abzuwählen. Direkte Demokratie ist also nicht für alle Politiker und Parteien nachteilig. Besonders neue und junge Parteien und Politiker, die noch nicht die Reputation etablierter Politikanbieter haben, dafür aber dynamischer und innovativer sind und neue fruchtbare aber zwangsläufig manchmal noch

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nicht ganz ausgereifte Ideen in die Politik einbringen, können von gut ausgebauten direkt-demokratischen Institutionen profitieren. 111. Einwände und Widerstand

Die bisherige Analyse kommt zu einer sehr vorteilhaften Beurteilung direkt-demokratischer Institutionen und kontrastiert mit der Kritik vieler Politiker und Wissenschaftler an der direkten Demokratie. Im nächsten Abschnitt wird deshalb auf vier der häufig angeführten Behauptungen eingegangen. In vergleichender Perspektive erweist sich keine dieser Kritiken als stichhaltig. Deshalb wird ansebliessend kurz argumentiert, weshalb direkte Demokratie auf so grossen Widerstand stösst.

1. Kritik an der direkten Demokratie Behauptung 1: "Bürger sind unfähig, vernünftige Sachentscheidungen zu treffen " Behauptet wird, Sachvorlagen seien sehr komplex und müssten deshalb Spezialisten - den Parlamentsabgeordneten und den Regierungspolitikern überantwortet werden. Dieses Argument ist unhaltbar. Zum einen existiert heute ein breiter Konsens darüber, dass bei privaten Entscheidungen jeder einzelne Mensch selbst am besten beurteilen kann, was gut für ihn ist. Es ist schwer einzusehen, weshalb dies bei politischen Entscheidungen anders sein soll. Zum anderen ist diese Kritik nicht vergleichend. Sie lässt vollkommen offen, welche Anreize Repräsentanten haben, wohlinformierte Entscheidungen im Interesse der Bürger zu treffen. Sie zeigt auch nicht, wie Bürger, denen die politische Urteilsfähigkeit für Sachentscheidungen abgesprochen wird, fähig sein sollen, die "richtigen" Wahlentscheidungen zu treffen und die "richtigen" Repräsentanten zu wählen. Überdies bleibt unklar, weshalb Sachentscheidungen komplexer als Wahlentscheidungen sein und mehr Information erfordern sollen. Eher das Gegenteil trifft zu: Damit sich ein Bürger bei einer Sachabstirnmung vernünftig entscheiden kann, muss er beurteilen, wie er durch die zwei Alternativen betroffen wird. Will er hingegen bei Wahlen vernünftig entscheiden, muss er nicht nur beurteilen, wie er durch die verschiedenen Parteiprogramme mit einer Unzahl verschiedener Massnahmen betroffen würde, sondern auch noch, ob die Parteien tatsächlich willig und fähig sind, ihre Pläne und Versprechen umzusetzen. Selbst wenn er versucht, das zukünftige Verhalten der Kandidaten anband ihrer früheren politischen Handlungen zu beurteilen, beispielsweise indem er Parlamentskandidaten aufgrund ihres Abstimmungsverhaltens in der vergangeneo Amtsperiode einzuschätzen versucht, muss er nicht nur genau wie bei Sachabstimmungen wissen, was die aus seiner Sicht rieb-

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tigen Entscheidungen gewesen wären, sondern auch noch zusätzlich, wie die Kandidaten im Parlament abgestimmt haben (was bei geheimen Abstimmungen unmöglich ist). Zuweilen wird angeführt, den Bürgern ergehe es ähnlich wie Patienten, die sich zwar nicht selbst medizinisch richtig behandeln, aber trotzdem eine vernünftige Arztwahl treffen könnten. Genau so könnten die Bürger keine vernünftigen politischen Sachentscheidungen, aber immerhin eine vernünftig Parteien- oder Personenwahlentscheidung treffen. Tatsächlich zeigt diese Analogie zur Arztwahl jedoch gerade die Überlegenheit der direkten Demokratie. Der entscheidende Punkt ist, dass kein potentieller Patient sich verpflichten möchte, für die nächsten vier Jahre nur zu einem und demselben Arzt zu gehen - unabhängig von der Art seiner Leiden und seiner Zufriedenheit mit dem betreffenden Arzt. Genau so wie die freie Arztwahl jedem Patienten erlaubt, bei jeder neuen Krankheit von neuem einen Arzt als Berater auszuwählen, ermöglicht es die direkte Demokratie jedem Bürger, bei jedem Referendum von neuem zu entscheiden, welchen Abstimmungsempfehlungen welcher Politiker er folgen will. Schliesslich bleibt zu betonen, dass sich in der direkten Demokratie Institutionen entwickeln, die die Informationseffizienz erhöhen. Einerseits haben die Parteien und Interessengruppen Anreize, ihre Positionen möglichst klar und einfach darzustellen und eine Reputation als "Abstimmungsberater" aufzubauen. Andererseits entwickeln sich gesellschaftliche Regelungen, die die Informationskosten senken und die Transparenz erhöhen. So haben sich sowohl in der Schweiz wie in den USA mehr oder weniger formelle Regeln entwickelt, wie Parteien und Interessengruppen ihre Abstimmungsempfehlungen vor Abstimmungen in Abstimmungsparolen oder standardisierten Stellungsnahmen kundtun können, die es den Stimmenden ermöglichen, sich auf einfache und effiziente Weise zu informieren (dazu z. B. Möckli 1994). Behauptung 2: "Abstimmungsbetemgung ist zu tief"

Befürchtet wird, die Bürger könnten durch die zahlreichen Abstimmungen auf den verschiedenen staatlichen Ebenen überfordert werden und mit politischer Abstinenz reagieren. Diese Bedenken sind nicht gerechtfertigt. In der Schweiz, die oft als Beispiel für tiefe Beteiligung bei Sachabstimmungen angeführt wird, ist die Beteiligung an wichtigen Abstimmungen regelmässig höher als die Wahlbeteiligung. Zudem werden bei allgemeinen Wahlen viele Leistungsdimensionen überhaupt nicht thematisiert; die implizite Beteiligung betreffend dieser Aspekte ist somit sehr tief oder sogar Null. Schliesslich bleibt zu betonen, dass rationale Individuen nicht wählen, solange ihnen die Abstimmungsalternativen ähnlich gut gefallen. Wichtig 18 Speyer 133

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ist vielmehr, dass sie um so wahrscheinlicher teilnehmen, je intensiver ihre Präferenzen sind. Relevant ist somit die Varianz der Stimmbeteiligung zwischen den Bürgern und über die Zeit - nicht die durchschnittliche Stinunbeteiligung. Im Idealfall müsste die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein bestinunter Bürger an einer bestimmten Wahl beteiligt, genau proportional zu seiner Präferenzintensität sein. Dann würde das gesellschaftliche Abstimmungsergebnis tatsächlich der Summe aller individuellen Nutzen entsprechen. Ein streng proportionaler Zusammenhang zwischen individueller Präferenzintensität und individueller Abstimmungsbeteiligungswahrscheinlichkeit ist aber nur möglich, solange die Beteiligungswahrscheinlichkeit von Bürgern mit durchschnittlich intensiven Präferenzen und damit auch die gesellschaftliche Abstimmungsbeteiligung nicht über 50% liegen. Eine Wahlbeteiligung von über 50% ist aus dieser Sicht also sogar nachteilig.

