300 Jahre "Essais de Théodicée" - Rezeption und Transformation 3515103104, 9783515103107

Warum das Böse? Mit keiner geringeren Frage als der Rechtfertigung eines Gott genannten allmächtigen, allwissenden und a

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300 Jahre "Essais de Théodicée" - Rezeption und Transformation
 3515103104, 9783515103107

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
EINFÜHRUNG
DER RATIONALE KERN DER THEODIZEE
SCHWIERIGKEITEN MIT DEM OPTIMISMUS − EINIGE HINWEISE ZUR REZEPTION DES THEODIZEEGEDANKENS IM DEUTSCHEN 18. JAHRHUNDERT
LA CONTROVERSE ENTRE G. W. LEIBNIZ ET P. BAYLE SUR LE DOUBLE PRINCIPE DU MANICHÉISME
„POLITISCHE THEODIZEE“ – LEIBNIZ’ KONTROVERSE MIT PUFENDORF
ISRAEL GOTTLIEB CANZ’ GNADENTHEOLOGISCHE HERMENEUTIK UND LEIBNIZ’ DISCOURS DE LA CONFORMITÉ DE LA FOI AVEC LA RAISON
MOSES MENDELSSOHNS SACHE GOTTES – EINE JÜDISCHE THÉODICÉE? EINE SPÄTE KRITIK AN MENDELSSOHNS HERAUSGEBER LEO STRAUSS
DIE RATIONALISTISCHE REDUKTION DES PHYSISCHEN ÜBELS BEI LEIBNIZ
JOACHIM BÖLDICKE −THEODIZEE UND NARRATIVITÄT
THEODIZEEGEDANKE UND DESAVOUIERUNG DER ZUFÄLLIGKEIT – MIT BESONDEREM BEZUG AUF JEAN PAUL
ÄSTHETISCHE THEODIZEE −ÜBERLEGUNGEN ZUM PROBLEM DER DARSTELLUNG IN DER THEODIZEE
KANTS KRITIK DER THEODIZEE – EINE METAKRITIK
JOB AU SIECLE DES LUMIERES − VOLTAIRE ET LA CRISE DE LA THEODICEE
MAUPERTUIS ET LE SYSTÈME LEIBNIZIEN DES ESSAIS DE THÉODICÉE
CHARLES BONNET ET L’IMMORTALITÉ DES VIVANTS SELON LES ESSAIS DE THÉODICÉE
PHYSIOLOGIE DE LA THÉODICÉE −LES ESSAIS DE THÉODICÉE DANS LE DÉBAT SUR L’ORIGINE DE L’ÂME ET LA GÉNÉRATION DES CORPS, À L’OCCASION DES ANONYMI DILUCIDATIONES (1738–1751)
VON DER „DOCTRINALEN“ ZUR „AUTHENTISCHEN“ THEODIZEE − AUSGÄNGE AUS DER THEODIZEE VON LEIBNIZ ERÖFFNET VON HEGELS SPEKULATIVER GOTTESMYSTIK IN DER PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES
LEIBNIZ AND WILLIAM JAMES’S PHILOSOPHIC OPTIMISM
LEIBNIZ ALS „HALBER CHRIST“ – LUDWIG FEUERBACHS KRITIK DER THEODIZEE
DIE LEIBNIZ’SCHE THEODIZEE IN DER PROTESTANTISCHEN THEOLOGIE DES 20. JAHRHUNDERTS
THEODIZEE NACH AUSCHWITZ −VERSUCH ÜBER DIE WAHRUNG DES MENSCHLICHEN LEBENSSINNS
PERSONENREGISTER

Citation preview

Wenchao Li / Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.) 300 Jahre Essais de Théodicée – Rezeption und Transformation

studia leibnitiana supplementa Im Auftrage der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft e.V. herausgegeben von Herbert Breger, G. H. R. Parkinson, Heinrich Schepers und Wilhelm Totok In Verbindung mit Michel Fichant, Emily Grosholz, Nicholas Jolley, Klaus Erich Kaehler, Eberhard Knobloch, Massimo Mugnai, Pauline Phemister, Hans Poser, Nicholas Rescher, André Robinet, Martin Schneider und Catherine Wilson Band 36

Wenchao Li / Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.)

300 Jahre Essais de Théodicée – Rezeption und Transformation

Franz Steiner Verlag

Die Tagung wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die Fritz Thyssen-Stiftung Gedruckt mit Unterstützung der Leibniz-Stiftungsprofessur der Leibniz Universität Hannover und der Landeshauptstadt Hannover

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10310-7

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort .................................................................................................................... 7 WENCHAO LI (Hannover/Potsdam) / WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN (Berlin) Einführung ....................................................................................................... 9 HEINRICH SCHEPERS (Münster) Der rationale Kern der Theodizee .................................................................. 23 STEFAN LORENZ (Münster) Schwierigkeiten mit dem Optimismus − Einige Hinweise zur Rezeption des Theodizeegedankens im deutschen 18. Jahrhundert. Mit einem Anhang zu heterodoxen Konsequenzen des metaphysischen Optimismus: Anonymi Dubia circa existentiam Dei orta.............................. 37 BRIGITTE SAOUMA (Paris) La Controverse entre G. W. Leibniz et P. Bayle sur le Double Principe de Manichéisme ........................................................ 71 LUCA BASSO (Padua) „Politische Theodizee“ − Leibniz’ Kontroverse mit Pufendorf..................... 87 HANNS-PETER NEUMANN (Halle/Berlin) Israel Gottlieb Canz’ gnadentheologische Hermeneutik und Leibniz’ Discours de la conformité de la foi avec la raison ........................................ 97 URSULA GOLDENBAUM (Atlanta, GA) Moses Mendelssohns Sache Gottes – eine jüdische Théodicée? Eine späte Kritik an Mendelssohns Herausgeber Leo Strauss ..................... 115 JUAN A. NICOLÁS (Granada) Die rationalistische Reduktion des physischen Übels bei Leibniz .............. 137 MARTIN A. VÖLKER (Berlin) Joachim Böldicke − Theodizee und Narrativität ......................................... 149 EUGENIO SPEDICATO (Pavia) Theodizeegedanke und Desavouierung der Zufälligkeit – mit besonderem Bezug auf Jean Paul .......................................................... 171

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Inhaltsverzeichnis

UWE STEINER (Houston, TX) Ästhetische Theodizee – Überlegungen zum Problem der Darstellung in der Theodizee ................... 189 HUBERTUS BUSCHE (Hagen) Kants Kritik der Theodizee – Eine Metakritik............................................. 231 ROBERTO CELADA BALLANTI (Gênes) Job au Siècle des Lumières − Voltaire et la Crise de la Théodicée ............. 271 CHRISTIAN LEDUC (Heidelberg/Montréal) Maupertuis et le système leibnizien des Essais de Théodicée ..................... 285 FRANÇOIS DUCHESNEAU (Montréal) Charles Bonnet et l’immortalité des vivants selon les Essais de Théodicée ...................................................................... 299 ARNAUD PELLETIER (Hannover) Physiologie de la Théodicée − Les Essais de Théodicée dans le débat sur l’origine de l’âme et la génération des corps, à l’occasion des Anonymi Dilucidationes (1738–1751) ................................................... 321 KURT APPEL (Wien) Von der „doctrinalen“ zur „authentischen“ Theodizee − Ausgänge aus der Theodizee von Leibniz eröffnet von Hegels spekulativer Gottesmystik in der Phänomenologie des Geistes .................. 343 JAIME DE SALAS (Madrid) Leibniz and William James’s Philosophic Optimism .................................. 371 WENCHAO LI (Hannover/Potsdam) Leibniz als „halber Christ“ – Ludwig Feuerbachs Kritik der Theodizee .................................................... 383 WALTER SPARN (Erlangen) Die Leibniz’sche Theodizee in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts ..................................................................................... 397 VOLKER GERHARDT (Berlin) Theodizee nach Auschwitz − Versuch über die Wahrung des menschlichen Lebenssinns ........................ 445

Personenregister ................................................................................................... 471

VORWORT Der vorliegende Band geht auf ein internationales Symposium zurück, das anlässlich des 300-jährigen Erscheinens von G. W. Leibnizens Essais de Théodicée vom 8. bis 11. Oktober 2010 in Berlin stattfand. Die Veranstalter der Tagung waren die Leibniz-Edition Potsdam der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), das Interdisziplinäre Zentrum „Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit“ der Freien Universität (FU) Berlin, das Institut für Philosophie der FU Berlin, die Leibniz-Stidftungsprofessur der Leibniz Universität Hannover und die Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft. Für die großzügig gewährte Förderung danken die Veranstalter der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Fritz Thyssen-Stiftung. Stellvertretend für die vielen Helferinnen und Helfer sei Catharina Richter (Berlin), Nora Pagel (Potsdam/Berlin) und Birte Bogatz vom Referat Information und Kommunikation der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gedankt. In den Dank eingeschlossen sind ferner Simona Noreik, Janina Schmiedel, Arnaud Pelletier (alle Hannover) und Stefanie Ertz (Potsdam) für vielfältige Hilfe. Die Drucklegung wurde ermöglicht durch einen Zuschuss der LeibnizStiftungsprofessur.

Berlin/Hannover/Potsdam, im Oktober 2012

Die Herausgeber

EINFÜHRUNG Wenchao Li (Hannover/Potsdam) / Wilhelm Schmidt-Biggemann (Berlin)

Si deus est, unde malum? Mit keiner geringeren Frage als der Rechtfertigung eines Gott genannten allmächtigen, allwissenden und allgütigen Wesens angesichts der unbestreitbaren Existenz der Übel in der von ihm geschaffenen Welt setzten sich Gottfried Wilhelm Leibnizens im Jahre 1700 auf Französisch veröffentlichte und kurz nach deren Erscheinen mehrmals ins Deutsche und ins Lateinische übersetzte Essais de Théodicée sur la bonté de dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal auseinander. Alt-bekannt war die Frage, modern-innovativ waren hingegen die in den Essais angebotenen Lösungsansätze. Es handelte sich um ein ebenso populäres wie umstrittenes Werk. Auf der einen Seite hat die Theodizee mehr als ein halbes Jahrhundert lang das europäische, zumal das deutsche Harmonieverständnis von Gott und Welt, Mensch und Natur, Glaube und Vernunft, Wissenschaft und Religion weit über die Grenzen der Theologie und Philosophie hinaus entscheidend geprägt; auf der anderen Seite hat sie ihrem Autor bis in die Gegenwart hinein manchen Spott eingebracht. Der Titel 300 Jahre Essais de Théodicée soll keine falsche Kontinuität suggerieren, zumal die Grundlage dessen, was die Leibniz’sche Theodizee mit ihren christlich-theologischen wie rational-philosophischen Implikationen bedeutet, der Gegenwart nicht mehr sonderlich gegenwärtig ist. Gleichwohl stellt sich nach wie vor die Frage: (Si deus [non] est,) unde malum? Dass die Leibniz’sche Theodizee in ihrer 300-jährigen Rezeption mehr Widerspruch als Zustimmung erfuhr und einer Kette von Missverständnissen ausgesetzt war, sei unter anderem darauf zurückzuführen, so Heinrich Schepers (Münster) in seinem den vorliegenden Band eröffnenden Beitrag, dass Leibniz seine Metaphysik, die die Grundlage seiner Theodizee war, nicht hinreichend bekannt gemacht habe bzw. habe machen wollen. Der Fortschritt der Editionsarbeit an der Akademieausgabe der Sämtlichen Schriften und Briefe habe inzwischen einen großen Teil von Leibnizens, seinen Zeitgenossen und späteren Rezipienten unbekannt gebliebenen, Nachlass kritisch gesichtet und historisch-kritisch aufbereitet, so „können und müssen wir uns an die Aufgabe machen, seine Theodizee neu zu lesen“ (S. 23). Sorgfältig arbeitet Schepers die Grundprinzipien, deren sich die Leibniz’sche Theodizee bedient, heraus, auch um zu zeigen, dass Leibniz seine Argumentation nicht auf Tatsachen stütze und „deshalb auch nicht mit Tatsachen, so auch nicht mit dem Erdbeben von Lissabon, zu widerlegen“ (S. 23) sei. So

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kann Schepers überzeugend vorführen, dass Leibniz’ rationale Lösung des Theodizeeproblems überraschend „einfach“ sei, „sobald man sich auf seine Definitionen und Prinzipien einlässt“ (S. 29). Allerdings muss auch Schepers einräumen, dass Leibniz mit seinem dogmatischen Rationalismus dem Zeitalter der Vernunft zugehöre. „Unsere Rationalität geht andere Wege“ (S. 34). Dass Leibniz selbst „keine umfassende und eingehendere Darstellung seiner der Theodizee zugrunde liegenden Metaphysik“ vorgelegt hat, so auch Stefan Lorenz (Münster), habe unter anderem dazu geführt, dass die Theodizee zu einer „Innovation mit einer Fülle von Folgelasten“ (S. 41) geworden sei. Sie wurde von den Zeitgenossen als „Zumutung“ empfunden, jedoch nicht nur, weil die Erfahrungen der Leibniz’schen Theodizee vehement zu widersprechen scheinen, sondern auch, weil ihr „rationaler Kern“ Schwierigkeiten für Philosophie wie Theologie aufwirft. Dass Gott lediglich unter ihm ontisch vorgeordneten Möglichkeiten zu wählen habe – wenn auch die bestmögliche – und dabei nicht anders handeln könne, als das Übel zuzulassen, scheine auf der einen Seite seine Allmacht „im Vollsinne“ (S. 37) in Frage zu stellen und drohe auf anderer Seite aus dem frei entscheidenden Schöpfer einen bloßen Demiurgen werden zu lassen, „der dann aber im Übrigen mit dem schon von Schöpfung an bestimmten Weltlauf nichts mehr zu tun habe, in ihn nicht mehr eingreife und sich so der Möglichkeit begebe, Wunder zu wirken oder providentiell zu handeln und folglich nicht Gott im Vollsinn zu sein“ (S. 38). Lorenz zeichnet in seinem umfangreichen Beitrag ein kritisches Panorama derjenigen Möglichkeiten auf, die Leibniz’ Zeitgenossen und seine Nachwelt hatten, sich der innovativen Herausforderung der Theodizee gegenüber zu verhalten. Diese reichten von theologisch und philosophisch motivierter Ablehnung über die Popularisierung der Theodizeegedanken bis zu deren Apologie durch Einbindung in die Tradition. Besondere Aufmerksamkeit widmet Lorenz zum Schluss seines Beitrages der wohl vor 1736 entstandenen Abhandlung eines Anonymus über die Existenz Gottes, der Dubia Anonymi circa existentiam Dei (S. 60–70 mit einer deutschen Übersetzung), und thematisiert so exemplarisch die Zweischneidigkeit einer Leibniz’schen Anwendung formalisierter Methoden auf dem Gebiet der Theologia Naturalis, zumal auf dem des Optimismus. Die Prämissen dieses Optimismus und weitere Konsequenzen stritten jedoch „dergestalt mit den klassischen Attributen Gottes, dass er nicht mehr als Gott im emphatischen Sinne anzusprechen sei und daraus als Konsequenz die Notwendigkeit der Gottesleugnung folge“. Der größte Teil der Theodizee verdankt seine Entstehung Leibnizens Gesprächen mit der Kurfürstin und der späteren Königin von Preußen, Sophie Charlotte, am Berliner Hof (Theodizee, Vorrede, GP VI, 38–48). Anlass waren Leibniz zufolge oft Pierre Bayles Schriften, allen voran dessen Dictionnaire historique et critique (Rotterdam 1695–1697) und die Réponses aux questions d’un provincial (Rotterdam 1704–1707). Mit Bayles theologischen und philosophischen Thesen setzt sich Leibniz eingehend im II. Teil der Theodizee (§§ 107–135; GP VI, 162– 189) auseinander. Einen wichtigen Punkt bildet Leibniz’ Kritik an Bayles Dogmengeschichte des Bösen. Um zu demonstrieren, dass sich die Einwände der Vernunft gegen die Mysterien des Glaubens nicht widerlegen ließen – jedoch nicht

Einführung

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um einem Atheismus das Wort zu reden, sondern um die mangelnde Reichweite der menschlichen Vernunft in Glaubensfragen aufzuzeigen –, erklärt Bayle in den Artikeln wie „Manichéens“, „Paulicéens“ und „Melissus“ im Dictionnaire historique et critique z. B. die These für plausibel, dass es zwei voneinander unabhängige Grundprinzipien gebe, das des Guten und das des Bösen. Leibniz ordnet diesen Dualismus in die Religionsgeschichte des Manichäismus ein und setzt seine Erklärung des Übels dagegen. Mit der Bayle-Leibniz’schen Manichäismuskontroverse setzt sich Brigitte Saouma (Paris) auseinander. Gegen Bayles Theologie, die Gott absolute Wahlmöglichkeiten zubilligt, setzt Leibniz in seiner Theodizee einen Gott, der das Beste wählt (Theodizee, II. Teil, § 110; GP VI, 163). Denn nach Leibniz – darin sieht er eine entscheidende Differenz seiner Theorie zu jedweder Lehre, die die Gerechtigkeit aus dem göttlichen Willen entspringen lässt – gründen die ewigen Wahrheiten in Gottes Verstand und nicht in seinem Willen (Theodizee, II. Teil, §§ 183, 176; GP VI, 224–226, 219). Die politischen Implikationen eines solchen Gottesbegriffs der Theodizee bei Leibniz diskutiert Luca Basso (Padua), indem er hier nochmals die Rolle des Naturrechts in der Kontroverse zwischen Leibniz und Samuel Pufendorf beleuchtet. Nach Basso haben Leibniz und Pufendorf „zwei ganz verschiedene Konzeptionen des Naturrechts“ vorgelegt. Während Pufendorf eine Verbindung zwischen Theologie und Politik ablehne und das Recht iuxta propria principia begründe, strebe Leibniz nach einer engen, jedoch nicht unproblematischen und nicht unmittelbaren, „politischen“ Verbindung von Theologie, Philosophie und Naturrecht“ (S. 90). Den Grund für diese Verbindung sieht Basso in Leibnizens Begründung der Gerechtigkeit Gottes im Naturrecht, denn der Begriff der Gerechtigkeit hänge weder vom Willen Gottes noch von seiner Allmacht ab, sondern sei ein Ausdruck seiner höchsten Weisheit. Pufendorfs „voluntas divina“ (und dem Hobbes’schen Satz „auctoritas, non veritas facit legem“) setze Leibniz die „sapientia divina“ entgegen (S. 91). Freilich muss Basso zum Schluss zu bedenken geben, dass für „heute“ viele Probleme offen bleiben müssen: Die Leibniz’sche Verbindung zwischen Theologie, Vernunft und Naturrecht hat nicht die Existenz Gottes zur Grundlage, sondern auch die Rationalität der Geschichte. Eine rationale Theodizee müsse, Theodor W. Adorno folgend (S. 95–96), den Bezug auf die Wirklichkeit nehmen können, und „es ist zu fragen, wie die gesellschaftliche [menschliche] Dimension des Bösen in solcher Perspektive verstanden werden kann“. Mit Israel Gottlieb Canz, einem bisher kaum in der Forschung beachteten Vertreter des frühen Tübinger Leibniz-Wolffianismus, zu dem auch Georg Bernhard Bilfinger und Gottfried Ploucquet zählten, beschäftigt sich Hanns-Peter Neumann (Halle/Berlin). Schon während seines Theologiestudiums zeigte sich Canz von der Leibniz-Wolffschen Philosiophie tief beeindruckt. Er war davon überzeugt, dass sie als rationale, wissenschaftliche Methode auch die Theologie auf argumentativ hohes Begründungsniveau zu heben vermochte. In seinem 1728 erschienenen Werk Philosophiae Leibnitianae et Wolffianae usus in theologia, per praecipua fidei capita verwandte Canz die Prinzipien der Leibniz-Wolffschen Philosophie nicht nur dafür, die Hauptpunkte des christlichen Glaubens more geometrico, auf der Grundlage klarer, distinkter Definitionen darzustellen. Im vor-

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angestellten „Discursus praeliminaris de rationis cum revelatione harmonia legitimoque eiusdem in theologia usu“ konzipierte Canz auch eine theologische Hermeneutik, in der er von einem sich in unterschiedlichen Graden vollziehenden und auf diversen Erkenntnisniveaus ausdrückenden Synergieeffekt im Zusammenwirken von Vernunft und Gnade ausging. Dabei berief sich Canz vor allem auf Leibniz’ „Discours préliminaire de la conformité de la foi avec la raison“ aus den Essais de Théodicée. Indem Canz aber das von Leibniz und Wolff (in dessen Deutscher Metaphysik) eher beiläufig herausgestellte „Aufmerksamkeitsdefizit“ der subjektiv verfahrenden Vernunft – die „raison corrumpue“ – ins Zentrum seiner theologischen Hermeneutik rückte – Canz bzw. Neumann behandelt im Einzelnen vier Defekte, die die intelligendi debilitas bedingen – relativiert Canz den Autonomieanspruch der Ratio, wie er bei Leibniz und Wolff formuliert ist. „Es bleibt von der göttlichen Gnadenwirkung abhängig, ob die Ratio gleichsam frei von Verfahrensfehlern zu operieren vermag oder nicht“ (S. 113). Moses Mendelssohn zählte zu den wenigen überzeugten Leibnizianern. Seine 1784 verfasste Sache Gottes wurde in der Mendelssohn-Jubiläumsausgabe im Jahre 1936(!) von Leo Strauss herausgegeben, der in seiner Einleitung versuchte, „die Inferiorität der Mendelssohn’schen Position gegenüber der von Leibniz zu erweisen“ (S. 117). Ursula Goldenbaum (Atlanta) weist in ihrem Beitrag nach, dass Mendelssohns Sache Gottes keine bloße jüdische Theodizee sei oder gar eine antichristliche Polemik. Vielmehr sei die Sache Gottes des jüdischen Aufklärers, im Unterschied zu Leibniz’ Causa Dei, ein konfessionell neutraler, rein metaphysischer Text. Hervorzuheben sei dabei besonders Mendelssohns Betonung der Entwicklung des Individuums innerhalb der göttlichen Schöpfung, in bewusster Kritik eines christlichen Heilsplans für die ganze Menschheit, dem die individuellen Schicksale untergeordnet seien. So richtet sich nach Goldenbaum Mendelssohns Geschichtsverständnis keineswegs gegen die Möglichkeit geschichtlichen Fortschritts in der menschlichen Gesellschaft, vielmehr lehne er die Auffassung ab, solcher Fortschritt sei heilsgeschichtlich vorbestimmt. Entsprechend sehe Mendelssohn die Bestimmung des Menschen als Individuum darin, zu größerer Perfektion und damit Glückseligkeit fortzuschreiten. Von dieser historischen Würdigung ausgehend, kritisiert Goldenbaum, dass Strauss’ Interpretation – „Mendelssohn wendet sich in der Sache Gottes als Jude gegen das Christentum überhaupt und darum gegen den Christen Leibniz im Besonderen“ (S. 120) – vielmehr eine interessierte, seinen eigenen philosophischen Vorstellungen entsprungene Manipulation gewesen sei; dabei scheue Strauss nicht, „unredliche Mittel zu gebrauchen, um den von ihm behaupteten Gegensatz zu rechtfertigen“ (S. 117). Leibniz unterscheidet drei Gestalten des Übels: metaphysisches Übel, physisches Übel und moralisches Übel. Die Zulassung des Übels erklärt er mit Hilfe der (scholastischen) Distinktion von „voluntas antecedens“ und „voluntas consequens“. „Vorangehend“ will Gott unmittelbar das Gute, „folgend“ kann er, wegen der notwendigen geschöpflichen Unvollkommenheit, nur das Bestmögliche erstreben; das physische Übel setzt er gelegentlich als Mittel, etwa zur Verhinderung größerer Übel, ein; die Sünde, das moralische Übel, lässt er nur zu („Discours

Einführung

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preliminaire“, §§ 20, 21, 23; GP VI, 62–64). Ohne ihre Existenz zu bestreiten, sieht Leibniz die Übel zum einen, Augustinus folgend, als eine Privation des Seins (Theodizee, I. Teil, § 29; GP VI, 119), und zum anderen als notwendige Bestandteile der Harmonie des Ganzen in der besten aller möglichen Welten (Theodizee, II. Teil, § 125; GP VI, 179–180), zudem überwiege in der gesamten Schöpfung das Gute (III. Teil, § 263; GP VI, 274). Beginnend mit einer Untersuchung des rationalen Rahmens, in den Leibniz das physische Übel einfügt, hinterfragt Juan A. Nicolás (Granada) Schritt für Schritt die Struktur der Leibniz’schen Erklärung des physischen Übels und setzt es in Beziehung vor allem zum moralischen Übel. Der Autor macht darauf aufmerksam, dass Leibniz dabei den komplexen und multilinearen Charakter des physischen Übels auf mindestens vier unterschiedliche Weisen „reduziert“ habe. „Das Gut der Totalität erfordert bestimmte Teilübel, aber die Gesamtbilanz ist laut Leibniz positiv“ (S. 144). Indem Leibniz, so Nicolás’ Schlussfolgerung, vier grundlegende Aspekte der „komplexen Gegebenheit des physischen Übels“ nicht berücksichtigt, unterwerfe er das Individuum der Gemeinschaft und der Totalität, „was bei diesem Begründer der Individualmetaphysik, der Monadologie doch recht erstaunlich ist“ (S. 146). „Jedes Individuum ist ein anderes, spezifisches Opfer des Leidens und jeder Einzelne leidet auf seine Art. Aber Leibniz ordnet bei dieser Problemstellung das Subjekt der Allgemeinheit unter […]. Aus diesem Grund handelt es sich nicht nur um ein Fehlen (Auslassung), sondern um eine aktive Unterdrückung“ (S. 147). Mit einem Hinweis auf einen Anonymus bzw. dessen 1744 erschienenen Philosophische Gedancken, über die Frage, Ob die gegenwärtige Welt die beste sey, leitet Martin A. Völker (Berlin) seinen Beitrag ein. Das vom anonym bleibenden „Liebhaber der Wahrheit“ hervorgehobene „Aber wir können ja den gantzen Zusammenhang der Welt nicht einsehen“ (S. 150) wird ein ständiger Kritikpunkt an der Leibniz’schen Theodizee bleiben. Bereits in der von Johann Chr. Gottsched anlässlich des 100. Geburtstages von Leibniz verfassten und am 10. Mai 1746 in der Leipziger Universitätsbibliothek vorgetragenen Ode mit ihrer „kriegerische[n] Rhetorik“ (S. 150) sieht Völker eine Reaktion „auf die vorher laut gewordene Kritik an Leibniz und an den Kernaussagen seiner Theodizee. Die von Völker behandelte, bisher von der Forschung kaum beachtete publizistische Auseinandersetzung mit dem Diakon an der St. Nikolai-Kirche in Spandau bei Berlin, Joachim Böldicke, und dessen Abermaliger Versuch Einer Theodicee, Darinn von dem Ursprunge des Bösen in der besten Welt, der Güte, Weisheit und Gerechtigkeit Gottes, wie auch der Freyheit des Menschen gehandelt wird (1746) ist wohl vor diesem Hintergrund zu sehen – eine editorische Aufbereitung der zahlreichen Gegen- und Verteidigungsschriften (S. 153) scheint in der Tat eine lohnende Aufgabe zu sein. Bei Böldicke, der die unterschiedlichen Bearbeitungen der Geschichte des Sextus Tarquinius nach der Überlieferung des Humanisten Laurentius Valla in einer Beilage zu seinem Abermaligen Versuch einer Theodicee durchspielt, ist es nach Völker der Unvollkommene, der die Klage erhebt, wozu die Unvollkommenheit der Teile zur Vollkommenheit des Ganzen beitrage. So findet hier ein entscheidender Rollenwechsel statt: Der vom Schicksal begünstigte und deshalb

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begeisterte Anhänger Gottes trifft auf die verworfenen und von Gott fallengelassenen Menschen, die aber nicht (mehr) bereit sind, wie Hiob, das „krisenhafte Leben“ gottergeben hinzunehmen. Anders als Hiob lasse sich Sextus nicht „mit der beglückenden Ganzheitsschau abspeisen“. Stattdessen komme es darauf an, die Frage nach dem Sinn individuell und vom Leben her zu beantworten. Böldickes Sextus kann in der Tat als ein Vorläufer von Jakob M. Reinhold Lenz’ Zerbin betrachtet werden. Mit ihm bereitet Böldicke den Übergang von der philosophischen Verteidigung Gottes und der besten Welt in ihrer Gesamtheit zu einer literarischen Verteidigung und Aufwertung des Individuums vor. Böldicke verändert hiermit den Blickwinkel der Theodizee: Ging es vor ihm um die Fragen, warum Gott das Böse zulässt, wie Gott angesichts der Übel in der Welt zu rechtfertigen ist, so muss sich nun jeder einzelne Mensch fragen lassen, warum er keine Verantwortung übernimmt, warum er das Gute unterlässt, und warum er sich gegenüber den Leiden seines Nächsten taub und blind stellt“ (S. 170). In dieser Fokussierung auf die existentiellen „Einzelfälle“ mag auch ein Grund dafür gelegen haben, dass zunehmend „die erzählende Literatur und die dramatische Kunst sich der vernachlässigten wie vermeintlich lästigen Aufgabe annehmen, dem jenseits der Akademien im Leben schiffbrüchig gewordenen Menschen ein (großes) Publikum zu verschaffen“ (S. 165). Die Sextus-Tarquinius-Dialogparabel bildet auch den Ausgangspunkt der Betrachtung von Eugenio Spedicato (Pavia), der in diesem „philosophisch-literarische[n] Kleinod“ „eine Allegorie des Theodizeegedankens“ und sogar dessen „Vollendung“ (S. 171) sieht. Mit dem Verlust des theologisch-metaphysischen Hintergrundes der Theodizee bzw. dessen Plausibilität in den Epochen direkt nach Leibniz und bis in das 20. Jahrhundert hinein – Volker Gerhardt wird in seinem Beitrag auf den Verlust der Metaphysik durch die Geschichtsphilosophie eindringlich hinweisen – sei die Providenz allerdings zu „einem Relikt vergangener Illusionsgeschichte“ (S. 171) geworden. Der „Grundhaltung der Theodizee als einer die Zufälligkeit eindämmenden Weltweisheit“ folgt eine „Umwertung von Zufall und Kontingenz“, und der „Zufall“, den Leibniz als „Ignoranz der Ursachen, die bestimmte Wirkungen auslösen, liquidiert“ (ebd.) habe, sei zu einem irreduziblen, erkenntnis-, kunst- und handlungstheoretisch zu bejahenden Moment von Welt und menschlicher Existenz aufgestiegen, das Auch-anders-sein-können wird als eine „Grundbefindlichkeit der menschlichen Existenz“ (S. 173) in vielen, nicht zuletzt dichterischen und literarischen Texten (bis zu denen von Arthur Schnitzler) durchgespielt. So lassen sich, dem Autor zufolge, unterschiedliche „alternative Theodizeen“, von Gotthold Ephraim Lessings „Alles-wird-besserMeliorismus“ (S. 176) über Johann Caspar Lavaters Physiognomik, Johann G. Herders Historiodizee unter Vorzeichen der Humanität bis zu Jean Pauls Poetodizee im Lichte seiner ästhetischen Theorie als Theodizee-Ersatz verstehen und als Versuche, die durch Verlust des Leibniz’schen theologisch-metaphysischen Hintergrundes verursachte Trostlosigkeit des Daseins zu kompensieren und die Zufälligkeit zu desavouieren. An Leibniz’ „petite fable“ (S. 193) knüpft auch Uwe Steiner (Houston) in seiner Untersuchung an. Steiner lenkt die Aufmerksamkeit aber wieder auf Leibniz’

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Text zurück, indem er, sich an Bernard le Bovier de Fontenelles Éloge de M. Leibnitz anlehnend, das „philosophische, theologische und poetische Gedankenbild“ (S. 191), somit nicht nur ein richtungsweisendes Merkmal des europäischen philosophischen Selbstverständnisses im Zeitalter der Aufklärung, sondern auch das bisher in der Forschung wenig beachtete „poetische Talent“ (S. 192) Leibnizens ins Zentrum seiner Untersuchung rückt. Von der Theodizee rückblickend, so Steiner, habe Leibniz seine im Grunde unveränderte Lehre der besten aller möglichen Welten in drei sich in ihrer äußeren Form deutlich unterscheidenden Schriften dargelegt. Die Confessio philosophi aus dem Jahre 1673 verfasst Leibniz in der Form des Dialogs. Im Jahr 1705, anlässlich des Todes von Sophie Charlotte, der Königin von Preußen und Leibnizens „Schülerin“, legt er seine Lehre in Form eines Epicediums (eines Trauergedichtes) dar (S. 194), um fünf Jahre später, 1710, mit den Essais de Théodicée eine dritte Form, die Fiktion, zu erproben. Alle drei Formen seien nach Steiner als Versuche zu lesen, der Anschauung als einem integralen Moment des philosophischen Gedankens in der ‚äußeren‘ Form der Darstellung in angemessener Weise Rechnung zu tragen. Mit der Dialogform greife Leibniz eine etablierte philosophisch-poetische Gattung auf, die ihm für die Darstellung seines philosophischen Anliegens einen spezifischen Spielraum eröffne – man denke auch an weitere, in Dialogform geschriebene Schriften von Leibniz. Im Falle des Trauergedichts bediene sich Leibniz der Vorgaben und Konventionen zeitgenössischer Poetiken und Rhetorikhandbücher und nutze die Form der Gelegenheitspoesie zur Darstellung einer ‚poetischen Theodizee‘. Mit der kleinen Fabel, die er bei Valla fand und mit der der dritte und letzte Teil der Theodizee endet, eröffne Leibniz dem Zusammenspiel von Poesie und Philosophie einen weiteren Spielraum: Die Fiktion diene dem philosophischen Gedanken nicht mehr als eine ihm äußere Darstellungsform, sondern als ein Ausdrucksmedium. „Damit scheint sich die Theodizee unter der Hand in eine ‚ästhetische Theodizee‘ verwandelt zu haben“ (S. 216). „Das Kunstwerk stellt den Sinnen das Unendliche im Endlichen dar. Diese ‚ästhetische Theodizee‘ ist – nach Maßgabe des Repräsentationsgedankens – theozentrisch gedacht. Die Kunst vermag das Unbegrenzte zu repräsentieren, weil sie sich begrenzt. „Das genau ist – das Schöne an ihr“ (S. 229) – im Gegensatz zu Nietzsches Verdikt, das Schöne an der Kunst sei, dass sie uns das Dasein erträglich mache. So kann Steiner, die poetische Form der Fiktion als Ausdrucksmedium in den Blick nehmend, einem bis in die Gegenwart wirkenden Vorurteil entgegentreten, die im Jahre 1700 veröffentlichten Essais de Théodicée seien kompilatorisch, die Darlegung des Themas sei redundant, manchmal weitschweifig ausholend und oft sich wiederholend, französisch, also in der Sprache des Hofes geschrieben, nicht im Latein der Wissenschaften. Zu der Ablehnung der Leibniz’schen Theodizee in der Philosophie wie in der Theologie, auf die Walter Sparn eingehen wird, hat ohne Zweifel Immanuel Kants Behauptung vom Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee beigetragen. Hubertus Busche (Hagen) zeigt in seinem Beitrag hingegen, dass diese Ansicht von der grundsätzlichen Unmöglichkeit theoretisch argumentierender Theodizee nicht gerechtfertigt sei. Busche nennt dabei drei Gründe: „Erstens

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erweist sich Kant bei seinem vor dem ,Gerichtshofe der Vernunft‘ geführten Prozess über die Reichweite der Anklage und Verteidigung bezüglich Gottes moralischer Vollkommenheit als ein parteiischer Richter, der die Verteidigungsargumente der Theodizee über Gebühr schwach darstellt; der Prozess ist weit entfernt von einem fairen und regelkonformen Gerichtsverfahren, sondern gleicht eher einem kurzen Schauprozess. Zweitens überfrachtet Kant das Anliegen der Theodizee mit überzogenen Ansprüchen auf angebliche Einsichten aus der reinen Vernunft. Drittens schließlich leidet Kants Kritik an einer unzulänglichen Klärung der Kriterien, nach denen Theodizee als misslungen bzw. als gelungen zu betrachten ist“ (S. 232). Busche führt zuerst aus, dass die in der Forschung zu Kants Theodizee-Kritik weitgehend vollzogene Ausklammerung der Frage, ob und inwieweit Kants Kritik der Theodizee überhaupt zutrifft, sowohl dem Verstehen Kants als auch dem Verstehen des Grundproblems der Theodizee zum Nachteil gereiche. Anschließend versucht der Verfasser, Kants ganzen „Prozess“ zu rekonstruieren und zu analysieren. Auf diesen Grundlagen werden Kants Kritik der bisherigen theoretischen Theodizee und sein grundsätzlicher Einwand gegen alle mögliche theoretische Theodizee überhaupt differenziert ausgewertet. „Fasst man am Ende Kants gesamte Kritik der Theodizee von 1791 in einem Fazit zusammen, so gelangt man zu folgendem Ergebnis: Die Rekonstruktion beider Prozessphasen der Kant’schen Theodizee-Kritik zeigte, dass Kants beanspruchter Nachweis vom Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee seinerseits gründlich misslungen ist“ (S. 266). Die bekannteste satirische Kritik der Theodizee im achtzehnten Jahrhundert stammt ohne Zweifel von Voltaire. Es reicht aber nicht, die ironischen Aussagen des Candide wiederzugeben, um die Bedeutung der „Krise der Theodizee“ zu erfassen. Die Studie von Roberto Celada Ballanti (Genua) will deshalb die Entstehung dieser Kritik an der Theodizee in den früheren Schriften verfolgen und sie in Bezug auf die allgemeine Reflexion über die Vorsehung verstehen. Der Autor unterstreicht damit zwei zentrale Motive bei Voltaire. Auf der einen Seite, und schon seit dem Zadig, entdeckt Voltaire die Kluft zwischen der allgemeinen und der individuellen Vorsehung – und an diesem Abgrund scheitere jede spekulative Theodizee; auf der anderen Seite führt diese Erkenntnis nicht zur Verzweiflung sondern zur Erneuerung der Beschwerde des Hiob, der sich Gott dennoch weiter zuwende und eine allgemeine Vorsehung weiterhin annehme. Dieser „Jobismus von Voltaire“ (S. 276), wie der Autor ihn nennt, öffne den Raum für eine praktische Theodizee, nach welcher jeder versuchen möge, zur allgemeinen Ordnung beizutragen und das Böse aus der Welt zu entfernen. Die Essais de Théodicée wurden im 18. Jahrhundert oft als die ausführlichste, wenn auch nicht vollständige Darstellung der gesamten Leibniz’schen Philosophie betrachtet, weit über das Problem der Theodizee hinaus. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Werk von 1710 auch in naturphilosophischen Abhandlungen erwähnt, diskutiert und manchmal sogar rehabilitiert wird, besonders wenn es um die methodologische Entstehung der Wissenschaft geht. Zwei Aufsätze widmen sich den naturphilosophischen Lektüren der Theodizee, es geht einmal um den

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französischen Gelehrten Pierre-Louis Moreau de Maupertuis (1698–1759), zum andern um den Genfer Naturforscher Charles Bonnet (1720–1793). Die Studie von Christian Leduc (Heidelberg/Montréal) zeigt, wie Maupertuis sein eigenes metaphysisches Prinzip der kleinsten Wirkung durch eine Kritik der von ihm interpretierten Leibniz’schen Systematizität rechtfertigte. Der Autor weist darauf hin, dass die Kritik bei Maupertuis an drei zentralen Elementen der Leibniz’schen Physik – nämlich dem Kontinuitätsprinzip, dem Gesetz der Krafterhaltung und der Charakterisierung der Elastizität – auf einer Ablehnung der Systematizität beruhe: Die doktrinäre Kohärenz sei für Maupertuis weder ein Kriterium der Wissenschaftlichkeit noch ein Mittel zur wissenschaftlichen Erfindung. Dies ermöglicht, die sowohl metaphysische als auch erkenntnistheoretische Bedeutung des Prinzips der kleinsten Wirkung hervorzuheben: Auf der einen Seite dient es dazu, das Projekt einer spekulativen Theodizee auszuschließen; auf der anderen Seite geht es darum, die Allgemeinheit des Prinzips durch seine Übereinstimmung mit den empirischen Beobachtungen zu rechtfertigen. Im Gegensatz zu Maupertuis hat Charles Bonnet immer die Verwandtschaft seiner Ideen mit den Leibniz’schen Auffassungen betont, insbesondere im Hinblick auf die Theorie der organischen Körper. François Duchesneau (Montréal) bietet eine kritische Lektüre dieser Verweise auf die Essais de Théodicée, welche vor allem in den Considérations sur les corps organisés von 1762 vorkommen. Duchesneau zeigt besonders, dass die drei Leibniz’schen Motive oder Annahmen seiner Analyse des Ursprungs, der Entwicklung und der Erzeugung der organischen Körper – nämlich das Prinzip der Kontinuität, die These von ineinander greifenden organischen Strukturen und die Präformationslehre – eine andere, nicht streng Leibniz’sche Bedeutung erhalten. Der Grund für diese Korrektur der Leibniz’schen Begriffe des Organismus und der organischen Körper (welche schon im Vorwort der Essais de Théodicée erwähnt sind) hängt mit dem allgemeinen Newton’schen Argumentationsrahmen von Bonnet zusammen. Der Autor stellt die Ambivalenz dieser neo-Leibniz’schen Lehre vor: Auf der einen Seite verlässt Bonnet bestimmte Hauptthesen der Leibniz’schen Metaphysik, die ihm zufolge materialistisch gedeutet werden könnten (Bonnet schreibt z. B. die Unsterblichkeit allen Seelen und nicht nur den Geistern zu und verwischt den Unterschied zwischen der phänomenalen und der substanziellen Ebene), auf der anderen Seite erweitert Bonnet das Leibniz’sche erkenntnistheoretische Modell zu einer Wissenschaft vom Lebendigen. In diesem Sinn kann François Duchesneau von einer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts andauernden „LeibnizRenaissance“ sprechen. Die Rezeption der Essais de Théodicée beschränkte sich jedoch nicht auf einige Theorien oder Prinzipien des Textes, sondern einige Probleme, die Leibniz nicht endgültig behandelt hatte, wurden auch neu diskutiert. Der Aufsatz von Arnaud Pelletier (Hannover) stellt eine wenig bekannte, anonyme physiologische Abhandlung vor, in der der Verfasser behauptet, das Leibniz’sche Problem der Präexistenz der Seele klären zu können. In der Tat liefert Leibniz in den Absätzen 91 und 397 der Essais de Théodicée (GP VI, 152–153, 352–353) zwei unterschiedliche Lösungen des Problems. Die Manuskripte zeigen, dass die fraglichen

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Absätze zwei verschiedenen Redaktionsschichten zugehören. Mit der Zusammenstellung dreier Leibniz’scher Gedanken – der Präformation des Körpers, der Traduktion der vernünftigen Seele und der Übertragung der Erbsünde – wirft diese anonyme Schrift von 1738 eine Debatte über den Status der Hypothese der Harmonie zwischen Wolffianern (Johann Gustav Reinbeck) und Anti-Wolffianern (Johann Friedrich Bertram) auf. Die Rezeption der beiden Absätze 91 und 397 zeigt, dass das durch Leibniz entstandene Problem einer „Physiologie der Theodizee“ nach und nach in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dekonstruiert wird. Kurt Appel (Wien) geht nochmals auf die Notwendigkeiten und Grenzen der Theodizeefrage zurück und weist darauf hin, dass Gott zwar auch in „der alten Welt […] Adressat der Klage und sogar der Anklage“ (S. 344) gewesen sei. Das Hintergrundmodell sei aber der Bund zwischen dem Menschen und Gott gewesen. „Erst in der Neuzeit wird Gott vor das Forum der Vernunft geholt, insofern das ,Ich‘ und dessen Rationalität sukzessive den Platz Gottes als Garant der kosmischen Ordnung einnehmen“ (ebd.). Indem er in der Leibniz’schen Theodizee eine „Verkünderin“ (S. 345) der Freiheit des Menschen sieht und in der „Güte Gottes“ und dem „Ursprung des Übels“ eine Umrahmung dieses „große[n] Thema[s] der Neuzeit“ erblickt, kann Appel aus der Monadenlehre heraus Perspektiven für die Theodizeefrage eröffnen, die es ermöglichen, eine „authentische Theodizee“ aus Hegels Phänomenologie des Geistes zu entwickeln. Zu dieser von der Leibniz’schen Monadologie über Kant bis Hegel reichenden Perspektive zählt nach Appel zum einen die Erkenntnis der menschlichen Freiheit als Selbstvollzug der Erkenntnis Gottes und zum anderen der sich bereits bei Leibniz vollziehende Umschlag der rationalen Theodizee in die Gottesliebe als höchste Form der Gotteserkenntnis. Diese höchste Form deutet Appel zu Recht als „Gottesmystik“. „Auf diese Art und Weise ist Leibniz tatsächlich dem Buch Hiob wesentlich näher als rationalistischen Traditionen, mit denen er üblicherweise in Verbindung gebracht wird. Das Paradoxe an seiner Theodizeeschrift liegt gewissermaßen darin, dass er den Fideisten Bayle kritisiert und diesem zwar keinen Fideismus im Sinne eines Antirationalismus entgegenstellt, wohl aber eine Mystik, die biblischer war als der Voluntarismus des Kritisierten“ (S. 349). Die Theodizeefrage habe sich bei Leibniz zur Frage nach der Liebe Gottes in unserer Welt verschoben, bei Kant zu einer „Mystik der Moralität“. „Eine Verbindung beider Momente finden wir in vielfacher Hinsicht in Hegels Phänomenologie des Geistes. In ihr vereinigen sich Gottesmystik und die Wahrnehmung des Anderen auf radikale Weise“ (S. 353). Ein Vergleich zwischen Leibniz und William James (1842–1910), heißt es in dem Beitrag von Jaime de Salas (Madrid), sei bei weitem nicht so aussichtslos, wie es auf den ersten Blick erscheine. Zunächst fallen zwar die Unterschiede, so in Fragen des Perspektivismus und der Theologie, ins Auge. Leibniz’ anthropologischer Intellektualismus lasse sich mit dem Voluntarismus in James’ The Will to Believe kontrastieren. Dennoch kann zwischen beiden eine gewisse Kontinuität aufgezeigt werden, nämlich in einer Verarbeitung derselben philosophischen Probleme in jeweils sehr unterschiedlichem Kontext, der sich aus den im Zuge der Revolutionen, insbesondere der Industriellen Revolution, veränderten Lebensum-

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ständen im 19. Jahrhundert ergibt, unter denen philosophische Fragen, wie die Frage nach dem Bösen oder dem Guten bzw. Besseren, zunehmend auch zu politischen Fragen werden. Eine Rolle spiele Leibniz in James’ Pragmatism insofern zumindest indirekt: „[…] we can speak in a tentative fashion of a reception of the Théodicée“ (S. 380). De Salas geht davon aus, dass im Vergleich mit Leibniz insbesondere die Verteidigung des Meliorismus in dieser Schrift eine Rolle spielt, die sich, wenn auch auf andere Weise, demselben Problem widmet wie die Theodizee und zu einer ähnlichen Gewissheit über philosophische Fragen gelangt. Ludwig Feuerbach zählt zu denjenigen Denkern, die im 19. Jahrhundert Entscheidendes zur so genannten Leibniz-Renaissance um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (Russell, Cassirer, Couturat u. a.) beigetragen haben. Anhand Feuerbachs „Kritik des theologischen Standpunkts als Einleitung zur Leibnizischen Theodizee“ (in der Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie) und dessen im Jahre 1847 verfassten „Bemerkungen über die Leibnizsche Theologie und Theodizee“ thematisiert Wenchao Li (Hannover/Potsdam) in seiner Untersuchung die spätestens seit Feuerbach vollzogene Abkopplung der Monadologie von der Theodizee. Während auf der einen Seite von der Monadenlehre zahlreiche philosophische Impulse ausgingen, wurde die Theodizee, vorrangig als ein theologisches Werk, abgelehnt. Leibniz habe sich dabei als ein „halber Christ“ erwiesen, da die von ihm vertretenen theologischen Standpunkte denen des christlichen Glaubens nicht gerecht werden könnten. „So mag Leibnizens Theodizee rationalistisch schlüssig sein, sie ist letzten Endes eine Rechtfertigung dieser Welt und, nach Feuerbach, nicht eine christliche Theodizee, und daher auch nicht eine Theodizee, die Bayle hätte überzeugen können“ (S. 293). Feuerbachs Kritik an den theologischen Standpunkten Leibnizens mochte die von dem allgemein bekannten und anerkannten Verdikt Kants, dass alle philosophischen Versuche in der Theodizee misslingen müssten (und misslungen seien), mit verursachte und von Walter Sparn (Erlangen) in seinem Beitrag attestierte „Verwerfung“ (S. 406) der Leibniz’schen Theodizee in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts teilweise verständlich erscheinen lassen. In der „dialektischen Theologie“, deren Gründungsdokument der Römerbrief-Kommentar K. Barths von 1919 bzw. in neuer Bearbeitung von 1922 darstellte, wurde, nach Sparn, vom weltanschaulichen Optimismus abrückend, eine grundsätzlich anders begründete christliche Erfahrung des Friedens mit Gott bzw. des Zornes und Gerichts Gottes gesucht. Indem Barth in seinem Römerbrief-Kommentar den Apostel sich nicht nur der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes, sondern auch der Bedrängnisse dieser Zeit rühmen ließ, werden die Leiden der „jetzigen“ Zeit für nichtig erklärt und die Theodizee Leibniz’ „für christlich gegenstandslos“ (S. 406). Sparn stellt eine aggressive Ablehnung jeglicher Theodizee in der Dialektischen Theologie fest und sieht deren Gründe in der Lösung der Theologie von jeder Metaphysik, die Ritschl und seine Schule lehrten, in der Kritik am „Anthropozentrismus“ (S. 408) der Moderne und in der mit dem Jubiläum 1883 einsetzenden Luther-Renaissance. Die Abkehr vom rational(istisch)en Gottesbild werde begleitet von einem voluntaristischen Gottesbild und einem zunehmenden Selbst-

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verständnis des Protestantismus als „Gewissensreligion“ (S. 409, Karl Holl und Rudolf Otto). In den protestantischen Religionsphilosophien sei hingegen eine Marginalisierung bzw. Anonymisierung Leibniz’ zu beobachten. Friedrich Brunstäd erklärte das religiöse Erlebnis als die Theodizee, während Emil Brunner für eine Trennung zwischen Offenbarung und Vernunft plädierte. Auch hier sei das Leiden zum „positiven Prinzip“ erklärt worden, somit sei die Frage Hiobs für den glaubenden Menschen gegenstandslos. Einen dritten Strang der Distanzierung sieht Sparn in der existenziellen Korrelation von (Religions-)Philosophie und Theologie, „in der viele Motive in dialektischen Synthesen aufgegriffen und umgeformt wurden, um sie jenseits supranaturalistischer oder naturalistischer, subjektivistischer oder objektivistischer Selbstdestruktionen zu platzieren“ (S. 415). Die treibende Kraft dieser Entwicklung sei Paul Tillich, der versuchte, einen bibel- und rechtfertigungstheologischen Ansatz mit einem klar rationalismuskritischen Gottesbegriff zu verbinden. So lehnte Tillich den gängigen Theismus eines höchsten personalen Wesens ganz ab zugunsten der vielfältigen, natural und kulturell codierten symbolischen Rede über das, „was uns unbedingt angeht“ (ebd.). Vor diesem von Sparn im Einzelnen ausgeführten historischen Kontext der protestantischen Theologie im 20. Jahrhundert fallen einerseits die Präsenz Leibniz’ in Ernst Troeltschs „Theodizee der modernen Glaubenslehre“, andererseits die eher positive Integration Leibnizens als unstrittiger „Repräsentant einer ,frommen Aufklärung‘“ (S. 419) in die Genealogie der modernen Theologie auf, so dass die Frage nach der Kontinuität oder Diskontinuität der Theologie gerade nicht leicht zu beantworten zu sein scheint. Troeltschs „moderne Theodizee“ sieht den Sinn der Welt in einer „Emporbildung der Kreatur aus der von Gott ewig gesetzten Natur zur Teilhabung an seinem Wesen“ – auch wenn der Abstand zur Leibniz’schen Theodizee deutlich sei. Besonders deutlich sei dabei die „Ablösung des Theodizeeproblems von seiner spezifischen Bearbeitung im theologischen und im kosmologischen Aspekt der Théodicée Leibnizens“. Ausführlich behandelt Sparn ferner, neben Hans Emil, Max Weber und Karl Barth, die systematischtheologische Würdigung der Leibniz’schen Theodizee durch Werner Elert und die Würdigung der Leibniz’schen natürlichen Religion durch Emanuel Hirsch. „Von einer Rezeption Leibniz’ kann nur in recht uneigentlichem Sinn die Rede sein“ (S. 425), wegen der problematischen, die Monadologie ganz übergehenden und das Theorem der prästabilierten Harmonie nur semantisch einbeziehenden Interpretation der Theodizee bei Elert. Hirschs Würdigung sei hingegen nicht zuletzt ein theologisches Beispiel für die fortdauernde Referenz auf Leibniz als eines „deutschen“ Denkers gewesen. Im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts scheint, Sparn zufolge, die Leibniz’sche Theodizee wieder einen Platz im theologischen Diskurs zu erhalten. Stellvertreter dieser neuen Aktualität Leibniz’ waren Carl Heinz Ratschow mit seiner umfänglichen Auswahl aus den Werken und Briefen von Leibniz unter dem Titel Gott Geist Güte aus dem Jahr 1946 und Wolfhart Pannenberg mit seinem Programm einer Theologie, die von Offenbarung als Geschichte spricht und der

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daran gelegen ist, „die vernünftigen Gehalte des Geglaubten darstellen zu können“ (S. 438). Dennoch handelt es sich um einen prekären Platz, den Leibniz’ Theodizee im Diskurs protestantischer Theologie einnimmt. Dafür scheint nach Sparn zweierlei verantwortlich zu sein: die unklare Beziehung der Theologie auf metaphysisches Denken zum einen und der breiter herausgebildete Konsens zum anderen, das Theodizeeproblem sei nicht in Gestalt einer konsistenten Theorie zu lösen. Die entscheidende Herausforderung des Leibniz’schen Versuchs über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Bösen stellen die mitten in Europa und in der Heimat der Theodizee von Menschen begangenen Verbrechen und die damit verbundenen, schier unermesslichen Leiderfahrungen der Menschheit im vergegangenen Jahrhundert dar. Mit dieser bisher größten Belastung der Leibniz’schen Theodizee seit ihrem Erscheinen setzt sich der den Band abschließende Beitrag Theodizee nach Auschwitz − Versuch über die Wahrung des menschlichen Lebenssinns von Volker Gerhardt (Berlin) auseinander. Vor dem Hintergrund einer Rekonstruktion des hohen Ziels der spezifischen Leibniz’schen Theodizee auf der einen und einer kritischen Analyse weiterer Erklärungsansätze (Hiob, Hans Jonas, Logodizee) auf der anderen Seite unternimmt Gerhard, sich stets des „Geschehen[s], das sich mit dem Namen Auschwitz verbindet“ (S. 445), vergegenwärtigend, zwanzigmal den Versuch, die Leibniz’sche Theodizee in ihrem Kern als „ein Problem des Menschen“ (und nicht Gottes) herauszuarbeiten. Denn „[a]lles, was der Philosoph [Leibniz] in logisch einwandfreier Weise vorträgt, ist auf den Menschen berechnet, dem deutlich werden soll, dass sein an Gottes Größe zweifelnder Verstand bereits auf eine Einheit von Welt und Vernunft gegründet ist, die letztlich nur als göttlich bezeichnet werden kann“ (S. 459). So sei angesichts der Existenz des Übels und des Bösen die Theodizee als Versuch zu verstehen, trotz allem „die Normalität eines vernünftigen Lebenssinns gegen den Anschein seiner alltäglichen Widerlegung zu retten“ (S. 447). Dabei sei der Mensch auf die Welt, in der er lebt, angewiesen, auf das Vertrauen auf die Rationalität des Ganzen und auf die Korrespondenz zwischen Vernunft und Grund im Ganzen. So könne dem aller Entwicklung nachwachsenden Gott keine Verantwortung für den Holocaust aufgebürdet werden. „Sie kommt allein dem Menschen zu, und dies so, dass ihm jeder Ausweg versperrt wird, seine Schuld auf die göttliche Übermacht abzuwälzen. Gleichwohl hat er sich vor Gott, der in allem anwesend ist, zu rechtfertigen, denn er geht mit einer Schöpfung um, deren göttlicher Ursprung alle Voraussetzungen enthält, die Welt in ihrer Entwicklung selbst göttlich werden zu lassen. So wird der Mensch zum Treuhänder Gottes. In seiner ihm in der Geschichte zugewachsenen Rolle hat er so zu handeln, als läge das Geschick der Welt allein in seiner Hand“ (S. 457). Darin liegt der Anspruch der Theodizee. Und dieser hat 300 Jahre nach dem Erscheinen der Essais de Théodicée trotz allem nichts von seiner Dringlichkeit verloren. Denn geblieben ist die Frage: unde malum?

DER RATIONALE KERN DER THEODIZEE Heinrich Schepers (Münster)

Dass Leibniz seine Metaphysik, die Grundlage seiner Theodizee, nicht hinreichend bekannt gemacht hat, stand der angemessenen Rezeption des vor 300 Jahren erschienen Werks im Wege. Sie hat mehr Widerspruch als Zustimmung erfahren und war einer Kette von Missverständnissen ausgesetzt. Erst heute, nach Edition eines großen Teils seines, seinen Zeitgenossen und späteren Rezipienten unbekannten Nachlasses, können und müssen wir uns an die Aufgabe machen, seine Theodizee neu zu lesen. Wie konnte Leibniz allen Ernstes die These aufstellen und seinerseits für bewiesen halten, unsere Welt sei die beste der möglichen Welten? Er hatte zwingende, rationale Argumente. Leibniz stützt seine Argumentation nicht auf Tatsachen, ist deshalb auch nicht mit Tatsachen, so auch nicht mit dem Erdbeben von Lissabon, zu widerlegen. Er baut auf Prinzipien, „deren sich die Vernunft bedient“1. Lassen Sie mich kurz resümieren, worin sich mir vor allem der für Leibniz typische Rationalismus zeigt, der das tragende Fundament, den Kern der Theodizee bildet. Zunächst und durchgehend zeigt er sich an seiner grundsätzlichen Ablehnung des für ihn nicht zu begreifenden Einflusses von einer Substanz auf eine andere2. Und dadurch bedingt, an der Grundannahme, dass zur Natur der von Natur unzerstörbaren Substanz ihre spontane Tätigkeit gehört, und soweit sie mit Vernunft begabt ist, das freie verantwortungsvolle Handeln. Dann zeigt er sich an der ontologischen Funktion, die er den logischen Modalitäten zuweist bei einer besonderen Definition der Kontingenz und der bloßen Möglichkeit, mit der Leibniz sich vom Determinismus Spinozas absetzt3. Ferner an der Behauptung, das logisch Einfachere sei das ontologisch Frühere. Überhaupt, an der angenommenen Isomorphie zwischen Begriff und Begriffenem4. Und damit an der Bestimmung des Individuums durch seinen vollständigen Begriff. Besonders aber an der Gleichstellung der göttlichen mit der menschlichen nur graduell, wenn auch unendlich,

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A VI, 4A, 493, Z. 26. A VI, 1, 229: „influxus […] quid nisi vox est?“; VI, 1, 551: „Suarez definit causam, quae influit esse in aliud, quid autem est influere esse in aliud?“ In seiner Vorrede zu Nizolius nennt er diese Definition „barbare satis et obscure“ (A VI, 2, 418). Vgl. A VI, 4B, 1663, Z. 17–19: „Si omne quod fit, necessarium esset sequitur sola quae existunt esse possibilia (ut volunt Hobbes et Spinoza) et materiam omnes formas possibiles suscipere (quod volebat Cartesius)“. Vgl. auch Causa Dei § 22; GP VI, 442. „[…] toute idée distincte est par là même conforme avec son objet“. Essais de Théodicée, II. Teil, § 192; GP VI, 230.

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von ihr unterschiedenen Vernunft5, sowie an der Bestimmung der Vernunft als die Gesamtheit der ewigen oder notwendigen Wahrheiten und der göttlichen Vernunft darüber hinaus als die Gesamtheit alles widerspruchsfrei Denkbaren, aller Possibilien6, und an dem daraus resultierenden Prinzip einer Unendlichkeit möglicher Welten7. Schließlich an der These, die Leibniz zu den unbeweisbaren Sätzen zählt: Gott will das Vollkommenste, mit der er den Übergang von den Möglichkeiten zur Existenz der Kreaturen geleistet sieht8. Und nicht zuletzt zeigt sich sein Rationalismus an den beiden Grundprinzipien, dem Satz vom Widerspruch und dem Satz vom Grunde mit seinen Derivaten, vor allem dem Prinzip des Besten und dem der Identität des Nichtzuunterscheidenden9. Charakteristisch für Leibniz’ Rationalismus ist darüber hinaus der universalistische Anspruch seiner Thesen: Jede Monade spiegelt in ihren Perzeptionen die ganze Welt, und das nicht nur in der Gegenwart, sondern seit Beginn der Schöpfung bis zum Ende aller Tage. Es gibt einfach keinen Grund dafür, etwas auszulassen. Im Unterschied zu Gott spiegeln sie aber nicht alles mit voller Deutlichkeit, sondern sogar das meiste nur dunkel. Allein die mit Vernunft begabten Monaden spiegeln auch Gott, sind ihm ebenbildlich. Es gibt in der Realität nichts als unzerstörbare Monaden mit ihren Perzeptionen und dem Drang nach neuen Perzeptionen. Diese Perzeptionen sind es, mit denen jede Monade von ihrem Standpunkt aus die ganze Welt ausdrückt und sich damit selbst konstituiert und so individualisiert, dass sie sich von allen anderen Monaden unterscheidet. Es gibt in der Welt so viele Monaden, wie es Standpunkte gibt, sie zu betrachten. Leibniz erklärt das mit seinem Stadtgleichnis, demzufolge eine Stadt, von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet, nur die Betrachtenden charakterisiert. Da die Stadt keinen Einfluss auf sie ausüben kann, muss sie als nur virtuell existierend angesehen werden, nur als Phänomen in den Betrachtern. Leibniz nimmt die Allwissenheit Gottes in Anspruch, wenn er Gottes Vernunft nicht nur mit der Gesamtheit der ewigen oder notwendigen Wahrheiten, sondern auch mit der Gesamtheit aller Möglichkeiten, alles widerspruchsfrei Denkbaren identifiziert. Diese Möglichkeiten sind aber nicht als etwas Abstraktes zu denken10, auch nicht als Aussagen, sondern als konkrete Substanzen in Relation 5

A VI, 4C, 2234, Z. 13–14: „Et on peut dire qu’il n’y a de la difference de Dieu à luy [sc. l’esprit de l’homme], que comme du plus au moins, quoyque la proportion soit infinie“. Vgl. ebd.: „Tous les raisonnemens sont eminemment en Dieu, et ils gardent un ordre entre eux dans son entendement, aussi bien que dans le nostre“. 6 Essais de Théodicée, Discours Prélim. § 23; GP VI, 64: „Car j’ay remarqué d’abord que par la raison on n’entend pas icy les opinions et les discours des hommes, ny même l’habitude qu’ils ont prise de juger des choses suivant le cours ordinaire, mais l’enchainement inviolable des verités“. 7 Vgl. Essais de Théodicée, I. Teil, § 42; GP VI, 126. 8 A VI, 4B, 1454: „Ut enim ista A est A demonstrari non potest, ita ista Deus vult perfectissimum. Haec propositio est origo transitus a possibilitate ad existentiam creaturarum“. 9 Vgl. Essais de Théodicée, I. Teil, § 44; GP VI, 127. 10 Essais de Théodicée, III. Teil, § 390; GP VI, 346: „Lorsque Dieu produit la chose, il la produit comme un individu, et non pas comme un universel de Logique“.

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zu allen mit ihr jeweils kompatiblen Substanzen, oder wie Leibniz es gerne ausdrückt als Wesenheiten, die alle – innerhalb ihres Weltverbandes und mit diesem – nach Existenz streben11. Die Weisheit Gottes begnüge sich nicht mit dem Umfassen aller Möglichkeiten, er durchdringt und vergleicht sie und wägt sie gegeneinander ab, um die Grade ihrer Vollkommenheit abzuschätzen, er überschreitet die endlichen Kombinationen und betrachtet eine Unendlichkeit von Unendlichen, eine Unendlichkeit von möglichen Welten, die jede eine Unendlichkeit von Kreaturen beherbergt12. Man muss noch ergänzen: von denen jede unendlich viele Prädikate in ihrem vollständigen Begriff enthält, der seinerseits von einer unendlichen Folge von Perzeptionen, deren Inhalt jeweils unendlich ist, gebildet wird. Der mit unendlichen Reihen vertraute Mathematiker scheut sich nicht, Gott den Blick über diese fünffach potenzierte Unendlichkeit zuzuschreiben. Es könnte der Eindruck entstehen, es wäre Gott, der diese zunächst nur möglichen Individuen gestaltet, der ihnen, wie noch Goethe es formulierte, das Gesetz gab, „nach dem sie angetreten“. Doch es steht für Leibniz fest, dass Gott ebenso wenig wie er die notwendigen Wahrheiten erschafft, er auch nicht die Wesenheiten oder Möglichkeiten schafft13. Damit eine gerechte Auswahl der besten unter unendlich vielen möglichen Welten getroffen werden kann, müssen die einzelnen Individuen, deren Gesamtheiten je eine dieser Welten ausmachen, voll ausgebildet sein, ihr Begriff muss vollständig sein, das bedeutet, er muss ihre abgeschlossene Geschichte mit ihren Relationen zu allen anderen Individuen in ihrer Welt umfassen. Damit sie eine mögliche Welt bilden, müssen sie miteinander kompatibel sein, damit sie die beste bilden, zudem kompatibel mit Gott. Das bedeutet auch, dass nicht alle fingierbaren Welten zu den möglichen zählen. Sie müssen die Bedingung der Kompatibilität erfüllen, auf die letztlich die prästabilierte Harmonie zurückgeht. Auf keinen Fall meint die These von der besten der möglichen Welten unsere kleine irdische Welt14. Seine These ist nicht global, sondern im vollen Sinn universal angesetzt. Diese Welten sind homogen, es gibt unter ihnen keine chaotische. In jeder von ihnen handeln die Individuen bei ihrem Streben nach

11 So seit den „Elementa verae pietatis“ von 1677 (A VI, 4B, 1363. Z. 12); „Omne possibile exigit existere“ (A VI, 4B, 1442, Z. 15). 12 Essais de Théodicée, II. Teil, § 225; GP VI, 252: „La sagesse de Dieu non contente d’embrasser tous les possibles, les pénètre, les compare, les pese les unes contre les autres, pour en estimer les degrés de perfection ou imperfection […] elle va meme au delà des combination finies, elle en fait une infinité d’infinies, c’est à dire une infinite de suites possibles de l’univers, dont chacune contient une infinité de creatures“. 13 Essais de Théodicée, III. Teil, § 336; GP VI, 314: „[…] les creatures rationables agissent librement aussi, suivant leur nature originelle qui se trouvoit déja dans les idées eternelles“. Vgl. bereits Anfang 1677 an Honoré Fabri: „neque enim essentiae sed res creantur“ (A II, 12, 463); vgl. A VI, 4B, 1362, Z. 17: „respondebo Deum esse causam omnium quae existunt extra ipsum, non vero esse causam sui intellectus nec proinde idearum essentias rerum exhibentium“. 14 Leibniz selbst verweist darauf, wie unbedeutend das ist, was auf unserer Erde geschieht im Vergleich zu den unendlichen Gestirnen, die die Schöpfung ausmachen (vgl. Essais de Théodicée, I. Teil, § 19; GP VI, 61.)

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Existenz nach dem Prinzip des Besten, selbst dann, wenn sie nur einen Schimmer davon erhaschen. Aus dem von Grua mitgeteilten Entwurf des Titels15 geht eindeutig Leibniz’ Absicht um 1696 hervor, eine streng wissenschaftliche Abhandlung zu schreiben. Er lautete, ich übersetze: „Des Wilhelmus Pacidii – bekanntlich ein beliebtes Pseudonym – Theodizee, das sind zur mathematischen Gewißheit und Form gebrachte, aus der natürlichen Theologie und der natürlichen Jurisprudenz geschöpfte allgemeine Beweise, mit denen die Menschheit befreit werden kann von den Zweifeln über die Kontingenz und das Fatum, wie über die Freiheit und die Prädestination“16.

Mit mathematischer Gewissheit in der Metaphysik vorgehen, hieß für Leibniz, alle Begriffe exakt zu definieren und alle Sätze, außer den identischen, zu beweisen, was für ihn bedeutete, soweit es sich um notwendige Sätze handelte, sie auf Identitäten zurückzuführen17. Seine natürliche Theologie baut auf die Existenz eines Gottes, der, dem allgemeingültigen Satz vom Grunde zufolge, den letzten Grund alles Existierenden ausmacht, darüber hinaus trinitarisch so begriffen wird, dass seiner Allmacht, seinem Allwissen und seiner höchsten Gerechtigkeit und Güte Funktionen übertragen werden, die für seine Metaphysik und Theodizee von entscheidender Bedeutung werden. Aus seiner natürlichen Jurisprudenz nimmt er den Begriff der Gerechtigkeit, die er als „caritas sapientis“ definiert, als „Liebe des Weisen“, die in Gott ihre vollkommenste Ausprägung erfährt. In der zweiten von Grua edierten – wohl 10 Jahre früher zu datierenden – Aufzeichnung, die Leibniz überschrieben hat, ich übersetze: „Verteidigung der göttlichen Gerechtigkeit und der Freiheit des Menschen, gewonnen aus der Betrachtung der vollständigen Idee, die Gott von der zu erschaffenden Sache hat“18, bedient Leibniz sich einer Methode, die in der modernen Mathematik als Bildung von Idealen bezeichnet werden wird, die beispielsweise den Bereich der reellen Zahlen erweitert um die imaginären komplexen Zahlen, um so mehr über die Eigenschaften der reellen Zahlen zu erfahren. So argumentiert Leibniz, „wenn wir auch nicht wissen, wie die Dinge und ihr Wirken von Gott abhängen, so können wir doch anstelle der wirklichen Dinge die Gesamtheit der Begriffe der möglichen Dinge betrachten, die im Geiste Gottes sind vor allen Beschlüssen, überhaupt

15 „Guillelmi Pacidii / THEODICEA / seu pro divina justitia / demonstrationes catholicae / ad Mathematicam certitudinem formamque ex Naturali Theologia Jurisprudentiaque exactae / Quibus Humanum Genus dubitationibus de Contingentia et Fato, Libertate et Praedestinatione liberare possit“ (Grua, 370). 16 Vgl. „Operae pretium mihi facturus videor, si liberem humanum genus controversis de fato, libero arbitrio, justitia Dei, causa mali, praedestinatione“, um 1695 (Grua, 347). 17 „[…] dans les Mathematiques il est plus aisé de reussir, parceque les nombres, les figures et les calculs suppleent aux defauts caches dans les paroles; mais dans la metaphysique, où l’on est privé de ce secours […] il faudroit que la rigueur employée dans la forme du raisonnement et dans les definitions exactes des Termes suppleât à ce manquement“ (GP VI, 349). 18 „Vindicatio Justitiae Divinae et Libertatis Humanae sumta ex consideratione ideae integrae quam Deus de re creabili habet“ (Grua, 371 u. A VI, 4B, N. 305 [wohl schon Anfang 1686]).

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etwas zu erschaffen“19. Das bedeutet, den Bereich der wirklichen Dinge um den Bereich der nur möglichen Dinge zu erweitern, um mehr über die Wirklichkeit zu erfahren. Leibniz hätte die Theodizee more geometrico vortragen können, wie das um 1696 seine Absicht war. Um das zu belegen, versuche ich, den rationalen Kern des Werkes freizulegen. Er war davon überzeugt, dass aus den Prinzipien, die er seiner Metaphysik zugrunde legte, die Lösung der Schwierigkeiten, die sich seit alters mit der scheinbaren Unverträglichkeit der Freiheit des Menschen mit dem Vorherwissen Gottes, sowie der bestehenden Übel in der Welt mit Gottes Güte und Gerechtigkeit ergeben würde, zu geben. Gott ist für Leibniz nicht wie für Descartes ein Willkürgott, nicht wie für Spinoza ein Gott ohne Verstand und Willen, vielmehr, im Sinne Augustins, ein trinitarischer Gott, dessen Schöpfung darauf gründet, dass er weiß, will und kann. Er weiß, was insgesamt das Beste ist, er will, was er weiß und er kann, was er will20. Methodisch stellt er fest, es könne auf zweifache Weise vorgegangen werden. Entweder man geht von den ersten Prinzipien aus und deduziert so weit wie es nötig ist, oder man stellt als Erstes Konklusionen – oder Positionen – auf, die von der Religion und der praktischen Philosophie geboten werden und sorgt dafür, dass sie unter sich und mit den Prinzipien der spekulativen Philosophie zusammenstimmen21. Die erste Methode sei die schwierigere, die zweite empfiehlt sich als die leichtere und für unsere schwache Verstandeskraft die sicherere. In diesem Traktat über die Freiheit, das Fatum und die Gnade Gottes nimmt Leibniz den leichteren Weg, indem er mit dem Aufstellen von acht „Positionen“ beginnt, die von allen frommen und klugen Leuten anzunehmen seien. Für sie unterstellt er damit die Anerkennung, die Euklid in seinen Elementen für seine Postulate forderte. Die ersten sieben betreffen Gott, die achte Position die Freiheit des Menschen. Gott ist allwissend, hat alles im Voraus geordnet, hat alles – was existiert – erschaffen und erhält es auch, ist in höchstem Maße gerecht, nicht die Ursache des Übels und der Sünde und will, dass alle Menschen gerettet werden. Die Menschen 19 „[…] ita Theologicae veritati satisfacere licebit, licet modum ignoremus quo res rerumque actus a Deo atque a se invicem dependent, dummodo pro rebus ipsis assumamus integras rerum possibilium notiones sive ideas, quas in divina Mente esse ante omne decretum voluntatis rerumque existentiam“ (Grua, 371). 20 An Morell schreibt Leibniz am 9. Oktober 1698: „Je serois plus tost pour ceux qui reconnoissent en Dieu comme en toute autre esprit, trois primordialités: force, connoissance, et volonté; car toute action d’un esprit demande: posse, scire, velle“ (A I, 16, 164, Z. 2–4). 21 „Tractari autem dupliciter potest, vel inchoando rem a primis principiis atque inde ducendo conclusiones utcunque se debunt, vel proponendo sibi conclusiones quas religio et philosophia practica jubent easque inter se et cum principiis philosophiae speculativae conciliare“ („De libertate, fato, gratia Dei“; A VI, 4B, N. 309, 1595). Ähnlich am Schluss der Nouveaux Essais, wo er den Unterschied zwischen der synthetisch-theoretischen und der analytischpraktischen Disposition der Wahrheiten erklärt, die erste von den Mathematikern befolgte ordnet jeden Satz gemäß denjenigen von denen er abhängt, die zweite beginnt bei den Zielen des Menschen, das heißt, bei ihren Gütern und sucht die Mittel, um sie zu erreichen und die Übel zu vermeiden (A VI, 6, 524).

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besitzen die Freiheit zu handeln, nicht allein die Freiheit von Zwang, sondern auch von der Notwendigkeit, es ist ihnen daher nicht unmöglich, den Geboten Gottes zu folgen22. Die erste und die achte Position, Allwissenheit und unsere Freiheit, scheinen nicht zugleich gesetzt werden zu können. Leibniz klärt das sofort: Petrus wird Jesus nicht dreimal verleugnen, weil Gott es vorhergesehen hat, sondern umgekehrt – Gott hat es vorausgesehen, weil Petrus leugnen wird. Selbst wenn man von Gottes Vorhersehen absieht, wäre die künftige Wahrheit determiniert gewesen, sie wäre gewesen, wie sie war, nämlich kontingent. Das bedeutet, Petrus selbst hatte sich vor allem Vorherwissen Gottes aus eigenem Willen und eigener Kraft so konstituiert, dass er Jesus verleugnen wird. In der zweiten Fassung eines Rationale, das meint, der logischen Grundlagen des katholischen Glaubens, stellt Leibniz zehn Positionen zusammen, mit denen er seinen Gottesbegriff festlegt, indem er zu jeder These Erläuterungen gibt. So erläutert er die siebte These, dass Gott allwissend ist, damit, dass Gott alle Possibilien oder Wesenheiten der Dinge – man beachte diese Identifizierung – aus der Betrachtung seines Intellekts kennt, der seiner Vollkommenheit wegen, alles „aus„ausdrückt“, was überhaupt widerspruchsfrei gedacht werden kann23. Das heißt, dass Gottes Intellekt die Gesamtheit aller Möglichkeiten darstellt, die zwar nicht von ihm erschaffen werden, aber ohne ihn auch nicht da wären. Alles Kontingente, das meint, alles Erschaffene, kennt Gott darüber hinaus aus der Betrachtung seines Willens, aus seinen Dekreten, das Beste wirklich werden zu lassen24. Die achte These beleuchtet Gottes Allmacht, seine Schöpfung und Erhaltung aller Dinge mit der Erklärung, dass alles seinen Ursprung von Gott hat: die Essenzen aus seinem Intellekt, die Existenzen aus seinem Willen. Gott erhält seine Schöpfung durch seine ständige Mitwirkung („concursus“), so dass er seinen Geschöpfen die Kraft zu handeln und das dazu Erforderte ständig gibt. Leibniz betont aber, dass die Handlung selbst nicht von Gott, sondern von der Kreatur vollzogen wird25, womit eindeutig die Ursache der Sünde in der originären Limitation der frei handelnden Geschöpfe beim Erkennen des wahren Besten zu suchen ist. Das Stück De natura veritatis, contingentiae et indifferentiae atque de libertate et praedeterminatione entspricht dem rigiden Vortrag zum Problem der Prädetermination. Angefangen bei der analytischen Struktur der wahren Sätze, dann der Klärung der Modalbegriffe, darauf der Vorstellung des vollständigen Begriffs 22 A VI, 4B, 1597, Z. 14–15: „Itaque nulla unquam praecepta Dei sunt homini impossibilia servatu, neque unquam deest gratia qua possibilia reddantur“. 23 A VI, 4C, 2317, Z. 10–11: „Deus est omniscius. Nam possibilitates sive essentias rerum novit ex consideratione intellectus sui, qui cum sit perfectissimus, omnia utique ideis suis exprimit, quae cogitari possunt“. Schon 1671 schreibt Leibniz an Wedderkopf: „Essentias enim rerum […] continentque ipsam Entium possibilitatem quam Deus non fecit […] cum potius illae ipsae possibilitates seu Ideae rerum coincidant cum ipso Deo“ (A II, 12 186, Z. 31–33). In der „Confessio philosophi“ formuliert er: „Omnes series possibiles sunt in idea Dei, sed una tantum sub ratione optimae“ (A VI, 3, 123, Z. 32–33). 24 „At contingentias sive actuales existentias rerum omnium praeter se novit ex consideratione suae voluntatis“ (A VI, 4C, 2317, Z. 11–13). 25 „[…] operatio ipsa non Dei sit sed creaturae“ (ebd., 2319, Z. 21).

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jeder singulären Substanz, lässt Leibniz die Diskussion der kontingenten Wahrheiten folgen, deren Beweis nur Gott leisten kann und bezieht schließlich die Naturgesetze in die Kontingenz der Schöpfung ein26. Insofern mit der Schöpfung die Natur der einzelnen Individuen festgelegt ist, ihrer Kontingenz eine hypothetische Notwendigkeit entspricht, kann Leibniz auch von dem Gesetz sprechen, dem sie in ihrer Entwicklung folgen. Er setzt im nächsten Absatz an mit einem Beweis für die Existenz eines Schöpfers. Da alles, was uns umgibt, kontingent ist und nichts an sich hat, was ihre Existenz notwendig macht, müssen wir nach dem Grund für die Existenz der Welt, dieser Vereinigung kontingenter Dinge, suchen und nach der Substanz fragen, die den Grund ihrer Existenz mit sich trägt und deshalb notwendig und ewig ist, eine Substanz, die außerdem insofern intelligent ist, als sie aus einer Unendlichkeit möglicher Welten, die ebenfalls nach Existenz streben, eine auswählen kann, weil sie in ihrem Verstand alle überblickt. Diese Auswahl ist ein Akt seines – von seinem Verstand geleiteten – Willens, und seiner Macht, seinen Willen wirksam werden zu lassen. In diesen wenigen Worten stellt Leibniz den trinitarischen Gott seiner natürlichen Theologie vor, dessen Macht auf das Sein, dessen Weisheit oder Verstand auf das Wahre und dessen Wille auf das Gute ausgerichtet ist. Sein Verstand ist die Quelle, der Ort der Essenzen oder Possibilien, sein Wille der Ursprung der Existenzen27. Überhaupt hat bisher wenig, wenn nicht gar keine Beachtung gefunden, was Leibniz unter Gottes Vernunft begreift. Sie ist zunächst die Gesamtheit der notwendigen Wahrheiten. Das bedeutet, sein Denken kann nicht gegen das Widerspruchsprinzip verstoßen. Das ist noch leicht zu verstehen. Aber Gottes Vernunft umgreift auch die Fülle alles widerspruchsfrei Denkbaren, aller Wesenheiten, aller Possibilien. Gott erschafft diese Possibilien nicht28, ebensowenig wie die ewigen Wahrheiten. Sie sind aber nicht, wie die Skotisten und Hugo Grotius annehmen, da, selbst wenn Gott nicht wäre, sondern sie sind in ihrer Gesamtheit in Gottes Vernunft, besser gesagt, sie machen seine Vernunft aus29. Leibniz’ rationale Lösung des Theodizeeproblems stellt sich als überraschend einfach heraus, sobald man sich auf seine Definitionen und Prinzipien einlässt. Deshalb konnte er auch angeben, es mit mathematischer Gewissheit lösen zu wollen. Was ihn hinderte, das zu tun, war wohl die Furcht missverstanden zu werden, von denen vor allem, die nicht mit der erforderlichen „tinctura matheseos“ ver26 Ebd., N. 303. 27 Vgl. Essais de Théodicée, I. Teil, § 7, darin besonders: „Son entendement est la source des essences, et sa volonté est l’origine des existences“ und kurz davor: „Et cet egard ou rapport d’une substance existante [sc. Dieu] à des simples possibilités, ne peut être autre chose que l’entendement qui en a les idées“ (GP VI, 107). 28 A VI, 4B, 1362, Z. 17: „[…] respondebo Deum esse causam omnium quae existunt extra ipsum, non vero esse causam sui intellectus, nec proinde idearum essentias rerum exhibentium, quae in eo reperiuntur“. 29 Vgl. Essais de Théodicée, II. Teil, §§ 183–184 und 189; GP VI, 224–227 und 229. Vgl. auch Leibniz an Bourguet im Dezember 1714: „rien ne seroit possible si l’etre necessaire n’existoit point“ (GP III, 572; ähnlich GP IV, 406).

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sehen waren30 und auch nicht willens waren, ihn auf seinen abstrakten Gedankengängen zu begleiten. Er habe nichts in der Philosophie geschrieben, was er nicht mittels Definitionen und Axiome behandelt habe, schreibt er 1705 Thomas Burnett und fährt fort, obgleich er nicht immer ein „air mathematique“ angewandt habe, das die Leute zurückstößt. Man müsse vertrauter sprechen, um von den gewöhnlichen Menschen überhaupt gelesen zu werden31. Schon im Specimen inventorum von 168832 behauptet Leibniz, unmittelbar nachdem er seine Prinzipien aufgezählt hat, damit seien die Schwierigkeiten behoben, die mit der Prädestination und mit der Ursache des Bösen einhergehen33. Gott, sagt er, habe nicht zu entscheiden gehabt, ob Adam sündigen sollte, sondern ob die Welt, die den vollständigen Begriff Adams, also auch sein Sündigen, enthält, den anderen möglichen Welten vorzuziehen sei. Dass Leibniz das Problem damit gelöst zu haben glaubte, zeigt, welche Bedeutung der Theorie der möglichen Welten in diesem Zusammenhang zukommt, zeigt aber auch, um im Beispiel zu bleiben, dass der vollständige Begriff Adams auf die freien Handlungen Adams zurückzuführen ist, mit denen er seine Natur, seine Individualität konstituiert hat34. Weil diese Handlungen frei vollzogen wurden, wird ihm dafür die volle Verantwortung zugerechnet. Die 1710 veröffentlichte, populäre Theodizee gibt nur eine Ahnung des Ganzen35. Leibniz verfolgt darin keine der beiden von ihm beschriebenen Methoden. Immerhin schreibt er am 30. Oktober 1710 an Thomas Burnett, dass er „die Mittel bereitgestellt habe“, um das Ganze „demonstrativ“ darzustellen36. Der rationale Kern der Theodizee ist zugleich ihr formaler Kern. Er besteht aus Prinzipien, Definitionen und Positionen. Für diesen rationalen Kern gilt auch das, was Leibniz von den Elementen Euklids sagt: Wenn auch nur einer seiner Sätze widerlegt wäre, 30 A VI, 4B, 1650, Z. 12: „Et hic arcanum detegitur discrimen inter Veritates Necessarias et Contingentes, quod non facile intelliget, nisi qui aliquam tincturam Matheseos habet“. 31 „Je n’ecris jamais rien en philosophie que je ne le traite par definitions et par axiomes, quoyque je ne luy donne pas tousjours cet air mathematique qui rebute les gens, car il faut parler familierement pour estre lû des personnes ordinaires“; 10. Dezember 1705 (GP III, 302). 32 A VI, 4B, N. 312. 33 „Tolluntur ex his difficultates de Praedestinatione et de Causa Mali. Intelligi enim potest Deum non decernere, utrum Adamus peccare debeat, sed utrum illa series rerum cui inest Adamus, cujus perfecta notio individualis peccatum involvit, sit aliis nihilominus praeferenda“ (ebd., 1619, Z. 1–1). Leibniz macht keinen Unterschied zwischen „mundus“ und „series rerum“. 34 Essais de Théodicée, I. Teil, § 32; GP VI, 121: „L’action de la creature est une modification de la substance qui en coule naturellement, et qui renferme une variation non seulement dans les perfections que Dieu a communiquées à la creature, mais encore dans les limitations qu’elle apporte d’elle même, pour être ce qu’elle est“. 35 An Hugony am 30. November 1710 schreibt er: „Je tache de m’expliquer un peu familierement sur une partie de mes pensées. Il y en a qu’on ne peut donner cruement […] par ce que les gens sont sujets à les prendre de travers par rapport […] aux sens. Je pense pourtant à un ouvrage latin où je tacherai de développer mon système entier“ (GP III, 680). 36 „[…] je pretends que tout se peut regler demonstrativement, et j’en ay donne les moyens […] Ce present ouvrage peut servir d’avantcoureur“ (GP III, 321).

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so fiele das ganze System37. Das bedeutet, dass jedes seiner Prinzipien Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, zu den notwendigen Wahrheiten gezählt werden muss. Das gilt insbesondere vom Satz vom Grunde, mit dem Leibniz die Existenz Gottes beweist. Leibniz bekannte im Sommer 1689 ausdrücklich, wohl im Rückblick auf seine Arbeiten in der Mainzer Zeit, dass ihn die Besinnung auf die Möglichkeiten, präziser gesagt, auf die Realität der Möglichkeiten, die nicht sind und weder waren, noch sein werden, vor dem Fall in den Abgrund der vollständigen Determiniertheit – wie sie Spinoza lehrte – gerettet habe38. Leibniz’ Beweisführung betrifft unser Universum in seiner unermesslichen Ganzheit und Fülle, und nicht nur unsere kleine, unserer Erfahrung zugängliche Welt. Es betrifft dieses Universum mit seiner vollen Geschichte seit seiner Schöpfung bis zum Ende aller Tage, bis zum Ende der Geschichte. Und nicht nur das. Unserer Welt stellte er eine Unendlichkeit von Welten an die Seite, die logisch betrachtet, ohne einen Widerspruch zu erzeugen, ebensogut hätten erschaffen werden können, wenn es nicht Gottes Wille gewesen wäre, nur diejenige dieser Welten zur Existenz zu bringen, die in ihrer Gesamtheit ein Höchstmaß an Vollkommenheit aufweist. Was aber ist für Leibniz eine Welt? Kein Ganzes, sagt er, schon gar keine Substanz, sondern eine Gesamtheit miteinander kompatibler Possibilien39. Das zu verstehen, erfordert eine zweifache Sichtweise. Einerseits zieht Leibniz die Gedanken Gottes heran, die in ihrer Gesamtheit alles widerspruchsfrei Denkbare umfassen und ihren „Ort“ in seinem Verstand haben, wie oben gesagt, zusammen mit der Gesamtheit der ewigen Wahrheiten den Verstand Gottes ausmachen40. Andererseits konkretisiert Leibniz dieses Denkbare zu Possibilien, was heißt, zu Individuen mit ihren vollständigen Begriffen und spricht, dieselben meinend, von Essenzen, die Gott nicht erschaffen hat, obgleich sie ohne ihn nicht wären41, und die mit ihrem spontanen Handeln nach Existenz streben. Die Gedanken Gottes sind 37 Essais de Théodicée, I. Teil, § 61; GP VI, 84: „Ce qui contredit à une proposition d’Euclide est contraire aux Elemens d’Euclide“. 38 A VI, 4B, N. 326, 1653, Z. 25: „Sed ab hoc praecipitio retraxit me consideratio eorum possibilium, quae nec sunt, nec erunt, nec fuerunt“. 39 „[…] ipsum Universum infinitum non fore Ens unum aut totum, quemadmodum nec Numerus infinitus unum totum est, quod jam alii ostenderunt“ (A VI, 4C, 2308, Z. 20) [1685]. – Nur im engeren Sinn versteht er darunter unsere Welt, neben der es keine andere existierende Welt gibt. „J’appelle Monde toute la suite et toute la collection de toutes les choses existantes, afin qu’on ne dise point que plusieurs mondes pouvoient exister en different temps et different lieux“ (Essais de Theodicée; I. Teil, § 8; GP VI, 107. Vgl. Causa Dei § 15, GP VI, 440). 40 Essais de Théodicée, III. Teil, § 335; GP VI, 313 – 314: „Le mal vient […] des idées que Dieu n’a point produites par un acte de sa volonté, non plus que les nombres et les figures, et non plus (en un mot) que toutes les essences possibles, qu’on doit tenir pour eternelles et necessaires; car elles se trouvent dans la region ideale des possibles, c’est à dire dans l’entendement Divin“ . Vgl. Auch I. Teil, § 20 und 21; GP VI, 141–142. 41 Ebd. II. Teil, § 184; GP VI, 226–227: „Et sans Dieu, non seulement il n’y auroit rien d’existant, mais il n’y auroit rien de possible“.

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keine schöpfenden Gedanken, sondern betrachtende. Gott betrachtet seinen Intellekt und damit die frei handelnden Individuen im Zustand der reinen Möglichkeit42. Der Akt der Schöpfung gilt allein den in die Existenz zu überführenden, kontingenten Dingen, eben der als beste erkannten der möglichen Welten. Dieses Denkbare ist im Verstand Gottes nicht, weil Gott es denkend hervorbringt, sondern, weil die Möglichkeit, es zu denken, ihm gleichsam vorgegeben ist. Das besagt die Rede, „dass dieses Denkbare in seiner Gesamtheit seinen Verstand ausmacht“. Das, was Gott um seine gerechte Wahl zu treffen, gleichsam mit einem Blick übersieht, da es seinem Verstand gegenwärtig ist und so Gegenstand seines Vorherwissens ist, ist unter anderem unsere Geschichte, in der wir, sie in Freiheit gestaltend, mitten drin stehen. Im Unterschied zur überlieferten Diskussion, ob Gott eine bessere Welt hätte erschaffen können, bringt Leibniz das Moment der Wahl ins Spiel, einer Wahl unter unendlich vielen, aber klar unterschiedenen Welten von miteinander kompatiblen und in ihrem Nach- und Nebeneinander geordneten Individuen, die durch ihre vollständigen Begriffe unverwechselbar charakterisiert sind. Jedes dieser Individuen strebt danach, zu existieren, indem es sich spontan so perfekt wie es ihm möglich ist, ohne seine Kompatibilität innerhalb seiner Welt aufzugeben, konstituiert. Bedingung der Möglichkeit für ein solches Spiel der Kräfte, die aus einem Chaos von Möglichkeiten eine Ordnung von Welten macht, sind Substanzen, deren freies Handeln nach den Prinzipien des Besten und des Nichtzuunterscheidenden zu ihrer Natur gehört und in Harmonie mit dem Handeln aller mit ihnen kompatiblen Substanzen geschieht, ohne einen anderen als idealen Einfluss. Das Spielfeld ist Gottes Intellekt, Gottes Allwissen43, abstrakt gesprochen: der volle logische Raum, in dem alle konkreten Möglichkeiten ihren Platz haben. Es ist nicht Gott, der diese Harmonie hergestellt hat. Dann hätte er sich gleich darauf beschränken können, nichts als die beste der Welten herzustellen. Gott beobachtet und wählt. „Cum Deus calculat, et cogitationem exercet fit mundus“44. Es sind nur Wenige, die Leibniz in die Arcana seiner Metaphysik – und diese auch nur sehr beschränkt – eingeweiht hat. Um sich verständlich zu machen, war er also in der Regel gezwungen, sich der gewöhnlichen Sprache oder der Termi42 „[…] il est visible que ce decret ne change rien dans la constitution des choses, et qu’il les laisse telles qu’elles etoient dans l’etat de pure possibilite, c’est à dire qu’il ne change rien, ny dans leur essence ou nature, ny même dans leur accidens, representés déja parfaitement dans l’idée de ce monde possible“ (ebd., I. Teil, § 52; GP VI, 131) und „cela même l’a engagé à considerer toutes les actions des creatures dans l’état de pure possibilité“ (ebd., I. Teil, § 78; GP VI, 144); vgl. in der „Tractatio“ für Bayle: „Deus enim videns inter possibilia hominem libere agentem, eique existentiam decernens, naturam rei adeoque libertatem actionis non immutat“ (GP III, 36). 43 Essais de Théodicée, II. Teil, § 201; GP VI, 236: „[…] il y a un combat entre tous les possibles, tous pretendans à l’existence […] tout ce combat […] ne peut être qu’un conflit de raisons dans l’entendement le plus parfait, qui ne peut manquer […] de choisir le mieux“. 44 A VI, 4A, 22, FN 1.

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nologie der Cartesianer oder der Scholastik zu bedienen und eine Fülle von Metaphern einzusetzen. Aufgabe des Interpreten ist es, sich auf den Standpunkt des Metaphysikers zu stellen und die von Leibniz geforderte Kopernikanische Wende zu vollziehen. Anstatt sich an scheinbaren Dissonanzen zu reiben, gilt es, deutlich werden zu lassen, wie alles zusammenstimmt, wenn man sich auf seine Grundannahmen einlässt. Zunächst müsse man lernen, verlangt er, den rigorosen Gebrauch der Begriffe von ihrer vulgären Bedeutung zu unterscheiden, gleich wie man die Kopernikanische Wende vollziehen muss, um den tatsächlichen Lauf der Gestirne zu erkennen45. Analog gilt es, den Bereich der Metaphysik strikt zu trennen von dem phänomenalen Bereich der Physik, in dem die Stoßgesetze gelten. Markantes Beispiel: die Perzeption, die in der Metaphysik kein passives Wahrnehmen bedeutet, sondern einen aktiven Akt der Selbstkonstitution der Monade und gleichzeitig, durch die simultanen Perzeptionen aller Monaden, ein Akt der Konstitution der Welt, der sie angehören. Von Jugend auf habe er sich dem Problem der Freiheit, der Kontingenz und des Schicksals gewidmet46. In der Tat hat er seit seinen frühesten Aktivitäten eine große Anzahl von Entwürfen und abgeschlossener Schriften dazu verfasst, die insgesamt zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht geblieben sind – mit Ausnahme der Theodizee. Rückblickend sagt er, es gäbe vielleicht nur wenige, die darüber mehr gearbeitet hätten als er47. Er hat dieses Thema immer wieder von neuem bearbeitet, so dass man das Ergebnis in seiner Schärfe mit einer zehnfach geschmiedeten Damaszenerklinge vergleichen kann. Von der Kraft seiner Argumente überzeugt, zitiert Leibniz Virgil mit einer absichtlichen Änderung: „Schau wie viel mächtiger unser durchdringendes Geschoß ist“48. Auch wenn Leibniz das, was Gegenstand seiner veröffentlichten Theodizee wurde, zunächst im Kreis interessierter Laien am Hof Sophie Charlottes diskutierte, waren seine ursprünglichen Ambitionen auf ein wissenschaftliches Werk gerichtet, das den Ansprüchen mathematischer Gewissheit genügen sollte49. Das aber hätte die Bekanntgabe seiner Metaphysik verlangt, deren Prinzipien die Grundlagen seiner Lösung des Theodizee-Problems bieten. Bekanntlich scheute sich Leibniz vor diesem Schritt, wie er angibt, aus Furcht missverstanden oder gar

45 An seine Vertraute, die Kurfürstin Sophie schreibt Leibniz im Nov. 1696: „[…] lorsqu’avec Copernic nous nous sommes placés dans le soleil, au moins avec les yeux de l’esprit, nous (Leibniz) avons découvert un ordre merveilleux“ (GP VII, 543). 46 Der gestrichene Ansatz zu einem Vorwort der lateinischen Übersetzung eines Buches von Gilbert Burnet lautete: „Materiam de libertate, contingentia, Fato ac praedestinatione inde ab adolescentia versavi, visusque sum mihi filum aliquod reperisse in hoc labyrintho detecta contingentiae radice cujus notio in metaphysicis aliquam cum incommensurabilium natura Geometrica Analogiam habet“; Dezember 1705 (Grua, 457; ähnlich 458–459.). 47 „En effect, il y a peut-ètre peu de personnes qui y ayent travaillé plus que moy“ (Essais de Théodicée, Préface; GP VI, 43). 48 „Aspice, quam“ (vielmehr bei Virgil, Aeneis X 481: „num“) „mage sit nostrum penetrabile telum“ (ebd., 6). 49 Vgl. den Titelentwurf bei Grua, 370 (s. o. Anm. 15).

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von Unverständigen verspottet zu werden50. Das hätte seiner Reputation, die zur Durchführung seines großen Gemeinschaftsprojekts einer „Scientia Generalis“ unbeschädigt bleiben musste, sehr schaden können. Dennoch beruht die Sicherheit, mit der er in seinem populären Werk argumentiert, auf dem rationalen Kern, den seine Metaphysik anbietet. Ohne zu verstehen, was er unter einer Welt, unter einer Substanz, unter Möglichkeit und Kontingenz begreift, bleibt uns der Sinn seiner These von der besten der möglichen Welten verschlossen. Leibniz’ Prinzip einer Unendlichkeit von möglichen Welten, die Gottes Verstand materiell ausmachen, die ohne von ihm geschaffen worden zu sein seiner Erkenntnis offen stehen, ist beispiellos in der Geschichte der Philosophie, ebenso wie sein Konzept einer Monade, die aus sich und in sich die ganze Welt, der sie angehört, ausdrückt, indem sie sie von Moment zu Moment neu perzipiert. Mit seinem dogmatischen Rationalismus bleibt Leibniz dem Zeitalter der Vernunft verhaftet. Unsere Rationalität geht andere Wege.

50 Vgl. den Schluss seines zurückbehaltenen Briefes an Nicolas Rémond vom Juli 1714 (GP III, 624): „Cette lettre ne doit estre que pour vous. Bien d’autres la trouveroient ou absurde ou inintelligible“.

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Anhang

EINIGE PRÄLIMINARIEN ZUR METAPHYSIK VON LEIBNIZ 1. Was ist eine Welt? Kein Ganzes, sondern eine Gesamtheit miteinander kompatibler Possibilien. 2. Was ist ein Possibile, eine Möglichkeit? Nichts Abstraktes, sondern ein konkretes Subjekt mit einem vollständigen Begriff, eine Substanz, die sich durch ihr spontanes Handeln selbst konstituiert und nach Dasein strebt. 3. Worin besteht dieses Handeln? Es besteht im Perzipieren und im Übergang zu immer neuen Perzeptionen. 4. Was ist Gegenstand einer Perzeption? Der momentane Zustand der ganzen Welt, der die Substanz angehört, das bedeutet also genau besehen, der momentane Zustand aller mit der Substanz kompatiblen Substanzen. 5. Was bewirkt die Kompatibilität? Als eine Äquivalenzrelation, dass jedes Possibile in genau eine der möglichen Welten kommt. 6. Wie konstituiert die Substanz ihre unverwechselbare Individualität? Mit der Folge ihrer Perzeptionen. Gemeinsam mit allen Substanzen ihrer Welt trägt sie bei zur Konstitution eben dieser Welt. 7. Wie begreift Leibniz Gottes Verstand? Materiell als die Gesamtheit aller Possibilien, formell als die Gesamtheit aller notwendigen Wahrheiten. Beide Gesamtheiten hat Gott nicht erschaffen, dennoch haben sie ohne Gott keine Realität. Gott erkennt bei Betrachtung seines Intellekts alle nur möglichen Possibilien, alles widerspruchsfrei, durch Kompatibilität in unendlich viele mögliche Welten geordnete Denkbare. So unterscheidet er, in welcher von diesen Welten die meiste Perfektion in ihrer vollen Geschichte entwickelt wird. In seiner Güte beschließt er, diese aus der bloßen Möglichkeit in die Existenz zu überführen, sie zu erschaffen. Dieser Akt ändert nichts am freien Handeln der Individuen, weil es „vor“ der Schöpfung abschließend stattgefunden hat. Unsere eigenen Handlungen finden mitten in diesem Prozess der Selbstkonstitution statt. Sie sind deshalb als frei anzusehen, als vor der Wahl abgeschlossen, gleichwohl als determiniert, als sicher, aber nicht als notwendig, eben als kontingent. Etwas ist „kontingent“ bedeutet, dass es auch anders sein könnte, aber primär, dass es so ist, wie es ist. Das, was ist, ist und ist so wie es ist, weil Gott die Welt, in der es ist, als die beste der möglichen Welten erkannt hat.

SCHWIERIGKEITEN MIT DEM OPTIMISMUS − EINIGE HINWEISE ZUR REZEPTION DES THEODIZEEGEDANKENS IM DEUTSCHEN 18. JAHRHUNDERT MIT EINEM ANHANG ZU HETERODOXEN KONSEQUENZEN DES METAPHYSISCHEN OPTIMISMUS: ANONYMI DUBIA CIRCA EXISTENTIAM DEI ORTA Stefan Lorenz (Münster)

I. DIE ‚THEODIZEE‘: SCHWIERIGKEITEN MIT EINER INNOVATION Innovation und Folgelast: so hat Rainer Specht sein Buch betitelt, das vor allem von den Folgen des Cartesianismus handelt, aber auch geeignet ist, ein philosophiehistorisches Modell zur Erschließung anderer Formationen der Ideengeschichte abzugeben. „Die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte ist eine Geschichte der Problemerzeugung durch Problembewältigung“1.