Behauptung 3: "Direkte Demokratie kann zu einer Tyrannei der Mehrheit führen" Auch diese Kritik ist unangebracht, weil sie nicht vergleichend ist. Sie lässt vollkonunen offen, ob in repräsentativen Demokratien Minderheiten weniger übergangen werden als in direkten Demokratien.2 Tatsächlich trifft eher das Gegenteil zu. Je häufiger über Sachvorlagen abgestimmt wird, desto kleiner wird die Wahrscheinlichkeit, dass eine Gruppe oder ein Individuum inuner zu den Verlierern zählt. Die Vorlagen sind so unterschiedlich und erfassen so viele Bereiche, dass die Mehrheiten stets aus verschiedenen und wechselnden Gruppen bestehen. Im Gegensatz dazu können in repräsentativen Systemen sehr wohl einzelne Gruppen über Jahre oder gar Jahrzehnte in die Opposition verbannt sein und dauernd überstimmt werden. Das Argument, im Parlament könnten Minderheiten mit besonders intensiven Präferenzen mittels Stimmentausch einen Einfluss ausüben, zeigt keinen Vorteil gegenüber der direkten Demokratie an. Stimmentausch funktioniert auch in der direkten Demokratie: Er nährt die Ausarbeitung der Vorlagen, er beseelt die Abstimmungsparolen und er lenkt auch das Stimmverhalten. Ein einzelner Wähler hat kaum Einfluss auf das Abstimmungsergebnis und deshalb keine Anreize, ausschliesslich eigennützig zu stinunen. Vielmehr kann er sich an allgemeineren Interessen orientieren (dazu Brennan und Lomasky 1993 und Eichenherger und Oberholzer-Gee 1998). Schliesslich bleibt festzuhalten, dass gerade im Parlament das sog. 2 Zuweilen wird behauptet, die direkte Demokratie könne für die bürgerlichen Rechte und Minderheitsrechte bedrohlich sein (z.B. Gamble 1997). Eine Analyse schweizerischer Abstimmungen zeigt jedoch, dass die Rechte von Minderheiten durch Referenden und Initiativen vergleichsweise wenig eingeschränkt werden (Frey und Götte 1998).

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"Stimmentausch-Paradox" (Riker und Brams 1973) droht: Oft ist der Nutzengewinn jener, die Stimmen tauschen und so eine Mehrheit erringen, kleiner als der Nutzenverlust deren, die am Tausch nicht beteiligt sind und in die Minderheit versetzt werden.

Behauptung 4: "Direkte Demokratie ist nur unter seltenen Bedingungen funktionsfähig" Oft wird argumentiert, direkte Demokratie sei nur in kleinen Ländern mit einer starken, wenn möglich Jahrhunderte alten, in kleinen Einheiten verwurzelten demokratischen Tradition möglich, also in Ländern wie beispielsweise der Schweiz. Diese Kritik vernachlässigt, dass heute in verschiedenen Ländern regelmässig Volksabstimmungen durchgeführt werden, auf die die geschilderten Bedingungen kaum zutreffen: Das Argument der Kleinheit versagt zumindest im Falle Australiens, wo regelmässig sozusagen auf Kontinentalebene Referenden abgehalten werden; das Argument der Tradition versagt in Kalifornien, wo umfassende, bis heute bestehende und intensiv genutzte, direkt-demokratische Institutionen schon kurz nach der ersten grossen Einwanderungswelle und der Staatsgründung aufgebaut wurden und alle weiteren Einwanderungswellen von Personen ohne direkt-demokratische Traditionen bestens überlebten; und das Argument der notwendigen Verwurzelungen in lokalen demokratischen Institutionen vermag kaum die Situation in Italien zu erklären, wo zwar regelmässig, aber nur auf Ebene des Zentralstaates Referenden abgehalten werden. Überdies sind in den meisten anderen demokratischen Staaten für gewisse, zumeist gerade besonders wichtige Fragen Volksabstimmungen möglich oder sogar vorgesehen (vgl. Butler und Ranney 1994). So zeigen die neuen Beispiele der Volksabstimmungen über die Maastricher Verträge in Dänemark, Irland und Frankreich deutlich, dass die öffentliche politische Diskussion vor Sachabstimmungen keinesfalls qualitativ schlechter ist als die öffentliche Diskussion vor Parlaments- und Regierungsentscheidungen oder die Parlamentsdebatten selbst. Auch diese Beobachtungen illustrieren, dass direkte Demokratie überall funktionieren kann. Obwohl sich die verschiedenen Kritiken an der direkten Demokratie bei genauerer Betrachtung als nicht stichhaltig erweisen, lehnen viele Politiker den Ausbau der direkt-demokratischen Bürgerrechte ab. Die Gründe dafür werden im nächsten Abschnitt kurz diskutiert.

2. Widerstand unter Politikern Direkte Demokratie bringt den Bürgern vielerlei Vorteile, den etablierten Politikern und Parteien aber gewichtige Nachteile. Die Stärkung der Mit18*

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spracherechte der Bürger ist insbesondere für die Regierung unangenehm, weil ihr Spielraum und damit ihre Möglichkeiten eingeschränkt werden, ihre eigene Ideologie zu verfolgen und wohlorganisierte Interessengruppen zu befriedigen. Regieren wird auch schwieriger und mühsamer, weil die Vorschläge der Regierung oft vom Volk abgelehnt werden. Direkte Demokratie stösst jedoch auch bei den Oppositionsparteien nicht auf ungeteilte Gegenliebe. Schliesslich gibt sie dem Volk ein wirkungsvolles Oppositionsinstrument in die Hand, was vor allem die Bedeutung der grossen Oppositionsparteien mindern kann. Da aber die Oppositionsparteien das Referendums- und Initiativrecht auch zur Verfolgung ihrer eigenen Ziele einsetzen können, stehen sie der direkten Demokratie zumeist wohlwollender gegenüber als die Regierung. Weil die Nachteile der direkten Demokratie für die Regierung und ihre Vorteile für die Opposition nicht von der ideologischen Ausrichtung oder der Farbe der betreffenden Regierungs- und Oppositionsparteien abhängen, ist auch die Einstellung gegenüber direkt-demokratischen Mechanismen kaum von der Parteiideologie abhängig. Wichtig ist vor allem, ob eine Partei an der Regierung oder in der Opposition ist. Besonders deutlich zeigt sich dies in der geäusserten Einstellung der deutschen Parteien und Politiker zur Einführung direkt-demokratischer Institutionen auf kommunaler und Länderebene (siehe auch Seipel und Mayer 1997). Wo die CDU/CSU regiert, ist sie vehement gegen direkte Demokratie, und wo sie in Opposition ist, ist sie leise für direkte Demokratie - und wo die SPD regiert, ist sie vehement gegen direkte Demokratie, und wo sie in Opposition ist, ist sie leise für direkte Demokratie. Weil die Einstellungen der Parteien und Politiker zu direkter Demokratie stark davon abhängen, ob sie in der Opposition oder in der Regierung sind, ob sie also bei den letzten Wahlen Erfolg oder Misserfolg gehabt haben, können sie sich, wie ja bereits früher argumentiert wurde, kaum glaubwürdig für die Einführung direkt-demokratischer Institutionen einsetzen. Sobald sie Erfolg gehabt haben, ändern sie ihre Einstellung. Gerade Oppositionsparteien mit guten Erfolgschancen werden deshalb die Einführung direkt-demokratischer Instrumente kaum zu einem Schwerpunkt ihres Programms machen. IV. Die Vorteile der direkten Demokratie: Empirische Ergebnisse

Aus theoretischer Sicht weist direkte Demokratie gegenüber repräsentativer Demokratie verschiedene gewichtige Vorteile auf, und die oft gegen direkte Demokratie angeführten Kritiken erweisen sich als nicht stichhaltig. Direkt-demokratische Institutionen sollten demzufolge aufgrund ihrer Vorteile zu vergleichsweise guten Politikergebnissen führen. Im folgenden wird der Frage nachgegangen, ob sich entsprechende Unterschiede empirisch

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nachweisen lassen. Drei Ansätze werden diskutiert: internationale Ländervergleiche, Vergleiche von Parlaments- und Volksentscheidungen und Vergleiche innerhalb der Schweiz und der USA, wo jeweils mehr oder weniger direkt-demokratische Gebietskörperschaften nebeneinander existieren. 1. Internationale liindervergleiche Zur Beurteilung der Vor- und Nachteile verschiedener politischer Institutionen liegt es nahe, Länder zu vergleichen, in denen diese Institutionen unterschiedlich stark ausgeprägt sind. So ist es verlockend, die Politik und die entsprechenden Politikfolgen wie den Zustand der Volkswirtschaft, die Staatsquote, die Lebensqualität, usw. von Ländern mit vergleichsweise umfassenden direkt-demokratischen Institutionen mit denjenigen anderer Länder zu vergleichen und so den Einfluss der direkten Demokratie zu isolieren versuchen. Solche Vergleiche erweisen sich aber als höchst problematisch. Weil es so wenig Länder gibt, in denen direkte Demokratie eine bedeutende Rolle spielt, würde ein internationaler Vergleich darin münden, die Schweiz (und vielleicht auch noch die USA, wo die direkt-demokratischen Rechte in vielen Bundesstaaten stark ausgebaut sind) mit den anderen westlichen Ländern zu vergleichen. Dabei würde die direkte Demokratie hervorragend abschneiden, was ihre vermeintliche Wirkung auf Volkseinkommen, Staatsquoten, Staatsdefizite, Lebensqualität, Wettbewerbsfähigkeit usw. betrifft. Etwas weniger komfortabel sähe der Vergleich hinsichtlich Wachsturn der Volkswirtschaften aus, wenn er sich auf die Schweiz und die Neunziger Jahre konzentrieren würde, um so besser dafür, wenn er auch die vergleichsweise direkt-demokratischen Bundesstaaten der USA einbeziehen würde. Solche Vergleiche, die auf wenigen oder nur einer Beobachtung aufbauen, ergeben nur selten schlüssige Resultate. Die Unterschiede zwischen der Schweiz und den anderen Industrieländern könnten nämlich auch durch vielerlei andere Einflussfaktoren zu erklären versucht werden, wie Grösse, Mitgliedschaft in der Europäischen Union, Föderalismus, Branchenstruktur, Bodenschätze, Betroffenheit durch die Weltkriege, usw. Statistische Vergleiche ergeben nur einen Sinn, wenn wesentlich mehr Beobachtungen vorliegen als konkurrierende Erklärungsansätze. Nur dann kann der Einfluss der verschiedenen Faktoren mit statistischen Verfahren sinnvoll abgeschätzt werden. Trotz dieser Einwände ist der Vergleich zwischen der Schweiz und anderen Ländern .nicht ganz uninteressant. Immerhin zeigt er, dass die Befürchtung vieler Politiker, direkte Demokratie führe geradewegs ins Chaos, nicht berechtigt ist. Die wirtschaftliche Stärke der Schweiz, ihre hohe Wettbewerbsfahigkeit, und die anerkannt hohe Lebensqualität sprechen zumindest

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nicht gegen die Vorteilhaftigkeil direkter Demokratie. Ländervergleiche mit wenigen Beobachtungen sind auch fruchtbar, wenn sie die vermuteten theoretischen Zusammenhänge sorgfaltig nachweisen. Ein Beispiel für eine solche Untersuchung bietet Blankart (1998). In einem Vergleich der deutschen und der schweizerischen Nachkriegsentwicklung zeigt er im Detail auf, wie in der Schweiz die direkt-demokratischen Institutionen dazu beitrugen, dass die Staatsverschuldung, die Steuerbelastung und die Zentralisierung langsamer zunahmen als in Deutschland. 2. Vergleiche von Parlaments- und Volksentscheiden