Mit einigem Recht wird man das Erscheinen der Essais de Théodicée im Jahre 1710 als eine solche Innovation ansehen dürfen, auch wenn die Forschung darauf hingewiesen hat, dass das Konzept der ‚necessitas moralis ad optimum‘ schon vor Leibniz in der iberischen Jesuitenscholastik vertreten worden ist2. Denn Leibniz’ metaphysischer Optimismus hält für seine zeitgenössischen Rezipienten – handle es sich dabei nun um Philosophen oder Theologen – einiges an Zumutungen oder Herausforderungen bereit. Zunächst zeichnet Leibniz ein extrem rationalistisches Gottesbild, das die potentia ordinata Gottes aufs äußerste betont: Schon bei frühen Lesern drängt sich (ob zu Recht oder zu Unrecht sei hier einmal offen gelassen) der Verdacht auf, Leibniz sei ein Essentialist, der lehre, dass sein Gott lediglich unter ihm ontisch vorgeordneten Möglichkeiten wählen könne und damit seine Allmacht im Vollsinne einbüße. Auch sei er ein Nezessitarist, dessen Gott nicht allein die eine, bestmögliche Welt zur Wirklichkeit zu bringen habe, sondern auch nicht anders könne, als zu schaffen und damit zu einem – so zu reden – bloßen Demiurgen werde, der dann aber im Übrigen mit dem schon von Schöpfung an bestimmten Weltlauf nichts mehr zu tun habe, in ihn nicht mehr 1 2

R. Specht: Innovation und Folgelast. Beispiele aus der neueren Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, S. 9. S. K. Knebel: „Necessitas moralis ad optimum. Zum historischen Hintergrund der Wahl der besten aller möglichen Welten“, in: Studia Leibnitiana 23 (1991), S. 3–24.

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eingreife und sich so der Möglichkeit begebe, Wunder zu wirken oder providentiell zu handeln und folglich nicht Gott im Vollsinn zu sein: ein Vorwurf, der spätestens seit 1717 dem gelehrten Europa präsent war. So schreibt Samuel Clarke an Leibniz: „[…] HE [sc. Gott] not only COMPOSES or PUTS THINGS TOGETHER, but is Himself the AUTHOR and continual PRESERVER of their ORIGINAL FORCES or MOVING POWERS: And consequently tis not a DIMINUTION but the TRUE GLORY of his Workmanship, that Nothing is done without his continual Government and Inspection. The Notion of the WORLD’s being a great Machine, going on without the Interposition of God [...] is the Notion of MATERIALISM and FATE, and tends (under pretense of making GOD a SUPRAMUNDANE INTELLIGENCE), to exclude PROVIDENCE and GOD’s GOVERNMENT in reality out of the World. [...] So whosoever contends, that the Course of the World can go on without the Continual direction of God the Supreme Governour; his doctrine does IN EFFECT tend to exclude God out of the World“3.

Überdies, so die Kritiker weiter, sei Leibniz’ Optimismus und sein ganzes System nichts anderes als ein verkappter, dem Spinozismus verwandter Determinismus4, trotz all seiner scharfsinnigen Unterscheidungen innerhalb des Notwendigkeitsbegriffes, die begreiflich machen wollen, dass bei der Wahl des Besten lediglich Inklination und nicht Nötigung statthabe5 und andere, widerspruchsfreie Welten zwar möglich, aber eben nicht wirklich werden konnten. Nicht zu reden davon, dass angesichts dieser Theorie das christliche Heilsschema zuschanden werden müsse: Warum sollte Christus seine erlösende Heilstat am Kreuz vollbringen und auferstehen, wenn diese Welt qua rationalem Kalkül doch als beste aller möglichen gefasst ist6 und ‚Welt‘ überdies bei Leibniz als ‚series rerum‘ einen weitestmöglichen Sinn so erhält, dass auch entfernte Planetensysteme hierunter begriffen werden müssen? Und leistet die Theodizee überhaupt das, was zu leisten sie sich anheischig macht? Kritiker wie etwa Pierre Bayle hatten (freilich schon vor Erscheinen des Buches) eingewandt, dass es nicht reiche, das Übel in der Welt aufgrund eines vorausgesetzten Gottesbegriffes als bloße Mitfolge eines umfassenden Schöpfungsplanes zu begreifen, sondern dass auch im Einzelnen gezeigt werden müsste, welche Funktion und welchen Sinn (wenn überhaupt) die konkreten Übel 3

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S. Clarke: A collection of papers which passed between th late learned Mr. Leibniz and Dr. Clarke, in the years 1715 and 1716 relating to the principles of natural philosophy and religion [...], London 1717. Hier zit. nach A. Robinet (Hrsg.): Correspondance Leibniz-Clarke, Paris 1957, S. 30–31. Hervorhebungen von Clarke. Vgl. A. L. González: „Die unfehlbare Wahl des Besten. Wahl oder Determinismus“, in: J. A. Nicolás (Hrsg.): Leibniz und die Entstehung der Modernität (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 37), Stuttgart 2010, S. 233–244. Vgl. J.-P. Anfray: „Leibniz, le choix du meilleur et la nécessité morale“, in: P. Rateau (Hrsg.): Lectures et interprétations des Essais de Théodicée de G. W. Leibniz (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 40), Stuttgart 2011, S. 59–78. Vgl. W. Schmidt-Biggemann: „Von der Apologie zur Kritik. Der Rezeptionsrahmen der Theodizee“, in: Ders.: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988, S. 61–72, hier S. 68: „Mit der stabilen ‚vernünftigen Religion‘ wurde der apologetische Zusammenhang von natürlicher und positiver Religion gesprengt; Instrument war die Darstellung von Widersprüchen“.

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denn haben oder haben könnten7. In einem fingierten Gespräch zwischen Melissus und Zoroaster lässt Bayle den Letzteren als Anhänger des Manichäismus sagen: „[…] expliquez-moi un peu par Votre Hypothese [sc. die des Monotheismus] d’où vient que l’homme est méchant, & si sujet à la douleur & au chagrin. Je vous défie de trouver dans vos principes la raison de ce phenomene, comme je la trouve dans les miens; je regagne donc l’avantage: vous me surpassez dans la beauté des idées, & dans les raisons à priori; & je vous surpasse dans l’explication des phenomenes, & dans les raisons à posteriori. Et puis que le principal caractere d’un bon Système est d’être capable de donner raison des expériences, & que la seule incapacité de les expliquer est une preuve qu’une Hypothese n’est point bonne, quelque belle qu’elle paroisse d’ailleurs, demeurez d’accord que je frape au but en admettant deux Principes, & que vous n’y frapez pas, vous qui n’en qu’un“.

„Nous voici“, so bemerkt dann Bayle, „sans doute au nœud de toute l’afaire“8. Bayle setzt den Manichäismus lediglich heuristisch ein, um die Hilflosigkeit und Untriftigkeit der natürlichen Theologie9 zu erweisen: „Bayle gebührt das Verdienst, am Ende des 17. Jahrhunderts und damit als erster Philosoph der Neuzeit die Unmöglichkeit einer Theologia Rationalis mit philosophischen Mittteln wirkungsmächtig erwiesen zu haben, noch bevor diese im 18. Jahrhundert ihre eigentliche ‚Hochblüte‘ erreichte“10.

Bei Bayle münden diese Überlegungen – und hier ist sich die Forschung nach wie vor uneins – entweder in einen Fideismus und Skeptizismus, der ganz in der

Zum methodologischen Unterschied von Bayle und Leibniz bei der Frage nach Anklage und Entlastung Gottes angesichts des Übels in der Welt vgl. S. Lorenz: De mundo optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791) (= Studia Leibnitiana Supplementa 31), Stuttgart 1997, S. 83–98. Für einen Überblick über die Debatte vgl. K. Flasch: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Frankfurt a. M. 2008, S. 313–329: „XIX. Skepsis oder Optimismus. Leibniz gegen Pierre Bayle“. 8 P. Bayle: Dictionaire Historique et Critique, Bd. III, Amsterdam – Leiden 1730, 305 B – 306 A (Art. „Manichéens“, Rem. D). P. Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. Eine Auswahl, übers. und hrsg. von G. Gawlick und L. Kreimendahl, Hamburg 2003, S. 161-162: „Aber erklärt mir doch ein wenig mit Eurer Lehre, woher es kommt, daß der Mensch böse und dem Schmerz und dem Kummer unterworfen ist? Ich fordere Euch heraus, in Euren Prinzipien den Grund dieses Phänomens zu finden, wie ich ihn in den meinigen finde. Ich gewinne also den Vorteil zurück. Ihr übertrefft mich zwar in der Schönheit Eurer Begriffe und in den Gründen a priori, ich aber übertreffe Euch in der Erklärung der Phänomene und in den Gründen a posteriori. Und weil das Hauptkennzeichen eines guten Systems darin besteht, daß man in der Lage ist, die Erfahrungen zu erklären, und weil das bloße Unvermögen, sie zu erklären, schon beweist, daß eine Lehre nicht gut ist, so schön sie auch ansonsten erscheinen mag, so gesteht nur, daß ich durch Zulassung zweier Prinzipien das Ziel treffe, Ihr dasselbe aber verfehlt, da Ihr nur ein Prinzip zulaßt“. „Zweifellos“, so bemerkt dann Bayle, „ist das der Kern der ganzen Sache“. 9 Vgl. Lorenz: De mundo optimo. 10 L. Kreimendahl: „Bayles Dekonstruktion der rationalen Theologie“, in: Aufklärung 21 (2009), S. 9–27, hier S. 9–10. 7

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Konsequenz des Calvinismus die potentia absoluta Gottes11 betont, oder aber in ein Freidenkertum oder gar in einen verkappten Atheismus12. Zwar hält Leibniz im „Discours préliminaire“ zur Théodicée dagegen: Für ihn können empirisch-aposteriorische Argumente die apriorische Erkenntnis Gottes und seiner Attribute nicht erschüttern (und handle es sich dann später auch um eine vielberufene Jahrhundertkatastrophe wie das Erdbeben von Lissabon)13. Die Funktion und Stellung von Einzelübeln kann vollständig nur der unendliche Verstand Gottes überblicken: Uns muss es genügen, diese Zweckwidrigkeiten als Mitfolgen eines bestmöglichen Gesamtplanes anzusehen. Vor dem Hintergrund jedoch dieser Art von extrem rationaler ‚Übelbewältigung‘ geht die ‚Lesbarkeit‘ der Welt tendenziell gegen Null: Hans Blumenberg hat dies scharf herausgearbeitet: „Die Vernunftwelt [sc. der ‚Theodizee‘ Leibnizens S. L.] erwies sich als widerlegt durch Lissabon 1755, obwohl kein Einzelfaktum sie sollte widerlegen können“.

Blumenberg erklärt diesen Kreditverlust eines strikt apriorisch verfahrenden Optimismus mit seiner abstrakten und daher sterilen Folgerichtigkeit: „Ihr [sc. der Vernunftwelt S. L.] Mangel an Resistenz aber war ihr Verlust an Gesicht, an Abdrücken von einer Hand – denn die Vernunft hinterlässt keine Spur. […] Die [angesichts der Übel S. L.] ‚verteidigungsfähige‘ Welt ist stumm, gerade weil sie ein All der Vernünftigkeit geworden ist. Sie ist angewiesen auf die großen metaphysischen Systeme, denen soll nicht mehr widersprochen werden können“14.

11 Vgl. E. Labrousse: Pierre Bayle, 2 Bde, Den Haag 1963–1964; N. Stricker: Die maskierte Theologie von Pierre Bayle, Berlin – New York 2003. 12 Zur Deutungsvielfalt vgl. Gawlick/Kreimendahl, S. XXVIII ff.; L. Kreimendahl (wie Anm. 10) plädiert S. 26 vorsichtig für eine „atheistische Lesart“. 13 Vgl. D. Hildebrandt: Voltaire: Candide. Vollständiger Text. Dokumentation, Frankfurt a. M. – Berlin 1963; W. Breidert (Hrsg.): Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Die Wirkungen des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europäischer Zeitgenossen, Darmstadt 1994 (S. 221–230: Bibliographie); U. Löffler: Das Erdbeben von Lissabon: Untersuchungen zu seiner Deutung im deutschsprachigen Protestantismus, Berlin 1998; F. Mauelshagen: „Der Mythos des ‚Erdbebens von Lissabon‘. Über die Notwendigkeit, Katastrophen historisch zu erforschen“, in: Neue Zürcher Zeitung, 29./30. Oktober 2005, Nr. 253, Literatur und Kunst, S. 46: „Die Vorstellung, das Erdbeben von Lissabon habe die Aufklärung erschüttert, ist nur etwas mehr als hundert Jahre alt. Sie hat Voltaire eine repräsentative Bedeutung für die ganze Epoche gegeben, die der Prüfung kaum standhält. […] Charles Bonnet (1720–1793) sprach Voltaire rundweg jede philosophische Kompetenz ab. […] Die Liste der Widersprechenden ließe sich mühelos verlängern. Wenn die These vom Ende des Popeschen und Leibnizschen Optimismus dennoch ‚aufgeht‘, so darum, weil dieser Optimismus schon vor 1755 in Zweifel gezogen worden war. Lissabon hatte da allenfalls einen Katalysatoreffekt“; vgl. dagegen O. Marquard: „Die Krise des Optimismus und die Geburt der Geschichtsphilosophie. Über die geistesgeschichtlichen Folgen des Erdbebens von Lissabon“, in: Neue Zürcher Zeitung, 29./30. Oktober 2005, Nr. 253, Literatur und Kunst, S. 47–48. Für die Auseinandersetzung mit Marquards These von scheiternder Theodizee und der Entstehung von Geschichtsphilosophie vgl. Lorenz: De mundo optimo, S. 16–23 und S. 237–238. 14 H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981, S. 124–125.

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Wenn allerdings die strikt-metaphysischen Strebepfeiler des Optimismus Leibniz’scher Prägung ganz oder auch nur teilweise entfallen, – so steht zu vermuten – mutiert die Theorie zu einer bloßen Versicherung weltanschaulich-erbaulicher Art, die dann mit der physikotheologischen Bewegung des 18. Jahrhunderts konvergiert, die versichern möchte, alles sei – trotz aller beobachtbarer Übel – schön und gut: davon später. Die ‚Innovation‘ Theodizee war also durchaus eine solche, die der Mit- und Nachwelt15 eine Fülle von Folgelasten (um in der Begrifflichkeit R. Spechts zu bleiben) aufzubürden geeignet war. Und auch der Autor dieser Theorie selbst, Leibniz, hatte – bei allem unbestreitbaren Erfolg seines Buches – so ist es ist als „Grundbuch der deutschen Aufklärung“ apostrophiert worden16 – einige Mühe, den zu seinen Lebzeiten auftretenden Kritikern entgegenzutreten oder sich der erstaunten Öffentlichkeit hinreichend zu erklären, zumal er selbst keine umfassende und eingehendere Darstellung seiner der Theodizee zugrunde liegenden Metaphysik vorgelegt hatte (und dies bis zu seinem Lebensende auch nicht tat), sondern der Öffentlichkeit lediglich kurze Hinweise gegeben hatte und vieles im privaten Briefwechsel verhandelte und darlegte17. H. Schepers hat zu Recht betont, dass „[…] Leibniz in der Theodizee nicht alle Prinzipien erwähnt, […] die alle als Grundlage seiner Argumentation anzusehen“ sind18. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass ihm überaus daran gelegen war, sein Buch in einer umfangreichen, gleichsam ‚offiziösen‘ Rezension (über die er vorab 15 Zur Rezeption der Theodizee vgl. Fr. Chr. Baumeister: „Historia recentiorum controversiarum de mundo optimo“, in: Ders.: Exercitationes Academicae et Scholasticae. Varii generis argumenta ad recentiorum philosophiam […] complexae, Exercitatio XXX, Leipzig – Görlitz 1741; auch separat: Historiam doctrinae recentius controversae de mundo optimo exponit M. Fridericus Christianus Baumeisterus, Leipzig – Görlitz 1741; W. Hübener: „Sinn und Grenzen des Leibnizschen Optimismus“, in: Studia Leibnitiana 10 (1978), S. 222–246; W. Sparn: Leiden – Erfahrung und Denken. Materialien zum Theodizeeproblem, München 1980; H.-G. Janssen: Gott. Freiheit. Leid. Das Theodizeeproblem in der Philosophie der Neuzeit, Darmstadt 1989; L. Fonnesu: „Der Optimismus und seine Kritiker im Zeitalter der Aufklärung“, in: Studia Leibnitiana 26 (1994), S. 131–162; Lorenz: De mundo optimo; ders.: Art. „Theodizee“, in: J. Ritter/K. Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1066-1073; U. Dierse: „Umformulierungen einer unvermeidlichen Frage. Über prominenten und weniger prominenten Gebrauch von ‚Theodizee‘“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 47 (2005), S. 141–161; P. Rateau (Hrsg.): L’idée de théodicée de Leibniz à Kant: héritage, transformations, critiques (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 36), Stuttgart 2009. 16 A. Brunswig: Leibniz, Wien – Leipzig 1925, S. 54. 17 Vgl. jetzt die umfangreiche Monographie von P. Rateau: La question du mal chez Leibniz. Fondements et élaboration de la Théodicée, Paris 2008 und ders.: „Perfection, harmonie et choix divin chez Leibniz: en quel sens le monde est-il le meilleur?“, in: Revue de Métaphysique et de Morale 2 (2011), S. 181–201. H. Schepers hat jüngst versucht, den „rationalen Kern der Theodizee“ herauszuschälen und die Voraussetzungen von Leibniz’ metaphysischem Optimismus systematisch darzustellen. Siehe den Beitrag von H. Schepers im vorliegenden Band sowie ders.: „Ist unsere die beste der möglichen Welten. Was fordert Leibniz zur Affirmation seiner These?“, in: Rechtstheorie 42 (2011), S. 1–20. 18 Ebd., S. 15.

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informiert war) seines Briefpartners Michael Gottlieb Hansch19 erläutert und nicht nur gegen Anwürfe verteidigt, sondern auch mit dem christlichen Glauben vereinbar dargestellt zu sehen20. Darauf, dass er seine Essais de Théodicée nicht als bloß exoterisches Werk (wie oft vermutet) angesehen hat, deutet vieles: Im privaten Briefwechsel erhofft er sich allgemeine und interkonfessionelle Akzeptanz21 für das Buch und nicht nur hat er für die lateinische Übersetzung des Werkes durch Bartholomäus Des Bosses (davon weiter unten) Zusätze verfasst, sondern auch einzelne Paragraphen seiner sogenannten Monadologie mit Verweisen auf entsprechende Paragraphen der Theodizee versehen: Eine synoptischer Druck und eine eingehenderer Blick auf die Texte wären hier eine reizvolle Aufgabe22. Gleichwohl bemerkt er sechs Jahren vor seinem Tod, er habe sich in seiner Theodizee ein wenig populär („un peu familierement“) über nur einen Teil seiner philosophischen Gedanken („sur une partie de mes pensées“) geäußert und er denke an ein lateinisches Werk, in dem er versuchen wolle, sein gesamtes philosophisches System darzustellen („mon systeme entier“)23. Dazu ist Leibniz nicht mehr gekommen. 19 Vgl. E. Bodemann: Der Briefwechsel des Gottfried Wilhelm Leibniz in der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover, Hannover 1889, ND mit Ergänzungen und Register von Gisela Krönert und Heinrich Lackmann, sowie einem Vorwort von Karl-Heinz Weimann, Hildesheim 1966, S. 79, Nr. 361. Briefe bzw. Auszüge aus Briefen Leibnizens an Hansch finden sich in: M. G. Hansch: Godefridi Guilielmi Leibnitii principia philosophiae more gemetrico demonstrata: cum excerptis ex epistolis philosophi et scholiis quibusdam ex hstoria philosophica. […], Frankfurt – Leipzig 1728. Den Briefwechsel bringt Christian Kortholt (Hrsg.): Godefr. Guilielmi Leibnitii Epistolae ad diversos, Vol. III, Leipzig 1738, S. 64–96. Vgl. auch Carl Günther Ludovicis Übersicht über den bei Kortholt veröffentlichten Briefwechsel: Ausführlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Leibnitzischen Philosophie, Zweiter Teil, Leipzig 1737, S. 128–134, § 173. 20 M. G. Hansch in: Neuer Bücher-Saal der Gelehrten Welt, XVII. Öffnung, S. 377–394 und XX. Öffnung, S. 529–552. Vgl. dazu S. Lorenz: „Leibniz und Michael Gottlieb Hansch. Zur Frühgeschichte der Wirkung der Essais de Théodicée in Deutschland“, in: Leibniz und Europa. VI. Internationaler Leibniz-Kongreß, T. 2: Vorträge, Hannover, 18. bis 23. Juli 1994, Hannover 1995, S. 206–211. Ders.: De mundo optimo, S. 128–133. 21 Vgl. G. Utermöhlen: „Ökumenizität der ‚besten Welt‘“, in: A. Heinekamp/A. Robinet (Hrsg.): Leibniz. Le meilleur des mondes (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 21), Stuttgart 1992, S. 65–74; C. Rösler: „L’Influence sur la Theodicee du Negotium Irenicum (1697-1706) entrepris par G. W. Leibniz et D. E. Jablonski“, in: P. Rateau (Hrsg.): Lectures et interprétations des Essais de Théodicée de G. W. Leibniz (Studia Leibnitiana Sonderhefte 40), Stuttgart 2011, S. 285–306. 22 Eine Auflistung der Verweisungen findet sich bei A. Robinet (Hrsg.): G. W. Leibniz: Principes de la nature et de la grace fondés en raison. Principes de la philosophie ou Monadologie. Publiés intégralement d’après les manuscrits de Hanovre, Vienne et Paris et présentés d’après des lettres inédites, Paris 1954, S. 132–133: „Note 2. De la Théodicée à la Monadologie“. Auf den Seiten 134–141 gibt Robinet eine thematische Synopsis am Leitfaden der Monadologie zu den Principes, der Theodizee, den Nouveaux Essais, dem Système nouveau und dem Discours de Métaphysique: „Note 3: Tableau de Correspondance des principaux textes des grandes œuvres leibnitiennes concernant les principes de la philosophie classées d’après la hiérarchie monadologique“. 23 Leibniz an Hugony, nach November 1710; GP III, 680.

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II. FORMEN DES UMGANGS MIT EINER SCHWIERIGEN THEORIE Im Folgenden sei ein kleines, keineswegs vollständiges oder kohärentes Panorama derjenigen Möglichkeiten entworfen, die Leibniz’ Zeitgenossen und seine Nachwelt hatten, sich der innovativen Herausforderung der Theodizee gegenüber zu verhalten – sei es nun im ablehnenden, im kritischen oder im affirmativen Sinne. Theologisch und philosophisch motivierte Ablehnung schlägt dem metaphysischen Optimismus bereits kurze Zeit nach dem Erscheinen der Theodizee entgegen, eine Ablehnung, die das gesamte 18. Jahrhundert und darüber hinaus andauern sollte24. Bereits 1712 hat J. F. Budde eine Dissertation erscheinen lassen, die – lässig gesprochen – einen ‚Rundumschlag‘ gegen den Optimismus darstellt und fast alles vorwegnimmt, was im Folgenden vorgebracht werden wird25. Für eine philosophisch motivierte Ablehnung in der Mitte des Jahrhunderts sei hier nur stellvertretend die Siegerschrift der Preisfrage zum Optimismus der Berliner Akademie auf das Jahr 1755 aus der Feder Adolf Friedrich Reinhards26 genannt, der den voluntaristischen Standpunkt eines Christian August Crusius vertritt und sich gegen den Essentialismus bei Leibniz wendet. Und am Ende des Jahrhunderts wird dann – wie hinlänglich bekannt – Kant das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee konstatieren27. Freilich hatte bereits die Themenstellung der Berliner Akademie – nämlich einen Vergleich zwischen Popes lehrhafter Dichtung An Essay on Man und Leibniz’ diffizilem metaphysischen Optimismus anzustellen – bei kritischen Zeitgenossen Stirnrunzeln hervorgerufen: so etwa bei Lessing und Mendelssohn, deren Beitrag Pope ein Metaphysiker! nicht eingereicht wurde, aber eine deutliche Absage an die Vermengung von Dichtung und streng systematischer Philosophie enthält. Indiz für eine Popularisierung des Theodizeegedankens ist auch die außerordentlich starke, bisher wenig erforschte28 Rezeption des Werkes Ars semper 24 Vgl. S. Lorenz: „Themen und Variationen theologischer Kritik am metaphysischen Optimismus: Von Budde bis Schleiermacher“, in: Rateau (Hrsg.): L’idée de théodicée, S. 69–92. 25 J. F. Budde: Doctrinae orthodoxae de origine mali contra recentiorum quorundam hypotheses modest assertio [...] auctor et respondens G. Chr. Knoerrius [...], Jena 1712. Zur genaueren Analyse der Budde’schen Einwände vgl. Lorenz: De mundo optimo, S. 105–119. 26 A. Fr. Reinhard: „Le Système de M. Pope sur la perfection du monde, comparé à celui de Mr. Leibniz avec un examen de l’Optimisme“, in: Ders.: Dissertation qui a remporté le prix proposé par L’Académie Royale des sciences et belles lettres de Prusse, sur l’Optimisme, avec les pieces qui ont concouru, Berlin 1755. Zu einer inhaltlichen Analyse der Schrift vgl. Lorenz: De mundo optimo, S. 167–179. Vgl. auch M. Hellwig: Alles ist gut. Untersuchungen zur Geschichte einer Theodizee-Formel im 18. Jahrhundert in Deutschland, England und Frankreich, Würzburg 2008, S. 270–297 zu ausgewählten Preisschriften. 27 Vgl. jetzt V. Dieringer: Kants Lösung des Theodizeeproblems: eine Rekonstruktion, StuttgartBad Cannstatt 2009 und ders.: „Zwei Ansätze zur Lösung des Theodizee-Problems“, in: Rateau (Hrsg.): L’idée de théodicée, S. 187–203. 28 Vgl. C. Rosso: „Un Précurseur de la Théodicée: Alphonse Antoine Sarasa“, in: Studia Leibnitiana 3 (1971), S. 136–140 und ausführlich: G. Gawlick: „Theodizee für den Alltag. Bemerkungen zur Rezeption von A. A. Sarasas ‚Ars semper gaudendi‘ in der deutschen Aufklärung“, in: H. P. Delfosse/R. Pozzo (Hrsg.): Vernunftkritik und Aufklärung. Studien

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gaudendi ex principiis divinae providentiae et rectae conscientiae des Jesuiten Alfonsus Antonius de Sarasa (zuerst erschienen Antwerpen 1664–1667). Der Wolffianer Johann Peter Reusch (1691–1758) hat eine mehrfach aufgelegte Ausgabe des Werkes veranstaltet29. Es kann hier nicht der Ort sein, Sarasas Argumentation zusammenzufassen, aber es soll doch die stark aposteriorisch und christlich-apologetisch argumentierende Art des Sarasa’schen Optimismus hervorgehoben werden30. Auch erscheint eine deutsche Zusammenfassung aus der Feder Christian Ernst von Windheims31. Windheim apostrophiert Sarasa in seiner Vorrede als „[…] Leibnitz seiner Zeiten […] der auch das Schwerste auf eine leichte, verständliche und angenehme Art vorzutragen wusste. […] Man darf die Theodizee des grossen Herrn von Leibnitz […] damit vergleichen; so wird man finden, wie sie dieses Buch auf eine anständige Art gebrauchet, und den edlen Schatz der Wahrheit, welcher darinn angetroffen wird, sich zu Nutze gemacht [hat], um sie allgemeiner zu machen. Wo hörte man sonst von der besten Welt reden? Von Leibnitz Zeiten an, ist diese Lehre unter den Philosophen Mode worden. Er ist aber nicht der erste, der dieselbe behauptet hat, sondern Sarasa hat sie längst vorgetragen, und vielleicht aus einem alten Rabbinen genommen. Denn, ob man wohl diese Lehre vor sehr neu gehalten hat, so trifft man doch eben diesen Lehrsatz von der besten Welt schon in den ältesten Zeiten an. Die edelsten Wahrheiten pflegen oft auf eine Zeitlang imVerborgenen zu bleiben, damit sie, wenn sie ans Tageslicht kommen, desto mehr Ansehen auf einmahl erhalten. So ist es auch dieser Wahrheit gegangen“32.

Zunächst ist festzuhalten, dass Windheim Sarasa offensichtlich hinsichtlich des Optimismus einen maßgeblichen Einfluss auf die Leibniz’sche Theodizee zubilligt, (wie es auch die Vita Sarasianae in Reuschs Ausgabe tut)33, ihm aber auch nicht die Urheberschaft an diesem Theorem zuspricht. Ein solcher Einfluss ist

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zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts. Norbert Hinske zum siebzigsten Geburtstag, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 129–144. In vierter Ausgabe: A. A. de Sarasa: Ars semper gaudendi […] Variis accessionibus ac notis indicibusque auctior ac emendatior prodit cum praefatione Ioannis Petri Reuschii cura Ioannis Christiani Fischeri. Editio quarta, Frankfurt – Leipzig 1750. Die vorangestellte „Vitae Sarasianae brevis narratio“ gibt eine Übersicht über die Rezeption des Buches, vor allem im deutschen Bereich (o. pag. §. XIV.). Vgl. Gawlick: „Theodizee für den Alltag“, S. 129–131. Die Kunst stets frölich zu seyn. Aus des berühmten Anton Alfons von Sarasa lateinischem Buche gleichen Nahmens […] (11747; 21749), 4. vermehrte und verbesserte Ausgabe, Helmstedt 1755. Ebd., Vorrede (unpag.). Vgl. Anm. 29. Dort wird Heinrich Köhler, der nachmalige Übersetzer der Monadologie, als Gewährsmann angeführt, der zum engeren Bekanntenkreis Leibniz’ bei dessen Aufenthalt in Wien gehört und dem Leibniz seine Hochachtung für Sarasa mitgeteilt haben soll. Vgl. dazu F. Chr. Baumeister: „Memoria Henrici Koehleri“, in: Ders.: Exercitationes Academicae et Scholasticae, Leipzig – Görlitz 1741, S. 60–71, hier S. 66–67. Zur den Eigenheiten der Köhler’schen Auffassung des Optimismus und seine positive Einschätzung Sarasas vgl. Lorenz: De mundo optimo, S. 151–153. – Ohne Quellenangabe behauptet R. Fülöp-Miller: Macht und Geheimnis der Jesuiten, Berlin 1929, S. 165, dass die Werke des Jesuiten Sarasa von Leibniz sehr geschätzt wurden und dass „er in seiner Theodizee mehrere Grundsätze Sarasas übernommen und verwendet habe“.

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jedenfalls dort nicht etwa durch Nennung seines Namens dingfest zu machen34. Entscheidend ist für unseren Zusammenhang aber die Tatsache, dass Windheim den ‚populären‘ Vortrag bei beiden Autoren schätzt: Weitergehende metaphysische Erwägungen etwa als Voraussetzung und proprium des Leibniz’schen Optimismus oder historische Differenzierungen scheinen ihn hier nicht zu interessieren. Hierzu passt gut das erbauliche Frontispiz: Eine fröhlich gestimmte, den Glauben darstellende weibliche Gestalt präsentiert an einem Meeresgestade ein aufgeschlagenes Buch mit dem Bibelspruch „Gaudete in Domino semper“ (Phil. 4,4) und zwei Genien präsentieren die Werke Epiktets und Senecas, während ein dritter Genius auf das Auge der Vorsehung weist, das über eine Reihe von auf dem Meer dahingleitenden Schiffen (wohl als Symbole unseres Lebensweges) wacht. Hier bricht sich in der Beurteilung des Optimismus ein Eklektizismus Bahn, der den Eigenheiten der metaphysisch fundierten Theodizee eines Leibniz kaum mehr gerecht zu werden vermag. Der Einfluss Sarasas lässt sich bis in die zeitgenössische lehrhafte Dichtung hinein verfolgen: Barthold Hinrich Brockes35 und Johann Peter Uz36, der den Windheim’schen Text besaß37, lassen sich von ihm inspirieren: wie das Thema der Theodizee überhaupt nicht nur von der Dichtung des 18. Jahrhunderts von Haller38 bis Wieland39 gern aufgegriffen40 wird, sondern auch Eingang in die Moralischen Wochenschriften findet41. Auf die Rolle von Alexander Pope42 bei der Herausbildung einer ‚populären‘ Theodizee ist oben schon kurz eingegangen worden. Der für das deutsche 18. Jahrhundert beeindruckendste und wohl auch erfolgreichste Text, der eine populäre Theodizeevariante bietet und metaphysische Gedanken in Form einer lockeren Meditation bietet und dabei auch die zeit-

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Vgl. Gawlick: „Theodizee für den Alltag“, S. 132–133. Vgl. ebd., S. 141–142. Vgl. ebd., S. 142, Anm. 42. Vgl. J. Stenzel: „Uz ein Metaphysiker! Bemerkungen zur philosophischen Lehrdichtung des Johann Peter Uz“, in: E. Rohmer/Th. Verweyen (Hrsg.): Dichter und Bürger in der Provinz: Johann Peter Uz und die Aufklärung in Ansbach, Tübingen 1998, S. 133–156, hier S. 150. A. von Haller: Über den Ursprung des Übels (1734). Chr. M. Wieland: Die Natur der Dinge oder die vollkommenste Welt. Ein Lehrgedicht in sechs Büchern (11751; 21770). Vgl. W. Totok: Das Problem der Theodicee in der deutschen Gedankenlyrik der Aufklärung, Diss. masch. Marburg 1948; U. Steiner: Poetische Theodizee. Philosophie und Poesie in der lehrhaften Dichtung im 18. Jahrhundert, München 2000. Vgl. W. Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, S. 273–277. A. Pope: An Essay on Man, ed. by M. Mack, London 1950. Vgl. Hellwig, S. 187–270 und R. Baasner: „Alexander Popes ‚An Essay on Man‘ in deutschen Übersetzungen bis 1800“, in: Das achtzehnte Jahrhundert 27, 2 (2003), S. 189–216. W. Breidert hat die Charakteristika der Popeschen Theodizeekonzeption griffig herausgearbeitet: A. Pope: Vom Menschen. Essay on Man, übers. von E. Breidert. Mit einer Einleitung hrsg. von W. Breidert, Hamburg 1993, S. VII–XXV.

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genössische Physikotheologie mit einbezieht, ist Die Bestimmung des Menschen von J. J. Spalding43. So heißt es bei ihm etwa: „Diese unaufhörliche unaufhörliche Veränderlichkeit in Allem […] und zugleich die fortdaurende Regelmäßigkeit in den Veränderungen, diese sichtbaren Abzweckungen zu etwas Nützlichen und Guten; diese Mannichfaltigkeit von Einrichtungen, die so genau zu ihren Wirkungen passen, als ob sie mit Absicht und Kunst dazu ausgedacht wären; überhaupt ein Ganzes voll Ordnung, von dem kleinsten Staube an bis zu der unermesslichsten Ausdehnung […] Eines! […] diese Erscheinungen [sind] als stark bedeutende Winke und Fingerzeige Winke und Fingerzeige anzusehen, die mich gerade auf eine erste Grundquelle, auf einen eigentlichen Urheber alles dessen, was da ist, hinweisen“44.

Und dieser erste Urheber hat alles wohl eingerichtet: „Er, dessen Weisheit und Güte sich überall in so sichtbaren Spuren offenbaret, wird nichts geschehen lassen, davon das Ende ihm nicht anständig, und seinen Geschöpfen nicht heilsam sey. […] Zwar in der Welt ist mir alles ein Räthsel […] so auch die Verwaltung der Welt. […] Doch, was brauche ich mehr zu wissen, da ich meine Schuldigkeit und die Oberherrschaft einer unendlichen Liebe mit einer ungezweifelten Ueberzeugung erkenne?“

Aus der Unausgewogenheit von Gütern und Übeln in dieser Welt – auch dies ein Argument der Kritiker des Optimismus – soll für Spalding dann auch noch ein Unsterblichkeitsbeweis folgen, da im Jenseits die göttliche Heilsbilanz zwischen Guten und Bösen wieder ausgeglichen sein soll. Freilich ruft dieser ‚Bestseller‘ der Aufklärung (er erlebt zwischen 1748 und 1794 elf Auflagen) eine an Bayle orientierte, zeitgenössische Kritik auf den Plan, die einerseits strengere, dem Problem angemessenere philosophische Standards einfordert, andererseits in gewisser Weise bereits das Ende der Möglichkeit einer rationaltheologischen Lösung des Theodizeeproblems vorbereitet45. Das Verhältnis des Optimismus des 18. Jahrhunderts zur zeitgenössischen Bewegung der Physikotheologie sollte genauer geklärt werden. Parallelitäten, gegenseitige Beeinflussungen oder Ablösung von metaphysischer Argumentation durch rein aposteriorische Beobachtungen sollten erforscht sein, bevor eine Aussage, wie „[…] die gesamte physikotheologische Bewegung [erscheine] wie eine doxologische Überwindung des barocken Theodizeeproblems“ hinreichend begründet erschiene46. Aber auch Kritiker einer physikotheologisch verfahrenden Theodizee – so etwas J. G. Herder47sollten ihre Darstellung finden. 43 J. J. Spalding: Die Bestimmung des Menschen, hrsg. von A. Beutel, D. Kirschkowski und D. Prause, Tübingen 2006. 44 Ebd., S. 141. 45 Vgl. Lorenz: De mundo optimo, S. 194–210. 46 W. Philipp: Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Göttingen 1957, S. 168. Vgl. M. Kempe: Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672– 1733) und die Sintfluttheorie (= Frühneuzeit-Forschungen 10), Epfendorf 2003, S. 244-274; bes. S. 246–247: „Untersucht worden ist bislang jedoch vornehmlich ihre [sc. der Theodizee S. L.] kritische wie affirmative Rezeption in der Theologie und der Philosophie. Die Anverwandlung der Leibniz’schen Theodizee in der Physikotheologie bzw. der physikotheologisch geprägten Naturforschung des 18. Jahrhunderts ist dagegen bis heute kaum erforscht“. 47 Vgl. Lorenz: De mundo optimo, S. 226–236.

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Eine naheliegende Möglichkeit, der theologischen Kritik an Leibniz’ metaphysischem Optimismus zu begegnen, ist der Versuch, die Rechtgläubigkeit seines Autors und die Übereinstimmung seines Systems mit der Orthodoxie darzutun. Bereits die erste große Rezension der Theodizee von M. G. Hansch48 hebt dies (in Absprache mit Leibniz) hervor. Der wolffianische Theologe Johann Gustav Reinbeck bringt das Theodizeeproblem auf die Kanzel49 und es hat auch nicht an eigenen Programmschriften gemangelt, die die Rechtgläubigkeit Leibnizens dartun wollten. So schreibt etwa der Wolffianer Friedrich Christian Baumeister eine Abhandlung De religione Leibnitii. Hier heißt es: „Si scripta legeris Leibnitiana, si inspexeris alteram alteramve Theodicaeae paginam, tum profecto aut nihil vides, aut vides clarissime, Leibnitium, quantum alii, in scriptis suis, tricis, quantum Logomachiis alii, quantum nonulli denique opinionibus variorum opinionibus percensendis tribuunt, tantum Atheis, ratione convellendis, tantum reliquis religionis irrisoribus, oratione labefactandis, temporis ac st impendisse“50.

In gleiche Richtung geht die Abhandlung von Christian Kortholt mit dem programmatischen Titel Disputatio de philosophia Leibnitii christianae religioni non perniciosa, die der Herausgeber der großen Leibniz-Ausgabe, Louis Dutens, eigens wieder abdruckt51. Eine Apologie durch Einbindung in die Tradition leistet der Jesuitenpater Bartholomäus Des Bosses, der 1719 eine von Leibniz selbst noch mit Zusätzen versehene, lateinische Übersetzung der Theodizee vorlegt. In dem vorangesetzten, umfangreichen Monitum Interpretis, das auf acht Einwände eines nicht genannten, katholischen Theologen gegen Leibniz’ Theodizee antwortet, listet Des Bosses eine ganze Reihe von scholastischen und posttridentinischen Autoren auf, die bereits vor Leibniz etwa das Konzept der ‚neccesitas Dei ad optimum‘ (und andere

48 M. G. Hansch: [Rez. der Essais de Théodicée], in: Neuer Bücher-Saal der Gelehrten Welt […] (1712). Die XIIX. Oeffnung, S. 377–394; Die XX. Oeffnung, S. 529–552. Zu Einzelheiten vgl. Lorenz: De mundo optimo, S. 128–133. 49 „La perfection des oeuvres de Dieu, ou Sermon sur ces paroles de l’Evangile selon St. Marc Chap. 7 v. 37 Il a tout bien fait. Prononcé Le 24 Août. 1738. par Mr. Jean Gustave Reinbeck, Traduit par Jean Des Champs“, in: J. G. Reinbeck: Recueil de cinqu sermons […], Berlin 1739, S. 133–164. Zu Reinbeck und seiner Predigtart vgl. S. Lorenz: „Theologischer Wolffianismus. Das Beispiel Johann Gustav Reinbeck“, in: J. Stolzenberg/O.-P. Rudolph (Hrsg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen ChristianWolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.–8. April 2004, Teil 5, Hildesheim – Zürich – New York 2010, S. 103–121; für den Gesamtzusammenhang vgl. A. Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die ‚philosophische‘ Predigt: Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik, Tübingen 2010. 50 Baumeister: Exercitationes, S. 52–60, hier S. 55. 51 Chr. Kortholt (Hrsg.): Godefridi Guilielmi Leibnitii Epistolae ad diversos, Bd. IV, Leipzig 1742, S. 3–56; L. Dutens (Hrsg.): G. G. Leibnitii Opera omnia, Bd. I, Genf 1768, S. CCIX– CCCXXXIX.

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seiner Positionen) vertreten hätten52. Aber auch eine Einbindung in die aktuelle Diskussion um das Theorem von der besten Welt findet sich neben der bündigen Darstellung der rezenten Debatten53: Johann Ulrich Steinhofer legt 1739 eine Übersetzung der Theodizee vor54, die er mit umfangreichen Anmerkungen auch zur bis dato geführten Debatte versieht, was diese Übersetzung für die Rezeptionsgeschichte des Optimismus überaus wertvoll macht. Sie rückt in das Bewusstsein einer europäischen Öffentlichkeit durch den Umstand, dass Louis Dutens sie in seine große Ausgabe aufnimmt (Opera omnia, Bd. I [1768], S. 35–500) und nicht den französischen Originaltext. Leibniz selbst hatte verschiedentlich daran gedacht, über die Theodizee hinaus, einzelne, größere philosophische Werke (so etwa seine Auseinandersetzung mit Descartes), ausgewählte Briefwechsel (etwa mit Landgraf Ernst, Arnauld, Bayle und Bossuet) und eine Sammlung seiner in verschiedenen wissenschaftlichen Zeitschriften erschienenen Aufsätze herauszugeben – wozu es nicht kam55. Doch gegen Ende seines Lebens hatte er den Wunsch, seine Philosophie weiter bekannt zu machen: So dachte er an eine Publikation einer lateinischen Zusammenfassung seines Briefwechsels mit Clarke56. Schließlich hatte er den Plan „einer vollständigen, systematischen, demonstrativen Darstellung seines philosophischen Systems, wogegen alle bis dahin von ihm bekannt gemachte, die Theodicee nicht ausgenommen, nur wie Proben sich erhalten hätte“57. G. E. Guhrauer macht in diesem Zusammenhang auf eine Erinnerung Christian Wolffs aufmerksam:

52 Godefridi Guilielmi Leibnitii Tentamina Theodicaeae de bonitate Die libertate hominis et origine mali Latin`versa & Notationibus illustrata à M. D. L. [d. i. B. Des Bosses], Frankfurt 1719. Das „Monitum Interpretis“ Bl. 2r–20v; vgl. dazu S. K. Knebel: „Necessitas moralis ad optimum (IV): Repertorium zur Optimismusdiskussion im 17. Jahrhundert“, in: Studia Leibnitiana 25 (1993), S. 201–208; eine deutsche Übersetzung einer längeren Passage des „Monitum“ findet sich in: G. W. Leibniz: Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses, übers., hrsg. und mit einer Einleitung, Anmerkungen und Register vers. von C. Zehetner. Mit einem Konspekt von M. Benedikt, Hamburg 2007, S. 440–449. 53 Vgl. Baumeister: „Historia recentiorum controversiarum“. Diese Schrift ist auch separat erschienen unter dem Titel: Historiam doctrinae recentius controversae de mundo optimo exponit […], Leipzig – Görlitz 1741. 54 G. G. Leibnitii Tentamina Theodicaeae […]. Versio nova […] variis observationibus aucta, Frankfurt – Leipzig 1739. 55 Vgl. E. Ravier: Bibliographie des Oeuvres de Leibniz, Paris 1937, ND Hildesheim 1966, S. 9–12 und S. Lorenz: „‚Auferstehung eines Leibes dessen Glieder wunderbahrlich herumzerstreuet sind‘. Leibniz-Renaissancen und ihre editorischen Reflexe“, in: A. Sell (Hrsg.): Editionen – Wandel und Wirkung (= Beihefte zu editio 25), Tübingen 2007, S. 69–70. 56 Vgl. seinen Brief an den Leibarzt des Zaren, Areskin, Hannover, 3. August 1716, wo es heißt: „Aussitôt que cela sera fait, j’envoyeray ad Acta Eruditorum une petite relation Latine de cette controverse […]“. Der Brief findet sich bei W. Guerrier: Leibniz in seinen Beziehungen zu Russland und Peter dem Grossen. Eine geschichtliche Darstellung dieses Verhältnisses nebst den darauf bezüglichen Briefen und Denkschriften, St. Petersburg – Leipzig 1873, ND Hildesheim 1975, S. 361–364, hier S. 362. 57 G. E. Guhrauer: Gottfried Wilhelm Leibnitz. Eine Biographie, 2. Teil, Breslau 1842, S. 325. Vgl. auch o. Anm. 23.

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„Ich besinne mich noch gar wohl, dass, als er wenige Wochen für seinem Ende mich das letzte mahl besuchte, er mich versicherte, er wollte seine metaphysischen Wahrheiten auf eine geometrische Art demonstriren, dass man an seinen Demonstrationen so sehr wenig, als an Euclides seinen aussetzen könnte: und, wer sich bemühen will, und das Vermögen hat, sie gründlich zu untersuchen, wird gar bald inne werden, dass er sie nicht oben hin, sondern gar tief eingesehen“58.

Wie eine Umsetzung dieses Vorhabens erscheint der Versuch von Leibniz’ Gesprächspartner, Michael Gottlieb Hansch59, einer systematischen Darstellung aller Teile der Leibniz’schen Philosophie aufgrund der bekanntgewordenen Texte. Er betitelt seinen Versuch: Godefridi Guilielmi Leibnitii principia philosophiae, more geometrico demonstrata: cum excerptis ex epistolis philosophi et scholiis quibusdam ex historia philosophica cum indicibus theorematum, auctorum, rerum denique et verborum memorabilium. Accedunt Theoremata metaphysica de proprietatibus quibusdam entis infiniti et finiti mundique existentis perfectione. Ex philosophia Leibnitiana pariter selecta et geometrice demonstrata nec non Meditatio philosophica de unione mentis et corporis denuo edita60. Der barocke Titel verspricht nicht zu viel. Hansch versieht die einzelnen Theoremata mit Belegstellen aus Leibnizbriefen und erläuternden Hinweisen auf ältere und jüngere Philosophen. Die Theoremata CXXVI–CXLIV (S. 178–188) befassen sich mit dem metaphysischen Optimismus. Eine Darstellung der Verzahnung dieses Blocks mit den anderen Systemstücken in Hanschs Darstellung der Leibniz’schen Philosophie kann hier nicht gegeben werden und muss einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben. Leibniz selbst hatte die Gedanken seiner Theodizee in einer strengeren Form präsentiert: als erster der Anhänge zum Werk erscheint ein Abregé de la Controverse reduite à des Argumens en forme61. Und anscheinend separat erschienen62 ist die Causa Dei Asserta per Justitiam Ejus Cum caeteris ejus Perfectionibus, Cunctisque Actionibus63, die dann allen späteren Ausgaben der Theodizee beigegeben wurde, um dann gemeinhin als integraler Bestandteil des Werkes zu gelten. In 144 Paragraphen und einer zusätzlich beigefügten Übersichtstabelle legt Leibniz die Grundgedanken der Theodizee konzise dar. Schon die Wahl der lateinischen Sprache macht deutlich, dass es Leibniz wohl um eine weitere Verbreitung seines metaphysischen Optimismus in der Gelehrtenwelt gegangen ist. 58 Chr. Wolff: „Vorrede“, zu: G. W. Leibniz: Kleinere Philosophische Schriften […] von […] Heinrich Köhler teutsch übersetzet nun auf das neue übersehen von M. Caspar Huth […], Jena 1740, Bl. 10r. Hervorhebungen von Wolff. 59 Zu Hansch vgl. G. W. Götten: Das Jetztlebende Gelehrte Europa […]. Des dritten Theils drittes Stück, Celle 1739, S. 449–483 und D. Döring: „Michael Gottlieb Hansch (1683-1749), Ulrich Junius (1670–1726) und der Versuch einer Edition der Werke und Briefe Johannes Keplers“, in: Beiträge zur Astronomiegeschichte 2 (1999), S. 80–121, bes. S. 96, Anm. 60. 60 Frankfurt – Leipzig 1728. 61 GP VI, 376–387. 62 Es finden sich Exemplare der zweiten (Titel-)Auflage der Theodizee (Amsterdam 1712), die mit der Causa Dei mit ihrem Titelblatt von 1710 zusammengebunden sind: so etwa das Exemplar der Leibniz-Forschungsstelle Münster, Sign: L/1712 [70]. 63 Amsterdam 1710.

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So mochte es für Hansch nahe gelegen haben, den Leibniz’schen Optimismus auch eigens more geometrico64 darzustellen. Bereits drei Jahre vor Erscheinen der oben erwähnten Principia hat er die diesen dann angehängten Theoremata erscheinen lassen65, denen auch eine in 23 Paragraphen aufgeteilte Meditatio philosophica de unione mentis et corporis angehängt war. Damit hatte Hansch schon 1725 in dieser kleinen Schrift zwei der seinerzeit umstrittensten Theoriestücke der Leibniz’schen Philosophie abgehandelt. Der metaphysische Optimismus wird streng geometrisch abgehandelt: Definitionen der tragenden Begriffe sind vorausgeschickt, um dann in 33 Theoremata und Demonstrationes zu dem Schluss zu kommen: „Mundus qui existit, in toto suo ambitu spectatus, non obstante mali permissione actuali, in suo genere in suo genere est perfectissimus“. Mir ist bislang keine Untersuchung zu den beiden Texten Hanschs und seiner Wirkung bekannt geworden66: Sie wäre ein lohnendes Unterfangen, zumal, wenn man sie mit der Leibniz’schen Causa Dei vergliche. Wenn man in Betracht zieht, dass die Leibnizrezeption in Deutschland mehr oder minder vom Wolffianismus tingiert ist, ist es vielleicht keine zu kühne These, wenn man in Hansch den vielleicht wirklich einzigen genuinen Leibnizianer sieht, bevor dann im weiteren 18. Jahrhundert der Leibnizianismus historisch wird oder einzelne seiner Theoriestücke andere Denker für ihre eigenen Systeme inspirieren: Hier ist dann nach 1765 an die Nouveaux Essais zu denken. Es liegt auf der Hand, dass ein Optimismus, der sich eines rein demonstrativischen Verfahrens bedient und sich auf rein apriorische Argumente stützt, sich der Schwierigkeiten entledigt, die die erklärungsbedürftigen, vorfindlichen Zweckwidrigkeiten bereiten. Es ist Georg Bernhard Bilfinger (1693–1750), der dies Ver64 Freilich besteht auch die Möglichkeit, dass Hansch von W. von Tschirnhaus auf den Nutzen der Geometrischen Methode hingewiesen worden ist. Hansch hatte mit Tschirnhaus persönlichen Umgang. Vgl. Götten, S. 456. W. Arndt macht in seinem Buch Methodo scientifica pertractatum. Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theoriebildung des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin – New York 1971, S. 93, darauf aufmerksam, dass Hansch den Titel des Tschirnhaus’schen Hauptwerkes verwendet: M. G. Hansch: Medicina Mentis Et Corporis […] Libri Duo, Amsterdam 1727. Zur „ars inveniendi“ Tschirnhaus’, die auf Wolff gewirkt hat, vgl. Arndt, S. 92–97. 65 Frankfurt a. M. 1725. 66 Baumeister: „Historia recentiorum controversiarum“, S. 54 erwähnt die Principia lediglich und hebt auf deren Methode ab: „ […] subiungebat positiones positiones quasdam de mundi existentis perfectione, suis munitas rationibus, argumentisque roboratas“. – Allerdings macht R. Otto darauf aufmerksam, dass J. Chr. Gottsched bei den Auseinandersetzungen um die Leibniz’sche Monadenlehre im Zusammenhang mit der diesbezüglichen Preisfrage der Berliner Akademie von 1746 darauf hinweist, dass man „den ausführlichsten Commentarium über die leibnitzische Monadologie“ (eben die Principia) in den Diskussionen nicht berücksichtigt habe. Vgl. R. Otto: „Gottscheds Leibniz“, in: F. Beiderbeck/St. Waldhoff (Hrsg.): Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G. W. Leibniz. Beiträge zu seinem philosophischen, theologischen und politischen Denken, Berlin 2011, S. 191–263, hier S. 229. Götten, S. 475–476. kolportiert jedoch die Einschätzung des Journal littéraire (T. XIV): „Herr Hansch hat hierin die Lehre von den monadibus sehr weitläuftig abgehandelt. Die wenigsten haben dieselbe bisher verstehen können, und man zweifelt, ob ihnen diese Schrift ein mehrers Licht geben werde“.

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fahren mit seiner Schrift De origine et permissione mali praecipue moralis commentatio philosophica67 zum Programm erhebt. Er macht deutlich: „Alia est quaestio ista [sc. Die nach dem Ursprung des Übels S. L.] historice instituta: alia est philosophice. Illam ex sacris literis petendam esse concedimus: hanc arbitramur argumentis deduci posse, ex notionibus quidem universaliter receptis, de DEO, creaturis, mundo, malo, & similibus [...]“68.

Lehren der Heiligen Schrift werden als bloß historische hier streng von den philosophischen Wahrheiten getrennt. Hinsichtlich der Methode gilt für Bilfinger: Es sollten nur allgemeine, nicht spezielle Gründe für die Existenz des Übels angegeben werden: „Specialia difficilius attingant homines: generalia eruant facilius“. Argumente a priori sind denen a posteriori vorzuziehen. Wer a posteriori argumentieren will, nimmt eine große, ja fast unmögliche Last auf sich („magnum ille onus subiret & intolerabile“), denn er muss die Perfektion der Welt im Einzelnen aufweisen und dass diese nicht durch eine andere Anordnung der Dinge erreicht werden könnte („explicate enim discernere deberet, quanta sit in hoc mundo perfectio, &, quod illa maior obtineri nulla alia combinatione posset, per singulas eundo demonstrare“). Umgekehrt können bei einem apriorischen Verfahren Einwände, die aus der Erfahrung genommen sind, nichts ausrichten („Distinxeris tamen & objectiones a posteriori factas, ab eiusmodi tractatione“), da diese es niemals zu philosophischen Wahrheiten bringen können: „Puto, nullam esse argutationem profanorum, ex aspectu huius mundi desumtam, in qua non liceat, falsam aliquam propositionem deprehendere, ita quidem, ut argumenta sua nunquam ad evidentia per se principia valeant isti homines probando reducere“.

Das bedeutet für Bilfinger, dass das Theodizeeproblem nur mit logischer Strenge gelöst werden kann: „Igigtur in rigore logico solubilia omnia esse pronuncio: non in significatu tamen liberaliori, quo plenam & specialem quaestionum argumento connexarum dilucidationem includimus“69.

Diesem Programm folgend, handelt Bilfinger seinen Gegenstand dann auf knapp fünfhundert Seiten ab: Einzelheiten können hier freilich nicht vorgeführt werden, lediglich auf die Besonderheiten seiner Methode sollte hingewiesen sein70. Dass die „Geschichte der Philosophie zwischen Wolff und Kant […] noch nicht geschrieben“ sei, diese Feststellung Günter Gawlicks aus dem Jahre 198571, die er in der Einleitung zu H. S. Reimarus’ Die vornehmsten Wahrheiten der

67 1. Aufl. Frankfurt – Leipzig 1724. 68 Hier zit. nach G. B. Bilfinger: De origine et permissione mali […], Tübingen 1743, S. 445. Hervorhebungen von Bilfinger. 69 Alle Zitate: Ebd., S. 446–447. Hervorhebungen von Bilfinger. 70 Vgl. F. de Buzon: „Bilfinger et l’origine du mal, une théorie de la finitude“, in: Rateau (Hrsg.): L’idée de théodicée, S. 93–102. 71 G. Gawlick: „Einleitung“, zu: H. S. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, Göttingen 1985, S. 26.

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natürlichen Religion (wo er auch dessen Theodizeekonzept kennzeichnet72) darf sicher auch heute noch gelten. Ein genauerer Blick auf die einzelnen Vertreter der Wolff’schen Schule hinsichtlich der Frage, ob es etwas und wenn, was es für die Behandlung des Theodizeeproblems bedeutet, wenn einzelne Theoriestücke des Leibniz’schen Systemgefüges73 ausgesondert werden bzw. nur einzelne rezipiert werden wäre hilfreich: Der Wolffianismus tritt hinsichtlich der Substanztheorie (Monade)74 und des Leib-Seele-Problems (prästabilierte Harmonie)75 und des Problems der Kausalität76 keineswegs einheitlich auf: Johann Christoph Gottsched in seiner Begeisterung für die Theodizee einerseits und seine Ablehnung der prästabilierten Harmonie andererseits ist hier ein beredtes Beispiel77.

72 Ebd., S. 20–22. „Doch obwohl Reimarus an Leibniz anknüpft, geht er auf seine eigene Weise vor. Er setzt sich nicht in erster Linie mit Pierre Bayle auseinander, und es geht ihm auch nicht um die Frage, wie menschliche Freiheit und göttliches Vorherwissen zu vereinbaren sind. Er möchte vielmehr zeigen, daß die Menschen Unrecht haben, wenn sie sich über Gott und die Welt beklagen, ja daß sie allen Grund zur Zufriedenheit besitzen, da jede denkbare Veränderung ihrer Lage, von der sie sich Vorteile versprechen, unvermeidlich mit Nachteilen verknüpft wäre und per Saldo zu einer Verschlechterung führen würde. Diese Argumentation, die das bestehende Übel mit den unerwünschten Nebenfolgen jeder Veränderung vergleicht, erscheint plausibler als eine andere, die die Klage der Unzufriedenen als in sich widersprüchlich zu erweisen sucht“. A. a. O., S. 21. Reimarus hat dieses Konzept früh entwickelt. Vgl. H. S. Reimarus: Oratio inauguralis ostendens omnes homines aeque felices esse, Wismar 1723. Jetzt in: H. S. Reimarus: Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie für die vernünftigen Verehrer Gottes (= Veröffentlichungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg 79), hrsg. von W. Schmidt-Biggemann, Göttingen 1994, S. 131–159. 73 Zum Systembegriff bei Leibniz vgl. Arndt, S. 118–123 und F. de Buzon: „Leibniz, ‚mon système‘“, in: Les Cahiers Philosophiques de Strasbourg 18 (2004), S. 7–28. 74 Die umfangreichste zeitgenössische Darstellung gibt Chr. E. Windheim: „Entwurf einer kurzen Geschichte der Schriften von den Monaden oder Elementen der Körper von den Zeiten Leibnizens bis auf die itzigen“, in: Göttingische Philosophische Bibliothek 1 (1749), 6. Stück, S. 469–506; 2 (1749), 1. Stück, S. 4–64; 3 (1750), 4. Stück, S. 289–309 (nicht bei Müller/Heinekamp). Vgl. K. Müller/A. Heinekamp: Leibniz-Bibliographie. Die Literatur über Leibniz bis 1980, 2., neu bearb. Aufl., Frankfurt a. M. 1984, S. 364–370 (verzeichnet unter den Nrn. 3838–3892 die Literatur zu den Monaden bis Kant). Zur Preisausgabe der Berliner Akademie über die Monaden für das Jahr 1747 vgl. die Einleitung von L. L. Bongie in: E. Bonnot de Condillac: Les Monades. Edited with an Introduction and Notes, hrsg. von L. L. Bongie, Oxford 1980, S. 11–107. 75 Vgl. B. Erdmann: Martin Knutzen und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Wolfischen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kant’s, Leipzig 1876, ND Hildesheim 1973, bes. S. 55–97; G. Fabian: Beitrag zur Geschichte des Leib-Seele-Problems (Lehre von der prästabilierten Harmonie und von pychophysischen Parallelismus in der LeibnizWolffschen Schule), Langensalza 1925, ND Hildesheim 1974; E. Watkins: „The development of physical influx in early eighteenth- century Germany: Gottsched, Knutzen, and Crusius“, in: Review of Metaphysics 49 (1995), S. 295–339. 76 Vgl. M. Puech: Kant et la Causalité. Étude sur la formation du systême critique, Paris 1990. Der bescheidene Titel verdeckt, dass Puech hier eine tour d’horizon von Leibniz bis Kant unternimmt. 77 Vgl. Otto.

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III. THEODIZEE UND ATHEISMUS: DIE DUBIA ANONYMI CIRCA EXISTENTIAM DEI Dass die Anwendung formalisierter Methoden auf dem Gebiet der Theologia Naturalis, zumal auf dem des Optimismus eine durchaus zweischneidige Angelegenheit sein kann, zeigt das Beispiel der Zweifel eines Anonymus an der Existenz Gottes, die dieser vom metaphysischen Optimismus herleitet: Dessen Prämissen und weitere Konsequenzen stritten – so der Unbekannte – dergestalt mit den klassischen Attributen Gottes, dass er nicht mehr als Gott im emphatischen Sinne anzusprechen sei und daraus als Konsequenz die Notwendigkeit der Gottesleugnung folge. Dieser Text – die Dubia Anonymi circa existentiam Dei – muss vor 1736 entstanden sein und kann unter die philosophischen Clandestina des 18. Jahrhunderts gerechnet werden. Doch zunächst seien die äußeren Umstände geschildert, unter denen die gelehrte Öffentlichkeit der Zeit von der Existenz dieser Dubia erfuhr, wenn auch der genaue Text selbst wohl nur einem kleinen Kreis von Lesern bekannt gewesen ist. Dabei folgen wir der Darstellung C. G. Ludovicis, der die Angelegenheit, die zu einer mit Heftigkeit geführten Debatte führen sollte, so schildert: „Herr Palm [seinerzeit Hauptpastor in Hamburg S. L.78] erhielte von unbekannter Hand einen Brief, in welchem der Aussteller, ein Mensch von 20 Jahren, offenhertzig bekennet, dass er noch zur Zeit keinen Gott habe glauben können; dieweil er aber doch in einer so wichtigen Sache Gewissheit haben wollte, so übermachte er zugleich in Einschluß diejenigen Zweifel, welche ihn von der Gewissheit der göttlichen Würcklichkeit zurück gehalten hätten und bat sich von dem Hrn. Palm aus solche aufzulösen und ein Mittel zu erdencken, wie er der Antwort teilhafftig werden könnte, indem er bey solchen Umständen Bedencken trüge, seinen Nahmen und den Ort seines Aufenthaltes zu nennen. […] Dahero er [Palm S. L.] sich vor verpflichtet geachtet hat, diesem jungen Wolffianer, der schon in seinem dritten Jahre [seit drei Jahren S. L.] die Wolffische Philosophie muß durchstudiret haben, in seinem höchstgefährlichen Zustande beyzuspringen, so, dass er die Antwort durch den Druck hat wollen bekannt machen“. Doch seien in dieser Antwortschrift die Sätze des Ungenannten „nicht […] mit abgedruckt […], weil Herr Palm letztere, aus besonderer Ehrfurcht gegen das höchste Wesen, nicht hat bekannt machen, sondern nur wiederlegen wollen. Weil nun unter diesen Sätzen auch stehet, dass die gegenwärtige Welt die beste sey, dass Gott das Böse gebrauche, um etwas Gutes dadurch zu befördern &c. &c. und der Ungenannte sich dabey auf Hrn. Wolffen ausdrücklich beruffen hat; so ächzt und seufzet Hr. Palm gleich anfangs über die über die Wolffische Philosophie, und will die Welt bereden, sie solle ihm zu Gefallen glauben, dass die Wolffische Philosophie solche böse und betrübte Früchte hervorbrächte. Daher nimmt er Gelegenheit, Wolffen dieser beyden Sätze wegen weitläufftig zu wiederlegen, um also den Ungenannten von der Unrichtigkeit seiner Zweifel zu überzeugen“79.

78 Zu Johann Georg Palm vgl. Götten, Bd. I (1735), S. 112-114; Bd. IV (1743), S. 212–224 (S. 217–224: Bibliographie der Schriften Palms). 79 C. G. Ludovici: Ausführlicher Entwurff einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie […], Anderer Theil, Leipzig 1737 (Chr. Wolff: Gesammelte Werke, III/1.2, Hildesheim – New York 1977), S. 609–611. Ein späterer Bericht über diese Vorgänge findet sich bei Baumeister: „Historiam recentiorum controversiarum“, S. 59–61.

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Bei Palms Antwort handelt es sich um die Schrift Abhandelung von der Unschuld Gottes bey der Zulassung des Bösen, und dem Fall unserer ersten Eltern in einem Send-Schreiben an einen Unbekannten verfasset80. Bei den Zeitgenossen, zumal den wolffianisch gesinnten, wurde der Verdacht gehegt, Palm habe jenen Unbekannten und sein Thesenpapier entweder lediglich fingiert, um einen Vorwand zu haben, gegen die Konsequenzen des metaphysischen Optimismus vom biblizistisch-theologischen Standpunkt schriftstellerisch auftreten und polemisieren zu können, oder aber sei einer Fälschung aufgesessen. Letzteres scheint Ludovici anzunehmen: Man mutmaßte, „dass dieser Palmische Jüngling eine Mißgeburth der Langischen [sc. des Hallenser WolffGegners Joachim Lange S. L.] Einbildungskraft sey. Ob nun freylich diese Historie einer Fabel ziemlich ähnlich siehet, die von einem Gegner der der Wolffischen Philosophie künstlich und heimtückisch ausgedacht worden ist, indem die überschickten Sätze, welche dem Ungenannten noch nicht haben verstatten wollen, dass er von der Wiegen an bis in sein milchbärtiges Alter einen Gott gegläubet hätte, alle aus der Wolffischen Philosophie entlehnet sind; so hat sich doch der Hr. Palm nicht träumen lassen können, dass man ihn durch Erdichtungen wolle in die Wolffische Streitigkeiten mengen, und also hat er die Geschichte vor wahr angenommen“81.

Es ist für uns nicht mehr zu entscheiden, ob es diesen Anonymus wirklich gegeben oder ob Palm ihn selbst erfunden hat und selbst der Verfasser der inkriminierten Thesen oder das Opfer einer Fälschung gewesen ist. Sollte Letzteres der Fall gewesen sein, so ist es eher unwahrscheinlich, dass wolffianisch gesinnte Kreise sich einen solchen Schabernack erlaubt hätten: Zu heiß waren die Wolff’schen Prinzipien umkämpft, als dass man noch zusätzlich Öl ins Feuer der Debatten hätte gießen wollen. Denkbar ist umgekehrt freilich, dass antiwolffianische Kreise daran interessiert hätten sein können, einen prominenten lutherischen Theologen durch anonyme Zusendung ausgesprochen radikaler Thesen in die Streitigkeiten zu verwickeln, um die aus ihrer Sicht fatalen Folgen der Wolff’schen Philosophie im Allgemeinen und des Optimismus im Besonderen einmal mehr aufzuzeigen. Die Thesen selbst bieten keinen Anhalt für auch nur eine Vermutung, aber wie sich dem auch immer verhalten möge, Tatsache ist, dass das Buch Palms eine ungeheure Resonanz in der Öffentlichkeit hatte und eine ganze Reihe von Publikationen für und gegen den Optimismus zeitigte. Die unmittelbare und prominenteste Reaktion war das Buch des Berliner Propsts und Konsistorialrates Johann Gustav Reinbeck, der von Palm angegriffen worden war: Beantwortung der Einwürffe welche ihm in einer ohnlängst heraus gekommenen Schrifft: Abhandlung von der Unschuld Gottes bey der Zulassung des Bösen genannt, sind gemacht worden. Worinn zugleich diese wichtige Lehre nebst der Frage: Ob diese Welt die beste sey in ihr gehöriges Licht gesetzet wird82. Die zwischen Reinbeck und Palm gewechselten Argumente83 sollen hier 80 Hamburg 1736. 81 Ludovici, S. 610. Baumeister: „Historiam recentiorum controversiarum“, S. 60: „[…] dubium est, ipsene Palmius finxerit Palmius, an serio quis ad illum et ex animo scripserit […]“. 82 Berlin 1736. Vgl. dazu Ludovici, S. 632–633 und Baumeister: „Historiam recentiorum controversiarum“, S. 61–63.

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nicht wiedergegeben werden: Diese und die Einlassungen der sich daran anschließenden Publizistik böten Stoff genug für eine eigene Monographie84, auch wenn vieles Geäußerte sich dann doch in den konventionellen Bahnen der am Ende ermüdenden Debatte um Wolffs Philosophie und ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Folgen für Religion und Theologie bewegt. Doch wenden wir uns dem Anlass der Debatte Palm-Reinbeck selbst zu. Die Dubia Anonymi haben sich tatsächlich bislang in zwei handschriftlichen Fassungen auffinden lassen. Im Nachlass von Hermann Samuel Reimarus und auf der Universitätsbibliothek Leipzig im Nachlass des wolffianisch gesinnten und mit Reinbeck befreundeten Grafen von Manteuffel85 haben sich die Anonymi Dubia circa existentiam Dei in Abschriften86 erhalten. Das Hamburger Manuskript, das wir im Anhang mit einer deutschen Übersetzung wiedergeben, ist von der Hand Hermann Samuel Reimarus’ (1694–1768), der seit 1728 am Gymnasium Johanneum als Professor für orientalische Sprachen in Hamburg wirkte. Reimarus lebte in unmittelbarer Nachbarschaft zu Palm und musste an dem Text interessiert sein: führte er doch selbst ein Doppelleben. Einerseits war er der geachtete Philologe und Verfasser der vielbeachteten Vornehmsten Wahrheiten der Natürlichen Religion, andererseits der vielberufene ‚Ungenannte‘, aus dessen heterodoxer, geheimgehaltener Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes87 Lessing die sogenannten Wolfenbütteler Fragmente (die er einem ‚Ungenannten‘ zuschreiben wollte, um die mit ihm befreundeten Kinder Reimarus’ nicht zu kompromittieren) veröffentlichte, um damit einen Sturm der Entrüstung

83 Ein ausführliches Referat findet sich in der von dem Berliner reformierten Theologen Isaac de Beausobre (1659–1738) herausgegebenen Bibliothèque Germanique: Année 1737, Tome 38, S. 170–185 und Année 1737, Tome 39, S. 109–119 (ND Genf 1969, hier: Tome IV, S. 469– 473 u. S. 515–517). 84 Vf. bereitet eine Dokumentation aller für die Diskussion relevanten Texte vor. 85 Zu Manteuffel vgl. Th. v. Seydewitz: Ernst Christoph Graf Manteuffel. Kabinettsminister Augusts des Starken. Persönlichkeit und Wirken, Dresden 1926 und jetzt J. Bronisch: Der Mäzen der Aufklärung: Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus, Berlin 2010. 86 Staatsarchiv Hamburg, Nachlass H. S. Reimarus, 622. A 12. Vgl. Hermann Samuel Reimarus: Handschriftenverzeichnis und Bibliographie (= Veröffentlichungen der Joachim-JungiusGesellschaft der Wissenschaften 37), zusammengestellt und eingeleitet von W. SchmidtBiggemann, Göttingen 1979, S. 26, N. XLI. Diese Abschrift ist von Reimarus’ Hand (freundl. Hinweis v. W. Schmidt-Biggemann). Eine weitere bei Schmidt-Biggemann aufgelistete Handschrift im Staatsarchiv Hamburg lässt sich unter der Signatur A 710/803, Bd. 1, Nr. 76 nicht auffinden. Es soll eine weitere Abschrift in der SUB Hamburg unter der Signatur Theol. 2164 existiert haben, die aber verschollen ist. Vgl. M. Benítez: La Face cachée des Lumières. Recherches sur les manuscrits philosophiques clandestins de l’âge classique, Paris – Oxford 1996, S. 34, N. 73. Eine weitere Abschrift findet sich in der Universitätsbibliothek Leipzig: Ms 0330, 124r–125r unter dem Titel: Dubia Circa Existentiam Dei orta. 87 H. S. Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, im Auftrag der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg hrsg. von G. Alexander, Frankfurt a. M. 1972.

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unter den Theologen, allen voran Johann Melchior Goeze88, hervorzurufen. Das Manuskript weist über den Text hinaus keinerlei Vermerke oder Bemerkungen auf: Auf welchem Wege es in Reimarus’ Hände gelangt ist, konnte bislang nicht ermittelt werden. Ähnlich verhält es sich mit der Abschrift, die sich im Nachlass des wolffianisch gesinnten Grafen Ernst Christoph von Manteuffel auf der Universitätsbibliothek zu Leipzig erhalten hat. Sie befindet sich in einem umfangreichen Konvolut, das Aufzeichnungen, Konzepte, Abschriften und Briefe zum Wolffianismus und zu den Streitigkeiten um dessen Philosophie beinhaltet. Bemerkenswert ist, dass unmittelbar vor die Dubia eine handschriftliche, deutsch gehaltene Remotio Dubio rum juvenilium, circa Existentiam Dei gestellt ist, die laut Unterschrift aus der Feder eines gewissen G. Möller geflossen ist, und die wir ebenfalls im Anhang abdrucken. Es ist nicht klar, wie Manteuffel, der ein regelrechter Organisator wolffianischer Netzwerke gewesen ist (Johannes Bronisch hat dies unlängst beeindruckend gezeigt) an den Text gekommen ist. Aber es klar, dass Manteuffel an solch einer zugespitzt anti-wolffianischen Position wie der des Anonymus ebenso interessiert sein musste, wie an deren Widerlegung. Denn als Begründer der Gesellschaft der wolffianischen gesinnten Alethophilen89 und enger Freund Johann Gustav Reinbecks und des Verlegers Ambrosius Haude (der das Motto Sapere Aude in seinem Verlagssignet trug) war er von der Vereinbarkeit von Offenbarung und Theologie mit der Wolff’schen Philosophie fest überzeugt. Die Thesen des Anonymus lesen sich in gewisser Weise wie die formalisierte Explikation des in der Theodizeeliteratur vielberufenen Diktums Epikurs90: Auch der Anonymus nimmt das Übel und die Zweckwidrigkeiten als diejenige Instanz, an der die Zuschreibung klassischer Attribute (Allmacht, Gerechtigkeit, Güte) an das höchste Wesen zuschanden werden muss. Freilich will der Anonymus in unserem Text den Atheismus als Konsequenz ziehen, während doch Epikur – was schon Laktanz sieht, dem wir das Fragment verdanken – darauf hinaus will, dass Gott für nichts sorgt und folglich nicht verehrt und nicht gefürchtet werden muss: eine für einen Denker des 18. Jahrhunderts unmögliche Position. Aber auch eine Lösung des Theodizeeproblems, wie sie Pierre Bayle vorschlägt, nämlich einen 88 Vgl. H. Höhne: Johan Melchior Goeze. Stationen einer Streiterkarriere (= Vergessene Theologen 3), Münster 2004. 89 Zu den Alethophilen vgl. D. Döring: „Beiträge zur Geschichte der Gesellschaft der Alethophilen in Leipzig“, in: Ders./K. Nowak (Hrsg.): Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820) (= Abh. Der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.hist. Klasse, Bd. 76, H. 2), Teil I, Stuttgart – Leipzig 2000, S. 95–150; S. Lorenz: „Wolffianismus und Residenz. Beiträge zur Geschichte der Gesellschaft der Alethophilen in Weißenfels“, in: Ebd., Teil 3, S. 113–144; vgl. auch Otto, S. 256–257. 90 „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig wie auch schwach, und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?“ Epikur F. 374 Us. (Laktanz: De ira Dei, cap. 13, 19–22). Übers. v. O. Gigon.

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Fideismus, der bei aller Einsicht in die Schwäche der Vernunft in Religionsdingen und in die Unmöglichkeit einer natürlichen Theologie sich dem bloßen Glauben anheimgibt, akzeptiert unser Anonymus nicht. Ein Rekurs auf die Uneinsehbarkeit der Wege Gottes ist für ihn ebenfalls philosophisch nicht erlaubt. Auch etwa der Verweis auf den freigeschaffenen Willen des Menschen, den Gott nicht beschränken will, lässt er nicht gelten. Der Text besteht aus 36 Paragraphen91 und seine Argumentation, mit dem abschließenden Ergebnis, dass es Gott nicht gebe, vollzieht sich in mehreren Teilschritten, bei denen zunächst die Attribute Gottes: Gerechtigkeit, Güte, Frömmigkeit als mit dem Übel unvereinbar erklärt werden. Etwas quer dazu steht dann die Behauptung, die Welt könne nicht von Gott geschaffen sein und schließlich wird ein weiteres Mal Gottes Ungerechtigkeit dargetan, weil er die Sünder straft, wenn doch Übel (also auch die Sünden) zu einem größeren Gut führen sollten. 1. Die Paragraphen 1 – 4 behandeln zunächst einleitend die Begriffe von Ursache und Wirkung, Handlungen und deren Folgen, erläutern die Begriffe wie „Urheber“‚ „Wille“ und „Neigung“. 2. In den Paragraphen 5 – 15 will der Anonymus zeigen, dass Gott als Schöpfer des Menschen auch Urheber seiner Taten, auch der üblen ist. Da er (Paragraph 13 und 14) dann auch eine Neigung dazu habe, indirekter Urheber dieser Taten zu sein, so zieht er (Paragraph 16) seine erste Schlussfolgerung: Gott ist für ungerecht zu halten. Der Paragraph 18 kommt aufgrund dieser ersten Schlussfolgerung zu einem ersten Zwischenergebnis: Wer nicht gerecht ist, ist nicht das vollkommenste Wesen. Gott ist nicht gerecht. Gott ist nicht das vollkommenste Wesen. Wenn er nicht das vollkommenste Wesen ist, denke ich gar keinen Gott. Es gibt keinen Grund, Gott zu glauben. 3. Die Paragraphen 19 – 26 diskutieren den Begriff der besten Welt, wobei sich der Anonymus auf die Deutsche Metaphysik Christian Wolffs bezieht. Nach der Definition Leibnizens92 muss der Weise auch das Glück der anderen wünschen und die Macht haben, die geeigneten Mittel dazu zu gebrauchen, zumal das vollkommenste und allgütige Wesen. Wer üble Mittel zur Erlangung seines Zwecks wählt, ist böswillig. Gott bedient sich aber der Übel zur Erlangung eines größeren Gutes (wobei hier wieder Wolff als Gewährsmann herhalten muss). Der Autor kommt hierüber so zu seiner zweiten Schlussfolgerung (§ 26): Gott ist böswillig. Da Gott so nicht das Bestreben hat, andere vollkommen zu machen, ist er nicht fromm und auch von daher nicht das vollkommenste Wesen und nicht Gott. Daraus folgt eine zweites Zwischenergebnis (§ 28): Gottesverehrung ist Einbildung. 4. Die Paragraphen 29 – 30 unterstellen, dass ein vollkommenstes Wesen nur Volkommenes schaffen könne: die Zweckwidrigkeiten in der Welt ließen aber 91 Die Nummerierung springt an zwei Stellen. Unsere Angaben beziehen sich auf die von uns berichtigte Zählung. 92 Der Anonymus hat wohl die Monadologie, § 86, und die Principes de la nature et de la grâce, § 23, vor Augen.

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nur eine dritte Schlussfolgerung zu (§ 31): Diese Welt verdankt ihre Existenz nicht Gott. 5. Paragraphen 32 – 35: Gesetzt, dass Gott Übel, also auch unsere Sünden als Mittel für höhere Güter einsetzt (einmal abgesehen davon, dass dies dem vollkommensten Wesen nicht anständig sei), warum belegt er diese ja in der letzten Konsequenz „wohltätigen“ Handlungen mit sanktionierenden Strafen? Die Unbeantwortbarkeit dieser Frage lässt für den Anonymus nur eine vierte Schlussfolgerung zu (§ 35): Gott ist einmal mehr als ungerecht zu bezeichnen. Gott ist dieser Argumentation zufolge seiner wichtigsten Attribute beraubt, vor allem aber seiner Gerechtigkeit. Gott muss aber, um im Vollsinn als Gott angesprochen werden zu können, mit diesen Attributen ausgestattet sein. Das führt zum Gesamtergebnis (§ 36): Gott existiert nicht. Soweit zur Struktur des Textes. Einzelne Argumente erscheinen nicht unproblematisch. So etwa die kühne These, Gott könne nur Vollkommenes schaffen. Die Verfechter der Theodizee hatten ja lediglich argumentiert, Gott habe das Bestmögliche geschaffen und nicht – was philosophisch bedenklich wäre – das Beste schlechthin. Hier bürdet der Anonymus seinen Gegnern (und auch Gott) wohl mehr als notwendig auf. Aber man wird dem Autor unabhängig von der Schlüssigkeit seiner Argumente durchaus ein geschärftes Sensorium für die Probleme und Widersprüchlichkeiten der Natürlichen Religion auf dem von ihm behandelten Feld zusprechen können93. Der anonyme Autor versucht – um so zu reden – den metaphysischen Optimismus von innen heraus, von seinen eigenen Prinzipien her zu kritisieren, um deren Widersprüchlichkeiten und Aporien dingfest zu machen und nicht, indem er ihm gegenüber einen biblizistischen oder orthodoxtheologischen Standpunkt geltend macht. Ob allerdings mit dem kleinen Text Remotio Dubiorum juvenilium, circa Existentiam Dei, den wir ebenfalls im Anhang publizieren, wirklich eine Widerlegung der Dubia gegeben ist, darf bezweifelt werden. Der Nachweis syllogistischer Schwächen ist eine Sache, jedoch den grundlegenden Problemen des metaphysi93 Übrigens ist es interessant zu sehen, dass im 19. Jahrhundert John Stuart Mill in seinen Three Essays on Religion (posthum veröffentlicht 1874) die Existenz des Übels mit gleicher Scharfsichtigkeit in seinen Überlegungen berücksichtigt: „Welchen Maßstab der Gerechtigkeit wir nach unseren ethischen Anschauungen auch immer anlegen mögen, die Natur liefert uns keinerlei Beweise für eine göttliche Gerechtigkeit“. Aber er zieht eine andere Konsequenz als unser Anonymus daraus: die natürliche Religion in seinem Verständnis lässt nur auf ein höheres „Wesen von großer, aber beschränkter Macht“ schließen. Wichtiger ist für Mill aber ein zweiter Punkt, der auf die Selbsttätigkeit des Menschen in dieser Mängelsituation zielt: […] jede noch so unvollkommene Verwirklichung der Gerechtigkeit in der menschlichen Gesellschaft (eine bis jetzt äußerst unvollkommene Verwirklichung) ist das Werke des Menschen selbst, der sich im Kampf gegen ungeheure natürliche Hindernisse zu einem zivilisierten Zustand emporarbeitet und sich eine zweite Natur schafft, die weitaus besser und uneigennütziger ist als die, mit der er erschaffen wurde“. J. S. Mill: Drei Essays über Religion, auf der Grundlage der Übersetzung von E. Lehmann neu bearb. und mit Anmerkungen und einem Nachwort vers. von D. Birnbacher, Stuttgart 1984, S. 162. Ein solcher Gedanke der menschlichen Selbstvervollkommnung muss unserem Anonymus naturgemäß noch fremd sein.

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schen Optimismus, die die Dubia – wie maladroit auch immer – ansprechen, ist zumindest so nicht beizukommen. Immerhin liefert der Verfasser G. Möller eine amüsante Hypothese über die Verfasserschaft der Dubia. Er hat den Gedanken, der Verfasser könne ein Freund der Philosophie Christian Wolffs gewesen sein, der habe zeigen wolle, wie windig mögliche Einwürfe gegen den Optimismus daherkämen, da sie doch leicht zu widerlegen wären oder „von selbst wegfallen“. Da ein Zeitgenosse des Anonymus seine Vermutungen über den Verfasser so sehr ins Kraut schießen lässt, sei es mir abschließend erlaubt, darüber auch einen Gedanken zu äußern, der mir reizvoll erscheint: Ich stelle mir vor, dass der Verfasser ein aufmerksamer Leser Pierre Bayles gewesen sein könnte, der es nicht bei dessen (in gut pyrrhonischer Manier – im Sinne der ‚Isosthenie‘, die dogmatische Aussagen verunmöglicht94 – vorgenommener) Konfrontation der apriorischen Argumente mit aposteriorischen (vgl. das oben zitierte Gespräch zwischen Melissus und Zoroaster) belassen wollte, sondern auch herausfinden wollte, welche Elemente dem apriorisch verfahrenden metaphysischen Optimismus immanent wären und in ihrer Unverträglichkeit untereinander geeignet, diesen unmöglich zu machen. Aber solange wir keine weiteren Dokumente finden, die uns näheren Aufschluss geben, bleibt auch das nur eine Vermutung. Es ist oben von verschiedenen Formen des Umgangs mit der Theodizee und dem Optimismus die Rede gewesen. Eine dieser Formen ist nicht erwähnt worden, was hier zum Schluss geschehen soll. Sie besteht darin, den Diskursrahmen des Rationalismus, der Orthodoxie und des Voluntarismus innerhalb dessen sich die Diskussion um die beste Welt bislang bewegt hatte, zu verlassen. Gotthold Ephraim Lessing verschiebt das Problem, wenn man sich so ausdrücken dürfte, von der Synchronie in die Diachronie, von der Metaphysik in die Geschichte. Mit dieser Verschiebung schlägt er ein ganz neues Kapitel der Diskussion über den Optimismus auf, das dann in Hegels Vorstellung von der Weltgeschichte als der „wahrhafte[n] Theodicee“95 kulminieren wird. Im Vorbericht des Herausgebers zu seiner Erziehung des Menschengeschlechts bringt er seine geschichtsphilosophischen Erwägungen explizit in Zusammenhang mit der Theodizee: „Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll? Als über eine derselben entweder lächeln, oder zürnen. Diesen unsern Hohn, diesen unsern Unwillen, verdienet in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bei allem im Spiele: nur bei unseren Irrtümern nicht?“96

94 Vgl. etwa S. Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis (I, 32), eingel. u. übers. von M. Hossenfelder, Frankfurt a. M. 1985, S. 101. 95 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Jub.-A., Bd. 11 hrsg. von H. Glockner. Stuttgart-Bad Cannstatt 1927-1940, S. 569. 96 G. E. Lessing: Werke, Bd. 8, hrsg. von H. G. Göpfert, München 1979, S. 489. Hervorhebung von mir.

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ANHANG Herr Prof. Dr. Günter Gawlick (Witten) hat die Übersetzung der Dubia angefertigt und freundlich erlaubt, diese hier zu veröffentlichen. Dafür möchte ich ihm, wie auch für manchen Hinweis, herzlich danken. – Die Nummerierung der Dubia springt im Manuskript an zwei Stellen (§ 5 auf § 7 und § 11 auf § 13). I. Anonymi Dubia circa existentiam Dei orta missa ad Jo. Ge. Palmium Pastorem Petrinum Hamb. quibus respondit libello cui Tit. Abhandlung von der Unschuld Gottes bey der Zulassung des Bösen. Hamb. 1736.897 Eines Ungenannten Zweifel bezüglich der Existenz Gottes. Übermittelt an Johann Georg Palm, Pastor der Petrikirche zu Hamburg, und von diesem beantwortet durch die „Abhandlung von der Unschuld Gottes bey der Zulassung des Bösen“ (Hamburg 1736, 8°) §1 Inter causam et effectum datur nexus. Actiones liberae sunt causae effectuum ex illis ortorum. Nexus itaque datur inter actiones liberas earumque effectum. Zwischen Ursache und Wirkung besteht eine Verknüpfung. Freie Handlungen sind Ursachen der Wirkungen, die aus ihnen hervorgehen. Es besteht daher eine Verknüpfung zwischen freien Handlungen und ihrer Wirkung. §2 Nullam actionem sine consectariis reperimus. Hinc qui rationem existentiae actionis in se continet, is quoque ut auctor consectariorum ejus sit necesse est. Eine Handlung ohne Folgen findet man nicht. Daher ist derjenige, der den Grund der Existenz einer Handlung in sich trägt, notwendigerweise auch Urheber ihrer Folgen. §3 Auctorem actionis eum dico, ad cujus voluntatem efficacem existentiam vel non existentiam actionis referre possum. Urheber einer Handlung nenne ich denjenigen, auf dessen wirksamen Willen ich die Existenz oder Nichtexistenz der Handlung zurückführen kann. 97 Staatsarchiv Hamburg, Nachlass H. S. Reimarus, 622. A 12.

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§4 Per voluntatem efficacem intelligo conatum agendi. Conatus praesupponit inclinationem, aut ut Galli dicunt plaisir. Qui igitur aliquid agit, in illo inclinationem, sive un plaisir, ad id quod agit deprehendimus. Unter einem wirksamen Willen verstehe ich das Streben zu handeln. Das Streben setzt eine Neigung oder, wie die Franzosen sagen, ein plaisir voraus. Wer etwas tut, bei dem nimmt man daher eine Neigung an oder ein plaisir an dem, was er tut. §5 Deus (ponam Deum) homines ad existentiam produxit, itaque illorum existentiae auctor est. Cum autem nulla detur actio sine consectariis, etiam hominis existentiam non concipimus sine consectariis. Cumque nexus sit inter actiones earumque consectaria, inter existentiam quoque hominis ejusque effectus (germanice Folgerungen) nexus reperitur. Ergo inter existentiam hominis ejusque effectus datur nexus. Tollas velim hominem, tolles etiam effectus, et inde nexum ortum inter hominem et eius effectum. Gott (ich nehme einmal einen Gott an) hat die Menschen zur Existenz gebracht, daher ist er Urheber ihrer Existenz. Da es aber keine Handlung ohne Folgen gibt, können wir auch die Existenz des Menschen nicht ohne Folgen denken. Da aber eine Verknüpfung zwischen Handlungen und ihren Folgen besteht, findet man auch eine Verknüpfung zwischen der Existenz des Menschen und ihren Wirkungen bzw. Folgen. Daher gibt es auch eine Verknüpfung zwischen der Existenz des Menschen und ihren Wirkungen. Nimmt man den Menschen weg, so nimmt man auch die Wirkungen weg, und damit auch die Verknüpfung zwischen dem Menschen und seiner Wirkung. § 7 [§ 6] Hinc cum nulla sit actio sine consectariis, eum quoque qui actionis auctor est, ejus consectariorum auctorem esse satis liquet. Da keine Handlung ohne Folgen bleibt, ist daher ganz offenkundig derjenige, der Urheber einer Handlung ist, auch Urheber ihrer Folgen. § 8 [7] Deus est auctor, sive causa existentiae hominis, ergo et consectariorum ex existentia hominum ortorum auctor est. Gott ist der Urheber oder Ursache der Existenz des Menschen, also auch Urheber der Folgen, die aus der Existenz von Menschen hervorgehen.

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§ 9 [8] Qui est causa causae, est etiam causa causatorum. Wer Ursache der Ursache ist, ist auch Ursache des Verursachten. § 10 [9] Omnia mala illa, quae patiantur, sunt consectaria ex hominum existentia orta. Ergo Deus et malorum est auctor. All die Übel, die geschehen, sind Folgen, die aus der Existenz von Menschen hervorgehen. Also ist Gott auch Urheber von Übeln. § 11 [10] Qui rem aliquam ad existentiam producit, illius rei existentia ad ejus voluntatem efficacem referri potest. Wer ein Ding zur Existenz bringt, auf dessen wirksamen Willen kann die Existenz dieses Dinges zurückgeführt werden. § 13 [11] Actiones et earum consectaria inter se connexa sunt. Ad cujus ergo voluntatem efficacem actiones referri possunt, ad ejus quoque voluntatem efficacem earum consectaria referenda sunt. Handlungen und ihre Folgen sind miteinander verknüpft. Auf wessen wirksamen Willen daher Handlungen zurückgeführt werden können, auf dessen wirksamen Willen sind auch ihre Folgen zurückzuführen. § 14 [12] Existentiam hominis ad voluntatem Dei referre possumus: ergo et consectaria, quae ex hominum existentia oriuntur. Consectaria mala sunt etiam effectus existentiae hominis. Ergo et mala ad Dei voluntatem referri possunt. Wir können die Existenz des Menschen auf den Willen Gottes zurückführen, also auch die Folgen, die aus der Existenz von Menschen hervorgehen. Die üblen Folgen sind gleichfalls Wirkungen der Existenz des Menschen. Daher können auch die Übel auf den Willen Gottes zurückgeführt werden. § 15 [13] Qui voluntatem efficacem habet aliquid agendi, is habet conatum agendi, seu ut Galli plaisir ad id quod agit. Wer den wirksamen Willen hat, etwas zu tun, der hat auch das Streben, es zu tun, oder, wie die Franzosen sagen, plaisir an dem, was er tut.

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§ 16 [14] Existentia hominis ad voluntatem divinam refertur. Ergo Deus habet inclinationem ad hominis existentiam. Die Existenz des Menschen lässt sich auf den Willen Gottes zurückführen. Also hat Gott eine Neigung zur Existenz des Menschen. § 17 [15] Omnia consectaria, et bona et mala, quae oriuntur ex hominum existentia ad voluntatem Dei referri possunt. Ergo Deus inclinationem etiam ad mala illa consectaria habet. Alle Folgen, die guten, wie die üblen, die aus der Existenz von Menschen hervorgehen, können auf den Willen Gottes zurückgeführt werden. Also hat Gott eine Neigung auch zu diesen üblen Folgen. § 18 [16] Qui justus est, is nihil nisi bona vult, et nihil nisi mala non vult. Deus etiam mala vult: ergo pro injusto habendus. Wer gerecht ist, der will nur Gutes und nur Übles nicht. Gott will auch Übles. Also ist er für ungerecht zu halten. § 19 [17] Cum ergo Deus cum hominum existentia effectus malos connectat, quibus homines maxime infelices redduntur, teste experientia, Dei injustitia hinc erui potest. Da also Gott mit der Existenz von Menschen Wirkungen verknüpft, durch die Menschen nach dem Zeugnis der Erfahrung in höchstem Maße unglücklich gemacht werden, ist Gottes Ungerechtigkeit hieraus ersichtlich. § 20 [18] Si ens justitia caret, nemo illud perfectissimum putabit. Deus. Deus non est justus: ergo non est ens perfectissimum. Si non est ens perfectissimum, tunc nullum concipio Deum. Deus non est ens perfectissimum; ergo non est quod Deum credam. Wenn ein Wesen der Gerechtigkeit ermangelt, wird niemand es für das vollkommenste Wesen halten. Gott ist nicht gerecht. Also ist er nicht das vollkommenste Wesen. Wenn er nicht das vollkommenste Wesen ist, dann denke ich gar keinen Gott. Gott ist nicht das vollkommenste Wesen. Also gibt es keinen Grund, warum ich einen Gott glauben sollte.

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§ 21 [19] Sunt qui dicunt, hunc mundum esse perfectissimum. Vid. Celeb. Wolf. In Metaph. § 1062. licet multa mala in eo existant: quibus malis ut remediis ad finem ultimum, illustrationem nimirum gloriae suae consequendum, Deum uti causantur. Nec desunt qui dicunt, hunc mundum ob summam sapientiam divinam optimum esse debere. Einige behaupten, diese Welt sei höchst vollkommen (s. Wolff, Metaphysik, § 106298), obwohl viele Übel in ihr existieren; sie geben vor, Gott bediene sich dieser Übel als Mittel zur Erlangung seines Endzwecks, nämlich der Manifestation seines Ruhms. Einige behaupten auch, diese Welt müsse wegen der höchsten Weisheit Gottes die beste sein. § 22 [20] Cum autem verus sapiens semper felicitatem veram praesupponat, nimirum per definit. Leibnit. si se formale sapientiae habere videri velit: cumque ejusmodi remedia ad consequendum finem ultimum eligat, quibus non solum ipse, sed et alii maxime felices redduntur, et inde studium habeat alios perficiendi; satis apparet, illum pro viribus suis ea remedia electurum, quae sufficiant ad alios perficiendum. Da aber der wahrhafte Weise immer das wahre Glück voraussetzt, nämlich wenn er nach der Leibniz’schen Definition im Besitz des Wesentlichen der Weisheit scheinen will, und da er derartige Mittel zur Erlangung seines Endzwecks wählt, durch die nicht allein er selbst, sondern auch andere in höchstem Maße glücklich gemacht werden, und er somit das Bestreben hat, andere vollkommen zu machen, ist hinreichend klar, dass er nach Maßgabe seiner Kräfte diejenigen Mittel wählen wird, die hinreichend sind, andere vollkommen zu machen. § 23 [21] Si ens quoddam perfectissimum dicitur, etiam omnipotens esse debere, nemo negabit. Qui omnipotens est, semper vires sufficientes habet ad remedia eligenda, quibus finis totalis obtineatur. Wenn ein Wesen das vollkommenste heißt, so muss es auch allmächtig sein – das wird niemand leugnen. Wer allmächtig ist, hat immer hinreichende Kräfte, die Mittel zu wählen, durch die der Gesamtzweck erreicht wird.

98 Chr. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Ch. A. Corr, in: Ders.: Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 2.2, Hildesheim – Zürich – New York 2003, S. 657–658.

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§ 24 [22] Ens perfectissimum est quoque ex omni parte benignum. Benignus semper habet voluntatem efficacem seu nisum alios perficiendi, qui erumpit ad actum, nisi impedimentum adsit. Das vollkommenste Wesen ist auch in jeder Hinsicht gütig. Der Gütige hat immer den wirksamen Willen oder das Streben, andere vollkommen zu machen. Dieser Wille führt zur Tat, wenn kein Hindernis auftritt. § 25 [23] Impedimentum est id, in quo continetur ratio cur remedia consequi existentiam non possunt. Ein Hindernis ist das, worin der Grund enthalten ist, warum die Mittel nicht zur Existenz gelangen können. § 26 [24] Qui omnipotens et ex omni parte benignus est, is quavis arte et quovis tempore impedimenta removere vult, et potest, quae existentiae remediorum contradicunt. Wer allmächtig und in jeder Hinsicht gütig ist, der will und kann auf jedwede Weise und zu jedweder Zeit die Hindernisse aus dem Weg räumen, die der Existenz der Mittel entgegenstehen. § 27 [25] Si ergo ens perfectissimum remedia mala ad finem suum consequendum eligit, cum tamen bona eligere potuisset et debuisset, malitiosum est. Wenn also das vollkommenste Wesen üble Mittel zur Erlangung seines Zwecks wählt, während es doch gute hätte wählen können und müssen, so ist es böswillig. § 28 [26] Deus omnibus malis, quae in mundo teste experientia patiantur, pro remediis utitur ad finem ultimum obtinendum. Vid. Celeb. Wolf Metaph. § 1060. Cum autem illum malitiose agere dixi, qui remediis malis finem suum obtinet, qui tamen finem illum remediis bonis obtinere poterat: Deus pro malitioso habendus. Gott bedient sich aller Übel, die nach dem Zeugnis der Erfahrung in der Welt geschehen, als Mittel zur Erlangung seines Endzwecks (s. Wolff, Metaphysik, § 106099). Da aber, wie ich sagte, böswillig handelt, wer seinen Zweck mit üblen Mittel erlangt, obwohl er ihn mit guten Mitteln erlangen konnte, ist Gott für böswillig zu halten.

99 Wolff: Vernünfftige Gedancken, S. 652–653.

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§ 29 [27] Qui conatum habet alios deteriores faciendi, malitiosus dicitur. Ergo ens illud perfectissimum nisum habet alios imperfectos reddendi. Wer das Streben hat, andere schlechter zu machen, heißt böswillig. Also hat das vollkommenste Wesen das Streben, andere unvollkommen zu machen. § 30 [28] Qui non habet studium alios perficiendi, is non amat alios. Qui non amorem habet erga alios, is non pius, et inde non est ens perfectissimum, nec Deus. Hinc religio divina imaginaria est. Wer nicht das Bestreben hat, andere vollkommen zu machen, der liebt die anderen nicht. Wer keine Liebe zu anderen hat, der ist nicht fromm, und daher nicht das vollkommenste Wesen und nicht Gott. Folglich ist Gottesverehrung Einbildung. § 31 [29] Deus, intelligo ens perfectissimum, omnipotentia et bonitate in summo absoluto gradu praeditus est, et inde nihil nisi bona agere vult et potest. Unter Gott verstehe ich das vollkommenste Wesen, das mit Allmacht und Güte in absolut höchstem Grade begabt ist und daher nichts als Gutes tun will und kann. § 32 [30] Si ens perfectissimum rem aliquam imperfectam ad existentiam produceret, tunc esset perfectum et et imperfectum simul. Idem autem simul esse et non esse impossibile dicitur. Ergo ens perfectissimum rem imperfectam ad existentiam producere nescit. Wenn das vollkommenste Wesen ein unvollkommenes Ding zur Existenz brächte, dann wäre es vollkommen und unvollkommen zugleich. Dasselbe zugleich sein und nicht sein heißt aber unmöglich. Also kann das vollkommenste Wesen kein unvollkommenes Ding zur Existenz bringen. § 33 [31] Mundus multa mala, et hinc imperfecta, in se continet. Ergo mundus hic existentia non a Deo seu ab ente perfectissimo gaudet. Die Welt enthält viele Übel und folglich Unvollkommenes in sich. Also verdankt diese Welt ihre Existenz nicht Gott oder dem vollkommensten Wesen. § 34 [32] Sunt qui dicunt, summum numen uti consectariis malis cum actionibus hominum liberis copulatis, tanquam finibus particularibus, seu remediis ad bona majora consequenda.

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Einige behaupten, das höchste Wesen bediene sich der üblen Folgen, die mit den freien Handlungen der Menschen verbunden sind, als besonderer Zwecke oder Mittel zur Erlangung größerer Güter. § 35 [33] Si autem detur remedium, quo res melior existat, id non malis annumerare possumus, nec malo compensare, nisi nos injuste agere videri velimus. Wenn aber etwas ein Mittel ist, woraus etwas Besseres entsteht, so können wir es nicht unter die Übel zählen noch auch mit einem Übel vergelten, wenn wir nicht den Anschein ungerechten Handelns erwecken wollen. § 36 [34] Si quis meo beneficio seu remedio ad honores ascenderet, illum injustissimus dicerem, si beneficium illud meum poena compensaret. Wenn jemand durch meine Wohltat oder Hilfe zu Ehren aufstiege, so würde ich ihn höchst ungerecht nennen, wenn er diese meine Wohltat mit einer Strafe vergelten wollte. § 37 [35] Deus, ut referunt Philosophi et Theologi, malis utitur, ut remediis ad finem suum obtinendum, et mala illa malis, seu poenis, compensat. Ergo Deus injustus est. Gott bedient sich nach der Lehre von Philosophen und Theologen der Übel als Mittel zur Erlangung seines Zwecks und vergilt diese Übel mit Übeln oder Strafen. Also ist Gott ungerecht. § 38 [36] Ens perfectissimum est Deus. Ens perfectissimum sine justitia non concipimus. Ubi ergo non est justitia ibi non est Deus. Haec res de qua jam dixi, non gaudet justitia. Ergo in hac re nullum reperimus Deum: ens perfectissimum ubique est justus. Ergo non datur Deus. Das Ding, von dem ich eben gesprochen habe, ermangelt der Gerechtigkeit. Also finden wir in diesem Ding nicht Gott. Das vollkommenste Wesen ist in jeder Hinsicht gerecht. Also gibt es Gott nicht.