Parlamente und Regierungen entscheiden regelmässig anders, als die Bevölkerung. Das zeigt sich überall, wo Volksabstimmungen stattfinden, sei es in Kalifornien, Italien, Dänemark, auf kommunaler Ebene in Deutschland, oder bei den Abstimmungen in Bayern und Harnburg bezüglich der Stärkung der direkt-demokratischen Institutionen auf kommunaler Ebene. Vorschläge und Gesetze, die von Parlament und Regierung gutgeheissen werden, werden von den Wählern abgelehnt, und Vorschläge, die vom Parlament und der Regierung strikte abgelehnt werden, werden von den Wählern hoch angenommen. Illustrativ sind die schweizerischen Erfahrungen. Im Zeitraum von 1848 bis 1997 haben die Bürger allein auf eidgenössischer Ebene den Parlamentsvorschlag in über einem Viertel der obligatorischen Referenden (48 von 188) und über der Hälfte der fakultativen Referenden (66 von 128) abgelehnt und damit die Entscheidung des Parlaments revidiert. Zugleich hat die Bevölkerung 12 von 120 Initiativen angenommen und in 6 Fällen dem Gegenentwurf des Parlaments zugestimmt. Hinzu kommen 67 zustandegekommene Initiativen, die von den Initiatoren vor der Volksabstimmung zurückgezogen wurden, zumeist weil Regierung und Parlament unter dem Druck der Initiative entsprechende Änderungen selbst einleiteten. In all diesen Fällen haben die Bürger eine Veränderung erzwungen, die das Parlament zuvor nicht wünschte. Dass die Mehrheit der Bürger gewissermassen das Gegenteil von dem wünscht, was die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten und die Regierung wollen, ist also in der Schweiz keine Ausnahme, sondern an der Tagesordnung. Der Dissens beschränkt sich keineswegs auf unwichtige Vorlagen. Beispielsweise votierten Parlament und Regierung 1986 klar für einen Beitritt der Schweiz zur UNO und 1992 für einen Beitritt in den Europäischen Wirtschaftsraum EWR. Die Stimmbürger lehnten jedoch beide Vorlagen ab, erstere eindeutig (über 75% Ablehnung), letztere sehr knapp (50,3% Ablehnung). Gewichtige Unterschiede offenbaren sich auch bei Initiativen. Ein Beispiel ist die Abstimmung über eine Initiative für einen Verfassungsartikel zum Schutz des Alpenraumes vor dem Transitverkehr, die von Regierung

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und Parlament vehement abgelehnt, vom Volk aber knapp angenommen wurde (51,9% Zustimmung). Diese Verfassungsänderung verlangt, dass der Nord-Süd Transitverkehr durch die Alpen möglichst vollständig von der Strasse auf die Eisenbahn umgelagert wird. Damit erzwang sie die Einführung wirksamer Lenkungssteuern für den motorisierten Schwerverkehr. Oft lassen sich die Unterschiede zwischen Volk- und Parlaments- bzw. Regierungsentscheidung durch die unterschiedliche Interessenlage der Handlungsträger erklären. Dies trifft etwa auf die systematischen Unterschiede bei Abstimmungen über Steuererhöhungen zu. So lehnte die Bevölkerung zuerst drei Vorschläge der Regierung und des Parlaments ab, die frühere Warenumsatzsteuer durch eine Mehrwertsteuer zu ersetzen (1977, 1979 und 1991). Erst 1993 stimmte die Bevölkerung einem vierten Vorschlag zu. Ganz andere Interessen als die Bevölkerung hat das Parlament auch bei seinen eigenen Privilegien wie Hilfskräften, den Diäten und der Parteienfinanzierung. Deshalb wundert es kaum, dass die Stimmbürger 1992 zwei diesbezüglich sehr grasszügigen Regelungen, die vom Parlament mit grosser Mehrheit gefordert wurden, eine überaus klare Abfuhr (rund 70% Ablehnung) erteilten. Angesichts der grossen Differenzen zwischen Volk auf der einen und Regierung und Parlament auf der anderen Seite wird oft gefragt, wer denn nun klüger entscheidet. Diese Frage greift jedoch zu kurz. Zumeist ist auch aus wissenschaftlicher Sicht unklar, welche der zwei zur Auswahl stehenden Alternativen besser ist, da beide immer Vor- und Nachteile haben und die Umverteilungseffekte zumeist gewichtig sind. Entscheidend ist, dass in der Auseinandersetzung und im Prozess der oft wiederholten Ablehnung von Vorlagen durch die Bevölkerung das Parlament und die Regierung gezwungen werden, bessere Vorschläge auszuarbeiten. Die bereits erwähnten Vorlagen über die Mehrwertsteuer sind ein Beispiel für diesen fruchtbaren Lernprozess. Während das Parlament in den frühen Vorlagen mit der Einführung der moderneren, aus steuertheoretischer Sicht überlegenen Mehrwertsteuer auch immer gleich eine deutliche Steuererhöhung und andere bittere Pillen zu verabreichen suchte, brachte es 1993 zwei vernünftige und aufrichtige Vorlagen zur Abstimmung, eine für den Übergang zur Mehrwertsteuer und eine für eine leichte Steuersatzerhöhung, und hatte damit Erfolg. Ein anderes neueres Beispiel ist das Schicksal von drei Vorlagen zur Erneuerung der Landwirtschaftspolitik, die 1995 alle abgelehnt wurden, bereits 1996 in verbesserter Form aber vom Volk angenommen wurden. In diesen Beispielen kann kaum gesagt werden, ob die früheren Vorlagen besser waren als der damalige Status quo. Es dürfte aber ziemlich unumstritten sein, dass die überarbeiteten Vorlagen besser waren als die früheren. Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, dass mehrfach über die gleichen Themen abgestimmt werden kann. Nur so können die bedeutenden

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Lerneffekte, sowohl seitens des Parlaments und der Regierung w1e auch seitens der Bevölkerung, genutzt werden. Illustrativ für solche langfristigen Lerneffekte ist die Entwicklung des schweizerischen Drei-Säulen-Systems der Altersvorsorge (mit der staatlichen, auf dem Umlageverfahren beruhenden Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV), der obligatorischen, auf Kapitalbildung beruhenden beruflichen Vorsorge und der freiwilligen, steuerlich begünstigten Kapitalvorsorge). Während Kritiker der direkten Demokratie die sich "ewig hinziehenden" sog. AHV-Revisionen und Abstimmungen und Diskussionen um die berufliche Vorsorge als Versagen der direkten Demokratie interpretierten, betrachten heute die meisten Sozialversicherungsexperten das langsam gewachsene Drei-Säulen-System als vorbildlich - vorbildlich im Vergleich zu den "schnell" ausgebauten realen Altersvorsorgesystemen repräsentativer Demokratien wie Deutschland, Frankreich, den USA, usw. Rückblickend hat die "Langsamkeit" des Schweizer Volkes schon viele ordnungspolitische Sündenfälle "schneller" Politiker verhindert, so z. B. auch die Vorlagen für eine aktivistische Konjunkturpolitik 1975 oder eine staatlich subventionierte Innovationsrisikogarantieversicherung 1985. Die Bremswirkung dieser und vieler ähnlicher Referenden bestand rückblickend vor allem darin, dass Politiker gebremst wurden, ihnen gefälligen wissenschaftlichen Modeströmungen (etwa interventionistischen keynesianischen Ideen) zu folgen und aus heutiger Sicht wirtschaftlich falsch zu entscheiden. 3. Vergleiche innerhalb der Schweiz und den USA Die in den vorangegangenen zwei Abschnitten angeführte empirische Evidenz illustriert die Stärken der direkten Demokratie. Sie entspricht aber nicht den strengen Anforderungen an wissenschaftliche empirische Analysen. Es gibt jedoch eine wachsende Zahl von Arbeiten, die diese Anforderungen erfüllen und mit modernen statistischen Verfahren die Auswirkungen direkt-demokratischer Institutionen erforschen. Weil, wie oben argumentiert, Ländervergleiche für die hier interessierende Fragestellung wenig ergiebig sind, konzentrieren sich diese Arbeiten auf Vergleiche von Gebietskörperschaften, die unterschiedlich umfassende direkt-demokratische Institutionen aufweisen. So sind die Volksrechte in den verschiedenen Schweizer Kantonen und Städten genau so wie in den verschiedenen OS-Bundesstaaten und Verwaltungsbezirken (Counties) ganz unterschiedlich stark ausgebaut. Deshalb ist es möglich zu untersuchen, ob die Politik und die Politikergebnisse in Kantonen, Bundesstaaten, Städten und Counties mit vergleichsweise umfassenden direkt-demokratischen Institutionen besser, gleich oder schlechter sind als in solchen Einheiten mit vergleichsweise weniger stark ausgebauten direkt-demokratischen Institutionen.

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Folgendes Beispiel verdeutlicht das Vorgehen. Die Möglichkeiten der Bevölkerung, über Finanzentscheide der Parlamente eine Volksabstimmung zu verlangen, sind von Kanton zu Kanton unterschiedlich. In einigen Kantonen sind die Finanzkompetenzen des Parlaments ziemlich umfassend, d. h. das Parlament kann über hohe Ausgaben entscheiden, ohne dass Bürger ein Referendum verlangen können, in anderen Kantonen sind die Finanzkompetenzen des Parlaments hingegen stark eingeschränkt. Die Hypothese liegt nahe, dass die Ausgaben und schliesslich die Steuerbelastung in einem Kanton um so höher sind, je freier das Parlament über Ausgaben entscheiden kann, d. h. je höher die Finanzbeträge sind, über die es frei verfügen kann, ohne dass unzufriedene Bürger eine Volksabstimmung über den betreffenden Beschluss fordern können. Eine einfache Regressionsanalyse bestätigt den offensichtlichen Zusammenhang. So verfügen die Parlamente der vier Kantone mit der weitaus höchsten Steuerbelastung (Freiburg, Wallis, Neuenburg, Jura; Steuerbelastung gemessen als Summe der kantonalen und kommunalen Einkommens- und Vermögenssteuern sowie der kantonalen Motorfahrzeugsteuern) über ganz besonders hohe Finanzkompetenzen (gemessen als Ausgabenbetrag pro Einwohner, über den das Parlament ohne Referendumsdrohung entscheiden kann). Es kann nun argumentiert werden, dass die Steuerhöhe in einem Kanton noch von vielen andern Faktoren abhängt als der Finanzkompetenz des Parlaments, z. B. von der Grösse eines Kantons, vom Durchschnittseinkommen seiner Einwohner, von anderen Finanzierungsmöglichkeiten wie z.B. der Verschuldung, usw. Entscheidend ist deshalb, die verschiedenen möglichen Einflussfaktoren getrennt zu erfassen. Genau dazu dienen die modernen statistischen Verfahren, die sog. multiplen Regressionsanalysen. Heute existiert eine beachtliche Zahl von Untersuchungen, die mittels solcher Verfahren den Einfluss der direkten Demokratie auf verschiedene Politikvariablen und -ergebnisse messen. Dabei können wenigstens drei verschiedene Ebenen der Auswirkungen unterschieden werden: Auswirkungen auf die Finanzpolitik, Auswirkungen auf die Ergebnisse der Finanzpolitik, und Auswirkungen auf die Bürgerzufriedenheit Im folgenden wird eine kurze Übersicht über die verschiedenen Studien gegeben (vgl. dazu auch Feld und K.irchgässner 1999a). (1) Auswirkungen auf die Finanzpolitik

Die Zentralisierung in direkt-demokratischen Gebietskörperschaften scheint tatsächlich weniger ausgeprägt zu sein. Dies zeigen zum einen die bereits älteren Untersuchungen von Martin und Wagner (1978). Ihnen zufolge finden in US Bundesstaaten weniger Eingemeindungen statt, wenn über Eingemeindungen durch die Bürger mittels direkt-demokratischer Verfahren statt durch repräsentativ-demokratische oder bürokratische Verfahren

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entschieden wird. Die Studie von Matsusaka ( 1995) ergänzt und erweitert diese Ergebnisse. In Bundesstaaten, in denen die Bürger Initiativen auf der Staatenebene ergreifen können, sind die Gemeindeausgaben im Vergleich zu den Bundesausgaben gewichtiger. Zugleich bewirkt das Initiativrecht auf Staatenebene, dass die Staatsausgaben verstärkt durch die Erhebung von Gebühren und weniger durch Steuern finanziert werden. Zugleich sinkt das gesamte Staatsbudget, was auch durch Rueben (1999) bestätigt wird. Die Ausgaben sinken aber nicht in allen Budgetpositionen. Die Budgetstruktur ändert sich. Nach Santerre (1989) nehmen die Bildungsausgaben von amerikanischen Städten unter direkter Demokratie sogar zu. Feld (1995) kommt für Schweizer Kantone zu ähnlichen Ergebnissen. Einen positiven Zusammenhang zwischen Einfluss der Bürger und den Bildungsausgaben lässt auch die Studie von Landon (1998) vermuten, der eine Erhöhung der Bildungsausgaben durch stark dezentrale und individualistische Entscheidungsmechanismen findet. Direkt-demokratische Entscheidungen über die Budgetpolitik bewirken, dass haushälterischer mit den Mitteln umgegangen wird. Die Verschuldung sinkt stark (Kiewit und Szakaly 1996, für US Bundesstaaten; Feld und Kirchgässner 1999b, für Schweizer Städte), und die Selbstfinanzierungsquote steigt (wiederum Feld und Kirchgässner 1999b, für Schweizer Städte). Damit werden die Auswirkungen der direkten Demokratie auf die Steuerhöhe komplex und nicht mehr immer eindeutig: Während die Ausgaben insgesamt und damit auch die Steuern tendenziell sinken und die Gebührenfinanzierung zunimmt, was den Druck auf die Steuern weiter vermindert, wird gleichzeitig die Verschuldung stark vermindert und teils durch Steuererhebung ersetzt. Feld und Kirchgässner (1999b) finden deshalb einen positiven Zusammenhang zwischen direkt-demokratischer Entscheidung über das Budget und der Steuerhöhe. (2) Auswirkungen der Finanzpolitik