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II. Remotio Dubiorum juvenilium, circa Existentiam Dei100 Das gantze Philosophema gründet sich auf zwo falschen Stützen, nehmlich 1.) auf einen falschen Satz, 2.) auf einen falschen Schluß. 1. Jener stehet § 10. Omnia illa mala, quae patiantur, sunt consectaria, ex hominum Existentia orta. Diesen hat der Autor ohne allen Beweiß angenommen, weil er ihn nicht erweisen können. Man hat nicht nöthig ihm das Gegentheil zu erweisen, denn ein jeder ist schuldig die Sätze, die er zu Gründen braucht, erweißlich zu machen. Er ist aber durch seine eigene Sätze, leicht von deßen Falschheit zu überführen. Denn, da er annimmt: Die bösen Handlungen seyen eine Folge aus des Menschen existenz, so erkennet er diese Folge vor richtig: homo male agit, quia existit. Weil der Mensch existirt, so folget, daß er böses thue, denn das heist ja eben, die bösen Handlungen sind eine Folge aus des Menschen existenz. Man mache hieraus einen ordentlichen Schluß, so lautet er so: Quicumque existit, male agit, homo existit, Ergo homo male agit. Es admittiret aber der H. Autor auch guthe Handlungen, alß Folgen aus des Menschen existenz, indem er den 17. §. so anfängt: Omnia Consectaria et bona et mala quae oriuntur ex hominum existentia pp daher muß er diesen Satz zugestehen: Quicumque bene agit, ille existit. Wenn man nun den Majorem des vorigen Schlußes, und diesen Satz, zusammen bringet, so ist folgender Schluß fertig Quicumque existit, male agit, Quicumque bene agit, ille existit Ergo Quicumque bene agit, ille male agit Da nun diese wider das Principium Contradictionis läufft, so ist der Atheus aus seinen eigenen Sätzen, ad absurdum gebracht. 2. Der falsche Schluß stehet §. 28. und lautet so: (1) Quicumque remediis malis utitur, ad finem suum obtinendum (2) ille malitiosus est, r

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100 Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 0330, fol. 122 –123 .

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(3) Deus (4) malis, quae in mundo patiantur, pro remediis utitur, ad finem suum obtinendum, Ergo Deus malitiosus est. In diesem Schluße sind 4 termini, daher ist er falsch. Der Auctor nimmt die beyden terminos, böse Mittel brauchen, und das böse alß ein Mittel brauchen, vor einerley, da es doch gantz verschiedene Dinge sind. Der Gesetzgeber braucht die Straffe als ein Mittel, einen von bösen Handlungen abzuhalten. Die Straffe aber ist ein Übel, so der Gesetzgeber mit der Handlung verknüpffet, folglich braucht der Gesetzgeber etwas böses als ein Mittel? Nehmlich eben daraus macht man einen falschen Schluß nicht, weil man erkennt, daß ein böses Mittel brauchen, und das böse als ein Mittel brauchen, nicht einerley sey. Dadurch daß man das böse als als ein Mittel zum guten brauchet, wird das Mittel nicht böse. Diese Wahrheit kennet der Autor selber §. 35 woselbst er ausdrücklich setzt: Si autem detur remedium, quo res melior existat, id non malis annumerare possumus. Daraus hätte er nun den Schluß so machen sollen. Quicumque malis utitur pro remediis, quo res melior existat, ille malis non utitur remediis. Atqui Deus pp Ergo. Man wird finden, daß alles, was der Auctor wieder Gottes existenz, und seine Vollkommenheiten vorbringet, aus diesen beyden Gründen fließe. Da sie aber offenbahr falsch sind, so ist alles falsch was daraus geschloßen wird. Es machet zwar der Autor noch ein Argument, wann er §. 32. 33. von der Unvollkommenheit der Welt, auff die Unvollkommenheit des Schöpffers schließet. Da aber H. Wolff, die Unvollkommenheit der Welt nicht statuiret, sondern vielmehr das Gegentheil mit starken Gründen behauptet, so gehet dieser Einwurff die Wolffische Philosophie nicht an, sondern den haben die, welche statuiren: diese Welt sey nicht die beste, weil soviel Sünde und Unvollkommenheit darin anzutreffen, als gerade wider sie gerichtet, anzusehen, und demnach ihre Kräffte daran zu versuchen, ob sie ihn heben können, ohne H. Wolffens Principia anzunehmen. Wofern die Sache mit diesem Atheo, in facto ihre Richtigkeit hätte, so wäre es als eine Übereilung eines jungen Menschen anzusehen, daß er, da er die Logic gehörig zu appliciren noch nicht gelernet, sich an eine so wichtige Sache, gemachet, und nicht erst beßer seinen Verstand zu brauchen, sich angewöhnet. Da man doch aber aus dem übrigen Zusammenhang der Gedancken, erkennet, daß er in der Logic nicht unerfahren, sondern die Kunst, eines aus dem anderen zu schließen, gelernet habe, so ist die Sache sehr verdächtig und muß man vielmehr urtheilen, daß es ein erdichtetes Werck sey, davon man die Absicht eigentlich noch nicht errathen könne. Mir sind die Gedancken eingefallen: Ob nicht der Auctor etwa ein Freund von H. Wolffen sey? indem er das, was eigentlich wieder die Wolffische Philosophie gehen soll, auff solche sehr leichte Gründe bauet, die von selbst wegfallen, und die er auch selber, wie gezeigt ist, wieder umstöst.

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Das aber, was eigentlich wieder H. Wolffens Gegner gehet, nehmlich das Argument von der Unvollkommenheit der Welt, unter das übrige, so versteckt, daß man das piam fraudem nicht leicht mercken soll. Denn, nachdem dieses Argument vorgetragen, bricht er alsoforth ab, und schließet aus diesem Argumente weiter nichts, sondern fällt wieder auff das vorige und macht daraus den Schluß: Deus est injustus, da er doch diese Folge schon §. 28. 19 vorgebracht, welches also nur zum bloßen Schein geschehen. Denn, wäre jenes Argument von der Unvollkommenheit der Welt, das lezte gewesen, wäre es allzu mercklich gewesen, daher hat er das Haupt-Argument, quasi incidenter, nur beygebracht, und sich mit dem gantzen Wercke an einen der gegenseitigen Parthey adressiret. Der Ausgang wirds weisen. G Möller

LA CONTROVERSE ENTRE G. W. LEIBNIZ ET P. BAYLE SUR LE DOUBLE PRINCIPE DU MANICHÉISME Brigitte Saouma (Paris) Le manichéisme a été considéré, au moins jusqu’au XVIIIe siècle, comme une hérésie chrétienne combattue par les Pères de l’Église. On en connaissait une grande partie grâce aux écrits de saint Augustin1, qui fut manichéen pendant neuf ans, avant d’en devenir l’ennemi acharné. Mais il ne fut pas le premier à avoir polémiqué contre cette hérésie. Ses prédécesseurs s’étaient déjà employés à combattre les gnostiques et les manichéens2. La doctrine manichéenne a été réduite au 1

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Les écrits de saint Augustin contre le manichéisme sont assez nombreux. Ils ont été produits pendant près de dix-sept ans et constituent la source la plus importante pour l’étude du manichéisme. De moribus ecclesiae catholicae et De moribus manichaeorum, L. II (388–389), De libero arbitrio, L. III (395), De genesi contra manicheos, L. II, (389), De Vera religione, L. I, (390), De utilitate credendi ad Honoratum (391), De duabus animabus contra manichaeos (391), Acta seu disputatio contra Fortunatum manichaeum, (392), Contra Adimantum Manichaei dicipulum (394), Contra epistulam Manichaei quam vocant fundamenti (397), Contra Faustum manichaeum, L. I, 33 (400), Contra Felicem Manichaeum, L. II (404), De natura boni contra manichaeos (§ 404), Contra Secundinum manichaeum (§ 405). G. Bardy : « Manichéens », in : A. Vacant/E. Mangenot (éd.) : Dictionnaire de théologie catholique, IX, Paris 1927, pp. 1856–1857, pp. 1841–1895; F. Decret : « Objectif premier visé par Augustin dans ses controverses orales avec les responsables manichéens d’Hippone », in : J. van Oort/O. Wermelinger/G. Wurst (éd.) : Augustine and Manichaeism in the Latin West. Proceedings of the Fribourg-Utrecht Symposium of the International Association of Manichaean Studies (IAMS), Leiden – Boston – Köln 2001, pp. 57–66 ; G. Sfameni Gasparro: « Au cœur du dualisme manichéen: la polémique augustinienne contre la notion de ‹ mutabilité de Dieu › », in : van Oort/Wermelinger/Wurst, op. cit., pp. 205–229; D. Weber: « Augustinus, De genesi contra Manichaeos. Zu Augustins Darstellung und Widerlegung der manichäischen Kritik am biblischen Schöpfungsbericht », in : van Oort/Wermelinger/Wurst, op. cit., pp. 298–306. M. Scopello écrit à ce propos: « Dans le Contra epistulam fundamenti, Augustin se comporte en hérésiologue confirmé, héritier de toute une chaîne de chasseurs d’hérésies qui ont traqué d’abord les gnostiques puis les manichéens. Aux hérésiologues, Augustin emprunte une méthode qui a fait ses preuves : citer, d’abord, des extraits d’une œuvre de l’adversaire afin de les réfuter, puis présenter en opposition sa propre doctrine. Ainsi la pensée que l’on estime fausse est immédiatement mise en contraste avec la veritas de celui qui la réfute. Cette méthode polémique, citer pour mieux réfuter, a souvent été utilisée par les Pères de l’Église dans leur lutte contre les maîtres de la gnose. Clément d’Alexandrie, Origène, Irénée ou encore le Pseudo-Hyppolyte ont tous transcrit et cité, certains plus que d’autres des fragments ou même de longs extraits d’ouvrages gnostiques, afin des les critiquer de façon ponctuelle. Ils nous ont ainsi fourni une précieuse documentation qui autrement aurait été perdue. La même méthode se dégage des écrits de quelques écrivains anti-manichéens, même si cette façon ne fait pas l’unanimité. Quelques controversistes, en effet, ne font que résumer la doctrine et le mythe

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double principe du bien et du mal. Or le manichéisme est d’abord une religion comprenant des dogmes, une liturgie, une communauté hiérarchisée, ainsi que des missions. C’est aussi une philosophie, antérieure à Manès. Sa cosmogonie apparaît dans la description des deux royaumes, l’un de lumière, l’autre de ténèbres qui, à l’origine, ne se mélangeaient pas. Le premier, la substance bonne, était régie par le véritable Dieu, principe bon, source de lumière dont les cinq demeures sont la raison, la pensée, l’intelligence, la méditation et la réflexion. Le second, était le domaine du démon, substance ténébreuse, appelée matière et principe mauvais. Il était régi par un roi et cinq « mondes », la fumée, le feu, le vent torride, l’eau et l’obscurité habités chacun par un Archonte. Chacun de ces « mondes » corrompt ce qui lui est proche. Ce second royaume a entrepris une lutte ponctuée de nombreux événements extraordinaires, contre le premier, ce qui expliquerait que le monde actuel se trouve être un mélange de corps ténébreux emprisonnant des parcelles lumineuses. La substance ténébreuse est capable de contraindre la substance bonne à devenir mauvaise et à commettre le péché. L’homme possède deux âmes, l’une faite de ces parcelles de lumière, l’autre ténébreuse qui corrompt la première. La mission de Jésus, comme celle des hommes, est de délivrer ces parcelles de lumière emprisonnées dans des corps, pour reconstituer le royaume du bien. Lorsque cette délivrance sera totalement achevée, les deux royaumes seront de nouveau distincts3. Ce résumé extrêmement succinct de la religion manichéenne ne peut, bien sûr, en restituer toute la richesse et la complexité qui se révèleront au cours des recherches entreprises dès le XVIIe siècle4. À cet égard, l’œuvre d’Isaac

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manichéens – il en va ainsi, par exemple pour l’auteur des Acta Archelai. D’autres en revanche, citent littéralement des extraits des livres de Mani. C’est le cas de Sévère d’Antioche qui, au début du VIe siècle, intégra des fragments de la Pragmataeia dans son Homélie cathédrale 123 ; du nestorien Théodore Bar Konai aussi, lequel, dans son Liber Scholiorum écrit en 791, fournit de précieux documents sur la Pragmateia. À ces auteurs s’ajoutent deux controversistes musulmans: Ibn Al Nadim, au chapitre IX du Fihrist, œuvre achevée en 987, présente un ensemble de citations de textes de Mani et Al Biruni, au XIe siècle, bâtit sur une connaissance directe des sept livres du Babylonien, un exposé très complet de sa doctrine ». M. Scopello : « L’Epistula fundamenti à la lumière des sources manichéennes du Fayoum », in : van Oort/Wermelinger/Wurst, op. cit., pp. 205–229, pp. 207–208. H. C. Puech : Sur le manichéisme et autres essais, Paris 1979 ; É. Schmitt : Le mariage chrétien dans l’œuvre de Saint Augustin Une théologie baptismale de la vie conjugale, Paris 1983, pp. 19–41 ; G. Gnoli : De Zoroastre à Mani, Quatre leçons au Collège de France, Paris 1985 ; K. Coyle : Manichaeism and its legacy, Leiden – Boston 2009. Hormis les sources indirectes latines, grecques et arabes, on compte d’autres sources qui sont: Le codex manichéen de Cologne qui serait daté entre le IVe et le VIe siècle. Il se trouve à l’université de Cologne (P; Colon 4780 = 1012 Van Haelest), Les Homélies coptes du Fayoum égyptien, conservées à la Chester Library de Dublin (codex C), Les Actes, fragments de feuillets conservés à Berlin (P 15997) et à Dublin, les Kephalaia coptes, retrouvées au Fayoum, dont la première partie se trouve à Berlin (P 15996) et la seconde à la Chester library de Dublin (codex C), Les Synaxeis, conservée à Dublin (codex B) et à Berlin (P 15995), Le traité chinois conservé à Pékin et qui daterait du Xe siècle, Le Psautier copte, provenant du Fayoum, conservé à la Chester library de Dublin (codex A), Les hymnaires iraniens, Boyce M. facsimilés des fragments parthes et sogdiens, in: W. Sundermann (éd.) : Corpus inscriptionum Iranicarum, Suppl. Series, II, London 1990, L’hymnaire chinois conservé à Londres

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de Beausobre a largement contribué à transformer l’idée du manichéisme héritée des Pères de l’Église. Réduite à la notion des deux principes, cette doctrine a été l’objet d’attaques répétées de théologiens et de philosophes. Pierre Bayle cite Lactance, saint Basile et Origène qui furent parmi les grands théologiens à développer des arguments contre le dualisme. La condamnation du manichéisme, par les théologiens et les philosophes médiévaux est constante. On peut même avancer qu’il a été le premier ennemi du christianisme, devant le judaïsme et l’islam. Il remettait en cause le dogme fondateur d’un Dieu unique, tout-puissant, omniscient, incréé, mais créateur du monde. Dieu ne pouvait en aucun cas être à l’origine du mal et du péché qui était du seul fait de l’homme. Le christianisme médiéval écartait donc fermement l’idée d’un principe mauvais, indépendant, influant sur le monde, à l’égal de Dieu. Isaac de Beausobre, dans son Histoire critique de Manichée et du manichéisme, sans rompre complètement avec cette condamnation multiséculaire, prend la peine d’étudier les sources de manière critique. Il écrit à ce propos : « Mon dessein est d’essaïer ce que j’aurois exigé de feu M. Bayle. Voulant connoître les MANICHÉENS MODERNES, avec lesquels on a confondu des Sectes beaucoup plus pures et plus Chrétiennes qu’on se l’imagine, j’ai été obligé de remonter jusqu’aux Anciens. Et trouvant beaucoup d’exagération, de contradictions, de fausses imputations, dans ce qu’on nous raconte de Manichée, de ses Dogmes et de sa Morale ; j’ai tâché de l’examiner en critique. J’ai eu pitié d’une Secte déjà trop malheureuse pour avoir étrangement corrompu la Foi chrétienne, et pour avoir été dès sa naissance l’objet des fureurs d’un zèle inhumain. Je la justifie, quand il me paroît qu’on l’a calomniée : je l’excuse, quand elle me paroît excusable, et je ne crois pas qu’on doive m’en savoir mauvais gré. Si je suis dans l’erreur, c’est dans l’erreur du monde la plus innocente. Et S. Augustin lui-même, le Fléau des Manichéens d’Occident fera mon apologie »5.

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(Br.L. Or. Stein 2659), le « Xwastwaneft » provenant du Turkestan, Le compendium chinois dont la première partie est conservée à Londres (Br.L. Or. Stein 3969) et la seconde à Paris (BN Or. Pelliot chinois 3884). Il est daté de 731. M. Tardieu : Le manichéisme, Paris 1997, pp. 65–71. Voir également, S. N. C. Lieu: « Lexicographica Manichaica: Dictionary of Manichaean Texts, Vol. 1, Texts from the Roman Empire (Texts in Syriac, Greek, Coptic and Latin) – an interim report and discussion on methodology », in : van Oort/Wermelinger/Wurst, op. cit., pp. 137–147. Des études ont été menées sur les relations entre les différentes sources. A. Hoffmann : « Erst einsehen, dann glauben. Die nordafrikanischen Manichäer zwischen Erkenntnisanspruch, Glaubensforderung und Glaubenskritik », in : van Oort/Wermelinger/ Wurst, op. cit., pp. 67–112; J. Ries : « Jésus Sauveur dans la controverse anti-manichéenne de saint Augustin » pp. 185–194; M. Scopello: « L’Epistula fundamenti à la lumière des sources manichéennes du Fayoum », in : van Oort/Wermelinger/Wurst, op. cit., pp. 205–229; M. Stein : « Bemerkungen zum Kodex von Tebessa », pp. 250–259; G. Wurst: « Bemerkungen zu Sruktur und genus litterarium der Capitula des Faustus von Mileve », in : van Oort/ Wermelinger/Wurst, op. cit., pp. 307–324 ; W. Sundermann : « Das Manichäerkapitel des Škand gumaҧniҧg wizaҧr in der Darstellung und Deutung Jean de Menasces », in : van Oort/Wermelinger/Wurst, op. cit., pp. 325–337. I. de Beausobre : Histoire critique de Manichée et du manichéisme par M. de Beausobre continuée par S. Formey, Discours préliminaire, t. 1, Amsterdam 1734–1739, p. 3. Le Dictionnaire historique et critique de Bayle a suscité de nombreuses réactions souvent positives mais parfois négatives, particulièrement en ce qui concerne l’article Manichéens. I. Dingel : « La traduction du Dictionnaire historique et critique de Pierre Bayle et sa réception en Allemagne », in: H. Bots (éd.) : Critique savoir et érudition à la veille des Lumières Le Diction-

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Cette position fait suite, en quelque sorte, à celle de Bayle qui, principalement, dans les deux articles Manichéens et Pauliciens6 expose les arguments manichéens sur la question du double principe. Cependant Isaac de Beausobre est très critique vis-à-vis du travail de Bayle à propos duquel il écrit : « Feu M. Bayle nous a donné, dans son Dictionnaire, un Article de Manichée et des Manichéens: mais il me semble, qu’il auroit mieux fait, ou de l’omettre, ou de le composer autrement. Il devoit traiter cette matière en critique ; aller prendre l’Histoire de cet hérésiarque, ses Dogmes, les Ceremonies de sa Secte etc. dans les premiers Auteurs qui en ont parlé et de se servir de toute sa sagacité, pour y démêler le faux d’avec le vrai. N’est-ce pas ce qu’annonce au Public le titre de son Grand ouvrage et ce qu’il a su fort bien exécuter sur d’autres sujets ? Mais c’est aussi ce qu’il a souvent négligé, et si je l’ose dire, ce qu’il semble avoir négligé à dessein, quand il a parlé de plusieurs sectes chrétiennes. Je ne croi pas que ce fut sa pensée : mais on diroit presque qu’il etoit bien aise de trouver, dans le corps des Chrétiens, le Fanatisme le plus insensé, et les Obscénitez les plus folles et les plus impudentes. Je croi donc que feu M. Bayle auroit du nous donner une Histoire aussi exacte, qu’on peut avoir de l’Hérésiarque Manichée et nous marquer précisément ses opinions, plutôt que de s’amuser à pousser et à orner, comme il l’a fait, les arguments des Manichéens »7.

Le propos de Bayle était, en effet, plus polémique que l’ouvrage d’Isaac de Beausobre. Il ne décrit pas dans les moindres détails la religion et la philosophie manichéennes ainsi que leurs évolutions au cours des siècles et dans les différents pays où elles ont essaimé. Mais il avait une connaissance étendue de l’histoire du manichéisme et surtout des attaques chrétiennes dont il fut l’objet. Sa connaissance des textes antiques et médiévaux est considérable. Mais il semble que son intention ait été de dénoncer l’insuffisance des arguments chrétiens contre la théorie des deux principes, en se plaçant du côté des manichéens, plutôt que de faire véritablement œuvre d’historien. Cependant, son souci d’exactitude était réel, puisqu’il regrette, au début de l’article Manichéens la disparition de leurs textes. « On a trouvé bon d’exterminer tous les livres des Manichéens: cela peut avoir eu ses utilitez, mais il en résulte un petit inconvenient ; c’est que nous ne pouvons pas être assûrez de leur doctrine, comme nous le serions en consultant les Ouvrages de leurs plus savans Auteurs. Par les fragmens de leur systême que l’on rencontre dans les Pères, il paroît évidemment que cette secte n’étoit point heureuse en hypothèses, quand il s’agissoit du détail. Leur première suposi-

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naire Historique et Critique de Pierre Bayle (1647–1706), Amsterdam Maarsen 1998, pp. 109–123 ; P. Rétat : Le Dictionnaire de Bayle et la lutte philosophique au XVIIIe siècle, Paris 1971 ; J. Delvolve : Religion, critique et philosophie positive chez Pierre Bayle, Genève 1970, pp. 313–323. Dictionnaire historique et critique par M Bayle (DHC) seconde édition revue, corrigée, augmentée par l’auteur, Rotterdam MDCCII (1702) ; « Manichéens », in : DHC, t. 2, pp. 2022– 2027 ; « Pauliciens », in : DHC, t. 3, pp. 2322–2336. Après les attaques dont il fut l’objet, Pierre Bayle écrivit l’éclaircissement sur les manichéens pour justifier ses positions. J. Lagrée : « Pierre Bayle et l’Éclaircissement sur les manichéens, 1701 : le mal et le système », in : Bots, op. cit., pp. 321–340 ; J. M. Gros : Les dissidences de la philosophie à l’âge classique, Paris 2009, pp. 357–376. Histoire critique, op. cit., p. 3.

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tion étoit fausse ; mais elle empiroit entre leurs mains par le peu d’adresse et d’esprit philosophique, qu’ils emploioient à l’expliquer et à l’appliquer »8.

Comme pour contredire ces propos, Bayle va s’employer ensuite à montrer la solidité et la logique des arguments manichéens. Malgré les innombrables persécutions dont les manichéens furent l’objet, leur doctrine perdurera à travers les siècles, au point que les chrétiens se sentiront régulièrement menacés. Leibniz s’oppose au double principe du bien et du mal dans les Essais de Théodicée, s’inscrivant en cela dans la lignée de ses prédécesseurs médiévaux. Il n’impute à Dieu ni le mal, ni le péché. Il n’envisage pas non plus l’existence d’un principe d’un mal indépendant, influant sur le monde9. Dans sa controverse avec Bayle, il réfute les arguments qui supposerait peu ou prou, un tel principe. Néanmoins, l’argumentation de Bayle ne manque pas de subtilité. Il réaffirme plusieurs fois son attachement à la droite doctrine, tout en développant longuement les arguments manichéens. Tout d’abord, il fait remarquer que le double principe est plus ancien que Manès. Scythien duquel il le tenait, l’aurait emprunté à Pythagore, selon saint Epiphane10. Pour d’autres, Térébinthus l’aurait reçu d’Empédocle. Quant à Plutarque, il « […] va nous apprendre l’antiquité et l’universalité de ce systême, non pas comme un simple historien, mais comme un fidele sectateur »11.

Les Pythagoriciens, selon ce dernier, admettaient deux principes. Ils appelaient le bon principe

DHC, Manichéens, p. 2023. Leibniz rappelle brièvement l’influence de Zoroastre, avant une rapide étude onomastique. Essais de Théodicée, § 137–143 ; GP VI, 190–195. 9 P. Rateau écrit à ce propos : « La Théodicée est cette tentative philosophique qui ne vise pas tant à résoudre le problème posé par l’existence du mal qu’à satisfaire l’exigence, d’ordre judiciaire, de trouver une liberté, humaine et divine qui puisse en répondre. Cette exigence structure de part en part le propos, que l’on aurait tort, encore une fois, de croire peu circonscrit et dispersé : elle commande l’exposé de la justice de Dieu innocentant le Créateur (justification qui, pour être suffisante à défaut d’être entière, doit elle-même passer par une explication générale du choix de cet univers parmi une infinité d’autres également possibles), et appelle une métaphysique qui, en montrant la liberté de l’homme, établit sa responsabilité dans le péché », in : P. Rateau : La question du mal chez Leibniz Fondements et élaboration de la Théodicée, Paris 2008, pp. 505–506. 10 Épiphane de Salamine a composé dans les années 374–377 une exposition et une réfutation de quatre-vingts hérésies, le Panarion cité par Pierre Bayle sous son titre latin, Adversus Haereses. Il y inclut les écoles philosophiques grecques, les différents courants du judaïsme et les hérésies proprement dites. Cette exposition a constitué un ouvrage de référence pour la description et la réfutation des hérésies tout au long du moyen-âge ainsi qu’à l’époque moderne. Pour une édition du texte grec, voir « Epiphanius (Ancoratus und Panarion) », in : Die Griechischen Christlichen Schriftsteller der Ersten Drei Jahrhunderte, éd. par K. Holl, Leipzig 1915 (vol. 25), 1922 (vol. 31), 1933 (vol. 37). Une traduction anglaise en a été réalisée, F. Williams : The Panarion of Epiphanius of Salamis, Leiden – New York – København – Köln 1987–1994. 11 DHC, Manichéens, p. 2023.

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Brigitte Saouma « […] Un, fini, reposant, droit non pair, quarré, dextre, lumineux: et le mauvais, deux, infini, mouvant, courbe, pair, plus long que large, inégal, gauche, tenebreux. Aristote appelle l’un forme, l’autre privation: Et Platon comme umbrageant et couvrant son dire, appelle en plusieurs passages l’un de ces principes contraires, le Mesme, et l’autre l’Autre: mais es livres de ses loix qu’il escrivit estant desia vieil, il ne les appelle plus de noms ambigus ou couverts, ni par notes significatives, ains en propres termes il dit que, ce monde ne se manie point par une ame seule, ains par plusieurs à l’aventure, à tout le moins, non pas moins que deux, desquelles l’une est bienfaisante, l’autre contraire à celle-là, et produisant des efets contraires : et en laisse encore entre deux une troisieme cause, qui n’est point sans ame, ni sans raison, ni immobile de soi-mesme, comme aucuns estiment, ains adjacente et adherante à toutes ces deux autres »12.

L’interprétation du Plutarque manichéen peut être contestée. Néanmoins, les deux principes sont présents dans les systèmes de pensée antiques les plus connus et les plus répandus. Le Timée de Platon a été l’un des textes les plus lus et les plus commentés au moyen-âge. La logique d’Aristote a eu une influence considérable. On peut avancer qu’il n’y aurait pas eu de pensée chrétienne sans les philosophes antiques, transmis en grande partie par les Arabes13. Cela, bien que leur introduction ait aussi rencontré des obstacles, notamment en ce qui concerne les œuvres d’Aristote. Par conséquent, lorsque les chrétiens luttent contre le double principe, au nom de la Révélation, ils luttent également contre les philosophes qui leur ont permis de développer leurs pensées spéculatives. L’accord de la foi et la raison qu’Augustin appelait de ses vœux et qui fut l’une des grandes préoccupations des penseurs médiévaux, n’aurait pas donné lieu à tant de spéculations sans les philosophes antiques. Mais on peut supposer également que la nécessité pour les chrétiens de défendre leurs convictions face à des adversaires possédant les armes de la rhétorique, de la dialectique et de la logique, les a contraints à s’emparer des moyens intellectuels de leurs adversaires à leur profit. Leibniz reconnaît égale12 Ibid. Ce passage est une citation du Traité d’Isis et d’Osiris de Plutarque. De Iside et Osiride liber, p. 370 EF-371 A, in : Plutarchi chaeronensis omnium quae exstant operum, tomus secundus contenens Moralia, Francfort 1620, pp. 351D–384D. Cette édition contient le texte grec avec une traduction latine en regard. Bayle y fait référence en note mais cite la version française de Jacques Amyot (1513–1593) traducteur de Plutarque, Les Oeuvres Morales et Meslees de Plutarque, Translatees de Grec en François, t. 2, XLVI, 13, Anvers 1577, pp. 152–183. Leibniz fait également allusion à ce traité: Essais de Théodicée, § 137 ; GP VI, 137. 13 De nombreuses études traitent de ce thème. Nous ne pouvons en citer que quelques unes. R. Klibansky : The continuity of the platonic tradition during the Middle Ages, London 1950 ; M. Testard : Saint Augustin et Cicéron, t. I: Cicéron dans la formation et dans l’œuvre de saint Augustin, t. II : Répertoire des textes, Paris 1958 ; F. van Steenberghen : La philosophie au XIIe siècle, Louvain – Paris 1966 ; H. D. Saffrey : Le néoplatonisme après Plotin, Paris 2000 ; A. de Muralt : Néoplatonisme et aristotélisme dans la métaphysique médiévale, Paris 1995 ; J. Jolivet : Philosophie médiévale arabe et latine, Paris 1995 ; S. Gersh/M. J. F. M. Hoenen (éd.) : The Platonic Tradition in the Middle Ages: A Doxographic Approach, Berlin – New York 2002 ; C. König-Pralong : Avènement de l’aristotélisme en terre chrétienne L’essence et la matière: entre Thomas d’Aquin et Guillaume d’Okham, Paris 2005 ; O. Bruun/L. Corti (éd.) : Les Catégories et leur histoire, Paris 2005 ; P. Lucentini : Platonismo, ermetismo, eresia nel medioevo, Turnhout 2007 ; M. B. Ingham : La vie de la sagesse: le stoïcisme au Moyen Âge, Fribourg – Paris 2008.

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ment la difficulté que représente la réfutation des arguments manichéens. Car même si on leur abandonnait « la Sainte Ecriture, le peché originel, la grace de Dieu en Jésus-Christ, les peines de l’enfer et les autres articles de notre religion, on ne se délivreroit point par là de leurs objections » écrit-il14. La raison en est la présence du mal dans un monde créé par Dieu. Réfuter l’idée que le mal soit lié à Dieu de quelque manière que ce soit, représente encore un défi intellectuel et une nécessité à une époque où les textes antiques sont majoritairement connus et commentés depuis longtemps. Le danger que représente le manichéisme pour les chrétiens, n’a pas disparu au XVIIe siècle, malgré les polémiques et les réfutations qui se sont poursuivies pendant plus d’un millénaire. Car la question de la nature et de l’origine du mal renvoie invariablement au double principe. Or cette question ressurgit avec plus d’acuité à l’époque moderne, dans les controverses entre catholiques et protestants et face à la menace représentée par les athées et les libertins. Par ailleurs, l’idée d’un principe du mal innocente dangereusement les criminels, qui invoqueraient alors la contrainte d’une force extérieure, pour justifier leurs actions. Un culte dédié au seul principe du mal serait également l’une des dérives du manichéisme. Il importe donc de critiquer et de renouveler l’argumentation héritée des penseurs médiévaux, afin de la rendre convaincante à des esprits modernes. Cette argumentation s’est construite à partir des réponses aux questions sur l’origine et la nature du mal. L’entreprise est encore redoutable. Par ailleurs, elle est loin d’avoir obtenu le succès escompté. Le manichéisme ne disparaît pas à l’époque moderne. Bayle s’emploie donc à comprendre les arguments manichéens essentiellement dans les deux articles cités. Néanmoins, l’article sur les pauliciens est plus long et plus détaillé. Les pauliciens constituent l’une des nombreuses sectes manichéennes. Ils se sont installés en Arménie au VIIe siècle et sont surtout connus par la description qu’en a faite Pierre de Sicile15. Mais Bayle en parle assez peu. Il développe surtout les arguments présents dans l’article « Manichéens ». Dans ce dernier, il distingue les raisons a priori et les raisons a posteriori. Les raisons a priori consistent à admettre « […] Qu’un être qui existe par lui-même, qui est necessaire, qui est éternel, doit être unique, infini, tout-puissant et doüé de toutes sortes de perfections. Ainsi, en consultant ces idées, on ne trouve rien de plus absurde que l’hypothese des deux principes éternels et indépendans l’un de l’autre, dont l’un n’ait aucune bonté et puisse arrêter les desseins de l’autre. Voilà ce

14 Essais de Théodicée, § 43 ; GP VI, 74–75. 15 Bayle, dans une note, affirme s’être servi de l’Historia de Manichaeis traduite du grec en latin par Rader. Il s’agirait en fait, de la première édition du texte de Pierre de Sicile : Petri Siculi Historia ex MS codice Bibliothecae Vaticanae graece cum latina versione edita per Matthaeum Raderum, SJ, Ingolstadt 1604. Pour une édition relativement récente du texte grec, voir J. Gouillard/D. Papachryssanthou (éd.) : « Pierre de Sicile, Histoire des Pauliciens », in : Travaux et Mémoires 4 (1970), pp. 3–67. Le texte de Pierre de Sicile est une longue condamnation des pauliciens, en même temps qu’une description de leur doctrine et un récit historique. Il en constitue la source principale.

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Brigitte Saouma que j’appelle raisons à priori. Elles nous conduisent necessairement à rejeter cette hypothèse, et à n’admettre qu’un principe de toutes choses »16.

Cette déclaration d’allégeance à la Révélation n’est pourtant pas suffisante pour convaincre les adeptes du manichéisme. Elle a montré ses limites pendant des siècles. Ce n’est pour eux qu’une assertion parmi d’autres. Ils ont développé nombre d’arguments pour la réfuter. Par conséquent, Bayle poursuit en posant les fondements de sa réflexion. « […] Il n’y a point de systême qui pour être bon n’ait besoin de ces deux choses, l’une que les idées en soit distinctes, l’autre qu’il puisse donner raison des expériences. Il faut donc voir si les phenomenes de la nature se peuvent commodément expliquer par l’hypothèse d’un seul principe »17.

Car les manichéens appuient leur argumentation sur l’observation du monde et de la nature. Les contraires s’y trouvent à profusion: le chaud et le froid, la lumière et les ténèbres, le blanc et le noir … Ce qui est observable par tout un chacun, sans réflexion particulière. Cette observation ne nécessite pas non plus d’adhérer d’abord à un principe initial. L’adhésion se fait après l’observation des phénomènes de la nature, lorsque ceux-ci se voient attribuer un principe propre: le principe du chaud, le principe du froid, eux-mêmes répartis en bons et mauvais principes. Bayle fait dire à Zoroastre, auquel il oppose Melissus qui ne reconnaissait qu’un seul principe : « […] Vous me surpassez dans la beauté des idées, et dans les raisons à priori, et je vous surpasse dans l’explication des phenomenes et dans les raisons à posteriori. Et puis que le principal caractère d’un bon systême est d’être capable de donner raison des experiences, et que la seule incapacité de les expliquer est une preuve qu’une hypothese n’est point bonne quelque belle qu’elle paroisse d’ailleurs, demeurez d’accord que je frape au but en admettant deux principes, et que vous n’y frapez pas, vous qui n’en admettez qu’un »18.

Les théologiens médiévaux se sont opposés à cette conception du monde en posant comme préalable à toute réflexion sur la nature, la croyance en la Révélation. Dieu est le créateur de l’univers. Il convient donc d’observer les phénomènes naturels, comme étant la manifestation de sa toute puissance et de son infinie bonté et non l’inverse. Leibniz réfute l’idée d’attribuer un principe spécifique à chaque phénomène naturel. « […] A mon sens; ce n’est pas une fort belle explication d’un phenomene, quand on luy assigne un principe expres : au mal, un principium maleficum, au froid, un primum frigidum : il n’y a rien de si aisé, ny rien de si plat. C’est à peu pres comme si quelcun disoit que les Peripateticiens surpassent les nouveaux Mathematiciens dans l’explication des phenomenes des astres, en leur donnant des Intelligences tout expres qui les conduisent, puisqu’apres cela il est bien aisé de concevoir pourquoy les planètes font leur chemin avec tant de justesse ; au 16 DHC, Manichéens, pp. 2024–2025. Pour la critique de Leibniz, voir G. Mormino : « Optimisme a posteriori et lois du mouvement dans les Essais de Théodicée », in : H. Poser/C. Asmuth/U. Goldenbaum/W. Li (éd.) : Nihil sine ratione, VII. Internationaler LeibnizKongress, 2, Berlin 2001, pp. 846–853. 17 DHC, Manichéens, p. 2025. 18 Ibid.

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lieu qu’il faut beaucoup de Geométrie et de meditation pour entendre comment de la pesanteur des planetes qui les porte vers le soleil, jointe à quelque tourbillon qui les emporte, ou à leur propre impetuosité, peut venir le mouvement Elliptique de Kepler, qui satisfait si bien aux apparences. Un homme incapable de gouter les speculations profondes applaudira d’abord aux Peripapetitiens et traitera nos Mathematiciens de reveurs »19.

La réponse de Leibniz est celle d’un homme qui soumet l’observation et l’explication des phénomènes naturels à une réflexion savante et critique. Il n’y a pas plus de principe du froid que de principe du mal. « Le mal même ne vient que de la privation », dira-t-il un peu plus loin20, prenant l’exemple de l’eau qui en gelant est capable de rompre le canon du mousquet dans lequel elle est enfermée. Pourtant le froid est une certaine privation de force. Il avait auparavant donné une définition du mal comprenant le mal métaphysique, simple imperfection, le mal physique qui est la souffrance et le mal moral qui est le péché21. Il reconnaît la présence du mal dans le monde, sans pour autant accepter l’idée d’un principe donnant au mal une existence et une essence égales à celles du principe du bien. Certes, mais cela n’explique pas le mal dans un monde créé par Dieu, qui n’est que bonté. Leibniz reconnaît implicitement la difficulté de la question quand il écrit : « […] M. Bayle y demande un peu trop, il voudroit qu’on luy montrât en détail, comment le mal est lié avec le meilleur projet possible de l’univers ; ce qui seroit une explication parfaite du phenomene : mais nous n’entreprenons pas de la donner, et n’y sommes pas obligés non plus, car on n’est point obligé à ce qui nous est impossible dans l’etat où nous sommes : il nous suffit de faire remarquer que rien n’empêche qu’un certain mal particulier ne soit lié avec ce qui est le meilleur en general. Cette explication imparfaite, et qui laisse quelque chose à découvrir dans l’autre vie, est suffisante pour la solution des objections, mais non pas pour une compréhension de la chose »22.

La question est d’autant plus épineuse qu’à travers elle se profile celle de la responsabilité divine dans les malheurs de l’humanité. C’est Dieu qui a créé l’homme avec cette imperfection originelle entraînant souffrance et péché. Leibniz répondra que Dieu veut souvent le mal physique c’est-à-dire les douleurs, les souffrances, les misères, comme « une peine due à la coulpe, et souvent aussi comme un moyen propre à une fin, c’est à dire pour empêcher de plus grands maux ou pour obtenir de plus grands biens »23. Il ne va pas aussi loin que Lactance qui selon Bayle, donne une réponse pitoyable à la question du mal. Dieu, selon Lactance, aurait produit le mal « parce qu’autrement il n’auroit pas pu nous communiquer, ni la sagesse, ni la vertu, ni le sentiment du bien »24. Ce Père de l’Église répond ainsi à une objection qui viendrait d’Épicure et dont la logique est 19 20 21 22 23 24

Essais de Théodicée, § 152 ; GP VI, 200. Ibid., § 153 ; GP VI, 201. Ibid., § 21 ; GP VI, 115. Ibid., § 145 ; GP VI, 196. Ibid., § 23 ; GP VI, 116. DHC, Pauliciens, p. 2323. P. Bayle cite un texte extrait du De ira Dei de Lactance, sans en donner l’édition. C. Ingremeau (éd.) : La colère de Dieu, Paris 1982, 13, 20, L. 104–106, p. 158 ; 21–24, L. 107–132, p. 160.

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quasi imparable. Cette objection cependant, ne concerne pas le mal moral. Dans la première hypothèse, Dieu veut supprimer les maux sans le pouvoir. Il est donc faible, ce qui est impossible. Dans la seconde, il le peut sans le vouloir, c’est donc qu’il est jaloux, ce qui lui est étranger. Dans la troisième, il ne le peut, ni le veut, c’est donc qu’il est jaloux et faible. Dans la quatrième, il le veut et le peut. Pourquoi ne supprime-t-il donc pas les maux? Lactance reconnaît que l’argument est redoutable25. Bayle s’insurge contre la faiblesse de la réponse de ce théologien dont la logique est loin d’être équivalente à celle d’Épicure. Il fait remarquer que les Pères de l’Église auraient dû abandonner les raison a priori pour se concentrer sur les raisons a posteriori. Car la réponse de Lactance signifierait que les bons anges souffrent et que les âmes des bienheureux, ayant atteint la béatitude, passent de la joie à la tristesse ou l’inverse. C’est contraire au sentiment unanime des théologiens et à la droite raison. Par ailleurs, il affirme qu’ « en bonne Philosophie, il n’est point du tout nécessaire que nôtre ame ait senti du mal, afin de goûter le bien, ou qu’elle passe successivement du plaisir à la douleur ou de la douleur au plaisir »26 pour savoir que la douleur est un mal et le plaisir un bien. Ayant donc écarté l’argumentation de Lactance, il se demande comment expliquer la méchanceté et le malheur humains. C’est une réalité qui s’impose à l’homme dès son plus jeune âge et dont le sentiment se renforce au cours de sa vie et de ses voyages. « L’homme est mechant et malheureux: chacun le conoît par ce qui se passe au-dedans de lui, et par le commerce qu’il est obligé d’avoir avec son prochain. Il sufit de vivre cinq ou six ans, pour être parfaitement convaincu de ces deux articles : ceux qui vivent beaucoup et qui sont fort engagez dans les afaires connoissent cela encore plus clairement. Les voiages font des leçons perpetuelles là-dessus; ils font voir par tout les monumens du malheur et de la mechanceté de l’homme ; par tout des prisons et des hôpitaux; par tout des gibets et des mendians. Vous voiez ici les débris d’une ville florissante; ailleurs vous n’en pouvez pas même trouver les ruines »27.

Pour Leibniz, Bayle exagère. Il y a plus de bien que de mal dans la vie des hommes, comme il y a plus de maisons que de prisons28. Se référant à Machiavel, il fait remarquer « qu’il y a peu d’hommes fort mechans et fort bons, et que cela 25 Lactance répond que la plupart des philosophes défendant la Providence sont troublés par cet argument et sont amenés à dire que Dieu ne se soucie de rien. Mais ce redoutable argument peut être aisément détruit. Dieu est tout puissant, il n’est ni faible ni jaloux. Il peut supprimer les maux, mais ne le veut pas. Car si on supprime les maux, on supprime la sagesse et par conséquent la vertu, dont la raison d’être consiste à supporter et à surmonter les maux. De ira Dei, op. cit., 22–24, p. 160. 26 DHC, Pauliciens, p. 2324. 27 DHC, Manichéens, p. 2025. Dans la note (d) de ce texte, Bayle écrit : « A cet âge-là on a fait et on a souffert des tours de malice: on a eu du chagrin et de la douleur: on a boudé plusieurs fois ». 28 Essais de Théodicée, § 148 ; GP VI, 198. Jean Delvolve écrit à ce sujet : « S’il [Bayle] se récriait que le mal, que nous constatons dans la seule partie de l’univers qui nous soit connue, a une réalité, et que c’est précisément cette partie de l’univers et le mal avec elle que nous devons rattacher à la causalité divine, Leibniz lui opposerait les lois naturelles en vertu desquelles le mal existe, et qui ne limitent en rien la perfection de Dieu, parce qu’elles sont librement décrétées par la sagesse », in : Delvolve, op. cit., p. 330.

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fait manquer bien de grandes entreprises »29. Leibniz a une appréciation plus optimiste de l’existence humaine. Appréciation qui n’est que l’autre face du pessimisme de Bayle. Mais si infimes que soient considérés les degrés du malheur et de la méchanceté humaines, on se doit de les expliquer dans un monde créé par Dieu. Soit Dieu les veut, il en est donc responsable, soit, il ne les veut pas et cette responsabilité échoit à un principe mauvais, indépendant. Bayle affirme que si le monde ne comptait que des méchants et des malheureux, le recours aux deux principes ne serait pas nécessaire. « C’est le melange du bonheur et de la vertu avec la misere et avec le vice qui demande cette hypothèse »30. Or pour Leibniz, les deux principes sont en Dieu. Ils sont constitués par son entendement et sa volonté. « L’entendement fournit le principe du mal, sans en être terni, sans être mauvais; il represente les natures, comme elles sont dans les verites eternelles ; il contient en luy la raison pour laquelle le mal est permis; mais la volonté ne va qu’au bien. Adjoutons un troisieme principe, c’est la puissance ; elle precede même l’entendement et la volonté ; mais elle agit comme l’un le montre et comme l’autre le demande »31.

C’est donc l’homme et non Dieu qui est responsable du mal. Celui-ci vient de son imperfection originelle, le mal métaphysique. Si l’homme était parfait, il serait l’égal de Dieu. Ce qui est impossible, car la perfection n’appartient qu’à Dieu. Cette limitation dans la perfection conduit l’homme au péché. Dieu, ayant voulu cette imperfection, ne peut donc empêcher l’homme de produire le mal. Cela relève de sa volonté qui peut être bonne ou mauvaise. « Car une mauvaise volonté est dans son departement ce que le mauvais principe des Manichéens seroit dans l’univers; et la Raison, qui est une image de la divinité, fournit aux ames mauvaises de grands moyens de causer beaucoup de mal. Un seul Caligula ou Neron en a fait plus qu’un tremblement de terre »32. Leibniz rejoint en cela ses prédécesseurs médiévaux qui attribuaient à la volonté la faculté de se tourner vers le mal ou vers le bien. Mais cette volonté, pour le philosophe, est parfois soumise à des pensées confuses générées par les sens, dont elle est l’esclave. Néanmoins, un esclave garde toujours une certaine liberté de choix, même si c’est entre deux maux. Pour Leibniz, « Nous ne voulons à la verité que ce qui nous plait : mais par malheur ce qui nous plait à présent, est souvent un vray mal, qui nous deplairoit si 29 30 31 32

Essais de Théodicée, § 148 ; GP VI, 198. DHC, Manichéens, p. 2025. Essais de Théodicée, § 149 ; GP VI, 198–199. Ibid., § 26 ; GP VI, 118. G. Mormino écrit : « Del peccato, dunque, non viene mai negato che tragga origine da un atto volontario, nemmeno nell’ultimo Leibniz, ma ne viene meglio chiarita la generazione, da simplice limitazione creaturale a vera e propria colpa positiva: esso non ha una causa efficiente ma solo ideale, poiché le sue condizioni sono ‹trovate› e attualizzate così come sono già in idea, non prodotte. Andrà dunque chiarita la dottrina dell’ incompossibilità come ragione della limitazione degli esistenti, nozione sulla quale Leibniz punta gran parte della sua polemica nei confronti di Descartes, Hobbes e Spinoza: l’esistenza di tutti i possibili costituisce, negli anni ǥ70–ǥ80 soprattutto, l’obiettivo principale della sua polemica», in : G. Mormino: Determismo e utilitarismo nella Teodicea di Leibniz, Milano 2005, pp. 124–125.

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nous avions les yeux de l’entendement ouverts »33. Saint Augustin, dans son dialogue avec Evodius, affirme que le problème de l’origine des mauvaises actions l’a conduit à l’hérésie, c’est-à dire au manichéisme. Cette chute l’a enseveli sous un tel amas de fables qu’il n’en put s’en dégager qu’avec l’aide de Dieu et en revenant à la première des libertés, celle de chercher34. La volonté, lorsqu’elle adhère au bien immuable et universel qu’est Dieu, obtient les plus grands biens. Mais, elle pèche en s’en détournant pour un bien particulier extérieur ou inférieur35. Le mal consiste pour elle à se détourner du bien immuable, pour se tourner vers des biens changeants. La misère qui les suit en est le châtiment juste et mérité36. La question de la liberté, de la volonté et du libre arbitre sera reprise tout au long du moyenâge. Citons Bernard de Clairvaux qui écrira que le libre arbitre donne à l’âme le pouvoir de discerner entre le bien et le mal, entre la vie et la mort, entre la lumière et les ténèbres et entre tout ce qui se présente sous la forme d’opposition entre les

33 Essais de Théodicée, § 289 ; GP VI, 288–289. 34 Augustin : « De libero arbitrio», in : F. J. Thonnard (éd.) : VI Dialogues philosophiques (= Œuvres de Saint Augustin 6), Paris 1952, II, 4, p. 140 : « Eam questionem moves, quae me admodum adolescentem vehementer exercuit, et fatigatum in haereticos impulit, atque dejecit. Quo casu ita sum afflictus, et tantis obrutus acervis inanium fabularum, ut nisi mihi amor inveniendi veri opem divinam impetravisset, emergere inde, atque in ipsam primam quaerendi libertate non possem ». 35 « Voluntas ergo adhaerens communi atque incommutabili bono, impetrat prima et magna hominis bona, cum ipsa sit medium quoddam bonum. Voluntas autem aversa ab incommutabili et communi bono, et conversa ad proprium bonum, aut ad exterius, aut ad inferius, peccat ». Ibid., II, XIX, 53, p. 316. M. Huftier : Libre arbitre, liberté et péché chez Saint Augustin (= Analecta Mediaevalia Namurcensia 4), Louvain – Lille, 1966, pp. 187–281. Sur la question de la liberté de la volonté à l’époque moderne : A. Clair : « Servitude et liberté de la volonté Le débat entre Érasme et Luther », in : Revue des Sciences Philosophiques et Théologiques 64 (1980), pp. 82–99. Cette question a été débattue et reprise tout au long du moyenâge. Dans l’ensemble, les successeurs d’Augustin s’en sont tenus à sa doctrine, refusant d’attribuer l’origine du mal à Dieu et reconnaissant le secours de la grâce dans la réalisation du bien. Mais c’est surtout à Anselme de Cantorbery que l’on doit, inspirée d’Augustin, une avancée dans la réflexion sur le libre arbitre comme pouvoir non seulement de choisir entre le bien et le mal, mais aussi de conserver la justice. Voir K. Trego : L’essence de la liberté La refondation de l’éthique dans l’œuvre de saint Anselme de Cantorbery, Paris 2010, pp. 207– 267. Néanmoins, la doctrine pélagienne de la liberté n’a pas complètement disparu sous les attaques d’Augustin. Selon Pélage, la volonté est libre de faire le bien ou le mal, indépendamment de la grâce divine. Le libre arbitre de l’homme n’est pas nécessairement tourné vers bien, le mal ne devenant qu’un accident. Il s’exerce en pleine liberté dans le choix entre le bien et le mal, sous la conduite de la raison. L’homme reconnaît ainsi la responsabilité de ses mauvaises actions comme des bonnes. La grâce est accordée en fonction des bonnes actions. Elle n’est pas un préalable à celles-ci. Le semi-pélagianisme a admis le secours de la grâce dans la réalisation du bien, tout en continuant à en refuser le préalable. T. Bohlin: Die Theologie des Pelagius und Ihre Genesis, Uppsala 1957. Leibniz critique la doctrine pélagienne telle qu’elle a été exposée par Durand de Saint-Pourcin et Pierre Auriol au XIIIe siècle. Elle réapparaît, selon le philosophe, sous la plume de Louis Bereur de Dole au XVIIe siècle et de Bernier, dans son livre Du libre et du volontaire. Voir Essais de Théodicée, § 27 ; GP VI, 118–119. 36 De libero arbitrio, op. cit., p. XIX, 53, pp. 316–318.

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contraires. L’œil de l’âme est comme un arbitre qui décide et qui opte librement37. Mais comment se peut-il que l’homme, cette création d’un être suprêmement et souverainement bon ne se tourne pas vers le bien, donc vers son Créateur, en toutes circonstances ? Ce qui revient à poser de nouveau la question de la responsabilité divine. Car, on peut se demander pourquoi un homme sachant que certains de ses actes sont mauvais et auront des conséquences néfastes, s’obstine-t-il à les commettre. Selon Leibniz, « Dieu luy a fait present d’une image de la divinité, en luy donnant l’intelligence »38. Par conséquent, Dieu ne peut empêcher cette intelligence de se tourner vers le mal. Car, en agissant ainsi, il entraverait la liberté qu’il a lui-même donné à l’homme et remettrait en cause son imperfection. Pour Bayle, un tel argument serait irrecevable. « Ceux qui disent que Dieu a permis le peché, parce qu’il n’auroit pu l’empêcher sans donner atteinte au libre arbitre qu’il avait donné à l’homme, et qui étoit le plus beau présent qu’il lui eût fait, s’exposent beaucoup. La raison qu’ils donnent est belle, on y voit un je ne sçai quoi qui éblouït, on y trouve de la grandeur : mais enfin on la peut combatre par des raisons qui sont plus à la portée de tous les hommes, et plus fondées sur le bon sens et sur les idées de l’ordre. Sans avoir lu le beau traité de Seneque sur les bienfaits, on connoît par la lumière naturelle, qu’il est de l’essence d’un bienfaiteur de ne point donner des graces dont il sçait qu’on abuseroit de telle sorte, qu’elles ne serviroient qu’à la ruine de celui à qui il les donneroit »39.

Par conséquent, le libre arbitre serait donné à l’homme, alors que Dieu savait à l’avance quel mauvais usage en ferait son possesseur. Cette explication ressemble à celle que donnerait une mère de famille qui laisserait ses filles aller au bal après les avoir exhortées à la sagesse et les avoir menacées de disgrâce si elles en revenaient femmes. Elle aurait beau se justifier en invoquant leur liberté et sa confiance, elle ne s’en attirerait pas moins un juste blâme pour n’aimer ni ses filles, ni la chasteté. Elle se comporterait plutôt en marâtre40. De même, le libre arbitre d’Adam qui l’a conduit à sa perte, ainsi que ses descendants, voués pour la plupart à la damnation éternelle, n’était pas un bon présent41. On peut objecter à Bayle que le libre arbitre peut également conduire l’homme au bien, plus souvent qu’au mal. Mais ce n’est manifestement pas son propos42. Reprenant les objections manichéennes, il écrit : « 1er. On ne conçoit pas que le premier homme ait pu recevoir d’un bon principe la faculté de faire le mal. Cette faculté est un vice; tout ce qui peut produire le mal est mauvais, puis que le mal ne peut naître que d’une cause mauvaise: et ainsi le franc arbitre d’Adam est sorti de 37 « Ex hac nempe inest illi inter bonum quidem et malum, nec non inter vitam et mortem, sed et nihilominus inter lucem et tenebras, et cognitio iudicii, et optio eligendi, et si qua sunt alia quae similiter circa animi habitum sese e regione respice videantur. Nihilominus inter ipsa censorius quidam arbiter, is animae oculus, diiudicat et discernit, sicut arbiter in discernendo, ita in eligendo liber ». « Sermones super Cantica Canticorum », in: J. Leclercq/C. H. Talbot/H. M. Rochais (éd.): Sancti Bernardi opera, vol. II, Romae 1963, 81, III, 6, L. 18–23, p. 287. 38 Essais de Théodicée, § 147 ; GP VI, 199. 39 DHC, Pauliciens, p. 2326. 40 Ibid. 41 Ibid. 42 J. P. Jossua : Pierre Bayle ou l’obsession du mal, Paris 1977, pp. 145–159.

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Brigitte Saouma deux principes contraires; entant qu’il pouvoit se tourner du côté du bien, il dépendoit du bon principe; mais entant qu’il pouvoit embrasser le mal il dépendoit du mauvais principe. 2ème Il est impossible de comprendre que Dieu n’ait fait que permettre le peché; car une simple permission de pecher n’ajoûtoit rien au franc arbitre, et ne faisoit pas que l’on pût prévoir si Adam persevereroit dans son innocence, ou s’il en décherrroit »43.

Pour Leibniz le franc arbitre va au bien. S’il rencontre le mal, « c’est par accident, c’est que le mal est caché sous le bien et comme masqué »44. Cette idée selon laquelle le mal ne serait que l’envers du bien ou que la laideur dissimulerait une plus grande beauté est présente chez les théologiens médiévaux45. Ce qui n’écarte pas pour autant la question de l’origine du mal, qu’il soit visible ou masqué. On en revient donc à une influence extérieure à Dieu, qui serait le diable. Le diable est l’auteur du péché, sans en être à l’origine. Les diables sont des anges déchus. Mais, selon Leibniz « […] L’Ecriture ne s’explique pas assés là dessus. Le passage d’Apocalypse, qui parle du combat avec le Dragon comme d’une vision, y laisse bien des doutes, et ne développe pas assés une chose dont les autres auteurs sacrés ne parlent presque pas »46.

Néanmoins, il écrit un peu plus loin : « La premiere mechancete nous est connue, c’est celle du diable et de ses Anges : le diable peche dès le commencement, et le fils de Dieu est apparu à fin de defaire les œuvres du diable »47.

Un peu plus loin, il ajoutera que « l’homme s’est livré au Demon par sa convoitise: le plaisir qu’il trouve au mal, est l’hameson auquel il se laisse prendre. Platon l’a déja dit, et Ciceron le repete: Plato voluptatem dicebat escam malorum. La Grace y oppose un plaisir plus grand comme S. Augustin l’a remarqué »48. Leibniz est loin de nier l’existence du diable et la force de son action. Celle-ci n’était pas encore contestée et restait le corollaire de l’action de la grâce. Remettre en cause l’existence du diable revenait presque à remettre en cause l’existence de Dieu. Ce qui était encore très marginal à l’époque moderne. Certes les athées et les libertins s’exprimaient sur la question, mais de façon plus ou moins clandestine. On peut donc se demander, dans ce cas, comment Dieu a pu permettre la chute des anges et l’action du diable auquel le christianisme attribue toutes les fausses religions, selon Bayle. Il pousse les hérétiques à dogmatiser, il inspire les erreurs, les superstitions, les schismes, l’impudicité, l’avarice, l’intempérance, bref, tous les crimes. « Il est donc le premier principe du mal; mais neanmoins, comme il n’est ni éternel, ni increé, il n’est pas le premier principe mechant au sens des manichéens »49. Le diable n’a donc pas les prérogatives de la puissance 43 DHC, Pauliciens, pp. 2326–2327. 44 Essais de Théodicée, § 154 ; GP VI, 201. 45 E. de Bruyne : Etudes d’esthétique médiévale, Paris 1998. Voir particulièrement le t. 2, pp. 375–528. 46 Essais de Théodicée, § 157 ; GP VI, 203. 47 Ibid., § 273 ; GP VI, 280. 48 Ibid., § 278 ; GP VI, 282. 49 DHC, Pauliciens, p. 2330.

La Controverse entre G. W. Leibniz et P. Bayle sur le Double Principe de Manichéisme

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divine. Quoiqu’il fasse, il ne surpassera ni la volonté, ni l’entendement divin. Mais les manichéens pourraient objecter que Dieu n’en a pas moins permis son existence ou du moins n’a pu arrêter son action, au point que le monde s’est trouvé divisé en deux cités, celle de Dieu et celle du diable. « La premiere ayant toujours été fort petite, et pendant plusieurs siecles si petite qu’elle n’avoit pas 2 habitans contre l’autre deux millions »50. Puis Bayle renonce, en apparence à argumenter d’avantage et annonce « qu’il faut humblement reconnaître que toute la philosophie est ici à bout, et que sa foiblesse nous doit conduire aux lumières de la revelation, où nous trouverons l’ancre sûre et ferme »51. À la fin de l’article « Pauliciens », il écrira : « Le dogme que les Manichéens attaquent doit être consideré par les orthodoxes comme une verité de fait, revelée clairement, et puis qu’enfin il faudroit tomber d’accord qu’on n’en comprend point les causes ni les raisons, il vaut mieux en convenir dès le début, et s’arrêter là, et laisser courir comme de vaines chicaneries les objections des Philosophes, et n’y oposer que le silence avec le bouclier de la foi »52.

Cette allégeance à l’orthodoxie chrétienne est aussi l’aveu que le combat contre le manichéisme, selon Bayle, ne peut se faire avec les seules armes de la raison. Celle-ci doit s’appuyer sur la Révélation, qui donne le principe même de la lutte contre les manichéens. Pour Leibniz, ce serait au contraire la raison, qui par l’explication des phénomènes naturels doit conduire à réfuter les arguments manichéens, comme le laissent supposer ses comparaisons savantes. Car la force des idées manichéennes réside dans l’observation immédiate de la nature et particulièrement des phénomènes contraires. Cette observation est à la portée de tout un chacun alors que la réflexion qui suit cette observation est du domaine des savants. Cette réflexion est une longue et difficile opération de l’esprit dont les résultats ne sont pas admis d’emblée. L’histoire des sciences fourmille d’exemples de découvertes condamnées ou mise à l’index, non seulement par l’Église, mais parfois par les savants eux-mêmes. La séduction du double principe réside dans le fait qu’il donne une raison aux phénomènes naturels immédiatement perceptibles, sans le recours aux mathématiques, à la physique, ou à la biologie. Ce n’est pas le cas des explications savantes qui, lorsqu’elles sont admises, requièrent des connaissances difficilement accessibles au commun des mortels. De ce fait, elles peinent à s’imposer face à des traditions parfois séculaires. Cette immédiateté de la perception a constitué l’une des grandes forces du manichéisme. Bayle, dans ses articles, ne recourt pas aux explications ou comparaisons savantes. Il se place sur le terrain de la théologie et de la philosophie, ce qui rend le double principe si difficile à réfuter. Car la Révélation qui constitue le socle de l’argumentation chrétienne, requiert une adhésion préalable et quasi inconditionnelle que refusent, entre autre, les athées. Une véritable réfutation commencerait par l’étude savante des phénomènes naturels; étude qui remettrait en cause la cosmogonie manichéenne. Les 50 Ibid. 51 Ibid. 52 Ibid., p. 2335.

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sciences permettent d’expliquer le monde, ou de tenter de l’expliquer, au-delà des apparences. Elles contribueraient donc à combattre durablement le manichéisme. Au XVIIe siècle, cette étude est beaucoup moins dépendante de la théologie qu’au moyen-âge. Les méthodes et les concepts spécifiques aux sciences, permettant une vision du monde bien plus dégagée des présupposés théologiques, se développent. Certes, une telle démarche était déjà présente au moyen-âge, mais elle restait relativement marginale malgré l’apport des sciences grecques et arabes. Cependant, cette étude suppose que le manichéisme soit considéré dans sa globalité et non seulement à travers le prisme du double principe. Revenir à la religion manichéenne comme le fait Isaac de Beausobre, en étudiant ses transformations en fonction des lieux où elle s’est étendue, permet une connaissance et donc une critique plus profonde des mythes fondateurs. Or le manichéisme, après saint Augustin a été surtout combattu comme une philosophie ayant pour fondement le double principe. Les mythes, les croyances et leurs transformations, n’ont pas été occultés, mais ils n’ont été réellement pris en compte que pour être soumis à de violentes critiques. Ces mythes ne sont pas aisés à combattre par la raison, car ils frappent d’abord l’imagination. Une réflexion sur celle-ci était présente chez les théologiens médiévaux53. Les interrogations à propos de l’impact des images, de leur rationalité ou des fables qu’elles génèrent constituent l’une de leurs grandes préoccupations. Ils reconnaissaient la nécessité d’un certain développement de l’imagination, à condition qu’elle ne soit pas débordante. Mais, en ce qui concerne l’hérésie, il importait avant tout, d’éradiquer les images suscitées par ses mythes ainsi que ses textes. Pour les penseurs modernes qui ont une approche différente du manichéisme, presque anthropologique, ces mythes font partie de la vie des adeptes; ils tiennent lieu de vérités universelles et de connaissances scientifiques. Les appréhender sous tous leurs aspects donne la possibilité de les analyser et de les critiquer avec plus d’exactitude. Cependant, il serait vain de croire à leur disparition complète, malgré le travail des philosophes et des savants, en général. Le double principe né de ces mythes, ressurgit dès que le problème du mal se pose avec acuité, qu’il s’agisse de mal métaphysique, de mal moral ou de mal physique. En ce sens, les articles de Bayle, exposant les arguments manichéens restent intéressants à plus d’un titre. Ils mettent en lumière l’impact du double principe sur les esprits ainsi que l’argumentation développée à son encontre. Ils renouvellent le questionnement sur ses fondements théologiques et philosophiques. La critique concernant les insuffisances de l’argumentation médiévale, révèle la nécessité de reprendre le problème sous un autre angle. Ce que fera Leibniz. Que tous deux aient combattu le double principe, montre à quel point celui-ci était encore considéré comme dangereux. Malgré les attaques dont il fut régulièrement l’objet, il est resté présent en arrière-fond de la pensée occidentale, ressurgissant lorsque les explications rationnelles étaient mises en déroute ou lorsqu’il servait des intérêts politiques et économiques.

53 M. C. Pacheco/J. F. Meirinhos (éd.) : Intellect et imagination dans la philosophie médiévale Actes du XIe congrès International de Philosophie Médiévale, Turnhout 2006.

„POLITISCHE THEODIZEE“ – LEIBNIZ’ KONTROVERSE MIT PUFENDORF1 Luca Basso (Padua)

Im Aufsatz werde ich die politischen Implikationen und Folgen der Leibniz’schen Theodizee untersuchen. Ich werde den Begriff der „Theodizee“ als ein ziemlich einheitliches Element der Leibniz’schen Philosophie darstellen und hierbei Entwicklungen und Veränderungen mit einbeziehen, die zeitlich vor den Essais de Théodicée (1710) liegen. Leibniz hat sie nach der Confessio philosophi (1673) entwickelt, die als eine Art „erste Theodizee“ gelten kann2. Von den beiden Bedeutungen des Begriffs „Theodizee“, Rechtfertigung Gottes und Gerechtigkeit Gottes, werde ich insbesondere die zweite analysieren, weil diese in einem engen Verhältnis zu politischen Fragen steht. Wie zu zeigen sein wird, spielt der Begriff der Justitia Dei eine zentrale Rolle in der politischen Reflexion von Leibniz, und zwar insbesondere in Bezug auf das Element der Vernunft. Zur Vertiefung dieser Problematik ist es besonders aufschlussreich, die Kontroverse zwischen Leibniz und Pufendorf in einer Perspektive zu betrachten, die der Position Rechnung trägt, die Leibniz gegenüber Pufendorf entwickelte. Diese Untersuchung ist in vier Abschnitte gegliedert. Erstens werde ich die Leibniz’sche Auseinandersetzung mit Pufendorf insgesamt rekonstruieren. Zweitens werde ich die Frage der Verbindung (oder der Trennung) von Theologie und Naturrecht analysieren. Drittens werde ich die philosophischen Aspekte des Problems betrachten, die nicht auf die Ebene des Religiösen reduzierbar sind. Viertens werde ich die Unterschiede zwischen der Leibniz’schen Position der jurisprudentia universalis und der Logik der Souveränität von Hobbes und Pufendorf erläutern. In den politischen Schriften und auch in den Briefen von Leibniz3 finden sich oft Bezüge zu Pufendorf4, dabei fällt nicht nur die Häufigkeit auf, mit der Leibniz 1

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Die Vertiefung der Kontroverse zwischen Leibniz und Pufendorf war Teil eines Projekts, das von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel finanziert wurde und für das Forschungsaufenthalte an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und der Leibniz-Edition Potsdam entscheidend waren. Vgl. F. Piro: „Postfazione. Nel laboratorio della teodicea leibniziana“, in: G. W. Leibniz: „Confessio Philosophi“ e altri scritti, Napoli 1992, S. 121–157. Zur politischen Philosophie von Leibniz u. a.: E. Ruck: Die Leibniz’sche Staatsidee (1909), Tübingen 1969; G. Grua: Jurisprudence universelle et Théodicée selon Leibniz, Paris 1953; ders.: La justice humaine selon Leibniz, Paris 1956; E. Naert: La pensée politique de Leibniz, Paris 1964; K. Herrmann: Das Staatsdenken von Leibniz, Bonn 1958; P. Wiedeburg: Der junge Leibniz, das Reich und Europa, 4 Bde., Wiesbaden 1962–1970; C. J. Friedrich: „Philosophical Reflections of Leibniz on Law, Politics and the State“, in: H. G. Frankfurt (Hrsg.):

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über Pufendorf spricht, sondern auch die theoretische Bedeutung des Verhältnisses der beiden Philosophen ist bemerkenswert5. Schon während seines Jenaer Studiensemesters 1663 hatte Leibniz von Pufendorf erfahren, der wirkliche Beginn der Auseinandersetzung mit der Naturrechtslehre Pufendorfs aber fällt in die Zeit seines Pariser Aufenthalts. Sie hatten sich nie persönlich kennen gelernt, und ein Briefwechsel kam erst 1690 zustande, brach jedoch bald wieder ab, lebte 1693 noch einmal auf und ruhte dann, bis Pufendorf 1694 starb. Leibniz entwickelte meistens eine sehr kritisch Position gegenüber Pufendorf. So stellte Leibniz ihn in einem Brief an H. E. Kestner folgendermaßen dar:

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Leibniz. A Collection of Critical Essays, Notre Dame – London 21976, S. 47–68; H.-P. Schneider: Justitia universalis. Quellenstudien zur Geschichte des christlichen Naturrechts bei Leibniz, Frankfurt a. M. 1967; H. Schiedermair: Das Phänomen der Macht und die Idee des Rechts bei G. W. Leibniz (= Studia Leibnitiana Supplementa 7), Wiesbaden 1970; R. Sève: Leibniz et l’école moderne du droit naturel, Paris 1989; A. Robinet: G. W. Leibniz: le meilleur des mondes par la balance de l’Europe, Paris 1994; P. Riley: Leibniz’ Universal Jurisprudence. Justice as the Charity of the Wise, Cambridge 1996; H.-P. Schneider: „Gottfried Wilhelm Leibniz. Praktische Philosophie“, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, Abt. 4: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, begründet von F. Überweg, Bd. 4/2: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation Nord- und Ostmitteleuropa, hrsg. von H. Holzhey und W. Schmidt-Biggemann, Basel 2001, S. 1119–1137. Zum politischen und juristischen Denken von Pufendorf u. a.: H. von Treitschke: „Samuel Pufendorf“, in: Preußische Jahrbücher 35 (1875), S. 614–655 und 36 (1875), S. 61–109; F. Lezius: Der Toleranzbegriff Lockes und Pufendorfs. Ein Beitrag zur Geschichte der Gewissensfreiheit, Leipzig 1900; H. Welzel: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs (1930), Berlin 1958; H. Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistesund wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie, München 1972; N. Hammerstein: „Samuel Pufendorf“, in: M. Stolleis (Hrsg.): Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik-Politik-Naturrecht, Frankfurt a. M. 1977, S. 174–197; F. Palladini: Samuel Pufendorf discepolo di Hobbes. Per una reinterpretazione del giusnaturalismo moderno, Bologna 1990; S. Zurbruchen, Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzbegriffs von Samuel Pufendorf bis Jean-Jacques Rousseau, Würzburg 1991; D. Döring: Pufendorf-Studien. Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller, Berlin 1992; T. Behme: Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie, ihrer Grundlagen und Probleme, Göttingen 1995; S. Wollgast: „Die deutsche Frühaufklärung und Samuel Pufendorf“, in: F. Palladini/G. Hartung (Hrsg.): Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Werk und Einfluß eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren (1694–1994), Berlin 1996, S. 40– 60; H. Dreitzel: „Samuel Pufendorf“, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, S. 757– 812. Zur Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Pufendorf siehe Anm. 1–2. Vgl. O. von Gierke: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (1880), Breislau 41929; N. Bobbio: „Leibniz e Pufendorf“, in: Rivista di filosofia 38 (1947), S. 118– 129; F. Palladini: „Di una critica di Leibniz a Pufendorf“, in: Percorsi della ricerca filosofica. Filosofie tra storia, linguaggio e politica, Roma 1990, S. 19–27; T. J. Hochstrasser: Natural Law Theories in the Early Enlightenment, Cambridge – New York 2000, insbes. S. 72–110; I. Hunter: Rival Enlightements. Civil and Metaphysical Philosophy in Early Modern Germany, Cambridge 2001; D. Döring: „Leibniz’s Critique of Pufendorf. A Dispute in the Eve of Enlightenment”, in: M. Dascal (Hrsg.): The Practice of Reason. Leibniz and his Controversies, Amsterdam – Philadelphia 2010, S. 245–272.

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„Opinio quae ius naturae ad externa restringit nec veteribus philosophis, nec iurisconsultis olim gravioribus placuit donec Pufendorfius vir parum iurisconsultus et minime philosophus quosdam seduxit. Est eius non magna apud me auctoritas, quum fere popularia de suo adferat et in cortice haereat“6.

Was die Leibniz’sche Pufendorf-Interpretation betrifft, sind zahlreiche Texte und insbesondere In Severinum de Monzambano7 und Monita quaedam ad Samuelis Pufendorfii Principia8 zu erwähnen. In der Tat haben Leibniz und Pufendorf zwei ganz verschiedene Konzeptionen des Naturrechts. Das gilt sowohl für die philosophischen Grundlagen als auch für die politischen Ergebnisse ihrer Reflexion. Was Erstere betrifft, ist daran zu erinnern, dass das Element des Vertrags (oder besser: der Verträge) eine zentrale Rolle bei Pufendorf spielt, während es bei Leibniz deshalb keinen Vertrag in engerem Sinne gibt, weil der Ausgangspunkt in den konkreten Wirklichkeiten und nicht in einem abstrakten Schema gesehen wird9. Im Gegensatz zu Leibniz existieren Gemeinwohl und Gerechtigkeit nach Pufendorf nicht vor der Bildung der summa potestas (höchster Gewalt), sondern sie konstituieren ein Ergebnis von ihr. Aber die Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Pufendorf betrifft nicht nur die theoretischen Voraussetzungen des Naturrechts, sondern auch die politische und die konfessionelle Anwendung des Problems. Während Leibniz das Reich als „Einheit in der Vielfalt“ im Gegensatz zu jeder reductio ad unum lobt, definiert Pufendorf das Reich als monstrum, da es sich nicht in die damals verfügbaren Kategorien von Staatlichkeit einordnen ließ10. So stehen sich die Leibniz’sche Schrift Caesarinus Fuerstenerius (1677) und die Pufendorf’sche Schrift De statu Imperii Germanici (1667) gegenüber. Was die verfassungsrechtliche Ebene der bezeichneten Frage betrifft, empfiehlt es sich, die Unterschiede zwischen Leibniz und Pufendorf in Bezug auf das Völkerrecht zu erwähnen. Während Leibniz in seiner Praefatio Codicis juris gentium diplomatici (1693) zu der Idee der persona juris gentium kommt11, ist das Verhältnis zwischen den Staaten bei Pufendorf status naturae, denn die Staaten leben miteinander im Naturzustand, wie im Hobbes’schen bellum omnium contra omnes12. In Bezug auf die konfessionelle Anwendung des Naturrechts innerhalb der Auseinandersetzung zwischen Pufendorf und Leibniz ist es entscheidend, das Thema der Reunionsversuche zu betrachten13. 6 7 8 9 10 11

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G. W. Leibniz an H. E. Kestner, 21. August 1709; Dutens IV, 3, 261. A IV, 1, 500–502. Dutens IV, 3, 275–283. Zur Vertiefung der Grundlagen der politischen Philosophie von Leibniz: L. Basso: Individuo e comunità nella filosofia politica di G. W. Leibniz, Soveria Mannelli 2005. Vgl. S. von Pufendorf: De statu Imperii Germanici (1667), hrsg. und übers. von H. Denzer: Die Verfassung des Deutschen Reiches, Frankfurt a. M. – Leipzig 1994. Praefatio Codicis juris gentium diplomatici; A IV, 5, 48–79: 74. Zum Völkerrecht bei Leibniz: L. Basso: „Regeln einer effektiven Außenpolitik – Leibniz’ Bemühen um eine Balance widerstreitender Machtinteressen in Europa“, in: Studia Leibnitiana 40, 2 (2008), S. 139–152. Vgl. A. Dufour: „Pufendorfs föderalistisches Denken und die Staatsräsonlehre“, in: Palladini/Hartung: Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung, S. 105–122 De S. Pufendorfii libro cui titulus est: Jus feciale divinum; A IV, 6, 316–323. Zur Reunion der Kirchen: H. Rudolph: „Leibniz’ Bemühungen um eine Reunion der Kirchen“, in: H. Otte/

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Der Unterschied zwischen dem Leibniz’schen Streben nach der Kirchenunion und dem Skeptizismus Pufendorfs liegt in der unterschiedlichen Zuordnung von Theologie und Politik, Offenbarung und Vernunft. Zur Vertiefung der Kontroverse zwischen beiden Denkern ist der Reformierte Jean Barbeyrac eine bedeutsame Figur, der Pufendorfs De iure naturae et gentium und De officio ins Französische übersetzte und kommentierte: Barbeyrac verteidigte Pufendorf und stellte die Leibniz’sche Position in Frage14. Aber bei der Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Pufendorf ist hier insbesondere ein Aspekt hervorzuheben, d. h. das Verhältnis von Theologie und Politik. So legt Leibniz auf der Grundlage seines Denkens eine starke, aber nicht unmittelbare und unproblematische Verbindung zwischen Theologie und Politik nahe. Dagegen lehnt Pufendorf ein solches Verhältnis ab und begründet die Politik und das Recht iuxta propria principia ohne jeglichen Bezug auf Theologie und Metaphysik. In Pufendorfs Einleitung zu De officio gibt es eine starke Trennung zwischen moralischer Theologie und Naturrecht: Die moralische Theologie wird unbedeutend im politischen Bereich15. Nach Pufendorf beruht das Naturrecht auf einer weltimmanenten, zwischenmenschlichen Realität, die allen Menschen mit ihrer Natur eingegeben und die durch die menschliche Vernunft erkennbar ist. Diese Position kann zu einer deistischen Konzeption führen, die politisch eine Form von religiöser Toleranz als Vorbedingung für eine allgemeine Toleranz postuliert. Diese „Ethisierung“ der Religion geht mit einer Reduzierung der Religion auf eine unveräußerliche Freiheit des Bürgers einher und bedeutet eine Trennung von Legalität und Innerlichkeit, die der Logik der modernen Souveränität angemessen ist16. Dagegen strebt Leibniz nach einer engen Verbindung von Theologie, Philosophie und Naturrecht. So kann die Leibniz’sche Philosophie als Rechtsphilosophie mit einer Rechtsmetaphysik und einer Rechtsethik dargestellt werden17. Wie zum Beispiel die Observationes de principio iuris von Leibniz verdeutlichen, ist Gott der Urheber des Naturrechts, aber nicht durch seinen Willen sondern aufgrund seines Wesens, aufgrund dessen er auch Urheber der Wahrheit ist18. Wie bei Grotius kann ein Atheist nicht nur ein Mathematiker sondern auch ein Jurist sein. Das Naturrecht gilt auch, wenn es Gott nicht gibt. Entscheidend ist der Bezug auf die ewigen Ideen: Es geht um eine Form des Platonismus im Gegensatz zu

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R. Schenk (Hrsg.): Die Reunionsgespräche im Niedersachsen des 17. Jahrhunderts. Royas y Spinola – Molan – Leibniz, Göttingen 1999, S. 156–172: „Pietas und caritas sind die Instrumente zur Herstellung der Union, ist doch das Schisma wesentlich und ursächlich eine ‚rupture d’une communion de la charité‘“ (S. 169). Vgl. J. B. Schneewind: „Barbeyrac and Leibniz on Pufendorf“, in: Palladini/Hartung, S. 181– 189. Vgl. S. von Pufendorf: „De officio“ (1673), in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2, hrsg. von G. Hartung, Berlin 1997. Vgl. W. Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988. Vgl. Grua: Jurisprudence universelle. Dutens IV, 3, 370 ff.

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dem modernen Voluntarismus. Das gerechte Recht ist Ausdruck ewiger Vernunftwahrheiten: Statt der Pufendorf’schen „voluntas divina“ setzt Leibniz die „sapientia divina“. Eine klare Zusammenfassung dieser Gedanken gab Leibniz 1693 in der Praefatio Codicis juris gentium diplomatici: „‚Justitiam‘ […], quae virtus est hujus affectus rectrix, quem philanthropia Graeci vocant, commodissime, ni fallor definiemus ‚Caritatem sapientis’, hoc est sequentem sapientiae dictata […] Superat autem ‚divinus amor’ alios amores, quod Deus cum maximo successu amari potest, quando Deo simul et felicius nihil est, et nihil pulchrius felicitateque dignius intelligi potest“19.

Aber das Leibniz’sche Motto ist pro voluntate ratio; und auch Gott kann die Regeln der Geometrie nicht verändern. Damit kann das Leibniz’sche Verhältnis zwischen Theologie und Naturrecht nicht auf die Ebene des Religiösen reduziert werden. Demgegenüber ist erstens zu betonen, dass die Theologie bei Leibniz eine rationalistische Begründung hat. Im Gegensatz zu jedem religiösen Dogmatismus kommt Leibniz zu einer engen Verbindung zwischen Theologie und Vernunft. Diese Letztere wird aber von Leibniz nicht in einer nominalistischen Bedeutung, sondern in ihrem Zusammenhang mit dem Element der Wahrheit entwickelt. Wie Leibniz in den Essais de Théodicée behauptet, meint „Vernunft“ nämlich: „On n’entends pas icy les opinions et les discours des hommes, ny même l’habitude qu’ils ont prise de juger des choses suivant le cours ordinaire de la nature, mais l’enchaînement inviolable des vérités“20.

So besitzt die Verbindung zwischen Theologie und Naturrecht eine vernünftige und wahrheitsgemäße Basis. Es gilt aber noch einen anderen Aspekt, nämlich den Gegenstand des Naturrechts, genauer zu beleuchten. Nach Pufendorf betrifft das Naturrecht die äußerlichen Aktionen, während es bei Leibniz nicht hierauf reduziert werden kann. Hierbei ist die Sichtweise von Leibniz nicht nur mit seiner theologischen Begründung verbunden. Vielmehr erscheint in einer klaren Weise der Bezug auf die Philosophie, insbesondere auf die alte griechische Philosophie. Oft betont Leibniz, dass seine Idee der Politik nicht nur mit der christlichen Lehre, sondern auch mit der alten griechischen Konzeption vereinbar ist. Zum Beispiel führt die aristotelische Philosophie alle Tugenden zur allgemeinen Gerechtigkeit. In dieser Perspektive können die griechische Philosophie und die rationale Theologie nach Leibniz übereinstimmen. So versucht der Leibniz’sche Begriff der allgemeinen Jurisprudenz gerade das Verhältnis zwischen Naturrecht, Theologie und Philosophie zu interpretieren, und kann deswegen nicht auf die juristische Ebene im engeren Sinne reduziert werden. In der Méditation sur la notion commune de la justice (1704) bezieht sich Leibniz auf die Ulpianische Gliederung des Naturrechts in jus strictum, aequitas, pietas21. 19 A IV, 5, 48–79, hier 61. 20 Essais de Théodicée, Discours préliminaire de la conformité de la foi avec la raison, § 23; GP VI, 64. 21 Vgl. „Méditation sur la notion commune de la justice“, in: Mittheilungen aus Leibnizens ungedruckten Schriften, hrsg. von G. Mollat, Leipzig 21893, S. 65.

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Die dritte und höchste Stufe ist die pietas, die Frömmigkeit, oder die justitia universalis, die universelle Gerechtigkeit in der Republik, deren Lenker Gott ist. Das Prinzip ist „honeste vivere“, ehrenhaft zu leben, und diese Ehrenhaftigkeit strebt nach der Vervollkommung, von der nach Leibniz nur Gott die Grundlage sein kann. Oft wird das Verhältnis zwischen dem Gemeinwohl und der Ehre Gottes betont: „[…] la véritable piété, et même la véritable félicité, consiste dans l’amour de Dieu, mais dans un amour éclairé […] on dirige toutes ses intentions au bien commun qui n’est point différent de la gloire de Dieu“22.

Zum Naturrecht gehören nicht nur die erste Ebene, sondern auch die beiden anderen. Wenn man sich auf das jus strictum beschränkt, reduziert man die Gerechtigkeit auf das Gesetz. Von diesem Standpunkt aus konstituiert das lateinische Motto summum jus summa est injuria, „das höchste Recht ist das höchste Unrecht“ eine Erklärung der Leibniz’schen Perspektive. In De Jure et Justitia wird es behauptet: „Est […] jurisprudentia scientia ejus quod justum est“23. Der Begriff der Gerechtigkeit hänge aber weder vom Willen Gottes noch von seiner Allmacht ab, sondern sei ein Ausdruck seiner höchsten Weisheit: „La justice n’est autre chose que la charité du sage“24. Im Rahmen der Jurisprudentia universalis entwickelte sich also die Leibniz’sche Naturrechtslehre in zweierlei Gestalt: als Rechtsmetaphysik, sofern Leibniz das jus naturale als göttliches Gesetz im Universum interpretierte, und als Rechtsethik, soweit er das jus naturale auf die göttliche Gerechtigkeit in der Liebe bezog. So „la veritable politique consiste dans la justice et dans la charité, et […] un grand Prince ne scaurait estre mieux servi que lorsque le bonheur des peuples fait le sein […]“25. Es geht um einen Parallelismus zwischen der Lehre vom natürlichem Gesetz und dem Gottesbegriff, aber in Bezug auf die Vernunft, wie eine Stelle der Essais de Théodicée verdeutlicht: „[…] l’empire de Dieu, l’empire du sage, est celui de la raison“26. Nach Leibniz interpretieren Pufendorf wie Hobbes das Naturrecht weltimmanent, als jus strictum, und nicht als aequitas und als pietas. Aber es geht nicht nur um eine religiöse Frage, sondern um eine philosophische Problematik in Bezug auf die Rolle des politischen Körpers. In der Tat führt die völlige Trennung zwischen moralischer Theologie und Naturrecht zu der Rechtfertigung der absoluten Souveränität, die im Leviathan von Hobbes, einem „modernen Thrasymachus“, 22 Essais de Théodicée, Préface; GP VI, 27. Über das Verhältnis zwischen dem Gemeinwohl und der Ehre Gottes: J. Baruzi: Leibniz et l’organisation religieuse de la terre, Aalen 1975 (1. Auflage 1907), S. 425–509, S. 498: „[…] le Bien général consiste à réaliser en tous les hommes la Gloire de Dieu […] La Gloire de Dieu n’est plus possedée par un seul être“. 23 A VI, 4 C, 2838. 24 Mollat: Mittheilungen, S. 54. 25 Leibniz für Eberhard von Danckelmann. Vorschlag zur Errichtung einer Akademie der Wissenschaften und Künste, Januar 1695(?); A I, 11, 166. Zur „wahren Politik“: W. Schneiders: „Vera politica. Grundlagen der Politiktheorie“, in: F. Kaulbach/W. Krawietz (Hrsg.): Recht und Gesellschaft. Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag, Berlin 1978, S. 589– 604. 26 Essais de Théodicée, § 327; GP VI, 310.

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vorhanden ist: Die Pufendorf’sche Perspektive wäre meistens vereinbar mit der von Hobbes27. Es ist zu präzisieren, dass Hobbes in den ersten politischen Schriften von Leibniz oft gelobt wird, aber im Laufe der Zeit wird die Leibniz’sche Position immer kritischer. Ohne den Bezug auf ein Wahrheitselement beruht der politische Gehorsam auf sich selbst. Nach dieser Logik existiert keine Wahrheit außerhalb des Prinzips der Souveränität. Nach Leibniz zielt die Reflexion von Hobbes und von Pufendorf auf die Gründung einer politischen Form, die ihre völlige Einheit in der Figur des Souveräns verkörpert und die zu einer Vernichtung der anderen politischen Verbände führt. Trotz bestimmter Unterschiede zu Hobbes, ist die Pufendorf’sche Perspektive vereinbar mit der des englischen Philosophen. In seiner Kritik des ursprünglich aristotelischen Begriffs von der respublica mixta schließt sich Pufendorf fast völlig, wenn auch mit einer Abmilderung ihrer Radikalität, der Hobbes’schen Position einer absoluten und unteilbaren Souveränität an. In der Tat führt jede respublica mixta zu einer Teilung des summum imperium und stellt so den unbegrenzten Charakter der Souveränität in Frage. So wird bei Pufendorf, ähnlich wie bei Hobbes, das Element der Gerechtigkeit dem Souveränitätsprinzip im Sinne einer „véritable religion […] de l’état“28 untergeordnet. Man könnte sagen, bei Pufendorf werden Gerechtigkeit und Gemeinwohl vom Souverän erzeugt. In diesem Sinne zielen Hobbes und Pufendorf auf eine Rechtfertigung der politischen Legitimation mit einer paradoxalen Durchdringung von Individualismus und Absolutismus. Dagegen ist nach Leibniz die Gerechtigkeit nicht auf den Bezug auf eine bestimmte politische Struktur reduzierbar, und deswegen kann sie nie zur Rechtfertigung des arbitrium potentis, oder besser der Hobbes’schen réligion de l’Etat führen, weil diese nicht nur die Untertanen schädigt, sondern die rationale Dimension des politischen Körpers zerstört. Hier entsteht die Tatsache, dass sich der Leibniz’sche Begriff der justitia universalis mit der Theodizee-Frage verbindet29. In dieser Perspektive stimmen die rationale Theologie und der Platonismus der ewigen Ideen überein. Auf jeden Fall kann sich die Reflexion von Leibniz nicht 27 Vgl. Palladini in Samuel Pufendorf discepolo di Hobbes, die Pufendorf als einen „Hobbesianer“ interpretiert: „L’opera principale di Pufendorf, De iure…, è un vero e proprio commentario a Hobbes, e in particolare al De cive“ (S. 16). „Molti sono i punti di contatto: la differenza fra ‚legge‘ e ‚consiglio‘, la critica al consensus gentium quale fondamento del diritto naturale, la negazione dell’esistenza di un diritto delle genti positivo distinto da quello naturale, la distinzione fra popolo e moltitudine, l’idea del pacta sunt servanda, la negazione, al di là di tutto, del diritto di resistenza, la necessità del potere coercitivo del sovrano, la critica alla respublica mixta, la dottrina della pena“ (S. 21); O. Mancini: „Diritto naturale e potere civile in Samuel Pufendorf“, in: G. Duso (Hrsg.): Il contratto sociale nella filosofia politica moderna, Milano 32007, S. 109–148. 28 Mollat: Mittheilungen, S. 43. 29 Zum Begriff der justitia universalis: Grua: La justice humaine, S. 130: „Est juste ce qui est utile au public, c’est-à-dire à tous les habitants de la Cité de Dieu ou république de l’univers“; Schneider: Justitia universalis; R. J. Mulvaney: „The Early Development of Leibniz’s Concept of Justice“, in: Journal of the History of Ideas 29 (1968), S. 53–72; D. J. Den Uyl: „Science and Justice in Leibniz’s Political Thought“, in: The New Scholasticism 3 (1978), S. 281–292; Riley: Leibniz’ Universal Jurisprudence.

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auf eine absolute und unbegrenzte Souveränität gründen, weil das Gemeinwohl30 und die Gerechtigkeit nicht von einem besonderen Staat erzeugt werden, sondern sie eine autonome Bedeutung besitzen: „sequitur summam juris regulam esse, ut omnia ad maximum bonum generale sive communem felicitetem dirigantur“31. Kein Souverän kann weder das Gemeinwohl noch die Gerechtigkeit ex novo begründen, weil man sonst zu einer gefährlichen Konfusion zwischen Recht und Gesetz gelangt. Die Anerkennung der politischen Autorität mit ihrer summa potestas bei Leibniz impliziert nicht die Beseitigung der politischen Handlungsmöglichkeiten der Individuen und der entsprechenden Vereine. So konstituiert die politische Gemeinschaft keinen Leviathan, sondern ein Koordinationsmoment mit bestimmten Herrschaftsstrukturen, das aber die große soziale und institutionelle Gliederung nicht aufhebt. Die Betrachtung von Pufendorf richtet sich auf die Gründung einer politischen Form, die ihre völlige Einheit in der Figur des Souveräns verkörpert und die zu einer Vernichtung der verschiedenen konstituierten Strukturen führt. In einem wichtigen Brief an Burnett hebt Leibniz den starken Gegensatz zwischen „Empire de la raison“ und „pouvoir arbitraire“ hervor: „Le but de la science politique à l’égard de la doctrine des Formes des Republiques, doit estre de faire fleurir l’Empire de la raison […] Le pouvoir arbitraire est ce qui est directement opposé à l’Empire de la raison“32.

Für Leibniz betrifft die willkürliche Macht (pouvoir arbitraire) nicht nur die Überwindung bestimmter Grenzen zum Schaden der Untertanen, sondern die völlige Ausschaltung der vernünftigen Dimension, ohne die die Bildung eines gerechten politischen Körpers nicht denkbar ist. Aus dieser Ablehnung des pouvoir arbitraire geht die Verbindung zwischen Theologie, Vernunft und Naturrecht hervor. In einem Brief an Vincent Placcius (10. Mai 1676) behauptet Leibniz: „Ita semper judicavi, Jurisprudentiam veram a religione et philosophia inseparabilem esse“33. Es ist zu beobachten, dass das Verhältnis zwischen der von Gott regierten „respublica universalis“, in der die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl sich im höchsten Grad verwirklichen, und jeder politischen Republik offengelassen wird. Dies führt jedoch zu keinem Dualismus zwischen der irdischen und der himmlischen Dimension (im Unterschied zur augustinischen Konzeption der zwei Civitates), weil das Universum eine Einheit ist, die durch das Gesetz der Kontinuität gekennzeichnet wird. Im continuum existiert ein nie völlig vollendender Fortschritt zwischen jeder einzelnen Republik und der „respublica universalis“. Aus den erklärten Gründen bleibt entscheidend der Bezug auf die Frage der Theodizee 30 Zur Relevanz des „Gemeinschaftlichen“: R. W. Meyer: Leibniz und die europäische Ordnungskrise, Hamburg 1948, S. 203; E. Naert: Leibniz et la querelle du pur amour, Paris 1959, S. 157–160; M. Serres: Le système de Leibniz et ses modèles mathématiques, T. 1: Étoiles, Paris 1968, S. 389–394; H. H. Holz: „Leibniz und das ‚commune bonum‘“, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 5 (1996), S. 5–25. 31 A VI, 4 C, 2852. 32 Leibniz an Thomas Burnett, Beilage, 18. Juli 1701(?); A I, 20, 284; GP III, 277. 33 Leibniz an Vincent Placcius, 10. Mai 1676; A II, 1, 259.

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als Justitia Dei: In diesem Kontext sind Gemeinwohl und Gerechtigkeit nicht reduzierbar zu einer politischen und juristischen Struktur. Aber es geht nicht nur um eine alte, traditionelle Idee der Welt als Kosmos, sondern auch um eine sehr „bewegte“, dynamische Konzeption der Wirklichkeit. So ist die Leibniz’sche respublica mit ihrer sozial und institutionell komplexen Gliederung durch eine dynamische Kräftebalance der politischen Mächte charakterisiert34. Das Ziel besteht in der Bildung komplexer und gegliederter politischer Gemeinschaften, in denen die Vielfalt der inneren Verhältnisse ihre Zerstörung verhindert, wenn sie Erschütterungen ausgesetzt sind35. Am Ende dieser Betrachtung der Leibniz’ Kontroverse mit Pufendorf in Bezug auf das Verhältnis von Theologie und Politik werde ich zwei kurze Bemerkungen machen. Erstens, wie betont, die Leibniz’sche Perspektive lässt in einer fruchtbaren Weise die Unreduzierbarkeit der Politik zu der Logik der Souveränität entstehen, weil das bonum commune vor der Erzeugung des Souveräns existiert und in der Struktur und in der Dynamik der Sachen wurzelt. Dagegen führt der Hobbes’sche Satz „auctoritas, non veritas facit legem“, mit dem Pufendorf einverstanden war, zu einer unbegrenzten Rechtfertigung des politischen Gehorsams, ohne einen strukturellen Bezug auf die Gerechtigkeit zu nehmen. Bei Leibniz ist ein Bewusstsein der Grenzen der Politik vorhanden, wie es an einer Stelle der Essais de Théodicée entsteht: „L’action du prince n’est peut-etre point sans chagrin et sans regret. Ce regret vient de son imperfection, dont il a le sentiment […]“36.

Für heute offen bleiben muss zweitens ein Problem der Leibniz’schen Lösung des Verhältnisses von Theologie und Politik. Die Verbindung zwischen Theologie, Vernunft und Naturrecht legt nicht nur die Existenz, die Güte und die Vollkommenheit Gottes, sondern auch die Rationalität der Geschichte zugrunde. Eine rationale Theodizee setzt eine Vereinbarkeit zwischen Metaphysik und Erfahrung, Theologie und Welt der Tatsachen voraus, weil sie sonst keinen Bezug auf die Wirklichkeit nehmen könnte. Es ist zu fragen, wie die gesellschaftliche Dimension des Bösen in solcher Perspektive verstanden werden kann. Heute bleibt wahrscheinlich unbeantwortet, nicht nur allgemein nach zahlreichen negativen Ereignissen in der Geschichte, aber auch spezifischer nach den Tragödien des XX. Jahrhunderts, die Frage von Adorno in der Negativen Dialektik: 34 Über die Frage der Republik: L. Basso: „Republik und Empire de la raison im politischen Denken von Leibniz“, in: H. Breger/J. Herbst/S. Erdner (Hrsg.): VIII. Internationaler LeibnizKongress. Einheit in der Vielheit, T. 1: Vorträge, Hannover, 24. bis 29. Juli 2006, Hannover 2006, S. 37–44. Zu einer begriffsgeschichtlichen Analyse der Kategorie von Republik: W. Mager: „Republik“, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache, Bd. V, Stuttgart 1984, S. 549–649. 35 Zur politischen Anerkennung der Vielfalt: P. Nitschke: „Gottfried Wilhelm Leibniz. Die Einheit in der Vielfalt: zur Politologie der Staatenwelt“, in: J. Bellers (Hrsg.): Klassische Staatsentwürfe: außenpolitisches Denken von Aristoteles bis heute, Darmstadt 1996, S. 89– 110. 36 Essais de Théodicée, § 165; GP VI, 208.

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Luca Basso „Das Erdbeben von Lissabon reichte, ihn, Voltaire, von der Leibniz’schen Theodizee zu kurieren, und die überschaubare Katastrophe der ersten Natur war unbeträchtlich, verglichen mit der zweiten, gesellschaftlichen, die der menschlichen Imagination sich entzieht, indem sie die reale Hölle aus dem menschlich Bösen bereitete. Gelähmt ist die Fähigkeit zur Metaphysik, weil, was geschah, dem spekulativen metaphysischen Gedanken die Basis seiner Vereinbarkeit mit der Erfahrung zerschlug“37.

37 T. W. Adorno: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a. M. 2003, S. 354.

ISRAEL GOTTLIEB CANZ’ GNADENTHEOLOGISCHE HERMENEUTIK UND LEIBNIZ’ DISCOURS DE LA CONFORMITÉ DE LA FOI AVEC LA RAISON Hanns-Peter Neumann (Halle/Berlin)

I. ISRAEL GOTTLIEB CANZ’ VERHÄLTNIS ZU GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ UND CHRISTIAN WOLFF Im zwölften Teil der 1773er-Ausgabe der von Lessing herausgegebenen Schriftenreihe Zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolffenbüttel findet sich eine kurze Erörterung Lessings über „Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit“. Diese enthält nebst kurzen bibliographischen und historisch-kritischen Vor- und Nachbemerkungen auch die Edition des Wissowatius-Textes samt der Antwort von Leibniz auf die antitrinitarischen Einwürfe des polnischen Sozinianers. Darin verweist Lessing auf einen gewissen Canz, der sich „in seinem bekannten Buche de Usu philosophiae Leibnitianae et Wolffianae in Theologia“ eher der Leibniz’schen gegen Wissowatius gerichteten Defensio Trinitatis per nova reperta Logica als des 1693 erschienenen Leibniz-Traktats Remarques sur le livre d’un Antitrinitaire Anglois bedient haben würde, wäre besagtem Canz die Defensio Trinitatis damals schon bekannt gewesen1. 1

Vgl. G. E. Lessing: „Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit“, in: Ders.: Werke, in Zusammenarbeit mit K. Eibl, H. Göbel, K. S. Guthke, G. Hillen, A. von Schirnding und J. Schönert hrsg. von H. G. Göpfert, Bd. 7: Theologiekritische Schriften I und II, bearb. von H. Göbel, Darmstadt 1996, S. 218. In den Anmerkungen findet sich auch eine sehr gute deutsche Übersetzung des Wissowatius- und des Leibniz-Textes, vgl. ebd., S. 811–827. – Der vollständige Titel der 1669 verfassten Schrift gegen Wissowatius lautet: „Defensio Trinitatis per nova reperta Logica contra adjunctam hic Epistolam Ariani non incelebris, ad Illustrissimum Baronem Boineburgium“. Die „Remarques sur le livre d’un Antitrinitaire Anglais, qui contient des Considerations plusieurs Explications de la Trinité et qui a esté publié l’an 1693“, erschienen 1718 in J. F. Feller: Otium Hanoveranum sive Miscellanea ex ore & schedis Illustris Viri, piae memoriae, Godofr. Guilielmi Leibnitii […], Leipzig 1718, S. 8–15; vgl. die Edition der „Remarques“ in: A IV, 5, 512–518 (N. 61). – Wie Maria Rosa Antognazza in ihrer Studie Trinità e Incarnazione: Il rapporto tra filosofia e teologia rivelata nel pensiero di Leibniz von 1999 gezeigt hat, lag die Defensio Trinitatis bereits 1717 in einer von Polykarp Leyser besorgten Ausgabe vor, so dass Canz Leibniz’ Defensio Trinitatis durchaus hätte kennen können. Leysers Edition wurde, freilich unter einem zu Leyser in Opposition stehenden Standpunkt aus, 1735 vom Jenenser Wolffianer Jakob Carpov erneut mit kritischen Anmerkungen herausgegeben; vgl. M. R. Antognazza: Leibniz on the Trinity and the Incarnation. Reason and Revelation in the Seventeenth Century, trans. by G. Parks, New Haven – London

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Bei dem erwähnten Canz handelt es sich um den zwanzig Jahre vor Lessings Erörterung der Leibniz-Wissowatius-Kontroverse im Jahre 1753 verstorbenen Tübinger Philosophen und Theologen Israel Gottlieb Canz2. Dieser hatte in der Tat im Kapitel über das Mysterium der Trinität seiner 1728 erschienenen Schrift Philosophiae Leibnitianae et Wolffianae usus in theologia, per praecipua fidei capita den größten Teil des Leibniz-Traktats Remarques sur le livre d’un Antitrinitaire Anglois neu abgedruckt und sich der Leibniz’schen auf Analogie beruhenden Argumentation für die Vereinbarkeit des Trinitätsmysteriums mit den Prinzipien der Vernunft angeschlossen3. Möglicherweise ist Canz aber bei der Lektüre auch aufgefallen, dass Leibniz einen kurzen, auf Athanasius bezogenen Absatz aus den Remarques im Paragraph 22 des der Théodicée vorangestellten „Discours de la conformité de la foi avec la raison“ paraphrasiert hat4. Die Parallelen konnten einem aufmerksamen Leser

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2007 (Original: Trinità e Incarnazione: Il rapporto tra filosofia e teologia rivelata nel pensiero di Leibniz, Mailand 1999), S. 21; P. Leyser: Apparatus Literarius Singularia Anecdota, Wittenberg 1717; J. Carpov: Revelatum Sacro-Sanctae Trinitatis Mysterium Methodo Demonstrativa Propositum, Jena 1735. Zu Leibniz’ Strategien zur Verteidigung der christlichen Mysterien vgl. U. Goldenbaum: „Spinoza’s Parrot, Socinian Syllogisms, and Leibniz’s Metaphysics: Leibniz’s Three Strategies For Defending Christian Mysteries“, in: American Catholic Philosophical Quarterly 76 (2002), S. 551–574, zu Wissowatius vgl. ebd., S. 561; ein Überblick über die Forschung zu Leibniz’ Auseinandersetzung mit den christlichen Mysterien findet sich ebd., S. 552 (Anm. 3). Zu Canz vgl. M. Wolfes: „Canz, Israel Gottlieb“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XVIII, Herzberg 2001, Sp. 243–256, sowie C. Kolb: Die Aufklärung in der Württembergischen Kirche, Stuttgart 1908, S. 28–34. Michael Franz danke ich an dieser Stelle für die freundliche Bereitstellung seines Manuskripts zu Canz’ Biographie, vgl. nun die veröffentlichte Fassung in: The Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers, Bd. 1, hrsg. v. H. F. Klemme und M. Kuehn, London [u. a.] 2010, S. 185–189. I. G. Canz: Philosophiae Leibnitianae et Wolffianae usus in theologia, per praecipua fidei capita, Frankfurt – Leipzig 1728. Ich zitiere nach der zweiten Auflage Frankfurt u. Leipzig 1749, die weitgehend identisch im Text ist, aber in der Aufteilung der Sektionen und Paragraphen differiert. Die Ausführungen zum Trinitätsmysterium samt der breiten LeibnizZitation (§§ 340–348) finden sich in Kap. 1, Sect. 8, §§ 339–405, S. 285–313. Canz referiert dort auch die Argumente des Sozinianers Samuel Crell und versucht, sie zu widerlegen, vgl. ebd., §§ 364 ff. Zu Crell und dem englischen Sozinianismusstreit vgl. M. Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720, Hamburg 2002, S. 85–113. Vgl. „Remarques sur le livre d’un Antitrinitaire Anglois“, A IV, 5, 514: „La difficulté est, que lorsqu’on dit le Pere est Dieu, le Fils est dieu et le S. Esprit est dieu; et l’un de ces trois n’est pas l’autre; et avec tout cela, il n’y a pas trois dieux, mais un seul; il semble qu’il y a une contradiction manifeste, puisque selon le sens commun, c’est justement en cela que consiste la notion de la pluralité; car si Jean est homme, et si Pierre est homme, et si Jean n’est pas Pierre, et Pierre n’est pas Jean; il y aura deux hommes[.] Ou bien il faut avouer que nous ne sçavons pas ce que c’est que deux. Ainsi lorsque dans le Symbole attribué à S. Athanase, il est dit que le pere est dieu, que le Fils est dieu et que le S. Esprit est dieu et que cependant il n’y a qu’un dieu, il faut avouer que si ce mot ou terme de Dieu estoit tousjours pris au même sens; tant en nommant trois dont chacun est dieu, qu’en disant, qu’il n’y a qu’un Dieu; ce seroit une contradiction insoutenable. Il faut donc dire que dans le premier cas il est pris pour une personne de la divinité dont il y en a trois, et dans le second pour une substance absolue,

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jedenfalls schwerlich entgehen. Canz bezog mit seinem umfassenden und sehr gelehrten Buch nämlich nicht nur Stellung im theologischen Diskurs seiner Zeit zur Philosophie Christian Wolffs und zu deren problematischen Verhältnis zur Theologie, sondern richtete seine theologische Hermeneutik in der Hauptsache am Leibniz’schen „Discours“ aus. Die Prinzipien seiner Hermeneutik entwickelte Canz im einleitenden Teil seines Philosophiae Leibnitianae et Wolffianae usus, im „Discursus praeliminaris de rationis cum revelatione harmonia legitimoque eiusdem in theologia usu“ („Einleitende Abhandlung über die Harmonie von Vernunft und Offenbarung und deren rechtmäßige Nutzanwendung in der Theologie“). Auf Vorgaben Wolffs aus der Deutschen Logik oder der Deutschen Metaphysik – die lateinische Philosophia rationalis sive logica Wolffs erschien zeitgleich mit Canz’ Werk 1728 und konnte von Canz daher nicht oder nur in geringem Maße berücksichtigt werden – griff er zu diesem Zweck im „Discursus praeliminaris“ erstaunlicherweise weit seltener zurück als auf Leibniz’ Théodicée und den „Discours“. So lässt sich trotz des Titels, der eine Abhandlung über den Nutzen der Leibniz’schen und der Wolffischen Philosophie in der Theologie verspricht, nicht abstreiten, dass Canz die Leibniz’sche und die Wolff’sche Philosophie keineswegs gleichwertig behandelt hat. Vielmehr fällt bei näherem Hinsehen ein klares Ungleichgewicht zugunsten von Leibniz in die Augen – und das, obwohl Canz noch kurz zuvor, im Jahr 1725, von den Tübinger Theologen gebeten worden war, eine Gegenschrift zu Wolffs Philosophie zu verfassen, dann aber, wie Johann Jakob Brucker berichtet, bei näherer Prüfung der Schriften Wolffs den Nutzen der Wolff’schen Philosophie für die Theologie erkannt haben will5. Er widersprach

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qui est unique“. Vgl. dazu die Passage in Essais de Théodicée, Discours, § 22; GP VI, 63–64: „Les Theologiens de tous les partis, comme je pense (les seuls Fanatiques exceptés) conviennent au moins qu’aucun article de foy ne sauroit impliquer contradiction, ny contrevenir aux demonstrations aussi exactes que celles des Mathematiques, où le contraire de la conclusion peut être reduit ad absurdum, c’est à dire, à la contradiction; et S. Athanase s’est moqué avec raison du galimatias de quelques auteurs de son temps, qui avoient soutenu que Dieu avoit pati sans passion. Passus est impassibiliter. O ludicram doctrinam, aedificantem simul et demolientem! Il s’ensuit de là que certains Auteurs ont été trop faciles à accorder que la Sainte Trinité est contraire à ce grand principe, qui porte que deux choses, qui sont les mêmes avec une troisième, sont aussi les mêmes entr’elles; c’est à dire, si A est le même avec B, et si C est le même avec B, qu’il faut qu’A et C soyent aussi les mêmes entr’eux. Car ce principe est une suite immediate de celuy de la contradiction, et fait le fondement de toute la Logique; et s’il cesse, il n’y a pas moyen de raisonner avec certitude. Ainsi lorsqu’on dit que | le Pere est Dieu, que le Fils est Dieu, et que le Saint Esprit est Dieu, et que cependant il n’y a qu’un Dieu, quoyque ces trois Personnes different entr’elles, il faut juger que ce mot Dieu n’a pas la même signification au commencement et à la fin de cette expression. En effect, il signifie tantôt la Substance Divine, tantôt une Personne de la Divinité. Et l’on peut dire generalement qu’il faut prendre garde de ne jamais abandonner les verités necessaires et eternelles, pour soutenir les Mysteres, de peur que les ennemis de la religion ne prennent droit là dessus de decrier et la Religion et les Mysteres“. J. J. Brucker: Bilder=sal heutiges Tages lebender, und durch Gelahrtheit berühmter SchrifftSteller, in welchem derselbigen nach wahren Original=malereyen entworfene Bildnisse in schwarzer Kunst, in natürlicher Aehnlichkeit vorgestellet / und ihre Lebens=umstände, Ver-

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damit den ablehnenden Gutachten der Tübinger Theologischen Fakultät und der Tübinger Philosophischen Fakultät, die diese zur Wolff’schen Philosophie und zu den 1725 erschienenen Dilucidationes philosophicae de Deo, anima humana, mundo et generalibus rerum affectionibus des Wolff-Schülers Georg Bernhard Bilfinger vorgelegt hatten6. Wie lässt es sich dann aber erklären, dass Canz, wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird, den Leibniz’schen „Discours“ und nicht etwa die relevanten Kapitel der Wolff’schen Deutschen Logik und der Deutschen Metaphysik zu einer theologischen Hermeneutik ausformuliert hat? Beurteilte Canz möglicherweise Wolffs Leistung als eine reine schul- und populärphilosophische Systematisierung und Vermittlung der Leibniz’schen Philosophie? Wollte er sich eine gewisse Unabhängigkeit von Wolffs Explikation der Leibniz’schen Philosophie bewahren, indem er auf die Quellen, also auf Leibniz selbst rekurrierte? Immerhin zeigt er sich als ausgesprochener Kenner der zu seiner Zeit verfügbaren Leibniz-Schriften. Und doch ist Canz vornehmlich als Wolffianer wahrgenommen und in Beschlag genommen worden. Belege dafür finden sich u. a. in Carl Günther Ludovicis Ausführlichem Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie (Leipzig 1737–1738), hier insbesondere im dreizehnten Kapitel „Von denenienigen, welche den Nutzen der Wolffischen Welt=Weißheit in den höhern Wissenschafften und Künsten gezeiget haben“, oder auch in Gottscheds Historischer Lobschrift auf den verstorbenen Wolff, in der Canz als lebender Beweis „von dem Werthe und der Vortrefflichkeit der wolfischen Philosophie“ in der Theologie angeführt wird7. Die im Titel von Canz’ Schrift aufgeführte Leibniz’sche Philosophie, deren Nutzen für die Theologie Canz ebenfalls deutlich herausstellte, verschweigt Gottsched. Dafür verweist er jedoch auf Johann Jakob Bruckers Biographie zu Canz, in der Brucker eine in ihrer schlichten Beiläufigkeit bemerkenswerte Äußerung getan hat: Er spricht nämlich von dem „von Leibnitz angelegte[n], und von dem Freyherrn von Wolf auf= und ausgeführte[n] Lehrgebäud“,

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dienste um die Wissenschafften / und Schrifften aus glaubwürdigen Nachrichten erzählet werden […], Zweyter Band, Augsburg 1747, ohne Paginierung (im Folgenden: o. P.); Canz wird an vierter Stelle aufgeführt. Die entsprechende Stelle findet sich dort auf der zweiten Seite, letzter Absatz. „Der Theologischen Facultät zu Tübingen Bedencken über die Wolffische Philosophie […]“ aus der Feder der Tübinger Theologen Christoph Matthäus Pfaff, Gottfried Hoffmann, Johann Rudolph Osiander und Christian Eberhard Weismann und „Der Philosophischen Facultät zu Tübingen Bedencken über die Wolffische Philosophie“. Die beiden Gutachten finden sich abgedruckt bei C. G. Ludovici: Sammlung und Auszüge der sämmtlichen Streitschrifften wegen der Wolffischen Philosophie zur Erläuterung der bestrittenen Leibnitzischen und Wolffischen Lehrsätze […], Erster Theil, Leipzig 1737, S. 155–170. J. C. Gottsched: Historische Lobschrift des weiland hoch= und wohlgebohrnen Herrn Christians, des H. R. R. Freyherrn von Wolf, Erb= Lehn= und Gerichtsherrn auf Klein=Dölzig, Sr. königl. Maj. in Preußen geheimen Raths, der Universität zu Halle Kanzlers und Seniors, wie auch des Natur= und Völkerrechts und der Mathematik Professors daselbst, Der kaiserl. Akademie zu Petersburg Prof. honor. der königgl. Akad. der Wissenschaften zu London, Paris, Berlin und der zu Bologna, Mitglied, Halle 1755, S. 81.

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dessen „mannigfaltigen Nutzen“ für die Theologie Canz erwiesen habe8. So lässt sich zumindest eine merkwürdige Gemengelage konstatieren, in der die Leibniz’sche und die Wolff’sche Philosophie nicht in ihren Differenzen, sondern vielmehr in ihrer Symbiose gesehen worden ist. Dafür spricht auch das bereits erwähnte Gutachten der Tübinger Theologischen Fakultät, das sich zwar im Titel auf „die Wolffische Philosophie“ beschränkt. Im Text selbst aber ist ausdrücklich vom „systema Leibnitio-Wolffianum“ die Rede9. Das Merkwürdige an diesem Amalgam des „systema Leibnitio-Wolffianum“ besteht nun darin, dass man in der Lage war, sachlich zwischen der Leibniz’schen und der Wolff’schen Philosophie zu unterscheiden10. Trotz der inhaltlichen Divergenzen war man aber offensichtlich – und das in einem durchaus wissenschaftspolitischen Sinne – davon überzeugt, dass Wolff als legitimer Repräsentant und Nachfolger von Leibniz’ Erbe in der res publica litteraria anerkannt werden müsse. Leibnizianer konnten daher, auch wenn sie sich deutlich mehr zu Leibniz als zu Wolff bekannten, als Wolffianer eingemeindet und betrachtet werden11. Ob sich Canz selbst eher als Leibnizianer oder als Wolffianer verstanden hat, lässt sich kaum abschließend beurteilen. Die Indizien sprechen dafür, dass Canz, zumindest 1728, in Leibniz den gegenüber Wolff, zumindest in hermeneutischen Belangen, originelleren Denker gesehen hat. Canz hätte sich für die programmatische Formulierung seiner hermeneutischen Prinzipien ebensogut auf Wolffs Deutsche Logik berufen können, hat es aber vorgezogen, sich an Leibniz’ „Discours“ und Théodicée zu orientieren. Der Grund dafür mag darin gelegen haben, dass fundamentale Bestimmungen der Leibniz’schen Logik, insbesondere Leibniz’ Begriffsanalyse sowie dessen detaillierte Differenzierung der verschiedenen Stufen Brucker, o. P.; in Gottsched: Historische Lobschrift, S. 82, wird die Brucker-Stelle zitiert. „Der Theologischen Facultät zu Tübingen Bedencken über die Wolffische Philosophie“, in: Ludovici, S. 157. 10 Ebd., S. 160, ist die Rede von der „hypothesis Leibnitiana von dem Tode des Menschen, daß die Seele dadurch eigentlich von dem Leibe nicht geschieden, sondern dieser allein in diejenige Kleinigkeiten redigiert, und so zu reden wieder eingewickelt werde, wie er anfänglich gewesen […]“. Hier wusste man also durchaus zwischen Leibniz’schen und Wolff’schen Hypothesen zu unterscheiden. 11 Die Auffassung, dass Wolffs Philosophie mit derjenigen von Leibniz eine Symbiose gebildet habe, stammt zwar aus dem 18. Jahrhundert und ist in der Philosophiegeschichtsschreibung weiter kolportiert worden. Es wäre aber verkehrt, in Wolff nur den schulmäßigen Systematisierer und im schlimmsten Fall Epigonen und Plagiator der Leibniz’schen Philosophie sehen zu wollen. Wolff hat sich sehr schnell und medienpolitisch äußerst geschickt und erfolgreich zum rechtmäßigen Erben von Leibniz erklärt, hatte dann aber Mühe, sich inhaltlich von Leibniz’ Philosophie abzusetzen. Um sinnvoll von einer Leibniz-Wolff’schen Schulphilosophie sprechen zu können, muss man meines Erachtens daher zwischen einer funktionalen und einer inhaltlichen Ebene des sogenannten systema Leibnitio-Wolffianum unterscheiden: Die funktionale Ebene betrifft die wissenschaftspolitische Situierung und Selbstverortung Wolffs und der Wolffianer als Repräsentanten des Leibniz’schen Erbes – der Begriff systema wird in diesem Fall in seiner Bedeutung als ‚Gemeinschaft‘ gedacht –, die inhaltliche Ebene betrifft schließlich das Lehrgebäude – systema wird hier als Ordnung und Zusammenstellung der wissenschaftlichen Inhalte begriffen –, wobei man sich durchaus der Differenzen zwischen Leibniz und Wolff bewusst zu sein vermochte. 8 9

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der Erkenntnis zwischen ‚distinkt‘ und ‚konfus‘12, in Wolffs Deutsche Logik eingeflossen sind, Leibniz aber in der Théodicée intensiver als der frühe Wolff vorgeführt hat, wie seine Logik sowohl hermeneutisch als auch in der Argumentation gegen Einwände, gerade solcher gegen die christlichen Mysterien, funktioniert. Wie dem auch immer sei, der 1690 im Württembergischen Grüntal geborene Israel Gottlieb oder Israel Theophilus Canz, der in seiner Ehe mit der Professorentochter Sybilla Regina Rösler siebzehn Kinder zeugen sollte, wurde schon zu Lebzeiten als ein „durch Gelahrtheit berühmter Schrifft=Steller“ u. a. von so gewichtigen Persönlichkeiten wie Johann Jakob Brucker in besonderer Weise gewürdigt13. Canz, das geht aus Bruckers Darstellung hervor, war von 1734 bis 1739 Professor für Rhetorik und Poesie, von 1739 bis 1747 Professor für Logik und Metaphysik in Tübingen. Brucker konnte 1747 freilich nicht mehr vermerken, dass Canz schließlich von 1747 an bis 1753 auch noch die Professur für Theologie an der Universität Tübingen innehatte, weist aber darauf hin, dass Canz in allen genannten Fachgebieten Außerordentliches geleistet habe. Canz zählte seinerzeit gemeinsam mit dem bereits erwähnten Georg Bernhard Bilfinger zum frühen Tübinger Leibniz-Wolffianismus. Einer seiner Schüler war der Tübinger Logiker und Metaphysiker Gottfried Ploucquet, der eine für die Monadenstreitigkeiten der späten 1740er und für die Vermittlung der LeibnizWolff’schen Philosophie in die württembergische Wissenschaftslandschaft der Spätaufklärung wichtige Rolle spielte14. Ploucquet war der Lehrer in metaphysicis von Joseph Friedrich Schelling, d. i. Schelling senior, der Vater des nachmalig berühmten Philosophen, und mittelbar über die von ihm aufgesetzten Inauguralthesen auch von Friedrich Hölderlin, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, die die Ploucquet’schen Thesen 1790 bzw. 1792 im Disputationsverfahren zu verteidigen bzw. anzufechten hatten15.

12 Leibniz hat diese Differenzierung vor allem in den „Meditationes de cognitione, veritates et ideis“ von 1684 (A VI, 4, N. 141) ausgeführt. 13 Brucker, o. P. 14 Vgl. H.-P. Neumann: „Zwischen Materialismus und Idealismus – Gottfried Ploucquet und die Monadologie“, in: Ders. (Hrsg.): Der Monadenbegriff zwischen Spätrenaissance und Aufklärung, Berlin – New York 2009, S. 203–270. Ploucquet erhielt das Accessit der KöniglichPreußischen Akademie der Wissenschaften anlässlich der 1746 ausgeschriebenen Preisfrage zum naturphilosophischen Explikationspotenzial des Monadenkonzepts. 15 Vgl. M. Franz: „Die Inauguralthesen zum Magisterium in Tübingen 1790–1792“, in: Ders. (Hrsg.): „… im Reiche des Wissens cavalieremente“? Hölderlins, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen (= Schriften der Hölderlin-Gesellschaft 23/2: Materialien zum bildungsgeschichtlichen Hintergrund von Hölderlin, Hegel und Schelling), Tübingen 2005, S. 30–69. Joseph Friedrich Schelling hat bei Ploucquet bereits 1758 die von Schelling selbst verfasste Dissertatio philosophica de simplicibus, et eorum diversis speciebus verteidigt, vgl. dazu M. Franz/H.-P. Neumann: „Joseph Friedrich Schellings Dissertatio philosophica de simplicibus, et eorum diversis speciebus von 1758. Einführung, Text und Übersetzung“, in: Neumann (Hrsg.): Der Monadenbegriff, S. 339–399.

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II. CANZ’ REKURS AUF DEN DISCOURS DE LA CONFORMITE DE LA FOI AVEC LA RAISON Canz rekurriert vor allem in den ersten beiden Kapiteln seines „Discursus praeliminaris“ auf Leibniz’ „Discours de la conformité de la foi avec la raison“. Da Canz den lateinischen Titel „Discursus theodicaeae Leibnitii praemiss[us]“ anführt, bei von ihm rezipierten französischen Titeln generell französisch zitiert, ist es wahrscheinlich, dass Canz die lateinische Fassung der Théodicée herangezogen hat; eindeutig lässt sich dies jedoch nicht bestimmen. Im ersten Kapitel behandelt Canz die „harmonia rationis cum revelatione“ und rekapituliert unterschiedliche Positionen in der Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie. Das zweite Kapitel fokussiert den Nutzen, den die Anwendung der Vernunft in der Theologie mit sich bringt. Innerhalb dieses Gesamtrahmens und mit der Absicht, eine theologische Hermeneutik zu begründen, bestimmt Canz zunächst die Begriffe der Vernunft und der Wahrheit, wie dies Leibniz u. a. in den §§ 1 und 2 des „Discours“ getan hat. Die Vernunft oder das natürliche Licht wird als „Verkettung“ („enchaînement“) oder Zusammenhang der Wahrheiten definiert, die in die ewigen, absolut notwendigen logischen, metaphysischen und geometrischen Wahrheiten und in die sogenannten positiven, der physischen und moralischen Notwendigkeit unterworfenenen Wahrheiten unterteilt sind. Canz ergänzt nun den Begriff der ratio im Sinne des nexus veritatum noch durch eine bewusste Modifikation der Leibniz’schen Definition, indem er den Begriff der den objektiven Zusammenhang der Wahrheiten subjektiv („subiective“) einsehenden Vernunft einführt16. Die kreatürliche subjektive Vernunft ist in ihrer diskursiven Realisierung der objektiven Vernunft, in die auch die offenbarten Wahrheiten eingeschrieben sind, naturgemäß beschränkt. Schließlich kommt die vollkommene und vollständige Erkenntnis des nexus veritatum alleine dem göttlichen Verstand zu. Den Canz’schen Begriff der subjektiven Vernunft hat Johann Gustav Reinbeck in der Einleitung zum zweiten Band der Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confeßion enthaltene und damit verknüpfte Göttliche Wahrheiten von 1733 weitgehend übernommen17. 16 Canz: „Discursus“, § 5. 17 Vgl. Johann Gustav Reinbeck: Zweyter Theil Der Betrachtungen über die Jn der Augspurgischen Confeßion Erhaltene und damit verknüpfte Göttliche Wahrheiten Nebst einer Vorrrede Von dem Gebrauch der Vernunfft Und Welt=Weisheit in der Gottes=Gelahrtheit, heraus gegeben von Johann Gustav Reinbeck Königl. Preuß. Consistorial-Rath und Insepector zu Cölln an der Spree, Berlin 21741 (Berlin 11733), S. XXIX, § 22: „Und so ist denn die Vernunft, wenn sie einem Menschen zugeschrieben, und also Subjective genommen wird, (*) nichts anders, als eine richtige Anwendung des Verstandes, und eine Einsicht in die allgemeine und besondere, in der Welt enthaltene Wahrheiten, und derselben Zusammenhang“. Unter (*) merkt Reinbeck an: „Wir haben schon oben §. XI. bemercket, daß die Vernunfft in einem zwiefachen Verstande genommen werden könne; einmahl in so fern sie die Wahrheiten, welche außer dem Menschen befindlich sind, und ihren Zusammenhang untereinander haben, ausdrucket; und denn auch in so fern sie als etwas in dem Menschen befindliches betrachtet

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Der Canz’sche Begriff der ‚subjektiven‘ Vernunft entspricht weitgehend dem Begriff der „raison corrumpue“ aus § 62 des Leibniz’schen „Discours“. Der raison corrumpue schreibt Leibniz die Verantwortung für die Resistenz gegenüber der rationalen Glaubwürdigkeit der Mysterien des christlichen Glaubens zu. So heißt es in § 61 des „Discours“ über die verdorbene Vernunft: „[…] c’est corruption, c’est erreur ou préjugé, c’est ténèbres“18. Canz umschreibt den gleichen Sachverhalt wie folgt: „Folglich dürfen alle Irrtümer und Vorurteile, besonders wenn sie gegen die heilige Schrift konzipiert sind, nicht, wenn man akkurat davon sprechen möchte, mit der Aufschrift ‚Vernunft‘ gekennzeichnet werden, sondern müssen vielmehr als Missbrauch der Vernunft charakterisiert werden […]“19.

Wie Leibniz legt Canz großen Wert darauf, dass die ratio sana von der verkehrten Ratio durch die Applikation der demonstrativen Methode separierbar ist. Er betont im Hinblick auf die subjektive Vernunft, dass die vis cognoscendi für sich betrachtet, also ohne ihre Beschränkung im einzelnen Subjekt mitzudenken, eine „res omnino vera“ (§ 27) sei20, ein „donum Dei“21, das er als hinreichendes Argument für den Nutzen, den die „facultas ratiocinandi“ in der Theologie habe22, ansieht. wird. Dieser Unterscheid hat auch seine gute Richtigkeit. Denn es wird jedermann zugestehen müssen, daß wenn auch in der Welt kein Mensch gefunden werden sollte, dennoch in derselben Wahrheit, und eine Ubereinstimmung der Wahrheiten mit einander, folglich auch ein gewisser Zusammenhang derselben seyn würde. GOTT hat diesen Zusammenhang, in so fern derselbe möglich ist, von Ewigkeit her, auf das allervollkommensten eingesehen; und deßwegen ist auch in GOtt die höchste Vernunfft. So viel nun der Mensch von diesem Zusammenhang auch einsiehet, und so weit diese seine Einsicht mit denen in der Welt befindlichen Wahrheiten übereinkommt, in so fern ist der Mensch vernünfftig. Und in so fern er diesem Zusammenhange der Wahrheiten in Worten und Wercken nachgehet; in so fern handelt er vernunfftmäßig“. Dabei ist bei Reinbeck die subjektive Vernunft vom Verstand als dem begrifflichen Vermögen des Menschen abhängig, bei Canz wird diese Abhängigkeit im lateinischen Begriff der ratio, den ich hier mit Vernunft übersetzt habe, mitgedacht, vgl. ebd., § 15, S. XXII: „Und wenn denn auch der Verstand würcklich angewendet wird, also, daß bey einem Menschen ein würckliches Erkenntniß gefunden wird; der Mensch aber seinen Verstand nicht richtig, und wie es der Zusammenhang der Wahrheiten erfordert, anwendet; so kan man ihm in so fern keine Vernunft zugestehen. Denn, zu der Vernunft wird nicht nur der würckliche, sondern auch NB. der richtige Gebrauch des Verstandes erfordert. Wird der Verstand übel angewendet und gemißbrauchet, so ist solches keine Vernunft, sondern Unvernunft“. Man muss bei der subjektiven Vernunft also immer die begrenzte Leistungsfähigkeit des menschlichen Verstandes berücksichtigen. 18 GP VI, 84. 19 Canz: „Discursus“, § 5: „Omnes igitur errores, praeiudicia inprimis adversus sacram concepta scripturam, non rationis, accurate loquendo, titulo insigniuntur, sed abusum potius rationis […] innuunt“. 20 Canz: „Discursus“, § 27: „In ratione autem, quae veri est perspicentia, duo observari possunt; ipsa primo cognoscendi vis, quae non est rei defectus, sed res omnino vera. Secundo, cum hac coniungitur virium cognoscendi constans limitatio, certaque ad obiecta determinatio, quorum alia post alia procedente tempore menti semet sistunt: neque enim noster animus divina praeditus vi, omnia cognoscit uno obtutu, nec etiam distinctissime, quae solius DEI praerogativa est. Hanc limitationem cognoscendi virium, qua sit, ut huc nec ultra extendatur ratiocinandi facultas, defectum, seu cum scholasticis rei privationem non male adpellaveris“.

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Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Canz die unhintergehbare Vereinbarkeit von Vernunft und Offenbarung im Ausgang vom Prinzip des Widerspruchs, wie es bei Leibniz formuliert ist, wiederholt und emphatisch affirmiert. Der Begriff der korrumpierten subjektiven Vernunft bildet schließlich die Basis für Canz’ gnadentheologische Hermeneutik der Heiligen Schrift und der Glaubensartikel. Canz entwickelt nun seine theologische Hermeneutik, indem er zunächst von den §§ 20 und 21 des Leibniz’schen „Discours“ ausgeht23. In § 21 spricht Leibniz von der Uneinigkeit der Theologen hinsichtlich der interpretativen Regeln der Auslegungskunst („règles d’interpretation“)24. Er deutet hiermit das Desiderat einer differenzierten hermeneutischen Methode in der Bibelexegese an, die nötig sei, damit entschieden werden könne, ob man sich für die Auslegung von fundamentalen, die Mysterien des Glaubens betreffenden Schriftstellen des Literalsinns bedienen müsse oder nicht25. Canz verortet diese von Leibniz angesprochene hermeneutische Schwierigkeit in einer nur von einer philosophisch geschulten Theologie hinreichend zu lösenden Zuordnungsproblematik: Die gleichen Glaubenslehren würden von einigen Gelehrten mitunter zu den notwendigen, metaphysischen Wahrheiten gezählt, während andere sie den kontingenten Wahrheiten zuordnen würden. So müsse man – und hier greift Canz auf den § 20 des „Discours“ zurück – etwa, wenn es sich um die Eucharistie und Transsubstantiation handele, zwischen folgenden alternativen Lösungsangeboten entscheiden: Wenn es möglich ist, dass ein Körper zugleich an vielen oder allen Orten gegenwärtig sein könne, dann müssten die entsprechenden Schriftstellen buchstäblich und im strikten Wortsinne ausgelegt werden. Wenn dies aber nicht auf natürliche Weise – per naturam – zuzugehen vermag oder zu erklären sei oder einen klaren Widerspruch zu den ewigen Wahrheiten impliziere, dann müsse von einer buchstäblichen Auslegung abgesehen werden26. 21 Essais de Théodicée, Discours, § 61; GP VI, 84: „Mais comme cette portion de raison [dont l’homme se sert pour juger des choses] que nous possédons est un don de Dieu qui nous est restée au milieu de la corruption […]“. Vgl. dazu Canz: „Discursus“, § 30: „Ratio igitur, quod his ita disputatis patet, quatenus aliquod Dei donum est, usum in theologia omnino praestat, nexum veritatum (omnis generis) detegendo, ratiocinando, confutando errores, applicando doctrinas ad singulares casus &c“. 22 Ebd., § 27. 23 Ebd., § 37. 24 Essais de Théodicée, Discours, § 21; GP VI, 63: „[…] ils ne sont pas encor assés convenus des regles d’interpretation qui peuvent servir à determiner en quel cas il est permis d’abandonner la lettre, lorsqu’on n’est pas asseuré qu’elle est contraire aux verités indispensables“. 25 Zu Leibniz als Bibelexeget und Bibelhistoriker vgl. D. J. Cook: „Leibniz: Biblical Historian and Exegete“, in: I. Marchlewitz/A. Heinekamp (Hrsg.): Leibniz’ Auseinandersetzung mit Vorgängern und Zeitgenossen (= Studia Leibnitiana Supplementa 27), Stuttgart 1990, S. 267– 276. 26 Canz: „Discursus“, § 37.

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Während Canz mit Leibniz das Mysterium der Trinität als logisch widerspruchsfrei auszuweisen versucht, zeigt er am Beispiel der Transsubstantiationslehre, dass eine logische Auflösung von Widersprüchen nicht immer möglich ist. In der „Transsubstantionis idea“ finde sich laut Canz keine Wahrheit, die dem für uns gewöhnlichen logischen Wahrheitsbegriff entspreche, in der miteinander kompatible partielle Ideen eine zusammengesetzte, ganze Idee ausmachten oder ermöglichen würden27. Die Vorstellung, dass der Leib Christi hier und jetzt aus dem Brot entstehe und dennoch nicht hier und jetzt aus dem Brot zutage gefördert würde, sondern geboren sei von der Jungfrau Maria, impliziere im Widerspruch zueinander stehende, inkompatible Vorstellungen in der Heiligen Schrift, nämlich die Vorstellung A, dass der Leib Christi beim Abendmahl aus einem Leib Brot entstehe, und die Vorstellung B, dass er aus dem Leib Marias entstehe: „Also gestatten die partiellen Vorstellungen, die sich gegenseitig zerstören, nicht, dass die gesamte Vorstellung wahr sei“28. Canz bietet an dieser Stelle keine argumentative Lösung der logischen Inkompatibilität der genannten in die „Transsubstantionis idea[m]“ einfließenden Vorstellungen in der Heiligen Schrift an, gibt aber zu verstehen, dass das Wort und die Tat Christi als eine spezifische theologische Wahrheit aufgefasst werden müssten, hinter der man nicht zurückgehen könne. Allein die Lösung der Frage, ob sich die Ubiquität eines Körpers metaphyisch oder physikalisch begründen lasse, kann dann dazu beitragen, besagte logische Inkompatibilität aufzuheben. Die Verwandlung des Leibes Christi in Brot und Wein bei der Eucharistie bedarf folglich einer substanziellen-realen und keiner logischen Erklärung29. Canz nimmt das von Leibniz diagnostizierte Desiderat einer demonstrativ und probabilistisch verfahrenden theologischen Hermeneutik zum Anlass, deren Prinzipien aufstellen und explizieren zu wollen. Dabei fungiert der „Discours“ als Ausgangspunkt für Canz’ Ausarbeitung seiner gnadentheologischen Hermeneutik. Er liefert gewissermaßen den „rationalen Kern“, wie Heinrich Schepers die Prinzipien der Leibniz’schen Théodicée in seinem grundlegenden Beitrag zu diesem Band bezeichnet, für das von Canz anvisierte Vorhaben. Dazu gehört vor allem die grundsätzliche Ablehnung einer sich widersprechenden doppelten Wahrheit in der Philosophie und in der Offenbarung. Canz paraphrasiert den dafür zentralen § 3 des „Discours“ und formuliert dessen Argument folgendermaßen: „Entweder beruht dasjenige, was die Vernunft den Lehren der Offenbarung entgegensetzt, auf einer untrüglichen Beweisführung oder nicht. Wenn ersteres, dann wird eine Wahrheit einer anderen widersprechen; denn was immer auf einer sicheren Beweisführung beruht, stellt eine ewige Wahrheit vor, unterliegt also keinerlei Dispensation. Wenn aber Letzteres: Dann ist der Einwand der Vernunft gegen die Offenbarung nur ein wahrscheinlicher. Wahrscheinliche Argumente 27 Ebd., § 47. 28 Ebd.: „[…] partiales igitur ideae semet mutuo destruentes, totam ideam veram esse non sinunt“. 29 Zu Leibniz’ Lösung, die auf seinem metaphysischen Verständnis des Körpers beruht, vgl. Goldenbaum: „Spinoza’s Parrot“, S. 566. Goldenbaum zitiert Leibniz’ Brief an Arnauld vom November 1671; A II, 1, 175.

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aber bewirken nichts gegen den Glauben. Denn wer weiß nicht, dass die Offenbarung über jede Wahrscheinlichkeit erhaben ist?“30

In unmissverständlicher Anlehnung an Leibniz votiert Canz für die grundsätzliche Widerlegbarkeit jedes Einwands, der mit einem vermeintlichen Widerspruch zwischen einem Glaubensmysterium und der Vernunft arbeitet, ohne freilich den Anspruch zu erheben, die mysteria fidei selbst begründend erklären zu wollen (Discours, §§ 5, 60)31. Canz modifiziert freilich den bei Leibniz formulierten absoluten Gültigkeitsanspruch des principium contradictionis, indem er Leibniz’ Argument, dass auch die Mysterien der christlichen Religion, sollten sie durch eindeutig bewiesene, unhintergehbare Einwände widerlegt sein („être refuté d’une manière solide et demonstrative“), nicht länger haltbar und glaubwürdig wären32, schlicht unerwähnt lässt. Auch wenn Leibniz davon überzeugt ist, dass es solche Einwände gegen die Glaubenssätze der christlichen Religion nicht geben könne, bleibt doch das Primat der Rationalität vor der fides, die auch logisch unbegründet und in ihrem intentionalen Inhalt unwahrscheinlich sein kann, bestehen. Canz hingegen 30 Canz: „Discursus“, § 8 (Anm. [12]): „Aut ea, quae a ratione possunt revelationis dogmatibus obverti, invicta demonstratione nituntur, aut non. Si prius: veritas veritati erit contraria: nam quicquid demonstratione fundatur certa, veritas est aeterna, nulli obnoxia dispensationi. Si posterius autem eveniat: probabilis tantum est rationis revelationi opposita obiectio. Atqui eius generis argumenta nihil adversus fidem proficiunt. Quis enim nescit, revelationem omni verisimilitudine superiorem esse?“ – Zum Vergleich: Essais de Théodicée, Discours, § 3; GP VI, 51: „[…] cependant il demeure tousjours vray que les loix de la nature sont sujettes à la dispensation du Legislateur; au lieu que les verités eternelles, comme celles de la Geometrie, sont tout à fait indispensables, et la Foy n’y sauroit être contraire. C’est pourquoy il ne se peut faire, qu’il y ait une objection invincible contre la verité. Car si c’est une demonstration fondée sur des principes ou sur des faits incontestables, formée par un enchainement des verités eternelles, la conclusion est certaine et indispensable, et ce qui y est opposé doit être faux; autrement deux contradictoires pourroient être vrayes en même temps. Que si l’objection n’est point demonstrative, elle ne peut former qu’un argument vraisemblable, qui n’a point de force contre la Foy, puisqu’on convient que les Mysteres de la Religion sont contraires aux apparences“. 31 Vgl. ebd., „Discours“, § 5; GP VI, 52: „Il ne nous est pas possible non plus de prouver les Mysteres par la raison: car tout ce qui se peut prouver a priori, ou par la raison pure, se peut comprendre. Tout ce qui nous reste donc, apres avoir ajouté foy aux Mysteres sur les preuves de la verité de la Religion (qu’on appelle motifs de credibilité) c’est de les pouvoir soutenir contre les objections; sans quoy nous ne serions point fondés à les croire; tout ce qui peut être refuté d’une manière solide et demonstrative, ne pouvant manquer d’être faux; et les preuves de la verité de la religion, qui ne peuvent donner qu’une certitude morale, seroient balancées et même surmontées par des objections qui donneroient une certitude absolue, si elles estoient convaincantes et tout à fait demonstratives“. Ebd., § 60; GP VI, 84: „Je suis du même sentiment, si en disant qu’un dogme s’accorde avec la raison, on entend qu’il est possible d’en rendre raison, ou d’en expliquer le comment par la raison; car Dieu le pourroit faire sans doute, et nous ne le pouvons pas. Mais je crois qu’il faut affirmer l’une et l’autre these, si par connoistre qu’un dogme s’accorde avec la raison, on entend que nous pouvons montrer au besoin, qu’il n’y a point de contradiction entre ce dogme et la raison, en repoussant les objections de ceux qui pretendent que ce dogme est une absurdité“. 32 Ebd., § 5; GP VI, 52.

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relativiert den radikalen rationalistischen Anspruch, der der Leibniz’schen Logik und Hermeneutik zugrunde liegt, und betont stattdessen die Notwendigkeit der Kompensation der fehleranfälligen ratio durch die Gnadenzuwendung Gottes. Für die Realisierung der von Leibniz und Canz favorisierten defensiven Widerlegung von gegen die Mysterien des Glaubens gerichteten philosophischen Einwänden ist für Canz vor allem die Applikation der Kriterien des Widervernünftigen, des contre la raison, und des Über-die-Vernunft-Hinausgehenden, des au-dessus de la raison, grundlegend, wie sie Leibniz u. a. in den §§ 23, 60, 63 und 73 seines „Discours“ beschrieben hat. Weil ein Mysterium wie das der Trinität unser Verstehen bzw. dasjenige jedes erschaffenen Geistes übersteigt, ist es nicht nur schwierig bis unmöglich, es zu begründen, sondern auch ausgesprochen diffizil, ja geradezu unmöglich, einen eindeutigen Widerspruch in ihm fixieren und einen unwiderlegbaren Einwand gegen ihn formulieren zu können33. Daher erweist es sich als unnötig, die Mysterien selbst begründen und die Last der Beweisführung auf sich nehmen zu wollen. Es reicht aus, sích auf die Einwände zu konzentrieren, diese zu analysieren und ihnen ‚den argumentativen Wind aus den Segeln‘ zu nehmen. Genauso wenig wie es einen unwiderlegbaren Einwand gegen die Wahrheit im Allgemeinen zu geben vermag, kann es daher einen unwiderlegbaren Einwand gegen die offenbarten Wahrheiten geben: „Es kann also auf keine Weise zugehen,“ schreibt Canz, „dass eine offensichtlich und eindeutig erwiesene Doktrin der Vernunft den Mysterien des Glaubens diametral entgegengesetzt ist und widerspricht […]“34. Zumal es, so Canz weiter, „ein wesentlicher Charakter der Mysterien“ sei, „im und durch den Glauben für glaubwürdig gehalten zu werden und nicht dem Wissen/der Wissenschaft exponiert zu sein“35. Die Mysterien des Glaubens sind kein Gegenstand wissenschaftlicher Begründung. Sie müssen sich wissenschaftlichen Ansprüchen ohnehin nicht unterwerfen, denn sie sind allemal – und das gilt als fundamentale Prämisse des Glaubens – wahr und damit von vornherein unmöglich contre la raison. Ähnlich wie Wasser existiere, das in Form von Regen vom Himmel herabströme oder aus einer unterirdischen Quelle entspringe, die aber doch beide gleichermaßen Wasser seien, gebe es auch von Gott offenbarte Wahrheiten („scripturae placita divinitus inspirata“) und natürliche Wahrheiten („veritates per naturam notas“), die aber beide gleicherweise Wahrheit seien36.

33 Vgl. ebd., § 73; GP VI, 92: „[…] rien moins que cela; la difficulté est plustost du côté de l’opposant. C’est à luy de chercher un principe évident, qui soit une source de quelque objection; et il aura d’autant plus de peine à trouver un tel principe, que la matiere sera obscure: et quand il l’aura trouvé, il aura encor plus de peine à montrer une opposition entre le principe et le mystere: car s’il se trouvoit que le mystere fût évidemment contraire à un principe évident, ce ne seroit pas un mystere obscur“. Vgl. dazu Canz: „Discursus“, § 16, wo Canz auf den § 73 des „Discours“ rekurriert. 34 Ebd., § 8: „Fieri igitur non potest, vt veritas a ratione profecta, contraria sit vlli reuelationis articulo“. 35 Ebd.: „Essentialis quidem sacrorum character est, fide credi; nec exponi scientiae“. 36 Ebd., § 9.

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Aus dieser Perspektive muss jeder Einwand, der vorgibt, einen eindeutigen Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung, zwischen Philosophie und Theologie aufgetan zu haben, Resultat eines Verfahrensfehlers der subjektiven Vernunft sein. Ein solcher Verfahrensfehler aber muss der „intelligendi debilitas“ angerechnet werden, die Canz in bewusster Pointierung des § 23 des „Discours“ als Grund für das Über-die-Vernunft-Hinausgehende der Mysterien benennt37. Es ist daher der Prüfung und Analyse des jeweiligen Einwands und der mit diesem einhergehenden Argumentation überlassen, deren Schwächen konsequent aufzudecken. Im Rekurs auf § 25 des „Discours“ stellt Canz diese Aufgabe der „Beweiskraft“ („demonstrandi vi“) der syllogistischen Methode anheim38. Gerade in der radikalen Emphase der Unwiderlegbarkeit der Glaubensmysterien und Offenbarungswahrheiten unterscheidet sich Canz von Leibniz, indem er die Grundsätze, die Leibniz im „Discours“ formuliert, anders gewichtet und akzentuiert. Denn Leibniz lässt bei aller Deutlichkeit, mit der er die Rationalität des christlichen Glaubens verfechtet, keinen Zweifel daran, dass die mysteria fidei wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen haben. Während Canz aus der Vereinbarkeit des Glaubens mit der Vernunft ein axiomatisches Dogma macht, gibt Leibniz zu verstehen, dass er zwar von der Konformität von Glaube und Ratio ausgeht, jedoch die wenn auch noch so geringe Möglichkeit nicht ausschließt, dass eindeutige oder schwer zu widerlegende Einwände gegen die Mysterien des Glaubens gefunden werden könnten. Die Vereinbarkeit von Glaube und Vernunft hat bei Leibniz also keinen dogmatischen, sondern einen hypothetischen Status, von dessen Untrüglichkeit Leibniz nichtsdestotrotz überzeugt ist. Dennoch hindert dies nicht, dass, solange die mysteria fidei nicht bewiesen sind, der aus der Sicht von Leibniz unwahrscheinliche Fall eines Einwands gegen sie eintreten könnte, der, sollte er zunächst oder gar überhaupt nicht widerlegt werden können, die Hypothese von der Konformität von Glaube und Vernunft in Frage und damit erneut auf den Prüfstand stellt oder widerlegt.

III. CANZ’ GNADENTHEOLOGISCHE HERMENEUTIK UND DIE AUFMERKSAMKEITSDEFIZITE DER RATIO HUMANA Wie sieht nun aber eine Hermeneutica sacra aus, die einerseits auf einem Vernunftoptimismus basiert, der darin besteht, dass, so Leibniz in § 63 des „Discours“, „wir wenigstens nie eine Nicht-Übereinstimmung oder einen Gegensatz zwischen den Mysterien und der Vernunft erkennen“ und wir einen „vermeintlichen Gegensatz immer beheben können“39; die andererseits aber die intelligendi 37 Ebd., § 11. 38 Ebd., § 14. 39 Essais de Théodicée, Discours, § 63; GP VI, 86: „je reponds qu’au moins nous ne connoissons jamais qu’il y ait aucune difformité, ny aucune opposition entre les mysteres et la raison: et comme nous pouvons tousjours lever la pretendue opposition, si l’on appelle cela concilier ou accorder la foy avec la raison, ou en connoitre la conformité, il faut dire que nous pouvons connoitre cette conformité et cet accord. Mais si la conformité consiste dans une explication

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debilitas der subjektiven Vernunft berücksichtigen muss, die einen solchen Optimismus bereits wieder gehörig zu relativieren scheint? Auf welche Weise lässt sich die Beschränktheit unserer Erkenntnis ihrerseits beschränken bzw. dieser entgegensteuern? – Der Vernunftoptimismus beruht bei Canz auf der Annahme, dass eine sich frei von Beschränkungen entfaltende vis cognoscendi auch frei von hermeneutisch-logischen Verfahrensfehlern und von Aufmerksamkeitsdefiziten sein müsse und gleichsam wie von selbst, ohne Reibungsverluste, Wahrheiten zu invenieren vermag. Wie aber lässt sich das Potenzial der subjektiv eingeschränkten Kraft der menschlichen Ratio in Szene setzen? Canz beantwortet diese Frage mit der Differenzierung von vier verschiedenen Stufen der Defizienz. Er unterteilt die intelligendi debilitas oder limitatio cognoscendi virium in vier Grade von Aufmerksamkeitsdefiziten, denen verschiedene Grade des Zusammenwirkens genuin logisch-hermeneutischer Verfahren und göttlicher Gnaden- und Gegenmittel korrespondieren, wie sie in der lutherischen Theologie proklamiert werden. In dieser Weise verbindet Canz die demonstrativlogische Hermeneutik von Leibniz und von Wolff mit der bibelexegetischen Hermeneutik der lutherischen Theologie. Bei den Graden von Aufmerksamkeitsdefiziten handelt es sich um folgende vier Defekte, die die intelligendi debilitas bedingen: Erster Defekt: Die Ratio beschränkt sich auf die Erkenntnis der Kohärenz natürlicher Wahrheiten, ignoriert aber die Existenz des veritatum revelatarum nexus, sie schließt folglich voreilig die Möglichkeit göttlich offenbarter Wahrheiten aus. Allein die göttliche Gnade, „den Menschen auf heiligen Tafeln diese neuen Wahrheiten zu verkünden“40, wirkt einer solchen Ignoranz entgegen und lenkt die Aufmerksamkeit des Verstandes auf die offenbarten Wahrheiten. Bei Canz ist dies gleichbedeutend mit der beginnenden Lektüre der Heiligen Schrift und mit der Meditation des Wortes Gottes. Was beim Akt der Lektüre und der Meditation geschieht, schildert Canz nun eindringlich in folgenden Worten: „Wenn nun die Vernunft, instruiert durch hermeneutische Hilfsmittel, von sich aus einige Verknüpfungen einzusehen beginnt, so nennt man dieses anfängliche Begreifen die göttliche Erleuchtung der Vernunft. Dies ist die vorlaufende Gnade. Die erleuchtete Vernunft ist nämlich nichts anderes als die Einsicht in die wechselseitige Verknüpfung der offenbarten Wahrheiten. Diese Erleuchtung kann auch objektive Erleuchtung genannt werden. Denn sie betrifft ja nicht die Vernunft selbst, die mittels ihrer Kräfte die Verknüpfung neuer Wahrheiten begreift; sondern sie besteht im Aufgang eines neuen Lichts“41.

raisonnable du comment, nous ne la saurions connoitre“. – Die deutsche Übersetzung entstammt der Théodicée-Ausgabe von Herbert Herring: G. W. Leibniz: Die Theodizee, I, hrsg. und übersetzt von H. Herring, in: Ders.: Philosophische Schriften, Bd. 2.1, Frankfurt a. M. 1996, S. 167. 40 Canz: „Discursus“, § 28: „Accedit propterea Dei favor, novas isthas veritates hominibus, nil tale merentibus, per sacras tabulas declarantis“. 41 Ebd.: „Quarum si nonnullos nexus, ratio ex se, adminiculis praesidiisque hermeneuticis instructa, perspicere incipit, initium divina eius collustratio capere dicitur. Haec est gratia praeveniens. Est enim ratio collustrata nil aliud, quam perspicentia nexus inter veritates revelatas.

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Canz betont nun gegen die sogenannten fanatici, dass die gratia praeveniens nicht vor, sondern während der Lektüre und Meditation des Wortes Gottes ihre Kraft entfalte. Inspiration ist also nur sola gratia et sola scriptura möglich. Die vorlaufende Gnade kommt zur interpretativen Meditation des Wortes Gottes hinzu, sie unterstützt und verbessert die natürlichen Kräfte der facultas ratiocinandi und wird dadurch zum unabdingbaren Bestandteil theologischer Hermeneutik42. So würde, schreibt Canz resümierend, „der erste Defekt der Ratio durch göttliches Eingeben [șȑȠʌȞİȣıȚĮ] korrigiert, so dass die Ratio, die bis dahin allein dazu geschaffen war, die natürlichen Wahrheiten einzusehen, nun dazu aufgefordert wird, erhabenere Wahrheiten zu betrachten“43.

Zweiter Defekt: Auf welche Weise die gratia praeveniens zur Emendation der Verstandeskräfte beiträgt, wird deutlich, wenn es darum geht, dem zweiten defectus zu begegnen. Die Ratio, so Canz, „sündigt darin, dass sie den offenbarten Aussagen nur äußerst mürrisch zustimmt“44. Auch dies ist ein Defekt der attentio rationis, weil die Ratio das Wort Gottes „nicht billig oder entschieden [genug] von sich aus durchdringt, um ihm Glauben zu schenken“45. Mit der Bezeichnung aeque wird das auch von Wolff, allerdings erst in der lateinischen Logica von 1728 postulierte hermeneutische Prinzip der aequabilitas angesprochen46, dessen Nichtbeachtung darin besteht, dem Autor einen Sinn zu unterstellen, den dieser nicht intendiert hat – eine Unterstellung, die ein beabsichtigtes Missverständnis (interpretatio perversa) sein kann oder daraus resultiert, den Text nicht ausreichend und beharrlich genug auf seine Argumentation und die innere Kohärenz seiner Aussagen hin analysiert zu haben. Auf Letzteres spielt Canz an: Der Verstand begreift die Wörter, nicht aber den Sinn. Die Ratio verstehe zwar „die Rede des Verkünders“, so Canz, würde diese aber für albern halten47. Die vorlaufende Gnade fungiert nun als antreibende Kraft: Sie drängt den Verstand, den offenbarten Wahrheiten gegenüber aufgeschlossen zu sein und diesen „auf entschiedenste Weise zuzustimmen“ (assensum firmissimum), indem sie ihn motiviert, seine logisch-hermeneutischen Verfahren unablässig, beharrlich und aeque, also billig und wohlgesonnen, auf den Text zu applizieren. Ohne den Anspruch zu erheben, die mysteria fidei gründlich erklären zu können, lässt sich dadurch aber mindestens die

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Illuminatio haec posset vocari obiectiva. Attingit enim non ipsam rationem, quae quippe suis hucusque viribus novarum veritatum nexus intelligit; sed posita est in novi luminis ortu“. Ebd., § 27: „Nunquam naturae vires gratiae operatio tollit, emendat potius“. Ebd., § 29: „Ita corrigitur per șİȠʌȞİȣıȚĮȞ primus rationis defectus, ut, quae hucusque ad solas naturales composita erat veritates intelligendas, iam ad sublimiores meditandas revocetur“. Ebd.: „[…] peccat in eo, quod propositis revelatis aegerrime praebeat assensus“. Ebd.: „[…] aeque aut plane non a se impetrat, ut ei fidem tribuat“. Vgl. zur Wolffianischen Hermeneutik H.-P. Neumann: „Hermeneutik im Wolffianismus“, in: G. Frank/S. Meier-Oeser: Hermeneutik, Methodenlehre, Exegese. Zur Theorie der Interpretation in der Frühen Neuzeit (= Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 11), Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 379–421. Ebd.: „Intelligit quidem praeconis orationem, sed eam iudicat stolidam“. Canz rekurriert hier auf 1. Kor. 1, 18–21.

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Widerspruchsfreiheit der offenbarten Wahrheiten eruieren. Durch die interpretatio aequa, deren konstante Realisierung der Wirkung der vorlaufenden Gnade zu verdanken ist, wird evident, dass das Wort Gottes den allgemeinen Kriterien der philosophischen Logik zu genügen vermag. Dadurch aber erhöht sich die rationale Glaubwürdigkeit der göttlichen Offenbarung. Dritter Defekt: Der dritte defectus bezieht sich auf das Resultat der durch die Ratio methodisch erfolgten Analysen: Die erzielten wissenschaftlichen Erkenntnisse, ob diese nun naturwissenschaftlicher oder moralischer Art sind, bleiben fruchtlos, wenn sie nicht einen moralischen und mentalen Verbesserungseffekt haben: „Seht also den neuen Defekt! Es gefällt die Wissenschaft, es missfällt die Sterilität“48. Nur wenn die Aufmerksamkeit der subjektiven Vernunft auf den Zusammenhang zwischen den natürlichen und moralischen Erkenntnissen und den geheimen Wegen Gottes gelenkt wird, kann, folgt man Canz, daraus eine cognitio viva, eine lebendige Erkenntnis, werden. Für die Definition der „lebendigen Erkenntnis“ beruft sich Canz auf Wolffs Deutsche Ethik: „Diejenige Erkäntniß, so Wolff, wird lebendig genennet, welche einen Bewegungs=Grund des Willens abgiebet, entweder das Gute zu vollbringen, oder das Böse zu lassen. Hingegen die Erkäntniß ist tod, welche keinen dergleichen Bewegungs=Grund abgiebet“49.

Nun hatte Wolff aber im von Canz zitierten § 169 der Deutschen Ethik ausdrücklich auf die Bedeutung verwiesen, die die argumentative „Uberführung“ sowie in geringerem Maße die rhetorische „Uberredung“ von der Richtigkeit oder Falschheit einer Sache für die Transformation einer cognitio mortua in eine cognitio viva hat. Die bei Wolff ausschließlich logisch-mathematisch konnotierte „Uberführung“ interpretierte Canz nun dezidiert theologisch – eine Interpretation, die in Bezug auf die Begründung einer Hermeneutica sacra aber nur folgerichtig war. Schließlich hatte Wolff die hermeneutische Problematik, die Intention eines Autors wirklich nachvollziehen zu können, partiell auf einen defectus attentionis des Autors beim Verfassen seines Textes zurückgeführt. Im Falle der göttlichen Offenbarung konnte dieser Defekt aber keine Gültigkeit besitzen, da deren Autor schlechterdings unfehlbar war. Also musste – und das stellt Canz in besonderem Maße heraus – der defectus attentionis ein Defizit der subjektiven Vernunft auf Seiten des Interpreten sein. Dies war freilich ein Defekt, der nicht die mentale operatio an sich betraf, sondern deren willentliche Ausrichtung, d. h. die beschränkte Selektion und Fokussierung bestimmter Objekte in Vernachlässigung anderer Objekte, auf die sich die Ratio operativ zu richten vermochte. Folglich musste eine bestimmte Kraft auf den Zusammenhang diverser Erkenntnisobjekte, hier der Natur und der Offenbarung, so aufmerksam machen und natürliche Erkenntnisse mit Offenbarungswahrheiten so in Bezug zueinander setzen können, 48 Ebd., § 30: „En defectum novum! Placet scientia, displicet sterilitas“. 49 Vgl. ebd. (Anm. 58). Die zitierte Stelle findet sich in C. Wolff: Gesammelte Werke, Abt. 1: Deutsche Schriften, Bd. 4: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, hrsg. von H. W. Arndt, Hildesheim – New York 2006, § 169, S. 120.

Israel Gottlieb Canz’ gnadentheologische Hermeneutik

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dass diese Erkenntnisse lebendig wurden, d. h. sich pragmatisch auswirkten. Eine solche Kraft ist laut Canz die „gratia inhabitans“, die den Geist so umformt, dass er „ad pietatem“ ausgerichtet wird und ausgerichtet bleibt50. Der vierte Defekt: Der vierte Defekt schließlich ist wiederum ein Defekt der Fokussierung, der nur durch die gratia inhabitans ausgeglichen werden kann. Er besteht darin, dass die Ratio die besonderen Wirkungen Gottes in der Geistseele ignoriert, und bedarf einer spirituellen Erfahrung, um behoben zu werden: „Diesem Makel wird durch eine Erfahrung entgegenwirkt, die man spirituell nennt“51. Speneriani würden sie auch als „illuminatio interna“ bezeichnen52. Die spirituelle Erfahrung führt zur frommen Bescheidenheit der subjektiven Vernunft, die ihre Kraft, ihr Vermögen allein per gratiam Dei frei von Beschränkungen zu entfalten vermag. Mit den vier Graden von Aufmerksamkeitsdefiziten, die allein per gratiam Dei überwunden werden können, beschreibt Canz eine Hermeneutica sacra, die als dialektische Synergie logisch-hermeneutischer Prinzipien der Leibniz-Wolff’schen Philosophie und der vorlaufenden und einwohnenden göttlichen Gnade bestimmt ist. Canz betont den Nutzen der Ratio in der Theologie, die, insofern sie ein Dei donum ist, immer schon als ratio sana konstituiert ist. Als solche hat sie diverse für die theologische Hermeneutik nutzbringende Funktionen: Sie erkundet den nexus veritatum (investigative Funktion); sie stellt Wahrheiten in Form von schlusslogischen Argumentationen dar (logisch-didaktische Funktion; das Moment der „Uberführung“); sie widerlegt Irrtümer (apologetisch-polemische Funktion) und sie appliziert Lehrsätze auf einzelne Fälle (pragmatische Funktion)53. Dass aber eine reibungslose Applikation der logisch-hermeneutischen Verfahren, die der Ratio eigentümlich sind, nicht möglich ist, zeigen die zahlreichen Irrtümer und Fehler, in die sie sich zu verwickeln vermag. Das Moment der Reibung, der Anfälligkeit für Irrtümer und Fehler, interpretiert Canz als Wirkung der „hominum culpa“. Das hermeneutische Antidotum göttlicher Provenienz gegen die durch Sünde infizierte ratio sana stellt die unctio gratiae dar: „Insofern sie [die Ratio] aber eine durch die Schuld der Menschen verminderte Gabe Gottes ist, bedarf sie der Medizin der Gnade“54. Die Besinnung auf die lutherische Anthropologie und Hermeneutik führt bei Canz dazu, dass der Autonomieanspruch der Ratio, wie er bei Leibniz und Wolff formuliert ist, relativiert wird. Es bleibt von der göttlichen Gnadenwirkung abhängig, ob die Ratio gleichsam frei von Verfahrensfehlern zu operieren vermag oder nicht. 50 51 52 53

Canz: „Discursus“, § 30. Ebd., § 31: „Occurritur huic naevo per experientiam, quam spiritualem vocant“. Ebd., § 30. Ebd.: „Ratio igitur, quod his ita disputatis patet, quatenus aliquod Dei donum est, usum in theologia omnino praestat, nexum veritatum (omnis generis) detegendo, ratiocinando, confutando errores, applicando doctrinas ad singulares casus &c“. 54 Ebd.: „Quatenus autem hominum culpa imminutum Dei donum est, gratiae eget medicina“.

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IV. ZUSAMMENFASSUNG In Bezug auf die hier nur in Ausschnitten skizzierte Rezeption der Théodicée bei Israel Gottlieb Canz lassen sich abschließend folgende Punkte zusammenfassen: 1. Canz nutzt Leibniz’ Argumente aus dem „Discours de la conformité de la foi avec la raison“, um sie pointiert in eine gnadentheologische Hermeneutik münden zu lassen. 2. Dabei stellt Canz die subjektiv verfahrende individuelle Vernunft in besonderer Weise heraus und betont, stärker als Leibniz dies im Blick auf die raison corrumpue getan hat, deren schuld- und sündhafte Verwicklung. 3. Das von Leibniz und Wolff eher beiläufig herausgestellte Aufmerksamkeitsdefizit der subjektiv verfahrenden Vernunft wird von Canz ins Zentrum seiner theologischen Hermeneutik geholt. 4. Dadurch unterminiert Canz den radikalen rationalistischen Anspruch, dem Leibniz auch die sogenannten Offenbarungswahrheiten und Glaubensmysterien unterwirft. Die Konformität von Glaube und Vernunft bleibt bei Leibniz, trotz seiner tiefen Überzeugung von deren Wahrheit, eine Hypothese, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen und sich immer wieder beweisen muss. Canz aber erklärt unter gleichzeitiger Berufung auf Leibniz die grundsätzliche Widerspruchsfreiheit von Glaubens- und Vernunftwahrheiten und formuliert diese als Dogma. 5. Was hier nicht ausgeführt werden konnte, sind die zahlreichen Ergänzungen, die Canz zu Leibniz’ Widerlegung der Einwände Bayles in der Théodicée hinzufügt: Sie bestehen im Wesentlichen in der Zitation zahlreicher weiterer Quellentexte – von Bayle, von Huet, von Poiret, von Crellius, von Limborch u. a. –, die vor allem zeigen sollte, auf welcher breiten Front Leibniz seine Widerlegungen aufgestellt hat und welchen großen Nutzen dessen Argumente für die Theologie haben. Sie macht aber auch deutlich, wie sehr Canz in die aktuellen Debatten seiner Zeit involviert war. 6. Daraus ist unschwer zu erkennen, dass Canz in Leibniz einen in seiner Beharrlichkeit und aequabilitas vorbildlichen frommen und begnadeten, lutherischen Hermeneuten gesehen hat. Dieses Leibniz-Bild muss jedoch vor dem Hintergrund der interpretativen Modifikationen und Neuakzentuierungen gesehen werden, die Canz an den Vorgaben aus dem Leibniz’schen „Discours“ vorgenommen hat. Zudem resultiert dieses Leibniz-Bild aus Canz’ Versuch, die Kompatibilität der LeibnizWolff’schen Philosophie mit der lutherischen Theologie nachzuweisen.

MOSES MENDELSSOHNS SACHE GOTTES – EINE JÜDISCHE THÉODICÉE? EINE SPÄTE KRITIK AN MENDELSSOHNS HERAUSGEBER LEO STRAUSS Ursula Goldenbaum (Atlanta, GA)

„Mit dem Kaltsinne eines deutschen Metaphysikers hülle ich mich in meinen kahlen Mantel und sage wie Pangloß: Diese Welt ist die Beste!“1

Moses Mendelssohn hat seine Sache Gottes oder die gerettete Vorsehung nicht veröffentlicht und sie sehr wahrscheinlich auch nicht zum Druck bestimmt gehabt2, auch wenn der Text keineswegs Bruchstücke enthält3, wie mitunter behauptet 1

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M. Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (im Folg. JubA mit Bd. und S.), 12.1, in Gemeinschaft mit F. Bamberger, H. Borodianski (Bar-Dayan), S. Rawidowicz, B. Strauss, L. Strauss, begonnen von I. Elbogen, J. Guttmann, E. Mittwoch, fortgesetzt von A. Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971 ff., S. 52. Drei der Bände, 1, 2 und 3.1, konnten noch vor 1936 erscheinen, dann brach die Ausgabe ab. Sie erschien dann erneut seit 1971 bei Frommann-Holzboog, nunmehr unter der Herausgeberschaft von Alexander Altmann. Vgl. A. Altmann: Moses Mendelssohn. A Biographical Study, Alabama 1973, S. 666. Altmann scheint dieses Urteil von Leo Strauss zu übernehmen. Jedenfalls gibt er selbst keine Begründung und verweist in der Fussnote nur auf die Erstveröffentlichung der Schrift 1843 (siehe Anm. 3) sowie auf Strauss’ „Einleitung“ zur Sache Gottes in der MendelssohnJubiläumsausgabe, nach deren separater (erster) Veröffentlichung von 1962, vgl. L. Strauss: „Zu Moses Mendelssohns ‚Sache Gottes oder die gerettete Vorsehung‘“, in: K. Oehler/R. Schaeffler (Hrsg.): Einsichten. Gerhard Krüger zum 60. Geburtstag, Frankfurt 1962, S. 361– 375, hier S. 363–364. Es war der Unterbrechung der Jubiläumsausgabe und der Verfolgung der Juden in Nazi-Deutschland geschuldet, dass Strauss’ „Einleitung“ erst 1974 gemäß ihrer ursprünglichen Bestimmung als Einleitung in Mendelssohns Sache Gottes in der nun bei Frommann-Holzboog herausgegebenen Jubiläumsausgabe Mendelssohn’scher Schriften publiziert werden konnte, vgl. JubA 3.2, S. XCVI–CX. Inzwischen erschien diese „Einleitung“ auch im Bd. 2 von L. Strauss: Gesammelte Schriften, hrsg. von H. Meier unter Mitarbeit von W. Meier, Stuttgart – Weimar 1997, S. 514–527. – Strauss’ Argument, dass Mendelssohn nicht vorhatte, die Schrift zu veröffentlichen, basiert auf der Analogie, die er zwischen Mendelssohns früheren Gegenbetrachtungen über Bonnets Palingenesie und der Sache Gottes sieht, die ihm beide eine Kritik des Christentums darstellen (Vgl. Strauss’ Einleitung, in: JubA 3.2, S. XCVIII–XCVIX). Da Mendelssohn ausdrücklich erklärt hatte, die Gegenbetrachtungen nur im Fall der Notwendigkeit zu publizieren, sein Judentum verteidigen zu müssen, so müsse dies ebenso für die Sache Gottes gelten. Auch wenn ich im Folgenden argumentieren werde, dass die Sache Gottes anders als die Gegenbetrachtungen keine antichristliche Schrift ist, sondern rein metaphysischen Argumenten folgt, teile ich die An-

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wurde, sondern durchaus ein geschlossenes Ganzes bildet. Die Schrift erschien zuerst 1843 in den von Georg Benjamin Mendelssohn herausgegebenen, von Felix Mendelssohn-Bartholdy finanzierten und von Ch. A. Brandis eingeleiteten Gesammelten Werken Moses Mendelssohns4. Leo Strauss scheint der erste Herausgeber gewesen zu sein, der bemerkt hat, dass diese Schrift zu großen Teilen eine freie Übertragung von Leibniz’ lateinischer Causa Dei ins Deutsche war5. Leibniz’ kleines Werk war 1710 zusammen mit seiner Théodicée in Amsterdam erschienen und enthielt gewissermaßen ihren rein metaphysischen Beweisgang, oder ihr „abregé methodique“6, unter Weglassung aller erbaulichen Ausschmückung, Exempel und Anekdoten, die das in französischer Sprache verfasste Erbauungsbuch Théodicée vielen Philosophen so unphilosophisch und als bloß für Prinzessinnen geschrieben erschienen ließen7. Man könnte auch sagen, dass Leibniz’ Causa Dei sich vor allem an die deutschen (und andere) Theologen wandte, während er seine französische Ausgabe, in der Tat zunächst für die preußische Königin bestimmt, einem breiteren gebildeten europäischen Publikum zugedacht hatte, katholische Theologen und hugenottische Refugiés mit eingeschlossen. Angesichts der klaren Verortung von Leibniz’ Théodicée ebenso wie deren Kurzfassung Causa Dei in der christlichen dogmatischen Diskussion und im Diskurs der christlichen Reunion resp. Union8, könnte es merkwürdig erscheinen,

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sicht, dass Mendelssohn unter den gegebenen Verhältnissen seine Kritik an Leibniz’ Kompromiss mit der christlichen Dogmatik nicht veröffentlicht hätte. Die Auffassung von der Sache Gottes als einem Bruchstück zu anderen Arbeiten Mendelssohns, insbesondere der Morgenstunden, wurde zuerst von Ch. A. Brandis vertreten, in seiner Einleitung zu M. Mendelssohn: Gesammelte Werke, 7 Bde., Bd. 1, hrsg. von G. B. Mendelssohn, Leipzig 1843, S. 90. Strauss nennt weitere Autoren, die diese Meinung bis in seine Zeit kolportierten, vgl. JubA 3.2, S. XCIX. Mendelssohn: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 411–451. Strauss: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. XCIX. Leibniz an Thomas Burnett am 30. Oktober 1710, ausführlich zitiert in C. I. Gerhardts Einleitung zu GP VI, 14. „Sein berümtestes Werk, seine Theodizee, ist eine populäre Schrift, die er, der Königin Sophie Charlotte zu Gefallen, gegen Bayle schrieb. […] Leibniz’ Theodizee ist ein sehr berühmtes Werk, für uns nicht mehr recht genießbar; es ist eine Rechtfertigung Gottes über die Übel in der Welt. Die Vorstellung darin ist der Optimismus, daß die Welt die beste sei“ (G. F. W. Hegel: Vorlesungen, Bd. 9: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 4: Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit, hrsg. von P. Garniron und W. Jaeschke, Hamburg 1986, S. 130). – Russell ist sogar schärfer in seiner Entgegensetzung der von Leibniz veröffentlichten Schriften, mit der Theodizee als dem einzigen Buch, zu den unveröffentlichten Schriften: „What he published was designed to win the approbation of princes and princesses“ – „optimistic, orthodox, fantastic, and shallow“. „It was the popular Leibniz who invented the doctrine that this is the best of all possible worlds“ (B. Russell: History of Western Philosophy, London 1995, S. 563), aber als interessanter und konsistenter Philosoph erscheine Leibniz allein in seinen unveröffentlichten Werken. Siehe Leibniz’ Brief an den schwedischen Kanzler des Herzogtums Zweibrücken, de Greiffencrantz, am 2. Mai 1715, von Gerhardt in seiner Einleitung zitiert, in GP VI, 12, zweite Fußnote; vgl. zu zeitgenössischen theologischen Diskussion von Leibniz’ Théodicée die erhellende Arbeit von S. Lorenz: De Mundo Optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer

Moses Mendelssohns Sache Gottes – eine jüdische Théodicée?

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dass der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn 1784 eine Sache Gottes geschrieben hat, die so eng an die Leibniz’sche Fassung angelehnt ist, dass sie in vielen Formulierungen eine bloße deutsche Übersetzung liefert. Andererseits wissen wir natürlich, dass Mendelssohn ein überzeugter Leibnizianer war und dies durchaus in ausdrücklicher Reflexion auf sein Judentum9. Daher könnte eine eigenständige Verteidigung von Gottes Macht und Güte, seines freien Willens, und seiner Vorsehung aus jüdischer Perspektive ein mögliches Anliegen Mendelssohns gewesen sein, gerade um sein Judentum als weitgehend mit der Leibniz’schen Philosophie kompatibel zu erweisen. So wäre also die Sache Gottes eine jüdische Theodizee, wie Leibniz’ Causa Dei eine christliche war? Diese einleuchtende Erklärung wurde jedenfalls vom Herausgeber von Mendelssohns Causa Dei in der Mendelssohn-Jubiläumsausgabe, Leo Strauss, in seiner Einleitung aus dem Jahre 1936 vertreten10. Darüber hinaus aber war es das Anliegen von Strauss’ Einleitung zu diesem Text Mendelssohns, dessen Metaphysik als eine popularphilosophische Aufweichung der Leibniz’schen Metaphysik zu denunzieren. Zu diesem Zweck behauptete er eine Opposition zwischen Mendelssohns These in der Sache Gottes, dass es Gott um die Glückseligkeit jedes einzelnen Individuums gegangen sei, und der Leibniz’schen Position in der Théodicée und der Causa Dei, wonach die Weisheit Gottes das übergreifende Prinzip seiner Schöpfung gewesen sei11. Strauss, wohl gemerkt als Mendelssohns Herausgeber, unternimmt es ausdrücklich, die Inferiorität der Mendelssohn’schen Position gegenüber der von Leibniz zu erweisen. Im Folgenden werde ich zunächst kurz darstellen, inwiefern Mendelssohn von Leibniz abweicht, und diskutieren, ob Mendelssohns Sache Gottes deshalb eine bloße jüdische Causa Dei sei oder gar eine antichristliche Polemik (1). In einem weiteren Abschnitt möchte ich zeigen, dass Mendelssohn in dieser Schrift durchaus keine von Leibniz’ Metaphysik abweichende Auffassung vertritt, dass Strauss’ Interpretation vielmehr eine interessierte Manipulation ist, die seinen eigenen philosophischen Vorstellungen entsprang (2). Im dritten Abschnitt wird klar werden, dass Strauss sich nicht scheute, unredliche Mittel zu gebrauchen, um den von ihm behaupteten Gegensatz zu rechtfertigen (3). Abschließend möchte ich eine Erklärung dafür anbieten, was Mendelssohn dazu veranlasst hat, mit allem Nachdruck zwar nicht auf der Glückseligkeit der Individuen, wohl aber auf der Glückseligkeit der Individuen im Plan Gottes zu bestehen (4), durchaus in Übereinstimmung mit Leibniz.

Rezeption in Deutschland (1710–1791) (= Studia Leibnitiana Supplementa 31), Stuttgart 1997, S. 99–166. 9 Vgl. U. Goldenbaum: „Moses Mendelssohn – Wider die Plagegeister der Vernunft“, in: W. Förster (Hrsg.): Aufklärung in Berlin, Berlin 1989, S. 316–338. 10 Vgl. Strauss: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. XCVII. 11 Vgl. ebd., S. CV–CIX.

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I. MENDELSSOHNS SACHE GOTTES Leo Strauss hat das Verdienst, Mendelssohns Sache Gottes zuallererst als eine in sich selbständige Schrift Mendelssohns erkannt zu haben und zugleich als eine jüdische Variation auf Leibniz’ christliches Theodizeeprojekt. Er zeigt detailliert, wie Mendelssohn in der Sache Gottes Leibniz’ Causa Dei grundsätzlich folgt, jedoch alle christologischen Paragraphen auslässt, christliche Belegstellen aus der Bibel durch jüdische ersetzt, vor allem aber eine grundlegende kritische Diskussion des christlichen Dogmas der ewigen Strafen vorlegt, so dass er ab § 70 nicht mehr dem Gang der Leibniz’schen Paragraphen folgt und bereits mit dem § 84 sein Projekt beschließen kann. Für Strauss ist damit bereits klar, dass Mendelssohns Sache Gottes schlicht eine jüdische Theodicée ist. Er sieht das auch dadurch bestätigt, dass Mendelssohn sich mit diesem Text ganz offensichtlich an ein jüdisches Publikum wendet, da er vom Judentum als von „unserer Religion“ und vom Christentum als von einer „uns bekannten Religion“ spricht12. Es ist offensichtlich, dass diese These nicht ganz falsch sein kann. „Und doch“ – wie Lessing gern seine Einwände gegen scheinbar offensichtliche Wahrheiten einzuleiten pflegte –, und doch möchte ich Einwände anmelden und sogar behaupten, dass Mendelssohns Sache Gottes gar keine jüdische Theodizee ist, sondern im Unterschied zu Leibniz’ Causa Dei ein konfessionell neutraler, rein metaphysischer Text. Damit will ich aber keineswegs bestreiten, dass der Text sich insbesondere an ein jüdisches Publikum wendete, was nur zu offensichtlich ist. Mir scheint aber, dass Mendelssohn in der Sache Gottes überhaupt gar keine positive Religion argumentativ berücksichtigt. Keine einzige der genannten jüdischen Belegstellen hat mehr als illustrativen Charakter und sie zeigen allesamt nur, dass das Judentum mit der vorgetragenen metaphysischen Lehre über Gott, den Menschen und seine Glückseligkeit kompatibel ist. Das gilt selbst für § 49, wo Mendelssohn gerade aufgrund des hebräischen Urtexts der Hl. Schrift argumentiert, dass Gott gesagt habe, diese von ihm gemachte Welt sei die beste, also nicht einfach gut, wie von Luther übersetzt13. Dieses philologische Argument dient aber allein dem Nachweis der Übereinstimmung von Leibniz’ metaphysischer These von der besten aller möglichen Welten mit der wörtlichen Rede Gottes im Buch Genesis. Vor allem aber erklärt Mendelssohn gleich eingangs ausdrücklich, dass er die wahre Religion der Vernunft vortragen wolle, nicht aber die wahre Religion des Judentums. Zwar zitiert er gerade hier jüdische Quellen, aber er zitiert sie, weil sie die wahre Religion enthalten: „Die wahre Religion der Vernunft betrachtet [Gottes Größe und Güte] in Verbindung; die Größe, wie die Ka-

12 Ebd., S. XCVIII. 13 Vgl. JubA 3.2, S. 234, § 49. Mendelssohn zitiert und diskutiert dort den hebräischen Text und fasst dann zusammen: „Das Göttliche betrachtete sie [die Teile der Schöpfung] als gut. Am sechsten Tage aber nach vollendeter Schöpfung des Weltall heißet es: Gott sahe Alles, was er hervorgebracht hatte, und siehe, es war das Beste. Jene Theile waren an und für sich betrachtet nicht immer das Beste, aber doch allezeit gut. Das Weltall hingegen fand die göttliche Betrachtung als das Vollkommenste, das möglich war“.

Moses Mendelssohns Sache Gottes – eine jüdische Théodicée?

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balisten sagen, durch Liebe gemildert“14. Ich sehe Mendelssohns Sache Gottes daher vielmehr als eine rhetorische Adaption des metaphysischen Leibniz’schen Arguments, das Mendelssohn akzeptiert, an das Verständnis jüdischer Leser, eine Strategie, die Leibniz selbst erfolgreich gegenüber unterschiedlichen Lesern mit unterschiedlichen religiösen oder metaphysischen Positionen anwandte, ohne doch je etwas anderes als seine eigene Position darzustellen. Und natürlich hat Mendelssohn gegenüber einer jüdischen Leserschaft alle die spezifischen Argumente weggelassen, die Leibniz gerade zur Rechtfertigung seiner christlichen Position dienten. Wenn ich argumentiere, dass Mendelssohn in seiner Sache Gottes allein metaphysisch argumentierte, will ich ihn damit nicht, wie Heinrich Heine scherzte, zum reinen Deisten machen15. Ich denke vielmehr, dass er sein Judentum in seiner privaten Korrespondenz mit dem Erbprinzen von Braunschweig und sodann in seinem großen, leider weithin unterschätzten Werk Jerusalem klar bekannt hat16. Er hat aber auch eine grundlegend neue Interpretation des Judentums geliefert, die man wohl mit Heinrich Heine als eine Reformation dieser Religion von der Bedeutung der lutherischen christlichen Reformation auffassen kann, also im Sinne einer Wiederherstellung17. Und diese Reformation des Judentums gelang ihm auf der Grundlage Leibniz-Wolffianischer Philosophie und Epistemologie, einer systematischen Kritik der Idolatrie und einer rational orientierten Hermeneutik religiöser Quellentexte und Kommentare. Mendelssohn sieht die Offenbarung, auf die das Judentum gegründet ist, in der Offenbarung des Gesetzes18. Dieses Gesetz forderte allein Handlungen, aber es forderte keinen Glauben in offenbarte Wahrheiten. Daher seien die Juden frei in ihrem Denken und nur gebunden in ihren Handlungen. Entsprechend erlaube das Judentum die Freiheit des Denkens, sogar über das Gesetz, solange das Gesetz nur gehalten werde. Außer dem Gesetz aber seien auch die ewigen Wahrheiten über Gott und die menschliche Unsterblichkeit, die uns durch die natürliche Vernunft einsichtig seien, Bestandteil jüdischer Religion (wie auch anderer Religionen) ebenso wie moralische Grundsätze, die uns, Juden wie Nicht-Juden durch die Vernunft einsichtig seien. Mendelssohn betont, dass nach jüdischer Lehre jeder Mensch selig werden könne, der diese durch die Vernunft einsehbaren moralischen 14 Ebd., S. 221, § 2. 15 Heine schreibt in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, „daß Moses Mendelssohn in dem reinen Mosaismus eine Institution sah, die dem Deismus gleichsam als eine letzte Verschanzung dienen konnte. Denn der Deismus war sein innerster Glaube und seine tiefste Überzeugung“ (H. Heine: Werke und Briefe, Bd. 5, hrsg. von H. Kaufmann, Berlin – Weimar 1980, S. 250). 16 Mendelssohn: „Jerusalem“, in: JubA 8, S. 152. 17 „Wie Luther das Papsttum, so stürzte Mendelssohn den Talmud, und zwar in derselben Weise, indem er nämlich die Tradition verwarf, die Bibel für die Quelle der Religion erklärte und den wichtigsten Teil der derselben übersetzte“ (Heine, S. 148). Vgl. zu Mendelssohns Reform des Judentums auch Goldenbaum: „Moses Mendelssohn“, S. 318–324, sowie die gerade erschienene Mendelssohnmonographie Gideon Freudenthals: No Religion without Idolatry. Mendelssohn’s Enlightened Judaism, Notre Dame, IN 2011. 18 Vgl. JubA 8, S. 157.

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Sätze anerkenne und sein Leben danach einrichte, während die Juden außerdem auch das allein ihnen offenbarte Gesetz halten müssten19. Es ist bekannt, dass das Christentum dagegen die versprochene Erlösung vom Glauben an Heilswahrheiten abhängig macht. Zu diesen christlichen Wahrheiten gehörte insbesondere auch die christliche Prädestinationslehre, die Lehre von der Verdammung der nicht Erwählten, die mit Ungläubigen und Ungetauften von der Seligkeit ausgeschlossen würden. Es ist wahr, dass Mendelssohn die hierauf bezogenen Paragraphen, die in Leibniz’ Causa Dei fast die zweite Hälfte des Textes ausmachen, weglässt und einer kurzen Kritik unterzieht. Daraus schließt Strauss, Mendelssohns Text enthalte eine klare Absage an das Christentum und polemisiere ausdrücklich gegen christliche Dogmatik: „Mendelssohn wendet sich in der Sache Gottes als Jude gegen das Christentum überhaupt und darum gegen den Christen Leibniz im Besonderen“20. Zunächst halte ich das Wort „polemisieren“ hier für ganz übertrieben, da Mendelssohn nur schlicht darstellt, was die christliche Dogmatik in der Tat lehrt und diese Auffassung ablehnt, und zwar als im Widerspruch mit seiner Metaphysik. Außerdem konstatiert er aber, m. E. völlig zu Recht, die unlösbaren Probleme, die Leibniz selbst in seiner Metaphysik mit der christlichen Prädestinationslehre haben musste21. Auf einer Leibnizkonferenz sollte das keines Beweises bedürfen. Sodann ist festzuhalten, dass eine kritische Diskussion dieser christlichen Lehre keinesfalls per se jüdisch ausgerichtet sein muss. Bekanntlich wurde die Prädestination sowie die Lehre von den ewigen Strafen bereits zu Leibniz’ Lebzeiten auch von Christen bestritten, umso mehr durch das ganz 18. Jahrhundert. Vor allem aber ist Mendelssohns Kritik an Leibniz’ Verteidigung dieser Positionen ausschließlich an rationalen Argumenten orientiert. Er konstatiert nur, dass Juden diese Schwierigkeit nicht zu diskutieren haben, da diese Lehren nicht Teil ihrer Religion wären. Wie seine christlichen Zeitgenossen benennt Mendelssohn als solche Schwierigkeiten die Erlösung bekannter moralischer Männer, die vor Christus lebten, die Verdammung ungetaufter unschuldiger Kinder, und die Ewigkeit der Strafen sofern sie ein ewiges Leiden der Menschen bedeuteten, und er konstatiert, m. E. völlig zu Recht, dass sie mit Leibniz’schen metaphysischem Gottesbegriff letztlich inkompatibel seien22. Er verweist dabei auch ganz richtig auf Leibniz’ eigene Reflexion dieser Schwierigkeiten und dessen Bemühungen, diese Probleme zu mildern23. Es ist also nicht der Jude Mendelssohn, der den Christen Leibniz kritisiert, sondern der Philosoph Mendelssohn fordert gegenüber dem Philosophen Leibniz Kohärenz. Aber Mendelssohn entschuldigt Leibniz auch ausdrücklich als einen christlichen Philosophen, da dieser nicht frei gewesen wäre, anders zu schreiben. Ich schließe also, dass Mendelssohns Sache Gottes wohl jüdische Quellen zitiert 19 20 21 22 23

Vgl. ebd., S. 156–162. Vgl. Strauss: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. XCVIII. Vgl. JubA 3.2, S. 250, § 77. Ebd. Vgl. die langen §§ 89–97 in Leibniz’ Essais de Théodicée; GP VI, 151–157. Vgl. auch §§ 17– 19; GP VI, 111–114.

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und sich auch an ein jüdisches Publikum wendet, aber kein einziges spezifisch jüdisches Argument enthält, um das Theodizeeprojekt zu stützen, sondern im Unterschied zu Leibniz’ Causa Dei reine Metaphysik. Es ist daher überraschend, dass Leo Strauss ausgerechnet Leibniz eine größere philosophische Freiheit als Mendelssohn gerade darum zuspricht, weil dieser sich nicht so weit von aller positiven Religion entfernt hätte wie Mendelssohn, der mit der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts alles durch Vernunft erklären wollte24. Er verweist insbesondere darauf, dass Mendelssohn gegen seine Ankündigung im § 46, dass er später die Wunder behandeln würde, diese dann einfach vergessen hätte. Aber tatsächlich hat schon der nach Strauss wegen seiner Bindung an die christliche Religion „so viel freiere[n] Leibniz“25 den Wundern keine so überaus große Bedeutung zugemessen. Vielmehr versuchte Leibniz, die Zahl der Wunder so viel als möglich zu minimieren, und reduzierte sie schließlich allein auf jene für die christliche Religion wesentlichen christlichen Mysterien: „Ich meinerseits glaube, daß eine außergewöhnliche übernatürliche Tätigkeit wirklich nur den göttlichen Mysterien vorbehalten bleiben muß und nicht zur Erklärung der Dinge in der Natur benutzt werden darf“26. Mendelssohns authentische Auffassung zu den Wundern, die ja auch zur jüdischen Religion gehören, kann aber in Jerusalem nachgelesen werden, wo er sie ganz wie Leibniz als historische Wahrheiten einordnet, die allein im Vertrauen auf die Zeugen dieser Ereignisse geglaubt werden (jedenfalls von allen ohne übernatürliche Erleuchtung). Die Offenbarung des göttlichen Gesetzes aber habe die gesamte jüdische Nation zu Zeugen gehabt, weshalb sie die größtmögliche Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen könnte und geglaubt werden könne, solange kein Widerspruch in ihr aufgewiesen werde, der allerdings alsbald ihre Unmöglichkeit bedeuten würde27.

II. MENDELSSOHNS ANGEBLICHE POPULARPHILOSOPHISCHE AUFWEICHUNG VON LEIBNIZ Neben der angeblich konfessionellen Polemik Mendelssohns gegen das Christentum sieht Strauss aber auch eine philosophische Kritik Mendelssohns an Leibniz, und zwar, wie sich schon andeutete, die Kritik des „Mannes der Vernunft“ am „Orthodoxen Leibniz“28. Man sollte glauben, der Philosoph und erklärte Atheist29 Leo Strauss wüsste solche Kritik zu schätzen. Aber überraschenderweise vertei24 Strauss: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. CI–CII. 25 Ebd., S. CII. 26 So konstatiert Leibniz gegen Newton und seine Anhänger am 10. Mai 1715 in einem Brief an die Prinzessin von Wales, durch die seine berühmte Korrespondenz mit Samuel Clarke (und Newton) vermittelt wurde. V. Schüller (Hrsg.): Der Leibniz-Clarke-Briefwechsel, Berlin 1991, S. 205. 27 Mendelssohn: „Jerusalem“, in: JubA 8, S. 164–5. 28 Strauss: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. CII. 29 Vgl. Strauss an Gerhard Krüger am 7. Febr. 1933, in: Strauss: Gesammelte Schriften, 3, S. 425.

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digte er ausgerechnet Leibniz’ Auffassung von den ewigen Strafen gegen deren angebliche popularphilosophische Aufweichung durch Mendelssohn30. Nach Strauss lege Mendelssohn in seinem Verständnis von Gottes Gerechtigkeit allen Nachdruck auf die Güte Gottes, während Leibniz die Weisheit Gottes für das alles beherrschende Prinzip Gottes halte31. Strauss macht also in dieser Hinsicht einen grundlegenden philosophischen Gegensatz zwischen Mendelssohn und Leibniz auf. Natürlich sieht Strauss Mendelssohn grundsätzlich durchaus als Leibnizianer. Dennoch glaubt er, ihn für etwas kritisieren zu müssen, dessen Leibniz sich nicht schuldig gemacht habe. Dabei geht er durchaus strategisch vor. Zunächst unterstreicht er die große Bedeutung von Mendelssohns Sache Gottes, weil sie die einzige Schrift Mendelssohns sei, in der dieser sich mit Leibniz kritisch auseinandergesetzt habe. Sie sei eben darum von besonderem Interesse, weil gerade sie Mendelssohns eigentümliche Auffassungen schärfer hervortreten lassen müsste32. Aber kaum hat Strauss Mendelssohn eigentümliche Auffassungen zugesprochen, also eine Originalität gegenüber Leibniz, so bestreitet er ihm diese auch schon wieder: diese Eigentümlichkeit teile Mendelssohn nämlich – horribile dictu ! – mit der Popularphilosophie33. Diese massive Herabwürdigung Mendelssohns als jemand, der entweder Leibniz als „höchste philosophische Autorität“ respektiere und repetiere oder, wenn er von diesem abweiche, schlicht Gemeingut der deutschen Aufklärung kolportiere, nimmt mir bei jedem Wiederlesen den Atem. Sie konnte und kann nur so wenig auffallen, weil sie so vollkommen den seit Jacobi und Hegel populären Vorurteilen über Mendelssohns Mangel an philosophischer Tiefe entspricht34, und weil wegen eben dieser Vorurteile Mendelssohn von Philosophen bis heute immer noch wenig gelesen wird35. 30 Dabei folgt Strauss in seiner Kritik an der Kritik der ewigen Strafen den Argumenten Lessings in dessen Kritik an Eberhard, dabei unkritisch Mendelssohns Argument mit dem Eberhards identifizierend. Vgl. G. E. Lessing: „Leibniz von den ewigen Strafen“, in: Ders.: Gesammelte Werke, 10 Bde., Bd., 7, hrsg. von P. Rilla, Berlin 1956, S. 454–488. 31 Leider folgt auch Altmann in seiner verdienstvollen umfassenden Mendelssohnbiographie dieser verkehrten Behauptung ganz unkritisch, vgl. Altmann: Moses Mendelssohn, S. 667– 668. 32 Strauss: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. CI. 33 „In der Differenz zwischen der Sache Gottes und der Causa Dei [sic!] kommt der Fortschritt, den die Aufklärung seit Leibniz in Deutschland gemacht hat, zu sinnenfälligem Ausdruck“, schreibt Strauss (ebd.). 34 Dass der Pantheismusstreit von Jacobi mit der ausdrücklichen Intention initiiert wurde, Mendelssohns Reputation und Einfluss zu zerstören, insbesondere aber die öffentliche Debatte über die Emanzipation der Juden zu stoppen, habe ich kürzlich zu zeigen versucht, siehe U. Goldenbaum: „Der Pantheismusstreit als Angriff auf die Berliner Aufklärung und Judenemanzipation“, in: R. Theis (Hrsg.): Religion und Aufklärung (= Sonderheft der Zeitschrift Das achzehnte Jahrhundert), Hamburg 2010, S. 199–226. 35 Es ist bedauerlich, dass die jüngere Forschung, die sich endlich wieder Mendelssohn zugewandt hat, ihn entweder als Juden darstellt, unter Absehung von seinen philosophischen Überzeugungen, oder aber als Popularphilosophen, der keinen originären Beitrag zur „großen“ Philosophie zu leisten vermochte. Auch Alexander Altmanns sonst hervorragende Biographie ist nicht frei von dem letztgenannten Vorurteil und sieht Mendelssohn im Schatten

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Was aber kritisiert nun Strauss an Mendelssohn und damit an der gesamten Aufklärung? Es ist ausgerechnet Mendelssohns Ablehnung von Leibniz’ Verteidigung der christlichen Verdammungslehre in den §§ 54–60. Schon am Ton wird nun deutlich, dass dies für Strauss keine rein historische Frage war. Strauss sah vielmehr diese Verdammungslehre, Gemeingut von Judentum und Christentum36, als historische Rechtfertigung seiner eigenen Auffassung der Gerechtigkeit als Gesetzesgehorsam. Sua causa agitatur! Der Stein des Anstosses für Leo Strauss ist in der Tat Mendelssohns Kritik an Leibniz’ Auffassung der Strafgerechtigkeit überhaupt, die durchaus im Zusammenhang mit Strauss’ grundverschiedener Auffassung von der Gerechtigkeit steht37. Er sieht Mendelssohns Verteidigung von Gottes Güte, dem daraus folgenden kontinuierlichen Streben aller Individuen nach größerer Vollkommenheit und der vernünftigen Individuen nach immer größerer Glückseligkeit schlicht als einen popularphilosophischen Kampf gegen die Härte der Strafe38. Die sanftmütigen Popularphilosophen waren in Strauss’ Augen unfähig, die Bedeutung der Strafgerechtigkeit für Gottes’ Herrschaft zu begreifen und wollten deshalb Gott seines Schreckens berauben. Die behauptete Opposition Mendelssohns zu Leibniz hinsichtlich der Strafgerechtigkeit macht Strauss an ihrer angeblich unterschiedlichen Betonung entweder der Weisheit oder aber der Güte Gottes fest39. Während für Leibniz das Ziel der Schöpfung die Schönheit und Ordnung des Weltganzen sei, liege dieses für Mendelssohn in der Glückseligkeit der Menschen, – und Strauss unterstreicht zu Recht – in der Glückseligkeit jedes Menschen40. Während er so Leibniz jedes

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Kants, ohne ihn als Gegner Kants ernst zu nehmen. Ich verweise daher auf die neue Mendelssohn-Monographie Freudenthals, deren Autor Mendelssohn als Philosoph und Jude versteht, der sowohl einen bedeutenden Beitrag zur Philosophie und Epistemologie als auch zu einer Reform des modernen Judentums geleistet habe (siehe Anm. 17). Strauss weist nur in einem Nebensatz darauf hin, dass – nach seinem Verständnis – die jüdische Tradition sich in Hinsicht auf die Belohnung der Tugend und Bestrafung des Bösen nicht von der christlichen unterscheide, dadurch implizit sein Einverständnis mit Leibniz’ Verteidigung der ewigen Strafen deutlich machend. Vgl. Strauss: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. CVI. Strauss, im Rückgriff auf mittelalterliche jüdische und islamische Philosophen, versteht Gerechtigkeit als gegründet im Gesetz Gottes, das er als Faktum der Offenbarung gesetzt sieht: „Ein von Gott gegebenes, also vollkommenes Gesetz genügt notwendig dazu, das Leben auf sein wahres Ziel hin zu leiten“ (Strauss: „Philosophie und Gesetz“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, S. 67–86, hier S. 68). Ders.: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. CIII. Ebd., S. CIII–CIV. „Das bedeutet, daß der Zweck der Schöpfung für Leibniz vorzüglich die Schönheit und Ordnung des Weltganzen ist, für Mendelssohn hingegen vorzüglich die Glückseligkeit des Menschen, jedes Menschen“ (ebd., S. CIII–CIV). – Diese Auffassung ist in der Philosophiegeschichte seit Hegel weithin verbreitet und kann Leo Strauss nicht persönlich angelastet werden. Inzwischen dient allerdings regelmäßig seine „Einleitung“ als autoritäre Referenz, dass sich dies bei Mendelssohn so verhalte. Vgl. die kürzlich erschienene Monographie von U. L. Lehner: Kants Vorsehungskonzept auf dem Hintergrund der deutschen Schulphilosophie und –theologie, Leiden – Boston 2007 (S. 113–125 zu Mendelssohn): „Doch wie bereits im ‚Phädon‘ ist Gott für Mendelssohn auch in der Schrift ‚Causa Dei‘ nicht Richter, sondern

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Leiden in der universalen Ordnung Gottes rechtfertigen sieht, wirft er Mendelssohn vor, dass ihm das Leiden „irgend eines Menschen“41 einen relevanten Einwand gegen die Vollkommenheit des Universums bilde, falls nicht dieses Leiden dem Individuum selbst zum Nutzen gereiche. Triumphierend schlussfolgert Strauss: „Eben darum ist Mendelssohn zum Unterschied von Leibniz sentimental“42. Wir wissen, welch äußerste Verachtung in diesem seinem Urteil ausgesprochen ist. Mir scheint jedoch diese Entgegensetzung von Mendelssohn und Leibniz ganz unberechtigt zu sein und dem Geiste und Buchstaben von Leibniz ebenso wie von Mendelssohn geradezu entgegengesetzt. Schon der Untertitel von Leibniz’ Théodicée nennt ja die Güte Gottes als Hauptthema des ganzen Werkes und die Causa Dei die Gerechtigkeit, die bekanntlich aus Gottes Güte folgt, wohingegen weder der Macht noch der Weisheit Gottes im Titel überhaupt gedacht wird. Leibniz selbst geht es vor allem – nämlich gegen Bayle – um die Rettung der Güte und der Gerechtigkeit Gottes. Er sagt aber auch im Text ausdrücklich: „J’accorde que le bonheur des Creatures intelligentes est la principale partie des desseins de Dieu, car elles luy ressemblent le plus“43. Allerdings gelte das nur für das Reich der Gnade und Leibniz hält es für nicht beweisbar, „que c’est son but unique“44. Aber auch Mendelssohn – genau wie Leibniz – sieht die Gückseligkeit nur in Hinblick auf die vernünftigen Geschöpfe als Gottes Endzweck, und versteht wie Leibniz Gottes Güte als begrenzt durch seine Weisheit in Hinblick auf die ganze Schöpfung. Ganz in Übereinstimmung mit Leibniz schreibt er, dass „einem jeden vernünftigen Geschöpfe, ohne Rücksicht auf sein Verdienst oder auf ein ihm zukommendes Recht, so viele und so große Glückseligkeit zugetheilt [wird], als ihm der höchsten Weisheit unbeschadet zukommen kann“45. Keinesfalls also stellt Mendelssohn Gottes Güte über dessen Weisheit. Ich halte daher Strauss’ Entgegensetzung beider Philosophen in dieser Frage für schlicht unzutreffend und näherhin für ideologisch begründet – im Sinne der Definition eines interessierten Bewusstseins. Strauss muss zuletzt auch selbst einräumen, dass „der Gegensatz zwischen Leibniz und Mendelssohn nicht so radikal [ist], wie er sich zunächst darstellt“46. Was aber tatsächlich hinter der ganz schiefen und polemischen Darstellung von Mendelssohn als einem Leibnizverwässerer durch seinen illoyalen Herausgeber

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unendliche Güte, die jedem Individuum Vollendung zugesteht. Nur so könne die Vorsehungslehre auch dem Menschen helfen, Gott als personale Einheit von Güte, Gerechtigkeit und Heiligkeit sowie als Motivation für moralisches Handeln“ (ebd., S. 115). Ebenfalls verkehrt und allein unter Berufung auf Strauss’ „Einleitung“ wird gesagt: „Auch die Strafgerechtigkeit Gottes ist dieser Bestimmung untergeordnet, so dass Gott nur straft, um eine Besserung im Individuum zu erreichen, was ewige Höllenstrafen ausschließt“ (ebd., S. 120; Lehner zitiert nach Strauss’ separater Veröffentlichung der „Einleitung“, S. 369). Ebd., S. CIV. Ebd. Essais de Théodicée, § 118; GP VI, 168. Ebd. JubA 3.2, S. 234, § 50. Strauss: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. CVIII.

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steckt, ist dessen eigene Ablehnung von Mendelssohns Kritik an Leibniz’ Verteidigung der Strafgerechtigkeit. Strauss kritisiert Mendelssohn, weil dieser die Strafe Gottes für den Sünder allein dann gerechtfertigt sieht, wenn diese zu dessen Besserung oder Erziehung dienen kann47. Aber, er behauptet zu Unrecht, dass Mendelssohn darin von Leibniz abweiche. Für einen unparteilichen Leser von Leibniz ist es nicht schwer zu sehen, dass Leibniz und Mendelssohn in ihrer Auffassung von der Strafe grundsätzlich übereinstimmen. Strafe in der menschlichen Gesellschaft soll der Besserung des Delinquenten dienen, soll andere vor der bösen Tat schützen und darf auch zur Abschreckung gebraucht werden. Leibniz erklärt sich darüber eindeutig in seiner Théodicée: „Le but le plus ordinaire de la punition est l’amendement“48. Das gilt auch für Mendelssohn: Die Strafe soll vor allem der Besserung des Individuums selbst dienen. Insbesondere stimmen beide, Leibniz und Mendelssohn, darin überein, dass ein moralisches Übel auch von Gott niemals gewollt, auch nicht als Mittel zu etwas Gutem gebraucht, sondern nur zugelassen werde49. Ich bin der Auffassung, dass Mendelssohn in seiner Sache Gottes nichts metaphysisch behauptet, was sich nicht auch in Leibniz’ Théodicée findet. Allerdings ist es wahr, dass Leibniz darüber hinaus auch eine strafende Gerechtigkeit Gottes im Sinne einer Rachegerechtigkeit zu rechtfertigen suchte50. Aber unter welchen Anstrengungen und mit wie vielen wenn und aber! Und wie wenig wird die dort erklärte Rachgerechtigkeit noch immer ihrem Namen gerecht! Zum einen sieht Leibniz sie in der Billigkeit gegründet, als eine Kompensation erlittener Ungerechtigkeit. Dennoch, keineswegs darf Strafe ein willkürlicher Akt sein, niemals darf sie aus Leidenschaft erfolgen, immer muss sie entsprechend der Vernunft ausgeteilt werden. Alles das wird von Mendelssohn nicht anders gesehen und ist mit dem von beiden vertretenen rationalen Naturrecht vereinbar. Aber dieses rationale Naturrecht ist ja eben nicht die Rachgerechtigkeit eines zornigen Gottes, wie sie Leo Strauss, als angeblich von Leibniz verfochten, vorschwebt51. 47 Ebd., S. CIV. 48 Essais de Théodicée, § 126; GP VI, 180. Vgl. auch ebd., § 23: „La peine sert aussi pour l’amandement et pour l’exemple, et le mal sert souvent pour mieux goûter le bien, et quelques fois aussi il contribue à une plus grande perfection de celuy qui le souffre, comme le grain qu’on seme est sujet à une espece de corruption pour germer: c’est une belle comparaison, dont Jesus Cristus s’est servi luy même“ (GP VI, 116). 49 Vgl. den gleichlautenden § 36 in Leibniz und Mendelssohn (GP VI, 444, sowie JubA 3.2, S. 229). 50 „Il y a pourtant une espece de justice et une certaine sorte de recompenses et de punitions, qui ne paroit pas si applicable à ceux qui agiroient par une neccessité absolue, s’il y en avoit. C’est cette espece de justice qui n’a point pour but l’amendement, ny l’exemple, ny même la reparation du mal. Cette justice n’est fondée que dans la convenance, qui demande une certaine satisfaction pour l’expiation d’une mauvaise action. Les Sociniens, Hobbes et quelques autres n’admettent point cette justice punitive, qui est proprement vindicative, et que Dieu s’est reserve en bien des rencontres: mais qu’il ne lasse pas de communiquer à ceux qui ont droit de gouverner les autres, et qu’il exerce par leur moyen, pourvu qu’ils agissent par raison, et non par passion“ (GP VI, 141; Essais de Théodicée, § 73). 51 Vgl. Strauss: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. CIV.