Die normative Wertung der bisher diskutierten Ergebnisse fällt nicht leicht. Zwar wird von Vertretern der Modemen Politischen Ökonomie (vgl. Frey und Kirchgässner 1994) zumeist vorausgesetzt, Dezentralisierung, tiefere Steuern, tiefere Staatsschulden und ein höherer Selbstfinanzierungsgrad seien positiv zu werten. Tatsächlich aber können unter bestimmten Bedingungen gerade hohe Steuern ein Zeichen für einen gut funktionierenden Staat sein: je besser der Staat die Präferenzen der Bürger erfüllt, desto grösser ist die Nachfrage nach Staatsleistungen, und desto höher könnten die Steuern werden. Entscheidend aus ökonomischer Sicht ist deshalb die Frage, ob direkte Demokratie die Effizienz erhöht. Tatsächlich deuten darauf schon Martin und Wagners (1978) frühe Ergebnisse hin: Direkt-demokratische Eingemeindungsentscheidungen führen zu einer Effizienzsteigerung, wohingegen repräsentativ-demokrati-

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sehe und bürokratische Eingemeindungsentscheidungen tendenziell die Effizienz mindern. Die immer noch sorgfältigste Analyse des Zusammenhangs der Effizienz öffentlicher Leistungen und direkt-demokratischer Entscheidungsfindung stammt von Pommerebne (1983). Ihm zufolge ist die Effizienz der Müllabfuhr von Schweizer Städten und Gemeinden um so höher, je direkt-demokratischer die Entscheidungstindung ist. Die Effizienz-gewinne scheinen sehr gross zu sein (um 20%), wesentlich grösser als die Gewinne durch private statt öffentliche Produktion. Diese Ergebnisse sind gut vereinbar mit der Untersuchung von Feld und Savioz (1997). Sie finden, dass die gesamtwirtschaftliche Produktivität in Schweizer Kantonen, in denen die Staatsbudgets und die Höhe der Steuern direkt-demokratisch festgelegt werden, um rund 5% höher ist als in den Kantonen, wo die Parlamente diese Entscheidungen treffen. (3) Höhere Bürgerzufriedenheit

Eine noch weitergehende Frage als die nach der Effizienz ist die Frage nach den Auswirkungen politischer Institutionen auf die Zufriedenheit der Bürger. Umfragen über die Zustimmung zur direkten Demokratie deuten darauf hin, dass die Bürger direkte Demokratie gegenüber repräsentativer Demokratie vorziehen (vgl. Cronin 1989). Auch die Ergebnisse von Abstimmungen über die Einführung oder Beschränkung direkt-demokratischer Rechte der Bürger bestätigt, dass die Bürger ein hohes Mass an direkter Demokratie wünschen. So wurden in den letzten Jahrzehnten in der Schweiz die direkte Demokratie durch Volksabstimmungen auf eidgenössischer und kantonaler Ebene substantiell ausgebaut? Die positive Wirkung der direkten Demokratie auf die Zufriedenheit der Bürger wird aber auch durch ökonometrische Studien bestätigt. Mit den Volksrechten sinkt die Steuerhinterziehung (Frey 1997, für Schweizer Kantone) und steigen die Bodenpreise (Santerre 1986, für US Counties). Sowohl Steuerhinterziehung wie Bodenpreise sind gute Indikatoren für Zufriedenheit. Denn dort, wo der Staat gut funktioniert, zahlen die Leute weniger ungern Steuern, und dort wollen sie wohnen - was die Bodenpreise steigen lässt. Stutzer-Staub und Frey (1998) schliesslich finden in einer ganz neuen Studie einen positiven Zusammenhang zwischen dem Ausmass verschiedenster Aspekte der direk3 In der Schweiz gibt es zwar ab und zu Abstimmungen, in denen sich die Bürger selbst Beschränkungen ihrer demokratischen Rechte auferlegen, allerdings auf einem sehr hohen Niveau direkt-demokratischer Rechte. So wurden im Kanton Zürich (mit 1,2 Mio Einwohnern) kürzlich durch einen Volksentscheid das obligatorische Referendum für Entscheide des Kantonsparlaments über einmalige Ausgaben über SFr. 2 Mio durch ein fakultatives Referendum für einmalige Ausgaben über SFr. 3 Mio. (und wiederkehrenden Ausgaben über SFr. 300000) ersetzt. Eine Volksabstimmung findet nun statt, wenn dies 5000 Bürger oder ein Viertel der Parlamentsmitglieder wünschen.

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ten Demokratie und der direkt durch Umfragen erhobenen Zufriedenheit der Bürger. (4) Interpretation