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Ich denke vielmehr, dass Mendelssohn durchaus recht gesehen hat, wenn er sagte, dass diese Rachgerechtigkeit im System von Leibniz ein Fremdkörper ist und dass ihre Rechtfertigung ihm die größte Schwierigkeit in der Darstellung seiner Théodicée und seiner Metaphysik überhaupt bereitet habe. Es ist kein Zufall, dass sie in der Causa Dei den größten Raum einnimmt. Dass Leibniz Schwierigkeiten hatte, dieses Dogma mit seiner Metaphysik kompatibel zu machen, zeigen sowohl seine vielen dogmengeschichtlichen Versuche, wenn irgend möglich tugendhafte vorchristliche Menschen, ungetaufte Kinder und sogar nicht-christliche Zeitgenossen vor der Verdammung zu bewahren, als auch seine vorsichtige Diskussion der Petersen’schen Spekulation über beseelte Wesen auf anderen Planeten oder Sternen, die die Bilanz der Zahl der Verdammten und Erlösten günstiger darstellen sollte, zur Verteidigung der Güte Gottes52. Wenn Strauss also Mendelssohn Sentimentalität vorwerfen möchte, weil dieser einen Rachegott metaphysisch für eine Unmöglichkeit gehalten habe, so hätte er denselben Vorwurf Leibniz nicht ersparen dürfen. Mendelssohn spricht ja nur offen aus, und kann es offen aussprechen, was Leibniz unmöglich war – dass Gott kein so willkürlicher Rachegott sein könne und unmöglich jemanden zu ewiger Strafe im Sinne eines ewigen Leidens verdammen könne. Mendelssohns Ablehnung ewiger Strafen schloss natürlich keineswegs aus, dass, wie Leibniz und Lessing argumentierten, alle bösen Taten ewige Folgen haben würden53. Diese letztere Auffassung wurde von Mendelssohn natürlich geteilt54. Nachdem nun Strauss die Differenz von Mendelssohn zu Leibniz dadurch geklärt zu haben schien, dass Mendelssohn zu sentimental war, um Gott ewiger Strafen für fähig zu halten, wendete er überraschend das Blatt und behauptet: „Leibniz hat an die ewige Verdammnis, so wie sie von der christlichen Überlieferung verstanden wurde, freilich nicht geglaubt“55. Dass er sie dennoch verteidigt habe, sei in seiner Überzeugung vom unbedingten Vorrang der Schönheit und Ordnung des Ganzen vor dem Glücke der Teile inkl. der Menschen gegründet. Mit diesem „Ideal der Kontemplation“ sei „die Aufspaltung des Menschengeschlechts in die ‚Weisen‘ und die ‚Menge‘ gegeben und damit die Anerkennung einer zwiefachen Art der Mitteilung von Wahrheiten, einer esoterischen und einer exoterischen“56. 52 Vgl. Anm. 23 oben. 53 Vgl. Lessing, Bd., 7, S. 454–488. Lessing unterscheidet ausdrücklich zwischen den ewigen Strafen, als den ewigen Folgen der Sünden angemessen, und den ewig andauernden physischen Qualen solcher Strafen, die er ebenfalls für ungegründet hält. Ebd., S. 478–480. 54 „Daß die Folgen der Sünden ewig sind, gebe ich zu; denn die Folgen aller Gründe dauern ewig. Aber dies gilt nur von den natürlichen Folgen, nicht von den willkührlichen, wie jene behaupten; und auch die natürlichen Folgen der Sünden sind nicht ewiges Elend, denn sie können vom Guten dereinst überwogen werden“ (Mendelssohn an Peter Adolph Winkopp am 24.3.1780, in: JubA 12.2, S. 185). 55 Strauss: „Einleitung“, in: JubA, 3.2, S. CIV. 56 Ebd., S. CV. Auch diese Entgegensetzung von „esoterisch“ und „exoterisch“ hat Strauss von Lessing übernommen, der diese zur Erklärung von Leibniz gebraucht (vgl. Lessing, Bd., 7, S. 466–476). Bei Lessing hat sie allerdings nicht den Sinn, dass Leibniz’ esoterische Sprache bewusst etwas gegenüber „der Menge“ verbergen, sondern vielmehr nur verdaulicher für die Zeitgenossen und insbesondere die Theologen formulieren sollte, auch zum Schutz von

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Weil aber Mendelssohn diese angeblich „fundamentale, natürliche Rangordnung“ nicht anerkennen konnte, musste er – ein Popularphilosoph werden. Da haben wir Strauss’ ganze künftige Philosophie in einem Paragraphen, geschrieben vermutlich noch vor 193657, veröffentlicht erst 1962 wegen der Unterbrechung der Mendelssohn-Jubiläumsausgabe durch die Naziherrschaft in Deutschland! Wie verkehrt in der Sache aber Strauss’ Entgegensetzung Mendelssohns und Leibniz’ ist, wird vollends klar, wenn Strauss Mendelssohn die Güte Gottes gegen Leibniz ausgerechnet auf der Seite Bayles verteidigen lässt58. Die Einleitung des Herausgebers Strauss zu Mendelssohns Sache Gottes dient wegen dieser, die Aufgabe eines Herausgebers nicht nur überschreitenden, sondern falschen und missgünstigen Interpretation keineswegs dem besseren Verständnis von Moses Mendelssohn. Strauss verfälscht vielmehr die Auffassung Mendelssohns, ja er verfälscht darüber hinaus auch noch die Auffassung von Leibniz. Er benutzt alte Vorurteile gegen Mendelssohn, wie sie seit Jacobi vorgebracht wurden und verfestigt sie. Strauss’ Vorwort ist also wenig hilfreich zum Verständnis von Moses Mendelssohn, es ist vielmehr ein Dokument, das Leo Strauss’ Ideologie der Weisen und der Menge in statu nascendi enthält59. Tatsächlich ist Mendelssohns Sache Gottes gute Leibniz’sche Metaphysik, allerdings befreit von dem Fremdkörper des jüdisch-christlichen Rachegottes.

III. EIN UNREDLICHER HERAUSGEBER Um diese Entgegensetzung von Mendelssohn, dem sentimentalen Popularphilosophen und Leibniz, dem starken und freieren Metaphysiker, belegen zu können, benutzt Strauss wenig lautere Methoden. Zunächst bestreitet er Mendelssohn schlicht das Recht, Leibniz’ Lehre einer künftigen Kompensation der irdischen Leibniz. Dass es Lessing nicht um das Verbergen einer Lehre der Weisen vor der Menge ging, wird aus seiner bekannten Metapher der Erziehungsschrift klar, wonach ein Elementarbuch für die Anfänger nichts verbergen sollte, sondern immer Hinweise zum Weiterlernen enthalten müsste. Vgl. ebd., 8, S. 597, § 26. 57 Strauss’ Herausgeber Heinrich Meier verweist in seinem Vorwort zu seiner Ausgabe von Strauss’ Schriften auf einen Brief von Strauss vom 7. Februar 1933, in dem dieser seine Arbeit am Vorwort zu Mendelssohns Sache Gottes erwähnt, vgl. Strauss: Gesammelte Schriften, 2, S. 31, Anm. 45. 58 Ebd., „Einleitung“, S. CVI. 59 „Denn mit dem Ideal der Kontemplation ist die Aufspaltung des Menschengeschlechts in die ‚Weisen‘ und die ‚Menge‘ gegeben, und damit die Anerkennung einer zwiefachen Art der Mitteilung von Wahrheiten, einer esoterischen und einer exoterischen. Eine solche Unterscheidung konnte Mendelssohn nicht vorbehaltlos anerkennen; seine Voraussetzungen zwangen ihn zur Popularphilosophie (vgl. seine Kritik an ‚Ernst und Falk‘ im Brief an Lessing vom 11. Nov. 1777). Die Anerkennung oder Leugnung der fundamentalen, natürlichen Rangordnung steht in einer gewissen Beziehung zur Anerkennung oder Leugnung der durch Gewohnheit legitimierten Subordinationsverhältnisse“ (Strauss: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. CV). – Wer den Brief Mendelssohns an Lessing liest, wird allerdings keine Kritik finden (vgl. JubA 12.2, S. 98–99).

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Übel sowie einer Belohnung der Tugend eine „populäre Sittenlehre“ zu nennen60. Mendelssohn hatte eine solche populäre Sittenlehre von der Auffassung der Weltweisen unterschieden, für die die Tugend nicht Lohn, sondern selbst Glückseligkeit sei61. Die Tugend lieben um ihrer selbst willen, Tugend selbst als Glückseligkeit und nicht als Lohn der Tugend, das war aber sowohl für Mendelssohn als auch für Strauss, trotz des Senecazitats, unverkennbar eine Anspielung auf Spinoza, der ebenso unterschieden hatte62. Sodann wirft er Mendelssohn vor, selber (also doch wie Leibniz?) solche „Anpassungen an den vulgären Vorstellungszusammenhang“ für sinnvoll gehalten zu haben63. Allerdings, aber Mendelssohn hatte solch populäres (und keineswegs, wie Strauss es Mendelssohn in den Mund legt „vulgäres“) Argument Leibnizens im § 54 auch gar nicht als solches kritisiert, wie aus dessen Rechtfertigung in den §§ 57–59 klar hervorgeht. Er stellte dieses populäre Argument nur als eine generelle Antwort auf das Problem der Unsterblichkeit infrage, wenn nämlich damit gemeint sein sollte, dass all unser Tun und Lassen erst in jenem Leben Belohnung und Strafe finden werde. Dagegen sagt Mendelssohn durchaus mit Leibniz, dass wir schon in diesem Leben zur Glückseligkeit fähig sind, nämlich durch ein philosophischeres Verständnis von Tugend, die schon selbst Glückseligkeit sei. Nichtsdestoweniger aber könnten und müssten „populäre Auffassungen“ zur Stützung der Moral solche größere Weisheit vorläufig ersetzen64. Strauss beschuldigt jedoch Mendelssohn ausdrücklich, dass er Leibniz fälschlich unterstellt habe, eine solche populäre („vulgäre“) Auffassung vertreten zu haben, obgleich doch dieser „im Einklang mit der christlichen Tradition […] an den Stellen, an denen er sich thematisch über das Prinzip der Moral äußert, keine Zweifel über den prinzipiellen Vorzug des amor verus vor dem amor mercenarius läßt“65. Leibniz habe also die wahre (altruistische) Liebe der auf einen Nutzen orientierten Liebe vorgezogen, weshalb er unmöglich glauben konnte, dass Tugend als Glückseligkeit um ihrer selbst willen erstrebt werden könnte. Aber auch diese Behauptung von Strauss über Leibniz ist schlicht falsch. Zunächst zeugt Strauss’ Behauptung, wonach Leibniz den amor verus dem amor mercenarius vorgezogen habe, von seiner völligen Unkenntnis der Leibniz’schen Auffassung der Liebe. Der Rechtsphilosoph Leibniz war ja gerade besonders stolz auf seine Einsicht, dass diese Entgegensetzung von zwei Arten der Liebe grundverkehrt sei und keine Liebe je ganz rein oder altruistisch sein könne. 60 Strauss: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. CII–CIII; vgl. aber ebd., S. 235, § 54. 61 Ebd., S. 236, § 55. 62 Der Herausgeber des Bandes 3.2 im Jahre 1974, Alexander Altmann verweist auf Seneca: De vita beata, 9, 4; ders.: De providentia, 2; Spinoza: Theologisch-politischer Traktat, IV (§§ 14–16 Bruder); ders.: Ethik, V, prop. 42, aber zugleich auch auf Leibniz: De Vita beata (Erdmann, 118, u. 246–247) sowie C. Wolff: Philosophia practica universalis, I, §§ 345 ff., was die Kohärenz der rationalistischen Moralphilosophie, in deren Tradition sich Mendelssohn versteht, anschaulich hervortreten lässt. 63 Strauss: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. CIII. 64 JubA, 3.2, S. 237–8, § 57. 65 Strauss: „Einleitung“, in: JubA 3.2, S. CIII.

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Diese Einsicht hatte er in seiner Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes noch in seiner Zeit in Mainz erreicht, in seinen Arbeiten zum Naturrecht66. Es war gerade Leibniz’ neue Auffassung der Liebe als dem Vergnügen am Vergnügen des geliebten Dinges, die ihn seine neue Definition der Gerechtigkeit als der Liebe des Weisen, der alle/s liebt, finden ließ67. Wer liebt, empfinde notwendig das Vergnügen des anderen als sein eigenes Vergnügen, so dass jede wahre Liebe immer auch Vergnügen für den Liebenden selbst sein muss, altruistische Liebe also per se unmöglich sei. Es war diese Auffassung gewesen, die ihm erlaubte hatte, Hobbes’ voluntaristische Auffassung der Gerechtigkeit als Gesetzesgehorsam zu überwinden. Obwohl Leibniz Hobbes’ Ausgangspunkt teilte, dass jedes Ding nach seiner Selbsthaltung strebe, bot der Affekt der Liebe einen Weg, in dieses ichbezogene Streben andere einzubeziehen, ohne den individualistischen Ausgangspunkt aufzugeben. Es war die Vermittlung von Hobbes’ individualistischem Ausgang zu seiner politischen Philosophie einerseits und der Möglichkeit der gegenseitigen Liebe, insbesondere christlicher Nächstenliebe andererseits, die Leibniz damit geglückt schien und die er zur Grundlage seiner eigenen Rechtsphilosophie machte68. Leibniz definiert von nun an, also seit 1671, dass Gerechtigkeit die Liebe des Weisen sei, der alle liebe! Ein größerer Gegensatz gegen Strauss’ Ideal des Gesetzesgehorsams ist schwer vorstellbar. Die Unkenntnis von Leibniz’ Gerechtigkeitsbegriff als im Begriff der Liebe, als der Freude am Glück des anderen, begründet, kann vielleicht durch die Unkenntnis von Leibniz’ gerade erst 1930 erschienenen Elementa Juris Naturalis in der Aka66 Siehe „Elementa juris naturalis“; A VI, 1, N. 10, 431–485, oder G. W. Leibniz: Frühe Schriften zum Naturrecht, hrsg. von H. Busche, Hamburg 2003, S. 91–319; vgl. zum Begriff der Liebe als Grundlage der Gerechtigkeit R. J. Mulvaney: „The Early Development of Leibniz’ Concept of Justice“, in: Journal of the History of Ideas 29 (1968), S. 53–72, sowie H. Busche: Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum: Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung, Hamburg 1997, S. 359–60. Zu Leibniz’ Befriedigung, diesen Begriff gegen Hobbes, aber doch auf den theoretischen Voraussetzungen von Hobbes erarbeitet zu haben vgl. U. Goldenbaum: „All you need is love, love. Leibniz’ Vermittlung von Hobbes’ Naturrecht und christlicher Nächstenliebe als Grundlage seiner Definition der Gerechtigkeit“, in: G. Abel/H. J. Engfer/C. Hubig (Hrsg.): Neuzeitliches Denken. Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag, Berlin – New York 2002, S. 209–231. Patrick Riley veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zum Leibniz’schen Begriff der Gerechtigkeit als der Liebe des Weisen, vgl. insbesondere P. Riley: Leibniz’ Universal Prudence: Justice as the Charity of the Wise, Cambridge 1996. 67 Vgl. G. W. Leibniz: Schriften und Briefe zur Geschichte, hrsg. von M.-L. Babin und G. van den Heuvel, Hannover 2004, S. 131–217, hier, S. 167–173. Zur rechtsphilosophischen Bedeutung von Leibniz’ Fundierung des Begriffs der Gerechtigkeit auf seinem neu gefundenen Begriff der Liebe siehe U. Goldenbaum: „It’s Love! Leibniz’ Concepts of Love and Justice as Results of His Struggle With Hobbes’ Naturalism”, in: M. Kulstad/M. Laerke (Hrsg.): The Philosophy of the Young Leibniz (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 35), Steiner 2008, S. 249– 266. Vgl. auch den hervorragenden Kommentar von Gerda Utermöhlen in: A I, 14, XXIX– LX, hier S. LV–LVI. 68 Von völligem Unverständnis des Leibniz’schen Begriffs der Gerechtigkeit zeugt jedoch das Buch von R. Berkowitz: The Gift of Science. Leibniz and the Modern Legal Tradition, Cambridge – London 2005; vgl. meine Rezension in: The New Nietzsche Studies 8, 1/2 (2010), S. 198–202.

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demieausgabe gerechtfertigt werden (wenngleich die Definition sich auch in der Einleitung zum mehrfach veröffentlichten Codex iuris gentium diplomaticus findet und Mendelssohn bekannt war)69. Keinesfalls aber kann sie Strauss’ massiven Angriff auf Mendelssohns Redlichkeit im theoretischen Umgang mit Leibniz rechtfertigen. Es ist vielmehr Mendelssohn, der sich bei seiner Unterscheidung von populärer Moral und der Moral des Weisen ganz zu Recht in Übereinstimmung mit Leibniz sieht. Nicht Mendelssohn manipulierte Leibniz, sondern Strauss ist ein illoyaler Herausgeber und verhält sich unredlich zu Mendelssohn.

IV. MENDELSSOHNS ABLEHNUNG CHRISTLICHER GESCHICHTSPHILOSOPHIE Strauss’ schlicht unzutreffende Entgegensetzung von Leibniz und Mendelssohn entsprang offensichtlich seinem eigenen Wunschdenken. Sie ist aber vielleicht dadurch genährt worden, dass Moses Mendelssohn die Vervollkommnung jedes Individuums und die immer größere Glückseligkeit der vernünftigen Individuen in der Tat mehr betont als Leibniz, übrigens auch mehr als in seinen früheren Schriften. Diese Betonung der Güte Gottes, der niemals um der Entwicklung der Gattung willen einzelne Individuen als Mittel gebrauchen würde, richtete sich jedoch nicht gegen das übergeordnete Prinzip von Gottes Weisheit, sondern gegen eine neuere Tendenz christlicher, protestantischer Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Herder, Kant, oder Moritz, um nur einige zu nennen, suchten zunehmend die göttliche Vorsehung durch den Fortschritt der gesamten Menschheit zu höherer Vollkommenheit zu erweisen – Philosophie der Geschichte als Heilsgeschichte70. Es wird oft als auffallend konstatiert, dass Men69 Die diese Definition enthaltene Einleitung zum Codex juris gentium diplomaticus wurde zuerst 1693 in den Acta eruditorum, S. 141–144, publiziert und sodann vielfach nachgedruckt. Die historisch-kritische Edition findet sich inzwischen in A IV, 5, N. 7. Vgl. auch Leibniz: Schriften und Briefe zur Geschichte, S. 136. 70 Vgl. K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen einer Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953. Beispiele einer derartigen säkularen Heilsgeschichte sehe ich z. B. in Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784), und auch Moritz’ Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788). Allerdings würde ich von solcher Geschichtsphilosophie Lessings Erziehungsschrift ausdrücklich ausnehmen, da diese mir gerade nicht den Versuch darzustellen scheint, die Geschichte der Menschheit als in einer Bewegung zum siegreichen Christentum und dadurch zur versprochenen Erlösung der Menschheit zu begreifen. Dieser Text wird von Lessing eingeführt als ein Denkexperiment, um zu zeigen (Fingerzeig), dass alle positiven Religionen „nicht lieber weiter nichts“ als der Gang seien, „nach welchem sich der menschliche Verstand jeden Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll“. Dies wäre besser, „als über eine derselben entweder [zu] lächeln, oder [zu] zürnen“ (Lessing, Bd., 8, S. 590). Diese Möglichkeit einer Entwicklung der Religion wird von Lessing betont, um eine ferner mögliche Entwicklung der Religion auch über das Christentum hinaus als wahrscheinlich anzugeben. Vgl. §§ 86–90 (ebd., S. 612–613). Das erklärt auch, warum er Mendelssohns Ablehnung seiner Schrift versteht und ihn bescheidet, diese sei nicht für ihn geschrieben (vgl. meine Anm. 88). Diese Lesart der

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delssohn einer solchen Geschichtsphilosophie entschieden ablehnend gegenüberstand. Diese Ablehnung der Geschichtsphilosophie wird gewöhnlich seinem Mangel an geschichtlichem Denken zugeschrieben71. Nichts könnte verkehrter sein! Man lese nur seine Darlegungen zur Geschichte der Sprache oder der Religionen, von seinem Rousseaukommentar 1756 bis zu Jerusalem 1783, die allesamt seinen geschichtlichen Sinn verraten. Aber Geschichte ist nicht Geschichtsphilosophie. Während Geschichtsschreibung die Entstehung und die Entwicklung eines Gegenstandes aufgrund von Quellen und wissenschaftlichen Methoden untersucht, will Geschichtsphilosophie in geschichtlichen Spekulationen einen höheren Sinn finden und entsprechend die Geschichte auf ein Ziel ausrichten. Diese neue protestantische Geschichtsphilosophie suchte die durch Bayle thematisierte Frage nach dem Sinn der Geschichte angesichts von Kriegen und Elend in der Welt zu beantworten. Wenn die menschliche Geschichte doch in ihrer ungerechten und willkürlichen Austeilung von Strafe und Belohnung der Güte Gottes Hohn spreche, bleibe der Sinn der Geschichte als einer Heilsgeschichte der menschlichen Vernunft vollkommen verschlossen. Mendelssohn war mit diesen Ideen nicht nur aus Bayle vertraut oder durch Leibniz’ Théodicée. Vielmehr wurde er mit ihnen auch persönlich durch seinen Freund Thomas Abbt konfrontiert, der gewissermaßen die Seite Bayles nahm72. Abbt hatte zunächst in seiner Rezension eines Werkes des Propsts Süßmilch kritisiert, dass der Autor den frühen Tod unschuldiger Kinder mittels der Kompensation in einem späteren Leben gerechtfertigt hatte73, eben durch das, was Mendelssohn eine populäre Auffassung von der Tugend nannte. In dem darauffolgenden Briefwechsel wurden bereits Fragen der Vorsehung zwischen Abbt und Mendelssohn diskutiert74. Als Abbt dann auch die Hauptthese des Aufklärungsbestsellers Bestimmung des Menschen in einer Neuauflage eher schroff infrage stellte, eben die Bestimmung des Menschen als in einem ewigen Fortschreiten bestehend, wollte Nicolai die Rezension zunächst nicht bringen, sicher auch wegen seiner Freundschaft mit dem Buchautor Johann Joachim Spalding. Mendelssohn vermittelte jedoch und so wurde im Anschluss an Abbts Rezension Mendelssohns Stellungnahme gedruckt, die Abbts Argumente kritisch hinterfragte. Sowohl diese beiden Texte, Abbts Zweifel an der Bestim-

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Erziehungsschrift steht jedenfalls in Übereinstimmung mit dem Nathan, in dem alle Religionen gleichzeitig und gleichwertig auftreten. Mendelssohn selbst spricht in Briefen an Abbt von seinem unzureichenden Interesse für Geschichtsschreibung, das seiner „Vaterlandslosigkeit“ geschuldet sei, und fragt nach einschlägigerer Literatur, vgl. JubA 12.1, S. 75 und S. 120. Allerdings bezieht sich dieses anfängliche Desinteresse offenbar auf die politische Geschichte der Nationen. Vgl. Lorenz: De Mundo Optimo, S. 194–210; ders.: „Skeptizismus und natürliche Religion“, in: M. Albrecht/E. J. Engel/N. Hinske (Hrsg.): Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, Tübingen 1994, S. 113–133. J. P. Süssmilch: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode, und der Fortpflanzung desselben erwiesen, Berlin 21761; Abbts Rezension erschien in: F. Nicolai: Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 10. T., S. 245– 250; Brief, S. 63–128. Siehe JubA 11 u. 12.1. Vgl. auch JubA 6, Mendelssohns Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Korrespondenz enthaltend.

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mung des Menschen und Mendelssohns Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend75, als auch der Briefwechsel Abbts und Mendelssohns stehen in engem Zusammenhang sowohl mit Mendelssohn Phädon (1767)76, der in jenen Jahren entstand, als auch mit der hier diskutierten Sache Gottes. Abbt, kein orthodoxer Lutheraner, sondern von der pietistischen Universität Halle kommend, stand in mehreren Punkten der Position Bayles nah, in der Betonung eines freien Willens als Quelle menschlicher Würde, in der Leugnung der Möglichkeit, die Ordnung der Welt oder die Vorsehung durch menschliche Vernunft einsehen zu können und schließlich in der Empfehlung, sein Leben auf nichts als – nicht den Glauben, nein – aber den reinen Entschluss zur Tugend zu stellen. Abbt sah sich auch selbst in enger Verwandtschaft zu Bayle, wenngleich sein „Entschluss zur Moral“, der der rationalen Ethik Mendelssohns entgegengestellt wird, außerreligiös begründet ist77. Dass Mendelssohn in der Folge Leibniz gegen seinen Freund Abbt verteidigte, ist schon in sich selbst ein Indiz für die Verkehrtheit der oben genannten Strauss’schen Interpretation, dass Mendelssohn mit Bayle die Güte Gottes gegen Leibniz verteidigen würde. Stefan Lorenz hat in seinem erhellenden Aufsatz über die Kontroverse Abbts und Mendelssohns betont, dass Mendelssohn die Geschichte, die für Abbt wie schon für Bayle das Potential der Erfahrungsargumente gegen eine dem Menschen einsichtige göttliche Vorsehung lieferte, gar nicht erst in den Blick nahm, sondern allein das Individuum in seiner Entwicklung. Er benennt ganz richtig die Konstellation: „Geht es Mendelssohn zunächst um die individuelle Bestimmung des Menschen, durch die er dann zur universellen Harmonie beiträgt, so drängt Abbt auf die inhaltlich bestimmten Ziele der Menschheit als Gattung bzw. der Geschichte“78. Seine Schlussfolgerung daraus, dass sich bei Abbt autonome Verhaltensmaximen andeuten, während für Mendelssohn Vorsehung und Unsterblichkeit entscheidende Instanzen für die Bestimmung des Menschen bleiben, kann ich allerdings nicht folgen. Vielmehr sehe ich in Mendelssohns Verteidigung von Leibniz gegen Abbt eine ähnliche Konstellation wie die von Leibniz und Bayle. Was hinter der Verteidigung der göttlichen Vorsehung als mit Gottes Güte und Weisheit vereinbar durch Leibniz, Wolff und Mendelssohn steht, ist die Verteidigung der rational einsehbaren Ordnung der göttlichen Schöpfung wie auch des Projekts einer rationalen Moral. Letzteres wird besonders deutlich in ihrer Auffassung der Gerechtigkeit und der Strafe, die eben nicht mehr wie noch bei Kant und im Deutschen Idealismus auf Strafgerechtigkeit oder Buße aus ist, sondern auf Besserung des Delinquenten, auf seine Re-Integration, und auf Schutz der Gesellschaft. Mendelssohns Disput mit Abbt, der übrigens durch Respekt und Freundschaft gekennzeichnet war, stand gewissermaßen an der Wiege des Umschlags von 75 JubA 6.1, 9–25 (= Litteraturbrief 287, 21. Juni – 5. Juli 1764). 76 Vgl. dazu A. Altmann: Die trostvolle Aufklärung. Studien zur Metaphysik und politischen Theorie Moses Mendelssohns (= Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung 2.3), Stuttgart – Bad Cannstatt 1982, S. 84–108. 77 Vgl. Lorenz: „Skeptizismus und natürliche Religion“, S. 122–123. 78 Ebd., S. 129.

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Bayles protestantischer, radikaler Kritik einer rationalen Theologie in die neuere christliche, spezifisch protestantische Geschichtsphilosophie, die eine positive Antwort aus dem Bayle’schen Dilemma versuchte, indem sie den Fortschritt der Menschheit statt der Vervollkommnung der Individuen zum Sinn der göttlichen Vorsehung machte. Neben vielen anderen Nachteilen dieser theoretischen Wende, worunter für uns Heutige ganz offenbar die Vernachlässigung der Bedeutung des Lebens einzelner Individuen besonders zu Buche schlägt79, war diese Auffassung aber auch von vornherein mit einer Abwertung des Judentums (und anderer Religionen) verbunden, das in dieser geschichtsphilosophischen Sicht notwendig einer frühen Stufe der Menschheit zugeordnet wurde80. Man sehe nur Kants Bemerkungen über den jüdischen Glauben, der „seiner ursprünglichen Einrichtung nach ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze“ sei81, so dass spätere „moralische Zusätze“ „schlechterdings nicht zum Judentum als einem solchen gehörig“ sein können. Wegen dieser angeblichen Absenz von Moral in der jüdischen Religion sei das Judentum „eigentlich gar keine Religion“, sondern nur die Vereinigung von Menschen zu einem weltlichen Staat! Um das Judentum als unfruchtbar und überlebt darstellen zu können, durfte seine Entwicklung als Religion seit dem Beginn des Christentums nicht zur Kenntnis genommen werden, sondern musste als Niedergang verstanden werden. Es waren die Christen, die entschieden, was das Judentum bis zum Auftreten von Jesus Christus gewesen war und noch immer geblieben sein sollte. Für Herder, Kant, Michaelis und Hamann waren Juden Mitglieder einer untergehenden Religion, was insbesondere in einer angeblichen, ihrem Judentum geschuldeten moralischen Insuffizienz zum Ausdruck kam. In den Schriften fast all unserer Klassiker findet sich reichhaltiges Material für diese ignorante und arrogante Sichtweise, mit geschichtsphilosophischen Argumenten Juden als Juden Moralität abzusprechen. Ungeachtet dessen, dass Mendelssohn Leibnizianer war und so Leibniz’ Théodicée schon deswegen gegen diese neuere protestantische Geschichtsphilosophie verteidigte82, war es ganz offenbar auch deren antijudaische Tendenz, die 79 Vgl. N. Hinske: „Das stillschweigende Gespräch. Prinzipien der Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Mendelssohn und Kant“, in: Ders.: Moses Mendelssohn im Kreise seiner Wirksamkeit, S. 135–156. 80 Vgl. M. Erlin: „Reluctant Modernism: Moses Mendelssohn’s Philosophy of History“, in: Journal of the History of Ideas 63 (2002), S. 83–14. 81 Vgl. I. Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), zitiert nach ders.: Kant’s gesammelte Schriften (AA), Abt. I: Werke, Bd. 6, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1925, S. 125 (Hervorhebung von mir – UG). 82 Altmann benennt alle jene Schriften Mendelssohns, in denen die Thematik der göttlichen Vorsehung eine Rolle spielte. Er beginnt mit den von Mendelssohn verfassten Predigten anlässlich der preußischen Siege in den 1750er Jahren (Altmann: Moses Mendelssohn, S. 68), fährt fort mit der Diskussion Mendelssohns mit Abbt in den 1760er Jahren und den daraus entstandenen Schriften (ebd., S. 666–667), die im Phädon ihr Resultat hatten, und nennt schließlich sowohl die Sache Gottes als auch die Morgenstunden. Aber Altmann unterstreicht, dass Mendelssohn noch in seinem letzten Lebensjahr Nicolai auf eine neue Theodizee eines deutschen Autors verweist und diese empfiehlt (ebd.).

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ihn umso mehr Leibniz’ Vervollkommnung der Individuen und die wachsende Glückseligkeit der vernünftigen Individuen betonen ließen. Jedes Individuum ist ein System für sich, sagte er mit Leibniz, und es kann einem gütigen Gott nicht ein Mittel für den höheren Zweck der Gattung werden83. Mendelssohns Betonung liegt nämlich gar nicht, wie Strauss meint, auf der Glückseligkeit des Individuums, sondern auf der Glückseligkeit des Individuums84, und richtet sich nicht gegen Leibniz, sondern gegen die neuen protestantischen Geschichtsphilosophien des 18. Jahrhunderts mit ihrer These einer beständigen Vervollkommnung der Gattung, – die andere als Christen von dieser Vervollkommnung ausschloss85. Eben deshalb konnte Mendelssohn auch Lessings Nathan so hochschätzen, der ja wohl dessen eigentliches Credo ist86, und musste Lessings Erziehungsschrift ablehnen. Aber diese Schrift, durchgehends im Konjunktiv geschrieben, war, wie Lessing ihm schreibt, auch nicht für ihn bestimmt87. Sie galt den neologischen Theologen, denen er die jüdische Religion als Vorstufe zum Christentum darstellte, damit sie sich ebenso eine weitere Stufe im göttlichen Erziehungsplan der Menschheit vorstellen könnten, als eben nur die gegenwärtige, christliche. In seinem 83 Siehe JubA 3.2, S. 250, § 76. 84 Vgl. Hinske, S. 152–156. 85 Wie eng die Ablehnung der geschichtsphilosophischen Spekulationen über eine Bestimmung der Menschheit mit der Empfindlichkeit der aufgeklärten Juden darüber, dass ihnen als Juden Moralität schlechthin abgesprochen werden sollte, kann man in David Friedländers Vorlesung bey der erneuerten Todesfeyer Mendelssohns (1791) sehen. Dort besteht er auf der grundsätzlichen Fähigkeit der Juden zur Moral und fährt sogleich fort: „Wahr ist es, der Mensch, mit seinen beyden Grundtrieben, des Denkens und Empfindens, ist einer großen Veredelung und Verschlimmerung fähig. Alle Anlagen und Fähigkeiten sind ihn zwar von der Natur anerschaffen, aber die Erziehung, die er genießt, die Umstände, die ihn umringen, die Lagen, in welche er geräth, können ihn bilden und verbilden. – Aber das alles gilt nur von dem einzelnen Menschen. Das menschliche Geschlecht im Ganzen, schwankt beständig zwischen bestimmtern Schranken der Vollkommenheit und Unvollkommenheit, und behält in allen Perioden der Zeit dasselbe Maß von Religion und Irreligion, dasselbe Maß von Tugend und Laster, von Glückseligkeit und Elend. Diese Meinung unsers verewigten Freundes, die ich aus seinen Schriften entlehne, ist von niemanden widerlegt worden, und sehr natürlich hat sie auch von niemanden widerlegt werden können. Wer das thun wollte, müßte ihm in der Geschichte das gesammte Menschengeschlecht zeigen, wie es in der Ausbildung immer weitere Fortschritte machte, und sich immer mehr der Vollkommenheit näherte“ (JubA 23, S. 299). Friedländer verweist dann ausdrücklich auf den erst kurz zuvor geschehenen Tod Friedrich II., mit dem die vielversprechend Epoche der Berliner Aufklärung und des Fortschritts mindestens in Preußen ein Ende fand. 86 Gegen die weithin unterschätzte Bedeutung von Lessings Nathan für Lessings Geschichtsphilosophie und die weithin einseitige Beschränkung auf die Erziehungsschrift argumentiert überzeugend Ingrid Strohschneider-Kohrs in ihrem profunden Beitrag „Lessing und Mendelssohn in ihrer Spätzeit“, in: Albrecht/Engel/Hinske, S. 169–290, hier insbesondere S. 277–290. 87 Vgl. Lessing an Mendelssohn am 19. Dez. 1780, in: JubA 12.2, S. 202. Das ist fast wörtlich die Formulierung, mit der Mendelssohn am 23. Nov. 1756 auf eine Kritik Lessings an seinen vaterländischen Predigtentwürfen in der jüdischen Gemeinde Berlins geantwortet hatte: „Sie beschuldigen mich einer seichten Gefälligkeit für das herrschende System, und glauben, ich hätte mir vorgenommen, den Hrn. von Leibnitz von seiner schwachen Seite nachzuahmen. […] Ich bitte aber diese für Sie nicht geschriebenen Stellen zu übergehen“ (JubA 11, S. 73).

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Nathan dagegen, den er von vornherein für die Öffentlichkeit schrieb, stellte er die Gläubigen aller drei Weltreligionen nebst der persischen Religion als gleichermaßen moralische (bzw. unmoralische) Wesen dar. Es ist daher kein Wunder, dass Mendelssohn – sehr zum Ärger Jacobis –88 so oft Nathan als Gewährsmann seiner eigenen Auffassung anführt89. Der Aufklärung wird oft vorgeworfen, dass sie mit ihrer Forderung einer natürlichen oder vernünftigen Religion Universalität gegen Individualität fordere. Mendelssohn aber wie auch Lessing fordern, im Unterschied zur christlichen Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts, gerade keine Universalität der Religion, sondern laden vielmehr dazu ein, dass ein jeder seiner eigenen Religion nacheifern möge, aber doch seinen Nächsten als Menschen liebe90. Religion durfte sich allerdings nicht in Gegensatz zur Vernunft bzw. Metaphysik begeben. Mir scheint, dass es diese Auffassung ist, die Autonomie möglich macht, indem sie Moral und Religion nicht an einen willkürlichen und damit unkritisierbaren Entschluss – weder zum Glauben noch zur Tugend, sondern an vernünftig einsehbare Prinzipien bindet. Es ist diese Auffassung, die das Gespräch zwischen den Religionen auf Augenhöhe und in gegenseitiger Toleranz ermöglicht. Darin steht Men88 „Herr Mendelssohn weiß diesen Nathan nicht oft genug zu nennen“, ereifert sich Jacobi (Jacobis Spinozabüchlein nebst Replik und Duplik, hrsg. von F. Mauthner, München, 1912, S. 291 [Jacobis Duplik]). 89 Strauss’ sehr selektives Interesse an Lessing ähnelt dem von Jacobi, über welchen Strauss ja auch seine Dissertation bei Ernst Cassirer geschrieben hat. Es betrifft aber nur Lessings Kritik an der aufgeklärten christlichen Neologie, an dem Bestreben, die positive Religion von unvernünftigen Lehrstücken zu reinigen, um sie zum Vernunftglauben zu machen, zugleich aber an der Autorität der Religion und an ihrer unbezweifelbaren Wahrheit festzuhalten, also an deren intellektuell unredlicher Halbherzigkeit. Aber natürlich teilten sie beide nicht Lessings positive Anliegen – Aufklärung und Spinozismus. Wie schon Strauss selbst, so betonte kürzlich auch David Janssens eine angebliche schlechthinnige Nähe Straussens zu Lessing, natürlich ebenso bei Entgegensetzung von Lessing zu Mendelssohn und angeblicher Nähe Lessings zu Jacobi. Es wird darüber ignoriert, dass Lessing und Mendelssohn bis zuletzt beste Freunde waren, wie Lessing noch im Spinozagespräch mit Jacobi betont. Vgl. D. Janssens: „The Problem of Enlightenment: Strauss, Jacobi, and the Pantheism Controversy“, in: The Review of Metaphysics 56 (2003), S. 605–631, insbes. S. 619–623. 90 Es ist bekannt, dass Mendelssohn den Titel seines Werkes Jerusalem erst kurz vor Drucklegung wählte, wohingegen der Untertitel lange vorher feststand. Der Herausgeber Michael Albrecht weist darauf hin, dass Crantz, dessen Schrift Mendelssohn zur Abfassung seines Jerusalem veranlasste, betont hatte, dass das Christentum den wahren Gottesdienst „weder an Jerusalem noch Samaria“ binden würde (JubA 8, S. XXXIII). Allerdings wird Jerusalem in apokalyptischen Bibelstellen auch als der Ort der Errichtung des kommenden Reiches Gottes genannt, in dem gemäß der göttlichen Vorsehung die Auferstandenen und Erlösten in Frieden und leben werden (vgl. Offb. 21 u. 22). Angesichts der starken Präsenz von Thomas Hobbes’ Leviathan in Mendelssohns Jerusalem könnte der Titel auch eine ironische Herausforderung sein, Hobbes’ ausdrücklich irdischer Verortung des kommenden Gottesreiches in Jerusalem, Palästina vorzustellen, und zwar als friedliches Zusammenleben der Völker in einem jüdischen Königreich. Vgl. T. Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form, und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, hrsg. von I. Fetcher, Frankfurt a. M. – Berlin – Wien 1976, S. 342–345. Mendelssohn hatte ein Werk über christliche Apokalypse in seiner Bibliothek: H. Corrodi: Kritische Geschichte des Chiliasmus, 4 Teile in 3 Bänden, s.l. 1781–83.

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delssohn ganz in der Tradition von Leibniz’ Théodicée91. Indem er Leibniz’ Toleranzverständnis und dessen Respekt für die Positionen anderer christlicher Konfessionen, wohl begründet in der Théodicée, gemeinsam mit seinem Freund Lessing auch für die jüdische Religion einfordert, geht er allerdings über Leibniz hinaus und eröffnet eine fruchtbare, in der heutigen Welt dringend notwendige, aber noch kaum genutzte theoretische Perspektive.

91 Vgl. U. Goldenbaum: „Leibniz über Toleranz und Wahrheit“, in: E. Barke/R. Wernstedt/H. Breger (Hrsg.): Leibniz neu denken (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 38), Stuttgart 2009, S. 37–61.

DIE RATIONALISTISCHE REDUKTION DES PHYSISCHEN ÜBELS BEI LEIBNIZ1 Juan A. Nicolás (Granada)

I. EINFÜHRUNG Inhalt dieser Betrachtung ist eine Bewertung der Analytik des physischen Übels, die Leibniz in der Theodizee durchführt. Dazu wird zunächst der Rationalitätsrahmen untersucht, in den Leibniz diese besondere Art des Übels einfügt – was versteht Leibniz unter „physischem Übel“, was ist sein Ursprung und welche Beziehung besteht zu anderen Arten von Übeln. Anschließend wird eine kritische Bewertung der Leibniz’schen Analyse des physischen Übels durchgeführt, bei der man zu der Schlussfolgerung kommen wird, dass es sich um eine reduktionistische Analytik des komplexen und multilinearen Charakters des physischen Übels handelt. Die Reduktion betrifft mindestens vier Variablen: quantitative Reduktion, abstraktive Reduktion, dimensionale Reduktion und experientielle Reduktion.

II. BERECHENBARE VERNUNFT ALS RAHMEN FÜR DIE ANALYSE DES ÜBELS Die Auffassung von Rationalität bei Leibniz dreht sich um den Satz vom zureichenden Grund und seine vielfältigen Aufstellungen, Bedeutungen und Gültigkeitsbereiche2. Die im Kontext der Theodizee am häufigsten genutzte Version ist die des Satzes vom Grunde als Prinzip des Besten3. Das Bestreben dieses Werkes 1

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Diese Arbeit wurde im Rahmen des Projektes „Leibniz auf Spanisch“ („Leibniz en español“, HUM2007-60118) von dem spanischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung (MICINN) finanziert. Für eine detaillierte und an Textbeispielen belegte Analyse siehe J. A. Nicolás: Razón, verdad y libertad en Leibniz, Granada 1993 und J. A. Nicolás: „Universalität des Prinzips vom zureichenden Grund“, in: Studia Leibnitiana 22, 1 (1990), S. 90–105. Für die Äquivalenz zwischen beiden Prinzipien kann die folgende Passage als Beispiel herangezogen werden: „Mais le contingent qui existe, doit son existence au principe du meilleur, raison suffisante des choses“, in: GP VII, 390. Für eine detaillierte Erklärung dieses Aspekts siehe Nicolás: Razón, verdad y libertad, S. 53–4. Zur Beziehung zwischen dem Prinzip der ausreichenden Vernunft und der Theodizee siehe: O. Feron: „La modernité entre la theodicée et le principe de raison insuffisante“, in: J. A. Nicolás (Hrsg.): Leibniz und die Entstehung der Modernität (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 37), Stuttgart 2010, S. 121–133; L. E. Lopez dos Santos: „Leibniz, Aristote et les stoîciens“, in: Nicolás: Leibniz und die Entstehung der Modernität, S. 245–254. Zur Perspektive der Deutung des Prinzips der Vernunft durch

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ist größtenteils darauf ausgerichtet, die Existenz des Übels mit dem Prinzip eines gütigen und allmächtigen Gottes in Einklang zu bringen. Dazu wendet Leibniz seine gesamten analytischen und hermeneutischen Fähigkeiten an, um zu beweisen, dass sowohl das Handeln Gottes als auch die Existenz des Übels innerhalb desselben Rationalitätsrahmens in Betracht kommen. Auf der einen Seite ist es erforderlich, haarspalterisch zu sein – was bedeuten Güte und Macht Gottes; welche Beziehung besteht zu den Ereignissen der Welt und insbesondere zum Handeln des Menschen; welche Beziehung gibt es genau zwischen Gott und dem Ursprung des Übels, etc. Und auf der anderen Seite bedarf es auch einer Analyse der Arten des Übels, des Ursprungs und der Entwicklung desselben, der Bereiche, auf die es sich erstreckt, der Rolle des Übels in der Gesamtheit aller Lebewesen und speziell des menschlichen Lebens, der Verantwortung hinsichtlich des Übels, der Möglichkeit, es vollständig oder teilweise zu eliminieren, etc. Um diese beiden Gefüge mehrerer Elemente miteinander zu vereinbaren entwickelt Leibniz einen Vernunftbegriff, in dem gleichzeitig sowohl Gott, als auch der Ursprung des Übels in Betracht kommen. Die „Ordnung“ der Vernunft, nach deren obersten Prinzipien sich das göttliche Handeln richtet, beinhaltet auch jenen offensichtlichen Bruch von Ordnung und Harmonie, den Ursprung des Übels. Daher kann Leibniz sagen, dass „encor les souffrances et les monstres sont dans l’ordre […] et il valoit mieux admettre ces defauts et ces monstres, que de violer les loix generales“4.

Dies ist ein klares Beispiel dafür, dass die Philosophie von Leibniz eine Philosophie ist, in der die Ordnung über allem, absolut allem steht. Die Leibniz’sche Ordnung ist eine Ordnung, die auf Vernunft basiert, auf einer bestimmten Art und Weise, Vernunft aufzufassen. Die vermeintlichen Brüche in einer vernunftbasierten Ordnung, wie beispielsweise die Existenz des Übels (oder der Wunder oder Mysterien) sind nicht mehr als ein Schein. Anders gesagt, bei Leibniz findet eine Rationalisierung des Übels statt5. Die rationale Verbindung zwischen einem allmächtig-gütigen Gott und der Ursache des Übels ist das Prinzip des Besten. Dieses Prinzip ist das Instrument, das Leibniz im Rahmen seiner Analytik des Übels anwendet. Wie findet es Anwendung? Leibniz:

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Schopenhauer in Zusammenhang mit der Theodizee siehe R. Malter: „Eine wahrhaft ruchlose Denkungsart. Schopenhauers Kritik der leibnizschen Theodizee“, in: Studia Leibnitiana 13 (1986), S. 152–182. Essais de Théodicée, III. Teil, § 241; GP VI, 261. Für eine detaillierte Analyse des Platzes, welchen das Übel im Leibniz’schen Denken einnimmt, nicht nur in der Theodizee sondern in allen seinen Werken, siehe P. Rateau: La question du mal chez Leibniz, Paris 2008. Zur konkreten Frage der rationalen Integration des Übels in die leibnizsche Philosophie, so wie es in der Theodizee ausgedrückt ist, siehe J. A. Nicolás: „Le mal comme limite du principe de raison“, in: P. Rateau (Hrsg.): Lectures et interprétations des Essais de Théodicée de G. W. Leibniz (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 40), Stuttgart 2011, S. 211–230.

Die rationalistische Reduktion des physischen Übels bei Leibniz

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„Mais par rapport à Dieu, rien n’est douteux, rien ne sauroit être opposé à la regle du meilleur, qui ne souffre aucune exception ny dispense. Et c’est dans ce sens que Dieu permet le peché […]“6.

Für Gott gibt es in seinem Handeln einzig und allein die Regel des Besten; diese stellt den Rahmen bei der Ausübung seiner absoluten Macht dar: „Il est vray que Dieu est infiniment puissant; mais sa puissance est indeterminée, la bonté et la sagesse jointes la determinent à produire le meilleur“7.

Die „absolute“ Macht Gottes wird bestimmt durch seine Weisheit und seine Güte, die eigene unantastbare Gesetze aufweisen. Leibniz bestätigt sogar, dass Gott seine Weisheit, seine Güte und seine Vollkommenheit genau der Tatsache verdankt, dass er sich in seinem Handeln nach dem Gesamtresultat seines Strebens, nach dem Guten richtet und sich an der Wahl des absolut Besten hält: „Car il manquerait à ce qu’il se doit, à ce qu’il doit à sa sagesse, à sa bonté, à sa perfection, s’il ne suivait pas le grand resultat de toutes ses tendences au bien, et s’il ne choisissait pas ce qui est absolument le meilleur“8.

Wenn Gott nicht das „absolut, und in allen Bereichen Beste“ auswählen würde, wäre das ein weit schlimmeres Übel als jedwedes Andere, das mit dieser „üblen“ Wahl vermieden werden könnte, was seiner Weisheit und Güte widerspräche9. Hierin besteht die Verbindung zwischen einem allmächtigen Gott und der unleugbaren Existenz des Übels. Das Prinzip des Besten ist das Gesetz, das einerseits Gott „verpflichtet“ und andererseits dazu führt, dass das Übel unter die Vorherrschaft der Vernunft gebracht werden kann. Aber der Preis dieser Verbindung ist die Schlussfolgerung, dass „la supreme raison l’oblige [à Dieu] de permettre le mal“10. Warum zwingt das Rationalprinzip des Besten dazu, das Übel zuzulassen? Welche Art von Vernunft ist diese, die die Existenz des Übels verlangt? Zunächst muss das im absoluten Sinne Beste von dem im relativen Sinne Besten unterschieden werden. Der Wille Gottes erfordert vorab das Gute („in sich“11, absolut); der wahrhaft exekutive Wille jedoch, welcher der konsequente Wille ist, hat das (möglichst) Beste zum Ziel. Und darin liegt einer der Schlüssel zum Verständnis dieses Problems. Die göttliche Wahl des Besten spielt sich nicht außerhalb eines jeden Kontextes ab, sondern innerhalb eines Rahmens von bestimmten Umständen. Welche Umstände sind es, die bei Gottes Ermittlung des Besten in jedem Einzelfall zusammentreffen? Es gibt zwei Arten von Elementen, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen: Einerseits gibt es unverletzbare Regeln, die befolgt werden müssen (logisch-rationale Prinzipien); andererseits die Struktur der Welt, 6 7 8 9 10 11

Essais de Théodicée, I. Teil, § 25; GP VI, 117. Essais de Théodicée, II. Teil, §130; GP VI, 183. Essais de Théodicée, I. Teil, § 25; GP VI, 117. Vgl. II. Teil, § 129; GP VI, 182. Ebd. Essais de Théodicée, I. Teil, § 25; GP VI, 117.

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eine derer Komponenten der Mensch ist. Beide Arten von Elementen „bedingen“ alle Lebewesen, sowohl Gott als auch den Menschen und alle anderen Kreaturen, real oder möglich. Das bedeutet, dass eingeräumt werden muss, dass es Grenzen gibt, die das Wesen des „Allmächtigen“ nicht überschreiten kann, oder direkter gesagt, es gibt Dinge, die das Wesen des Allmächtigen nicht kann. Leibniz selbst gibt Beispiele in der Theodizee: „Il faut dire qu’il implique contradiction de faire quelque chose qui surpasse en bonté le meilleur même. Ce seroit comme si quelcun pretendoit que Dieu pût mener d’un point à un autre une ligne plus court que la ligne droite, et accusoit ceux qui le nient, de renverser l’article de la foy, suivant lequel nous croyons en Dieu le Pere tout puissant“12.

Das heißt, dass Gott nicht über die Prinzipien der Vernunft hinweg (oder gegen sie) handeln kann, und dies ist vereinbar mit seiner Allmächtigkeit und mit der Tatsache, dass er die bestmögliche Entscheidung getroffen hatte, als er diese Welt und nicht eine andere schuf. Selbstverständlich ist auch der Mensch diesen Prinzipien der Vernunft unterworfen, nicht in dem Sinne, dass das Irrationale unmöglich wäre, sondern in dem Sinne, dass es formal nicht möglich ist, und in Wirklichkeit ist das auch so. Somit haben wir einen ersten Umriss des Rahmens, in dem die Wahl dieser Welt als beste aller möglichen stattfindet. Das andere der Elemente, welche den gesamten Rahmen dieser Handlung ausmachen, ist die Struktur der Welt, oder anders gesagt, die Natur der Dinge. Erstens, eine der Annahmen von Leibniz ist die Korrespondenz zwischen der ontologischen und der gnoseologischen Ebene. Das impliziert für unsere Fragestellung, dass die Gesetze, welche die Ereignisse in der Welt bestimmen, auch auf irgendeine Weise Gesetze der Welt sind. Das heißt, dass die Welt und die Regeln, nach denen sie sich richtet, nicht zwei äußere Elemente sind. Die Gesetze sind ein Teil der Welt, wie auch P. Rateau beobachtet hat, und daraus zieht er den Schluss, dass es die beste aller möglichen Welten ist in Anbetracht der Gesetze, die sie bestimmen. Das Beste ist das bestmögliche Gute „à partir de certaines conditions et des moyens doneés“13. Das bestmögliche Gute ist die größtmögliche Menge der Realität, des Vergnügens und des Seins, das heißt, die ontologisch stärkste Kombination. Zweitens, auf derselben ontologischen Ebene der existierenden Lebewesen gibt es eines, welches alle spezifischen Eigenschaften vereint, welche in diesem Kontext relevant sind: den Menschen. Der Mensch ist so geartet, dass „si Dieu l’avait fait sans passions, il l’auroit fait stupide; et s’il l’avait voulu faire sans erreur, il aurait fallu le priver des sens, ou le faire sentir autrement que par les organes, c’est à dire, il n’y aurait pas eu d’homme“14.

12 Essais de Théodicée, II. Teil, § 25; GP VI, 252. 13 Vgl. P. Rateau: „La question du mal chez Malebranche et Leibniz: théosophie vs. Théodicée“, in: A. Grandjean (Hrsg.): Théodicées, Hildesheim – New York 2010, S. 103. 14 Essais de Théodicée, Remarques sur le livre de l’origine du mal, § 11; GP VI, 410.

Die rationalistische Reduktion des physischen Übels bei Leibniz

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Eine bestimmte Art des (sensiblen) Bewusstseins, Leidenschaften und Fehler etc. sind die grundlegende Handlung der menschlichen Wirklichkeit. „L’ignorance, l’erreur et la malice se suivent naturellement dans les animaux faits comme nous sommes“15. Bosheit und Irrtum sind möglich dank der Freiheit. Bereits im Untertitel seines Werkes (Theodizee) vereint Leibniz Freiheit und Übel. Die Freiheit des Menschen ist ein grundlegender und spezifischer Wesenszug dieser Art von Tier, das der Mensch ist. Dies ist die „Materie“, die diese Art von Wirklichkeit darstellt und darauf zu verzichten heißt, von einer anderen Art des Seins zu sprechen, die nicht die menschliche ist. Dieses „Material“ (unverletzlich logisch-rationale Struktur und Konstitution der natürlichen Wirklichkeit und der freien menschlich Wirklichkeit) als Ausgangspunkt betrachtend, hat Gott das Beste getan, was er tun konnte, er hat die beste Zusammensetzung gewählt und dabei die alle gegebenen Umstände berücksichtigt, besonders die menschliche Freiheit. In diesem Sinne soll die These, dass diese Welt die beste aller möglichen Welten ist, verstanden werden. In Anbetracht der Umstände, der Bedingungen, unter denen die Bewertung, der Vergleich und die Entscheidung stattgefunden haben, war dies die bestmögliche Wahl. Daher muss die beste aller möglichen Welten relativ und nicht absolut verstanden werden16. Mit anderen „Materialien“ und anderen Spielregeln hätte die Wahl anders ausfallen können. Bei diesen Spielregeln ist dies die bestmögliche aller möglichen Welten. Diese Relativierung des Wertes dieser Welt als beste öffnet die Türen zu sukzessiven Bewertungen und Wahlen, öffnet die Türen zu einer möglichen Verbesserung der erreichten Bedingungen, öffnet letzten Endes die Türen zu einem historischen Sinn der Wahrnehmung der Wirklichkeit17. Vor diesem Hintergrund spielt sich die göttliche Handlung ab, eine Welt zu wählen. Von einem methodischen Standpunkt aus betrachtet, hat diese Wahl zwei Charakteristika: Totalität und Kalkulierbarkeit18. Die erstere bedeutet, dass Leibniz die Erkenntnisperspektive einer Einheitswelt einnimmt, gemäß dem Prinzip „tout est lié“, es gibt keine unabhängigen Parteien sondern alles ist mit allem verbunden, die Welt ist „tout d’une pièce“19. Dies impliziert, dass die Individualität 15 Essais de Théodicée, II. Teil, § 155; GP VI, 202. 16 P. Rateau spricht von „superlatif relatif“; vgl. Rateau: „La question du mal chez Malebranche“, S. 103–105. 17 Diese Schlussfolgerung ist dem leibnizschen Geist nicht fremd. Vgl. J. A. Nicolás: „La rationalité morale du monde chez Leibniz“, in: A. Heinekamp/A. Robinet (Hrsg.): Leibniz: le meilleur des mondes (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 21), Stuttgart 1992, S. 163–168. Die Idee der „bestmöglichen Welt“ impliziert nicht, dass diese ein für allemal so erschaffen wurde, sondern dass die Aktivität der Monaden einen Selbstentfaltungsprozess darstellt auf die Weise, dass sich die gegebene Welt verbessern kann. Es besteht die Möglichkeit zu denken, im Rahmen des leibnizschen Denkens, dass in einem anderen Leben (dem ewigen Leben?) sich die Gerechtigkeit für jedes Individuum wiederherstellt. Dieser Gedankengang ist nach dem Aufklärungsprozess der Säkularisierung undurchführbar geworden. Auf jeden Fall greift Leibniz in der Theodizee nicht auf dieses Argument zurück. 18 Vgl. Nicolás: „Le mal comme limite du principe de raison“. 19 Essais de Théodicée, I. Teil, § 9; GP VI, 107.

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eine Funktion der Totalität, der Gesamtheit ist. Die zweite Charakteristik ist die der Vernunft. So wie sie Leibniz auf die Analyse des Übels anwendet, bedeutet sie, dass unter verschiedenen formalen, in der göttlichen Vorstellung vorhandenen Möglichkeiten die ausgewählt werden muss, die sich schließlich als die beste herausstellt. Die beste Möglichkeit ist nicht die, die nur Gutes enthält, da selbst die Beste einen gewissen Anteil an unvermeidbarem Übel enthalten muss. „Et comme cette region immense des Verités contient toutes les possibilités, il faut qu’il y ait une infinité de mondes possibles, que le mal entre dans plussieurs d’entr’eux, et que même le meilleur de tous en renferme; c’est ce qui a determiné Dieu à permettre le mal“20.

Die erste Wahl ist nicht ohne Weiteres die gute, sondern die bestmögliche. Es geht also darum, zu vergleichen, nicht absolut betrachtet, sondern relativ, um Proportionalität, damit diejenige Zusammensetzung ausfindig gemacht werden kann, die das größte Maß an Gutem enthält, zum Preis eines geringen Maßes an Übel. Diese Zusammensetzung wäre die lohnendste und damit die beste. Rationale Wahl oder schlicht Rationalität bedeutet Vergleich, Proportionalität, Rentabilität, Kalkül, und das ist der in der Theodizee hervorgehobene Aspekt21. Diese Argumentationsweise ist explizit in den Leibniz’schen Texten vertreten: „Les voies de Dieu sont les plus simples et les plus uniformes: c’est qu’il choisit des regles, qui se limitent le moins les unes les autres. Elles sont aussi les plus fecondes par rapport à la simplicité des voies. C’est comme si l’on disoit qu’une maison a eté la meilleure qu’on ait pu faire avec la meme depense. On peut meme reduire ces deux conditions, la simplicité et la fecondité, à un seul avantage, qui est de produire le plus de perfection qu’il est possible“22.

Das ist der methodisch-ontologische Hintergrund, auf dem Leibniz die Analyse angeht: Umfassen und Eingliedern des physischen Übels.

III. LEIBNIZ’SCHE ANALYSE DES PHYSISCHEN ÜBELS Wie hinlänglich bekannt, unterscheidet Leibniz zwischen dem metaphysischen Übel, dem physischen Übel und dem moralischen Übel. Das metaphysische Übel ist die Unvollkommenheit („imperfection“) und grundlegende Begrenztheit der menschlichen Wirklichkeit, das physische Übel ist das Leiden („souffrance“), und das moralische Übel ist die Sünde („peché“)23. Wir werden uns darauf konzentrieren, Leibniz’ Umgang mit dem physischen Übel zu analysieren. Es stellt sich die Frage, ob das für das Übel im Allgemeinen oder für die anderen Arten des Übels Gesagte sich auch auf das Leiden oder das physische Übel anwenden lässt. Die Antwort ist, dass dies nicht immer der Fall ist, und das bedeutet, dass spezifische Eigenschaften für diese Art des Übels festgelegt werden müssen. Letztlich geht es

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Essais de Théodicée, I. Teil, § 21; GP VI, 115. Für eine detaillierte Analyse der Bedeutung „das Beste“ siehe Nicolás: „La rationalité morale“. Essais de Théodicée, II. Teil, § 208; GP VI, 241. Essais de Théodicée, I. Teil, § 21; GP VI, 115.

Die rationalistische Reduktion des physischen Übels bei Leibniz

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darum, dass die Konzeption und die Behandlung des Leidens, die Leibniz in der Theodizee vornimmt, einer kritischen Analyse unterzogen werden müssen. Der Ausgangspunkt, den wir für unsere Rekonstruktion einnehmen, ist die Tatsache, dass das physische Übel existiert, die Leibniz als unleugbar anerkennt: „on ne sauroit nier, qu’il y a dans le monde du mal physique (c’est à dire des souffrances)“24. Es geht um eine Gegebenheit auf der Welt, derer Leibniz sich annehmen und für die er irgendeine Art von Erklärung oder „Rechtfertigung“ bieten muss. Was versteht Leibniz unter „physischem Übel“? Im vorangegangenen Zitat drückt er es klar aus: Das physische Übel ist das menschliche Leid25. In anderen Passagen der Theodizee legt er den Inhalt des physischen Übels etwas genauer dar: „Nous convenons que le mal physique n’est autre chose que le deplaisir, et je comprens là dessous la douleur, le chagrin, et toute autre sorte d’incommodité“26.

Jede Art von Schmerz, Leid, Kummer, Beschwerlichkeiten und Unbehagen gehen in das physische Übel mit ein. Aber das bedeutet nicht, dass das ‚physische Gut‘ in reinem Vergnügen besteht und frei von Einschränkungen ist. Es geht vielmehr um ein Gleichgewicht, bei dem all jenes, was zusammenkommt, ein Gut darstellt, ohne hinterfragt zu werden. Es gibt physische Güter, die selbst kein Vergnügen bereiten, aber deren Abwesenheit ein großes Übel hervorruft, zum Beispiel die Gesundheit. Das ist das Zeichen dafür, dass sie ein physisches Gut darstellen. Was ist die Ursache für das physische Übel? Sein unmittelbarer Ursprung ist das moralische Übel oder die Sünde: „[Le mal moral] est une source de maux physiques“27. So dass man im Grunde genommen einen Verantwortungsbezug herstellen könnte, zwischen physischen Übel und den Menschen, die darunter leiden. Auf diese Weise würde man in die menschliche Welt eine Art von Gerechtigkeit einführen, bei der jeder Einzelne die Übel schultern müsste, die er verdient. Aber die elementarste Erfahrung widerspricht dieser Hypothese, und Leibniz ist sich dessen voll und ganz bewusst. Das Leid entspricht nicht immer den Sünden, weder im Ausmaß noch in der Schwere, zumindest vom individuellen Standpunkt aus:

24 Essais de Théodicée, Discours préliminaire, § 43; GP VI, 75. 25 Leibniz schließt in das physische Übel den Schmerz und das Leid der Tiere mit ein, obwohl es bezüglich der Menschen nuanciert wird, weil jene über keine Reflektion verfügen. Deswegen sagt Leibniz in Causa dei, einem Anhang der Theodizee: „[Bonum et Malum] Physicum accipitur speciatim de substantiarum intelligentium commodis et incommodis, quo pertinet Malum poenae“ („Das physische [Gute und Übel] betreffen im Allgemeinen das Wohlbefinden und Unwohlsein aller intelligenten Substanzen und darauf bezieht sich das Übel des Leidens“). GP VI, 443. 26 Essais de Théodicée, III. Teil, § 251; GP VI, 266. 27 Essais de Théodicée, I. Teil, § 26; GP VI, 118. Vgl. auch ebd., III. Teil, § 378; GP VI, 340.

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Juan A. Nicolás „Le mal physique n’est pas toujours distribué icy bas suivant la proportion du mal moral, comme il semble que la justice le demande […] comment il [Dieu] a pu se resoudre à rendre souvent les mechans heureux et les bons malhereux?“28.

Demnach müssen der tatsächliche, wahre Ursprung, die Erklärung und die Rechtfertigung des physischen Übels auf anderem Wege gesucht werden. Um einen anderen Weg der Rechtfertigung zu erkunden, nimmt Leibniz nicht die Perspektive des Individuums, sondern die der Totalität an. Die Perspektive absoluter Rationalität (nur für Gott erreichbar) erlaubt das Verständnis der Totalität der Welt und ihrer inneren Zusammenhänge. Von diesem Blickwinkel aus ist es möglich, zu verstehen, dass sowohl das physische als auch das moralische Übel Möglichkeiten sind, die durch das metaphysische Gut gefordert werden, darin inbegriffen fast alle realen Wesen, einschließlich der nicht rationalen. Das Gut der Totalität erfordert bestimmte Teilübel, aber die Gesamtbilanz ist laut Leibniz positiv: „Le bien metaphysique qui comprend tout, est cause qu’il faut donner place quelques fois au mal physique et au mal moral“29. Die Gesamtheit aller Güter stellt die Perfektion des bestmöglichen Plans dar, was ein gewisses Maß an Übel beinhaltet. Daraus resultierend, und aus der Tatsache, dass Gott der „Verantwortliche“ ist bei der Wahl der Zusammensetzung, die als bestmögliche bestimmt wurde, kann Leibniz schlussfolgern: „Dieu est l’auteur du mal physique“30. Dies muss so verstanden werden, als dass Gott das physische Übel als Konsequenz in Kauf genommen hat durch die Billigung des moralischen Übels, „welches sein Ursprung ist“. Und diese Billigung des moralischen Übels, in Form der Sünde, entspricht der freiheitlichen Verfassung des Menschen. Im Rahmen der Totalität, in dem Gott das physische Übel zulässt, wird dieses also zu einem Mittel zur Ausführung des bestmöglichen Plans: „Dieu veut […] le mal physique quelques fois comme un moyen“31. Aufgrund des Prinzips der Zweckmäßigkeit erlaubt Gott hin und wieder ein gewisses Übel als Mittel zur Erreichung eines höheren Guts, obwohl das höchste Ziel weiterhin das Beste ist. Es handelt sich um eine „Strategie“ der Vernunft, an der das metaphysische Übel und das physische Übel teilhaben, aber nie das moralische Übel. Dieses hat nie das Wesen eines Mittels, da die Verantwortlichkeit dafür ausschließlich dem Menschen zu eigen ist, das heißt, eine Sünde kann nie mit dem Ziel, ein höheres Gut zu erreichen, gerechtfertigt werden:

28 Essais de Théodicée, Discours préliminaire, § 43; GP VI, 75. Im Zusammenhang mit Causa Dei wiederholt Leibniz: „Das physische Gute und Übel sind nicht gemäß dem moralischen Gut und Übel verteilt, das heißt, dass das Übel die Guten und das Gute die Übeln erreicht“ [Bona malaque physica non sunt distributa secundum bona malaque moralia, seu quod saepe bonis est male, malis est bene“]. GP VI, 446. 29 Essais de Théodicée, II. Teil, § 209; GP VI, 242. 30 Essais de Théodicée, III. Teil, § 378; GP VI, 340. 31 Essais de Théodicée, I. Teil, § 25; GP VI, 117.

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„Mala Metaphysica et Physica (veluti imperfectiones in rebus, et mala poenae in personis) interdum fiunt bona subsidiaria, tanquam media ad majora bona. At Malum morale seu malum culpae nunquam rationem medii habet, neque enim facienda sunt mala, ut eveniant bona“32.

Leibniz vervollständigt diesen Ansatz durch die Ansicht, dass die physischen Übel einerseits unvermeidbar sind (im Kombinationsspiel der Möglichkeiten) und nützlich (zur Steigerung des Glücks und der endgültigen Erreichung des Guts), und andererseits werden alle Übel, in einem künftigen Leben, umfassend ausgeglichen werden. Sogar de facto, „l’auteur de la nature a compensé ces maux et autres qui n’arrivent que rarement, par mille commodités ordinaires et continuelles“33. Diese Kompensation findet also statt, wenn man das Gesamte betrachtet, die Totalität, aber nicht aus der Sicht des Einzelnen. Leibniz erkennt an, dass „malum physicum hoc sensu a morali oriri solet, etsi non semper in iisdem subjectis“34, das heißt, dass das von einigen verursachte (moralische) Übel manchmal durch physisches Übel bei anderen kompensiert wird. Und das Übel wird im Gesamtzusammenhang ebenfalls durch andere höhere Güter kompensiert, die von anderen Subjekten hervorgerufen oder genossen werden: „Nam tanta esse potest beatorum per divinam visionem gloria, ut mala damnatorum omnium comparari huic bono non possint“35.

Das Endergebnis der Summe mit unterschiedlichem Vorzeichen, das heißt die Bilanz zwischen Gut und Übel tendiert zum Ersteren36. Auf diesem Weg kommt Leibniz schließlich an den Punkt, an dem er feststellt, dass, trotz der Tatsache, dass einige für andere aufkommen, dies wie eine Irrung erscheint: „haec tamen quae videri possit aberratio cum fructu corrigitur, ut innocentes nollent passi non esse“37. Soweit die Rekonstruktion des Leibniz’schen Umgangs mit dem physischen Übel in der Theodizee. Leibniz beschreitet den Weg, das Individuum der Gemein32 „Das metaphysische und physische Übel als Imperfektionen in den Dingen und das Übel des Leidens der Menschen können manchmal zu einem unterstützenden Guten werden, als Mittel für ein höheres Gutes. Das moralische Übel allerdings, das Übel der Schuld, wird nie den Wert eines Mittels annehmen, weil man Übel verrichten muss um das Gute zu verfolgen“. GP VI, 444. 33 Essais de Théodicée, Remarques sur le livre de l’origine du mal, § 10; GP VI, 409. 34 „Das physische Übel entsteht meist aus dem moralischen Übel, obwohl dies nicht immer für dieselben Personen der Fall ist“. GP VI, 443. 35 „Das Himmelreich der Glücklichen durch die göttliche Vision kann so groß sein, dass alles Übel der Verdammten sich nicht mit diesem Gut vergleichen lässt“. Ebd., 447. 36 „Même en cette vie les biens surpassent les maux, nos commodités surpassent nos incommodités“. Essais de Théodicée, III. Teil, § 251; GP VI, 266–267. 37 „Haec tamen quae videri possit aberratio cum fructu corrigitur, ut innocentes nollent passi non esse“ („Trotz diesem Punkt, der unsinnig erscheinen kann, korrigiert sich dies zum Guten bis zu dem Punkt, dass die Unschuldigen ihr Leiden nicht rückgängig machen wollen“). GP VI, 443.

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schaft, der Totalität, zu unterwerfen, was bei diesem Begründer der Individualmetaphysik, der Monadologie doch recht erstaunlich ist.

IV. REDUKTIONISTISCHER CHARAKTER DER LEIBNIZ’SCHEN ANALYSE DES PHYSISCHEN ÜBELS Es gibt Aspekte dieser komplexen Gegebenheit des physischen Übels (Leiden), die nicht genug Eingang in die Leibniz’sche Analyse der Theodizee gefunden haben. Da diese Aspekte aus verschiedenen Gesichtspunkten wichtig sind – einige von ihnen sind sogar grundlegend für die gesamte Wirklichkeit dieser Gegebenheit – kann man sagen, dass die Darstellung der Gegebenheit des physischen Übels reduktionistisch ist. Man kann mindestens vier wichtige Aspekte aufzeigen, die Leibniz nicht in seine Analyse aufnimmt, oder zumindest hebt er sie nicht ausreichend hervor. Diese Aspekte sind zweierlei Art: solche, die Leibniz in seiner Analyse übergeht, weil sie ihn nicht interessieren und solche, die unterdrückt werden, obwohl Leibniz diesen Aspekt teilweise in seine Analyse aufnimmt. Somit gibt es also Reduktion durch Auslassung und Reduktion durch Unterdrückung.

IV.1. Reduktion durch Auslassung Es handelt sich um grundlegende Aspekte der Ursache des Leids, die in der Analyse von Leibniz fehlen. Hierbei können zwei Arten der Reduktion aufgenommen werden: a) Dimensionale Reduktion. Das Leiden ist eine multidimensionale Tatsache. Unter anderem hat es eine physische Dimension (es kann den Körper physisch zerstören), eine psychologische Dimension (es beeinflusst die Art, auf der Welt zu sein) und eine anthropologische Dimension38 (es betrifft den Sinn des Lebens), eine ethische und politische Dimension (grandiose Ungerechtigkeit wegen der Aufspaltung in die, die das Übel verursachen und die, die es erleiden), und sogar eine ästhetische Dimension39 (der Schmerz ist häufig Kunstobjekt, manchmal schlicht zur Repräsentation und andere Male zur Anklage). Keine dieser Dimensionen spielt eine relevante Rolle in der Diskussion, die Leibniz in der Theodizee erarbeitet. b) Experientielle Reduktion. Leibniz macht in der Theodizee das Übel zu einem weiteren Objekt philosophischer Reflektion. Es gibt einen Prozess der Rationalisierung (die als Konzeptualisierung aufgefasst wird), aufgrund dessen er das 38 Vgl. G. Amengual: „El mal: problema antropológico y su pluridimensionalidad“, in: I. Murillo (Hrsg.): Fronteras de la filosofía de cara al siglo XXI, Diálogo Filosófico, Madrid 2000, S. 53–70. Vgl. auch X. Zubiri: „El problema del mal“, in: Ders.: Sobre el sentimiento y la volición, Madrid 1992, S. 195–320. 39 Vgl. F. Cardona: „Dolor en la armonía. Un debate en torno a la justificación leibniziana del sufrimiento humano“, in: Nova Leibniz, Granada (im Druck).

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Problem des Übels auf die gleiche Art und Weise angeht, wie er es mit Dreiecken oder Reisen tut. Bei dieser Analyse des Leidens bleibt außen vor, was dieses für den, der es erleidet, in Form einer tiefgehenden Erfahrung und Selbstfindung und veränderter Wahrnehmung der Anderen mit sich bringt. Geteiltes Leid vereint: mit anderen Gruppen und – manchmal – mit der Menschheit. Dieser Erfahrungscharakter wird schlichtweg nicht in der Theodizee beleuchtet.

IV.2. Reduktion durch Unterdrückung Diese Art der Reduktion bezieht sich auf Aspekte der Ursache des physischen Übels, die Inhalt der Betrachtung bei Leibniz sind, deren Abhandlung sich jedoch als einseitig erweist. Hier folgen nun zwei Fälle einer Reduktion dieser Art: a) Quantitative Reduktion. Das Übel als Problemstellung wird allgemein quantifiziert (aufgrund einer Auffassung von Vernunft als Kalkül), die vom Standpunkt der Totalität der menschlichen Gattung aus eine inakzeptable generelle Rechtfertigung des Übels darstellt. Das Leiden (physisches Übel) ist eine sowohl individuelle als auch kollektive Erfahrung. Und diese Erfahrung hat eine qualitative Dimension, die sich nicht auf ein perfektes kombinatorisches Kalkül beschränken kann, um die aus dem Standpunkt der Totalität bestmögliche Zusammensetzung zu erzielen. Diese qualitativ-experientielle Dimension ist ein beträchtliches Defizit in der Leibniz’schen Analyse des Leidens als physisches Übel. b) Abstraktive Reduktion. Die vielleicht bedeutendste Reduktion, der Leibniz die Analyse des Leidens unterzieht, ist die untergeordnet des individuellen Standpunkts. Für einen Gegenstand wie diesen ist die Individualperspektive unverzichtbar (was nicht die Möglichkeit zu kollektivem Leiden ausschließt). Jedes Individuum ist ein anderes, spezifisches Opfer des Leidens und jeder Einzelne leidet auf seine Art. Aber Leibniz ordnet bei dieser Problemstellung das Subjekt der Allgemeinheit unter. Individuelles Leiden kann jedoch nicht in vollem Umfang mit dem Wohlbefinden anderer oder der gesamten Gemeinschaft kompensiert werden. Leibniz verfügte über das Instrument seiner monadologischen Metaphysik (irreduzible individuelle Verschiedenheit), um es auf die Analyse des Leidens anzuwenden, aber er tat es nicht. Aus diesem Grund handelt es sich nicht nur um ein Fehlen (Auslassung), sondern um eine aktive Unterdrückung.

JOACHIM BÖLDICKE − THEODIZEE UND NARRATIVITÄT Martin A. Völker (Berlin)

Am 10. Mai 1746 trägt Johann Christoph Gottsched (1700–1766) in der Leipziger Paulinerbibliothek anlässlich des einhundertsten Geburtstages von Leibniz eine Ode zum Andenken an den großen Sohn der Stadt vor1. Er stellt darin den Gefeierten als modernen Herkules dar, der die Hydra der Blasphemie und des Skeptizismus tödlich verwundet und besiegt hätte2. Zwei Jahre zuvor hatte Gottsched Leibniz’ Theodicee in der verbesserten deutschen Übersetzung herausgegeben, „Seiner Königlichen Hoheit“3 zugeeignet, und in der Ode weist er auf die Verbindung zwischen aufklärischer Gelehrsamkeit und Politik hin: „Wo kann das Wissen schöner blühen, / Als wo die Fürsten selbst sich um sein Wohl bemühen?“4 Gottsched vermittelt den Eindruck, als bedrohten die Gegner von Leibniz die gesellschaftliche Ordnung, als würde der siegreiche Gelehrte, der das Motto „Sapere

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[J. Chr. Gottsched:] Ode zum Andenken des 1646. den 23. Jun. und also fast vor hundert Jahren hier in Leipzig gebohrnen Freyherrn Gottfried Wilhelms von Leibnitz, einer ewigen Zierde von Deutschland und Sachsen, welche gleichfalls in hoher Gegenwart Ihrer Königlichen Hoheiten beyder ältesten Durchlauchtigsten Chursächsichen Prinzen, auf der Paulinerbibliothek zu Leipzig 1746 den 10 May vorgelesen worden, von Johann Christoph Gottscheden. [Leipzig 1746]. Siehe ders.: Ausgewählte Werke, 1. Bd.: Gedichte und Gedichtübertragungen, hrsg. v. Joachim Birke, Berlin 1968, S. 188–203. Vgl. Ode zum Andenken, S. 45–46. Ebd., S. 48: „Durchlauchtster Churprinz! hat sein [Leibniz’] Werk ** / Nicht seit zwey Jahren schon auch Deinen Schutz erlanget? / Seit es mit Deinem Namen pranget / Ward es der klügsten Augenmerk“. In der Fußnote ** heißt es: „Die leibnitzische Theodicee ist 1744. auf erhaltene hohe Genehmhaltung, Seiner Königlichen Hoheit, in der verbesserten deutschen Uebersetzung, unterthänigst zugeeignet worden“. Vgl. hierzu die Zueignung bei G. W. Leibniz: Theodicee, das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freyheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen, bey dieser vierten Ausgabe durchgehends verbessert, auch mit verschiedenen Zusätzen und Anmerkungen vermehrt von Johann Christoph Gottscheden, Ordentl. Lehrer der Weltweish. zu Leipzig. Statt einer Einleitung ist die Fontenellische Lobschrift auf den Herrn von Leibnitz von neuem übersetzt, Hannover – Leipzig 1744: „Sr. Königl. Hoheit, dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friedrich Christian, Königlichen Prinzen in Pohlen, Chur- und Erbprinzen zu Sachsen, Zu Jülich, Cleve, Berg, auch Engern und Westphalen Herzoge, Landgrafen zu Thüringen, Marggrafen zu Meißen, auch Ober- und Niederlausitz, gefürsteten Grafen zu Henneberg […]“. Gottsched: Ode, S. 48.

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aude“5 praktiziert habe, mit seiner Philosophie dazu beitragen, den politischen Status quo zu erhalten. Gottscheds kriegerische Rhetorik reagiert auf die vorher laut gewordene Kritik an Leibniz und den Kernaussagen seiner Theodicee. U. a. erscheint 1744 die Abhandlung Philosophische Gedancken, über die Frage: Ob die gegenwärtige Welt die beste sey?6 Der anonyme Verfasser, der sich als Liebhaber der Wahrheit bezeichnet, erblickt in Leibniz den Erfinder der Rede von der besten Welt7 und hält ihm vor, dass es unbegreiflich wäre, wenn Gott das Böse zur Beförderung guter Absichten benötigte. Leibniz sage, bemerkt der Anonymus, man müsse „nicht auf eintzele Fälle, sondern auf den Zusammenhang der gantzen Welt sehen. Aber wir können ja den gantzen Zusammenhang der Welt nicht einsehen, also fehlt uns abermahl eine deutliche Erkenntniß. Er [Leibniz] beruft sich auf das viele Gute, welches vielleicht in andern Planeten anzutreffen ist. Aber wir haben davon noch weniger Erkenntniß. Und so scheint es allerdings, daß die Meynung des Herrn von Leibnitz so grossen Nutzen nicht habe, weil sie den Zweck, warum er sie angenommen, nicht erreichet, und Baylens Einwürffe nicht genug entkräfftet“8.

Die Philosophische[n] Gedancken verfestigen den Eindruck, als ginge die Verteidigung Gottes mehr und mehr in eine erbitterte Verteidigung von Leibniz selbst über. Der Anonymus stellt fest: „Ja es scheint, daß die Nachfolger des Herrn von Leibnitz seine erste Absicht gar vergessen, und die beste Welt nur deswegen vertheidiget, damit sie Leibnitzen vertheidigen möchten“9. In dieser aufgeheizten Situation veröffentlicht pünktlich zum LeibnizJubiläum des Jahres 1746 ein gewisser Joachim Böldicke (1704−1757) seinen

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Ebd., Fußnote *: „Sapere aude, ist der Wahlspruch, der von Seiner Excellenz dem Herrn Grafen von Manteufel 1736. und also 20 Jahre nach Leibnitzens Tode gestifteten Alethophilischen Gesellschaft“. Die Fußnote bezieht sich auf S. 46: „Trägt nicht der Pallas Helm dein [Leibniz] Bild, / Die unlängst das Panier von dem berühmten Orden, / Der Wahrheitliebenden geworden, / Und jedes Glied mit Muth erfüllt? / Erkühnt euch, ruft sie, klug zu seyn! / O mehr als güldnes Wort, das vom Horaz entsprungen, / Doch itzt noch tiefer eingedrungen, / Seit edle Geister sich der Wahrheitliebe weihn; / Seit uns ein großer Graf will treiben, / Mit Eifer nachzusehn, was Wolf und Leibnitz schreiben“. Philosophische Gedancken, über die Frage: Ob die gegenwärtige Welt die beste sey? entworffen von einem Liebhaber der Wahrheit, Franckfurth – Leipzig 1744. Vgl. ebd., S. 6: „Man muß unstreitig den Nutzen einer Sache nach der Absicht beurtheilen, warum sie da ist. Eine Meinung, die also gantz neu erfunden, oder doch auf eine gantz neue Art angenommen und vertheidiget worden, ist nur so fern vor nützlich zu halten, als sie hinlänglich ist, die Absicht zu erreichen, um welcher willen man sie angenommen. Es ist bekannt, daß die Meinung von der besten Welt ihre Aufnahme vornehmlich dem Herrn von Leibnitz zu dancken hat. Dieser hat sie, wo nicht zuerst erfunden, doch gewiß in ein solches Licht zu setzen gesuchet, daß man ihm nicht zu viel Ehre anthun werde, wenn man ihn den Erfinder derselben nennen wolte. Seine Absicht war nicht zu tadeln. Er wolte den so scheinbaren Einwürffen des berühmten Bayle begegnen, und einen Stein des Anstoses aus dem Grunde heben, darüber so viele gefallen waren, die weiter sehen, und dencken wollen als andere“. Ebd., S. 12–13. Ebd., S. 13.

Joachim Böldicke – Theodizee und Narrativität

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Abermaligen Versuch Einer Theodicee10 im Verlag von Haude und Spener. Nicht allein innerhalb der Leibniz-Forschung ist er heute nahezu unbekannt: Böldicke wird am 3. Mai 1704 in Plänitz bei Kyritz in der Prignitz (Brandenburg) als Sohn eines Pfarrers geboren. Nach seinem Theologiestudium, das ihn nach Jena und Halle führt, übernimmt er 1732 das Rektorat der Schule in Königsberg in der ostbrandenburgischen Neumark. 1743 wird er Diakon an der St. Nikolai-Kirche in Spandau bei Berlin. Dort verstärkt er seine philosophisch-schriftstellerischen Aktivitäten, die ihn u. a. mit Leonhard Euler (1707–1783) in Verbindung bringen11. Böldicke widmet seine Theodicee Sophia (Sophie) Dorothea von Preußen (1687– 1757), der Mutter Friedrichs des II., weil „der Leibnitzischen Theodicee […] zu einem besondern Ruhm gereichet, daß der ersten Königinn in Preussen Majestät [nämlich Sophie Charlotte Königin in Preußen (1668–1705)] dieselbe durch Ihr Anrathen veranlasset hat“12. Als Dank erhält er „ein paar schöne silberne Leuchter“13. Ungeachtet dieser aufmunternden Geste erntet Böldicke großen Widerspruch seitens wichtiger Persönlichkeiten der Zeit: Der Superintendent des Fürstentums Minden, Nicolaus Friedrich Herbst (1705–1772), veröffentlicht 1747, 1750 und 1755 drei Bände, die sich kritisch mit Böldickes Schrift und mit dem dort thematisierten Ursprung des Bösen und mit der Freiheit des Willens befassen14. Der Rektor des Johanneums in Hamburg, Johann Samuel Müller (1701– 1773), ein späterer Freund Lessings, legt 1747 seine Bescheidene Prüfung des abermahligen Versuchs einer Theodicee vor, in der er sich mit Böldickes These, die Lehre von der ewigen Verdammnis sei der Vernunft begreiflich, auseinandersetzt, und die als Sendschreiben an den Theologen und Publizisten Gabriel Wilhelm Götten (1708–1781) in Hannover konzipiert ist15. Im selben Jahr lässt 10 [J. Böldicke:] Abermaliger Versuch Einer Theodicee, Darinn von dem Ursprunge des Bösen in der besten Welt, der Güte, Weisheit und Gerechtigkeit Gottes, wie auch der Freyheit des Menschen gehandelt wird […] Den Gelehrten zur Prüfung übergeben von Joachim Böldicken, Diacono in Spandau, Berlin – Leipzig 1746. 11 Vgl. J. Böldicke: Versuch, die wahre Absicht des Nic. Machiavels zu entdecken (1750) (=Fundstücke 18), mit Erläuterungen und Materialien hrsg. von M. A. Völker, HannoverLaatzen 2008. 12 Böldicke: Abermaliger Versuch Einer Theodicee, siehe Widmungstext. 13 D. F. Schulze: Zur Beschreibung und Geschichte von Spandow. Gesammelte Materialien, Bd. 1, im Auftrage der Kirche und der Stadt hrsg. von O. Recke, Oberpfarrer an St. Nicolai, mit einem Bildnis des Verfassers in Mezzotintodruck, Spandau 1913, S. 346. 14 Vgl. J. G. Meusel: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, Bd. 5, Leipzig 1805, S. 381–383. Vgl. ferner Rotermund: „Nikolaus Friedrich Herbst“, in: J. S. Ersch/J. G. Gruber (Hrsg.): Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet, zweite Section: H–N, sechster Theil: Heräa–Herpes, mit Kupfern und Charten hrsg. von G. Hassel und A. G. Hoffmann, Leipzig 1829, S. 139–140. 15 J. S. Müller: Bescheidene Prüfung des abermahligen Versuchs einer Theodicee, welchen der Herr Pastor Joachim Böldike in Spandau neulich ans Licht treten lassen, in so ferne darin behauptet wird: dass die Lehre von der ewigen Verdammniss der Vernunft ganz begreiflich sey, weil ohne diesselbe viele tausend Millionen erhöheter Glückseligkeiten der Seligen hätten unterbleiben müssen; in einem Sendschreiben an Hrn. Gabr. Wilh. Götten – Consistorialrathe u. s. w., Hamburg 1747.

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Georg Friedrich Meier (1718–1777) seinen Verriss Beurtheilung des abermaligen Versuchs einer Theodicee folgen. Der Philosoph und Brief-theoretiker Johann Wilhelm Schaubert (1720–1751) wendet sich ebenfalls 1747 an Böldicke mit seiner Schrift: Erläuterungen des Satzes des zureichenden und determinirenden Grundes, wobey zugleich gezeiget wird, daß dieser Grundsatz dem Begriffe der Freyheit nicht zuwieder ist. Böldicke gibt zwar an, die Theodicee von Leibniz angesichts des zunehmenden Unglaubens fortführen, sie verbessern und ihre Schwächen beseitigen zu wollen16. Aber man bewertet seinen kritisch-konstruktiven Ansatz anders als intendiert. Böldicke wird in Gemeinschaft mit Christian August Crusius (1715–1775) und Joachim Georg Darjes (1714–1791) als ein Antagonist von Leibniz wahrgenommen, der das Prinzip der Notwendigkeit und die Annahme, die gegenwärtige Welt sei die beste, verwirft17. Gottsched, dem Böldickes Werk 1745 zur Zensur vorliegt, zeichnet die Hauptlinien der Auseinandersetzung im Nachwort zu der fünften Auflage der Theodicee aus dem Jahr 1763 nach18. Bereits 1747 wird Böldickes Theodicee – vermutlich von Christian Gottlieb Jöcher (1694–1758) – ausführlich rezensiert19. 1750 erfahren die Streitigkeiten im ersten Stück des vierten Bandes der Philosophische[n] Bibliothek von Christian Ernst von Windheim 16 Vgl. [J. Böldicke:] Historische Einleitung in die Lehre von der Uebereinstimmung des Glaubens und der Vernunft, dem Ursprunge des Bösen, der besten Welt, und der Freyheit des Menschen. Worinnen zugleich die Wolfischen Streitigkeiten aus den Hrn. P. C. G. Ludovici Historie der wolf. Philosophie kürzlich angeführet werden. Als die vierte Beylage zum abermaligen Versuch einer Theodicee den Gelehrten zur Prüfung übergeben von Joachim Böldicken, Diacono in Spandau, Berlin – Leipzig 1746, S. LXXX (§ 54. 2): „Man halte mir zu gute, daß ich einige schwere Fragen von der Absicht Gottes bey dem Ursprunge des Bösen, und von dem was möglich ist, zu erörtern gesucht habe. Wenn man spricht, es sey besser, solche Fragen unberührt zu lassen, und bloß mit der heil. Schrift zu reden: so gebe ich solches gewisser maßen zu. Ich wünschete, daß niemals ein Montagne und Bayle so viel Zweifelsknoten geknüpfet hätten. Wenn ich alsdenn aus einer Neugierigkeit, die vorher angeführten Fragen aufgeworfen und beantwortet hätte: so könnte man mir beymessen, wenn einige Menschen solche Beantwortung von ohngefehr mißbrauchten, und dadurch Gelegenheit nähmen mehr Zweifel zu machen. Allein des Herrn Baylens Einwürfe schlichen als eine Pest in der Welt herum. Hätte ihnen Leibnitz nicht Einhalt gethan, möchten sie noch mehr Gemüther angesteckt haben. Da nun aber dem ohngeachtet der Unglaube in der Welt wächset, kann man es dem Herrn von Leibnitz so wenig zur Last legen: als den Aerzten, wenn sie die Cur eines tödtlich Verwundeten übernehmen, aber den Schaden nicht gänzlich curiren können“. 17 Vgl. Chr. F. Polz: Natürliche Gottesgelehrsamkeit darinne nicht nur ihre Lehrsäze hinlänglich erkläret und bewiesen werden sondern darinne auch die litterarische und philosophische Geschichte derselben eine Auflösung der darwieder gemachten Zweifel nebst einer kurzen Anweisung wie solche zur Ausübung der Gottesfurcht anzuwenden und zwar Jedes in einem besondern Abschnitte zu finden ist, Jena 1777, S. 777–780. Vgl. auch W. L. G. v. Eberstein: Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik bey den Deutschen von Leibnitz bis auf gegenwärtige Zeit, Bd. 1, Halle 1794, S. 278. Eberstein (1762–1805), ein Vertreter der LeibnizWolff’schen Philosophie, zählt Böldicke zu den Gegnern Christian Wolffs. 18 Vgl. S. 866–879. 19 Vgl. [Chr. G. Jöcher:] Zuverläßige Nachrichten von dem gegenwärtigen Zustande, Veränderung und Wachsthum der Wissenschaften, Fünf und achtzigster Theil, Leipzig 1747, S. 105– 138.

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(1722–1766) eine eingehende Behandlung20. Böldickes Werk ist also keineswegs so „nichts-bedeutend[]“, wie Louise Gottsched (1713–1762) in einem Brief an Ernst Christoph von Manteuffel (1675–1749) vom 3. November 1745 meint bzw. vorhersagt21. Die Beachtung, die man dem Werk schenkt, lässt erkennen, dass es als Ereignis wahrgenommen wird, das die Gelehrtenrepublik vielleicht nicht in ihren Grundfesten erschüttert, sie aber doch herausfordert und jahrelang beschäftigt22. Es wäre eine verdienstvolle Aufgabe, Böldickes Theodicee sowie die Gegen- und Verteidigungsschriften editorisch aufzubereiten. Böldicke umkreist die Frage, was angesichts des Elends und der Ungerechtigkeit in der Welt vom Postulat der besten Welt zu halten ist und wie man mit metaphysischen, erkenntnistheoretischen und gesellschaftlichen Krisen umgehen kann.

I. DAS LEIDEN DER ANDEREN UND DIE TRÜMMER DES GLÜCKS Böldickes erste Beilage zu seiner Theodicee gewährt einen tiefen Einblick in die unterschiedlichen Sichtweisen und macht die Streitpunkte deutlich, weshalb sie hier im Zentrum stehen soll23. Sie behandelt in drei unterschiedlichen Bearbeitungen die Geschichte des Sextus Tarquinius: Er, der skrupellose Sohn des römischen Tyrannen Tarquinius Superbus, vergewaltigt die schöne, tugendhafte und keusche Lucretia, die Gattin des angesehenen Collatinus. Seine Tat besiegelt das Ende der über zwei Jahrzehnte dauernden Schreckensherrschaft seines Vaters, der Rom mit seiner Familie verlassen muss, und markiert den Beginn der römischen Republik. In dem, von Leibniz zitierten, Gespräch von der Freyheit24 des Lorenzo Valla 20 Vgl. [Chr. E. von Windheim:] „Nachricht von der Böldischen Theodicee und den dadurch veranlaßten Streitschriften“, in: Ders. (Hrsg.): Philosophische Bibliothek worin Nachrichten von den neuesten Schriften der heutigen Weltweisen und anderen Umständen derselben wie auch kurze Untersuchungen mitgetheilet werden, Bd. 4, 1. Stk., Hannover 1750, S. 3–41. 21 I. Kording (Hrsg.): Louise Gottsched – „mit der Feder in der Hand“. Briefe aus den Jahren 1730–1762, Darmstadt 1999, S. 116–117. 22 Vgl. hierzu den Personalartikel zu Böldicke in: J. H. Zedler: Universal–Lexikon. Nöthige Supplemente zu dem Großen Vollständigen Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. 4: Boe–Caq, Leipzig 1754, S. 47: Verzeichnet ist hier Böldickes Theodicee, die 1746 mit vier Beilagen erschien, die jeweils über ein eigenes Titelblatt und eine eigene Vorrede verfügen. Aufgeführt wird ferner, dass Böldicke seinen Gegnern 1747 und 1748 mit eigenen Schriften antwortete und 1751 der zweite Teil seiner Theodicee erschien. Vgl. ferner [J. G. Heinsius:] Unpartheyische Kirchen-Historie Alten und Neuen Testamentes Des dritten Theils Zweyte Abtheilung Welche das rückständige der Kirchen-Geschichte von 1746. bis 1750. enthält, Jena 1754, S. 1372–1381. 23 Vgl. [J. Böldicke:] Fortsetzung des vom Laurentius Valla angefangenen und vom Leibnitz fortgeführten Gesprächs von der Freyheit oder der Gerechtigkeit Gottes bey dem Schicksal des Sextus, als die erste Beylage zum abermaligen Versuche einer Theodicee. Den Gelehrten zur Prüfung übergeben von Joachim Böldicken, Diacono in Spandau, Berlin – Leipzig 1746. 24 Vgl. ebd., S. 165–176: „Das erste Capitel. Des Laurentius Valla Gespräch von der Freyheit, so wie es in der Leibnitzischen Theodicee §. 404–411. enthalten, nebst des Herrn Prof. Richters und Herrn Prof. Gottschedens Anmerkungen“.

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(zw. 1405 u. 1407–1457) kommt Sextus nach Delphi, um das Orakel des Apoll zu befragen. Dem Besucher wird eine schreckliche Zukunft vorhergesagt. Der erschütterte Sextus beschwert sich bei Apoll, der wiederum meint, er sei der falsche Ansprechpartner, da er das Zukünftige zwar wisse, es aber nicht mache. Sextus habe sich damit abzufinden, dass ihm eine „böse Seele“ verliehen worden sei, „die keine Besserung annimmt“25. Leibniz führt diese Geschichte weiter26: Der von Apoll an die höchste Instanz verwiesene Sextus stellt Jupiter selbst zur Rede. Er will nicht einsehen, dass er die Hoffnung auf die Krone fahren lassen soll und kein guter König sein werde. „Nein, Sextus“, sagt Jupiter bei Leibniz, „ich weiß besser, was dir gut ist“27. Sextus erweist sich indessen als unbelehrbar. Das Schicksal nimmt seinen Lauf, er geht nach Rom und schändet Lucretia. Der Oberpriester Theodorus bzw. Theodor, der bei dem Gespräch zwischen beiden zugegen war, kritisiert Jupiter, indem er ihm sagt, dass es in seiner Macht gelegen hätte, dem Sextus einen anderen Willen zu verleihen. Zur Klärung dieses Problems wird Theodor an Jupiters Tochter Pallas verwiesen, die ihm im Traum den pyramidenartigen „Palast der Verhängnisse“28 zeigt. Theodor sieht die unendlich vielen möglichen, aber nicht realisierten Welten. In einer geht der Gott gehorsame Sextus nach Korinth, kauft sich einen Garten, in dem er einen Schatz findet und ein reicher, angesehener Bürger wird; in einer anderen steigt er zu einem beliebten thrakischen König auf. Leibniz beendet seine Erzählung mit der Erklärung, dass die Spitze der Pyramide die wirklich vorhandene Welt darstellt und sich die beste eben als jene herausstellt, in der Sextus nach Rom geht. Böldickes Fortsetzung der Erzählung29 beginnt mit einem zutiefst befriedigten Theodor. Die ihm im Traum gewährten Einsichten befähigen ihn, andere von der Güte und Gerechtigkeit Gottes zu überzeugen. Durch seine Weisheit avanciert er zu einem Orakel, dass man befragt, um Gewissheit und Deutlichkeit zu erlangen. Sein Ruf, jeden Menschen davon zu überzeugen, „daß ihm Gott ein hartes Schicksal ohne Verletzung seiner Güte und Gerechtigkeit bestimmen könne“30, verbreitet sich rasch und dringt bis nach Rom, wo der junge Sextus auf den Erzpriester aufmerksam wird. Sextus gibt Jupiter die Schuld an seinem Unglück, weil dieser ihm eine unveränderliche Natur verliehen hat, aus der Laster sowie der Verlust der Krone folgen. Der Enttäuschte lässt zunächst die Schüler Theodors zu sich nach Rom kommen. Es stellt sich aber heraus, dass die Schüler ihren Lehrer nur unzureichend verstanden haben und außerdem nicht in der Lage sind, den Menschen Sextus hinter dem Prinzen zu sehen. Mit undeutlichen Begriffen und Höflichkeits25 Ebd., S. 173. 26 Vgl. ebd., S. 177–186: „Das zweyte Capitel. Leibnitzens Fortsetzung des Gesprächs Laurentii Vallä, nebst des Herrn Prof. Richters und Herrn Prof. Gottschedens Anmerkungen, so wie alles §. 412–416. der Theodicee enthalten“. 27 Ebd., S. 177. 28 Ebd., S. 179. 29 Vgl. ebd., S. 187–230: „Das dritte Capitel. Weitere Fortführung des von Laurentius Valla angefangenen und vom Leibnitz fortgesetzten Gespräches“. 30 Ebd., S. 187.

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floskeln will sich Sextus aber nicht zufriedengeben. Er erwartet etwas, dass ihn von der Güte Gottes überzeugt und ihn mit seinem Verhängnis aussöhnt. Also macht er sich auf den Weg zu Theodor. Auf das unzumutbare Schicksal angesprochen, versucht Theodor Sextus zunächst zu verdeutlichen, dass man es nicht allen recht machen kann, und jede weise Entscheidung Gottes bei verschiedenen Personen oder Gruppen Unmut hervorruft und als ungerecht aufgefasst wird. Theodor stellt klar, dass Gott sich zu den Menschen verhält wie ein König zu seinen Untertanen: Er teilt den Menschen ihr Schicksal zu, und der Regent erteilt Befehle. Diese Antwort befriedigt Sextus nicht, so auch nicht der Hinweis, dass sein Unglück andere glücklich machen und die „allerfürtrefflichste Republik veranlassen“31 wird. Gott hätte einen verständigen, weniger seinen Machtfantasien ausgelieferten Sextus erschaffen können, der ein glücklicher Gärtner geworden wäre, so Theodor, er tat dies aber nicht, weil es seiner Weisheit und seiner Güte zuwider war. Sextus entgegnet: „Es ist ja nicht meine Schuld, daß ich im Zusammenhange keine größere Vollkommenheit erhalten habe“32. Seine Unzufriedenheit schlägt in Verzweiflung um. Theodor verneint die Frage, ob Sextus, so wie er in dieser Welt lebt, das Laster verhindern könnte. Andere Dinge würden weniger vollkommen sein, wenn Sextus vollkommener wäre33. Sextus weist indes die Schuld für die ihm prophezeiten Taten von sich ab, weil er die Grenzen der Vollkommenheit nicht gesetzt hat34. Angesichts der Empörung und der Hartnäckigkeit seines Gesprächspartners beginnt Theodor an seinen Ansichten zu zweifeln. Sextus verwahrt sich gegen die Annahme, die Unvollkommenheit der Teile trage zur Vollkommenheit des Ganzen bei wie der widrige Ton am rechten Platz den Wohlklang der Musik erhöht. Er fragt, ob dieser Satz a priori erwiesen und immer gültig sei. Der irritierte Theodor antwortet: „Dieß kann ich nicht behaupten. Weil er [dieser Satz] indessen in vielen Dingen statt hat, so bringt man ihn billig bey Behauptungen der besten Welt an“35. Unbeholfen versucht Theodor, die Allgemeingültigkeit gerechtfertigt aussehen zu lassen. Sextus entgeht die zunehmende Verunsicherung seines Gegenübers nicht, und er setzt unablässig nach. Theodor gerät in die Defensive. Sextus fragt, warum Gott ihn nicht einfach aus der Reihe der wirklichen Dinge hätte weglassen, ihn, die „böse Creatur“36 im Reich der Möglichkeit hätte belassen können: „Weil ich alsdenn ein Nichts gewesen: so hätte ich mich auch nicht beschweren können“37. Theodor kann Sextus kaum etwas entgegensetzen, die „Quellen seiner ehmaligen Freuden waren verstopfet“38. Nachdem er alle seine Argumente vorgebracht und verbraucht hat, appelliert er an Sextus, dieser möge doch die Schönheit der möglichen Welten und der wirklichen Welt, die keine Hinterfragung veran31 32 33 34 35 36 37 38

Ebd., S. 195. Ebd., S. 197. Vgl. ebd., S. 201. Vgl. ebd., S. 201–202. Ebd., S. 205 (Hervorhebung von M. A. Völker). Ebd., S. 214. Ebd., S. 206–207. Ebd., S. 207.