Die angeführten empirischen Studien ergeben zusammen ein recht konsistentes Bild. Zwar muss jede einzelne Studie vorsichtig interpretiert werden. Zugleich gilt es zu bedenken, dass das Ausmass direkter Demokratie in den Studien unterschiedlich operationalisiert wird. In ihrer Gesamtheit sind sie jedoch ein eindrücklicher Hinweis auf die vorteilhaften Eigenschaften direkter Demokratie und unterstützen die oben angestellten theoretischen Überlegungen. Zu betonen ist insbesondere, dass es kaum ernstzunehmende empirische Studien gibt, die für die direkte Demokratie negative Ergebnisse finden. Die wenigen Ausnahmen (etwa Zax 1989) werden durch spätere, verbesserte Untersuchungen widerlegt. Sicher haben sich viele Leser gefragt, wie gross denn die verschiedenen gemessenen Effekte etwa auf die Verschuldung, die Steuern, die Budgets, die Zufriedenheit usw. sind. Die Ergebnisse der verschiedenen Studien wurden zumeist nicht angeführt, weil sie die tatsächlichen Effekte wohl zumeist unterschätzen. Dies aus zwei Gründen: Die empirischen Studien beruhen auf Vergleichen ähnlicher, miteinander konkurrierende Gebietskörperschaften. Wenn nun die Effizienz in vergleichsweise direkt-demokratischen Gebietskörperschaften höher ist, weil die direkte Demokratie den Spielraum der Regierungen einschränkt, werden über den Wettbewerb zwischen den verschiedenen Gebietskörperschaften auch die Regierungen der vergleichsweise wenig direkt-demokratischen Körperschaften gezwungen, verstärkt auf die Präferenzen der Bürger einzugehen. Wenn direkte Demokratie zu effizienzsteigemden Innovationen führt, können diese auch in anderen Gebietskörperschaften genutzt werden. Die angeführten empirischen Studien erfassen nur die nach den durch den föderalistischen Wettbewerb erzwungenen Anpassungen verbleibenden Unterschiede. Die für alle Gebietskörperschaften vorteilhaften Niveaueffekt erfassen sie nicht. Zweitens erfassen gerade Studien, die viele Einflussfaktoren konstant zu halten vermögen, die oft wichtigen indirekten Effekte nicht. Beispielsweise erfasst Pommerebne (1983) die indirekten Effekte direkt-demokratischer Entscheidungsfindung auf die Effizienz der Müllabfuhr über die Entscheidung, die Müllabfuhr privat oder öffentlich zu organisieren, nicht, gerade weil seine statistischen Verfahren den Einfluss der direkten Demokratie und der privatwirtschaftliehen Organisation zu trennen vermögen. Ähnlich erfassen Feld und Savioz (1997) die indirekten Effekte direkter Demokratie auf die wirtschaftliche Leistungsfahigkeit einer Volkswirtschaft über die Erhöhung der Ressourcenausstattung nicht, gerade weil ihre statistischen Verfahren den Einfluss direkter Demokratie und der Ressourcenausstattung trennen können.

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V. Schlussfolgerungen

Die direkte Demokratie stärkt den politischen Wettbewerb, indem sie Wettbewerb zwischen Ideen und Vorschlägen schafft. Damit steht sie gleichwertig neben der repräsentativen Demokratie (Wettbewerb zwischen Parteien) und dem Föderalismus (Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften). Je umfassender und intensiver der politische Wettbewerb ist, desto stärker entsprechen die Staatsleistungen den Wünschen der Bürger. Direkte Demokratie verhindert ein .,Kartell der Politiker", die oft gleichlaufende Interessen haben, z. B. zumeist an intensiver Regulierung und einem grossen Budget interessiert sind. Sie ermöglicht glaubwürdige Politikangebote, weil Sachvorlagen immer weit besser ausformuliert und bindender sind als Wahlversprechen. Direkte Demokratie schafft schliesslich eine intensive, öffentliche politische Diskussion, die neue Information und Problemlösungen generiert. Dadurch wird die schädliche Asymmetrie zwischen den gut organisierten Interessengruppen (deren Mitglieder besser informiert sind und die Einhaltung von Wahlversprechen besser kontrollieren und sanktionieren können) und den schlecht organisierten Konsumenten und Steuerzahler gemindert. Direkt-demokratische Politik ist deshalb tendenziell liberaler als repräsentativ-demokratische Politik, die stärker von Interessengruppen beeinflusst ist, welche für vielerlei Regulierungen eintreten, die ihnen Vorteile verschaffen. Direkte Demokratie stärkt auch den föderalistischen und den repräsentativ-demokratischen Wettbewerb. Während Regierungen den föderalistischen Wettbewerb zu unterwandern versuchen (Steuerharmonisierung, Finanzausgleich, Politikkoordination, usw.) und Markteintrittsschranken für neue Parteien und Politiker aufbauen, treten die Bürger für starke Dezentralisierung und wirkungsvollen Parteienwettbewerb ein. Direkte Demokratie ist überall möglich und vorteilhaft: In kleinen und grossen Staaten, in Staaten ohne alte demokratische Traditionen, auf lokaler und zentraler Ebene. Die oft gegen direkte Demokratie angeführten Behauptungen (Überforderung der Wähler, starker Interessengruppeneinfluss, tiefe Stimmbeteiligung, usw.) sind falsch. Dies zeigt eine vergleichende Analyse direkter und repräsentativer Demokratie. Trotz ihrer grossen gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Vorteile stösst die direkte Demokratie auf den Widerstand der Regierenden und vieler gut organisierter Interessengruppen - den Profiteuren des heutigen repräsentativen Systems. Direkte Demokratie wirkt sich positiv auf die Staatsfinanzen und die Wirtschaft aus. Das belegen wissenschaftliche Vergleiche von Gebietskörperschaften mit unterschiedlich umfassenden direkt-demokratischen Institutionen, insbesondere Schweizer Kantonen und Städten, aber auch amerikanische Bundesstaaten und Counties. Diese Studien können dank moderner

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statistischer Verfahren den Einfluss der direkten Demokratie getrennt von den vielen anderen Einflussfaktoren erfassen. Die vorteilhaften Wirkungen der direkten Demokratie auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik lässt sich auch anband vieler Beispiele von Referenden und Initiativen in der Schweiz nachvollziehen. Wiederum wirkt sich die direkte Demokratie nicht nur "direkt" vorteilhaft auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik aus, sondern auch "indirekt", indem sie den Föderalismus stärkt und es den Bürgern ermöglicht, gegen den Willen von Regierung und Parlament kluge finanzpolitische Institutionen festzulegen (z. B. zeitlich beschränkte Steuergesetzgebung). Direkte Demokratie ist aber nicht gleich direkter Demokratie. Dies gilt es unbedingt zu beherzigen. Die Entscheidungen der Bürger müssen für die Regierungen bindend sein. Ansonsten haben Referenden kaum Einfluss. Quoren für Zustimmung und Beteiligung schwächen die Wirksamkeit stark ein. Bei hohen Quoren ist es für die Regierung und die Parlamentsmehrheit nur vernünftig, die öffentliche Diskussion möglichst zu verweigern und so die Aufmerksamkeit weg von den Referenden zu lenken. Dadurch sinkt die Wahlbeteiligung, wodurch schliesslich die Quoren nicht mehr erreicht werden können. Auch die Unterschriftenerfordernisse für Referenden und Initiativen sollten möglichst tief sein. Nur so kann der direkt-demokratische Prozess auch für schwach organisierte Gruppen offen gehalten werden. Schliesslich sollten die direkt-demokratischen Instrumente möglichst umfassend sein und sich unbedingt auch auf Ausgaben- und Steuerentscheidungen erstrecken. Trotz der hier vorgetragenen Argumente für eine möglichst umfassende direkte Demokratie bleibt es selbstverständlich, dass nicht über jede noch so kleine und unwichtige Entscheidung des Parlaments oder der Regierung abgestimmt werden kann, genau so wie in grossen staatlichen Einheiten nicht ein einzelner Bürger eine Volksabstimmung verlangen kann. So krankt etwa die kalifornisehe direkte Demokratie daran, dass zu viele Abstimmungen am gleichen Termin stattfinden, wodurch eine vernünftige öffentliche Diskussion erschwert wird. Wenn aber nicht die "totale direkte Demokratie" ideal ist, muss so etwas wie ein Grad optimaler direkter Demokratie existieren. Wieviel direkte Demokratie ist aber optimal? Die vorteilhafte Ausgestaltung der direkt-demokratischen Institutionen ist für jeden Staat, jedes Land und jede Gemeinde unterschiedlich, und ändert sich mit der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Entwicklung. Deshalb ist es entscheidend, dass die genaue Ausgestaltung der direktdemokratischen Institutionen jeder politischen Körperschaft unterschiedlich sein kann. So braucht es keinesfalls generelle Vorschriften für die Höhe der Unterschriftenquaren oder die Höhe der Finanzkompetenzen der Parlamente. Vielmehr sollte die Festlegung der politischen Entscheidungsregeln

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den Bürgern der jeweiligen Körperschaften überlassen werden. Alleine die Bürger - nicht die Politiker - sollten befugt sein, über die genaue Ausgestaltung ihrer direkt- und repräsentativ-demokratischen politischen Institutionen zu entscheiden, d. h. sie zu erweitern oder einzuschränken. Literatur Blankart, Beat (1998): Zur Politischen Ökonomie der Zentralisierung der Staatstätigkeit. Diskussionspapier 108, Humboldt-Universität zu Berlin. - Brennan, Geoffrey und Loren Lomasky (1993): Democracy and Decision: The Pure Theory of Electoral Preference. Cambridge: Cambridge University Press. -Butler, David und Austin Ranney (Hrsg.) (1994): Referendums around the World: The Growing Use of Direct Democracy. Washington: AEI Press. - Cronin, Thomas E. (1989): Direct Democracy. The Politics of Initiative, Referendum and Recall. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. - Eichenberger, Reiner (1998a): Direkte Demokratie: Erfolgsmodell mit grosser Zukunft. Schweizer Monatshefte 78 (September): 18 - 20. - Eichenberger, Reiner (1998b): Der Zentralisierung Zähmung. In Christoph Engel und Martin Morlock (Hrsg.): Öffentliches Recht als Gegenstand ökonomischer Forschung. Tübingen: Mohr (Siebeck): 157 - 171. - Eichenberger, Reiner und Felix Oberholzer-Gee (1998): Rational Moralists: The Role of Fairness in Democratic Economic Politics. Public Choice 94: 191 - 210. - Feld, Lars P. (1995): Formal Fiscal Restraints or Direct Democracy: Looking for Effective Means of Fiscal Control. Mimeo. Universität St. Gallen. - Feld, Lars P. und Gebhard Kirchgässner (1999a): Die politische Ökonomie der direkten Demokratie: Eine Übersicht. In Wolfgang Luthard und Arno Waschkuhn (Hrsg.): Politische Systeme und Direkte Demokratie. München: Oldenbourg (erscheint demnächst). - Feld, Lars P. und Gebhard Kirchgässner (1999b): Public Debt and Budgetary Procedures: Top down or Bottom Up? Some Evidence from Swiss Municipalities. In James M. Poterba und Jürgen von Hagen (Hrsg.), Fiscal Institutions and Fiscal Performance. Chicago: Chicago University Press (erscheint demnächst). - Feld, Lars P. und Marcel R. Savioz (1997): Direct Democracy Matters for Economic Performance: An Empirical Investigation. Kyklos 50: 507 - 538. - Frey, Bruno S. (1997): A Constitution for Knaves Crowds Out Civic Virtues. Economic Journal 107: 1043 - 1053. - Frey, Bruno S. (Hrsg.) (1997): Political Business Cycles. Cheltenham: Elgar. - Frey, Bruno S. und Gebhard Kirchgässner (1993): Diskursethik, Politische Ökonomie und Volksabstimmungen. Analyse und Kritik 15: 129- 149. - Frey, Bruno S. und Gebhard Kirchgässner (1994): Demokratische Wirtschaftspolitik. 2. Aufl. München: Vahlen. - Frey, Bruno S. und Lorenz Götte (1998): Does The Popular Vote Destroy Civil Rights? American Journal of Political Science 42: 1343 - 1348. - Gamble, Barbara S. (1997): Putting Civil Rights to a Popular Vote. American Journal of Political Science 41: 245 - 269. - Grofman, Bernard (Hrsg.) (1995): Information, Participation and Choice. An Economic Theory of Democracy in Perspective. Ann Arbor: The University of Michigan Press.- Grossman, Philip J. und Edwin G. West (1994): Federalism and the Growth of Government Revisited. Public Choice 79: 19- 32. - Kiewit, D. Roderick und Kristin Szakaly (1996): Constitutional Limitations on Borrowing: An Analysis of State Bonded Indebtedness. Journal of Law, Economics and Organization 12: 62- 97. - Kleinewefers, Henner (1997): Die direk-

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Verzeichnis der Autoren Dr. Konrad Adam Frankfurter Allgemeine Zeitung Prof. Dr. Hans Herbert von Amim Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungslehre, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Gerhard Banner Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Vorstand a. D. der Kommunalen Gemeinschaftsstelle (KGSt) Dr. Karl-Heinz Däke Präsident des Bundes der Steuerzahler Prof. Dr. Reiner Eichenherger Fachbereich Finanzwissenschaft, Universität Fribourg (Schweiz) Prof. Dr. Cay Folkers Lehrstuhl für Finanzwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum Thomas Mayer Geschäftsführer von Mehr Demokratie e. V., München Prof. Dr. Martin Morlok Direktor des Instituts für Deutsches und Europäisches Parteienrecht, FernUniversität Hagen Prof. Dr. Kar/ Albert Schachtschneider Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Manfred G. Schmidt Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen Prof. Dr. Fritz Vilmar Fachbereich Politische Wissenschaft, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Robert K. von Weizsäcker Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Universität Mannheim, und CEPR (London) Prof. Dr. Elmar Wiesendahl Universität der Bundeswehr München

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