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lasst und duldet, einsehen. Verständlicherweise bleibt Sextus unnachgiebig und lässt diesen persönlichen Wunsch nicht als verbindlichen Beweis und Grund für die Aussöhnung mit seinem eigenen Schicksal gelten: „Du bist glücklich, daß dir die Gottheit eine solche Ueberzeugung verliehen. Du bedenkest aber nicht, daß andere, so dergleichen Entzückung nicht gehabt, die Welt nach den Empfindungen beurtheilen, die sie von derselbigen bey aller möglichen Aufmerksamkeit erlangen“39.

Theodor gibt sich vorerst geschlagen, er schuldet dem Sextus Antworten, um die er nun Gott bittet. Das erhabene Ambiente im Tempel, den Theodor betritt, lässt neue Zuversicht in ihm aufkeimen. Er schildert der Gottheit seine Verwirrung und begehrt Auskunft. Die Gottheit erhört ihn, antwortet allerdings anders als gedacht. Sie stellt bezeichnenderweise zunächst klar, dass der Wunsch des Adressanten nicht etwa deshalb erfüllt werden soll, weil er von einem profanen Menschen, sondern weil er von einer Amtsperson bzw. einem Würdenträger vorgebracht wird. Theodor wird an die cumäische Sibylle verwiesen, die den in Italien befindlichen Eingang zur Hölle bewacht. Sie soll ihn zu Minos, dem gerechten Richter der Unterwelt, führen bzw. dem Fragesteller dessen Urteil übermitteln. Theodor fühlt sich gegenüber der Gottheit zwar unwürdig, freut sich aber dennoch über den ihm erteilten Rat. Zusammen mit Sextus begibt er sich zu der Prophetin nach Cumae. Bei ihrer Ankunft teilt ihnen die Sibylle mit, sie mögen ihre Fragen aufschreiben, und sie werde die Fragen in dieser Form dem Minos vorlegen. Theodor und Sextus kommen diesem Verlangen nach und formulieren gemeinschaftlich den Verlauf ihrer Diskussion und die Probleme, die sich ergeben haben. Aus der Unterwelt von ihrer Unterredung mit Minos zurückgekehrt, notiert die Sibylle dessen Antworten auf über einhundert Baumrinden. Während sie ihre Notizen anfertigt, wird es dunkel, und sie fragt nach Licht. Der ungeduldige und unglückliche Sextus öffnet die Türen, eindringender Wind verwüstet die Aufzeichnungen. Einige Blätter werden fortgetragen, die anderen gehörig durcheinandergewirbelt. Die verärgerte Sibylle lehnt die Wiederherstellung der vorherigen Ordnung mit der Begründung ab, das Schicksal ließe solches nicht zu. Theodor und Sextus müssen sich schließlich mit ungeordneten Bruchstücken begnügen, die sich als erklärungsbedürftig erweisen, wie dies die erste der übrig gebliebenen Notizen anzeigt: „Gott hasset die Sünde immer. Ein König das Henken ebenfalls. Ein König lässet doch henken. So schreibt man den bedingten Rathschlüssen Gottes die Zulassung des Bösen auch zu“40. Entsprechend unbefriedigend ist die Einsicht, mit der Böldicke seine Erzählung beendet: „Doch da ein jeder [also Theodor und Sextus] in des Minos Ausspruch etwas zur Bestätigung seiner Meynung zu finden vermeynete: so blieb er bey dem, was er geglaubt hatte“41. Es scheint aber, als ob bei Theodor am Ende die Zufriedenheit überwiegt. Er fühlt sich darin bestätigt, dass die Unvollkommenheit der Teile die Vollkommenheit des Ganzen befördert. Nach der Rückkehr in seinen Tempel teilt er denen, die mit ihrem Schicksal hadern, mit, „daß ihr Elend in dieser Welt, vermöge der Gesetze der Glückseligkeit, 39 Ebd., S. 208. 40 Ebd., S. 218. 41 Ebd., S. 229–230.

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eine Quelle der Freude werden könnte. Die starke Empfindung des Guten, sagte er [Theodor] unaufhörlich, setzet eine Empfindung des Gegentheils voraus“42. Stutzig macht den Leser hier allerdings, dass Theodor den letzten Satz „unaufhörlich“ bemüht, was an ein Mantra denken lässt, zu dem man Zuflucht nimmt, sobald die religiösen Sicherheiten und philosophischen Gewissheiten weggebrochen sind. Gottsched bewertet Böldickes Erzählung folgendermaßen: „Ich habe sehr gescheide Leute gesehen, die diese Fortsetzung begierig durchlasen, in Hoffnung wichtige Entdeckungen durch diese Sybille zu erfahren. Als aber der verwünschte Wind in die Höle stieß, und also die gefaßte Hoffnung besserer Auflösungen plötzlich verschwand; warfen sie voll Verdruß das Buch aus den Händen, und bedaureten die Zeit, die sie auf Durchlesung desselben verwandt hatten“43.

Es wäre voreilig und unstatthaft, von Gottscheds Verärgerung auf Böldickes philosophisches und schriftstellerisches Unvermögen zu schließen. Dass Böldicke Hoffnungen enttäuscht, Ordnung, Harmonie und Ruhe desavouiert und stattdessen den Leser mit Unruhe, Ungewissheit und Chaos konfrontiert, ist durchaus beabsichtigt. Bei ihm trifft der vom Schicksal begünstigte und deshalb begeisterte Anhänger Gottes auf den, seiner Empfindung nach, „verworfen[en]“44 und von Gott fallengelassenen Menschen. Böldicke kritisiert die zum ethisch-moralischen Problem gewordene Gewohnheit, alles aus allgemeinen Sätzen herleiten zu wollen45. Der Vorwurf lautet, dass Menschen sich hinter allgemeinverbindlichen Regeln verstecken, um nicht mit den existenziellen Einzelfällen und alltäglichen Dramen konfrontiert zu werden. Böldicke fokussiert auf das krisenhafte Leben. Sextus ist nicht gewillt, sich seinem Schicksal zu fügen. Sein Aufbegehren deutet bereits an, dass ein anderes Schicksal möglich ist, möglich sein müsste, aber es bleibt ihm verwehrt. Er lässt sich mit der beglückenden Ganzheitsschau, die Theodor zuteil geworden ist, nicht abspeisen. Wer mit gebrochenen Flügeln am Abgrund steht, den kümmert die fremde Erzählung von der geglückten Himmelfahrt wenig. In seiner preisgekrönten Abhandlung Von der Beßten Welt (1757) schreibt Adolf Friedrich Reinhard (1726–1783): „Ein jeder Mensch, wird so glücklich seyn, als er es in der beßten Welt sein kann. Stoßen ihm Uebel zu, so muß er selbige mit Geduld ertragen, in Betrachtung daß diese Uebel zum allgemeinen Beßten dienen“46. Dieser auf Leibniz und Alexander Pope (1688–1744) zurückgehenden Behauptung wird entgegengehalten, dass es wenig tröstlich ist zu wissen, „daß wir unglücklich sind, weil das Beßte anderer Dinge, und die Beschaffenheit des 42 Ebd., S. 230. 43 Gottsched in: Leibniz: Theodicée, 5. Auflage, 1763, S. 874. Weiter heißt es kaum anerkennender: „Indessen halten die noch übrigen Sätze der Sybille verschiedene gute Wahrheiten in sich, die Leibnitzen nicht ganz zuwider sind; aber freilich noch verschiedene Schwierigkeiten übrig lassen“ (S. 874–875.). 44 Böldicke: Fortsetzung des vom Laurentius Valla angefangenen und vom Leibnitz fortgeführten Gesprächs, S. 209. 45 Vgl. ebd., S. 159 (Vorbericht). 46 A. F. Reinhard: Abhandlung Von der Beßten Welt. Welche den von der KöniglichPreußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das 1755 Jahr ausgesetzten Preiß erhalten. Aus dem Französischen übersetzt von J. A. F. v. G**, Greifswald 1757, S. 46.

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Ganzen es so haben wollen“47. Die Übel mögen philosophisch begründbar sein, trotzdem lassen sie den Leidenden verzweifeln. Am Ende seiner Abhandlung formuliert Reinhard eine die Gemüter beruhigende Annahme: „Das Wohl der gehorsamen Bürger der Stadt Gottes, ist also die größte End-Absicht Gottes“48. Böldickes Gespräch zwischen Theodor und Sextus, beider Ringen um Gewissheit, unterhöhlt diesen und ähnliche Aufrufe zum Gehorsam. Mit der Ruhe und der Unterordnung der Bürger in der Stadt Gottes scheint es vorerst vorbei zu schein. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass bei Böldicke der Rangunterschied zwischen dem hohen religiösen Würdenträger und dem Ratsuchenden bzw. zwischen dem (künftigen) Fürsten und seinem untergebenen religiösen Berater eingeebnet wird. Bei Leibniz nehmen Theodor und Sextus keinen direkten Kontakt miteinander auf. Böldickes Sextus bittet darum, die üblichen Höflichkeitsfloskeln wegzulassen: „[…] Theodor wollte dem Prinzen zwar die gewöhnlichen Honneurs machen. Dieser aber verlangte, aus Begierde nach einer Antwort, kein Ceremoniel“49. Böldicke berührt Fragen, die jeden Menschen betreffen, egal, welche Funktion er innehat und an welcher Stelle der gesellschaftlichen Hierarchie er anzutreffen ist. Theodor und Sextus sitzen in einem Boot. Böldicke hinterfragt mit seinem Text mehr als die Plausibilität philosophischer Begriffe. Theodor, der Repräsentant des Glaubens sowie der Weisheit und Gelehrsamkeit, trifft auf Sextus, den Vertreter des soziopolitischen Lebens. Böldicke verweist damit auf eine Kluft zwischen Philosophie und Gesellschaft, Wunschvorstellung und Realität. Was in der Theorie Begeisterung auslöst, befeuert in der Praxis Selbstmordgedanken. Dass die für alle gültige beste Welt, in der existenzielle Krisen ausgespart, geschönt und wegerklärt werden, dem Einheitsdenken und dem Glückseligkeitsstreben der kleinen, in sich geschlossenen akademischen Welt entstammt, offenbart ein Vortrag von Johann Wilhelm Schaubert. 1747, in dem Jahr, in dem er sich zu Böldickes Theodicee äußert, veröffentlicht er anlässlich seiner Aufnahme in die „teutsche Gesellschaft“ in Jena seine überschwengliche Rede von der Glückseligkeit des akademischen Lebens50. Das Gelehrtenleben erfährt bei Schaubert eine pseudoreligiöse Verklärung. Die Akademie ist der einer Elite vorbehaltene Ort jenseits des profanen Lebens, in dem das Schicksal vorherrscht. Zu der „Glückseligkeit des akademischen Lebens“51 zählt Schaubert das „Vorrecht der Freyheit“52, also die Abwesenheit von Zwängen, die sich gegen die Vernunft richten. „Ruhe und Sicherheit“53 tragen zu dem hohen Wert des akademischen Lebens entscheidend bei: „Die Ruhe, von welcher ich gegenwärtig rede, ist dasienige Vorrecht hoher Schulen, so sie vor allen denen äussern Zufällen schützet, die in der menschlichen Gesellschaft die gröste 47 Ebd., S. 47. 48 Ebd. 49 Böldicke: Fortsetzung des vom Laurentius Valla angefangenen und vom Leibnitz fortgeführten Gesprächs, S. 211. 50 J. W. Schaubert: Rede von der Glückseligkeit des akademischen Lebens, Jena 1747. 51 Ebd., S. 7. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 10.

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Verwirrung und Zerrüttung anfangen. Sie wissen, meine Herren! und die betrübte Erfahrung überzeuget uns davon; Sie wissen, wie viele unglückselige Folgen die durch die Zwietracht angefachten Flammen des Krieges ausrichten, wenn sie sich einmal über ein Land ausgebreitet, und Land und Volk zu verzehren angefangen haben. […] Wenn die Uneinigkeit der Fürsten Kriege angesponnen, wenn alle Schwerdter entblösset sind, wenn die Luft von dem Schalle der Carthaunen ertönet: so sind die Musen auf den erhabnen Spitzen am Parnasse sicher, und sie erblicken nur von weiten, und unter ihren Füssen, die Blitze, die sich in den Thälern entzündet haben. Es geschieht sehr selten, daß sie auch die Höhen erreichen, wo die Musen wohnen“54. „Ich will lieber die stillen Ergötzungen der Musen wehlen, als unter dem Geräusche der Trabanten meine Ruhe aufopfern. Ich will lieber unter dem akademischen Zepter stehen, als ein Liebling eines gekrönten Haubtes seyn“55.

Die beste aller möglichen Welten ist bei Schaubert eine Welt jenseits des Politischen, eine von alltäglichen Händeln und Enttäuschungen, eine von barbarischen Völkerschlachten gereinigte Sphäre. Bei Böldicke ist dagegen die Ruhe Theodors, also die akademisch-sakrale Ruhe, verloren, und es ist mehr als fraglich, ob er sie jemals im vollen Umfange wiedererlangen kann. Verfrüht und letztlich falsch wäre es indessen, Böldicke vorzuwerfen, er würde das Denken von Leibniz völlig über den Haufen werfen. Es ist kaum anzunehmen, dass er sich der Mühe unterzieht, eine Theodizee auszuarbeiten, bloß um ihre Unmöglichkeit zu demonstrieren.

II. KRISEN UND IHRE TEXTUELLE UND NARRATIVE BEWÄLTIGUNG Die Andersartigkeit und Stärke von Böldickes Ansatz besteht darin, dass er soziopsychologisch argumentiert. Die Auseinandersetzung zwischen Theodor und Sextus kreist um ein Problem, das im menschlichen Leben und in der menschlichen Interaktion oft auftritt; im Haupttext seiner Theodicee nennt er es die „Collision der Grundsätze“56. „Allein es finden sich nicht allein in der Religion, sondern auch in der Weltweisheit solche Fälle“, schreibt Böldicke, „da alle Menschen vermeynen, deutlich zu empfinden, 1. daß eine Sache ist, 2. daß das Gegentheil auch ist, 3. daß kein deutlicher Unterscheid und Umstand zu entdecken, unter welchem ein jedes statt haben kann. Was ist nun hier zu thun?“57

Mit einem Zitat aus dem Versuch einiger Moralischen Betrachtungen über die Werke der Natur (1745)58 von Johann Georg Sulzer (1720–1779) spitzt Böldicke diese häufig auftretende Konstellation zu. Sulzer beschreibt einen Wasserwurm, 54 55 56 57 58

Ebd., S. 10–11. Ebd., S. 19. Böldicke: Abermaliger Versuch Einer Theodicee, S. 64. Ebd., S. 69. J. G. Sulzer: Versuch einiger Moralischen Betrachtungen über die Werke der Natur. Nebst einer Vorrede von A. F. W. Sack, Königl. Preußischen Consistorial- und Kirchenrath, Berlin 1745. S. 73–74.

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der sich nach allen Seiten unendlich zerschneiden lässt, wobei jedes Teilstück für sich selbst lebensfähig bleibt und sich nach kurzer Zeit wieder vervollkommnet. Es könnten also Dinge auftauchen und Situationen entstehen, die, wie Sulzer formuliert, „aller Menschen Vernunft den Krieg anzukündigen“59 scheinen. Aus sich scheinbar widersprechenden Begriffen und Sätzen resultiert für Böldicke eine schwerwiegende Verwirrung, eine Art „Schwindel“60. So wie Sulzers Wurm „allen Weltweisen eine Warnung seyn soll“61, so dient Böldickes Gespräch zwischen Theodor und Sextus dem selben Zweck. Um das existenzielle Drama zu verdeutlichen, spricht Böldicke sogar von den „Strudel[n] des menschlichen Verstandes“62, die nicht eingedämmt werden könnten. Böldicke verrät eine gute psychologische Beobachtungsgabe, wenn er beschreibt, wie Menschen mit diesen „Schlünde[n]“63 bzw. Abgründen gewöhnlich umzugehen pflegen. Um sich schadlos zu halten, erwählen sie eine Meinung bzw. neigen zu einer Annahme, welche die unangenehme Empfindung minimiert bzw. umgeht, d. h. sie halten an ihrer Lieblingsmeinung fest und werden – aus Gründen des Selbstschutzes – unempfindlich gegenüber anderslautenden Sätzen. An dieser Stelle schimmert eine Differenz weltanschaulicher Art zwischen Böldicke und seinem Kontrahenten Georg Friedrich Meier durch. In seinen 1744 veröffentlichten Gedancken von Schertzen bemerkt Meier, dass ein Scherz einem Abgrund ähnlich sein müsse, „in welchem man immer mehr erblickt, je länger man in denselben hinein sieht“64. Einen Augenblick lang stiftet der Scherz Verwirrung, aber die Selbstsicherheit, die auf Erkenntnis und Gefühl bezogene Klarheit, Deutlichkeit und Verlässlichkeit kann er nicht umstoßen. Böldicke beschreibt dementgegen die menschliche Grunderfahrung der kognitiven Dissonanz, die über zweihundert Jahre später, nämlich 1957, von Leon Festinger (1919–1989) eingehend beschrieben und untersucht wird65. Jedes Individuum, so Festingers Ansatz, bildet ein komplexes Geflecht von Meinungen und Erwartungen, Einstellungen und Interessen aus, das es versucht, stabil zu halten. Mit neuen Informationen von außen konfrontiert, „kann es zu Unstimmigkeiten in den Fällen kommen, in denen die neuen kognitiven Elemente in Beziehung zur etablierten Struktur dissonant sind“66. Die kognitive Dissonanz führt zu einem psychischen Ungleichgewicht, sie wird als bedrohlich und schmerzhaft erfahren, was wiederum den Prozeß der Dissonanzminderung in Gang bringt:

59 Sulzer in: Böldicke: Abermaliger Versuch Einer Theodicee, S. 73. Vgl. Sulzer: Versuch einiger Moralischen Betrachtungen über die Werke der Natur: „Dieses verwunderliche Thier zeiget uns etwas, welches aller menschlichen Vernunft den Krieg anzukündigen scheinet“. 60 Böldicke: Abermaliger Versuch Einer Theodicee, S. 73. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 74. 63 Ebd. 64 G. F. Meier: Gedancken von Schertzen, Halle 1744, S. 66. 65 Vgl. L. Festinger: A theory of cognitive dissonance, Stanford 1957. 66 H. Heuermann: „Kognitive Dissonanz als Phänomen der literarischen Rezeption: Zur Übertragung und Anwendung einer sozialpsychologischen Theorie auf die Literaturwissenschaft“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 217, 1 (1980), S. 140.

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„Wenn eine Dissonanz besteht, stellen sich in der Tat Versuche zur Dissonanzminderung ein“67. Böldickes Begriff des Schwindels und dessen Kontextualisierung deutet ferner auf die von Karl Jaspers (1883–1969) geleistete Phänomenbeschreibung voraus, die sich in dem Buch Existenzerhellung, dem zweiten Band seiner Gesamtdarstellung zur Philosophie, befindet.68 Jaspers beschreibt den Schwindel als Zustand, in dem man den objektiven Halt verliert. Der Schwindel zeige die „Zerstörung der Objektivität“ an, „wo er auftritt, hört das Wissen auf. […] wo er auftritt, muß falsch gedacht sein“69. Böldicke hinterfragt eine Philosophie, die sich im Leben als leeres Versprechen herausstellt. Die freudige, sich stets wiederholende Erzählung von der besten Welt hilft niemandem. Die Abgründe der Vernunft und des Verstandes lassen sich mit einem Verweis auf Leibniz bzw. mit der erbitterten Verteidigung einer schmerzlindernden und deshalb liebgewonnenen Philosophie nicht beseitigen. In akademischen Verbänden und anderen profanen Gemeinschaften auf unterschiedliche Individuen und Interessengruppen verteilt, stiften die Strudel des Verstandes bzw. die kognitiven Dissonanzen den größten anzunehmenden Unfrieden. Mit einem Zitat aus dem Anti-Machiavel (1740) von Friedrich II. deutet Böldicke dies an: „[…] die Philosophen stürzen einander in den Abgrund der Ungereimtheit, indessen, daß die Theologen im Dunkeln fechten, und sich aus Liebe auf das andächtigste verdammen“70. Auf welche Weise versucht Böldicke das Problem der kognitiven Dissonanz, das schwerwiegende soziokulturelle Folgen zeitigen kann, zu lösen? Wie kann man mit der erschütternden, Schaudern und Angst auslösenden Erfahrung, den „festen Stand“71 verloren zu haben, leben? Wie soll man mit der Negation der fest eingewurzelten Meinung und persönlichen Sinngebung umgehen? Wie lässt sie sich erkenntnistheoretisch und lebenspraktisch produktiv machen? Eine Theodizee ist für Böldicke nicht unmöglich, aber sie ist nicht einfach zu haben. Es ist interessant, zu sehen, wie bei ihm der fragwürdig gewordene philosophische Diskurs über Wahrheit, über Freiheit und Notwendigkeit und über die beste Welt in den Hintergrund gerät und eine Debatte über den Umgang mit Überlieferungen und Texten zum Vorschein kommt. Das Problem indirekter Kommunikation und gestörter Informationsflüsse bildet den Kern seiner Erzählung: Gott erteilt Theodor die gewünschte Auskunft nicht, er delegiert diese Aufgabe. Eine direkte Kommunikation und eine, durch die Vernunft bewirkte, unverfälschte Einsicht in die Natur der möglichen und wirklichen Dinge sind somit ausgeschlossen. Die Sibylle überbringt Minos die schriftlich formulierten Diskussionspunkte, wobei unklar bleibt, mit welchem Kommentar sie die Unterlagen übergibt, was 67 L. Festinger: „Die Lehre von der ‚kognitiven Dissonanz‘“, in: W. Schramm (Hrsg.): Grundfragen der Kommunikationsforschung (The Science of Human Communication, 1963), München 1964, S. 38. 68 Vgl. K. Jaspers: Philosophie, Bd. 2: Existenzerhellung, Berlin 1932, S. 264–265. 69 Ebd., S. 264. 70 Friedrich II. in: Böldicke: Abermaliger Versuch Einer Theodicee, S. 5. 71 Jaspers, S. 264.

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Minos weiß, woher er sein Wissen bezieht und was er hiervon tatsächlich mitteilt. Ein Informationsverlust ergibt sich vermutlich auch während der nachträglichen Niederschrift der Sibylle. Der Wind bringt vollends Chaos in diese Situation, die ohne sein Zutun vertrackt genug gewesen wäre. Der wissbegierige Sextus liest schließlich die ungeordneten Blätter, „welche“, wie Böldicke schreibt, „Theodor sofort abcopirte“72. Theodor avanciert wiederum zum eigentlichen Vermittler der göttlichen Wahrheit, und es ist anzunehmen, dass er die überkommenen Bruchstücke seinem Verständnis und seiner (angezweifelten) Überzeugung gemäß ausbessert, systematisiert und interpretiert. Bei Böldicke heißt es: „Aus den meisten Blättern war kein Verstand zu entdecken. Es waren einige Blätter vom Winde gar weggeführt worden, so zur Ergänzung des Verstandes hätten dienen können. Doch enthielten einige Blätter noch ganze, andere halbe, und zwar vernehmliche, Sätze. Theodor zeichnete mit Beyfügung gewisser Nummern alles auf, was ihm noch verständlich schien“73.

Böldickes Erzählung lässt sich als Plädoyer dafür verstehen, von der unproduktiven Gegenüberstellung von Freiheit und Notwendigkeit abzusehen. Es ist wenig hilfreich, den Verlauf und den Sinn des Lebens abstrakt und für andere zu bestimmen. Stattdessen kommt es darauf an, die Frage nach dem Sinn individuell und vom Leben her zu beantworten. Entscheidend ist, sich Sinn zu erarbeiten, und Böldicke deutet an, wie man sich die Arbeit, die zu leisten ist, vorstellen soll: als Textarbeit. Nachdem der beglückende Traum des Theodor, den Leibniz beschreibt, vorüber ist, beginnt also bei Böldicke, mit einer Formulierung von Kai Behrens, „die Deutungsarbeit im Wachbewußtsein und die hermeneutische Suche nach verborgenen Wahrheiten“74. Quellenkritik, Rekonstruktion und Kontextualisierung der Überlieferungen, Anordnung der Textfragmente, Angebot unterschiedlicher Lesarten, Ausbesserung und Interpretaion von Fehlstellen, Nacherzählungen – das alles ist zu bewerkstelligen. Auf diese Arbeit an Überlieferungen und Texten folgt ihre Erprobung jenseits der kleinen akademischen Welt. Tragen die aufbereiteten Texte und Standpunkte zur Dissonanzminderung bei oder werden Dissonanzen verstärkt? Wissenschaft ist hier ohne Feedback aus dem Bereich des Alltäglichen nicht vorstellbar. Nach der Erprobung folgt die nächste Phase der Materialsichtung und -bearbeitung, hierauf die nächste Probephase u. s. w. Böldicke schreibt in der dritten Beilage zu seiner Theodicee: „Ein eingeschränkter Verstand aber, dergleichen der Mensch hat, kann unmöglich alles auf einmal einsehen; sondern er muß nach und nach durch Uebung und Erfahrung erst zu einem mehrern Erkenntniß gelangen. […] Ein menschliches Erkenntniß, welches mit der Erfahrung verknüpft ist, ist viel gewisser, fester und lebhafter, als wenn es noch ohne alle Erfahrung ist“75.

72 Böldicke: Fortsetzung des vom Laurentius Valla angefangenen und vom Leibnitz fortgeführten Gesprächs, S. 218. 73 Ebd. 74 K. Behrens: Ästhetische Obliviologie. Zur Theoriegeschichte des Vergessens, Würzburg 2005, S. 50. 75 [J. Böldicke:] Erweis, Daß keine vollkommenere Gesetze der Glückseligkeit bey vernünftigen Creaturen möglich gewesen, als diejenigen, so wir in der wirklichen Welt antreffen. Nebst

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Böldicke verschafft den Lesern die zunächst erschütternde Einsicht, dass es keine Selbstverständlichkeiten gibt, keine sich selbst erklärenden Phänomene, keine Eindeutigkeiten, keine fertigen Antworten, die man ohne eigenes Zutun, bar jeder Eigenverantwortung, übernehmen könnte. Es gibt Leser unterschiedlichster Art und voneinander abweichende Lesarten, wobei den Lesarten spezifische Lebenspraxen beigeordnet sind. Die Kunst bzw. Krux besteht darin, Unterschiedliches und Widersprechendes nebeneinander bestehen lassen, vermitteln und aushalten zu können. Seinen Kritikern antwortet er: „Du [Leser] sprichst: was helfen die Classen [unterschiedlicher Autoren und Leser] zur Bestimmung der Wahrheit? Wie kann es ausgemacht werden, zu welcher Classe ein jeder Leser gehört? Wer samlet die Stimmen, oder vielmehr, wer kann sie sammlen? Ich antworte, wenn dieser Einwurf so viel sagen will: es giebt keine solche Entscheidung der meisten gelehrten Streitigkeiten, darauf man sich in der Welt, als auf ein leibliches Recht, gründen mag: so muß ich bekennen, daß ich nichts darwider einwenden kann. In der bürgerlichen Gesellschaft, wo ein Proceß doch endlich durch einen richterlichen Ausspruch seine Endschaft erreicht, stehet es in diesem Stücke noch besser, als in der gelehrten. Weil aber in den Processen ein falsches Urtheil unterweilen dem Streit auch ein Ende machen kann: so ist in so ferne die Wahrheit wiederum besser daran, weil hier kein fataler Termin und kein Präclusion statt hat“76.

Die Themen Denkfähigkeit, Lesekompetenz, Auslegungskunst und Deutungshoheit geraten bei Böldicke ins Zentrum der Theodizee-Diskussion. Anders als bei Leibniz, der die große Erzählung vorlegt und eine allumfassende und göttliche Sinngebung verspricht, sind bei Böldicke einzelne Bruchstücke übrig geblieben. Totes Material liegt vor, das für sich genommen keinen Sinn ergibt. Die Arbeit, die zu leisten ist, besteht nun darin, die einzelnen Elemente, über deren Stellung im übergeordneten Textzusammenhang man wenig weiß und um deren Ergänzung man bemüht sein muss, neu und situativ anzuordnen. Die Bruchstücke verlangen nach Interpretation, sie sind auf einen Leser angewiesen, der ihre Bedeutung aufwecken kann. Diese Überlegung führt zu Ulrich Körtner, der in seinem 2008 gehaltenen Vortrag „Rezeption und Inspiration. Über die Schriftwerdung des Wortes und die Wortwerdung der Schrift im Akt des Lesens“ darüber schreibt, dass der Text eine Gestalt des Todes sei.

einer Abhandlung dessen, Was Möglich oder Unmöglich ist, und einer Erörterung der Frage, ob eine unbestimmte Freyheit bey Gott, oder einer Creatur möglich sey &c.? als dritte Beylage zum abermaligen Versuch einer Theodicee den Gelehrten zur Prüfung übergeben von Joachim Böldicken, Diac. in Spandau, Berlin – Leipzig 1746, S. 499. 76 [J. Böldicke:] „Erörterung der Frage: Wer unter den streitenden Parteyen in der gelehrten Welt einen richterlichen Ausspruch thun solle, und wieferne solches möglich sey?“, in: [Ders. (Hrsg.):] Herrn Herbsts, adjungirten Superintendenten in Minden, Assessoris des Königl. Preuß. Consistorii &c. Prüfung des in dem abermaligen Versuche einer Theodicee enthaltenen Lehrgebäudes vom Ursprunge des Bösen: Und Joachim Böldickens, Diac. in Spandau, Vertheidigung desselbigen: Nebst einer Erörterung der verfänglichen Frage: Wer unter den streitenden Parteyen in der gelehrten Welt den Ausspruch thun solle? und wie ferne solches möglich sey? den Gelehrten zur Prüfung übergeben: wobey als ein Anhang hinzugefügt eine freymüthige Anzeige zweyer Fehler, so der Verfasser in dem abermaligen Versuche einer Theodicee zu verbessern bittet, Berlin – Leipzig 1747, S. 19.

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Martin A. Völker „Wiewohl er [der Text] der Konservierung und Weitergabe menschlicher Rede dienen soll und nach biblischem Selbstverständnis vom Geist Gottes eingegeben sein soll, ist er doch zunächst die völlige Entäußerung des menschlichen wie des göttlichen Geistes in die Materie, tote Sinnspur, die im Akt des Lesens zu neuem Leben erweckt werden muss“77.

Der Geist manifestiere sich im Akt des Lesens, wie Körtner sagt. Es geht ihm um das sich zwischen dem Text und dem Leser abspielende Geschehen, „in welchem die tote Sinnspur des Geistes zu neuem Leben erweckt wird und zugleich den Leser erfasst, der seinerseits zu einem neuen Leben und einem neuen Verständnis seiner Existenz gelangt“78. Böldicke vertritt einen dynamischen Ansatz, der Erkenntnis als Erzählung und Erkenntnisstreben als Kunst des Erzählens deutet, indem er die erzählerische Arbeit, die vor ihm Lorenzo Valla und Leibniz geleistet haben, kritisch bewertet und konstruktiv fortsetzt. Er vergleicht den Wissenschaftler (hier den Historiker) mit dem fintenreichen Erzähler: „Wenn wir die Güte und Weisheit Gottes bey der Zulassung des Bösen rechtfertigen wollen; so gehet es uns wie einem Geschichtschreiber eines tugendhaften Monarchen, welcher zeigen will, daß er unbeschadet seiner Vollkommenheiten, einige Unordnungen zugelassen habe. Ein solcher Geschichtschreiber muß erweisen, daß der Regent die Unordnungen nicht habe hindern können. Weil ein Regent aber mächtig ist, und die Macht auch eine Vollkommenheit abgiebt: so ist der Beweis schwer, und muß behutsam geführet werden, damit dem Ruhme des Regenten, durch Zueignung einer nachtheiligen Ohnmacht, nicht Abbruch geschehe“79.

Gilles Deleuze (1925–1995) schreibt in seinem Buch Die Falte [Le pli], der Barock sei der „wunderbare Augenblick vor dem Verlust der Prinzipien, wo man noch etwas eher als nichts aufrechterhält und wo man auf das Elend der Welt mit einem Exzeß der Prinzipien reagiert“80. Böldicke markiert in dieser Hinsicht einen Paradigmen- und Epochenwechsel. Während für Leibniz, wie Deleuze schreibt, „alles von Anfang an abgeschlossen“ sei und „unter Bedingung der Abgeschlossenheit“81 stehe, evoziert Böldicke Offenheit, er fordert die kontinuierliche und gemeinsame Arbeit an unfertigen Erzählungen. „Man hält in der bürgerlichen Gesellschaft nicht für gut“, schreibt Böldicke in der dritten Beilage seiner Theodicee, „daß einer allein um sich graset, und alles bestreiten will. So ist es auch in der Gelehrsamkeit nützlich und billig, daß mehrere an der Ausarbeitung einer entdeckten Materie beschäfftiget seyn“82.

77 U. Körtner: „Rezeption und Inspiration. Über die Schriftwerdung des Wortes und die Wortwerdung der Schrift im Akt des Lesens“, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie (NZSTh) 51, 1 (2009), S. 47. 78 Ebd., S. 48. 79 Böldicke: Erweis, Daß keine vollkommenere Gesetze der Glückseligkeit bey vernünftigen Creaturen möglich gewesen, S. 497. 80 G. Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock (Le pli. Leibniz et le baroque, 1988), aus dem Französischen von U. J. Schneider, Frankfurt a. M. 2000, S. 113–114. 81 Ebd., S. 116. 82 Böldicke: Erweis, Daß keine vollkommenere Gesetze der Glückseligkeit bey vernünftigen Creaturen möglich gewesen, S. 520.

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III. ÜBER DEN UMGANG MIT VERDAMMTEN Interessanterweise setzt man 30 Jahre nach Böldickes Aufwertung des Narrativen immer weniger Hoffnung in die Philosophie, weil sie den homo patiens – den Not leidenden Menschen – übersieht und unnahbar wirkt. Die erzählende Literatur und die dramatische Kunst nehmen sich der vernachlässigten wie vermeintlich lästigen Aufgabe an, dem jenseits der Akademien im Leben schiffbrüchig gewordenen Menschen ein (großes) Publikum zu verschaffen. Jene Menschen geraten ins Zentrum des Interesses, denen es aus persönlich-psychologischen oder aus gesellschaftlichen Gründen nicht gelingt, sich eine gesicherte Existenz aufzubauen, denen es versagt bleibt, ein gutes Leben zu führen. Mit einer solchen Kritik an der Philosophie leitet der Sturm-und-Drang-Autor Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) seine Erzählung Zerbin oder die neuere Philosophie (1776) ein: „Wie mannigfaltig sind die Arten des menschlichen Elends! Wie unerschöpflich ist diese Fundgrube für den Dichter, der mehr durch sein Gewissen als durch Eitelkeit und Eigennutz sich gedrungen fühlt, den verstaubten Nerven des Mitleids für hundert Elende, die unsere Modephilosophie mit grausamen Lächeln von sich weist, in seinen Mitbürgern wieder aufzureizen! Wir leben in einem Jahrhundert, wo Menschenliebe und Empfindsamkeit nicht[s] Seltenes mehr sind: woher kommt es denn, daß man so viel Unglückliche unter uns antrifft? Sind das immer Unwürdige, die uns unsere durch hellere Aussichten in die Moral bereicherten Verstandesfähigkeiten als solche darstellen? Ach! ich fürchte, wir werden uns oft nicht Zeit zur Untersuchung lassen, und, weil wir unsere Ungerechtigkeiten desto schöner bemänteln gelernt haben, aus allzugroßer Menschenfreundschaft desto unbiegsamere Menschenfeinde werden, die zuletzt an keinem Dinge außer sich mehr die geringste moralische Schönheit werden entdecken können, und folglich auch sich berechtigt glauben, an dem menschlichen Geschlecht nur die Gattung, nie die Individuen zu lieben“83.

Böldickes Sextus kann als ein Vorläufer des Zerbin betrachtet werden. Mit ihm bereitet Böldicke den Übergang von der philosophischen Verteidigung Gottes und der besten Welt in ihrer Gesamtheit zu einer literarischen Verteidigung und Aufwertung des Individuums vor. Er konterkariert jenen Optimismus, über den Deleuze schreibt, er gründe sich bei Leibniz „auf die unendlich vielen Verdammten als den Sockel der besten Welten“84. Man könne an die beste der Welten nicht denken, so Deleuze, „ohne die haßerfüllten Ausrufe Beelzebubs zu vernehmen, welche die untere Etage erzittern lassen“85. Böldicke berücksichtigt diese Verdammten und schreibt: „Herr von Leibnitz erklärt die Verknüpfung des Bösen mit der besten Welt durch ein fürtreffliches Gleichniß. Er sagt: die Flecken in der Sonnen erhöhen das Licht; das Böse die Vollkommenheit der ganzen Welt. Dieß ist nur eine allgemeine Application des Gleichnisses. Man kann nun auch die besondere Application hinzufügen, und sagen: wie die Sonnenflecken das Licht der Sonnen erhöhen; also veranlassen die Laster und die damit verknüpften Strafen

83 J. M. R. Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 2, hrsg. von S. Damm, Leipzig 1987, S. 354. 84 Deleuze; Die Falte, S. 125. 85 Ebd.

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Martin A. Völker […] ein erhöhetes Vergnügen der Seligen, dergestalt, daß die erhöheten Annehmlichkeiten das Unangenehme, so die Verdammten empfinden, weit übertreffen“86.

Böldicke formuliert in diesem Zusammenhang einen Gedanken, den er verhängnisvoller Weise als „Grundsatz“87 und Fundament seines Lehrgebäudes bezeichnet: Die Empfindung des Guten werde durch die Erkenntnis bzw. die Vorstellung des Gegenteils erhöht88. Er will mit diesem Grundsatz zeigen und gegenüber Bayle verdeutlichen, dass Gott, ohne seiner Vollkommenheit zu schaden, das Böse zulassen konnte. Es wird gegenüber Böldicke jedoch der schwere Vorwurf erhoben, „daß solchergestalt alle Moralität und die Religion aufgehoben würde“89. Johann Heinrich Gottlob Justi (1720–1771), ein erbitterter Kritiker der Leibniz’schen Philosophie, polemisiert gegen Böldickes Grundsatz mit seiner 1760 veröffentlichten Erzählung Der König und die Unterthanen. Er schildert einen allmächtigen und weisen Herrscher, der die aufbegehrenden und schuldig gewordenen Menschen schwer bestraft, um den anderen ihr vermeintliches Glück zu verdeutlichen: „Endlich war nunmehr die Zeit verflossen, welche der gütigste Monarch seinen ungehorsamen Unterthanen zu Erwerbung seiner Gnade und Erlangung ihrer vorigen glücklichen Lebensart bestimmt hatte. Sehr wenige hatten sich hierzu würdig gemacht: und diese wurden in ihren vorigen glücklichen Zustand vollkommen wieder eingesetzet. Die meisten aber wurden nunmehr zur gerechten Bestrafung gezogen: und nunmehr konnte der Monarch seinen großen Endzweck erfüllen, weshalb er diese bösartigen Gemüther in seinem glücklichen Reiche hauptsächlich zugelassen hatte. Er konnte nämlich seinen gehorsamen und glücklichen Unterthanen diese Elenden in ihrer gerechten Bestrafung vorstellen, um ihnen dadurch den Unterschied ihres Glücks recht begreiflich zu machen, und weit angenehmere Empfindungen in ihnen hervorzubringen. Es wurde demnach ein jeder von diesen Rebellen in ein Dorf glücklicher Unterthanen gesendet, um daselbst die verdiente Bestrafung zu erleiden. Hier wurde ein jeder Rebelle nackend, und elend mit Ketten und Banden beschweret, vor den Augen der glücklichen Unterthanen eines jeden Dorfs täglich herum geführet. Er war der Hitze und zu gewissen Zeiten der Kälte ausgesetzt. Er mußte Hunger und Durst erdulden: und seine Strafe bestund vornehmlich darinnen, daß man nichts weniger als seine Begierden erfüllte, sondern allemal das Gegentheil von dem that, was er wünschte. Es ist wahr, die glücklichen Einwohner lernten nunmehr erkennen, daß sich ein Unterschied unter den Lebensarten befinde: und daß es in der That ein vorzügliches Glück sey, was sie genößen“90.

Auf Böldicke und seine Theodicee bezogen gibt Justi folgende Erklärung zu seiner Erzählung ab: 86 [J. Böldicke:] Einwürfe des Herrn Bayle, wider die geoffenbarte Lehre vom Ursprunge und der Bestrafung des Bösen, nebst der Beantwortung des Herrn von Leibnitz, und einer neuen Auflösung nach den Lehrsätzen des abermaligen Versuchs einer Theodicee: als die Zweyte Beylage zu dieser Theodizee. Den Gelehrten zur Prüfung übergeben von Joachim Böldicken Diacono in Spandau, Berlin – Leipzig 1746, S. 372–373. 87 J. Böldicke: Herrn Herbsts Prüfung, S. 82. 88 Vgl. ebd., S. 80 und S. 82. 89 Ebd., S. 82. 90 J. H. G. v. Justi: Scherzhafte und Satyrische Schriften, Bd. 1, Berlin – Stettin – Leipzig 1760, S. 485–486.

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„Ich erzähle diese Begebenheiten meinen Lesern, damit sie urtheilen sollen, ob dieser König in der That gütig und gerecht genennet werden könne? und hierdurch werden sie zugleich das Urtheil von dem neuen Lehrgebäude von dem Ursprunge des Bösen fällen, das Herr Böldicke in dem abermaligen Versuch einer Theodicee vorgetragen hat. Was mich anbetrifft; so glaube ich, daß ein Lehrgebäude unmöglich richtig seyn könne, welches Gott aufbürdet, er habe zugelassen, daß etliche Geschöpfe ewig unglückselig würden, damit die übrigen eine desto grössere Glückseligkeit genießen möchten“91.

Justis Schilderung und Meinung vermitteln einen guten Eindruck der Kritik, die an Böldicke geübt wird. Justi gibt Böldickes Auffassung sehr verzerrt wieder und manipuliert zugleich seine Leser. Wer möchte auf die vorgeführte Weise von seinem Glück überzeugt werden? Wie kann man nach dem schauerlichen Anblick der Gequälten ein zufriedenes Leben führen? Der König in Justis Erzählung ist allmächtig, und er missbraucht seine Machtfülle, was ihn mehr teuflisch als göttlich erscheinen lässt: Er ist ein brutaler und menschenverachtender Diktator, ein Soziopath, dem die Untertanen hilflos ausgeliefert sind. Der König beherrscht sein Volk, indem er es in Angst und Schrecken versetzt. Das Volk besteht nicht etwa aus mündigen Bürgern, die ihre Persönlichkeit frei entfalten können. Justi beschreibt das genaue Gegenteil einer aufgeklärten Gesellschaft und eines aufgeklärten Staatsoberhauptes. Mit seinem Schreckensszenario lässt er seinen Kontrahenten als Erzfeind der Aufklärung erscheinen. Mit Recht beklagt sich Böldicke über solche Verdammungsurteile, die offensichtlich mit Vernichtungsabsicht gefällt werden92. Er selbst folgt Leibniz und dessen Auffassung, nach der alles in der Welt miteinander verknüpft sei, und jede geringste Bewegung „ihre Wirkung auf eine jedwede Weite“93 erstreckt. Diese Annahme legt nahe, dass es ratsam wäre, die Elenden nicht dafür zu benutzen, um die Gesamtschönheit und das Glück der Mehrheit zu demonstrieren, sondern sie mit ihren Leiden ernst zu nehmen. Denn bereits wenige Verdammte, deren (unbeachtete, ungehörte und unerhörte) Verzweiflung in Wut umschlägt, können eine große Wirkung erzielen, eine Kettenreaktion auslösen, an deren Ende sich im schlimmsten Fall die schöne Schöpfung in eine Hölle verwandelt hat. Damit es genau dazu nicht kommt, müssten Außenseiter und Etablierte, die Elenden und die Arrivierten miteinander ins Gespräch kommen. Diese Gespräche müssten zur Voraussetzung haben, dass den Verdammten eine Stimme zugestanden wird und man ihnen auf gleicher Augenhöhe begegnet. In diesen Gesprächen ginge es nicht darum, aus der Schilderung des Elends die Genugtuung zu ziehen, dass man sich auf der Sonnenseite des Lebens befindet. Die Gespräche würden vielmehr offenbaren, dass sich einige Menschen dem falschen Glauben hingegeben haben, sie lebten bereits in der besten Welt. Solche Gespräche bedeuten das Ende der Naivität. Sie schüren Zweifel und erzeugen Unsicherheit. Aus beidem kann eine Solidargemeinschaft erwachsen. Die beste Welt wäre somit das Ziel, sie ist ein Versprechen, eine Aufgabe, die nur gemeinsam gelöst werden kann. Böldicke lässt Sextus und Theodor ein solches Gespräch beginnen. Justis Erzählung 91 Ebd., S. 487. 92 Vgl. J. Böldicke in: „Hrn. Herbsts Prüfung“, in: Ders.: Herrn Herbsts Prüfung, S. 83. 93 Ebd., S. 43.

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bezeugt dagegen, dass die Zeit für diese offenen und ehrlichen Unterredungen, die das Abrücken von individuellen und kollektiven Ideologien verlangen, noch nicht reif war. Böldicke versucht mit seinem Grundsatz ein philosophisch-metaphysisches Problem zu lösen. Wirft man ihm nun vor, er würde die möglicherweise seiner Grundannahme entspringenden politischen und zwischenmenschlich-moralischen Probleme billigend in Kauf nehmen und unbearbeitet lassen, so ist das nicht allein ungerecht und dreist, sondern dieser Vorwurf verkennt seine Wissenschaftskonzeption und widerspricht seiner Auffassung vom Menschen.

IV. VOM TEXT INS LEBEN: NACH VERABSCHIEDUNG DER ILLUSIONEN MIT DER ANALYSE UND DEM AUFBAU DER WIRKLICHEN WELT BEGINNEN Es gibt zwei Möglichkeiten, um die Rede und Lehre von der besten Welt zu retten: Man kann erstens, wie bei Wilhelm Traugott Krug (1770–1842) nachlesbar, den Abstand derart vergrößern, so dass die menschlichen Probleme immer kleiner werden, je weiter man sich von dem Planeten Erde entfernt. Verstehe man unter der besten Welt die Erde, „die wir als den uns angewiesenen Wohnplatz im Weltalle vorzugsweise unsre Welt nennen: so wär’ es wohl lächerlich zu behaupten, daß diese Welt die beste oder vollkommenste sei. Es mag der Weltkörper sehr viele geben, welche nicht nur größer, sondern auch schöner und herrlicher, und deren vernünftige Bewohner auch in jeder Hinsicht vollkommner als die Menschen sind. Denkt man aber an das Weltall selbst, so müssen wir dieses freilich für das beste und vollkommenste halten, da es das einzige und niemand im Stande ist, ein besseres oder vollkommneres zu denken“94.

Neben diesem kosmischen, extraterrestrischen Optimismus gibt es die zweite, weitaus anspruchsvollere Möglichkeit, die darin besteht, sich den Menschen zuzuwenden, ihre Nöte ernst zu nehmen und die Übel, sollten sie auch philosophisch begründbar sein, zusammen mit ihren Ursachen realpolitisch zu beseitigen. Gerade verworfene Menschen wie Sextus, welche die Gesellschaft längst abgeschrieben hat, deren Schicksal besiegelt zu sein scheint, die aber dagegen ankämpfen wollen, können Zuspruch erwarten. Wer sein scheinbar unabwendbares Schicksal nicht annehmen will, der macht sich auf den dornenreichen Weg aus der fremdund selbstverschuldeten Unmündigkeit. Jede Aufklärung bzw. jede aufgeklärte Gesellschaft muss sich daran messen lassen, inwieweit sie die Eigeninitiative der Menschen unterstützt und begleitet. Der anfangs zitierte anonyme Verfasser der Philosophische[n] Gedancken, über die Frage: Ob die gegenwärtige Welt die beste sey? regt 1744 an, dass die christlichen Weltweisen den Satz bzw. die Redensart, diese sei die beste Welt, vermeiden sollten; diese Formulierung könne missverstanden werden und großen Unmut erregen, da gemeint sein könnte, die 94 W. T. Krug (Hrsg.): Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte. Nach dem heutigen Standpuncte der Wissenschaft bearbeitet und herausgegeben, Bd. 3: N bis Sp, Leipzig 1828, S. 110 (Artikel „Optimismus“).

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Sünde würde als etwas Gutes für unentbehrlich gehalten95. „Man würde viel nützlicher handeln“, heißt es, „wenn man, an statt zu beweisen, daß diese Welt die beste sey, sich vielmehr bemühete, das moralische Böse in sich und andern zu verhindern und auszurotten. Denn dieser gantze Beweiß wird doch nur wegen der Frage geführet: Woher das Böse oder die Sünde kommen sey? Da nun aber ohnedem alle Menschen darinnen mit einander eins sind, daß Böses in der Welt sey, wäre es denn nicht besser, man suchte das Böse los zu werden, als daß man den Ursprung oder vielmehr die Möglichkeit dessen so sorgfältig untersuchet? Denn man gewinnet doch mit dem gantzen Beweise von der besten Welt nicht vielmehr, als daß man zeiget, es sey möglich gewesen, daß GOtt das Böse zugelassen“96.

Böldicke denkt ähnlich, wenn er die Ansicht konturiert, dass man die menschliche Natur selbst nicht ändern kann, wohl aber die Umstände, in denen der Mensch lebt97. Wenngleich die physisch-triebhafte Struktur des Menschen festgelegt ist, versucht Böldicke, den Handlungsspielraum des Menschen zu vergrößern. Er wirbt für eine Konzeption, die dem Menschen etwas Unbestimmtes lässt, „damit er [der Mensch] die Schuld der Sünden behalte“98, was nichts anderes bedeutet, als dass der „Eigensinn“99 als Entscheidungshoheit, Mündigkeit und Verantwortung aufgewertet wird. Die beste Welt steht und fällt damit, dass der Mensch die Möglichkeiten und die Grenzen seiner sinnlichen und geistigen Natur ergründet und die gewonnenen Erkenntnisse für alle gewinnbringend einsetzt. Im Vorwort zu seiner Theodicee plädiert Böldicke für eine alltagsorientierte Erforschung des Menschen und deutet ein soziopsychologisches, soziokulturelles Forschungsprogramm an, das weit über seine Epoche hinausweist: „So hilft das Disputiren von den Temperamenten, der Freyheit und Nothwendigkeit, der Frage, ob der Wille schlechterdings der Vorstellung folgen müsse? &c. nicht sehr viel in der Sittenlehre, woferne wir nicht durch genaue Versuche bemerken, unter was für Umständen die Gedanken und Begierden in der Seele erfolgen, was in den Handlungen durch Vorstellung und Gewohnheit kann verändert werden, was aber bey einem einzeln Menschen, bey allen Umständen, unverändert bleibt, und eigentlich das Naturell ausmacht, was die Gewohnheit, was die Vorstellungen, was die Speisen &c. zur Veränderung beytragen“100.

Das Nachdenken über den Menschen führt bei Böldicke zu einem ganzheitlichen Wissenschaftskonzept, zu einer Einheit von Theorie und Praxis, von Philosophie und Politik: 95 Vgl. Philosophische Gedancken, S. 44–45. 96 Ebd., S. 42–43. 97 Vgl. Böldicke: Erweis, Daß keine vollkommenere Gesetze der Glückseligkeit bey vernünftigen Creaturen möglich gewesen, S. 520–521: „Die Gesetze der Glückseligkeit sind die Bedingungen und Umstände, unter welchen wir, vermöge unsers Wesens, das Gute und Böse entweder stark, oder schwach empfinden. Die Gesetze der Glückseligkeit kann ein Mensch, auch der größte Monarch, nicht ändern, weil er das Wesen der Creatur nicht aufheben kann. Die Umstände in der Welt aber sind mehr in unserer Gewalt. Wenn wir nun wissen, was für Umstände erfodert werden, wenn wir eine größere Glückseligkeit erlangen wollen, und solche Umstände veranlassen können, so ist der größere Grad der Glückseligkeit in unserer Gewalt“. 98 Ebd., S. 495. 99 Ebd. 100 Böldicke: Abermaliger Versuch Einer Theodicee, S. XIII.

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Martin A. Völker „[D]ie Lehre von der Zulassung des Bösen und den Ursachen derselben kommt in der Staatskunst vor. Will man davon die Ursachen angeben, so muß man die Natur der Geister untersuchen. Dieß letztere geschiehet in der Geisterlehre und Grundwissenschaft. Wer also die Politik, Pnevmatologie und Metaphysik wohl verstehet, kann sich rühmen, daß er die specielle Materie inne habe“101.

Diesem Ansatz ist inhärent, dass sich der Mensch als Gemeinschaftswesen erkennt und neben der Denkfreiheit zunehmend politische Gestaltungsmacht einfordert. Böldicke verändert hiermit den Blickwinkel der Theodizee: Ging es vor ihm um die Fragen, warum Gott das Böse zulässt, wie Gott angesichts der Übel in der Welt zu rechtfertigen ist, so muss sich nun jeder einzelne Mensch fragen lassen, warum er keine Verantwortung übernimmt, warum er das Gute unterlässt, und warum er sich gegenüber den Leiden seines Nächsten taub und blind stellt.

101 [Böldicke:] „Erörterung der Frage: Wer unter den streitenden Parteyen in der gelehrten Welt einen richterlichen Ausspruch thun solle“, in: [Ders.:] Herrn Herbsts, adjungirten Superintendenten, S. 22.

THEODIZEEGEDANKE UND DESAVOUIERUNG DER ZUFÄLLIGKEIT – MIT BESONDEREM BEZUG AUF JEAN PAUL Eugenio Spedicato (Pavia)

„Die Sünde ist im Gedanken. Ob der Gedanke Tat wird, ob ihn der Körper nachspielt, das ist Zufall“. (Georg Büchner)

I. DIE AUSSTRAHLUNGSKRAFT DER THÉODICÉE In der Sextus-Tarquinius-Dialogparabel kommt die Théodicée zu ihrer Vollendung. Als Fortsetzung und Korrektur von Lorenzo Vallas De libero arbitrio bietet dieses philosophisch-literarische Kleinod eine Allegorie des Theodizeegedankens und zu gleicher Zeit eine Lösung für das Problem der kontingenten Zukünfte bzw. für die Eindämmung der Zufälligkeit. Die geordneten Reihen der potenziell vorhandenen, in der Tat inkompossiblen Welten filtern das Unvorhersehbare, die ungeborenen Dinge opfern die Möglichkeit ihres Werdens der bestmöglichen Welt, das große mathematische Spiel der Providenz ergötzt die Intelligenz Gottes. Gegen die „indifférence d’équilibre“1, d. h. gegen die Ausgeburt des auf falschen Voraussetzungen ruhenden Zufallsglaubens wird nun in der Théodicée die ägyptische Vertikalität des Unendlichen evoziert. Erst gegen Ende der Aufklärung, als durch die kritische Philosophie der theologisch-metaphysische Hintergrund abhanden kommt, geht der Stern der Leibniz’schen Pyramide unter. Mit dem Aufstieg des Autonomieprinzips ist einer der kühnsten metaphysischen Flüge der abendländischen Geistesgeschichte endgültig beendet. Wird die Providenz z. B. bei Leopardi zu einem Relikt vergangener Illusionsgeschichten verfallen und bei Schopenhauer durch den blinden und ziellosen Drang des Willens ersetzt, dann verwildert Leibniz’ Pyramide zu einer piranesischen Ruine. Vom Kompensationsdenken grundsätzlich abgewandt, feiert Nietzsche in Also sprach Zarathustra (1883) den Zufall, den Leibniz als Ignoranz der Ursachen, die bestimmte Wirkungen auslösen, liquidiert hatte, als ein irreduzibles, erkenntnis-, kunst- und handlungstheoretisch zu bejahendes Moment von Welt und menschlicher Existenz: 1

Essais de Théodicée, § 35; GP VI, 122. Zitate aus der Théodicée werden im Folgenden nur im laufenden Text nachgewiesen.

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„Ein wenig Weisheit ist schon möglich; aber diese selige Sicherheit fand ich an allen Dingen: dass sie lieber noch auf den Füssen des Zufalls — tanzen“2. Die Orientierung an der Zufälligkeit solle, so meinte Nietzsche, den kreativen und möglichkeitsorientierten Sinn der Philosophie stärken. Nach fast einem Jahrhundert wird Adorno in seiner Negativen Dialektik (1966) gegen Hegel und Marx das Vereinzelte und Unerhebliche in Schutz nehmen und die Philosophie zu einer Umwertung von Zufall und Kontingenz auffordern, damit man sich eben auf das konzentrierte, worauf andere das Etikett der faulen Existenz kleben. In der literarischen Imagination der klassischen und späteren Moderne verfestigen sich Raumstrukturen, die nicht die Integration des Vereinzelten und Unerheblichen in eine es bergende Architektur der Vernunft voraussetzen, sondern seine in einem undurchsichtigen Bau der Unvernunft gefangen genommene Selbstreferentialität versinnbildlichen, etwa Kafkas Gerichtsräume, wie sie Welles in seiner Verfilmung (1962) des Proceß imaginierte und mit resignierten Opfermenschen füllte, oder Dürrenmatts Spiegellabyrinth in Minotaurus. Eine Ballade (1985), in dem der Minotaur gezwungen ist, sich als vervielfältigten Spiegelreflex wahrzunehmen, ohne zu ahnen, dass andere ihn in diese Hölle scheinbarer Evidenz versetzt haben, um ihn zu verwirren3. Vor dem Hintergrund der Kompensationskultur des späten achtzehnten Jahrhunderts ist Leibniz’ Pyramide ein Leuchtturm, sein Alles-ist-gut-Lichtsignal weist Denkern und Dichtern den Weg, sie ist eben deshalb dazu prädestiniert, in einem Lichtmetamorphosen spendenden Prisma umzukippen. Die Vorstellung der harmonia mundi lenkt die Denk- und Dichtrichtung bei Philosophen und Schriftstellern weit über den in der Théodicée behandelten Fragenkomplex hinaus und löst Transformationen sowie Weiterführungen des Theodizeegedankens im Namen einer Kampfansage an das Zufällige aus, freilich ohne dass es möglich und 2

3

F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, I–IV, in: Ders.: Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Bd. IV, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin – New York, 1967–1977 und 1988, S. 209. Zu erwähnen wären darüber hinaus u. a. auch Odo Marquards Apologie des Zufälligen oder Rüdiger Bubners Begriff der Handlungskontingenz. Grundlegend für eine umfassende Erörterung der Zufall-Kontingenz-Problematik ist nach wie vor G. v. Graevenitz/O. Marquard (Hrsg.): Kontingenz, in Zusammenarbeit mit M. Christen (= Poetik und Hermeneutik XVII), München 1998. Für eine synthetische, sehr hilfreiche Rekonstruktion von Zufall und Kontingenz im philosophischen Diskurs des 20. Jahrhunderts vgl. A. Hoffmann: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 184), Frankfurt a. M. 2005, bes. S. 38– 47. Für den im vorliegenden Aufsatz nicht explizierten Unterschied zwischen Zufall und Kontingenz wird auf folgende Erklärung von Bubner zurückgegriffen: „Um einer häufigen Begriffsverwirrung auszuweichen, sollte man Kontingenz nur jenen Raum nennen, der sich ontologisch erschließt, wo das Auch-anders-sein-können regiert. Zufall im strengen Sinne ist dann dasjenige, was innerhalb dieses vorgängig eröffneten Raumes tatsächlich sich verwirklicht, wobei das faktische Eintreten einer aus einer Mehrzahl von Varianten ohne erkennbaren Grund erfolgt. Kontingenz heißt Zufälligkeit, und Zufall ist grundlos fixierte Kontingenz“. Vgl. R. Bubner: „Die aristotelische Lehre vom Zufall. Bemerkungen in der Perspektive einer Annäherung der Philosophie an die Rhetorik“, in: Graevenitz/Marquard, S. 3–21, hier S. 6–7.

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berechtigt wäre, von Rezeption im strengen Sinne zu sprechen. Kaum eine der hier zu nennenden Transformationen beruht auf einer präzise abgrenzbaren Einwirkung der Théodicée, geschweige denn auf einer direkten Auseinandersetzung mit ihr. Bei keinem der hier berücksichtigten Autoren lässt sich z. B. ein Zitat aus der Sextus-Tarquinius-Parabel oder die Erwähnung der Leibniz’schen Pyramide finden. Der hier erörterte Leibnizianismus betrifft nicht einzelne Fragen in technisch-philosophischer Hinsicht, vielmehr ist es die Grundhaltung der Théodicée als einer die Zufälligkeit eindämmenden ‚Weltweisheit‘, die die neuen ‚alternativen Theodizeen‘4 nach der Wiederentdeckung Leibniz’ (1763 erschien die Theodizee in der Ausgabe von Gottsched, 1768 erschien Louis Dutens’ sechsbändige und dennoch unvollständige Ausgabe der Opera omnia, drei Jahre zuvor hatte Raspe die erste umfassendere Leibniz-Ausgabe herausgegeben5) zutiefst prägte. Es handelt sich also um eine Auseinandersetzung mit Leibniz’schem Gedankengut oder auch nur um Parallelismen und Gemeinsamkeiten auf dem Hintergrund der europäischen Kompensationskultur, für die die Inflation von Theodizeen im 18. Jahrhundert mitverantwortlich war. Was grundverschiedene Autoren wie Lessing, Lavater, Herder und Jean Paul in diesem gemeinsamen Kontext einander näher rückt, ist nicht so sehr die Ausstrahlungskraft der Leibniz’schen Argumente an sich, als vielmehr die Wirkung des Kompensationsgedankens, die Ausgrenzung des Zufalls, das Bedürfnis nach einer ‚permanenten Theodizee‘6.

II. LESSING: GEGEN DEN SELBSTVERHÄNGTEN FATALISMUS Geht mit dem Absterben der Theodizee-Epoche das Licht in den Gemächern der Leibniz’schen Pyramide aus, so bleibt doch der Totalitätsanspruch bestehen, sei er auch durch Kritik und Ablehnung nicht wenig angegriffen. Gerät das vierfache Dreieck auf quadratischer Grundfläche, ein Symbol für Ordnung und Potenz, in den Schatten, so tritt ins Rampenlicht der Kubus, der Spielwürfel, das Symbol der Fortuna, ein Requisit des Berufshasardeurs. Vergebens hatte Leibniz in der Théodicée davor gewarnt, sich im Spiel aufs Glück zu verlassen, als wäre es etwas Beständiges, das aus dem Inneren kommt, ohne zu bedenken „qu’il y a ordinairement un flux et reflux dans la fortune, una marea, comme les Italiens jouant à la bassette ont coutume de l’appeler […]“ (Vorwort, 21). Dabei hatte er moniert, dass diese falsche Einbildung zwar unter manchen Umständen und für manche Leute wie z. B. Soldaten oder wohl auch Glücksspieler nützlich sein könnte, aber die Wahrheit unbedingt von höherem Wert sei.

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5 6

Die Formulierung ‚alternative Theodizeen‘ stammt aus Th. P. Saines Buch Von der Kopernikanischen bis zur Französischen Revolution. Die Auseinandersetzung der deutschen Frühaufklärung mit der neuen Zeit, Berlin 1987, bes. Kap. IV. Vgl. ders.: Die ästhetische Theodizee Karl Ph. Moritz’ und die Philosophie des 18. Jahrhunderts, München 1971. Oeuvres philosophiques Latines et Françoise de feu Mr. de Leibniz, Amsterdam 1765. K.-H. Bohrer: „Die permanente Theodizee. Über das verfehlte Böse im deutschen Bewußtsein“, in: Ders.: Nach der Natur. Über Politik und Ästhetik, München 1988, S. 133–161.

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Keine Wirkung aber zeigte diese weise Mahnung bei Johann Karl Wezel, der den Fatalismus so sehr liebte. Der Mensch selbst sei ein „Spielwürfel“ mit unzähligen Seiten, steht in seinem Roman Belphegor oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne (1776) geschrieben, man werfe ihn auf den Spieltisch des Lebens, wie man will, auf jeder dieser Seiten würden „Neid“ und „Vorzugssucht“, seien sie auch jeweils anders verkleidet, erscheinen7. Eine Variation dieses Glaubensartikels bot Wezel in seiner satirischen Erzählung Einige Gedanken und Grundsätze meines Lehrers, des großen Eufrosinopatorius (1777–1778). Hier wird das Leben selbst als Spielwürfel bezeichnet; für jeden Einzelmenschen werfe ‚das Schicksal‘ den rätselhaften Kubus anders und bloß eine Seite bleibe dem sich aus Illusionen speisenden Individuum sichtbar8. Eine altkluge Vorstellung kam hiermit zu Wort, die das Potenzial der in jedem Wurf verborgen liegenden Möglichkeiten verkennt, nämlich jenes als Gefahr empfundene, eigentlich stets als Lebenschance zu sehende Auch-anders-sein-können, das unter entgegengesetzten Prämissen auch Leibniz von seiner philosophischen Lehre fernhalten wollte. Es ist begreiflich: Das Auch-anders-sein-können schafft einen Zustand des Ausgeliefertseins, der permanenten Unbestimmtheit, der durch nichts ausgeglichen werden kann und deshalb auch nicht verschwindet, wenn wir unsere Kräfte der Wirklichkeitsbeherrschung anstrengen. Während das Handeln sich vollzieht, steht jede Tätigkeit unter Vorzeichen des Auch-anders-sein-könnens. Von dieser Grundbefindlichkeit der menschlichen Existenz wurde z. B. ein Schriftsteller wie Kleist zutiefst geprägt. In seiner Novelle Das Erdbeben in Chili (1807) lässt sich ein physischpsychisches Umschlagen von einer Situation in die andere beobachten. Selbst das Kleist’sche Schreiben bietet eine ähnliche Erfahrung, immer wieder umschlagend wie es ist, bis in den Satzbau hinein, „zwischen einer unmenschlichen Folgerichtigkeit und einer ebenso krassen Haltlosigkeit, Offenheit, Indetermination“9. Lebensplan im Sinne von Das-Leben-planen contra Lebensspiel im Sinne von Das-Leben-aufs-Spiel-setzen ist die Alternative in Lessings Komödie Minna von Barnhelm (1767). Die antifranzösische Figur des Riccaut bezeugt nicht bloß Lessings Anschluss an älteste Komödientradition, bzw. an den weltliterarisch geläufigen, komisch-satirisch gespiegelten Typus des schwadronierenden Capitano, des großmäuligen, prahlerischen miles gloriosus sowie des bettelarmen, schmeichlerisch-spitzbübischen Parasiten. Riccaut mag auch den Typ des Glücksspielers, des fatalistisch gesonnenen Gelegenheitsmenschen illustrieren, der aufs Zufällige setzt und es mehr oder weniger geschickt zu manipulieren versucht. Sein Credo: „Tous les gens d’esprit aiment le jeu à la fureur“10. Im Vertrauen des Glückspielers auf J. C. Wezel: Belphegor oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne, hrsg. von H. Gersch, Frankfurt a. M. 1965, S. 148. 8 J. C. Wezel: Satirische Erzählungen, hrsg. von A. Klingenberg, Berlin 1983, S. 178. 9 Vgl. hierzu P. Gendolla: „Erdbeben und Feuer. Der Zufall in Novellen von Goethe, Kleist, Frank und Camus“, in: P. Gendolla/Th. Kamphusmann (Hrsg.): Die Künste des Zufalls, Frankfurt a. M. 1999, S. 196–217, bes. S. 208. 10 G. E. Lessing: Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück, in: Ders.: Werke in fünf Bänden, hrsg. von den nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Berlin – Weimar 1988, Bd., 1, S. 189. 7

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die Unabhängigkeit aller Ereignisse, die, an keine Kettenreihe des Allgemeinen gebunden, nur der launenhaften Fortuna unterworfen sind, geht der Anspruch auf eine bindende Wahrheit verloren, gleichviel ob diese essentiell (Leibniz) oder prozessual (Lessing) gemeint ist. Dies eben will Lessing verhindern – in der Nachfolge Leibniz’, wenn man so sagen darf. In vielen literarischen Texten trifft man auf Hasardeure, Improvisatoren, Schauspieler ihrer selbst, Glücksritter, Spielerfiguren, – auf Gestalten, deren einzige Funktion, wie z. B. in Arthur Schnitzlers Erzählwerken, darin zu bestehen scheint, den das Sinngefüge der Welt zersetzenden Zufall zu nutzen, zu deuten oder durch Geschick oder Betrug ‚providentiell‘ zu manipulieren. Dieses Verhalten eines ‚impressionistischen Rollenspiels‘ aber, um einen Ausdruck aus der Schnitzler-Forschung wieder aufzunehmen, ist ‚wahrheitswidrig‘ und fällt gegebenenfalls unter das Verdikt des Komischen. Was das Komische aus ideologischer Eingeschränktheit nicht einzusehen vermag: Gelegenheitsmenschen wie Riccaut oder etwa auch Kleists Dorfrichter Adam sind literarische Projektionen des Pragmatiker-Typus, des Utilitaristen, dem jeder der Wahrheitsliebe verpflichtete Objektivitätsanspruch wesensfremd, dafür Glücksspiel, Amusement und Korrumpierbarkeit identitätsbestimmend sind. Das Komische verfehlt das Gefährliche an diesem Existenzmodell, indem es dasselbe als Charakterschwäche banalisiert. Bei Lessing ist indes ‚Wahrheit‘ bindend und verbindend wie Minnas Persönlichkeitskonzept, wie Nathans Ringparabel. Noch einmal ließe sich im Hintergrund die mahnende Stimme aus der Théodicée vernehmen: „La vérité est qu’on aime à s’égarer, et que c’est une espèce de promenade de l’esprit qui ne veut point s’assujettir à l’attention, à l’ordre, aux règles. Il semble que nous sommes si accoutumés au jeu et au badinage que nous nous jouons jusque dans les occupations les plus sérieuses, et quand nous y pensons le moins“ (Essais de Théodicée, § 56; GP VI, 133).

Sei Riccaut eine komisch klägliche Variante zum einen des tiefsinnigen Melancholikers Tellheim, zum anderen der glaubensfesten Hasardeurin Minna, eines wenigstens hat er mit ihnen gemeinsam: Als ein Inbegriff des Possenhaften ist er nicht weniger als sie fester Bestandteil der harmonia mundi, ein untergeordneter Rollentyp, der ex contrario die wahrhaft wendige, elastische Persönlichkeitsdynamik der Aufklärerin Minna hervorhebt. Die von Minna inszenierte therapeutische Aufklärungskomödie steht im Dienste einer verweltlichten und subjektivierten Theodizee, die gegen selbstverhängten Fatalismus als eine psychische Verblendungsform kämpft, die barocke Glücksauffassung als bestimmende Dimension von Welt zu einer individuellen Glücksvorstellung umformt und damit das barocke Glückskonzept außer Kraft setzt. Minnas Ideal ist deshalb, wie in Leibniz’ prästabilierter Harmonie, das der perennierenden Homöostase, in der alle von der marea des Glücks und Unglücks verursachten Gleichgewichtsstörungen entschärft sind. „Ein Mann wie du, bleibt da / Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt / Ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, / Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern“. (V. 1845–1848) – so argumentiert Lessings Saladin bei seinem Versuch, Nathan aus seinem Gehäuse herauszuholen, wobei die Voraussetzung dieser Aussage – nur die Vernunft sei entscheidungsfähig – und ihr Zweck – die Überle-

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genheit einer Religion über andere – in jeder Hinsicht unvertretbar sind und von Nathan durch die Ringparabel dementiert bzw. korrigiert werden. Zugehörigkeit zu einem bestimmten Herkunftsbereich darf kein absoluter Wert sein, das stimmt. Aber aus dem zufälligen Hingeworfensein, das so sehr an die SpielwürfelMetapher erinnert, darf weiterhin das möglichst Beste gemacht werden. Eben darin liegt Nathans Bemühung, seine persönliche Lebenssituation mit der Wahl des Besseren in Übereinstimmung zu bringen, eine Konstellation, die der sämtliche Zufälle steuernde deus ex machina der Komödie begünstigt. Nathan weicht dem Beinstellen des Saladins geschickt aus und bleibt aufrecht stehen, was eindeutig zeigt, dass er sich der Verwiesenheit der Vernunft auf die Geschichte und insofern der Grenze der Vernunft bewusst ist. Während Leibniz noch glaubte, wie Oelmüller richtig bemerkt, dass die theoretische Vernunft in der Lage sei, im Blick auf die unendliche göttliche Perspektive eine Theodizee zu liefern, bestritt Lessing, dass die menschliche Vernunft – und auch die der Dichter und Dramatiker – diese unendliche Perspektive besitzt11. Und doch war sein Ausgangspunkt – die gegenseitige Ergänzung von Vernunftwahrheit und Offenbarungsglauben – auch Leibniz’ Hauptanliegen gewesen. Wie Pope, ein Metaphysiker! bezeugt, wird bei Lessing die Trostlosigkeit über die göttliche Ohnmacht, zur Linderung der Übel und des Schmerzes direkt einzugreifen, durch einen radikalen Alles-ist-gut-Optimismus und einen ebenso überzeugten Alles-wird-besser-Meliorismus kompensiert.

III. EINE ART THEODIZEE, IM ANTLITZ ABLESBAR Der zureichende Grund für die Verwirklichung eines kontingenten, d. h. nichtnotwendigen Möglichen könne – Leibniz zufolge – nicht aus anderem, bereits existierendem Wirklichem erschlossen werden, da die empirische Wirklichkeit insgesamt kontingent sei und deshalb in jedem Einzelelement der zureichenden Begründung erst bedürfe; ein auf die Empirie festgelegtes Fragen geriete somit in einen infiniten Regress. Notwendig müsse der zureichende Grund des empirischen Geschehens außerhalb der Reihe der Zufälligkeiten liegen. Genau an diesem Punkt dürfte nun – in einer idealen Fortsetzung der bestimmenden Intention der Leibniz’schen Philosophie – an Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente (1775) als eine Art Ersatz-Theodizee erinnert werden. Die Synthese zwischen Vernunftwahrheit und Offenbarungsglauben wird bei ihm nicht mühsam gesucht, wie bei Lessing, sondern schlicht vorausgesetzt. Für den rüstigen Geistlichen, der den erstaunlich unglücklichen Johann Georg Zimmermann durch seine Spekulationen über das Körperleben nach der leiblichen Auferstehung trösten und Moses Mendelssohn unbedingt zum Christentum bekehren wollte, war Leibniz einer der großen ‚Weltweisen‘. Nicht anders als sein Lehrmeister Charles Bonnet verstand auch Lavater ‚Weltweisheit‘ als Desavouierung des Zufälligen.

11 Vgl. W. Oelmüller: Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel, Frankfurt a. M. 1969, S. 92.

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„Zufall – soll’s seyn, nicht natürlicher Einfluß, nicht unmittelbare wechselseitige Wirkung, wenn gerad in dem Augenblicke, da der Verstand tiefblickend, der Witz am geschäfftigsten ist, das Feuer, die Bewegung oder Stellung der Augen ebenfalls sich am merklichsten verändert?“

– fragte er rhetorisch in den Fragmenten12. Potenziell gefährlich erschien ihm die unermessliche Vielfalt des Singulären, da die Seele im Ozean des Disparaten und Unbestimmbaren zu einem Spielball der Beliebigkeit zu werden riskierte. Es galt ihm deshalb, ein Prinzip festzumachen, das die Beliebigkeit, die verpönte ‚Willkür‘, in seinen Augen ein Glaubenssatz der Gotteslästerer, außer Kraft setzte. Wenn es darum ging, Willkür an den Pranger zu stellen, geriet Lavater in Schwung: „Man kann es nicht genug sagen, die Willkührlichkeit ist die Philosophie der Thoren, die Pest für die gesunde Naturlehre, Philosophie und Religion. Diese allenthalben zu verbannen, ist das Werk des ächten Naturforschers, des ächten Weltweisen, und des ächten Theologen“ (Lavater, S. 34).

Gegen die Geißel der Zufälligkeit seien Ursache und Wirkung unerlässlich, der zureichende Grund müsse als Knüppel eingesetzt werden, nichts dürfe zufällig bzw. willkürlich sein, dahinter sollen immer nur Naturgesetz oder Willensäußerung, freilich unter Gottes Obhut, stehen – so wiederholt Lavater unermüdlich in seiner Physiognomik, um das Auftreten von Unberechenbarkeit zu verhindern, um den Hiatus zwischen Körper und Psyche zu überbrücken. ‚Präformation‘ war in der Théodicée das magische Wort, das den bestmöglichen Frieden zwischen den zwei alten Feinden (Körper und Psyche) hervorzauberte. Präformiert sein, wie Sextus, und doch frei werden können: So lautete Leibniz’ Herausforderung an die menschliche Vernunft. „De sorte que les lois qui lient les pensées de l’âme dans l’ordre des causes finales, et suivant l’evolution des perceptions, doivent produire des images qui se rencontrent et s’accordent avec les impressions des corps sur nos organes, et que les lois des mouvements dans le corps, qui s’entresuivent dans l’ordre des causes efficientes, se rencontrent aussi et s’accordent tellement avec les pensées de l’ âme que les corps est porté à agir dans le temps que l’ âme le veut“ (Essais de Théodicée, § 62; GP VI, 137).

Gedanken oder Handlungen, dieser Unterschied spielt keine Rolle. Auch die Handlungen eines Menschen sind bei diesem gemäßigten Determinismus bereits durch das Wesen des Menschen festgelegt, da er stets seiner stärksten Neigung folgt. Leibniz’ Prinzip des zureichenden Grundes ist für Lavater grundlegend. Schönheit ebenso wie Hässlichkeit sind ihm ‚wesentlich‘, nicht akzidentiell, so dass sie nicht im willkürlichen Geschmack des Betrachters, in seinem Auge, sondern im Antlitz des Betrachteten als Hervorbringung seiner seelischen Disposition zu suchen sind. Was in der Seele vorgeht, dies hat seinen Ausdruck auf dem Angesicht, und nicht-okkasionelle Tugend hinterlässt permanent sichtbare Spuren – so etwa lautet Lavaters Glaubenssatz. Durch die Wiederholung seiner rhetorischen Fragen galt es ihm, die Horror-Vision einer Welt zu ächten, in der moralische 12 J. C. Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, hrsg. von C. Siegrist, Stuttgart 1984, S. 33. Alle Zitate entstammen dieser Ausgabe.

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Schönheit oder Hässlichkeit „ohne zureichenden Grund bald schön bald hässlich“ (Lavater, S. 49) wären. Einer solchen Welt entgegenzuwirken war eben Aufgabe der Physiognomik als Vademecum des beobachtenden Dilettanten. Ein solides Kriterium könne, so meint Lavater, die Gefahr der Selbsttäuschung des Beobachters vor falschen ‚Schönen‘ und falschen ‚Hässlichen‘ abwenden: die ausgebildete Fähigkeit des Physiognomikers, die guten Wurzeln von den schlechten, den guten Stamm von dem schlechten, die ordentlichen Zweige von den wilden zu unterscheiden (Lavater, S. 58). Die Voraussetzung dafür, glaubt Lavater, sei die Veranlagung des Charakters, es sei eben das Naturell der Persönlichkeit, das unleugbar stets vorhanden sei, durch wiederholte Handlungen hervortrete und immer einen Ausdruck im Angesichte finde. Perfektibilität ist deshalb im Sinne Lavaters wie ein Sprungbrett, das für jeden Menschen bereitliegt, um sich jenseits der vererbten Veranlagung nach oben zu schwingen, um Moralität zu erobern und innerlich und äußerlich schön zu werden. Versuchte Leibniz dem antagonistischen Prinzip des Bösen philologisch und durch historische Spekulation über Ahrimans Herkunft Plausibilität abzusprechen, ermahnte Lavater die Beförderer der Wissenschaften dazu, nicht bei schlechten Darstellungen des Menschlichen zu verweilen, generell nicht an die Schlechtigkeit des Menschen zu glauben, da Schwarzmalerei zum Schlechtsein ermuntert und den Mut oder die Versuchung einflößt, das Schlechte und nicht das Gute aus sich hervorzubringen. Den Menschen verschönere man, wenn man ihn verbessere – so lautet Lavaters Leitgedanke (vgl. Lavater, S. 69). Auf dieser Grundlage war ihm dann möglich, Konsequenzen im Bereich des Ästhetischen zu ziehen und z. B. gegen Holbeins Judas-Porträt zu protestieren, weil dort der Apostel bloß wie ein vom Geiz entstellter Verräter dargestellt worden sei. Eine Physiognomik müsse es geben, meinte Lavater – darauf läuft es hinaus, auch wenn man sich den schlechten Ruf des Visionären oder des Schwätzers zuzöge. Lavater war schließlich seine Physiognomik so legitim und notwendig wie Leibniz seine Theodizee, um die Welt nicht in einer fatalistisch belegten Kasuistik, ja in einer Hölle der Koinzidenzen zerfallen zu lassen. Was würde geschehen, wenn Gefühle und Handlungen keinen ‚physiognomischen Sinn‘ besäßen, sondern undurchdringlich, nicht zu entziffern wären? Verwirrung, Unzuverlässigkeit, Unsicherheit und Ungereimtheit würden sich dann ausbreiten: „Was ist die ewige Unsicherheit im Handeln für eine immerwährende Plage und ein schreckliches Hinderniß in allem, was wir unmittelbar mit den Menschen zu thun haben; und wie unendlich würde alsdann die Sicherheit, die auf einer Summe angeblicher, oder blos confus gedachter, deutlich bemerkter, oder blos empfundener Wahrscheinlichkeiten beruht, geschwächt! Wie viele Millionen Handlungen und Unternehmungen, die die Ehre der Menschheit sind, würden unterlassen werden!“ (Lavater, S. 93)

Darum ging es eben Lavater, Beständigkeit aus dem wirren Schauspiel des Unbeständigen hervorzuzaubern, die Zufälligkeit als falsche Weltsicht an den Pranger zu stellen, Vervollkommnung zu predigen. Der Physiognomiker – ein Alias für den Advokaten Gottes – weiß es besser: „Er trennt das Feste in dem Character von dem Habituellen, das Habituelle von dem Zufälligen“ (Lavater, S. 96). Der Mensch sei frei wie der Vogel im Käfig – meinte Lavater, und durch diesen kruden

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Realismus gewann seine Denkart demokratische, ideologiefeindliche Züge. Der Mensch kann sich verbessern, die Natur setzt ihm unüberwindliche Schranken entgegen, deshalb soll Erziehung nicht mit der Peitsche in der Hand, sondern mit Liebe und Verständnis für die Vogel-im-Käfig-Existenz aller Menschen betrieben werden – so lässt sich Lavaters Grundsatz resümieren. Darin hatte der Schweizer Theologe, der dies zur Zeit der despotischen Erziehungsmethoden schrieb, selbstverständlich Recht, aber gerade in einer Welt der absoluten Kontingenz, in der es keine bindende Wahrheit, sondern nur prozessual zu erreichendes Einverständnis und zu überwindende Schranken gibt, in einer derart verfassten Welt, von der er und Leibniz sich mit Abscheu abwandten – wäre sein Grundsatz sogar zwingend.

IV. HERDERS HISTORIODIZEE UNTER VORZEICHEN DER ‚HUMANITÄT‘ Ernst Cassirer bezeichnete Johann Gottfried Herders Geschichtsphilosophie als gelungene Transformation der Leibniz’schen Monadologie wie auch der Leibniz’schen Theodizee. Herders Leitidee, dass jede Nation den Mittelpunkt ihrer Glückseligkeit ebenso in sich habe wie jede Kugel ihren Schwerpunkt und dass deshalb Zeitalter, Epochen und Nationen jeweils ihren relativen Vollkommenheitsgrad erreichen, interpretierte Cassirer als eine Fortschreibung des Leibniz’schen Theodizee-Gedankens, sogar als ihre „tiefste Fassung“, die Leibniz „nicht beschieden war“13. Dieses Verdienst Herders liege nach Cassirer in zwei Faktoren, die Nähe und Ferne zwischen beiden Denkern bestimmen würden, und zwar zum einen darin, dass in Herders Geschichtsphilosophie ‚Privation‘ nicht mehr bloß ‚Mangel‘, sondern die notwendige Bedingung jeder individuellen Vollkommenheit sei, und zum anderen darin, dass Analogie bei Herder nicht mehr ein Ausdruck dafür sei, dass dieselbe logisch-mathematische Struktur die Gesamtheit des Universums präge, dass sie vielmehr zu einem Werkzeug werde, „das […] den Weg von der gefühlsmäßigen Erfassung des Einzelnen zur gefühlsmäßigen Erfassung der Weltzusammenhänge bahnen soll“14. Ist diese Interpretation, wie es scheint, nach wie vor berechtigt, dann kann ihr ein weiteres Element hinzugefügt werden, welches Herder noch näher zu Leibniz rücken lässt. Als Einleitung zur Erörterung dieses Elements mag jene Schlüsselstelle aus der dialogischen Abhandlung über Spinoza, Gott (1787), dienen, in der Philolaus dem Begriff des Zufälligen jede Geltung abspricht und meint, dass er der Sprache „zuwider“ sei: „jedes hervorgebrachte Ding ist durch die vollkommenste Individualität bestimmt und mit ihr umschränket: weder im Ganzen der Welt, noch in ihrem kleinsten Teile ist also Zufall“15. War die Théodicée eine 13 E. Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Darmstadt 1961, S. 118. 14 Ebd., S. 124. 15 J. G. Herder: „Gott“, in: Ders.: Werke, Bd. II: Spinoza-Gespräche. I. Fassung (1787): Gott. Einige Gespräche, hrsg. von W. Pross, München – Wien 1987, S. 786.

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Rechtfertigungslehre Gottes und deswegen ein systematischer Versuch, Zufälligkeit nur als unwesentliche Kontingenzwahrheit zu relativieren (das bloße Ungefähr des Zufalls bleibt für die metaphysisch/geometrische Perspektive Gottes und die daran partizipierende Menschenvernunft defizitär), dann ist Herders Geschichtsphilosophie eine Historiodizee, wodurch die Geschichte vom „tausendarmigen Zufall“16, also von Unbestimmtheit, Unsicherheit, Unvorhersehbarkeit, Diskontinuität, Brüchigkeit von vornherein freigesprochen wird. Heute wissen wir aber, wie obsolet jede Theorie wirken muss, die Zufall und Kontingenz nicht als ein strukturelles, für das Verständnis und die Erzählbarkeit von Geschichtsabläufen unhintergehbares Moment von Handlungsprozessen erörtert. Zufall und Kontingenz betreffen also den prozessualen Rahmen, in dem sich historiografische Erzählungen abspielen und generieren, insoweit sie damit beschäftigt sind, die Sinnhaftigkeit von Geschichtsabläufen zu konstruieren. Auf diesem Weg wird die sozusagen ‚wilde‘ Kontingenz der Vergangenheit in den sich entwickelnden Sinn einer Erzählung transformiert, ohne dabei Kontingenz oder Zufälle als solche ganz auflösen zu wollen. Die Aufgabe des Historikers besteht darin, wie Karl R. Popper behauptete, die Entwirrung der kausalen Fäden und die Beschreibung der ‚zufälligen‘ Art, wie diese Fäden verwoben sind, als zwei unterschiedliche Perspektiven auf Ereignisse miteinander zu kombinieren, denn jedes Ereignis kann zu gleicher Zeit typisch und einzigartig sein17. Und doch soll Herder ebenfalls aus heutiger Perspektive das Verdienst zugestanden werden, durch die Herausdestillierung und prägnante Formulierung des verbindlichen, geistesgeschichtlich und geschichtsphilosophisch fundierten Wertmaßstabs der Humanität die Weichen für eine Geisteshaltung gestellt zu haben, die dem Geschichtskonstruktivismus menschlicher Verantwortungsfähigkeit, fern vom Geschichtsdeterminismus des Theodizee-Paradigmas sowie von der in der Freiheit der Vernunft verwurzelten Perversion des Radikalbösen, freie Bahn lässt. „Humanität“ bedeutete für Herder edle Bildung zur Besonnenheit und Freiheit, zu einem feineren emotionellen Leben, zu vergeistigten Leidenschaften, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Beherrschung der Natur. Die eifrige Beschäftigung des frühen Herder in den Wahrheiten aus Leibniz (1769) mit dem Autor der Théodicée liefert einen Beweis seines Anliegens, die eigenen „ästhetischen, moralischen, anthropologischen etc. Auffassungen in einen kohärenten metaphysischen Rahmen einzuordnen und ihnen somit eine letzte Begründung zu geben“18. Mit dieser kurzen Schrift legt Herder den Grundstein auch für die in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–91) diskurstragende Forderung nach einer ‚allgemeinen Wahrheit‘ jenseits der sinnbedingten, individuellen und daher kontingenten Wahrheiten. Dem Leibniz’schen System wird hier eine geistesgeschichtliche Rolle zuerkannt, die sich mit der mo16 Ders.: Briefe zur Beförderung der Humanität, hrsg. von H. D. Irmscher, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 7, hrsg. von M. Bollacher, J. Brummack, U. Gaier, G. E. Grimm, H. D. Irmscher, R. Smend, R. Wisbert und Th. Zippert, Frankfurt a. M. 1991, S. 732. 17 K. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 61987, S. 115. 18 P. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986, S. 621.

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nistischen und sinnlichen Anthropologie des Autors gut versöhnen lässt. Leibniz wolle – so meint Herder – „[…] eine Erklärung der Vereinigung zwischen Seele und Körper finden, die wahren Gründe in den Einheiten der Substanzen entdecken, und in der Harmonie zwischen ihnen, die die erste Substanz eingeführet – eine Einfalt und Einfachheit, die Erstaunen machen, weil es überall und immer dieselbe Sache nach Graden der Vollkommenheit ist, die man sieht“ (Herder: Wahrheiten, S. 39).

Vom pyramidalen Determinismus des Leibniz’schen Systems und besonders von seiner metaphysischen Unerbittlichkeit, die sich schwer mit dem für Herder kulturfördernden menschlichen Verlangen nach Glück verbinden lässt, findet man in dieser Schrift keine Erwähnung. Dies ist nicht überraschend. Um die wandelbaren „Wolken“ und die „erschreckenden Missgestalten“ der „äußeren Umstände“19 in der Geschichte, also moderner ausgedrückt, um die blinden Flecken und wilden Reste von Zufall und Kontingenz in der Geschichtserzählung loszuwerden, wollte Herder im historischen Prozess ein immer gleiches Gesetz gelten lassen (seine ‚allgemeine Wahrheit‘) bzw. eine unsichtbare, alles verbindende „goldene Kette der Bildung“ als Interpretationsschlüssel erkennbar wissen (Herder: Ideen, S. 344), während eigentlich Zufall und Kontingenz nicht äußerliche, unbedeutende und methodisch auflösbare Scheinkategorien, sondern vielmehr mitbegründende Faktoren/Begriffe bei der Konstitution von Geschichten und historischer Erfahrung sind. Auf diesem grandiosen Irrtum basiert das Projekt der Ideen, womit jeder Skepsis über die vermeintlich erlösende Wirkung der Bildung, jeder widerständigen Unbestimmtheit der historischen Vorgänge der Weg verwehrt werden musste. Der Anspruch dieser Historiodizee war beträchtlich: Eine zugleich humane, natürliche und theologisch fundierte Universalgeschichte zu schreiben, in der die Finalität der Natur ihre naturgemäße Ergänzung finden sollte. Die Entwicklungsidee lieferte Herder die Garantie, dass aus Vielfalt kein Chaos, dass aus Entwicklung keine einfache Bewegung in diese oder jene Richtung, sondern ein durchaus zweckmäßiger Fortgang wird. „Alle Irrtümer des Menschen sind ein Nebel der Wahrheit; alle Leidenschaften seiner Brust sind wildere Triebe einer Kraft, die sich selbst noch nicht kennet, die ihrer Natur nach aber nicht anders als aufs Bessere wirket“ (Herder: Ideen, S. 638).

In diesem melioristisch aufgefassten Fortgang, der alles Menschliche als einschränkungslos zweckbedingt rettet, einschließlich Nichtigkeiten aller Art, Geschichte machender Dummheiten und nicht zuletzt auch sämtlicher Destruktivitätsmanifestationen, ersetzt die Entwicklungsidee den sanften Determinismus der Théodicée. Der Anspruch, der sowohl in der Théodicée als auch in den Ideen erhoben wird, ist auf der Grundlage des Rationalismus, der bei Herder mit einem nicht selten überschwänglichen Pathos vermischt ist, gewissermaßen ähnlich. Es geht in dem einen Fall um eine Mathematik/Geometrie der Moral, in dem anderen 19 J. G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hrsg. von M. Bollacher, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 6, hrsg. von M. Bollacher, J. Brummack, U. Gaier, G. E. Grimm. H. D. Irmscher, R. Smend und R. Wisbert, Frankfurt a. M. 1989, S. 343.

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um eine Physik der Geschichte. In beiden Fällen wird versucht, den Begriff Gott auf den gemeinsamen Nenner einer Instanz zurückzuführen, die in den Dingen selbst wie eine Art Hieroglyphe oder wie eine intelligentia supramundana (vgl. Essais de Théodicée, § 217; GP VI, 248.) eingeschrieben ist, nur bedeutet sie bei Leibniz „Notwendigkeit des Unendlichen“ (vgl. ebd., § 183; GP VI, 224–226) und bei Herder, mit einem erbaulichen Unterton, „Humanität“. Die negative Folie beider Begriffe ist – eine Möglichkeit, die Leibniz und Herder nicht gelten lassen – die Willkür des Göttlichen, also die Kontingenz, die Beliebigkeit, das Auchanders-sein-können, aber auch das unrettbar Vergängliche, das Labyrinthische, das Böse. All dies wird von Leibniz und Herder als etwas Subsidiäres gesehen, das der Ordnung und der Entwicklung des Ganzen nicht widerstehen kann. Besonders das Böse als nigra facies der Willkür, als selbständiges Potenzial der Zerstörung wird in der kompensativen Optik Leibniz’ und Herders disqualifiziert. Leibniz: „on n’aime jamais le mal en tant que mal“ (ebd., § 309; GP VI, 299). Herder: „Das Böse, das andre verderbt, muß sich entweder unter die Ordnung schmiegen oder selbst verderben“ (Herder: Ideen, S. 668–669). Diese streng finalistische Auffassung, die alle Bereiche des Lebens restlos einschließt, war in statu nascendi bereits in den Wahrheiten aus Leibniz enthalten, und zwar vielleicht am eindringlichsten dort, wo geschrieben steht: „Hört das Brausen des Meers: ihr hört das Brausen jeder kleinen Welle: der ganze Laut ist nichts, als eine dunkle Vereinigung aller; jede kleine Welle wird als im Ganzen gehört, ob sie gleich allein nicht würde gehört d.i. nicht bemerkt werden. Deswegen wäre jede kleine Welle kein Nichts, denn zehntausend Nichts können keine ganze Sache machen“ (Herder: Wahrheiten, S. 35).

Ähnliche Vergleiche, in denen das scheinbar Unbedeutende und Unregelmäßige, z. B. die kleine Welle des Meeres, die nicht als der Inbegriff des unvorhersehbar Wandelbaren, sondern als Glied eines lebendigen Organismus aufgewertet wird, in dem alles demselben Prinzip der Regularität untergeordnet ist, ließen sich auch in der Théodicée ausfindig machen. An einer Stelle (Essais de Théodicée, § 9; GP VI, 55) vergleicht Leibniz das Universum mit einem Ozean, in dem die geringste Bewegung („le moindre mouvement“) ihre Wirkung bis auf die weiteste Entfernung erstreckt, wenn auch diese Wirkung im Verhältnis zur Entfernung immer weniger spürbar wird. An einer anderen Stelle (ebd., § 242; GP VI, 261–262), an der es um Missbildungen geht, wird das scheinbar Chaotische (das scheinbar Monströse) unter Rekurs auf die unregelmäßige „Linie“ mit ihren Biegungen, Gegenläufigkeiten und Unterbrechungen exemplifiziert, die keinem Gesetz zu gehorchen und die schöne Regularität einer geraden oder kurven Linie zu verderben scheinen, während ein Geometriker doch imstande wäre, ihre vermeintlichen Mängel genau zu beschreiben und deshalb deren Regelmäßigkeit auszumachen. „Alles stimmt zusammen“, behauptet Herder in den Wahrheiten, „und Gott liest in dem Kleinsten der Substanzen die ganze Folge der Dinge der Welt“ (Herder: Wahrheiten, S. 35). Die kleine kapriziöse Welle, die geringste Bewegung im Meer oder die widerspenstige Linie: Es wäre nicht anders, wenn es um das stürmischste Meer, um das Vorüberfahren des schwersten Frachters oder um die unregelmä-

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ßigsten Figuren von Fraktal-Bildern ginge. Die Überzeugung, Regularität nicht nur im Bereich der Natur oder der „Vernunftwahrheiten“, sondern auch im Menschlichen und in der Menschengeschichte erkennen zu können, saß tief in Herders Mentalität. Geschichte durfte keine Penelopische Arbeit sein, sie musste einen Plan göttlichen Ursprungs in sich verborgen halten, den es ihr wie ein physikalisches Gesetz zu entziffern galt.

V. JEAN PAULS POETODIZEE IM LICHTE SEINER ÄSTHETISCHEN THEORIE Bei Johann Paul Friedrich Richter, der sich Jean Paul nannte und nennen ließ, löste der Theodizeegedanke eine sentimentalistische Poetologie des Unendlichen aus. Hierbei fungiert Zufälligkeit als Sammelkategorie für all jene Ereignisse im Bereich der Kunst bzw. der Literaturästhetik, die man mit Recht aus verschiedenen, miteinander nicht inkompatiblen und sich sogar gegenseitig ergänzenden Sichtweisen für überflüssig oder für unübersehbar halten kann. Im ersten Fall stehen allgemeine, planmäßige Ziele im Vordergrund, deshalb bedeutet zufällig so viel wie hinfällig. Im zweiten ist es die immense Vielfalt im menschlichen Mikrokosmos, die gewürdigt wird, um das scheinbar Vereinzelte und Unerhebliche der Zufälligkeit vor der gleichgültigen Nichtbeachtung zu retten. Zufälliges weist hier auf das Wertvolle des Komischen und des Witzes hin, das aber, nach Jean Pauls Vorstellung, wiederum auf eine höhere Ebene überführt werden soll, und zwar die des Humoristischen, in der Unendlichkeit maßgebend ist und Zufall verschwinden muss. Im Folgenden werden beide Dimensionen erläutert, die als zwei Seiten desselben theoretischen Anliegens betrachtet werden. Theodizee bedeutete für Jean Paul großes Geistesepos, und Zufall war ihm ein wesentlicher Bestandteil dieses Epos. Dementsprechend bemühte er sich in seiner Vorschule der Ästhetik (1804 erstmals erschienen, wurde sie nach gründlicher Revisionsarbeit durch den Autor 1813 neu aufgelegt), die ästhetische Zielsetzung der Dichtung als eine Bewegung vom Zufälligen zum Unendlichen darzustellen: „Warum oder daß vor uns alles in dem Verhältnisse, wie wir das Zufällige zurückwerfen, von Stufe zu Stufe schöner und lichter aufsteigt – so daß das Allgemeinste zugleich unvermutet das Höchste wird, nämlich endliches Dasein, dann unendliches Sein, nämlich Gott – : dies ist ein stiller Beweis oder eine stille Folge einer heimlichen angebornen Theodizée [sic!]“20.

Ein einziges Mal – an dieser Stelle eben – kommt in der Vorschule das Wort „Theodizee“ vor. Dafür ist Jean Pauls „ästhetische Theodizee“21, d. h. seine

20 J. Paul: Vorschule der Ästhetik, in: Ders.: Werke, hrsg. von N. Miller, München 1987, Bd. V, S. 76. Im Folgenden nur als „Jean Paul“ angegeben. 21 Vgl. G. Müller: „Jean Pauls Ästhetik im Kontext der Frühromantik und des deutschen Idealismus“, in: W. Jaeschke/H. Holzey (Hrsg.): Früher Idealismus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805), Hamburg 1990, S. 171–173.

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„Poietodizee“22 oder auch Poetodizee, in dieser so wichtigen Schrift mehrfach vertreten. In einer Epoche verstärkter Säkularisierung und des Absterbens des Theodizee-Musters wollte Jean Paul in der Nachfolge Herders literarische Ästhetik und insbesondere das Komische, den Witz und auf einer höheren Ebene den Humorismus als Rechtfertigungslehre für eine sinnerfüllte, religiös intensivierte Weltauslegung bewahrheiten. Jean Pauls Festlegung der ästhetischen Maßstäbe ging von folgender Vorüberlegung aus: So wie das Theodizeekonzept ‚bewiesen‘ habe, dass Gott die bestmögliche Welt geschaffen habe und ja habe schaffen müssen, so müsse der Dichter seine poetische Welt als die beste aller Welten konzipieren und Dissonanzen nur bedingt als ein zu überwindendes Moment akzeptieren, weil Kunst selbst es sei, die ihm dieses Verhalten abverlange. „Poesie soll, wie sie auch in Spanien sonst hieß, die fröhliche Wissenschaft sein und wie ein Tod zu Göttern und Seligen machen. Aus poetischen Wunden soll nur Ichor fließen, und wie die Perlenmuschel muß sie jedes ins Leben geworfene scharfe oder rohe Sandkorn mit Perlenmaterie überziehen. Ihre Welt muß eben die beste sein, worin jeder Schmerz sich in eine größere Freude auflöset und wo wir Menschen auf Bergen gleichen, um welche das, was unten im wirklichen Leben mit schweren Tropfen auffällt, oben nur als Staubregen spielet. Daher ist ein jedes Gedicht unpoetisch, wie eine Musik unrichtig, die mit Dissonanzen schließet“ (Jean Paul, S. 77).

In der Théodicée hatte Leibniz eine Trennungslinie gezogen zwischen notwendigen Vernunftwahrheiten, d. h. ewigen Wahrheiten, deren Gegenteil einen logischen Widerspruch enthält und daher unmöglich ist (mathematische, geometrische und logische Aussagen), und Kontingenzwahrheiten, deren Gegenteil widerspruchsfrei denkbar, also möglich ist. Die Kontingenzwahrheiten umfassen alle übrigen, empirisch erhebbaren Wahrheiten wie z. B. die Ereignisse der Geschichte oder auch jeden möglichen Einzelakt der Willensfreiheit. Freiheit ist für Leibniz immer eine Freiheit der Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten, und es steht dem einzelnen Menschen zu, diejenige zu wählen, die sowohl zu dem kontingenten perpetuum mobile, das den Vernunftwahrheiten entstammt, als auch zum christlichen Evangelium bestens passt. Denn der Mensch ist in seiner Existenz als Teil der Welt kontingent, aber als Gipfel der Schöpfung harmonisch und perfekt, und deshalb damit beauftragt, seine Kenntnis der göttlichen Prädikate in geeignete Handlungen umzusetzen und auf diese Weise Konsequenzketten auszulösen, die das Gute in der Welt vermehren. In der Leibniz’schen Theodizee aber hatte die Vernunft begonnen, den Rahmen der Apologetik, in dem sie verwandt wurde, zu sprengen. „Die Vernunft wurde vom Mittel der Apologetik zu ihrem Maßstab“23. Als am Ende der Aufklärung die theologisch-metaphysische Grundlage sich auflöste, der Prozess der Säkularisierung der Vernunft beendet wurde,

22 Vgl. E. Spedicato: La grande catena del male. Dalla teodicea di Leibniz alla poietodicea di Jean Paul, Milano 1996; ders.: La strana creatura del caos. Idee e figure del male nel pensiero della modernità, Roma 1997 sowie ders.: „Die große Kette des Bösen und Jean Pauls Poietodizee“, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 34 (1999), S. 95–118. 23 Vgl. W. Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988, S. 66–67.

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konnte Kant Freiheit als Autonomie, Emanzipation, Pflicht und moralische Selbstbestimmung feiern. Bei Jean Paul wird dieses Leibniz’sche Theodizeekonzept, in dem Willensfreiheit, wie oben erläutert, als bewusste Verantwortung des Menschen gegenüber den göttlichen Prädikaten aufgefasst wurde, als ästhetische Sublimation des von jedem Determinationszwang freigesprochenen Willens zur Selbstbestimmung gefeiert. Anders als bei Kant aber und ähnlich wie bei Herder ist der Wille zur Freiheit im Sinne Jean Pauls keine autonome Vernunftinstanz, sondern die Bestätigung von Gottes Schöpfung und deshalb weniger die Quelle von in schönster Autonomie getroffenen Entschlüssen, als vielmehr ein Teilgebiet der Seele, einer umfassenderen Instanz also, die als Trägerin der Energien von Gefühl, Phantasie und Empfindung, der unwillkürlichen, unbewussten oder unterbewussten psychischen Kräfte keine künstliche Einteilung in voneinander abgesonderte Bereiche duldet. Dementsprechend habe die Kunst bzw. die „hohe Dichtung“ die Aufgabe, so meinte Jean Paul, „Seelenmythologien“ zu schaffen, den Charakter der höheren Menschen, einer typisch Jeanpaul’schen Kategorie, auszuprägen, da höhere Menschen wie „Palmen der Menschheit“ auf der Erde stehen oder wie „Ideale des Gewissens“ auf ihr wandeln (Jean Paul, S. 214–215). „Die Dichtkunst […] muß die geistigen Zufälligkeiten eines Porträts, d. h. jedes Individuums, verschmähen und dieses zu einer Gattung erheben, in welcher sich die Menschheit widerspiegelt“ (Jean Paul, S. 221). Dies müsse sich auch im literarischen Stoff ausdrücken, damit besser „Knoten des Willens“ als „Knoten des Zufalls“ dargestellt würden (Jean Paul, S. 264). Gerne bedient sich Jean Paul der Leib-Seele-Metaphorik, um die Rolle des Willens in der Vorschule zu betonen. Ein mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen ausgestatteter Charakter habe im Gesamtgefüge des literarischen Werks die Aufgabe, meint Jean Paul, wie eine „wachende“ Monade den „Zufälligkeiten“ einen Sinn zu verleihen. „Die Geschichte ist nur der Leib, der Charakter des Helden die Seele darin, welche jenen gebraucht, obwohl von ihm leidend und empfangend. Nebencharaktere können oft als bloße historische Zufälle, also nach dem vorigen Gleichnis als Körperteile den seelenvollen Helden umgeben, wie nach Leibniz die schlafenden Monaden (als Leib) die wachende, den Geist. Der unendlichen Weite der Zufälligkeiten sind Charaktere unentbehrlich, welche ihnen Einheit durch ihren Geister- und Zauberkreis verleihen, der aber hier nur Körper, nicht Geister ausbannt“ (Jean Paul, S. 268).

Das Drama von Notwendigkeit und Freiheit wiederholt sich im Ästhetischen. Deshalb gilt es, in Jean Pauls Poetodizee zu zeigen, dass Notwendigkeit eine vom Menschen selbsterdachte Zwangsjacke ist, während Freiheit permanent auf die Probe gestellt werden muss, um ihr unendliches Potenzial auszuschöpfen. Die „tote Materie des Zufalls“ (Jean Paul, S. 230) wird vom Dichter als Reservoir für die Kraftproben des Willens verlebendigt, um zu zeigen, dass „die knechtische Zufalls-Welt“ innerhalb der literarisch erdachten Welt nur durch das Verhalten der „wachenden“ Monaden in ein Ereignis, in eine Begebenheit der Freiheit verwandelt werden kann. In Jean Pauls Ästhetik aber erhält das scheinbar endgültig desavouierte Zufällige, über solche Formulierungen hinaus, eine entscheidende Funktion zugewiesen,

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die, aufgrund der aufmerksamen Beachtung der kleinen Phänomene, in mancher Hinsicht an Leibniz und Herder erinnert. Ist das Zufällige aus der Perspektive der höheren Ziele der Dichtung etwas Ephemeres, das wegen seiner Nähe zur Materie suspekt ist und überwunden werden muss, übernimmt es im Bereich des Komischen und des Witzes eine unersetzliche ästhetische Aufgabe, wenngleich diese Aufgabe auf der höheren Ebene des Humorismus durch höhere Ziele ersetzt wird. Will man nun Jean Pauls Rettung des Zufälligen durch Komik und Witz und dessen Überführung in die höhere Sphäre des Humors begreifen, so muss zuerst die kompensative Seite dieses theoretischen Verfahrens hervorgehoben werden. Komik und Witz thematisieren nach Jean Paul die Zufälligkeiten der Individualität, um die sonst verloren gehende Disparatheit, die an sich nichtig und vergänglich ist, um das Vereinzelte und Unerhebliche. All dies nennt Jean Paul mit einer terminologischen Überhöhung „das unendliche Kleine“ (Jean Paul, S. 105), also das Infinitesimale des Komischen. Das Komische ist in der Vorschule heitere „hilaritas“, die nicht ins Verlachen übergehen darf, es ist Hervorhebung kleiner und kleinster Ungereimtheiten, die der menschlichen Schwäche entstammen, es ist geistiges Scherzen über die Bagatellen des Lebens. Deshalb fürchtet sich das Komische nicht vor Zufällen, im Gegenteil lebt es sich in den Zufällen aus, die das stets Wandelbare in der menschlichen Existenz zutage treten lassen. Es lebe die Bagatelle – ruft der ‚echte‘ komische Dichter aus, dem Jean Paul in der Handhabung des rein Komischen die Geißel der Satire verbietet. Verbrüdert mit dem so aufgefassten Komischen ist in der Vorschule der Witz, der ein Teilgebiet der geistigen Exzellenz ausmacht. Der Witz erfreue sich ebenfalls harmlos an den im Dasein überall eintretenden Zufällen, so meint Jean Paul, die uns quasi zum Herausfinden von Analogien zwischen einander fremden Signifikanten zwingen würden. „Wilde Paarungen“ finden statt, wie Jean Paul nicht ohne eine gewisse Prüderie feststellt, in denen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein ergötzendes Wechselspiel inszenieren, da der Witz als ingenium die Signifikanten vereint, während der Scharfsinn als acumen die Signifikate getrennt hält. An diesem Punkt führt Jean Paul in seine Theorie zwei Bedeutungen von „Zufall“ ein, ohne sie theoretisch genau voneinander zu unterscheiden. „Zufall“ im ersten Sinne beschreibt die Verbindungsart zweier unähnlicher Objekte oder Ereignisse in einem engeren Raum, die über ein tertium comparationis willkürlich miteinander assoziiert werden. „Zufall“ im zweiten Sinne betrifft die Verbindung zweier unähnlicher Objekte oder Ereignisse im weitesten Raum, die trotz ihrer Disparatheit und Ferne so gesehen werden, als stünden sie miteinander in irgendeinem Verhältnis der Similarität und/oder Kontiguität, weil sie beide an der Welt teilhaben. „Jeder Zufall, als eine wilde Paarung ohne Priester, gefällt uns vielleicht, weil darin der Satz der Ursachlichkeit (Kausalität) selber, wie der Witz, Unähnliches zu gatten scheinend, sich halb versteckt und halb bekennt. Glauben wir einen Zufall als einen reinen anzuschauen – ohne alle Möglichkeit eingemischter Ursachlichkeit –, so vergnügt er uns eben nicht, und wir gebrauchen dann nicht einmal das Wort Zufall. […] Indes ist dies auf dem höhern Standpunkte falsch; denn Raum und Zeit können durch ihre Ausdehnung kein Resultat aufstellen, welches, als Widerspiel des Resultats ihrer Enge, sich aus der großen Folgen-Kette

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Jupiters herausrisse, die, am Mückenfuß und an der Sonne liegend, alles zu einem Ziele zieht“ (Jean Paul, S. 193–194).

Es handelt sich auch hier um die bekannte Sichtweise der „permanenten Theodizee“, der zufolge es unbedingt eine Totalität geben muss, und zwar eine solche, die keine ‚reinen‘ Zufälle beherbergen darf – also keine Kontingenz als Modalkategorie für Zustände, Objekte, Ordnungen oder Strukturen, auf die man mit Missvergnügen (Jean Paul) oder mit Zuneigung, wenn nicht gar mit Zufriedenheit (der Apologet des Zufälligen) reagieren kann. Der Zerfall dieser kompensativen Sichtweise wurde in derselben Epoche, über Jean Paul hinaus, zugunsten einer als absolut kontingent gedachten Welt, am eindringlichsten vielleicht in Kleists Erdbeben in Chili dargestellt. Der Witz im Jean-Paul’schen Sinne geht von dem Standpunkt der „permanenten Theodizee“ aus und fertigt – gewiss auch mit großem Vergnügen – „Dithyramben“ (Jean Paul, S. 202) des Assoziierens im Bereich des Unähnlichen. Wenn diese Tätigkeit die Grenzziehungen des Scharfsinns überwindet, dann wird sie zu einem noch poetischeren Verfahren, das Jean Paul als „Tiefsinn“ (Jean Paul, S. 171–173) bezeichnet, wobei das ‚Tiefsinnige‘ eben darin bestehen soll, im Bereich des Disparaten alle Verschiedenheiten aufzuheben und ein einziges ‚höchstes Sein‘ zu feiern. Diese schwelgerische Fiktion des Schriftstellers Richter ist vielleicht der letzte ästhetisch-poetische Nachklang des Theodizeeparadigmas, freilich befreit von seinem unerbittlichen Rationalismus; sie ist wahrscheinlich auch einer der letzten, universalistisch angelegten Versuche, die Vielfalt (Heterogenität) als solche zu retten. Die Rettung der Vielfalt ist das Ziel nicht nur des „Tiefsinns“, sondern auch der anderen Kraft des sanften Lachens, des Humorismus, dem die Aufgabe zugewiesen wird, das scheinbar übersehbare Infinitesimale des Komischen ebenso wie die bunte Zufälligkeit der witzigen Dithyramben für „die Unendlichkeit des Subjekts […], worin die Objekten-Welt wie in einem Mondlicht ihre Grenzen verliert“ (Jean Paul, S. 124), zu öffnen. Diese höhere Form des Humors gilt bei Jean Paul als Verstärkung des Charakters – der Humorist als „rasender Sokrates“ (Jean Paul, S. 140) –, der dazu gedrängt wird, die sinnliche Totalität der Welt zu erfassen, nichts dabei zu vernachlässigen, ins Kleinste zu individualisieren, „sinnliche Kleinigkeiten“ aller Art in die humoristische Weltwahrnehmung aufzunehmen, überhaupt die gesamte Lebensfülle der sprachlichen und dinglichen Welt zu meistern. „Es erquickt den Geist ungemein, wenn man ihn zwingt, im Besondern, ja Individuellen […] nichts als das Allgemeine anzuschauen, in der schwarzen Farbe das Licht“ (Jean Paul, S. 143). „Tiefsinn“, verstanden im obigen Sinne als dialektische Synthese, und „humoristische Sinnlichkeit“ sind die Hauptkräfte der ästhetischen Theodizee Jean Pauls, sie retten für die Subjektivität das scheinbar Hinfällige oder Zufällige, das scheinbar Kleine und Unbedeutende, damit es in die witzig-humoristischen Dithyramben der Poesie aufgehoben werden kann. Nach Jean Pauls Auffassung der „hilaritas“, die zugleich eine romantische Entgrenzung der humoristischen Tradition ist, wird auf diese Weise das Bittere des Lebens versüßt, die Dissonanzen in Harmonien gewendet, das Leid in heiteres Lachen ver-

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wandelt und dabei der übliche Ernst der Menschen in etwas Seltenes veredelt. Wohlgemerkt: Diese entlastende Funktion des Humors dient in Jean Pauls Erzählwerk oft dazu, das Kauzige vieler seiner Figuren als Erscheinungsform von Unfreiheit und Unvernunft in der engen Welt des Despotismus abzudämpfen und hindert prinzipiell nicht daran, die feudale Welt satirisch zu bekämpfen. Mit Genugtuung erinnert Jean Paul in der Vorschule, ohne seine Quelle zu nennen, an das Sinn- und Wappenbild der sogenannten Accademia degli Humoristi im Rom des siebzehnten Jahrhunderts, das, wie in Girolamo Aleandris Rede Sopra l’impresa de gli Accademici humoristi (1611) zu lesen war, eine auf das Meer regnende Wolke zeigte mit der Inschrift redit agmine dulci. Es war Jean Paul und den römischen Humoristen offenbar kein Grund für Enttäuschung, dass das kostbare, süße Regenwasser des heiteren Humors wieder ins bittere Meer der Wirklichkeit zurückfließt und sich dort auflöst.

ÄSTHETISCHE THEODIZEE − ÜBERLEGUNGEN ZUM PROBLEM DER DARSTELLUNG IN DER THEODIZEE Uwe Steiner (Houston, TX)

I. Als Leibniz 1716 starb, stand der Secrétaire perpétuel der Académie royale des sciences zu Paris, Bernard de Fontenelle, vor einer schwierigen Aufgabe. Zu seinen Amtspflichten gehörte es, den Verstorbenen, der 1699 als erster Ausländer zum korrespondierenden Mitglied der Académie ernannt worden war, in einem Nekrolog zu würdigen. Der Nachruf galt einem Gelehrten, der sich in allen Wissenschaften ausgezeichnet und die zwischen ihnen errichteten Grenzen in seinem Denken überwunden hatte. Um der Vielseitigkeit des Universalgelehrten gerecht zu werden, sah Fontenelle sich gezwungen, „aus dem einen Leibniz mehrere Gelehrte“ zu machen und die Gebiete des Wissens, auf denen Leibniz sich zu Lebzeiten hervorgetan hatte, nicht chronologisch, sondern in einer von ihm selbst gewählten Reihenfolge zu präsentieren1. Auf diese Weise verrät das Panorama umfassender Gelehrsamkeit, das die Éloge de M. Leibnitz entfaltet, über ihren Verfasser zumindest ebenso viel wie über den Verstorbenen. Was die Éloge de M. Leibnitz über ihren Autor nur implizit sagt, kann man explizit bei Antoine-Louis Séguier erfahren, der sich 1757 gegenüber Fontenelle in einer ähnlich prekären Situation befand, wie vierzig Jahre zuvor Fontenelle gegenüber Leibniz. Wie schreibt man einen Nachruf auf jemanden, der mit seinen Nekrologen unverrückbare Maßstäbe gesetzt hat? In seiner Éloge de Fontenelle begegnet Séguier der Herausforderung mit einem rhetorischen Kunstgriff. Statt mit Fontenelle zu konkurrieren, lässt er ihn für sich selbst sprechen: Mit der Éloge de M. Leibnitz habe der Autor seinen eigenen Nachruf zu Lebzeiten verfasst. 1

B. Le Bovier de Fontenelle: „Éloge de M. Leibnitz“, in: Ders.: Oeuvres complètes, 3 Bde., T. 1, hrsg. von G.-B. Depping, Paris 1818 (Repr. Genève 1968), S. 227: Leibniz „menat de front tout les Sciences. Ainsi nous sommes obligés de le partager ici, &, pour parler philosophiquement, de le décomposer. De plusieurs Hercules l’Antiquité n’en a fait qu’un, & du seul M. Leibnitz nous ferons plusieurs savants“. Fontenelles Nachruf war von Leibniz’ Sekretär und Biographen, Johann Georg Eckart, ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen versehen der ersten deutschen Ausgabe der Theodizee beigegeben, die 1720 erschien. Vgl. C. G. Ludovici: Ausführlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Leibnitzischen Philosophie zum Gebrauche seiner Zuhörer, 2 Theile, Bd. II, Leipzig 1737 (Repr. Hildesheim 1966), S. 479.

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Insbesondere möchte Séguier das bon mot über den Universalgelehrten, den man zerlegen müsse, um ihn zu ehren, für Fontenelle in Anspruch nehmen. Dabei geht es ihm jedoch nicht darum, Fontenelle als einen Leibniz ebenbürtigen Gelehrten zu würdigen. Das tertium comparationis ist nicht die Gelehrsamkeit sondern die Vielseitigkeit. Nicht als Gelehrter, sondern als „bel esprit fait pour embellir la raison“ habe Fontenelle die Vielseitigkeit seines Geistes auf seine Weise unter Beweis gestellt2. Als „bel esprit“ aber war Fontenelle Philosoph und als Philosoph im engeren Sinne war er Zeit seines Lebens ein moderater Anhänger Descartes’. Wenn die Éloge Leibniz einen „philosophe et mathématicien“3 nennt, so verleiht sie ihm einen Ehrentitel. Das heißt jedoch nicht, dass Fontenelle ihn posthum zu einem Cartesianer macht; vielmehr bescheinigt er ihm, auf dem Boden zu stehen, den Descartes der neuzeitlichen Philosophie mit seinem epochalen Werk bereitet hatte. Mit Descartes teilt Leibniz die Überzeugung, dass die Philosophie in der Reflexion ihrer Methode zugleich die Grundlagen der modernen Naturwissenschaften verbindlich formuliert. Wie die nähere Betrachtung der Herleitung und Sicherung dieses Erkenntnisanspruchs verdeutlicht, sind der Gemeinsamkeit der beiden Philosophen jedoch enge Grenzen gezogen. Dem Metaphysiker Leibniz nämlich begegnet Fontenelle mit spürbarer Reserve. Das System der prästabilierten Harmonie vermittle zwar eine wunderbare Vorstellung von der unendlichen Vernunft des Schöpfers, sei aber eben deshalb vielleicht „zu erhaben für uns“4. Entsprechende Vorbehalte gelten der Monadologie, die der Nachruf als Beispiel für die ‚eigentümlichen‘5 Vorstellungen, die Leibniz von der Metaphysik hegte, nur kurz und ohne nähere Erläuterung erwähnt. Für die Zurückhaltung, mit der Fontenelle die Leibniz’sche Metaphysik darstellt, bietet seine Parteinahme für Descartes in zentralen Streitfragen eine plausible Erklärung6. Schwerer einzuschätzen ist der Anteil, den Leibniz’ Beschäftigung mit der Theologie zu Fontenelles Urteil beiträgt. Denn für Fontenelle war Leibniz nicht nur als Philosoph und Metaphysiker Theologe, sondern „Theologe im eigentlichen Sinne des Wortes“7. Wenn der Nachruf die Theodizee wenig später als das „größte Werk“ bezeichnet, das Leibniz der Theologie gewidmet habe8, dann charakterisiert er die Abhandlung ähnlich ambivalent wie zuvor ihren Autor. Dass in der Einleitenden Abhandlung über die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft der theo2

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A.-L. Séguier: Discours prononcé dans la séance publique le lundi 21 mars 1757: Éloge de Fontenelle, http://www.academie-francaise.fr/immortels/discours_reception/seguier.html. Séguier war auf den vakanten Sitz in der Académie française berufen worden, den der Tod Fontenelles hinterlassen hatte. Den Gepflogenheiten der Académie gemäß, oblag es dem Novizen, in der Antrittsrede, die er bei Gelegenheit seiner Aufnahme in den Kreis der Unsterblichen zu halten hatte, seinen Vorgänger auf angemessene Weise zu würdigen. Fontenelle: „Éloge de M. Leibnitz“, S. 233. Ebd., S. 243: „trop sublime pour nous“. Ebd.: „beaucoup d’autres pensées particulières“. Vgl. ebd., S. 235–237. Ebd., S. 244: „Il étoit Theologien, non seulement entant que Philosophe ou Metaphysicien, mais Theologien dans le sens étroit“. Ebd., S. 245: „le plus grand ouvrage de Leibnitz, qui se rapporte à la Théologie“.

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logische als philosophischer Gegenstand behandelt und, um Fontenelles eigene Formulierung aufzugreifen, der Theologe Leibniz in der Theodizee nur als Philosoph und Metaphysiker Theologe sein könnte, zieht er nicht in Erwägung. Jedenfalls wäre zu erwarten, dass die Theodizee aus den genannten Gründen in Fontenelle keinen sonderlich geneigten Leser gefunden hat. Um so schwerer wiegt, dass er durchaus Löbliches über sie zu sagen hat. Den Grundgedanken der göttlichen Wahl der besten aller möglichen Welten referiert die Éloge so knapp wie kommentarlos, um den Leser sodann mit Nachdruck auf das „zugleich philosophische, theologische und poetische Gedankenbild“ zu verweisen, mit dessen Hilfe Leibniz diesen Gedanken gegen Ende seiner Schrift „noch besser verdeutlicht“ habe9. Bei dieser „idée philosophique, théologique et poétique tout ensemble“, wie es im französischen Original heißt, handelt es sich um eine Textpassage, deren besondere Bedeutung sich bereits bei einer oberflächlichen Betrachtung aus ihrer exponierten Stellung im Text erschließt. Mit der idée, die Leibniz auch als eine „kleine Fabel“10 bezeichnet, endet der dritte und letzte Teil des Haupttextes. Seinen in stetiger Auseinandersetzung mit den Einwänden Bayles entfalteten Versuchen über die göttliche Gerechtigkeit, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels hatte er zunächst eine Paraphrase von Lorenzo Vallas Dialog De libero arbitrio folgen lassen, um sodann, „pour m’expliquer sur la fin de mon Discours de la maniere la plus claire et la plus populaire qui me soit possible“11, seine Abhandlung mit der Fortsetzung einer fiktiven Geschichte zu beschließen, die er bei Valla gefunden hatte. Der Beifall, den Fontenelle der Theodizee in seinem Nachruf spendet, gilt weniger ihrem philosophischen Gehalt, als vielmehr der Form, in der Leibniz ihn darstellt. Die Theodizee enthalte Leibniz so vollkommen, dass man sich auf sie beschränken könne, um ihn zu charakterisieren: Sie bezeuge seine immense Belesenheit, seinen Sinn für Gerechtigkeit und Ausgewogenheit im Umgang selbst mit Autoren, deren Ansichten er nicht teile, seine erhabenen und glanzvollen Anschauungen sowie eine Denkweise, in der man den „geometrischen Geist“ spüre, der ihr zugrunde liege. Besondere Anerkennung spendet Fontenelle jedoch dem Stil, in dem zur Kraft des Ausdrucks die Gefälligkeit einer glücklichen Phantasie hinzutrete, um dem philosophischen Gedanken Ausdruck zu verleihen12. Mit seiner Wertschätzung der sprachlich-stilistischen Gestalt philosophischer Texte berührt Fontenelle einen Zusammenhang, der für sein Selbstverständnis als ‚philosophe‘ ebenso aufschlussreich ist, wie er für die Philosophie im Zeitalter der Ebd., S. 246: „Cela se fait encore mieux sentir par une idée philosophique, théologique et poétique tout ensemble“. 10 G. W. Leibniz: Die Theodizee, übers. von A. Buchenau, Hamburg 21968, III. Teil, § 413, S. 407 und GP VI, 361: „la petite fable“. Wenn nicht anders ausgewiesen, wird die Theodizee im Folgenden auf Deutsch nach der Übersetzung Buchenaus, auf Französisch nach Gerhardt zitiert. 11 Essais de Théodicée, III, § 405; GP VI, 357. 12 Fontenelle: „Éloge de M. Leibnitz“, S. 247: „des raisonnement au font desquels on sent toujours l’esprit géométrique, un style où la force domine, et où cependant sont admis les agréments d’une imagination hereuse“. 9

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Aufklärung insgesamt richtungsweisend war. Dass sein Name nicht in Vergessenheit geraten ist, verdankt Fontenelle maßgeblich seinen mehrfach aufgelegten und in fast alle europäischen Sprachen übersetzten Entretiens sur la pluralité des mondes (1686), mit denen ihm ein Jahrhundert-Bestseller gelungen war. Der Erfolg der Entretiens beruhte jedoch nicht allein auf der Anerkennung, die das Buch beim Publikum, zumal bei einer stetig wachsenden weiblichen Leserschaft, fand. Vielmehr hatte Fontenelle in der Art und Weise, wie er die Form des galanten Dialogs für die Erörterung anspruchsvoller wissenschaftlicher und philosophischer Themen nutzte, die Forderung nach einer dem didaktischen Selbstverständnis des Zeitalters gemäßen, zugleich unterhaltenden und belehrenden Poesie exemplarisch eingelöst. So ist es denn kein Zufall, dass Fontenelle seine Éloge de M. Leibnitz mit einer Würdigung des poetischen Talents des Verstorbenen beginnt. Damit betritt er vertrautes, von ihm selbst sowohl praktisch als auch theoretisch erschlossenes Terrain. Fontenelles Poesieverständnis ist durch seine Parteinahme für die ‚modernes‘ in der Querelle vorgezeichnet, deren theoretische Beweggründe er in seiner Digression sur les anciens et des modernes (1688) ausführlich dargelegt hat. Wenn er Leibniz in der Éloge einen ‚modernen‘ Dichter nennt, so bezeichnet er damit begrifflich präzise und theoretisch reflektiert den Standort der Leibniz’schen Poesie. Die Modernität des Dichters Leibniz zeigt sich Fontenelle darin, dass seine Gedichte sich nicht in der meisterhaften Beherrschung der lateinischen Verskunst erschöpfen, sondern „pleine de choses“ sind13. Die Formulierung ist mit Bedacht gewählt. In ihr klingt die Formel an, mit der Fontenelle an anderer Stelle Descartes’ Neubegründung der Philosophie im Zeichen der Methode resümiert und den Paradigmenwechsel umschrieben hat, den sie mit ihrer demonstrativen Abkehr von der scholastischen Büchergelehrsamkeit und der damit einhergehenden Zuwendung zu den modernen Naturwissenschaften herbeiführte: „le règne des mots et des termes est passé, on veut des choses“14. Für Fontenelle geht der von Descartes initiierte Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der Philosophie mit einem Geltungsverlust traditioneller Formen des Philosophierens, mit einem Wandel der Darstellungsformen, einher. Vor diesem Hintergrund ist es als ein Ausdruck der Wertschätzung zu verstehen, wenn Fontenelle in der Éloge an Leibniz’ Gedichten deren philosophischen Gehalt und an dessen philosophischen Werken deren poetische Qualitäten hervorhebt. Dabei geht der Autor der Entretiens jedoch von einer Poesieauffassung aus, die seinem Verständnis des Zusammenspiels von Philosophie und Poesie enge Grenzen setzt. Fontenelle begreift die poetische Form als ein dem philosophischen Gedanken äußerliches, dekoratives Moment. Im Rahmen einer genuin rhetorischen Poesieauffassung dient die Poesie der Philosophie als ein Mittel, ihren Argumenten Überzeugungskraft zu verleihen.

13 Ebd., S. 227. 14 Ders.: „Préface de l’histoire de l’académie des sciences, depuis 1666 jusqu’en 1699“, in: Ders.: Œuvres, I, S. 1.

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Die Frage der Darstellung stellte sich Leibniz jedoch nicht nur, wie Fontenelle meinte, als ein rhetorisches oder stilistisches Problem, sondern vor allem als ein philosophisches. Zu recht hat man der Leibniz’schen Philosophie für das Verständnis der poetologischen Diskussion im achtzehnten Jahrhundert, die mit Alexander Gottlieb Baumgartens Begründung der Ästhetik als philosophischer Disziplin einen ihrer Höhepunkte erreichte, eine Schlüsselstellung eingeräumt. Statt Leibniz einmal mehr für die Nachzeichnung dieser Diskussion zu bemühen, geht es im Folgenden umgekehrt darum, die Theodizee und ihre Vorgeschichte im Lichte dieses keineswegs unbedeutenden Aspektes ihrer Wirkungsgeschichte zu lesen. Von der Theodizee rückblickend hat Leibniz die Lehre von der besten aller möglichen Welten in drei Schriften dargelegt, die sich in ihrer äußeren Form deutlich unterscheiden. Was immer der Anlass für die jeweilige Niederschrift war, eine Revision des philosophischen Gedankens war es nicht. Vielmehr hat Leibniz offenbar die Gelegenheit wahrgenommen, seinen Grundgedanken auf unterschiedliche, nämlich der jeweiligen äußeren Form Rechnung tragende Weise darzustellen: für die Confessio philosophi aus dem Jahre 1673 wählt er die Form des Dialogs, im Jahr 1705 legt er seine Lehre in einem Epicedium dar, um im Jahr 1710 mit den Essais de Théodicée eine dritte Form zu erproben. Im Zusammenhang betrachtet, lassen sich die drei Schriften als Versuche verstehen, dem für die Leibniz’sche Erkenntnistheorie und Metaphysik zentralen Begriff der Darstellung in Anlehnung an und im Rückgriff auf konventionelle, rhetorisch-poetische Darstellungsformen Ausdruck zu verleihen. Anders gesagt: Sie sind als Versuche zu lesen, der Anschauung als einem integralen Moment des philosophischen Gedankens in der ‚äußeren‘ Form der Darstellung in angemessener Weise Rechnung zu tragen. Mit der Dialogform greift Leibniz nicht nur eine etablierte philosophischpoetische Gattung auf, sondern auch eine Tradition, die ihm für die Darstellung seines philosophischen Anliegens einen spezifischen Spielraum eröffnet. Auch im Falle des Trauergedichts setzt Leibniz sich nicht etwa über die Vorgaben und Konventionen der zeitgenössischen Poetiken und Rhetorikhandbücher hinweg, sondern nutzt die Form der Gelegenheitspoesie zur Darstellung des philosophischen Gedankens. Mit dem Epicedium hat Leibniz eine ‚poetische Theodizee‘: also eine Theodizee in der äußeren Form eines Gedichts hinterlassen. Demgegenüber öffnet er dem Zusammenspiel von Poesie und Philosophie mit seiner „petite fable“ zum Abschluss der Theodizee einen anderen Spielraum. Die Fiktion, so könnte man sagen, dient dem philosophischen Gedanken nicht mehr als eine ihm äußere Darstellungsform, sondern als ein Ausdrucksmedium. Damit scheint sich die Theodizee unter der Hand in eine ‚ästhetische Theodizee‘ verwandelt zu haben, die, je nach Lesart und Verständnis des Begriffs, der von Cassirer so genannten ‚Logodizee‘15 gleichberechtigt an die Seite oder an deren Stelle tritt.

15 E. Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, hrsg. von B. Recki, Hamburg 1998, S. 426.

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II. Leibniz selbst hat darauf aufmerksam gemacht, dass er bei der Niederschrift der Theodizee auf ein schon früh von ihm ausgearbeitetes theoretisches und begriffliches Fundament zurückgreifen konnte. Er glaube, erläutert er in der Vorrede, den Gegenstand der nachfolgenden Abhandlung erschöpfend erörtert und gründlich bewiesen zu haben, weil er darüber seit seiner Jugend nachgedacht habe. Wenig später verweist er auf „einen lateinisch geschriebenen Dialog“, in dem er bereits im Jahre 1673 die These von der göttlichen Wahl der vollkommensten aller möglichen Welten aufgestellt habe16. Der Hinweis bezieht sich auf die posthum veröffentlichte Confessio philosophi, für die sich die Bezeichnung „erste Theodizee“ allgemein durchgesetzt hat17. In die unmittelbare Vorgeschichte der Theodizee von 1710 gehören ferner die Unterhaltungen mit Gelehrten und Standespersonen, von denen Leibniz insbesondere seine Gespräche mit der preußischen Königin hervorhebt, in denen er seine Ansichten über Bayle dargelegt und sein System der prästabilierten Harmonie gegen dessen kritische Einwände verteidigt habe. Mit der Veröffentlichung der vorliegenden Schrift, so Leibniz in der Vorrede, komme er einem Wunsch seiner 1705 überraschend verstorbenen königlichen Schülerin und Gönnerin nach. Einem ausschließlich panegyrischen Verständnis dieser Passage steht ein Brief entgegen, in dem Leibniz von einer stückweisen Entstehung der „Gottrechts-Lehre“ aus seinen Aufzeichnungen zu den damaligen Unterredungen spricht18. Von den Gesprächen sind weder diese noch andere Aufzeichnungen überliefert. Ihnen am nächsten stehen dürfte jedoch ein Text, der in der Vorrede unerwähnt bleibt. Dem Wunsch der Königin nach einer zusammenhängenden Darlegung seines Systems hat Leibniz nämlich bereits fünf Jahre vor der Publikation der Theodizee in einem zu Lebzeiten unveröffentlichten Gedicht entsprochen. Das von ihm in vermeintlich offiziellem Auftrag in deutscher Sprache verfasste Epicedium, zu dessen Niederschrift der Tod der Gesprächspartnerin im 16 Essais de Théodicée, Préface; GP VI, 39, 43 und 244, zitiert nach Leibniz: Theodizee, Vorrede, S. 19 und S. 25; vgl. S. 266. 17 Die Aufzeichnungen trugen zunächst den Arbeitstitel „Fragmentum Dialogi Humana libertate et justitia Dei“. Zur Stellung der Confessio im Gesamtwerk und zur Bezeichnung des Textes als „erste[r] Theodizee“ in der von Yvon Belaval besorgten französischen Ausgabe des Frühdialogs von 1961 vgl. O. Saame: „Einleitung“, in: G. W. Leibniz: Confessio philosophi. Ein Dialog, übers. und hrsg. von O. Saame, Frankfurt a. M. 1967, S. 9–30. Die Confessio philosophi findet sich in der Akademieausgabe in: A VI, 3, N. 7. 18 Essais de Théodicée, Préface; GP VI, 39, zitiert nach Leibniz: Theodizee, Vorrede, S. 19, vgl. Leibniz an Thomas Burnett vom 30. Okt. 1710; GP III, 321. „Versuch einer Theodicaea oder Gottrechts-Lehre von der Güthigkeit Gottes, Freyheit des Menschen und Ursprung des Bösen“ – so lautet der Titel der Abhandlung in einer von Leibniz selbst gebilligten Übersetzung, die allerdings nicht über den „Discours préliminaire“ hinausgelangt ist. Sie stammt zwar wohl nicht von Leibniz, ist aber von seiner Hand so gründlich verbessert worden, dass man sie als seine eigene ansehen kann; vgl. GP VI, 463–471 bzw. Einleitung GP VI, 14. Der Titel der Abhandlung sollte ursprünglich „Eléments de la philosophie générale et de la théologie naturelle“ lauten; er wurde auf Vorschlag des Amsterdamer Verlegers, Isaac Troyel, zugunsten des noch heute geläufigen geändert.

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Jahre 1705 den traurigen Anlass gab, gehört aus keineswegs allein biographischen Gründen in den hier verfolgten Kontext. Die komplexe Entstehungsgeschichte scheint der Theodizee weder formal noch inhaltlich zum Vorteil gereicht zu haben. Die 1710 publizierte Abhandlung gilt als kompilatorisch, die Darlegung des Themas hat man als redundant und die Entfaltung der philosophischen Position als weitschweifig empfunden. Demnach hätte der Autor, der für sich in Anspruch nimmt, die „Sache Gottes selbst“ zu vertreten19, dieser Sache mit seiner Schrift einen Bärendienst erwiesen. Die Erläuterungen, die Leibniz seinem Buch in der Vorrede voranstellt, sprechen eine andere Sprache. Ihnen ist zu entnehmen, dass er sich jedenfalls bewusst für eine bestimmte Form der Darstellung entschieden hat. Mit dem ‚essai‘, wie der französische Titel die Abhandlungen bezeichnet, dürfte Leibniz kaum die Vorstellung einer bestimmten, formal oder inhaltlich verbindlich definierten Tradition oder gar einer Gattung verbunden haben. Eindeutiger verrät der Titel, was die Abhandlung nicht sein will: Die Essais de Théodicée stellen keine systematische Erörterung des Gegenstands in Aussicht. Vielmehr betont Leibniz in der Vorrede, dass er versucht habe, „alles auf die Erbauung des Lesers einzustellen, und wenn ich auch der Wißbegierde [Neugierde, U. S.] Rechnung getragen habe, so habe ich das getan, weil man nach meiner Ansicht einen Gegenstand, dessen Ernst leicht abstoßend wirken kann, in etwas erheitern sollte“20. Mit ihrem anti-systematischen Selbstverständnis entsprechen die essais einem nach heutigem Verständnis wesentlichen Merkmal des Essays. Ohne dass die Erbauung des Lesers als eine genuin essayistische Wirkungsabsicht aufzufassen wäre, zeigt sich Leibniz mit seinem so begründeten Rückgriff auf poetische und fiktive Mittel einem weiteren, heute als konstitutiv geltenden Merkmal des Essays verpflichtet: dem Interesse an der Veranschaulichung, das nicht zuletzt in seiner metaphernreichen Sprache zum Ausdruck kommt21. Die Bezeichnung der Theodizee als „Versuch“, wie die zeitgenössische deutsche Übersetzung des französischen Titels lautet22, relativiert jedenfalls weder ihren philosophischen Anspruch noch qualifiziert sie ihre Aussagen als vorläufig 19 Ebd.; GP VI, 38, zitiert nach ders.: Theodizee, Vorrede, S. 18. 20 Ebd.; GP VI, 47, zitiert nach ders.: Theodizee, Vorrede, S. 30: „Enfin j’ai tâché de tout rapporter à l’édification et si j’ay donné quelque chose à la curiosité, c’est que j’ai cru qu’il fallait égayer une matière dont le sérieux peut rebuter“. Die Formulierung „égayer une matière“ erinnert wörtlich an die bekannte Passage aus der Préface zu La Fontaines 1668 erschienenen Fables choisies, mises en vers. Er habe geglaubt, so begründet der Autor seine Versifikation der Prosafabeln des Phaedrus, „qu’il fallait […] égayer l’ouvrage plus qu'il n'a fait“. J. de La Fontaine: Oeuvres complètes, I: Fables, Contes et Nouvelles, édition établie, présentée et annotée par J.-P. Collinet, Paris 1991, S. 7. 21 Zum Essay vgl. H. Schlaffer: „Essay“, in: J.-D. Müller (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. I, Berlin – New York 2003, S. 522–525 sowie L. ýerný: „Essay“, in: J. Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. II, Darmstadt 1972, S. 746–749. 22 Die früheste Übersetzung von Richter (1720) hat „Betrachtung“, die er in der zweiten Auflage (1726) nach „Versuch“ im Singular korrigiert, worin ihm Gottsched (1744) folgt; vgl. die Übersicht im Anhang von Leibniz: Theodizee, S. 513.

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oder unverbindlich. Der Entscheidung, der Theodizee eine andere Gestalt als die strenge Form einer gelehrten Abhandlung zu verleihen, liegt die Auffassung zugrunde, dass ein und derselbe philosophische Gehalt auf höchst unterschiedliche Weise ausgedrückt werden kann. So hat Leibniz in der Theodizee neben dem Leser, zu dessen Erbauung er den Ernst des Gegenstandes essayistisch aufheitert, auch den philosophisch interessierten Leser im Auge, der sich mit dem Gegenstand kritisch auseinanderzusetzen wünscht. Diesen Leser verweist er in der Vorrede auf eine kleine Schrift, die er seinem Werk als eine Art Inhaltsangabe beigefügt habe. In ihr habe er die gegen ihn erhobenen Einwände mitsamt seinen Erwiderungen in „schulmäßige[r] Form“ zu genauer Betrachtung dargelegt23. Der „kurze Abriß“ stellt das philosophische Argument nicht nur in Kurzform, sondern darüber hinaus in einer anderen, akademischen Gepflogenheiten entsprechenden Form dar. In dem „abregé en forme“ findet der zuvor essayistisch dargelegte Gegenstand in der syllogistischen Erörterung zwar eine alternative, jedoch keineswegs angemessenere Darstellungsform. Als unterschiedliche Formen der Darstellung illustrieren „essai“ und „abrégé“ in der Theodizee von 1710 im kleinen MaßMaßstab, was sich in der Vorgeschichte im größeren studieren lässt. Was zunächst die Stellung der Confessio philosophi in dieser Vorgeschichte anbelangt, so ist ihre philosophische Bedeutung unbestritten, ohne dass ihre Dialogform in der Rezeption eine über die pflichtschuldige Kenntnisnahme hinausgehende Beachtung gefunden hätte. Immerhin hat Otto Saame in seinem Vorwort zur deutschen Erstausgabe der Confessio gegenüber der Abhandlung von 1710 den „Vorzug stringenter Gedankenführung“ eingeräumt und zur Begründung dieser Ansicht auf deren sprachliche Form verwiesen. Der „ersten Theodizee“ komme die Prägnanz des Lateinischen zugute, das Leibniz meisterhaft, und mehr noch die Kunst der Dialogführung, die er vollendet beherrsche. Nun handelt es sich bei der Confessio, wie der vom Autor selbst stammende Titel unmissverständlich besagt, um eine besondere Form des Dialogs. Bereits Saame stellt den Bezug zur Tradition der Katechese her, schenkt dem jedoch keine nähere Beachtung24. Es ist aber nicht unwichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass Leibniz seine erste Theodizee in Gestalt eines Katechismus präsentiert. Seit Luther, der mit seinen beiden Katechismen von 1529 das Begriffsverständnis über die Konfessionsgrenzen hinaus normativ geprägt hat, gilt der Wechsel von Frage und Antwort als ein für den Katechismus konstitutives Merkmal, das ihn formal in die Nähe des Dialogs rückt. Luthers Einfluss kommt nicht nur 23 Essais de Théodicée, Préface; GP VI, 46, zitiert nach Leibniz: Theodizee, Vorrede, S. 29: „les Objections mises en forme, avec les Réponses que j’y ay données“. Der Hinweis bezieht sich auf den Abregé de la Controverse reduite à des Argumens en forme; in der deutschen Übersetzung des Titels wird „en forme“ mit „schulgerecht“ wiedergegeben: Kurzer Abriß der Streitfrage auf schulgerechte Beweise gebracht (ders.: Theodizee, S. 412). Gerhardt spricht in seiner Einleitung von Leibniz’ Bedürfnis, die zuvor berührte Streitfrage in dem Anhang „in formgerechten Schlüssen zu behandeln, um dem Anspruch der Wissenschaft zu genügen“ (GP VI, 13). Der Littré definiert unter Verweis auf Belege bei Pascal und Boileau: „En forme, conformément à la manière dont l’argument doit être disposé pour qu’il soit selon les règles“. 24 Saame: „Vorwort“, S. 17 bzw. S. 12.

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darin zur Geltung, dass die Frage und Antwort-Struktur mit dem Begriff selbstverständlich assoziiert wird, sondern auch darin, dass ‚Katechismus‘ im allgemeinen Sprachverständnis weniger eine Form religiöser Unterweisung als vielmehr eine dogmatische Schrift in Buchform bezeichnet. Mit seinen Katechismen hatte Luther indes keine neue Tradition begründet, sondern eine alte umgeformt. Kirchengeschichtlich hatte die Einführung der Pflicht zur Ohrenbeichte der Dialogisierung der Katechese den Boden bereitet. Die durch den Beschluss des 4. Laterankonzils (1215) aufgewertete Beichte war auf eine verbindliche Klärung der dogmatischen Grundsätze angewiesen, deren praktische Anwendung ihr oblag. Der Annäherung von Beichte und Katechismus, deren Verhältnis zueinander noch Luther widersprüchlich bestimmt25, kommt in der Dialogform zum Ausdruck; sachlich liegt ihr der gemeinsame, wenn auch auf unterschiedliche Weise wahrgenommene didaktische Bezug zum Dogma zugrunde. Mit der Übernahme des für die Beichte typischen Frage-Antwort-Modells löst sich die Katechese von einer älteren Praxis theologischer Unterweisung, die ihre Aufgabe nicht darin sah, kanonische Glaubensinhalte verständlich zu machen, sondern sie durch Vor- und Nachsprechen einzuüben. Mit der Erfindung des Buchdrucks und der Verdrängung mnemotechnischer Praktiken durch die Lektüre setzt sich im 16. Jahrhundert die Auffassung der Katechese als „formelhafte[r] Lehrdialog“ durch26. Dieses Begriffsverständnis darf für Leibniz’ Confessio als verbindlich auch in dem Sinne angenommen werden, dass er die Katechese nicht als eine primär dialogische, sondern als eine genuin dogmatische oder ‚apologetische‘ Form betrachtet27. Das kommt nicht nur in ihrer thematischen Beschränkung auf Glaubensfragen zum Ausdruck, sondern auch darin, dass im Wechsel von Frage und Antwort nicht nur nichts in Frage gestellt, sondern auch keine Frage gestellt wird, in der nicht schon die richtige Antwort vorgegeben wäre28. Aus diesem Grunde besagt 25 Vgl. hierzu das Kapitel „Eine kurze vermanung zu der Beicht“ aus dem Deudsch Catechismus (Großer Katechismus), D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 30, Weimar 1910, S. 233–238, und den Herausgeber-Kommentar, S. 442–443 und S. 460– 461. 26 U. Störmer-Caysa: „Katechese“, in: Müller, II, S. 248. Vgl. H. W. Surgau: „Katechetik“, „Katechismus“, in: K. Galling (Hrsg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 3, Tübingen 31986, S. 1175–1188. Zum medialen Aspekt der Reformation vgl. G. Lottes: „Luther und die Frömmigkeitskrise im Spätmittelalter“, in: M. Greschat/G. Lottes (Hrsg.): Luther in seiner Zeit. Persönlichkeit und Wirken des Reformators, Stuttgart – Berlin – Köln 1997, S. 13–28. 27 Als „apologetisch“ hat Schmidt-Biggemann den philosophiehistorischen Ort oder den Rezeptionsrahmen der Theodizee beschrieben. Auch wenn ich den Begriff hier primär deskriptiv verwende, ist der sprachliche Gestus, um den es mir geht, letztlich aus dem von SchmidtBiggemann ins Auge gefassten Kontext zu verstehen. Vgl. W. Schmidt-Biggemann: „Von der Apologie zur Kritik. Der Rezeptionsrahmen der Theodizee“, in: Ders.: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988, S. 61–72. 28 Vgl. Th. Fries/K. Weimar: „Dialog (2)“, in: Müller, I, S. 354. Mit seiner Kritik an der Auffassung des katechetischen Unterrichts als „reines Frage- und Antwortspiel“ bestätigt Luther ex negativo, dass dieses reduktive Verständnis in der Katechese angelegt ist und in der pädagogisch-didaktischen Praxis eine bedeutende Rolle spielte. Es ist zu vermuten, dass seine Überlegungen auch für die außertheologische Adaption der Katechese von grundlegender Bedeu-

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die Confessio wenig über Leibniz’ Beherrschung der Dialogform. Zwar hat er sich ihrer zur Darstellung seiner Philosophie oder, wie in den posthumen Nouveaux essais sur l’entendement humain, für die Auseinandersetzung mit seinen philosophischen Gegnern wiederholt bedient. Dennoch ist der Dialog weder als ein prägendes Merkmal der Leibniz’schen Philosophie insgesamt empfunden worden noch hat eines seiner Werke aufgrund seiner Dialogform in der Rezeption besondere Beachtung gefunden. In seiner monumentalen Studie über den Dialog hat Rudolf Hirzel Leibniz kein eigenes Kapitel gewidmet. Er erwähnt ihn auf halbem Weg zwischen Reformation und Aufklärung, die er als Epochen behandelt, die im Dialog die ihren geistigen Auseinandersetzungen gemäße Darstellungs- und Denkform fanden. Demgegenüber habe Leibniz sich der dialogischen Form einzig wegen ihrer Eignung zur Darstellung kontroverser Meinungen bedient, ihre darüber hinausgehenden Möglichkeiten aber ungenutzt gelassen. Während also die Dialogform seinem Denken äußerlich blieb und Leibniz seinen dieser Gattung zuzurechnenden Werken nicht viel Mühe zuwandte, habe er ihr dennoch den „Stempel seiner Eigenthümlichkeit“ aufgeprägt. Der Dialog, der Hirzel zufolge „noch zuletzt dem Streite gedient hatte, dazu gedient hatte den Gegensatz der Ansichten in ein desto helleres Licht zu setzen, ist vor seinem weit und hoch blickende Geiste geworden was er in diesem Masse wohl noch nie gewesen war, ein Mittel der Versöhnung und der Ausgleichung“29.

Hirzel hat vor allem die Nouveaux essais und das Examen des principes de Malebranche vor Augen. Von einem früheren Versuch, zu dem Leibniz durch „Vallas bewundertes Vorbild“ inspiriert worden sei, weiß er nur, was Leibniz in der Vorrede der Theodizee darüber sagt; den Jugenddialog selbst glaubt er verloren30. Die Confessio hätte Hirzel, in dessen historisch-systematischer Darstellung der Katechismus eine wichtige Rolle spielt, in seinem Urteil vermutlich nur bestätigt. Im Anschluss an Diogenes Laertius begreift er den Wechsel von Frage und Antwort als ein wesentliches und für den Dialog als „selbstständiges Werk der Literatur“ konstitutives Merkmal, dem er die „Erörterung“ als ein weiteres hinzufügt. Die Beschränkung auf die Behandlung bestimmter Gegenstände, die Diogenes Laertius zum Bestandteil seiner Definition gemacht hatte, weist er als Einschränkung zurück. Streng genommen, so resümiert er seine Überlegungen, sei der Dialog „eine Erörterung in Gesprächsform“31. Als ein „Sohn der Philosophie“ stehe er zwar der Poesie nahe, sei aber der „wissenschaftlichen Literatur“ tung waren, denen der Artikel in der RGG leider keine Beachtung schenkt. Vgl. Surkau, S. 1180. 29 R. Hirzel: Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch, 2 Bde., Bd. II, Leipzig 1895 (Repr. Hildeheim 1963), S. 398. 30 Ebd., S. 397. 31 Ebd., I, S. 7. Die Stelle bei Diogenes Laertius lautet: „Es ist aber der Dialog eine sich in Frage und Antwort abspielende Ausführung eines philosophischen oder politischen Themas unter angemessener Charakteristik der auftretenden Personen und gehöriger Rücksicht auf die sprachlichen Anforderungen“. D. Laertius: Leben und Lehre der Philosophen (III, 48), übers. von O. Apelt, Hamburg 31998, S. 171.

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zuzurechnen32. Diese Definition schickt Hirzel seiner ‚literarhistorischen Studie‘ voraus, die als eine Verfallsgeschichte konzipiert ist. Der Niedergang der Gattung, die in der (griechischen) Antike ihre Blüte und in Platon ihren „Hauptschriftsteller“ gefunden habe, beginne bereits mit Aristoteles und sei aus heutiger Sicht nur noch als Gegenstand historischer Betrachtung von Interesse33. Während – sehr grob gesprochen – die antike Überlieferung das kritische Potential des Dialogs in den Vordergrund rückt, betont das Mittelalter sein didaktisches. Insbesondere zwei didaktisch motivierte Kunstgriffe beschleunigen im Mittelalter eine Entwicklung, die Hirzel als die Verwandlung der kritischen Form des Dialogs in ein „Gefäß des rohesten Dogmatismus“ beschreibt: die Allegorisierung des Personals und die katechetische Instrumentalisierung der Dialogform34. Während die sprechenden Namen in Leibniz’ anderen Dialogen von ferne an die allegorische Tradition erinnern, erübrigt sich in der Confessio mit der Wahl des katechetischen Rahmens jede nähere Charakterisierung der Dialogpartner. Sie sind als „der Theologe als Katechet“ und „der Philosoph als Katechumene“ hinreichend eingeführt. In dem vorgegebenen Rahmen tritt mit der Zuweisung der Rolle die Person hinter die Funktion oder das Amt zurück. In der Übernahme der in der praktischen Theologie ausgebildeten Form des Unterrichts dürfte auch der Grund zu suchen sein, warum Leibniz nicht der Konvention gefolgt ist, die erwarten lässt, dass in einem als Gespräch zwischen Lehrer und Schüler inszenierten Dialog der Autor die Rolle des Lehrers übernimmt. Die Rolle des Katecheten, die Leibniz dem Theologen zuweist, verleiht diesem jedoch weder Autorität noch räumt sie ihm das Privileg der Gesprächsführung ein. Dem entspricht, dass der Philosoph die ihm zufallende Rolle des Katechumenen keineswegs als eine untergeordnete auslegt. Zwar gesteht er dem Theologen das Fragerecht zu; jedoch tut er dies in der Überzeugung, dass das Prozedere „für beide Seiten fruchtbar“ sei35. Als der Katechet ihn zu Beginn des Dialogs auffordert, seine Sicht der Dinge vom 32 Hirzel, I, S. 25–26 bzw. S. 11. Für diese Feststellung beruft sich Hirzel auf Aristoteles: Poetik, 1447b (übers. und hrsg. von H. Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 7). Aristoteles erwähnt die „sokratischen Dialoge“ (socraticoi logoi) als Beispiel für sein Verständnis der Dichtung als Nachahmung durch Sprache. Gegen eine verbreitete Auffassung betont er, dass nicht der Vers, sondern die Nachahmung den Dichter mache. Da die Lehrgedichte des Empedokles dieses Kriterium nicht erfüllen, sei Empedokles nicht als Dichter, sondern als Naturforscher zu bezeichnen. Nach Maßgabe des Kriteriums der Nachahmung betrachtet er demgegenüber den Dialog als Dichtung oder als Fiktion und nicht als Wissenschaft. Es wäre ein Missverständnis, die Bezeichnung socraticoi logoi ausschließlich auf die Platonischen Dialoge zu beziehen – so reizvoll das durch die Fehllektüre nahegelegte Gedankenspiel ist, Platon habe sich mit seiner in der äußeren Form des Dialogs vorgetragenen Ablehnung der Poesie einer poetischen Form der Darstellung bedient. Zum Dialog als philosophischer Form und zur Rekonstruktion der mit ihm aufgeworfenen theoretischen Fragen im achtzehnten Jahrhundert vgl. M.-G. Dehrmann: „Das Orakel der Deisten“. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen 2008, S. 45–58 (zum Dialog bei Leibniz und Shaftesbury), S. 246–270 (allg. zur Dialogform – wobei ich nicht von einer ‚Fiktionalisierung der Philosophie‘ reden würde) und S. 349–359 (zu Aristoteles). 33 Hirzel, I, V. 34 Vgl. ders., II, S. 364–365 (Katechismus), S. 383–385 (Allegorie). 35 Leibniz: Confessio, S. 33.

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Standpunkt der rechten Vernunft vorzutragen, zeigt er sich zuversichtlich, dass die von ihm ins Licht der Vernunft gerückten Dinge sich im Licht der Offenbarung nicht etwa anders, sondern allenfalls glänzender darstellen werden. An der Rolle des Prüflings festzuhalten, macht für den Philosophen unter diesen Umständen umso mehr Sinn, als sie ihm für die Darlegung seiner Überzeugung den größten Anteil am Text sichert. An dieser Konstellation ändert auch die spätere, von der ersten geringfügig abweichende Fassung des Dialoges nichts, in der „Theophilus“ und „Epistemon“ die ursprünglichen Dialogpartner ersetzen, um auch ohne expliziten Bezug auf den katechetischen Rahmen die durch diesen vorgegebenen Rollen zu übernehmen36. Die Annahme, dass der Philosoph resp. Philemon als das alter ego des Autors agieren, scheint wenn nicht zwingend, dann doch naheliegend. Für das Verständnis eines Textes liegt jedoch häufig ein anderer Text näher als das Naheliegende. Zu den Schriften, die ihn zum Nachdenken über die Fragen angeregt hätten, mit denen er sich in der Confessio auseinandersetzt, zählt Leibniz in der Vorrede zur Theodizee von 1710 rückblickend auch Laurenzo Vallas Streitschrift gegen Boethius37. Während Vallas Dialog De libero arbitrio in der ersten Theodizee keine unmittelbar augenfälligen Spuren hinterlassen hat, räumt Leibniz ihm mit seiner Paraphrase und der Fortsetzung des Textes in der späteren Schrift einen prominenten Stellenwert ein. Zwar erwähnt er Valla so gut wie nie, ohne auf Boethius zu verweisen; dem Text, der Valla den Anlass zur Abfassung seiner Streitschrift gab, scheint er darüber hinaus jedoch keine weitere Beachtung geschenkt zu haben. Das ist insofern bemerkenswert, als sich Leibniz gegenüber Vallas De libero arbitrio in einer ähnlichen Situation befindet wie Valla gegenüber Boethius’ Philosophiae consolationis. Gegen diese Lesart scheint allein schon die Ausführlichkeit zu sprechen, mit der Valla in der Theodizee zu Wort kommt. Jedoch folgt aus der Tatsache, dass Leibniz sich eingehend mit Vallas Dialog befasst, keineswegs zwingend, dass er auch die darin vertretenen Auffassungen teilt. Wie sich bei näherer Betrachtung zeigt, trifft das Gegenteil zu. Der Dialog Vallas, so resümiert Leibniz seine Paraphrase, sei schön, obwohl es hier und da etwas einzuwenden gebe. Für die Fortsetzung der „kleinen Fabel“, mit deren Hilfe Valla seine Überlegungen erläutert hatte, geben ihm nicht Kleinigkeiten, sondern ein grundsätzlicher Einwand den Anlass: Der „Grundfehler“ Vallas bestehe darin, „dass er den Knoten zerschneidet, und dass er die Vorsehung unter dem Namen Jupiters zu verdammen scheint, den er beinahe zum Urheber der Sünde mache“38. Die Bemerkung bezieht sich auf den Schlussabschnitt des Dialogs, in dem Valla Zweifel an der Erkennbarkeit der Ursache des Bösen geäußert und sich grundsätzlich dagegen ausgesprochen hatte, die Gründe göttlichen 36 Vgl. hierzu die Erläuterungen des Herausgebers zur Überlieferung des Textes in: Ebd., S. 19– 20 und S. 104. 37 Vgl. Essais de Théodicée, Préface; GP VI, 43, zitiert nach Leibniz: Theodizee, Vorrede, S. 25. 38 GP VI 361, zitiert nach ders.: Theodizee, III, § 412, S. 407: „mais le principal defaut y est, qu’il coupe le noeud […]“; vgl. auch die jeweils deutlich kritischen Erwähnungen Vallas in der Theodizee: Ebd., III. Teil, § 365, § 405, § 417; GP VI, 331, 357, 365, zitiert nach ders.: Theodizee, S. 372, 402, 411.

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Handelns verstehen zu wollen. Statt auf die Wahrscheinlichkeit von Gründen zu vertrauen, gelte es, auf den Glauben zu setzen, der Lehre Jesu Christi zu folgen und auf die göttliche Barmherzigkeit zu vertrauen. Damit ‚zerschneidet‘ Valla den ‚Knoten‘, den Leibniz in der einleitenden Abhandlung der Theodizee zwischen Glaube und Vernunft geknüpft hat. Aus Leibniz’ Sicht besteht sein ‚Grundfehler‘ darin, dass er die Vernunft in die Schranken des Glaubens verweist und damit die zentrale metaphysisch-epistemologische Prämisse bestreitet, die Leibniz seinem Projekt zugrunde gelegt hat. In der zugespitzten Formulierung, in der Valla seine Kritik an Boethius resümiert, ist die Unvereinbarkeit seiner Position auch mit Leibniz vorgezeichnet: Boethius habe scheitern müssen, weil er, wie es in Leibniz’ Paraphrase heißt, „mehr die Antwort der Philosophie als die des Heiligen Paul vernommen“ habe39. In eigener Sache hat Leibniz in Boethius keineswegs einen Gescheiterten gesehen. In der einleitenden Abhandlung der französischen Theodizee würdigt er ihn als einen Denker, der in den Anfängen der Kirche von theologischer Seite entscheidend dazu beigetragen habe, „der Theologie wissenschaftliche Gestalt zu geben“40. Damit gehört Boethius zu denen, die jener „Theologie des Philosophen“ den Boden bereitet haben, auf dem Philosophie und Theologie in Leibniz’ Jugenddialog einander begegnen und auf dem er Jahre später das Gedankengebäude der Theodizee errichten wird41. Dass Leibniz mit dem Trost der Philosophie gut vertraut war und ihren Autor schätzte, zeigt sein Engagement zugunsten einer deutschen Übersetzung des Textes, die mit einem von ihm verfassten Vorwort 1697 in Lüneburg erschien. In einem Brief aus demselben Jahr, mit dem er der Kurfürstin von Brandenburg und späteren preußischen Königin einige Exemplare der Übersetzung schickt, bittet er die Adressatin mit guten philosophischen Gründen, dem Werk durch ihre Empfehlung eine günstige Aufnahme zu bereiten. Insbesondere macht er sie auf die Gedanken des Autors über die Ordnung des Universums aufmerksam. Wo der Augenschein nur Widersinn und Zufall zu erkennen vermöge, so Leibniz, erschließe sich dem tiefer Blickenden die perfekte Ordnung, die keinen Zweifel daran erlaube, dass das Universum von einer überlegenen Intelligenz regiert werde. Überhaupt sehen wir jetzt nur einen sehr kleinen Teil des unendlichen Universums und da unser gegenwärtiges Leben nur ein Teil dessen sei, was uns noch geschehe, sei es nicht verwunderlich, wenn wir die Schönheit 39 Ebd., § 412; GP VI, 360–361, zitiert nach ders.: Theodizee, III, S. 407. Vgl. L. Valla: Über den freien Willen / De libero arbitrio, hrsg. von E. Keßler, München 1987, S. 135–136: „LORENZO: Und was, glaubst Du, mag der Grund gewesen sein, dass ein Christ sich von Paulus entfernte […] und dass überhaupt im ganzen Werk über den Trost der Philosophie nirgends unsere Religion, nirgends die Vorschriften, die zum glückseligen Leben führen, nirgends Christus erwähnt wird […]? ANTONIUS: Ich vermute, dass er ein allzu begeisterter Bewunderer der Philosophie war. LORENZO: Deine Vermutung oder besser deine Einsicht ist vorzüglich. Denn ich glaube ebenso, dass kein allzu begeisterter Bewunderer der Philosophie Gott gefallen kann“. 40 Vgl. Essais de Théodicée, Discours préliminaire, § 6; GP VI, 53, zitiert nach Leibniz: Theodizee, Einleitende Abhandlung, S. 37. 41 Ders.: Confessio, S. 133.

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der Dinge nicht auf den ersten Blick erfassen. Wir werden davon aber mehr und mehr einsehen, wozu es notwendig sei, dass wir in einen anderen Zustand übergehen. Diese Gedanken, über die Leibniz sich in seinem Schreiben an Sophie Charlotte weitere Worte sparen möchte, weil Boethius sie viel besser dargelegt habe, als er selbst es könnte, gehören zu den grundlegenden der Theodizeeschriften von 1673 und 171042. Für die Confessio ist Boethius’ Trost der Philosophie noch in einer anderen Hinsicht in Betracht zu ziehen. Während die biographischen Umstände und ihre dialogischen Partien auf den Platonischen Phaedrus als Inspirationsquelle verweisen, gilt Boethius’ Schrift, in der dialogische Partien von Gedichten unterbrochen werden und Prosa und Vers einander ablösen, ihrer äußeren Form nach als eine satura Menippea. In der Gestalt, die Boethius ihr in seiner Schrift gegeben hat, haben christlich-mittelalterliche Motive die klassischen verdrängt, hat sich das ursprünglich polemisch-komische Genre in ein didaktisches verwandelt. Dieser bereits von Hirzel vertretenen Sichtweise hat sich die neuere Forschung angeschlossen, die die lange Zeit umstrittene Frage, ob Boethius ein Christ sei, zugunsten der Frage ad acta gelegt hat, was für eine Art Christentum er vertrete43. Hirzel hatte die Consolatio als ein Werk beschrieben, in dem die Menippeische Satire ein „ernsthaftes Gesicht“ angenommen und heiliger Ernst die Komik verdrängt habe. Mit seiner Beobachtung, dass in den Dialogen der Consolatio „die Philosophie selber es ist welche die Katechese mit Boethius anstellt“, weist er ihr literaturhistorisch eine Schlüsselstellung im Übergang vom antiken zum mittelalterlichen, didaktisch orientierten Dialog zu und liefert damit das für den Rezeptionshorizont von Leibniz’ frühem Dialog entscheidende Stichwort44. Vor dem für beide Texte konstitutiven katechetischen Hintergrund fällt auf, dass Leibniz die Rollenverteilung, die er im Trost der Philosophie vorfand, in seiner Confessio genau umgekehrt hat. Tritt bei Boethius die Philosophie dem Autor als Katechetin entgegen, so stellt bei Leibniz die Theologie die Katechese mit der Philosophie an. Mit dieser Inversion trägt Leibniz dem Vorwurf Rechnung, den Valla dem Autor der Consolatio gemacht hatte: In seinem Dialog bringt 42 Leibniz an die Churfürstin [Sophie] Charlotte von Brandenburg vom 9. Mai 1697; A I, 14, 196; GP VII, 545–546: „Et comme ce que nous voyons maintenant n’est qu’une tres petite portion de l’univers infini, et que nostre vie present n’est qu’une petite parcelle de ce qui nous doit arriver, on ne doit point s’estonner si toute la beauté des choses ne s’y décovre pas d’abord; mais nous y entrerons de plus en plus, et c’est pour cela mesme qu’il est necessaire que nous changions de situation“. Vgl. Essais de Théodicée, II, § 134 und III, § 146; GP VI, 187–188 und 364, zitiert nach ders.: Theodizee, S. 199 und S. 411 sowie ders.: Confessio, S. 123. Zum Kontext des Briefes vgl. A. Coudert: Leibniz and the Kabbalah, Dordrecht – Boston – London 1995, S. 64–131. Coudert zufolge wird im Druck van Helmont als Verfasser des Vorworts genannt; Leibniz’ Autorschaft gilt jedoch aufgrund einer im Nachlass erhaltenen Handschrift als gesichert. Zur Bedeutung von Boethius’ Consolatio für die Theodizee vgl. Th. Schuhmacher: Theodizee. Bedingung und Anspruch eines Begriffs, Frankfurt a. M. – Berlin – Bern 1992, S. 261–262. 43 D. Shanzer: „Interpreting the Consolation“, in: J. Marenbom (Hrsg.): The Cambridge Companion to Boethius, Cambridge 2009, S. 228–254, hier S. 233–234 und S. 241 ff. 44 Vgl. Hirzel, II, S. 347 bzw. S. 348.

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er neben der ‚Antwort der Philosophie‘ mit gebührendem Nachdruck auch die ‚des Heiligen Paul‘ zu Gehör. Das muss man nicht als Kritik an Boethius lesen. Eher handelt es sich um eine Umakzentuierung innerhalb des durch die katechetische Form vorgegebenen Rahmens. Dieser Rahmen ist bei Leibniz durch die Überzeugung vom „Einklang von Glauben und Vernunft“ näher bestimmt, die seinem Dialog in Form und Inhalt einen irenischen, um Harmonie und Ausgleich bemühten Zug verleiht. So hat der Philosoph mit seinem theologischen Gesprächspartner in der Confessio eine Art Vertrag auf Gegenseitigkeit geschlossen, der ihm als Gegenleistung für seine Darlegung der „Theologie des Philosophen“ zusichert, von diesem in die „Offenbarungsmysterien der christlichen Weisheit“ eingeführt zu werden45. Der Dialog, als der sich die Confessio ihrer äußeren Form nach präsentiert, ist kein Disput, sondern eine Inszenierung. Inszeniert wird nicht ein Streit, sondern dessen Gegenstandslosigkeit, eben die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft, wie der Titel der Einleitenden Abhandlung lautet, die Leibniz der Theodizee von 1710 voranstellt. Nicht nur findet sich der Theologe, der in der Confessio eingangs die Rolle des Lehrers für sich reklamiert, schon bald – und keineswegs zu seinem Missbehagen – in der Rolle des Schülers. Auch die Erkenntnismethoden erweisen sich als austauschbar, wenn der Philosoph auf die Frage, ob er an die Gerechtigkeit Gottes glaube, antwortet: „Ja, ich glaube, oder vielmehr: ich weiß es“46. Auch die Sorge, die der Theologe gegen Ende des Dialogs äußert, die erlangte Klarheit könne den Verdacht eines heimlichen Zusammenspiels erwecken47, bekräftigt mit seiner Erwägung der Möglichkeit des Betrugs die Wirklichkeit der prästabilierten Harmonie von Glaube und Vernunft. Ungewollt aber macht er zugleich auf die Grenze aufmerksam, die die katechetische Instrumentalisierung der Dialogform setzt. Diese Grenze zeigt sich auch in der Art und Weise, wie die „einfache, aber kluge Fabel“, die der Theologe im Anschluss an die philosophische Erörterung des Problems der ewigen Verdammnis erzählt, in das Argumentationsgefüge des Dialogs integriert wird48. Sie dient der Illustration des ohnehin schon Gesagten und damit der Erbauung des Lesers; dem philosophischen Argument hat sie nichts hinzuzufügen. Der Philosoph mag ihr denn auch lediglich zugute halten, dass sie „eine Abwechslung“ in die Strenge der Diskussion gebracht habe49. Für den Philosophen Leibniz ist damit jedoch das letzte Wort in Sachen Fabel noch nicht gesprochen.

45 46 47 48 49

Leibniz: Confessio, S. 133. Ebd., S. 33. Ebd., S. 131. Ebd., S. 113. Ebd., S. 121.

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III. Boethius hatte den Trost der Philosophie im Kerker auf seine Hinrichtung wartend gesucht. Als im Jahre 1705 die preußische Königin überraschend starb und mit großem Pomp zu Grabe getragen wurde, stellte der Tod auch Leibniz vor eine philosophische Bewährungsprobe. Dieser Probe hat er seine Philosophie in Gestalt eines Trauergedichts in deutscher Sprache unterzogen, das er im Februar 1705 vermutlich unter dem unmittelbaren Eindruck der Todesnachricht verfasst hat. Der These, „dass Gott alles auf die bestmögliche Weise nach der unendlichen Weisheit, die seine Handlungen leitet, erschaffen hat“50, scheint nichts nachdrücklicher und unabweislicher entgegenzustehen als der Tod. Als Ausdruck der allen Geschöpfen gemeinsamen, ursprünglichen Unvollkommenheit oder Begrenztheit ist er ein metaphysisches Übel; insofern er mit Schmerz und Leid einhergeht, hat er Anteil am physischen und als Folge der Erbsünde am moralischen Übel. Der Tod darf somit als Inbegriff des Zweckwidrigen gelten, auf das, nach Kants Wort, die Vernunft ihre Anklage gegen die höchste Weisheit des Welturlaubers gründet, zu dessen Verteidigung sich die Theodizee berufen fühlt51. Wenn sich das Trauergedicht Leibniz unter der Hand in eine poetische Theodizee verwandelte, so lag das nicht nur in der Natur der Sache, sondern auch an der Person der Verstorbenen. Kaum hätte er das Andenken seiner königlichen Schülerin und Gönnerin angemessener wahren können als in der Fortsetzung der Unterhaltungen gleichsam über das Grab hinaus, die er mit ihr zu Lebzeiten über diesen philosophischen Gegenstand geführt hatte. Für die Niederschrift des Gedichts gab der Tod Sophie Charlottes Leibniz jedoch nicht nur den Anlass, sondern auch die Gelegenheit. Die poetische Form, die Leibniz seinem philosophischen Exerzitium gab, stand nicht in seinem Belieben. Bei dem zu Lebzeiten unveröffentlichten Epicedium handelt es sich um ein Gelegenheitsgedicht. Für das Verständnis von Leibniz’ philosophischer meditatio mortis ist es nicht unwichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass sie nicht nur in ihrer äußeren Form maßgeblich den Vorgaben einer durch Konvention und Tradition festgelegten, wesentlich rhetorisch geprägten Form der Poesie folgt. Bereits in der Wahl des Versmaßes und der Strophenform entspricht sein Epicedium den Regeln der Gattung. Mit seinen 116 regelmäßig alternierenden Alexandrinern, die das Gedicht auf 29 vierzeilige Strophen, sogenannten quatrains, verteilt, zählt es keineswegs zu den umfangreichsten seiner Art. Das Trauergedicht, das der Hofpoet Johann von Besser im offiziellen Auftrag zu dem Christ=Königlichen Trauer und =Ehren=Gedächtnüs der preußischen Königin beisteuerte, war mit seinen 420 auf 70 Strophen verteilten Versen fast viermal so 50 Essais de Théodicée, II, § 134; GP VI, 188, zitiert nach ders.: Theodizee, S. 199. 51 Vgl. ebd., I, § 21; GP VI 115, zitiert nach ders.: Theodizee, S. 110–111. Zur „einfachen Unvollkommenheit“ i. e. zum metaphysischen Übel vgl. Discours de métaphysique, § 30; A VI, 4B, 1575; GP IV, 455; allg. I. Kant: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, in: Ders.: Werkausgabe, hrsg. von W. Weischedel, 12 Bde., Bd. IX, Frankfurt a. M. 1977, S. 105.

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lang. Es sind keine meisterhaften Verse, in denen Leibniz seine poetische Theodizee präsentiert, selbst wenn man das von dem strikt eingehaltenen Metrum der sogenannten ‚heroischen Alexandriner‘ noch zusätzlich unterstützte, spannungslose Gleichmaß von Satz- und Versbau, das kaum je ein Enjambement zulässt, als Ausdruck einer mit gemessenem Pathos einherschreitenden Trauer gelten lassen wollte. Opitz hatte aus gutem Grund davon abgeraten, „das der periodus oder sentenz allzeit mit dem verse oder der strophe sich ende“52. Auch im Gesamtaufbau seines Trauergedichts folgt Leibniz der Konvention. Was die Gelegenheit des Todes einer hohen Standesperson in poeticis fordert, ist noch bis weit ins achtzehnte Jahrhundert verbindlich den Poetiken und Rhetorikhandbüchern zu entnehmen. Sie schreiben für das Begräbnisgedicht einen dreigliedrigen Aufbau vor, bestehend aus den Teilen laudatio, lamentatio und consolatio. Im Zusammenspiel seiner Teile ist das Trauergedicht einem rhetorischpsychologischen Kalkül verpflichtet, das darauf zielt, „im Gegenspiel von Affekterregung und Affektstillung“ die Trauer zu zerstreuen53. Die drei Redeteile lassen sich in Leibniz’ Gedicht deutlich unterscheiden. Das Epicedium setzt mit einer über sechs Strophen sich erstreckenden laudatio ein, die die Schönheit, den Verstand und die Tugendhaftigkeit der Verstorbenen preist (I–VI), gefolgt von einer knappen, ihren Tod beklagenden lamentatio (VII–IX). Ihr schließt sich, in der Handschrift als neuer Abschnitt deutlich erkennbar, die consolatio an, die mit ihren achtzehn Strophen (X–XXVII) den bei weitem umfangreichsten und inhaltlich gewichtigsten Teil des Gedichts ausmacht. Den Abschluss bilden zwei quatrains (XXVIII–XXIX), in denen der Trauer ein tröstender Ausweg gewiesen wird. Die quantitative Erweiterung der consolatio dürfte nicht unerheblich dazu beitragen, dass in Leibniz’ Gedicht insgesamt ein eher ruhiger, monologischdiskursiver Duktus vorherrscht. Mit der Erweiterung des Trostteils nimmt er eine Akzentuierung vor, die den vorgegebenen Rahmen nicht infrage stellt, sondern ihn auf spezifische Weise nutzt. Statt das affektorientierte Wirkungskalkül der Gattung außer Kraft zu setzen, macht er es der Darlegung des philosophischen Arguments dienstbar. Die daraus sich ergebende Annäherung des Trauergedichts an ein philosophisches Lehrgedicht resultiert nicht allein aus dem philosophischen Gehalt seiner consolatio. Sie ist in der Gattung angelegt und kommt formal in der Prädominanz des Klageteils über die übrigen Teile des Gedichts zum Ausdruck. An Leibniz’ Epicedium lässt sich die Verschränkung von Kasualdichtung und Lehrgedicht exemplarisch studieren, für die sich schon in der Antike zahlreiche Beispiele finden54.

52 M. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, hrsg. von C. Sommer, Stuttgart 1983, S. 51. 53 H.-H. Krummacher: „Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89–147, hier, S. 110. 54 Vgl. L. L. Albertsen: Das Lehrgedicht. Eine Geschichte der antikisierenden Sachepik in der neueren deutschen Literatur mit einem unbekannten Gedicht Albrecht von Hallers, Aarhus 1967, S. 205 ff. sowie Ch. Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung, Stuttgart 1974, S. 48– 52.

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Üblicherweise erschöpfen sich die Titel von Kasualcarmina in der mehr oder weniger feierlichen Nennung des Anlasses, dem sie ihre Entstehung verdanken. Im Falle einer Veröffentlichung wäre Leibniz wohl kaum von dieser Konvention abgewichen. In der Handschrift hat er seinem Gedicht anstelle des Titels ein vierzeiliges Motto in lateinischer Sprache vorangestellt. Die Hexameter, in denen die verstorbene Monarchin mit der Sonne verglichen wird, bemühen einen Gemeinplatz der Herrscherpanegyrik, der schon im Altertum als trivial galt55. Die Funktion der Metapher in Leibniz’ Epicedium erschöpft sich jedoch nicht darin, einen Gemeinplatz zu zitieren. Im Gesamtaufbau des Gedichts, das die Metapher im ersten und letzten quatrain aufgreift, wird das Motto zum Text in einer Weise in Bezug gesetzt, die an das Zusammenspiel von subscriptio und pictura im Aufbau eines Emblems erinnert. Das Pensum, das Leibniz mit seiner philosophischen Trauerarbeit absolviert, besteht darin, den traurigen Bildern der Einbildungskraft einen „train de pensées“ entgegenzusetzen, „dont la raison […] fassent la liaison“56. Der Gedankengang, mit dem die Seele den Anfechtungen der Leidenschaften entgegentritt und in dessen immer deutlicherer Erfassung sie der Trauer und damit auch ihrer selbst wieder Herr zu werden sucht, verbindet das Epicedium mit der Confessio und der Theodizee. „Versuche über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Bösen“ – so lautet der Untertitel der Abhandlung, in der Leibniz einige Jahre später öffentlich die Summe seiner Gespräche mit der preußischen Königin festhielt. Indem das Epicedium zu Beginn des Trostteils die Fragen aufgreift, in denen der Untertitel die Fragestellung der Theodizee von 1710 umreißt, wird es als eine ‚poetische Theodizee‘ lesbar. Die consolatio nimmt ihren Ausgangspunkt vom Faktum des Bösen, das sie in Gestalt des Todes als metaphysisches Übel begreift: „Dass ihn der Tod besiegt in allem, das er thut“ (v. 47), scheint die Allmacht Gottes zu widerlegen, dem die „Nothwendigkeit [...] Fesseln angelegt“ (v. 45) zu haben scheint. Dass Gott dem Tod in jedem Fall das letzte Wort zugesteht, scheint ferner nicht mit seiner Güte und Gerechtigkeit vereinbar, da ihm doch offenbar gleichgültig ist, „ob man ihn verachtet oder liebet“ (v. 50). Schließlich muss an der Weisheit Gottes gezweifelt werden, die keineswegs „alles so gericht, / Dass was man untersucht, leid keinen Tadel nicht“ (v. 51–2). Die Lehre von der Wahl der besten aller möglichen Welten ist nicht zuletzt als Antwort auf das Trilemma konzipiert, das im Konflikt der Gottesattribute Weis55 G. W. Leibniz: „Der Preussen Königin verlässt den Kreis der Erden …“ [i. e. Epicedium auf den Tod der Königin Sophie Charlotte], in: Ders.: Gesammelte Werke. Aus den Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Hannover, 4 Bde., I. Folge: Geschichte, Bd. 1,4, hrsg. von G. H. Pertz, Hannover 1842–1887 (Repr. Hildesheim 1966), S. 109–112. Im Folgenden wird nach diesem Druck zitiert, wobei die römischen Ziffern auf die Strophen, die arabischen auf die Verse verweisen. Ein Auszug aus dem Gedicht, sowie der Text des Mottos samt einer deutschen Übersetzung ist im Anhang zu dieser Arbeit abgedruckt. Vgl. hierzu ausführlicher meine Studie Poetische Theodizee. Philosophie und Poesie in der lehrhaften Dichtung im achtzehnten Jahrhundert. München 2000, S. 138–173, an die ich mit den vorliegenden Überlegungen vielfach anknüpfe. 56 Nouveaux essais, II, 21, § 47; A VI, 6, 195; GP V, 181–182.

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heit, Güte und Macht zum Ausdruck kommt. Leibniz’ diesbezügliche Überlegungen haben eine erkenntnistheoretische Pointe, die auf der Annahme gründet, dass die Attribute Gottes in der Ausstattung der endlichen Wesen eine Entsprechung haben. Im Rahmen dieses „theorationalistischen“ Ansatzes sind Macht, Weisheit und Wille Gottes nicht prinzipiell, sondern allein graduell von dem unterschieden, was Leibniz in der Monadologie das „Subjekt oder die Grundlage“, bzw. das perzeptive und das strebende Vermögen bei den geschaffenen Monaden nennt57. Was die unendliche Weisheit in Verbindung mit ihrer unendlichen Güte und Macht bewog, eine Welt zu schaffen, befähigt die endlichen Wesen in den Grenzen ihrer Möglichkeiten, diese Welt zu erkennen und sich in ihr einzurichten. Wie Leibniz seiner königlichen Schülerin diesen zentralen Gedanken seiner Philosophie in einem Brief erläutert, sind wir vermöge des uns ursprünglich verliehenen natürlichen Lichts im verkleinerten Maßstab der Gottheit ähnlich, und zwar sowohl durch die Erkenntnis der vorhandenen Ordnung als auch durch die Ordnung, die wir selbst in den Dingen stiften, indem wir die Ordnung nachahmen, die Gott dem Universum gegeben hat. In dieser Nachahmung bestehe unsere Tugend und Vollkommenheit, in der Freude, die wir dabei empfinden, bestehe unsere Glückseligkeit58. Auf die Wiedergewinnung dieser Glückseligkeit zielt die Denkbewegung des Epicediums. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt von der Betrachtung des physischen Organismus, erhebt sich von dort zur Vorstellung des ganzen Weltgebäudes und findet schließlich ihren Höhepunkt in den letzten Versen der consolatio, die den zu Beginn des Trostteils aufgeworfenen Fragen und Zweifeln eine Antwort zunächst in Gestalt einer rhetorischen Frage erteilen: Was ist die wahre Lieb’, als dass man sein Ergezen, In des Vollkommenheit, so man geliebt, muss sezen, Weil Liebe dann in Gott die stärckste Probe thut, Entsteht die gröste Freud’ auch aus dem höchsten Guth. (v. 105–8).

Mit der „wahre[n] Lieb“, die in Gott ihren Gegenstand findet, werden die „bedrückte[n] Sinne“ (v. 109) auf eine Vorstellung verwiesen, die sie mit Freude 57 Monadologie, § 48; GP VI, 615: „Et c’est ce qui répond à ce qui dans les Monades creées fait le sujet ou la Base, la Faculté perceptive et la Faculté Appetitive. Mais en Dieu ces attributs sont absolument infinis ou parfaits, et dans les Monades creées […] ce n’en sont que des imitations, à mesure qu’il y a de la perfection“. Zum ‚Theorationalismus‘ vgl. F. Kaulbach: „Subjektivität, Fundament der Erkenntnis und lebendiger Spiegel bei Leibniz“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 20 (1966), S. 476. Als „nicht prinzipiell, sondern nur graduell“ hat Hans Poser den Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Vernunft beschrieben; vgl. H. Poser: Gottfried Wilhelm Leibniz zur Einführung, Hamburg 2005, S. 56 und S. 187. 58 Leibniz an die Königin Sophie Charlotte von Preußen, Mitte Juni 1702; GP VI, 507; A, 21, N. 224, 334: „[…] de cette lumiere [i. e. la Lumiere naturelle, U. S.] dont j’ay parlé cy dessus, qui nous fait ressembler en diminutif à la Divinité, tant par la connoissance de l’ordre, que par l’ordonnance que nous savons donner nous mêmes aux choses qui sont à nostre portée, à l’imitation de celle que Dieu donne à l’univers, et c’est aussi en cela que consiste nostre vertu et perfection, comme nostre felicité consiste dans le plaisir que nous y prenons“; siehe ebd., S. 345; vgl. Principes de la Nature et de la Grace, fondés en raison, § 14; GP VI, 604–605 und Monadologie, § 83; GP VI, 621.

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erfüllt. Indem sie sich, wie es in der unmittelbar folgenden Strophe heißt, dazu erheben, ihre „Traurigkeit in dieser Freud verrinnen“ zu lassen (v. 110), machen sie die „Probe“ (v. 107) auf die Liebe Gottes. In den folgenden Zeilen, die dazu auffordern: „Erkent mans gleich noch nicht, soll mans doch beten an“ (v. 111–2), scheint Leibniz die Gottesliebe dem rationalen Verständnis in einer Weise zu entziehen, die an das je ne sais quoi erinnert, mit dem die Ästhetik der délicatesse das Wesen der Schönheit zu erfassen gesucht hatte. Die Assoziation liegt um so näher, als das je ne sais quoi bei Bouhours nicht allein die geheimnisvolle Ursache des ästhetischen Gefallens bezeichnet, sondern auch die ebenso unbegreifliche wie faszinierende Natur der göttlichen Gnade59. Genau besehen, entzieht Leibniz in der zitierten Zeile jedoch weder die Vollkommenheit der Werke Gottes noch die wahre Liebe der Einsicht des Verstandes. Vielmehr liegt seinen Überlegungen die Auffassung zugrunde, dass das Urteil des Verstandes, das sich im Urteil der Sinne „noch“ verbirgt, in der begrifflichen Erkenntnis zu sich selbst und damit zugleich zu einer dem Gegenstand angemesseneren Vorstellung desselben gelangt. Mit dem Begriff der ‚wahren Gottesliebe‘ greift Leibniz in seinem Trauergedicht auf ein bereits ausgearbeitetes theoretisches Konzept zurück. In einem Brief aus dem Entstehungszeitraum des Epicediums definiert er die wahre Gottesliebe als „l’estat où l’on trouve son plaisir dans les perfections de l’objet aimé“ vergegenwärtigt60. Dieses Verständnis der ‚wahren Liebe‘, das als Selbstzitat in zahlreichen Schriften und Briefen begegnet, hat seinen prominentesten Ausdruck in der Formel gefunden, mit der Leibniz den zwischen Fénelon und Bossuet entbrannten Streit um den amour pur oder désintéressé hatte schlichten wollen: „l’amour est cet acte ou état actif de l’ame qui nous fait trouver notre plaisir dans la félicité ou satisfaction d’autrui“61.

59 Vgl. Dominique Bouhours: Les entretiens d’Ariste et d’Eugène, (1671), hrsg. von F. Brunot, Paris 1962, S. 149: „La grace elle-mesme, cette divine grace […] qu’est-ce autre chose qu’un je ne sçay quoi surnaturel, qu’on ne peut ni expliquer, ni comprendre?“ 60 Leibniz à la princesse Caroline d’Ansbach vom 18. März 1705, in: O. Klopp (Hrsg.): Die Werke von Leibniz gemäß seinem handschriftlichen Nachlaß in der Königlichen Bibliothek zu Hannover, 11 Bde., Bd. IX, Hannover 1864–1884 (Repr. Bde. 7–11, Hildesheim 1970–1973), S. 117–118. Vgl. Essais de Théodicée, Préface; GP VI, 279, zitiert nach Leibniz: Theodizee, Vorrede: „L’amour est cette affection qui nous fait trouver notre plaisir dans les perfections de ce qu’on aime“. Vgl. Leibniz an die Kurfürstin Sophie, Mitte August( ?) 1697; GP VII, 549; A I, 14, N. 26, 55: „Aimer est trouver du plaisir dans le bien, la perfection, le bonheur d’autruy“. In dem Schreiben betont Leibniz, dass er zu dieser Auffassung der Liebe schon in seinem Codex Juris Gentium Diplomaticus von 1693 (A IV, 5, N. 7) gekommen sei; vgl. GP III, 387. Die Definition der Liebe findet sich auch zu Beginn der 1673 verfassten Confessio; vgl. ders.: Confessio, S. 9. 61 [Leibniz:] „Sentiment de Mr. Leibniz sur le livre de Mr. L’archevêque de Cambray et sur l’amour de Dieu désintéressé“, in: G. W. Leibniz: Opera philosophica, 2 Bde., hrsg. von J. E. Erdmann, Berlin 1839–1840 (Repr. in einem Bd. Aalen 1959), S. 789; GP II, 577. Zum Streit um den amour pur vgl. R. Spaemann: Fénelon. Reflexion und Spontaneität, Stuttgart 21990, besonders S. 210–236.

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Für den hier verfolgten Zusammenhang ist zunächst hervorzuheben, dass für Leibniz mit den Begriffen Glückseligkeit, Schönheit und Vollkommenheit auch die Gegenstände austauschbar sind, die zu Objekten der ‚reinen Liebe‘ werden können. So kann die wahre Liebe auch bei der Betrachtung eines Gemäldes oder beim Hören von Musik erfahren werden62. Indem Leibniz die ‚wahre Liebe‘ als einen „acte ou état actif de l’ame“ definiert, verleiht er ihr die Signatur eines Erkenntnisaktes. Seiner Definition liegt der Gedanke der Repräsentation zugrunde: der für Leibniz’ Erkenntnistheorie und Metaphysik gleichermaßen zentrale Gedanke, demzufolge die Seele als ein lebendiger Spiegel des Universums aufzufassen ist. In den Vorstellungen der Seele liegt das Wissen vom vernünftigen Zusammenhang der Dinge als ein in ihren Bewusstseinsinhalten zunächst latentes Wissen vor, aus denen sie in Akten der Reflexion zu immer deutlicheren Wahrnehmungen gelangt. Das Prinzip der durchgängigen Verknüpfung der Erkenntnisvermögen, dem diese Überlegung verpflichtet ist, sichert auch den unmerklichen Vorstellungen, den „petites perceptions“, auf denen unsere Erfahrung der Schönheit beruht, ihren spezifischen Ort im Stufengang der Erkenntnis63. Was undeutlich ist, ist deshalb nicht unverständlich. Das Urteil der Sinne, das die Schönheit eines Gegenstandes wahrnimmt, kommt im Urteil des Verstandes zu sich selbst – und damit zu ihrem Selbst. Dieses mit Verstand begabte Selbst stellt die vernünftige Ordnung im doppelten Sinne dar: Es begreift sich selbst als vernünftiges Wesen, indem sich ihm die Schöpfung in verwandter, durchgängig durch Vernunft gestifteter Ordnung darstellt. In Gott findet die Vernunft ihren höchsten Gegenstand, der endliche Verstand aber seine Grenze. Zu dieser Vernunft und an diese Grenze ist das traurige Selbst in den abschließenden Zeilen des Epicediums gekommen. Es verdankt seine Einsicht in die Güte Gottes und damit die Wiederherstellung seines eigenen, ihm in der Trauer verborgenen Selbst dem ‚train de pensées‘, dessen Vernunft das Gedicht sukzessive entfaltet, um in seiner letzten Strophe an einer Grenze innezuhalten. An dieser durch den Gegensatz von „Sehen“ und „Schauen“ bezeichneten Grenze sieht sich der endliche Verstand auf den unendlichen verwiesen, von dem er sich zugleich unüberwindbar getrennt weiß. Als eine Vorstellung des Verstandes ist das Reich Gottes sowohl von dieser Welt als auch nicht von dieser Welt, insofern wir kraft unseres Verstandes über die Grenzen der sinnlichen Welt hinausgetragen werden, ohne jedoch in unserem gegenwärtigen Zustand die Sinne zum Denken

62 Vgl. Essais de Théodicée, Préface; GP VI, 27, zitiert nach Leibniz: Theodizee, Vorrede, S. 4; Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison, § 18; GP VI, 606; Initia et Specimina Scientiae novae Generalis, [Fragm. E]; GP VII, 87 und Leibniz an Nicaise vom 28. Mai 1697, Beilage; GP II, 576–580. 63 Zu diesem für Leibniz’ Philosophie und Terminologie grundlegenden Gedanken vgl. „Meditationes de cognitione, veritate et ideis“; GP IV, 422–426; A VI, 4A, N. 141 sowie hierzu ferner E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. I–III, Berlin 1906–1920; Bd. IV, New Haven 1950 (Repr. Darmstadt 1994), Bd. II, S. 176 ff.

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entbehren zu könnten64. Dieser Gedanke liegt der Zeile im Gedicht zugrunde, in der es heißt: „Man sieht, dass Gott ist gut, eh man ihn selbst kann schauen“ (v. 115). Die Seele wäre Gott gleich, sagt Leibniz in der Theodizee, wenn sie ausschließlich deutliche Vorstellungen („des perceptions distincts“) hätte65. Während sich Gott als Inbegriff der Ordnung unserer Vorstellung entzieht, haben wir in der Ordnung und Harmonie der Kunstwerke ein Abbild dieser Ordnung oder allgemeiner: in der Schönheit einen Abglanz der Strahlkraft, die von Gott ausgeht66. Nach Maßgabe der Leibniz’schen Erkenntnistheorie lässt sich der Gedankengang der consolatio des Epicediums als poiesis, als eine Nachschöpfung der wahren Welt in der Kohärenz eines Gedankengangs verstehen, der sich von der sinnlichen Evidenz bis zur vernünftigen Erkenntnis des Zusammenhang der Dinge erhebt und uns bis an die Grenze führt, die den „Erd-Geschöpfe[n]“ (v. 116) von ihren Sinnen gesetzt sind und in der Gewissheit über sie hinausführt, dass die Harmonie und Ordnung der Schöpfung das Walten eines Verstandes bezeugen, der dem menschlichen zwar unendlich überlegen, ihm aber prinzipiell verbunden ist. In seinem Epicedium entdeckt Leibniz die Grenze zwischen endlichem und unendlichem Verstand als Spielraum der Metapher. Wie im Emblem pictura und subscriptio durch die „Doppelfunktion des Darstellens und Deutens“ aufeinander verweisen67, erhellen Motto und Gedicht, poetische Gleichnisrede und philosophische Reflexion, einander wechselseitig. Als Sinnbild verweist die Sonne die sinnliche Wahrnehmung über ihre Grenze hinaus: Sie gibt, wie es im Motto heißt, „dem Erdkreis die Gottheit zu erkennen“. Damit ist sie zugleich ein Sinnbild des Gedankengangs, der in der durch Trauer getrübten Wahrnehmung das latente Bild der Ordnung der Schöpfung entdeckt, von der der endliche Verstand in sich eine Vorstellung, in der Schönheit aber ein Abbild findet. Da wir die Ordnung der Schöpfung nicht sehen können, heißt es bei Leibniz einmal, müssen wir uns „mit den augen des verstandes dahin stellen, wo wir mit den augen des leibes nicht stehn, noch stehn können“. Von der Erde aus betrachtet stelle sich der Lauf der Sterne als ein wunderlich verwirrtes Wesen dar. „Aber nachdem man endtlich außgefunden, daß man das auge in der Sonne stellen müße, wenn man den lauff des Himmels recht betrachten will, und daß alsdann alles wunderbar schöhn herauskomme, so siehet man, daß die vermeinte unordnung und verwirrung unsers unverstandes schuld gewesen, und nicht der natur“68.

64 Leibniz an die Königin Sophie Charlotte, Mitte Juni 1702; A I, 21, 344; GP VI, 506: „Les sens nous fournissent de la matiere pour le raisonnement, et nous n'avons jamais des pensées si abstraites, que quelque chose de sensible ne s’y mêle; mais le raisonnement demande encor autre chose que ce qui est sensible“. 65 Essais de Théodicée, I, § 64; GP VI, 137: „L’ame seroit une Divinité, si elle n’avoit que des perceptions distinctes“ 66 Ebd., Préface; GP VI, 27: „Dieu est tout ordre, il garde tousjours la justesse des proportions, il fait l’harmonie universelle: toute la beauté est un épanchement de ses rayons“. 67 A. Henkel/A. Schöne: „Vorbemerkung“, in: Dies. (Hrsg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Taschenausgabe, Stuttgart – Weimar 1996, S. XII–XIII. 68 GP VII, 120.

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Die Korrektur des ptolemäischen Augenscheins durch die bessere kopernikanische Einsicht hat unser Wissen verändert, nicht aber unsere Wahrnehmung. Wir befinden uns, wie Leibniz an anderer Stelle durchaus zustimmend bemerkt, in der eigentlich merkwürdigen Lage, dass wir „nach gewöhnlichem Sprachgebrauch mit Ptolemäus und Tycho de Brahe reden, aber mit Copernikus denken, wenn es sich um den Aufgang und Untergang der Sonne handelt“69.

IV. Wenn wir es besser wissen, warum sollten wir dann dieses Wissen in einer missverständlichen Form darstellen? Oder anders, nämlich mit Gellert70, gefragt: Was sollte uns veranlassen, „die Wahrheit durch ein Bild zu sagen“? Dem besseren Wissen, aus dem das Epicedium den Trost der Philosophie herleitet, hat Leibniz in der Theodizee die Gestalt der Lehre von der besten aller möglichen Welten gegeben. Die Bezeichnung ‚poetische Theodizee‘ rückt das Gedicht in einen poetologischen Kontext, in dem nicht zuletzt auch das Verhältnis von Philosophie und Poesie zur Debatte steht. Den Spielraum der Metapher, den Leibniz für die Darstellung seiner Philosophie in dem Epicedium nutzt, hat er ihr in seiner Erkenntnistheorie allererst eröffnet, wie denn seine Philosophie die poetologische Theoriebildung der Frühaufklärung ohnehin als eine Art Subtext begleitet. In der zuvor zitierten Zeile definiert Gellert die Poesie metaphorisch als ‚Bild‘, als bildhafte Rede, und folgt damit einer weitverbreiteten Auffassung vom Wesen der Poesie. Tatsächlich kommt den „tropischen, uneigentlichen und verblümten Worten und Redensarten“ und als deren „erster und hauptsächlicher Gattung“71: der Metapher, für die Bestimmung des Wesens und der Funktion der Poesie im poetologischen Diskurs des achtzehnten Jahrhunderts eine Schlüsselrolle zu. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass von einem einheitlichen Verständnis der Metapher und der Poesie auszugehen ist. Als Teilaspekte der „Neubestimmung des poetologischen Selbstverständnisses“ im achtzehnten Jahrhundert72 lassen sich grob zwei teils miteinander konkurrierende, teils einander ergänzende Auffassungen unterscheiden. Entweder wird die Poesie im Anschluss an die rhetorische Tradition primär wirkungsorientiert als „gebundene, versifizierte Beredsamkeit“ definiert73, für deren nähere Bestimmung auf die rhetorische Stillehre (elocutio) zurückgegriffen und die Metapher als Teil des Redeschmucks (ornatus) behandelt wird. Oder der Begriff der Poesie wird aus der aristotelischen Poetik hergeleitet, die mit ihrem Verständnis der mimesis als Handlung oder Fabel (mythos) 69 Essais de Théodicée, I, § 65; GP VI, 138, zitiert nach Leibniz: Theodizee, 132. 70 C. F. Gellert: „Die Biene und die Henne“, in: Ders.: Fabeln und Erzählungen, hrsg. von K.-H. Fallbacher, Stuttgart 1986, S. 54. 71 J. C. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert, Leipzig 41751 (Repr. Darmstadt 1982), S. 257. 72 P.-A. Alt: Aufklärung, Stuttgart – Weimar 1996, S. 66. 73 H. Wiegmann: Geschichte der Poetik. Ein Abriß, Stuttgart 1977, S. 58.

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einen theoretischen Kontext bereitstellt, in dem statt des dekorativen der kognitive Aspekt der Metapher betont wird. Der friedlichen Koexistenz beider Auffassungen in den zeitgenössischen poetologischen Texten entzieht Gottsched mit dem systematischen Anspruch seiner Critischen Dichtkunst (1730) zwar theoretisch den Boden, hält aber praktisch an ihr fest. Gottsched definiert die Metapher als „ein kurzes Gleichnis“. Der modus operandi metaphorisch-bildhafter Rede, aus dem er seine Definition herleitet, kommt im Begriff der Ähnlichkeit mit seinem Verständnis des dichterischen Vermögens als ‚Witz‘ überein. Wie die Metapher ein Wort durch ein anderes ersetzt, „welches eine gewisse Ähnlichkeit damit hat“, so zeichnet sich der Dichter durch seine Fähigkeit aus, „das Aehnliche leicht wahrzunehmen“, weshalb sein Witz sich „hauptsächlich in der glücklichen Erfindung verblümter Redensarten“ zeigt74. Dieses Verständnis der Metapher legt Gottsched auch seinem Verständnis der poetischen Fiktion als Handlung (oder Fabel) zugrunde. Als eine mögliche oder wirkliche Begebenheit, die in ihrer Einheit und Geschlossenheit eine moralische Wahrheit veranschaulicht, unterscheidet sich die Fabel von der Metapher nur durch den Umfang. Wenn Gottsched unter Berufung auf Aristoteles die Fabel wesentlich als „Zusammensetzung oder Verbindung der Sachen“ fasst75, eröffnet er seiner Poetik theoretisch einen erheblichen Spielraum, den er praktisch jedoch weitgehend ungenutzt lässt. Denn das Gewicht, das Gottsched mit seiner Betonung der Kategorie der Handlung auf die interne Kohärenz oder die Einheit in der Vielheit als Kennzeichen der Fiktion legt, erhält ein Gegengewicht in seiner Betonung des Wirkungsaspekts. Nicht zufällig beschreibt er die Veranschaulichung des moralischen Lehrsatzes mit Hilfe einer Begebenheit oder Handlung als „Einkleidung“76. Damit greift er auf einen Topos zurück, mit dem schon die antike Rhetorik die praktische Umsetzung der Stillehre oder elocutio metaphorisch umschrieben hat. Auf diese Weise bleibt Gottsched letztlich auch in seinem Verständnis der Fiktion der rhetorischen ornatus-Lehre verpflichtet. Seine rhetorischornamentale Bestimmung der Funktion der Poesie folgt einer Logik der Substitu-

74 Gottsched, S. 264 bzw. S. 262; zum Witz, unter stummer Berufung auf Wolffs Definition des ingeniums vgl. S. 102. In seiner immer noch unübertroffenen Darstellung hält Baeumler zu recht fest, dass für Gottsched „an Metapher und Gleichnis […] eigentlich die ganze Poesie“ hängt; vgl. A. Baeumler: Kants Kritik der Urteilskraft. Ihre Geschichte und Systematik, 1. Band: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Halle 1923, S. 146–148. 75 Gottsched, S. 149. 76 Ebd. Dies wird besonders deutlich in seiner Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Verdikt über die Lehrdichtung. So macht er sich zunächst die Überlegung zu eigen, mit der Aristoteles seine Ablehnung der Lehrdichtung begründet hatte. Demzufolge sind die Lehrgedichte „keine Gedichte […], weil sie nichts gedichtetes, das ist, keine Fabeln sind“. Jedoch gewährt Gottsched der mit Aristoteles an der Vordertür abgewiesenen Lehrdichtung Einlass durch die Hintertür: „Die Einkleidung, der Ausputz, die Zierrathe, der geistreiche und angenehme Vortrag der allerernsthaftesten Lehren, machet, daß sie Poesien werden: da sie sonst ihn [sic!] ihrem gehörigen philosophischen Habite ein sehr mageres und oft verdrüßliches Ansehen haben würden“. Ebd., S. 575–576; vgl. Aristoteles: Poetik, 1447b, Fuhrmann, S. 7.

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tion: Der Witz besteht darin, dass die Poesie zwar etwas anders, aber eben nichts Anderes sagt77. Die sich wandelnde Poesieauffassung im achtzehnten Jahrhundert lässt sich an der Umdeutung der Metaphorik der Verkleidung nachvollziehen, die ihren Weg aus den Handbüchern der Rhetorik in die Poetiken gefunden hat, in denen sie sich als Veranschaulichung des Verhältnisses der Poesie zur Philosophie größter Beliebtheit erfreut. Dabei scheint die Rolle der Poesie in ihrer Stellung zur Philosophie in den komplementären Metaphern der nackten und der verhüllten Wahrheit einen ebenso prägnanten wie abschließenden Ausdruck gefunden zu haben. Der nackten Wahrheit als dem Fluchtpunkt philosophischer Erkenntnis entspricht der Logik des Bildfeldes gemäß die Auffassung der Poesie als Verkleidung: Ihre Aufgabe ist es, die vorgegebene Wahrheit durch den Schmuck der Rede zur Geltung zu bringen, sie in der Verkleidung überzeugend darzustellen. Tatsächlich erweist sich der als ‚Verhüllung‘ oder ‚Verkleidung‘ der ‚nackten Wahrheit‘ imaginierte Vorgang der poetischen Darstellung als weniger eindeutig als zunächst gedacht: Kleidung verhüllt nicht nur, sondern sie bringt zugleich das Verhüllte zum Ausdruck – und sei es eben in seiner Verhüllung. In dieser Lesart hat sich die Auffassung der poetischen Darstellung als Verhüllung von ihrem komplementären Bezug auf die philosophische Enthüllung emanzipiert: In der verhüllten Wahrheit gewinnt der Anspruch der Poesie auf eine genuin poetische, der nackten Wahrheit der Philosophie tendenziell gleichberechtigte, wenn nicht gar überlegene Darstellung der Wahrheit Gestalt. Zwei Beispiele mögen die Implikationen der beiden Lesarten verdeutlichen. In seiner Abhandlung von philosophischen Gedichten (1747) greift Christoph Joseph Sucro die Metapher zunächst auf, um die Zuständigkeit der Poesie für die Darstellung auch der strengsten und ernstesten Wahrheit anzumelden. Das Gebiet der poetischen Wahrheit, so Sucro, „erstreckt sich […] soweit, als die Wahrheit sich sinnlich und poetisch einkleiden läßt“. In seiner Forderung, dass die Wahrheit „durch den poetischen Schleier nur, so zu reden, durchscheinen“ müsse78, bleibt die durch den Schleier seiner eigenen metaphorischen Rede über die Poesie durchscheinende Wahrheit in seiner theoretischen Reflexion ungenutzt. Statt der Poesie in ihrer Darstellung des philosophischen Gedankens ein größeres Eigenrecht zuzugestehen, hält Sucro an einer rhetorisch-instrumentellen Auffassung der Poesie fest. Ihre Aufgabe besteht seinem Verständnis gemäß darin, einen zuvor deutlich und also richtig gedachten Gedanken sinnlich einzukleiden. Das bedeutet umgekehrt, dass die Wahrheit sich „aus der poetischen Sprache wieder aufs genauste in die philosophische Sprache übersetzen“ lassen. Auf diesen Grundsatz möchte Sucro die „Critic über die gesammten schönen Wissenschaften“ verpflichten79.

77 Vgl. Gottsched, S. 150. 78 C. J. Sucro: „Abhandlung von philosophischen Gedichten“, in: Ders.: Kleinere deutsche Schriften, hrsg. von G. C. Harles. Coburg 1770, S. 6. 79 Ebd., S. 14.

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Mit dieser Lesart der Metapher der Einkleidung hat sich Lessing in seinen Abhandlungen über die Fabel auseinandergesetzt. Gegen die Ansicht, dass die Fabel den Lehrsatz in einem allegorischen Bilde verkleide, wendet er ein: „Wollte man mit aller Gewalt ein ähnliches Wort hier brauchen, so müßte es anstatt verkleiden wenigstens einkleiden heißen“. Die moralische Lehre werde in der Handlung „weder versteckt noch verkleidet, sondern durch sie der anschauenden Erkenntnis fähig gemacht“80. Mit dieser minimalen Korrektur im Bildfeld der Verkleidungsmetapher entzieht Lessing Sucros Übersetzungs-Grundsatz den Boden und befreit die Poesie aus der Hegemonie der Philosophie. Den für seine Überlegungen zentralen Begriff der Handlung definiert er im Anschluss an Aristoteles’ Begriff des mythos als „eine Folge von Veränderungen, die zusammen ein Ganzes ausmachen“81. Auf diese Weise sichert er der Poesie ein eigenes Terrain, auf dem sie der Philosophie auf Augenhöhe begegnet. Statt zwischen Lehrsatz und Handlung ein Ähnlichkeitsverhältnis zu statuieren und ihr wechselseitiges Verhältnis nach der Logik der Substitution auszulegen, versteht Lessing die Fabel als die Realisation einer Erkenntnis, die in der ästhetischen Totalität des Kunstwerks anschauliche Gestalt gewinnt. So besteht die Aufgabe des Dichters darin, die ihm nur fragmentarisch einsichtige Wirklichkeit in seinem Werk zu einem „Ganzen“ zu runden. Mit dem Begriff der Ganzheit rückt Lessing den Nachahmungsgrundsatz in einen metaphysischen Kontext, in dem das Kunstwerk aufgrund seiner internen Ordnung als ein „Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers“ aufgefasst werden kann82. Sehr zutreffend hat Baeumler zu Lessings Abhandlungen über die Fabel bemerkt, dass sie „wie eine Anwendung der Grundsätze der Aesthetica“ wirken83. Bei Baumgarten findet sich denn auch die Antwort auf die oben aufgeworfene Frage, was uns veranlassen sollte, ‚die Wahrheit durch ein Bild zu sagen‘: Den Philosophen müsse klar sein, heißt es in der Aesthetica, dass „nur mit einem großen und bedeutenden Verlust an materialer Vollkommenheit all das hat erkauft werden müssen, was in der Erkenntnis und in der logischen Wahrheit an besonderer formaler Vollkommenheit enthalten ist. Denn was bedeutet die Abstraktion anderes als einen Verlust?“84

Die zugleich poetologischen und erkenntniskritischen Prämissen dieser Sichtweise ergeben sich aus der Definition, mit der Baumgarten die Ästhetik als philosophische Disziplin begründet. Als „Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis“ ist sie Theorie der freien Künste, Lehre von den unteren Erkenntnisvermögen, Kunst des schönen Denkens und Kunst des der Vernunft analogen Denkens85. Mit der Be80 G. E. Lessing: Werke, 8 Bde., Bd. V, hrsg. von H. G. Göpfert u. a., München 1970–1979, S. 370–371. 81 Ebd., S. 367. 82 Lessing: Hamburgische Dramaturgie“, 79. Stück, in: Werke, IV, S. 598. Zur anschauenden Erkenntnis vgl. Bd. V, S. 378–379. 83 Baeumler, S. 221–222. 84 A. G. Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der ‚Aesthetica‘ (1750/58), hrsg. von H. R. Schweizer, Hamburg 1983, § 560, S. 145. 85 Ebd., § 1, S. 3.

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zeichnung als analogon rationis wertet Baumgarten die sinnliche Erkenntnis gegenüber der Verstandeserkenntnis auf und fasst sie zugleich als eine eigenständige Form der Erkenntnis. Die Aufwertung der Sinnlichkeit erfolgt auf der Grundlage der Theorie der ‚petites perceptions‘, mit der Leibniz das Spektrum der Erkenntnis erweitert hatte, das Descartes auf die klaren und deutlichen Vorstellungen des Verstandes begrenzt wissen wollte. Mit der Auffassung der Seele, die dieses Spektrum in ihren Vorstellungen durchläuft und auf diese Weise zu einem lebendigen Spiegel des Universums wird, übernimmt Baumgarten auch den metaphysischen Bezugsrahmen, in dem sie bei Leibniz steht. So bleibt die Ästhetik ebenso wie die Logik, „ihre ältere Schwester“, auf die metaphysische Wahrheit bezogen. Nur gewinnt sie in den Vorstellungen der Seele unterschiedliche Gestalt, je nachdem, ob sie „Gegenstand des der Vernunft analogen Denkens und der unteren Erkenntnisvermögen“ oder „in den vom Verstand deutlich vorgestellten Objekten enthalten ist“86. Vor diesem Hintergrund erklärt Baumgarten die „Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher“ und damit „die Schönheit“ zum Ziel oder Zweck der Ästhetik87. Wie die vernünftige ist auch die ästhetische Erkenntnis auf die Harmonie und Ordnung der Schöpfung als dem Inbegriff der Vollkommenheit gerichtet. Schön ist die beste aller möglichen Welten jedoch nur in der Vorstellung des der Vernunft analogen Denkens. Die Eigentümlichkeit der sinnlichen Erkenntnis, die auf der Vorstellung der Schönheit beruht, ist notwendig auf die schöne Darstellung als den ihr angemessenen Ausdruck angewiesen. Es liegt in der Konsequenz von Baumgartens Konzeption der sensitiven Erkenntnis, dass sie „keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem ‚Gegenstand‘, den ‚Vorstellungen‘, und den ‚Darstellungsmitteln‘ macht“88. Insbesondere mit Blick auf den Repräsentationsgedanken erlaubt Baumgartens produktive Anknüpfung an Leibniz „Rückschlüsse auf das immanente ästhetische Moment in Leibniz’ Weltbegriff“89. In seiner 1858 erschienenen Geschichte der Aesthetik als philosophischer Wissenschaft hat Robert Zimmermann in diesem Kontext von einer ‚ästhetischen Theodizee‘ gesprochen. In seinem Referat von Baumgartens Ästhetik macht er darauf aufmerksam, dass es in der Konsequenz des von Baumgarten gewählten Ansatzes liege, jede sinnliche Erkenntnis als Ausdruck der niederen Erkenntnisvermögen notwendig als schön und vollendet gelten zu lassen. Er begreife die sinnliche Erkenntnis als „eine unmittelbare sinnliche Wahrnehmung der Wahrheit, die sonst nur durch den Verstand erkannt werden kann“90. Wenn die sinnliche Vorstellung aber von selbst und notwendig das richtige Weltbild auf verworrene Weise als Schönheit auffasse, dann bedürfe sie keiner Anleitung zum schönen Denken, keiner Ästhetik im Sinne Baumgartens, 86 Ebd., § 13, S. 9 bzw. § 424, S. 53–54. 87 Ebd., § 14, S. 11. 88 F. Solms: Disciplina Aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder, Stuttgart 1990, S. 56. 89 Ebd., S. 72. 90 R. Zimmermann: Geschichte der Aesthetik als philosophischer Wissenschaft. Erster, historisch-kritischer Theil, Wien 1858, S. 169.

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der es zur Aufgabe der neuen philosophischen Disziplin erklärt hatte, die sinnliche Erkenntnis zu vervollkommnen. „Die strenge Consequenz der Leibniz’schen Philosophie“, so Zimmermann, „würde ihrem Urheber eine ästhetische Theodizee abgezwungen haben, wie der Begriff des Bösen eine ethische nothwendig machte“91.

V. Zimmermann ist eine nähere Erklärung des Begriffs einer ‚ästhetischen Theodizee‘ ebenso schuldig geblieben, wie er es offen gelassen hat, ob Baumgarten in seiner Aesthetica Leibniz’ Lehre von der besten aller möglichen Welten zur Kenntlichkeit entstellt oder sie schlicht kreativ missverstanden hat. Für Baumgarten hat Leibniz der Ästhetik als der ‚Kunst des schönen Denkens‘ nicht nur erkenntnistheoretisch den Boden bereitet; er hat sie zudem in seinen Schriften gleichsam avant la lettre praktiziert. Zwar sei die Ästhetik als Wissenschaft neu; jedoch habe es immer schon „praktische Ästhetiker“ gegeben, ehe man die Regeln des schönen Denkens kannte und sie in die Form einer Wissenschaft brachte. Unter diesen ‚praktischen Ästhetikern‘ gebühre Leibniz die höchste Anerkennung, wie Baumgarten mit Blick auf die Theodizee sagt, die „wahrhaftig schön“ sei92. Im Schlusskapitel der Theodizee hat Leibniz selbst die Probe auf das immanente ästhetische Moment seines Weltbegriffs gemacht und mit seinem Entschluss, dem Grundgedanken seiner Abhandlung im Medium der Fiktion abschließenden Ausdruck zu verleihen, den poetologischen Rahmen gesprengt, dem er sich mit der Darstellung seiner Philosophie in Gestalt einer ‚poetischen Theodizee‘ in seinem Epicedium noch verpflichtet gezeigt hatte. Mit der petite fable findet er eine Form der Darstellung, mit der er zugleich der Darstellung als einem integralen Moment seiner Philosophie Rechnung trägt. Damit greift er als ‚praktischer Ästhetiker‘ einem Theoriekontext vor, der im Anschluss an seine Erkenntnistheorie und Metaphysik den Gedanken einer ‚ästhetischen Theodizee‘ allererst denkbar und seine Abhandlung in diesem Sinne lesbar macht. Wie wäre vor diesem Hintergrund die „idée philosophique, théologique et poétique tout ensemble“ zu verstehen, in der die diskursive Darlegung seiner Lehre von der besten aller möglichen Welten anschauliche Gestalt gewinnt? Die „kleine Fabel“93, die Leibniz weiterspinnt, ist, wie bereits erwähnt, der gegen Boethius’ Trost der Philosophie gerichteten Streitschrift Lorenzo Vallas Über den freien Willen entnommen. Leibniz referiert den Gedankengang Vallas zunächst „unter Beibehaltung der Dialogform“, um sodann zu der in seinem Referat nur knapp berührten fabula zurückzukehren. Valla hatte das Problem der Ver91 Ebd., S. 167. Ein beiläufiger Hinweis auf Zimmermann findet sich bei Baeumler, S. 208 und Solms, S. 111. 92 A. G. Baumgarten: [Kollegium über die Ästhetik, Vorlesungsnachschrift, Auszug], in: Ders.: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, hrsg. von H. R. Schweizer, Hamburg 1983, S. 81. 93 Essais de Théodicée, III, § 413; GP VI, 361, zitiert nach Leibniz: Theodizee, S. 407.

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einbarkeit der menschlichen Willensfreiheit mit dem göttlichen Vorherwissen am Beispiel einer Episode aus dem bei Livius berichteten Sturz der Tarquinier erörtert. Leibniz’ Entschluss, die von Valla begonnene Fiktion (fiction) an der Stelle fortzusetzen, wo dieser sie abgebrochen hatte, macht seinen philosophischen Einspruch in der Sache bereits in der äußeren Form geltend, nämlich darin, dass er an der Fiktion festhält. Denn Valla hatte die Fiktion: „das poetische und erdichtete Zeug“, als eine dem Ernst des Gegenstandes unangemessene Form der Darstellung ausdrücklich verworfen. Die poetische Spielerei „den nichtigen und erdichteten Göttern, Jupiter und Apollo“ überlassend94, sucht der Dialog sein Heil im theologischen Ernst der Paulinischen Gnadenlehre – und dies nicht ohne den bereits erwähnten Seitenhieb auf Boethius, der als ein „allzu begeisterter Bewunderer der Philosophie“ ihren Trost und nicht den des Glaubens gesucht habe95. Demgegenüber betrachtet Leibniz seine Fortsetzung der „petite fable“ keinesfalls als eine poetische Spielerei. Er habe sich für die Beibehaltung der der bei Valla vorgefundenen Fiktion entschieden, „weniger aus Gründen einer angenehmeren Darstellung des Gegenstandes, sondern um mich am Schlusse meiner Abhandlung auf die möglich klare und gemeinverständliche Weise auszudrücken“96. Bereits in der Vorrede hatte er seine Leser auf den kurzen Dialog am Ende seiner Streitschrift aufmerksam gemacht. Er werde denen eine gewisse Befriedigung gewähren, „die es gerne haben, wenn schwierige, aber bedeutsame Wahrheiten auf leichte und vertraute Weise auseinandergesetzt werden“97. Ohne den Aspekt der Wirkung in Abrede zu stellen, geht es Leibniz nicht darum, die Fiktion rhetorisch in den Dienst der Philosophie zu stellen. Nicht als Illustration eines philosophischen Gedankens verdient die Fiktion das Interesse der Philosophie, sondern weil sie in ihrer formalen Struktur eine genuin heuristische Funktion erfüllt. In der hyperkomplexen narrativen Struktur des zeitgenössischen höfischen Romans hat Leibniz diesen Gedanken exemplarisch illustriert gefunden. Als Inbegriff einer nicht wirklichen, jedoch möglichen Welt spielt der Rekurs auf das Anschauungsbeispiel des Romans eine bedeutende Rolle für die Erörterung des TheodizeeProblems. In einem Brief an den Verfasser der Octavia, den Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, schreibt Leibniz: „Und gleichwie E. D. mit Ihrer Octavia noch nicht fertig, so kan Unser Herr Gott auch noch ein paar tomos zu seinem Roman machen, welche zuletzt beßer lauten möchten. Es ist ohne dem eine von der Roman-Macher besten künsten, alles in verwirrung fallen zu laßen, und

94 Valla, S. 121: „Quam ambrosiam aut quod nectar nominas, poeticas res et fictitias? Relinquamus haec inania diis inanibus et fictitiis, Iovi et Apollini“. 95 Ebd., S. 137. 96 Essais de Théodicée, III, § 405; GP VI, 357, zitiert nach Leibniz: Theodizee, § 405, S. 401: „[…] en continuant la fiction qu’il a commencée: et cela bien moins pour égayer la matiere, que pour m’expliquer sur la fin de mon Discours de la maniere la plus claire et la plus populaire qui me soit possible“. 97 Ebd., Préface; GP VI, 48, zitiert nach ders.: Theodizee, Vorrede, S. 32.

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Uwe Steiner dann unverhofft herauß zu wickeln. Und niemand ahmet unsern Herrn beßer nach als ein Erfinder von einem schöhnen Roman“98.

Was den Erfinder der fiktiven Romanwelt mit dem Schöpfer der wirklichen Welt vergleichbar macht, ist nicht etwa die willkürliche Verfügung über das Geschaffene. Vielmehr zeigt sich die Kunstfertigkeit des Autors in der Folgerichtigkeit und Stimmigkeit seines Werkes, in der immanenten Teleologie des Geschehens, das sich dem Leser sukzessive enthüllt und ihn mit Bewunderung für das Werk und dessen Autor erfüllt. Wie die Romanwelt von der Kompositionskunst ihres Autors, so legt die Schöpfung von der Weisheit, Allmacht und Güte ihres Schöpfers Zeugnis ab. Die Romantheorie folgt der Logik der Kritik, die Leibniz an Descartes’ Gottesbegriff geübt hat. Dem despotischen Willkürgott der paulinischlutherischen Tradition und dessen philosophischer Reinkarnation in der Philosophie Descartes’ setzt Leibniz am Ende seiner Abhandlung das fabelhafte Bild des durch die Vollkommenheit seiner Schöpfung gerechtfertigten Gottes entgegen. Von der darf sich in der Theodizee der Protagonist der fabula, Theodorus, der Priester im Tempel des Apollo zu Delphi, auf Geheiß Jupiters unter der kundigen Führung der Göttin Athene im Palast der Schicksalsbestimmungen immerhin ein Traumbild machen. Der Palast ist ein Sinnbild des göttlichen Verstandes, den Leibniz gelegentlich als die ideale Region der Möglichkeiten bezeichnet99. In seiner Architektur veranschaulicht das Gebäude den Gedanken von der Wahl der besten aller möglichen Welten. Es hat die Gestalt einer Pyramide, deren Spitze sichtbar ist, während sich die Basis im Unendlichen verliert. Die Konstruktion des Palastes bringt es mit sich, dass die Gemächer, deren jedes eine mögliche Welt darstellt, immer schöner werden, je näher sie der Spitze sind. Beim Betreten des Gemachs an der Spitze der Pyramide, also bei der Betrachtung der wirklichen und damit der besten aller möglichen Welten, wird der Träumende von der einzigartigen Schönheit und Vollkommenheit so überwältigt, dass er in einen Zustand ekstatischer Entrückung fällt. Noch in der geträumten Seligkeit bleibt der Abstand der Sterblichen zu den Göttern ein unermesslicher. Denn bisweilen besucht auch Jupiter den Palast, „um sich an einem Überblick über die Dinge zu erfreuen und seine eigene Wahl zu erneuern“. Sein Wohlgefallen bildet einen merklichen Kontrast zur Ekstase des Theodorus100. Die göttliche Führerin lässt keinen Zweifel 98 Ders.: „Extract meines Schreibens an des Regirenden Herrn Herzogs zu Wolfenbüttel Anton Ulrichs Durchl., aus Wien vom 26. April 1713“. Siehe E. Bodemann (Hrsg.): „Leibnizens Briefwechsel mit dem Herzoge Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel“, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen (1888), S. 233–234. Zu Leibniz’ Weltbegriff als philosophischer Prämisse des barocken Romans vgl. W. Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 1988, S. 75–80. 99 Vgl. Essais de Théodicée, III, § 414 und § 335; GP VI, 362–363 und 313–314, zitiert nach Leibniz: Theodizee, S. 408 und S. 350–351. Leibniz’ Fabel dürfte maßgeblich von der auf die Antike zurückgehenden, in der ars commemorativa ausgebildeten Vorstellung des Gedächtnisses als eines Palastes inspiriert sein. Vgl. hierzu F. A. Yates: The Art of Memory, London – Chicago 1966. 100 Essais de Théodicée, III, § 414; GP VI, 362, zitiert nach Leibniz: Theodizee, S. 408: „[…] pour le plaisir de recapituler les choses“. Blumenberg hat darauf aufmerksam gemacht, dass

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daran, dass der Einblick, den sie dem Priester gewähren durfte, nur erst ein Vorgeschmack ist. Was er sehe, sei nichts im Vergleich mit der Gesamtheit dieser Welt, deren Schönheit er erst dann werde bewundern können, wenn die Götter ihn, nach einem glücklichen Übergang aus seinem sterblichen in einen besseren Zustand, fähig gemacht haben, diese Schönheit auch zu erkennen101. Der Protagonist erwacht und überlässt es dem Leser, seinen fabelhaften Traum zu deuten. Geht es Leibniz darum, wie Hans Blumenberg meint, mit diesem Ende die Originalität seines Werkes ironisch aufzuheben?102 Das Wohlgefallen, das Jupiter bei der Betrachtung seines Werkes empfindet, findet sein Pendant in der überwältigenden Erfahrung der Schönheit, in der die Weisheit des Weltschöpfers dem endlichen Verstand anschaulich wird. Was dem Theodorus unter göttlicher Anleitung im „palais des destinées“ widerfährt, ermöglicht Leibniz den Lesern seiner Abhandlung durch die Fabel, mit der er sie beschließt. Leibniz’ Fortsetzung der Fabel, die bei Valla eine wesentlich rhetorischillustrative Funktion hatte (weshalb sie den Dialog nur unterbricht), verwandelt das rhetorische Beispiel in eine in sich geschlossene fiktive Handlung, in deren Verlauf der philosophische Gedanke anschauliche Gestalt gewinnt. Wie der Träumer beim Eintritt in die Gemächer des Palastes durch die Anschauung der Totalität in der Form der Schönheit in momentaner Evidenz von der Optimalität der wirklichen Welt überzeugt wird, soll sich auch der Leser am Ende der Abhandlung der poetischen Fiktion überlassen. In ihr vollzieht sich weniger die ironische Selbstaufhebung als vielmehr die poetische Selbstanschauung des philosophischen Gedankens im Medium der Fiktion103. der Autor bei der Schilderung der Szene im palais de destinée in seiner Bildwahl zwischen einer Theatervorstellung und einem Buch schwanke. Die Theatermetapher habe sich Leibniz nach Maßgabe der scholastischen repraesentatio aufgedrängt und ihn zu einer entsprechenden Umdeutung der Metapher des Lesens geführt: die Erfahrung der Totalität, die ‚ganze Vorstellung‘, beruhe nicht auf Lektüre, sondern auf einer Beziehung zum Buch, die „eher magisch als intellektiv“ sei. Mir scheint, dass Blumenberg mit seiner Deutung der Szene am Leitfaden der Metapher der Lesbarkeit dem Verständnis allzu enge Grenze setzt. Die Begriffe, in denen er seine Interpretation expliziert, weisen indes über diese Grenzen hinaus. Die „Erfahrung einer betäubenden momentanen Evidenz“, die Blumenberg zufolge dem Träumer im palais de destinée zuteil wird, trägt die Signatur der Plötzlichkeit. Ebenso wie die Totalität bezeichnet auch die Plötzlichkeit ein konstitutives Merkmal ästhetischer Erfahrung. Vgl. H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981, S. 148–149. 101 Essais de Théodicee, III, § 416; GP VI, 364, zitiert nach Theodizee, S. 411: „Mais cela n’est rien au prix du total de ce monde, dont vous admireréz la beauté, lors qu’apres un heureux passage de cet etat mortel à un autre meilleur, les Dieux vous auront rendu capable de la connoitre“. 102 Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 149. 103 Vgl. P. Fenves: „Continuing the Fiction: From Leibniz’ petite fable to Kafka’s In der Strafkolonie“, in: Modern Language Notes (2001), S. 502–520. In Fenves’ Verständnis der Schlussszene der Theodizee scheitert Athena mit ihrem Versuch, Theodorus zu belehren ebenso wie Leibniz’ Versuch in der Theodizee nach Kant notwendig misslingen musste. Demgegenüber werde in Kafkas Erzählung das notwendige Scheitern der Belehrung selbst zum Thema, „not only the lesson concerning the justice of the original order but also the reading lesson“ (Fenves, S. 504). Mit seiner Fortsetzung der bei Valla vorgefundenen fiktiven

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VI. Als eine ‚ästhetische Theodizee‘ kann man das Abschlusskapitel mit Blick auf den Begriff der Schönheit lesen, den es im doppelten Sinn ‚darstellt‘: Es begreift die Schönheit als eine Vorstellung, in der die Vollkommenheit der Schöpfung sich dem endlichen Verstand darstellt und verleiht diesem Gedanken in der Darstellung im Medium der Fiktion anschauliche Gestalt. So verstanden hätte der Gedanke einer ästhetischen Theodizee sich Leibniz nicht, wie Zimmermann meinte, als eine von ihm ignorierte Konsequenz seiner Philosophie aufgezwungen; vielmehr hat er die ästhetische Repräsentation als ein integrales Moment seines Denkens gefasst, das ihm für die Darstellung seiner Philosophie spezifische Möglichkeiten eröffnet. Die erkenntnistheoretische Aufwertung der unteren Erkenntnisvermögen erweitert zwar das Spektrum der Erkenntnis, stellt aber den Primat der Verstandeserkenntnis nicht in Frage: Die Schönheit gibt erst einen Vorgeschmack auf die Vollkommenheit, auf die als auf seinen höchsten Gegenstand das Erkenntnisstreben des Verstandes ausgerichtet ist. Letztlich hat auch Baumgarten keine Konsequenz aus der Leibniz’schen Philosophie gezogen, die ihren Rahmen gesprengt hätte. Auch für ihn ist der Begriff der Vollkommenheit fest in der Metaphysik des Leibniz’schen Weltbegriffs verwurzelt. Mit der „Rechtfertigung der Sinnlichkeit“104, als die Baeumler die Aesthetica verstanden hat, verfolgt er nicht das Ziel, in der Hierarchie der Erkenntnisvermögen die Position der rationalen Erkenntnis für die sinnliche zu reklamieren. Vielmehr geht es ihm in der Ästhetik als „Kunst des der Vernunft analogen Denkens“ darum, der vernünftigen die sinnliche Erkenntnis gleichberechtigt an die Seite zu stellen. Nicht als Konsequenz der Leibniz’schen, sondern der Schopenhauer’schen Metaphysik ist Nietzsche zu der Auffassung gelangt, derzufolge „nur als aesthetisches Phänomen […] das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“ sind105, und hat mit dieser programmatischen Formulierung dem Gedanken einer ästhetischen Theodizee seinen vielleicht radikalsten, jedenfalls einen ebenso folgerichtigen wie folgenreichen Ausdruck verliehen. Windelband hat Schopenhauers metaphysischen Pessimismus als einen auf „den Kopf gestellte[n] Optimismus“ bezeichnet, der bis in die einzelnen Lehren Geschichte wendet sich Leibniz vor allem gegen dessen Behauptung, dass die Fiktion eine dem Ernst des Gegenstandes unangemessene Form der Darstellung sei (vgl. oben Fn. 94). Ihm geht es also weniger darum, mit der Fortsetzung der Fiktion die Belehrung fortzusetzen, sondern darum, mit seiner Fortsetzung die Fiktion als ein legitimes Mittel der Belehrung bzw. der Erkenntnis in ihr Recht zu setzen, indem er sie nicht mehr als eine rhetorische Illustration des Gedankens, sondern als dessen Darstellung begreift. 104 Baeumler, S. 208. 105 F. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden (KSA), Bd. 1, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München 21988, S. 47. Eine Vorstudie von Zimmermanns Geschichte der Aesthetik befand sich in Nietzsches Bibliothek, vgl. Th. H. Brobjer: Nietzsche’s Philosophical Context. An Intellectual Biography, Urbana, Chicago 2007, S. 49.

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hinein „eine Umkehrung der Theorien von Leibniz’ Theodicee“ enthalte106. Schopenhauer selbst mochte der Theodizee „kein anderes Verdienst“ zugestehen „als dieses, dass sie später Anlass gegeben hat zum unsterblichen Candide des grossen Voltaire; wodurch freilich Leibnitzens so oft wiederholte, lahme Exküse für die Uebel der Welt, daß nämlich das Schlechte bisweilen das Gute herbeiführt, einen ihm unerwarteten Beleg erhielt“107. Jenseits von Gut und Böse hat die Geschichte der Philosophie dieser Einsicht einen weiteren, besonders für Schopenhauer ‚unerwarteten Beleg‘ hinzugefügt, nämlich den, dass sie seinem philosophischen Pessimismus das Verdienst zugesteht, Anlass zu Nietzsches Artistenmetaphysik gegeben zu haben. Die Gegenrechnung, die Schopenhauer der Leibniz’schen „Theokalie“108 in seiner Willensmetaphysik macht, bildet zusammen mit der Aufwertung der Anschauung und, in ihrer Folge, der Kunst, den Ausgangspunkt für Nietzsches ästhetische Theodizee. Wie für Aristoteles und Platon beginnt auch für Schopenhauer die Philosophie mit einem Staunen. Nach Maßgabe des Gegenstandes, dem das Staunen gilt, erweist es sich als ein genuin anthropologisches Vermögen. Den Menschen ausgenommen, so Schopenhauer, wundere sich „kein Wesen über sein eigenes Daseyn“109. Das „Dasein“, genauer: Die mit ihm untrennbar verbundene Erfahrung der Endlichkeit, ist die Urszene des „metaphysischen Bedürfnisses“, das Schopenhauer dem Menschen attestiert: Vom „Wissen um den Tod“ und von der „Betrachtung des Leidens und der Noth des Lebens“ erhalte der Mensch den Anstoß „zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der Welt“110. Unter Metaphysik ist in diesem Zusammenhang „jede angebliche Erkenntniss“ zu verstehen, „welche über die Möglichkeit der Erfahrung […] hinausgeht, 106 W. Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften, Bd. II, Leipzig 1919, S. 381; den Befund bestätigt auch F. Hermanni: „Schelling, Schopenhauer und das Böse in der neuzeitlichen Philosophie“, in: L. Hühn (Hrsg.): Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom deutschen Idealismus (Fichte/Schelling), Würzburg 2006, S. 251. 107 A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, II. Teilband, 4. Buch, Kap. 46, in: Ders.: Zürcher Ausgabe, Bd. IV, Zürich 1977, S. 682. Zu Schopenhauers Kunstphilosophie vgl. H. Feger: „Das Rad des Ixion. Schopenhauers Ästhetik als Problem“, in: Hühn, S. 297– 319. 108 W. Hübener: „‚Malum auget decorem in universo‘. Die kosmologische Integration des Bösen in der Hochscholastik“, in: Ders.: Zum Geist der Prämoderne, Würzburg 1985, S. 110. 109 Schopenhauer, II/1, Kap. 17, S. 186. Dem Deutschen Wörterbuch zufolge ist das Substantiv ‚Dasein‘ in der Bedeutung von ‚Gegenwart‘, im Sinne von „in meiner gegenwart in meinem beisein“, erst im 18. Jahrhundert aufgekommen. Wohl erst Mitte des 19. Jahrhunderts werde das Wort „angewendet, um leben in seinem ganzen umfang, das wesen, die existenz, den zustand der dinge zu bezeichnen“, Lemma: ‚Dasein‘, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, München 1991, Bd. II (1860), S. 806. Ohne dem Begriff des Daseins besondere Beachtung zu schenken hat Walter Schulz mit Blick auf Schopenhauer und Nietzsche von einem metaphysischen Ansatz gesprochen, bei dem „der anthropologische Aspekt […] doch bereits entscheidend in den Vordergrund“ rücke; W. Schulz: Metaphysik des Schwebens. Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik, Pfullingen 1985, S. 35. 110 Schopenhauer, II/1, Kap 17, S. 187.

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um Aufschluss zu ertheilen über Das […] was hinter der Natur steckt und sie möglich macht“111. Die Religionen befriedigen das metaphysische Bedürfnis mit Antworten, deren Plausibilität und Geltung nicht auf Gründen, sondern auf Autorität beruht. Auf dieser ihnen gemeinsamen Grundlage unterscheiden sie sich für Schopenhauer darin, ob sie „optimistisch oder pessimistisch sind, d.h. ob sie das Daseyn dieser Welt als durch sich selbst gerechtfertigt darstellen […], oder aber es betrachten als etwas, das nur als Folge unserer Schuld begriffen werden kann und daher eigentlich nicht seyn sollte“112. Wie die „Volksmetaphysik“ der Religionen, so entspringt auch das philosophische Staunen aus dem „Anblick des Uebels und des Bösen in der Welt“, das bei Leibniz als Kontingenz, bei Schopenhauer als „Bewußtseyn, daß das Nichtseyn dieser Welt eben so möglich sei, wie ihr Daseyn“113, zum Gegenstand philosophischer Reflexion wird. Anders als die religiöse verfährt die philosophische Metaphysik in ihrer „Entzifferung der Welt“ rein immanent. Diesem Anspruch trägt Schopenhauer philosophisch dahingehend Rechnung, dass er den Begriff der Erfahrung über die Grenzen hinaus erweitert, die Kant ihm in der transzendentalen Ästhetik gezogen hat. ‚Metaphysisch‘ darf diese Erfahrung genannt werden, insofern sie die Welt der Erscheinungen zugleich als Manifestation desjenigen begreift, was in ihr erscheint. Eben weil Schopenhauers „Entzifferung der Welt in Beziehung auf das in ihr Erscheinende“ aus der „Anschauung der äußern, wirklichen Welt“ geschöpft ist, bewährt sich ihre „Aechtheit“ darin, dass sie der Welt der Erscheinungen nicht widerspricht. Umgekehrt zeige sich die Unhaltbarkeit des philosophischen Optimismus und damit das philosophische Scheitern Leibniz’ in dem offenkundigen Widerspruch, in dem sich seine Philosophie mit „dem augenfälligen Elend des Daseyns“ befindet114. Schopenhauer hat es als einen „großen Vorzug“ seiner Philosophie gewertet, dass sie ihre Einsichten aus der Betrachtung der realen Welt herleite und also „Weltweisheit“ sei. Auf diesen Titel erhebt sie im Wortsinn Anspruch. Ihr Problem sei die Welt, so Schopenhauer, „mit dieser allein hat sie es zu thun, und läßt die Götter in Ruhe, erwartet aber dafür, auch von ihnen in Ruhe gelassen zu werden“115. Angesichts der Trostlosigkeit des Daseins sieht sich der Mensch ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Trost können wir allein „in den Tiefen unsers eigenen Innern“, in der Moralität der Gesinnung, finden116. Im Unterschied zu dem nur vorübergehenden Trost, den die Kunst im Genuss des Schönen gewährt, beruht die Erlösung, die in der gänzlichen Aufgabe des Willens zum Leben besteht, auf der Tugend, als deren Urszene Schopenhauer die ‚intuitive‘ Erkenntnis der Uni111 Ebd., S. 191. 112 Ebd., S. 198. 113 Ebd., S. 200. Vgl. Essais de Théodicée, I, § 7; GP VI, 106: „Il faut donc chercher la raison de l’existence du Monde, qui est l’essemblage entier des choses contingentes: et il faut la chercher dans la substance qui porte la raison de son existence avec elle, et laquelle par consequence est nécessaire et eternelle“. 114 Schopenhauer, II/1, Kap 17, S. 214 bzw. S. 215. 115 Ebd., S. 219. 116 Ders., II/2, 4. Buch, Kap. 47, S. 691.

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versalität des Leidens begreift. Diese ‚intuitive‘ Erkenntnis gilt es als eine „veränderte Erkenntnisweise“ zu erfassen und von der abstrakten, durch Worte mitteilbaren Erkenntnis strikt zu unterscheidet. Als ‚unmittelbar‘ oder ‚intuitiv‘ ist diese Form der Erkenntnis vor allem in ihrer Wirkung auf den Erkennenden charakterisiert, insofern sie eine gänzliche Aufhebung des Charakters bewirkt, die Schopenhauer nicht müde wird, mit dem christlich-protestantischen Dogma von der Gnadenwirkung und Wiedergeburt zu vergleichen – wie er denn ohnehin Wert darauf legt, dass seine Ethik, „wenn sie auch dem Ausdruck nach neu und unerhört wäre, dem Wesen nach […] völlig übereinstimmt mit den ganz eigentlich Christlichen Dogmen“117. Für Windelband gipfelt Schopenhauers Widerlegung des philosophischen Optimismus aus dem pessimistischen Geist des Christentums in der „Paradoxie, ein religiöses Verhalten ohne den Glauben an die Gottheit zu statuieren“118. Diese Paradoxie kommt für Windelband nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass Schopenhauer dem platten Optimismus, in den das Christentum in neuerer Zeit seiner Meinung nach ausgeartet ist, eine Ethik entgegenhält, deren Herzstück: die Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben, nach dem Modell der Lutherische Lehre von der iustificatio hominis, der Rechtfertigung allein durch den Glauben, konzipiert ist119. Vor diesem Hintergrund ist Nietzsches „anzügliche[r] Satz […], dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt“ sei, zu lesen. Darauf enthält die Neuausgabe der Geburt der Tragödie von 1886, die in ihrem Untertitel Griechenthum und Pessimismus das von Schopenhauer selbst als Bezeichnung seiner Philosophie geprägte Stichwort aufgreift, einen ersten Hinweis. Noch deutlicher wird Nietzsche im Versuch einer Selbstkritik, den er der Neuausgabe seiner Schrift voranstellt. Mit seiner Bemerkung, dass bereits in der ersten Ausgabe der Geburt der Tragödie „die Kunst – und nicht die Moral – als die eigentlich metaphysische Thätigkeit des Menschen“ hingestellt werde120, verleiht er seiner Artisten-

117 Ders., I/2, 4. Buch, § 70, S. 498 und S. 504; zur „intuitiven Erkenntnis“ fremden Leidens als Ursprung der Tugend vgl. ebd., § 66, S. 456–464; zur Kunst vgl. ebd., § 68, S. 482–483. 118 Windelband, Bd. II, S. 382. 119 In der Wendung „Erlösung nur durch den Glauben, d. i. durch eine veränderte Erkenntnißweise“ identifiziert Schopenhauer in seinem Referat der Rechtfertigungs-Lehre Luthers Konzeption des Glaubens mit seinem Begriff der intuitiven Erkenntnis und die durch diese Erkenntnis bewirkte Aufhebung des Charakters mit der Gnade, die auf „eine zum Heil nothwendige Verneinung und Aufgebung“ der Person hindeute; vgl. Schopenhauer, I/2, 4. Buch, § 70, S. 503; Luther nennt den durch den Glauben gerechtfertigten Menschen einen „geystlich, new, innerlich mensch“, Luther: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, in: Kritische Gesamtausgabe, I/7, S. 21; vgl. S. 30–31. Ohne Bezug auf Luther hat bereits Spaemann Schopenhauers Konzeption der Aufhebung des Willens als „Gnadenwirkung“ aufgefasst; in ihr werde die „Inversion der Teleologie“, also die Ablösung des Paradigmas der Selbsttranszendenz durch das Paradigma der Selbsterhaltung oder Selbstbehauptung in der Philosophie der frühen Neuzeit ad absurdum geführt. Vgl. Spaemann: Fénelon, S. 303. 120 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA I, S. 17; so lautet der Satz im Versuch einer Selbstkritik.

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Metaphysik den Status eines Gegenentwurfs zur Willensmetaphysik Schopenhauers. Als Fluchtpunkt dieses Gegenentwurfs erweist sich die Frage nach dem „Werth des Daseins“121, die Nietzsche in Gestalt der Frage nach dem „Werthe der Wahrheit“122 in das Zentrum seiner Schrift Jenseits von Gut und Böse stellt, die im selben Jahr wie die Neuausgabe der Geburt der Tragödie erschien. In dem fragwürdigen Buch, so der Autor rückblickend über sein Erstlingswerk, habe er sich gegen die auch von Schopenhauer vertretene, weitgehend mit der christlichen Lehre identifizierte Moral und ihren „Hass auf die ‚Welt‘“ gekehrt, gegen „die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit“ und gegen „ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden“123. Zu seinem Bedauern habe ihm in der Geburt der Tragödie jedoch der Mut zu einer eigenen Sprache gefehlt, weshalb er „mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Werthschätzungen auszudrücken suchte“124. Demnach ist die Artisten-Metaphysik des Tragödienbuches nicht auf dem Weg einfacher Negation aus Schopenhauers Willensmetaphysik hervorgegangen. Vielmehr erfährt Schopenhauers ‚Hermeneutik des Daseins‘ in Nietzsches Hermeneutik der ‚Umwertung‘ eine Umdeutung, die im Leben als „Wille zur Macht“ ihren höchsten Wertmaßstab findet125. So stellt sich der Sachverhalt zumindest im Licht des selbstkritischen Rückblicks dar, in dem Nietzsche mit seiner Berufung auf den Instinkt, der „als ein fürsprechender Instinkt des Lebens […] sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwerthung des Lebens“ erfand, die Artisten-Metaphysik des Tragödienbuchs aus der Perspektive der Physiologie der Kunst liest, die in seinen späteren Schriften an ihre Stelle getreten ist. Es spricht aber einiges dafür, dass Nietzsche sich von Schopenhauer nicht erst in dem theoretischen Kontext distanziert, auf den er in der Selbstkritik verweist, sondern dass er diesen Schritt bereits mit der ArtistenMetaphysik der Geburt der Tragödie vollzog126. Im Rahmen der Hermeneutik der 121 122 123 124 125

Ebd., S. 12. Ders.: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, in: KSA V, S. 15. Ders.: Die Geburt der Tragödie, in: KSA I, S. 18. Ebd., S. 19. Vgl. ders.: Jenseits von Gut und Böse, in: KSA V, S. 27 und S. 38–39. Vgl. hierzu Nietzsches Überlegung zu einem „Pessimismus der Stärke“, der „mit einer Theodizee endet, d. h. mit einem absoluten Jasagen zu der Welt, aber um der Gründe willen, auf die hin man zu ihr ehemals nein gesagt hat“. Zu diesem „neuen Ja“ sei Schopenhauer nicht stark genug gewesen“. F. Nietzsche: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, Stuttgart 121980, Aph. 1017, S. 669 bzw. Aph. 1019, S. 666. 126 Vgl. hierzu V. Gerhardt: „Artisten-Metaphysik. Zu Nietzsches frühem Programm einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt“, in: Ders.: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 46–71, bes. S. 50. Für das Auffinden dieses wichtigen Aufsatzes möchte ich Herrn Andreas Friedrich, M. A., Philosophisches Seminar, Universität Freiburg, herzlich danken. Auch Walter Schulz vertritt die Ansicht, dass „die Grundansätze, wie sie in der Geburt der Tragödie enthalten sind, […] sich inhaltlich in ihren wesentlichen Gehalten nicht entscheidend gewandelt“ haben; vgl. Schulz, S. 46. Zu Nietzsches ambivalentem Verhältnis zu Schopenhauer vgl. auch C. J. Emden: Friedrich Nietzsche and the Politics of History, Cambridge 2008, S. 54 ff.

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Umwertung vollzieht sich die Distanzierung in terminologisch engster Anlehnung an Schopenhauer. Das lässt sich exemplarisch an dem programmatischen, in der Abhandlung mehrfach wiederkehrenden Satz von der ‚Rechtfertigung des Daseins und der Welt als eines aesthetischen Phänomens‘127 nachvollziehen, in den mit dem ‚Dasein‘ und der ‚Rechtfertigung‘ zwei Begriffe Eingang gefunden haben, denen Schopenhauer einen spezifischen Akzent verliehen hatte. Im Versuch einer Selbstkritik präsentiert Nietzsche seine „ästhetische Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung“ als Alternative zur christlichen Lehre und deren moralischer „Denk- und Werthungsweise“128, der er auch Schopenhauer verhaftet sieht. Dem „behutsame[n] und feindliche[n] Schweigen“, mit dem er das Christentum in der Tragödienschrift behandelt habe, hat Nietzsche später in der Lehre vom Tod Gottes beredten Ausdruck gegeben und sich damit weniger in der Sache als vielmehr im Ton und in der Bewertung des Befundes von Schopenhauer entfernt. Mit dem Tod Gottes hat das Anliegen der Theodizee, den Welturheber angesichts der vermeintlichen Defizite seiner Schöpfung zu verteidigen, zwar den Adressaten, nicht jedoch seinen Anlass verloren. Diesen ‚Anlass‘ hat Schopenhauer als ‚Dasein‘ gefasst und in der Herleitung des metaphysischen Bedürfnisses aus der für das Dasein konstitutiven Erfahrung der Endlichkeit seiner Willensmetaphysik einen dezidiert anthropologischen Akzent verliehen. Auf diesen theoretischen Kontext verweist nicht nur Nietzsches Adaption des Begriffs des Daseins in dem ‚anzüglichen Satz‘, sondern mehr noch der Umstand, dass in diesem Satz das Dasein den Vortritt vor der Welt erhält. Mit der Ausrichtung auf das Dasein verleiht Nietzsche seiner ästhetischen Theodizee eine anthropozentrische Perspektive, mit der er sich dem bei Leibniz theozentrisch gedachten, auf einem umfassenden Begriff der Welt beruhenden Theodizee-Gedanken diametral entgegensetzt129. In der Geburt der Tragödie führt Nietzsche das aesthetische Bedürfnis auf die „Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins“ zurück, wie es sich im Lichte der Weisheit des Silen darstellt, die nicht von ungefähr an Schopenhauers Sicht der condition humaine erinnert130. Der Kunst fällt die Aufgabe zu, als „rettende, heilkundige Zauberin […] jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben läßt“131. Demselben kompensatorischen Bedürfnis verdanken auch die griechischen Götter ihr scheinhaftes Leben. Von der menschlichen Phantasie als ‚menschlich, allzu menschli127 Vgl. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA I, S. 47, 152, 154 sowie S. 36, wo Nietzsche von der „allein genügenden Theodizee“ spricht. Als eine „Hermeneutik des Daseins“ hat Rüdiger Safranski Schopenhauers Willensmetaphysik aufgefasst; R. Safranski: Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie, München 1987, S. 306; vgl. S. 320– 329. 128 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA I, S. 18. 129 Vgl. ebd., S. 47 und S. 152; an anderer Stelle spricht Nietzsche vom „Dasein der Welt“, ebd., S. 17. Zu Leibniz’ Kritik des Anthropozentrismus vgl. Leibniz: Theodizee, I, §§7–9 und II, §§ 124–136; GP VI, 106–108 und 179–190. 130 Vgl. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA I, S. 35. 131 Ebd., S. 46 bzw. 51.

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che‘ Wesen erschaffen, dienen die Götter dazu, das menschliche Leben zu verklären und, indem sie es als lebenswert darstellen, zu rechtfertigen. Mit der Rechtfertigung des Menschenlebens durch die Götter, die Nietzsche als die „allein genügende Theodicee“ bezeichnet132, hat er die Rollenverteilung der metaphysischen Theodizee gleichsam vom Kopf auf die Füße gestellt und ihr auf diese Weise eine weitere anthropologische Pointe abgewonnen. In seiner Adaption der TheodizeeFormel geht es nicht mehr um die Rechtfertigung Gottes, sondern um die Rechtfertigung einer aus der Verantwortung des Schöpfergottes entlassenen Welt und eines Daseins, in dem der Sinn des Lebens nicht mehr vorgegeben, sondern aufgegeben ist. Während Schopenhauer angesichts der Sinnlosigkeit des Lebens Trost allein in der Aufgabe des Willens zum Leben findet, folgt für Nietzsche aus der Sinnlosigkeit des Lebens die Aufgabe des Menschen, einen Lebenssinn zu finden oder zu erfinden133. Mit seiner Rede von der ‚Rechtfertigung‘ hält Nietzsche zwar an der apologetischen Geste der metaphysischen Theodizee fest. Tatsächlich aber hat seine ästhetische Theodizee mit dem Tod Gottes nicht nur ihren Adressaten, sondern mit diesem auch den Kontext verloren, in dem der apologetische Gedanke der Rechtfertigung Sinn macht. Diesen Kontext hatte Kant metaphorisch als einen „Rechtshandel vor dem Gerichtshof der Vernunft“ beschrieben und damit maßgeblich eine juristische, am Leitfaden von Anklage und Verteidigung orientierte Auffassung der Theodizee geprägt, die sich als äußerst wirkungsmächtig erwies. Im Anschluss an ihn hat sich ein Verständnis von Theodizee durchgesetzt, das sie im doppelten, nämlich juristischen und geschichtlichen Sinne als einen ‚Prozess‘ auffasst, in dem der Vernunft die Aufgabe der Rechtfertigung, bzw. die Rolle des Anklägers, Verteidigers und des Richters zugleich zufällt134. Dabei wird zumeist übersehen, dass Kant in seinem Aufsatz von 1791 zwar den Nachweis führt, dass jeder Versuch einer „Rechtfertigung der Vorsehung“ mit den Mitteln der Vernunft notwendig misslingen müsse. Zugleich aber stellt er der nach Maßgabe des transzendentalen Standpunktes notwendig zum Scheitern verurteilten philosophischen oder ‚doktrinalen‘ Theodizee in seiner Interpretation des Buches Hiob eine ‚authentische‘ Theodizee entgegen, in der nicht zuletzt auch das Verständnis der Theodizee am Leitfaden eines Gerichtsverfahrens auf dem Prüfstand steht. Hiob, der sich aus Einsicht in die Grenzen seiner Vernunft dem unbedingten göttlichen Ratschluss anvertraut, würde, so Kant, wahrscheinlich „vor einem jeden Gerichte dogmatischer Theologen […] ein schlimmes Schicksal er132 Ebd., S. 36. 133 Vgl. ebd., S. 17, 47, 152. 134 Vgl. W. Oelmüller: Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel, Frankfurt a. M. 1979, S. 189–218, hier bes. S. 191 und O. Marquard: „Idealismus und Theodizee“, in: Ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1982, S. 52–65; Schmidt-Biggemann definiert die Apologetik als einen „Gerichtsterminus“; vgl. Schmidt-Biggemann, S. 62. Die Gerichtsmetaphorik findet sich bereits bei Leibniz, der davon spricht, „que les motifs de credibilité justifient, une fois pour toutes, l’autorité de la S. Ecriture devant le Tribunal de la Raison“; GP VI, 67. Vgl. hierzu auch Emden: Politics of History, S. 165–168.

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fahren haben“. Mit seinem unbedingten Vertrauen in Gott habe er zwar die Theologen gegen sich aufgebracht, jedoch den „göttlichen Richterausspruch“ zu seinen Gunsten eingenommen135. Auch in diesem Kontext, in dem, wie Kant mit seinem Gedankenspiel unterstreicht, der göttliche Richtspruch mit seiner Unbedingtheit und Unmittelbarkeit den mit der Gerichtsmetapher gesetzten Vorstellungsrahmen einer sich prozessual entfaltenden Vernunft sprengt, macht es Sinn, von Rechtfertigung zu reden. Im Sinne Kants, für den die Theodizee es „nicht sowohl mit einer Aufgabe zum Vorteil der Wissenschaft, als vielmehr mit einer Glaubenssache“ zu tun hat, hat Luther in seiner Vorrede zum Buch Hiob dessen theologisches Anliegen als ein Lehrstück in Sachen göttlicher Gerechtigkeit gedeutet, die sich, mit dem Schlüsselbegriff seiner Rechtfertigungslehre, in der Gnade offenbart136. Wie Schopenhauers intuitive Erkenntnis, die dem Entschluss zur Verneinung des Willens zum Leben vorausgeht, so folgt auch Nietzsches ästhetische Rechtfertigung des Daseins, die das Leben lebenswert erscheinen lässt, anthropologischen Prämissen. In diesem anthropologischen Rahmen ist der Gedanke der Rechtfertigung nicht forensisch, sondern soteriologisch gedacht. In einer Notiz aus dem Nachlass hält Nietzsche es der Geburt der Tragödie zugute, dass ihr die Kunst als „Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche […] par excellence“ gegolten habe. Wenn er die Kunst vor diesem Hintergrund als „Erlösung“ des Erkennenden, des Handelnden und des Leidenden definiert, so bleibt die so verstandene Erlösung im Bann der condition humaine, von deren Bürden sie zu erlösen und in deren Transzendenz die religiöse Verheißung der Erlösung sich zu erfüllen versprach137. Ebenso zeigt sich Nietzsche mit dem Gedanken der ästhetischen Rechtfertigung in seinem Tragödienbuch der theologischen Gedankenfigur der Gnade nicht inhaltlich, wohl aber formal verbunden. Indem die Kunst das Dasein als „Phänomen“ präsentiert, verwandelt sie das Dasein in eine ‚anzuschauende Erscheinung‘ und verleiht dieser Erscheinung die temporale Struktur der Plötzlichkeit138. Auf 135 Kant, S. 119. 136 Ebd.; vgl. M. Luther: „Vorrede über das Buch Hiob“, in: Ders.: Biblia. Das ist die Die gantze Heilige Schrift Deudsch auffs new zugericht (Wittenberg 1545), Bd. 1, München 1974, S. 916. Oelmüller rückt in seiner Erörterung von Kants Hiob-Interpretation nicht den Begriff der Gnade, sondern den des radikal Bösen ins Zentrum; vgl. Oelmüller, S. 200–239. 137 Nietzsche: „Nachgelassene Fragmente“. Frühjahr 1888, in: KSA XIII, S. 225–226. 138 Vgl. K. H. Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981, S. 111–138. Walter Schulz spricht mit Blick auf Nietzsches Begriff der Kunst von „Epiphanie und Ereignis“, Schulz, S. 51. In ihrem Kommentar zur Geburt der Tragödie betont Barbara von Reibnitz, dass die Rede vom „aesthetischen Phänomen“ in Nietzsches Theodizee-Formel wörtlich zu nehmen und ihre ironische Pointe darin zu sehen sei, dass sie die Welt als „anzuschauende Erscheinung“ rechtfertige – und „nicht im Hinblick auf einen Begriff des Guten, resp. einen Begriff Gottes“. Auf den spezifischen Modus des Erscheinens geht sie jedoch nicht näher ein. B. von Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (Kapitel 1–12), Stuttgart – Weimar 1992, S. 169–170. Volker Gerhardt betont, dass Nietzsche die „lutherisch-protestantische Herkunft der Gedankenfigur“ der Rechtfertigung bekannt war, er sie aber bereits im Tragödienbuch als „‚grundfalsch‘ und ‚undiskutierbar‘“ abgelehnt habe; Gerhardt: „Artisten-Metaphysik“,

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diese Weise sichert Nietzsche der ästhetischen Rechtfertigung des Daseins ein Moment des Pathos und der Überwältigung, das sie mit der Gnadenwirkung teilt, das jedoch mit der Vorstellung einer prozessualen, sukzessiven Entfaltung des Gedankens unvereinbar ist, wie sie der metaphysischen Theodizee zugrunde liegt und im Sinnbild des Rechtshandels vor dem Gerichtshof der Vernunft zum Ausdruck kommt. Mit der Einsicht, dass wir das Dasein nach dem Vorbild der Kunst „als de[m] guten Willen zum Scheine“ nur aus eigener Anstrengung erträglich machen können139, hat die theologische Gedankenfigur der Gnade in der ArtistenMetaphysik jedoch ihre transzendente Orientierung eingebüßt. In der Unmittelbarkeit der ästhetischen Erfahrung drückt sich nicht etwa die Teilhabe am Göttlichen aus; sondern mit seiner Ausrichtung auf das Dasein verleiht Nietzsche dem Gedanken der ästhetischen Rechtfertigung die Signatur eines Aktes der Selbstbehauptung140. Mag die Diagnose, dass alle „metaphysische Trösterei“ ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hat, an Kant erinnern, die von Nietzsche vorgeschlagene Therapie: die „Kunst des diesseitigen Trostes“, entstammt anderen Quellen141. Nach dem Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee ist die Gegenwart für Nietzsche reif, einmal mehr von den Griechen zu lernen, für die eine Theodizee niemals ein Problem war: „man hütete sich, die Existenz der Welt und somit die Verantwortlichkeit für deren Beschaffenheit den Göttern zu überantworten. […] Sein Dasein, wie es nun einmal ist, in einem verklärenden Spiegel zu sehen und sich mit diesem Spiegel gegen die Meduse zu schützen – das war die Strategie des hellenischen Willens, um überhaupt leben zu können“142.

In Gellerts Versen: „Dem, der nicht viel Verstand besitzt / Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen“, die er in der Geburt der Tragödie zitiert, hat die Kunst für Nietzsche ihre tiefste Erniedrigung erfahren. Sie befinde sich „in einer ähnlichen Rangordnung zur dialektischen Philosophie […], wie viele Jahrhunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theologie: nämlich als ancilla“143. Diese Rangordnung hat Nietzsche in seiner Artistenmetaphysik zugunsten der Kunst revidiert. Aus der Hegemonie der Philosophie entlassen, hat sich die Bildersprache der Poesie von der Bindung an jeden ihr äußeren Zweck emanzipiert und ihren Zweck in sich selbst gefunden. In ihrer Zweckmäßigkeit ohne Zweck wird das Kunstwerk zum Modell eines Daseins, für das alle traditionellen Sinnvorgaben ihre Verbindlichkeit verloren haben144.

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S. 47–48. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass der Rechtfertigungsgedanke seiner formalen Struktur nach für Nietzsches Überlegungen von Bedeutung war. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: KSA III, S. 464. Ebd., S 464. Zum Begriff der Selbstbehauptung vgl. Spaemann: Fénelon, S. 303 und zu Nietzsche R. Spaemann/R. Löw: Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München – Zürich, S. 193. Ebd., S. 22; vgl. Kant, S. 105. Nietzsche: Die Geburt des tragischen Gedankens, in: KSA I, S. 589. Ebd., S. 24 [Hervorhebung im Original]. Zum Kunstwerk als ‚Modell‘ vgl. V. Gerhardt: „Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst“, in: Nietzsche Studien 18 (1984), S. 374–380 sowie N. Bolz: Eine kurze Geschichte des Scheins, München 1991, S. 80–94.

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VII. Den Weg von der ‚ästhetischen Theodizee‘ zur ‚Rechtfertigung des Daseins und der Welt als ästhetisches Phänomen‘ verdiente es, detaillierter nachgezeichnet zu werden, als es an dieser Stelle möglich war. In Nietzsches Artistenmetaphysik, so das vorläufige Resümee, kommt auf spektakuläre Weise zu Ende, was im Anschluss an Leibniz mit der Rehabilitation der unteren Erkenntnisvermögen in der philosophischen Ästhetik begann. Diesem Anfang ist Nietzsche aber nicht im Sinne der Erfüllung, sondern der Umkehr verbunden, genauer mit einer Umkehrung der Blickrichtung. Seine ästhetische Theodizee wendet den Blick vom Himmel zur Erde, sie ist nicht theozentrisch sondern anthropozentrisch ausgerichtet: Das Schöne an der Kunst ist, dass sie uns das Dasein erträglich macht. Demgegenüber könnte man bei Leibniz von einer ‚ästhetischen Theodizee‘ im Sinne einer Theodizee im Medium der Kunst sprechen. Das Kunstwerk stellt den Sinnen das Unendliche im Endlichen dar. Diese ‚ästhetische Theodizee‘ ist – nach Maßgabe des Repräsentationsgedankens – theozentrisch gedacht. Die Kunst vermag das Unbegrenzte zu repräsentieren, weil sie sich begrenzt. Das genau ist – das Schöne an ihr.

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ANHANG Gottfried Wilhelm Leibniz [Der Preussen Königin verläst den Kreiss der Erden, Motto, Strophen I und XXVII–XXIX] Aeternum Regina jubar quae sparserat orbi Fassa deam radiis, qua nobis sospite tellus Sidera coeruleo non invidisset olympo, Occidit ∗ Der Preussen Königin verläst den Kreiss der Erden, Und diese Sonne wird nicht mehr gesehen werden; Des hohen Sinnes liecht, der wahren Tugend schein, Der schönheit heller glanz soll nun erloschen seyn. […] Was ist die wahre Lieb, als daß man sein Ergezen, In des Vollkommenheit, so man geliebt muss sezen, Weil Liebe dann in Gott die stärkste Probe thut, Entsteht die gröste Freud’ auch aus dem höchsten Guth. Nun so erhebet euch, o ihr bedrückte Sinnen, Last eure Traurigkeit in dieser Freud verrinnen; Denckt unverbesserlich sey dass so Gott gethan, Erkent mans gleich noch nicht, soll mans doch beten an. Und zwar man kennt es schohn in kindlichem Vertrauen; Man sieht, dass Gott ist guth, eh man Ihn selbst kan schauen. Daß Lieb und Liecht und Recht ursprünglich aus Ihm fliest, Wie Wärm und Glanz die Sonn’ in Erd-Geschöpfe giest.∗∗



Motto nach: W. Loos: „Leibniz’ Gedicht auf den Tod der Königin Sophie Charlotte nach der Handschrift in der Landesbibliothek Hannover“, in: R. Alewyn (Hrsg.): Aus der Welt des Barock, Stuttgart 1957, S. 69–82. In deutscher Übersetzung: Ewigen Glanz hatt’ ergossen die Königin über den Erdkreis, / strahlend bezeugt sich als Göttin; nicht, als für uns sie noch heil war, / hätte die Erde die Sterne geneidet dem blauen Olympus. / Sie ist erloschen. (Für die kritische Durchsicht und metrische Bearbeitung meiner Übersetzung bin ich Frau Dr. Hildegard Lindemaier-Cancik sehr zu Dank verpflichtet.) ∗∗ Textvorlage: G. W. Leibniz: [Der Preussen Königin verläst den Kreiss der Erden], in: Ders.: Gesammelte Werke. Aus den Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Hannover, 4 Bde., I. Folge: Geschichte, hrsg. von G. H. Pertz, Hannover 1842–1887 (Repr. Hildesheim 1966), S. 109–112.

KANTS KRITIK DER THEODIZEE – EINE METAKRITIK Hubertus Busche (Hagen)

Wolfram Hogrebe zum 65. Geburtstag Den unleugbaren Befund, dass in der gelehrten westlichen Welt Theodizee seit langem keinen guten Klang mehr hat, ja als ebenso überholtes wie überhebliches Programm einer typisch rationalistischen Formation alteuropäischen Denkens gilt, das getrost zu den Akten gelegt werden könne, mag man primär aus drei Gründen erklären wollen: Erstens schwand und schwindet im Zuge der Säkularisierung Europas die Zahl derer, für die das religiös motivierte Anliegen der Theodizee1 (sei sie christlicher2, jüdischer3 oder muslimischer4 Provenienz) ein ernstes Herzensproblem reflektiert und beantwortet. Zweitens wurde und wird es mit der modernen Verbreitung von Kommunikationsmedien und -techniken, die jedes Erdbeben und jedes Zugunglück öffentlich machen, erst recht aber in Anbetracht der unvorstellbaren Gräuel, die Menschen anderen Menschen im 20. Jahrhundert antaten, objektiv schwieriger, einen Gott rational zu verteidigen, der all dieses Leid zugelassen hat; somit setzt sich heute alle „Theodizee nach Auschwitz“ dem Verdacht 1 2

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Siehe P. Hünermann/A. T. Khoury (Hrsg.): Warum leiden? Die Antwort der Weltreligionen, Freiburg – Basel – Wien 1987. Zur Theodizee im christlichen Raum siehe insbesondere die Überblicke von F. Billicsich: Das Problem des Übels in der Philosophie des Abendlandes, Bd. 1: Von Platon bis Thomas von Aquino, Wien 21955; Bd. 2: Von Eckehart bis Hegel, Wien – Köln 1952; H.-G. Janssen: Gott – Freiheit – Leid. Das Theodizeeproblem in der Philosophie der Neuzeit, Darmstadt 21993; J. Kremer: Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf Kant und Schiller, Berlin 1909; R. Wegener: Das Problem der Theodicee im 18. Jahrhundert mit besonderer Rücksicht auf Kant und Schiller, Halle 1909; O. Lempp: Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts bis auf Kant und Schiller, Leipzig 1910; H. Lindau: Die Theodicee im 18. Jahrhundert. Entwicklungsstufen des Problems vom theoretischen Dogma zum praktischen Idealismus, Leipzig 1911; M. Hellwig: Alles ist gut. Untersuchungen zur Geschichte einer TheodizeeFormel im 18. Jahrhundert in Deutschland, England und Frankreich, Würzburg 2008; W. Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988. Siehe etwa J. L. Crenshaw (Hrsg.): Theodicy in the Old Testament, London 1983; J. Erich: Das Problem der Theodizee in der jüdischen Religionsphilosophie des Mittelalters, Phil. Diss. Würzburg 1936; A. J. Reines: „Maimonides’ Concepts of Providence and Theodicy“, in: Hebrew Union College Annual 42 (1973), S. 169–206. Vgl. etwa E. L. Ormsby: Theodicy in Islamic Thought. The Dispute over Al-Ghazali’s „Best of all Possible Worlds“, Princeton N. J. 1984.

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aus, selbst ein Übel zu sein, das die anderen Übel wegrationalisiert5. Drittens aber geht das Gerücht, dass sich der systematische Anspruch der Theodizee, Gottes Güte, Weisheit und Gerechtigkeit gegen die Übel dieser Welt rational verteidigen zu können6, als eine logisch bzw. erkenntnistheoretisch unhaltbare Illusion erwiesen habe und dass Immanuel Kant derjenige gewesen sei, der definitiv nachgewiesen habe, dass solche dogmatischen Erkenntnisansprüche notwendig zum Scheitern verurteilt sind. Der vorliegende Beitrag widmet sich allein dem dritten Erklärungsgrund und insofern einem genuin philosophischen Problem. Er will zeigen, dass die nicht nur unter philosophischen Köpfen weit verbreitete Ansicht von der grundsätzlichen Unmöglichkeit theoretisch argumentierender Theodizee nicht gerechtfertigt ist. Vielmehr soll gezeigt werden, dass Kants Versuch, das „Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ nachzuweisen, seinerseits gründlich misslungen ist, und zwar primär aus drei Gründen: Erstens erweist sich Kant bei seinem vor dem „Gerichtshofe der Vernunft“ geführten Prozess über die Reichweite der Anklage und Verteidigung bezüglich Gottes moralischer Vollkommenheiten als ein parteiischer Richter, der die Verteidigungsargumente der Theodizee über Gebühr schwach darstellt; der Prozess ist weit entfernt von einem fairen und regelkonformen Gerichtsverfahren, sondern gleicht eher einem kurzen Schauprozess. Zweitens überfrachtet Kant das Anliegen der Theodizee mit überzogenen Ansprüchen auf angebliche Einsichten rein aus Vernunft. Drittens schließlich leidet Kants Kritik an einer unzulänglichen Klärung der Kriterien, nach denen Theodizee als misslungen bzw. als gelungen zu betrachten ist. Der folgende Versuch, das Klischee eines logisch bzw. erkenntnistheoretisch notwendigen Misslingens aller theoretisch argumentierenden Theodizee als unhaltbar zu erweisen, geht in sechs Schritten vor: Vorab (I.) ist zu zeigen, dass die in der Forschung zu Kants Theodizee-Kritik weitgehend vollzogene Ausklammerung der Frage, ob und inwieweit Kants Kritik der Theodizee überhaupt zutrifft, sowohl dem Verstehen Kants als auch dem Verstehen des Grundproblems der Theodizee zum Nachteil gereicht. Nach dieser Einleitung ist Kants ganzer „Prozess“ zu 5

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Zur kontroversen Diskussion siehe insb. E. Kogon/J. B. Metz u. a. (Hrsg.): Gott nach Auschwitz. Dimensionen des Massenmordes am jüdischen Volk, Freiburg i. Br. 1979; W. Sparn: „Mit dem Bösen leben. Zur Aktualität des Theodizeeproblems“, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 32 (1990), S. 207–225; R. AmmichtQuinn: Von Lissabon bis Auschwitz. Zum Paradigmenwechsel in der Theodizeefrage, Fribourg 1992; W. Oelmüller (Hrsg.): Worüber man nicht schweigen kann. Neue Diskussionen zur Theodizeefrage, München 1992; T. Neuhaus: Theodizee – Abbruch oder Anstoß zum Glauben?, Freiburg i. Br. 1993. Zum systematischen Anliegen und Problemkreis der Theodizee siehe W. Sparn: Leiden – Erfahrung und Denken. Materialien zum Theodizeeproblem, München 1980; C.-F. Geyer: „Das Theodizeeproblem – ein historischer und systematischer Überblick“, in: W. Oelmüller (Hrsg.): Theodizee – Gott vor Gericht?, München 1990, S. 9–32; ders.: Die Theodizee. Diskurs, Dokumentation, Transformation, Stuttgart 1992; G. Streminger: Gottes Güte und die Übel der Welt. Das Theodizeeproblem, Tübingen 1992; J. Schmidt: „Das philosophische Theodizeeproblem und seine theologische Radikalisierung“, in: Theologie und Philosophie 72 (1997), S. 247–268.

Kants Kritik der Theodizee – Eine Metakritik

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rekonstruieren und zu bewerten. Hierfür sind zunächst (II.) die Beweisziele, die juridischen Rollen und die Beweislastverteilung im Theodizee-Streit, dann (III.) ist die allgemeine Logik der Argumentation in Anklage und Verteidigung zu klären. Auf diesen Grundlagen können anschließend beide Prozessphasen differenziert ausgewertet werden, in die Kant das Gerichtsverfahren einteilt, nämlich seine Kritik der bisherigen theoretischen Theodizee (IV.) sowie sein grundsätzlicher Einwand gegen alle mögliche theoretische Theodizee überhaupt (V.). Zum Abschluss wird ein Fazit zum Misslingen der Kant’schen These vom Misslingen der Theodizee gezogen.

I. ERGEBNISSE DER JÜNGEREN FORSCHUNG ZU KANTS THEODIZEE-KRITIK Die Forschung zu Kants Kritik der Theodizee hat in den letzten Jahrzehnten beachtliche Fortschritte erzielt und respektable Ergebnisse hervorgebracht. Hierbei widmete sie sich vor allem den beiden Problemen, inwieweit der späte Kant die Möglichkeit von Theodizee grundsätzlich in Frage stellt und in welchem logischen und entwicklungsgeschichtlichen Verhältnis seine Theodizee-Kritik zur Systematik seiner drei Kritiken steht. Insbesondere hat sie den folgenden Sachverhalt deutlich herausgearbeitet und die aus ihm sich ergebenden entwicklungslogischen wie systematischen Probleme klar analysiert: Es gehört in der Tat zu den erklärungsbedürftigsten Tatsachen in Kants Denkweg überhaupt, dass Kant zwar noch bis zu fünf Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) – nämlich in seinen mehrfach gehaltenen Vorlesungen über Rationaltheologie (1783/84 bis 1785/86)7 – explizit Leibnizens Lehre von der besten aller möglichen Welten gegen alle theodizeekritischen Einwände verteidigt hat, dass er aber in seiner Abhandlung für die Berlinische Monatsschrift, die den programmatischen Titel Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791)8 trägt, zu dem gegenteiligen Ergebnis gelangte, alle theoretische Theodizee beanspruche fälschlicherweise eine „Einsicht, zu der kein Sterblicher gelangen kann“ (264, 6), so dass sie an dieser Hybris notwendig scheitern müsse. Da es nur zwei Möglichkeiten zu geben scheint, diesen Befund zu deuten, wurden in der Forschung auch 7

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Kants Schriften werden im Folgenden nach Band, Seite und ggf. Zeile der AkademieAusgabe zitiert, und zwar mit der Sigle „A-A“, um sie deutlich von der Akademie-Ausgabe der Leibniz’schen Schriften [Sigle A] abzuheben. Kants Vorlesungen über Rationaltheologie („Philosophische Religionslehre nach Pölitz“, „Natürliche Theologie Volckmann“, „Danziger Rationaltheologie“ und „Vernunft-Theologie Magath“) finden sich in A-A XXVIII.2.2 (Parallelstellen XXVIII, 1071–1081, 1184–1188 und 1283–1290) und in A-A XXIX, 1051–1077. Darüber hinaus wurde ein weiteres Fragment entdeckt und präsentiert von L. Kreimendahl: „Kants Kolleg über Rationaltheologie. Fragmente einer bislang unbekannten Vorlesungsnachschrift“, in: Kant-Studien 79, 3 (1988), S. 318–328. A-A VIII, 255–271. Sofern im Folgenden innerhalb des Haupttextes aus dieser Schrift zitiert wird, fallen Sigle und Band ganz weg.

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beide verfolgt – mit dem Ergebnis, dass beide Interpretationen komplementäre Fragen offen lassen. (A) Entweder sieht man nämlich – wie Ch. Schulte und die meisten, die sich mit diesem Problem beschäftigen – in Kants Theodizee-Abhandlung von 1791 einen radikalen Bruch sowohl mit seinem früheren Standpunkt als auch mit der philosophischen Tradition vollzogen9. Demnach haben wir es 1791 mit einer „in Kants späterem Denken nicht mehr revozierten, letztgültigen Abfertigung der philosophischen Theodizee“ zu tun, die „mit früheren, die Theodizee bejahenden Positionen kollidiert, ohne daß Kant sich zu diesem Widerspruch erklärt hätte“10. Dann ergibt sich jedoch das Folgeproblem, plausible Motive zu finden, die Kant zu diesem radikalen Standpunktwechsel bewogen haben könnten. Hierfür kommen – wenn man nicht einfach literarische Beeinflussungen geltend machen will11 – grundsätzlich entweder (a) logisch-theoretische oder (b) praktischethische Beweggründe in Betracht. Falls Kants später Umschwung zum radikalen Kritiker der Theodizee sich tatsächlich, wie die Standardinterpretation annimmt, (a) der Kopernikanischen Wende in der Erkenntnistheorie und deren metaphysikkritischen Konsequenzen verdanken sollte (wie der Theodizee-Aufsatz von 1791 insinuiert), dann bleibt wiederum zu erklären, warum der Durchschlagseffekt eine derart lange Latenzzeit hatte und sich nicht schon in den Vorlesungen über Rationaltheologie angekündigt hat. Ist es plausibel, anzunehmen, dass Kant erst 10 Jahre nach seiner ersten Kritik sich dessen voll bewusst wurde, dass aus ihr auch die Unmöglichkeit von Theodizee folgt? Falls man dagegen (b) praktisch-ethische Motive für Kants radikalen Standpunktwechsel für überzeugender hält, kommen auf den ersten Blick nur wenige Kandidaten in Betracht. Der naheliegende Grund, dass Kant ausgerechnet nach Beendigung seiner Vorlesungen über Rationaltheologie 9

A-A VIII, 264, 6. Ch. Schulte: „Zweckwidriges in der Erfahrung. Zur Genese des Mißlingens aller philosophischen Versuche in der Theodizee bei Kant“, in: Kant-Studien 82 (1991), S. 371–396, hat den verblüffenden Befund treffend und bündig zusammengefasst: „Die Ausgangsbasis der Vorlesung [Pölitz] und der Theodizee-Abhandlung gleichen sich bis ins Wörtliche so sehr, daß man vermuten kann, das Manuskript der Vorlesung habe Kant als Vorlage für die Abhandlung gedient“ […]. „Um so erstaunlicher ist es, daß von dieser gemeinsamen Basis aus, aber mit jeweils ganz verschiedenen Argumenten, Kant in der Vorlesung über Rationaltheologie zu dem Ergebnis gelangt, daß Theodizee gegen die Einwürfe der Vernunft gelingt, während sie in der Theodizee-Abhandlung mißlingt. Die Gegensätzlichkeit der Ergebnisse bei gleichem Ausgangspunkt sowohl in der Architektonik der Vernunft als auch im Problembestand verwickelt Kant zunächst nicht in direkte Widersprüche, denn er gelangt auf gänzlich verschiedenen Argumentationswegen zu dem jeweiligen Ergebnis. Allerdings wird aus seiner Wahl der Argumente in ihrer Verschiedenartigkeit die Ursache seiner Totalrevision des Resultats nicht recht deutlich, denn die Argumente lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen und vergleichen […]“ (S. 382). 10 Schulte, S. 372. 11 Die ältere Forschung hat z. B. eine gewisse gedankliche Abhängigkeit Kants von Humes radikaler Theodizee-Kritik behauptet; sie wird jedoch neuerdings verworfen. Siehe L. Kreimendahl: „Hume über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee um 1748“, in: Ders. (Hrsg.): Aufklärung und Skepsis. Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 145–172, hier S. 145–146.

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(1783/84 bis 1785/86) einer gesteigerten Erfahrung kollektiven Unheils ausgesetzt war, die einen pessimistischen Umschwung induzierten, ist nicht sonderlich plausibel, zumal Kant sogar nach dem Erdbeben von Lissabon (1755) zu denjenigen gezählt hatte, die nicht davor zurückschreckten, auch die segensreichen Effekte dieses Erdbebens für andere Regionen zu bilanzieren12. Andererseits wäre es allzu wohlfeil, die schon 1924 von Max Wundt bemerkte Verdüsterung der Weltsicht des späten Kant13 lediglich aus einem subjektiv-biographischen Anwachsen leidvoller Erfahrungen erklären zu wollen, auch wenn der Theodizee-Aufsatz von 1791 durchaus Anzeichen von Lebensüberdruss artikuliert14. Bisher scheint die Kant-Forschung keine plausiblen Motive theoretischer oder praktischer Art für Kants radikalen, aber späten Standpunktwechsel ausgemacht zu haben15. (B) Oder aber man leugnet bzw. bagatellisiert den Bruch Kants mit seiner früheren Auffassung sowie mit der Tradition der Theodizee, behauptet eine starke 12 Vgl. I. Kant: Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens […]; A-A I, 436–437. 13 M. Wundt: Kant als Metaphysiker, Stuttgart 1924, S. 457. 14 Kant identifiziert sich hier nicht nur mit dem folgenden Standpunkt: „Ein contemplativer Misanthrop (der keinem Menschen Böses wünscht, wohl aber geneigt ist von ihnen alles Böse zu glauben) kann nur zweifelhaft sein, ob er die Menschen hassens- oder ob er sie eher verachtungswürdig finden solle“ (270, 8–12). Vielmehr behauptet er hier auch, man könne es getrost „dem Ausspruche eines jeden Menschen von gesundem Verstande, der lange genug gelebt und über den Werth des Lebens nachgedacht hat, um hierüber [den Wert des Lebens] ein Urtheil fällen zu können, überlassen, wenn man ihn fragt: ob er wohl, ich will nicht sagen auf dieselbe, sondern auf jede andre ihm beliebige Bedingungen (nur nicht etwa einer Feen-, sondern dieser unserer Erdenwelt) das Spiel des Lebens noch einmal durchzuspielen Lust hätte“ (259, 28–35). – Schon Kremer: Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts, S. 167, hat diese Äußerung als Indiz einer „Müdigkeit“ des Lebens beim späten Kant gewertet. 15 Das gilt z. B. auch für Schultes eigene These, dass Kants Umschwung zu einer negativen Beurteilung theoretischer Theodizee sich aus Zuspitzung der Lehre von den Zwecken ineins mit der erst im Theodizee-Aufsatz von 1791 zugrunde gelegten Begrifflichkeit des Zweckwidrigen erkläre: „Der Aspekt des Zweckwidrigen […] verändert den im Definitionssatz umrissenen Beweisgrund gegenüber der Vorlesung so, daß Kant am Ende alle philosophischen Versuche in der Theodizee als misslungen gelten müssen“ (383). „Denn erst durch die problematische, über die Antinomie der praktischen Vernunft und dann durch die EthikoTeleologie vermittelte und entfaltete Lehre vom höchsten Gut als gemeinsamem Endzweck von Natur und Moralität gewinnt Kant, chronologisch und sachlich nach der Kritik der praktischen Vernunft und nach der Kritik der Urteilskraft, Instanz und Kriterium für Zweckmäßiges und Zweckwidriges in der Welt. Das nunmehr moral-teleologisch determinierte Zweckwidrige der Theodizee-Abhandlung ist die Hürde, an der eine philosophische Theodizee scheitert, die angesichts derselben Mißstände in der Welt sieben Jahre früher auf anderem Beweisgrund noch glücken konnte“ (385). – So interessant diese Deutung – die sich als Gegenthese gegen die von Schulte mit Recht abgelehnte erkenntniskritische Standarddeutung „gemäß dem Schema vorkritisch/nachkritisch“ (372) versteht – auch ist, bleibt doch gegen sie einzuwenden, dass die Lehren sowohl vom höchsten Gut als auch vom Endzweck der Natur und vom Primat der Moralität bei Kant weit vor 1791 entwickelt werden und dass auch die Rede vom „Zweckwidrigen“ nichts anderes meint als jene „Übel“, deren Sinn Kant in seinen früheren Schriften durchaus verteidigt. Folglich wird Kants Standpunktwechsel durch Schultes These nicht wirklich erklärt.

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Kontinuität seines Denkens und schränkt Kants späte These vom „Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ auf einen bestimmten Typus von Theodizee ein. Eine extreme Form dieser Deutung vertritt J. Brachtendorf. Für ihn liegt mit dem Aufsatz von 1791 nicht nur „kein Bruch im TheodizeeDenken des kritischen Kant“ vor. Vielmehr verbleibe Kant mit ihm sogar „innerhalb der Tradition philosophischer Theodizee“, so dass es hier nicht einmal einen „Bruch Kants“ mit der „Theodizee-Tradition“ gebe16. Für diese These scheint zunächst zu sprechen, dass Kant 1791 selbst differenziert zwischen einer „doktrinalen Theodizee“ einerseits, die die Heiligkeit, Güte und Gerechtigkeit Gottes mit Hilfe beanspruchter Erkenntnisse theoretisch zu erweisen suche und deshalb zum Misslingen verurteilt sei, und einer „authentischen Theodizee“ andererseits, die ihre Stütze allein im (philosophischen) Glauben habe. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Kontinuitätsthese jedoch als unhaltbar. Sie übersieht zum einen, dass noch der kritische Kant in den Vorlesungen zur Rationaltheologie gerade jenen Typus von theoretisch-spekulativer Theodizee vertreten hatte, den er 1791 pauschal als ungangbar verwirft, und überschätzt zum anderen Status und Bedeutung jener erst 1791 eingeführten „authentischen Theodizee“, die den Anspruch, Theodizee zu sein, gar nicht wirklich erfüllt, wenn man sie an Kants eigener Definition misst, der zufolge Theodizee jene „Vertheidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers“ ist, die sich einer rationalen Argumentation bedient, um „den angeklagten Theil als Sachwalter durch förmliche Widerlegung aller Beschwerden des Gegners zu vertreten“ und damit bereits einwilligt, dass der Streit „vor dem Gerichtshofe der Vernunft“ zu führen sei (255, 1–3; 20–23)17. Wenn also Brachtendorf, der die „authentische Theodizee“ zudem fälschlich für identisch hält mit Kants Postulierung einer moralischen Weltregierung aus dem Bedürfnis der praktischen Vernunft18, behauptet, dass es Kant im Theodizee-Aufsatz „nicht um Ablehnung, sondern um Neufundierung der Theodizee“ gehe, dass Kant hier vielmehr „nur gegen eine rein theoretisch-spekulativ vorgehende Theodizee argumentiert, die Möglichkeit einer moralisch-praktisch fundierten Zurückweisung der Einwürfe gegen die moralische Weisheit Gottes hingegen offen hält“19, so ist darauf zu erwidern, dass praktische Vernunft bei Kant gar kein Vermögen rationaler Argumentation ist. Somit ist fraglich, wie denn ein bloßer Glaube an bzw. ein bloßes Bedürfnis nach einer durch Gottes Gerechtigkeit verbürgten 16 J. Brachtendorf: „Kants Theodizee-Aufsatz. Die Bedingungen des Gelingens philosophischer Theodizee“, in: Kant-Studien 93 (2002), S. 57–83, hier S. 58 u. 72. 17 Geyer: Die Theodizee, S. 108, hat zu Recht bemerkt, Kants „authentische Theodizee“ verdiene den Namen einer Theodizee nicht, „da sie mit den Anforderungen, die Kant im Ausgang von Leibniz an eine Verteidigung Gottes […] gestellt hatte, überhaupt nichts mehr gemein“ habe. Nicht ganz so weit geht Schulte, S. 392, für den Kants „authentische Theodizee“ eine „religiöse Theodizee“, aber „keine philosophische“ ist; denn sie verweise Theodizee „in ein anderes Feld: das des Glaubens“. 18 Zur fundamentalen Differenz zwischen der „in einer authentischen Theodizee artikulierte[n] Glaubensüberzeugung“ und den Postulaten der „moralischen Theologie“ vgl. V. Dieringer: Kants Lösung des Theodizeeproblems. Eine Rekonstruktion, Stuttgart-Bad Cannstatt 2009, S. 123. 19 Brachtendorf: „Kants Theodizee-Aufsatz“, S. 74 u. 59.

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Proportionalität von Moralität und Glück (dem Ideal des höchsten Gutes) die Kraft haben sollte, Gott gegen rationale Einwände gegen seine Güte und Gerechtigkeit zu verteidigen oder gar zu rechtfertigen. Der Anschein, als könnte es eine Form von Theodizee jenseits theoretischer Vernunft geben, lässt sich nur solange erhalten, wie man Kants praktische Vernunft mit Fähigkeiten zu theoretischer Einsicht und rationaler Argumentation ausstattet, die sie nach Kant gar nicht hat20. Brachtendorf übersieht folglich, dass Kant in dem Maße, wie er 1791 jegliche theoretisch argumentative (und somit „eigentliche“, 264, 20) Verteidigung der göttlichen Vollkommenheit als ein doktrinales „Vernünfteln“ (267, 19) zu diskreditieren versucht, auch seinem moralisch motivierten philosophischen Glauben immer mehr an Überzeugungskraft entzieht, so dass seine „authentische Theodizee“, statt den Glauben durch rationale Gründe zu stützen, schließlich die Züge eines Fideismus21 oder zumindest eines credo quia absurdum bekommt. (C) Eine Möglichkeit schließlich, Kants Bruch mit seinem früheren Standpunkt mit einer Kontinuität bezüglich seiner früheren Überzeugungen zu verein20 Eine solche exegetische Ausstattung praktischer Vernunft mit theoretischen Fähigkeiten zeigt sich bei Brachtendorf ganz deutlich. Er glaubt nämlich, dass Kants rein auf den praktischen Bedürfnissen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit aufgebaute Postulatenlehre, die er bereits für eine „philosophische Theodizee“ hält, in ihrer Validität auf folgendem „Doppelargument“ beruhe: Erstens müsse sie eine „Vorgängigkeit des Wissens um Gottes Allmacht und Weisheit vor jeder spezifischen Welterfahrung“ bereitstellen, so dass dieses Wissen nicht fälschlich aus theoretischen Gründen hergeleitet werde; zweitens bedürfe es einer „Erfahrungsenthobenheit dieses Wissens, der zufolge weder positive Welterfahrung dieses Wissen beweisen, noch negative mit ihm wirklich konfligieren kann“ (58). Es ist jedoch gar nicht ersichtlich, wie Kants auf praktischer Vernunft basierende, bloße Postulierung einer moralischen Weltregierung überhaupt jenes „Wissen [!] um die moralische Weisheit Gottes“ (62) generieren soll, das Brachtendorf noch dazu in seiner „Apriorität“ (63) durchgängig beansprucht. Es wird stets behauptet, „nur die erfahrungsunabhängig argumentierende praktische Vernunft“ könne „im Rahmen einer Ethikotheologie das Wissen [!] um die moralische Weisheit des Welturhebers und -lenkers bereitstellen“ (59). Wie soll es jedoch ohne jeden Rekurs auf theoretische Gewissheiten möglich sein, dass „erstens durch ein geeignetes Argument vor aller Erfahrung die moralische Weisheit Gottes nachgewiesen [!]“ wird und dass „zweitens gezeigt [!]“ wird, „daß das so gewonnene Wissen durch Erfahrung weder widerlegbar noch beweisbar“ ist (61)? Kant selbst bemerkt zwar in der Tat, dass „wir uns den Begriff von Gott als einem moralischen und weisen Wesen nothwendig und vor aller Erfahrung machen“ (264, 25–26). Ein solcher Begriff hat jedoch für Kant ebenso wenig den Status eines Wissens wie die transzendentalen Ideen. Zwischendurch räumt zwar auch Brachtendorf ein, dass es sich bei Kants angeblicher praktischer Theodizee um einen „philosophischen Glauben“ handle, versucht dies aber durch den Hinweis abzuschwächen, dass „dieser Glaube […] nicht etwa einen gegenüber dem Wissen verminderten Gewißheitsgrad“ besitze (64) – eine Behauptung, die Kants klare Zäsur zwischen „Wissen“ und „Glauben“ als zwei differenten Modi des Fürwahrhaltens (Kritik der reinen Vernunft, B 850–860) auf den Kopf stellt. 21 G. Cavallar: „Kants Weg von der Theodizee zur Anthropodizee und retour. Verspätete Kritik an Odo Marquard“, in: Kant-Studien 84 (1993), S. 90–102, hier S. 102, hat die These vertreten, dass „der fast existenzialistisch anmutende Kant“ des Theodizee-Aufsatzes die „philosophische inklusive der geschichtsphilosophischen Theodizee […] aus einer fideistischen Position zurückgewiesen“ habe. Dieses Urteil mag recht zugespitzt erscheinen, lässt sich aber verteidigen, wenn es gleichsam den Fluchtpunkt kennzeichnen soll, auf den Kants Standpunkt unbemerkt hinausläuft.

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baren, vertritt V. Dieringer. Zur Überwindung des verwirrenden Umstands, dass „sowohl in der älteren als auch in der neueren Kant-Literatur kontrovers diskutiert“ wird, worin denn überhaupt „die sachlich-systematische Grundaussage des Kant’schen Theodizee-Aufsatzes zu sehen“ sei, sucht er folgenden Kompromiss: Brachtendorf sei zwar in dem Punkt Recht zu geben, dass Kant auch 1791 „am Projekt einer rationalen Rechtfertigung des moralischen Theismus angesichts des Übels in unserer Welt festhält und nicht etwa einer fideistischen Position das Wort redet“, Schulte aber in dem Punkt, dass Kant 1791 jegliche Form von Theodizee schlechthin für unmöglich erkläre22. Beides vereinbare sich nämlich dadurch, dass Kant 1791 nur noch eine philosophische „Verteidigung des moralischen Theismus“ versuche. Diese unterscheide sich von aller „Theodizee“ durch das reduzierte Ziel, dass sie lediglich nachweise, „daß sich die Existenz eines heiligen, gütigen und gerechten Gottes mit der Existenz des Übels in unserer Welt logisch widerspruchsfrei vereinbaren läßt, ohne dass dabei eine Aussage über Gottes Gründe für die Zulassung des Übels gemacht wird“. Demgegenüber erhebe Theodizee den viel weiter reichenden Anspruch einer „rationalen Rechtfertigung“ vermittelst von Gründen, „weshalb Gott als moralischer Welturheber das Übel in der Welt zugelassen habe“23. So elegant dieser Kompromiss auch wirkt, hinterlässt er doch ebenfalls zwei Probleme. Erstens handelt es sich bei Kants angeblichem Nachweis der logischen Vereinbarkeit zwischen weltlichen Übeln und Gottes moralischer Vollkommenheit um eine rein externe Konstruktion des Interpreten, für die sich in Kants Text kein einziges Indiz findet. Die Konstruktion mag durchaus nicht gegen den Geist Kants sein, aber zu behaupten, im Theodizee-Aufsatz halte Kant selbst „nur noch eine Verteidigung des moralischen Theismus für möglich, die das wesentlich bescheidenere Ziel verfolgt, die logisch widerspruchsfreie Vereinbarkeit der Existenz des Übels in unserer Welt mit der Existenz eines heiligen, gütigen und gerechten Gottes aufzuzeigen [!]“24, heißt, in Kants Aufsatz eine Intention hineinzuinterpretieren, die sich im Text nicht bestätigen lässt. Zweitens aber lässt die konkrete Ausführung dieser Interpretation auch nicht erkennbar werden, wie für Kant ein solcher Nachweis der logischen Widerspruchsfreiheit, wenn er ihn 1791 denn überhaupt hätte führen wollen, ausgesehen haben könnte. Dieringer glaubt nämlich, dass Kant hier tatsächlich nachgewiesen habe, dass sowohl der „Theodizee-Gegner“ als auch der „Theodizee-Verfechter“ beide denselben Fehler begehen, „einen Schluß von der Erfahrung auf die Wahrheit oder Falschheit der Annahme“ zu ziehen, „daß es einen heiligen, gütigen und gerechten Gott gibt“. (Da diese Folgerung wiederum Einsicht in den Zusammenhang zwischen Phänomenalem und Intelligiblem voraussetze, diese aber nach den Resultaten der Vernunftkritik unmöglich sei, ergebe sich die „Unhaltbarkeit“ beider

22 Dieringer, S. 17, 24, 23. 23 Ebd., S. 24. Er nimmt hiermit folgende Unterscheidung Michael Petersons auf: „The aim of defense is to show that antitheistic arguments from evil – either logical or evidential – are not successful on their own terms. The general aim of theodicy, by contrast, is to give positive, plausible reasons for the existence of evil in a theistic universe“ (zitiert nach ebd., S. 23). 24 Ebd., S. 126.

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Positionen25.) Selbst wenn das alles richtig wäre – unsere anschließende Untersuchung sucht zu zeigen, dass das nicht zutrifft –, bleibt doch undeutlich, inwiefern aus dem vermeintlichen Nachweis der fehlenden Konkludenz zweier kontradiktorischer Schlüsse seinerseits folgen soll, dass damit eine „logische Widerspruchsfreiheit“ zwischen empirischen Übeln und intelligibler Vollkommenheit Gottes erwiesen und insofern eine „Verteidigung“ qua „rationale Rechtfertigung“ Gottes geleistet sein könnte26. Eher hat es den Anschein, dass auf diese Weise ein von aller theoretischen Stützung verlassener Glaube an Gottes moralische Weisheit gegen jeden rationalen Zweifel an ihm immunisiert würde. Angesichts der eingeschränkten Plausibilitäten der bisherigen drei großen Interpretationen zu Kants später Theodizee-Kritik erscheint es ratsam, sich zunächst aller Spekulationen über Kants mögliche Absichten und Standpunktänderungen im Aufsatz von 1791 zu enthalten und stattdessen erst einmal differenziert zu untersuchen, wie er in dieser Schrift wirklich vorgeht, worin seine Kritik im Einzelnen besteht und inwieweit sie tatsächlich zutrifft. Dass die Kantforschung die philosophisch so primordiale Frage nach der Triftigkeit der Kant’schen Theodizeekritik bislang ausgeklammert oder allenfalls am Rande gestreift hat, ist als solches zwar nicht zu tadeln, da nicht jeder Forschungsbeitrag alle Aspekte behandeln kann, läuft aber faktisch auf einen größeren Mangel hinaus, da sich zeigen lässt, dass die in der Literatur fast durchgängig zu findende praesumtio juris, Kants Theodizeekritik müsse im Wesentlichen zutreffend sein, zu den größten Fehleinschätzungen bei der philosophischen Beurteilung der Reichweite und Leistung der Kant’schen Kritik geführt hat. Dieser Schaden blieb nicht etwa auf die Disziplin der Philosophie beschränkt. So zeigt z. B. auch der in diesem Band enthaltene Beitrag Walter Sparns, dass in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts das wie ein allzu heißes Eisen gemiedene Theodizeeproblem nur allzu oft leichtfertig mit dem Hinweis auf Kants maßgebliche Theodizeekritik als obsolet abgestempelt wurde. Die Vernachlässigung der Frage, inwieweit Kants Kritik der Theodizee denn überhaupt zutrifft, gereicht deshalb sowohl der Kantforschung selbst als auch den mit dem Theodizeeproblem verbundenen Wissenschaftsdisziplinen zu einem erheblichen Nachteil. Um einen ersten Schritt zur Aufhebung dieses bestehenden Mangels zu unternehmen, schlägt die folgende Untersuchung eine komplementäre methodische Abstraktion ein. Im Unterschied zum Forschungstrend der letzten Jahrzehnte klammert sie gerade die biographischen und philologisch-werkgeschichtlichen Hintergründe so weit wie möglich aus, um sich auf eine argumentative Prüfung der Triftigkeit von Kants Kritik der Theodizee konzentrieren zu können. Die 25 Ebd., S. 114–115. 26 Dieringers Bemerkung, Kant mache „deutlich […], daß die moralische Weisheit Gottes durch die Einwände des Theodizee-Gegners nicht getroffen wird und sogar prinzipiell nicht getroffen werden kann“ (S. 122), ist stark übertrieben. Vielmehr bleibt dies bei Kant eine bloße und zudem kryptische Behauptung (vgl. 263, 5–8). Andererseits räumt aber auch Dieringer selbst ein, dass man den „Geltungsanspruch“ von Kants Urteil „relativieren“ müsse, da es eine „Schwäche“ darstelle, „daß es in hohem Maße von Theoriestücken der Kantschen Philosophie abhängig ist, die selbst keineswegs unumstritten sind“ (S. 119).

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folgende Auseinandersetzung beschränkt sich hierbei nicht nur auf Kants Theodizee-Aufsatz von 1791, sondern beschränkt sich auch hier wiederum auf dessen destruktiven Teil, der die „doktrinale Theodizee“ als unmöglich zu erweisen sucht, während sein konstruktiver Teil, der das Vorbild einer „authentischen Theodizee“ beschwört, nur gestreift werden kann27. Im Vordergrund steht das Ziel, durch eine konsequente Auswertung des überschaubaren Textes und durch eine systematische Prüfung der Argumente zwei Fragen einer Beantwortung zuzuführen: 1. Woran scheitert nach Kant jede doktrinale Theodizee? 2. Ist Kants Behauptung des notwendigen Scheiterns gerechtfertigt? Bevor Kants Argumente gegen die Theodizee geprüft werden können, sind zunächst drei Punkte zu klären, die den systematischen Rahmen und gewissermaßen das Koordinatensystem bilden, in dem sich Kant argumentativ bewegt: Was ist das Beweisziel der Schrift von 1791? Wie verlaufen die Analogien zwischen den am historischen Theodizee-Diskurs beteiligten Fronten einerseits und den juridischen Rollen in jenem Rechtsstreit andererseits, nach dessen Muster Kant (in der Nachfolge Leibnizens) die Kontroverse rekonstruiert? Und schließlich: Wie verteilt Kant die konkreten Beweislasten zwischen Anklage und Verteidigung?

II. BEWEISZIELE, JURIDISCHE ROLLEN UND BEWEISLASTVERTEILUNG IM THEODIZEE-STREIT Wie schon Leibniz, so konzipiert auch Kant den historisch-systematischen Diskurs der Theodizee als einen „Rechtshandel“ (255, 20–21; 263, 1). Selbstverständlich ist dies für Leibniz wie für Kant nur eine Analogie; denn Gott kann schon deshalb nicht im strengen Sinne des Rechts der Prozess gemacht werden, weil er keine leibliche Person ist, die man befragen und die sich vor Gericht verantworten könnte, und weil es zudem bei einem möglichen Schuldspruch keine sanktionierende Gewalt gäbe, die ihn bestrafen könnte. Schon deshalb scheint die Forschungsthese, dass Theodizee ein typisch neuzeitliches Unternehmen sei, welches der „rationalistische[n] Metaphysik“ entspringe, so dass es „in der Antike und im Mittelalter“ bloß „theodizeeanaloge Theoreme“ gegeben habe28, nicht gut begründet. Was Leibniz dazu bewog, ab 1697 den juridischen Terminus „Theo27 Kants Misslingensschrift lässt sich insgesamt in sieben Teile gliedern: 1. Begriff, Aufgaben und anmaßlicher Erkenntnisanspruch der Theodizee (255, 1–256, 9) 2. Die dreifache Zweckwidrigkeit in der Welt (Argumente der Anklägerseite) (256, 10–257, 18) 3. Die drei Verteidigungsstrategien bisheriger Theodizee und ihre Kritik durch Kant (258, 1–262, 37) 4. Fazit zum „Ausgang dieses Rechtshandels“ und Vorblick auf ein Generalargument gegen alle Theodizee überhaupt (263, 1–21) 5. Erläuterung des Generalarguments für das grundsätzliche Scheitern von Theodizee (263, 22 – 264, 6) 6. „Authentische Theodizee“ statt „doktrinaler Theodizee“ (264, 8– 267, 14) 7. „Schlußanmerkung“ über Aufrichtigkeit und Unlauterkeit (267, 15– 271, 18). 28 Geyer: „Das Theodizeeproblem“, S. 12; ders.: Die Theodizee, S. 48–56.

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dizee“ (von griech. theos, Gott, und dike, Gerichtsprozess) in Auslegung von Röm 3, 5 in die Debatte einzuführen, war seine Auffassung, dass Recht, Billigkeit und Moral nur drei unterschiedliche Stufen des einen, umfassenden Naturrechts sind, an das auch Gott gebunden ist. Folglich muss auch Gott sich hinsichtlich seiner universalen Gerechtigkeit nach denselben Maßstäben des Guten und Schlechten beurteilen lassen wie die Menschen, und die Definientien seiner Gerechtigkeit, „Liebe“ und „Weisheit“, müssen bei ihm wie bei uns dieselbe Bedeutung haben29. Aus diesem Grunde können für Leibniz sowohl die moralische Anklage Gottes wegen dessen angeblicher Ungerechtigkeit als auch seine Verteidigung nach dem Muster einer „Gerichtssache“, einer „cause de Dieu“ oder „causa Dei“ verhandelt und zur rationalen Entscheidung gebracht werden30. Da Kant mit seinem moralischen Theismus diese Voraussetzungen teilt, definiert auch er den Streitpunkt der Theodizee entsprechend juridisch nach den Parteien von Anklage und Verteidigung. „Unter einer Theodicee versteht man die Vertheidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen [d. h. dem Übel] in der Welt gegen jene erhebt“ (255, 1–3).

Um die juridischen Rollen von Angeklagtem, Ankläger, Verteidiger und Richter deutlicher den Parteien im Theodizee-Diskurs zuordnen zu können, ist zunächst zu fragen, welches Beweisziel Kant im destruktiven Teil seines Aufsatzes von 1791 verfolgt. Es besteht hauptsächlich darin, die Unmöglichkeit der genannten Verteidigung zu erweisen. Das im Nachhinein gezogene Fazit zeigt allerdings, dass Kant dieses Beweisziel in zwei Etappen zerlegt. Kants erstes Beweisziel, das gleichsam die erste Prozessphase definiert, besteht darin, die von der „bisherigen“ Theodizee geltend gemachten besonderen Argumente zur Verteidigung Gottes als unzulänglich zu erweisen, wobei er freilich betont, dass auch die Argumente der Anklage nicht hinreichen: „Der Ausgang dieses Rechtshandels vor dem Gerichtshofe der Philosophie ist nun: daß alle bisherige Theodicee das nicht leiste, was sie verspricht, nämlich die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel, die dagegen aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt zu erkennen giebt, gemacht werden, zu rechtfertigen; obgleich freilich diese Zweifel als Einwürfe, so weit unsre Einsicht in die Beschaffenheit unsrer Vernunft in Ansehung der letztern reicht, auch das Gegentheil nicht beweisen können“ (263, 1–8).

Kants zweites Beweisziel, das er im Anschluss verfolgt und das gleichsam die zweite Phase innerhalb des von ihm geführten Prozesses definiert, besteht hingegen darin, die prinzipielle Unmöglichkeit jeder doktrinalen Theodizee zu erweisen. Dies geschieht – unter Abstraktion von ihren historischen Ausprägungen – mit einem erkenntniskritischen Grundsatzeinwand:

29 Essais de Théodicée, Discours Préliminaire, § 4; GP VI, 51; vgl. auch G. W. Leibniz: Frühe Schriften zum Naturrecht, lateinisch-deutsch, hrsg. von H. Busche, Hamburg 2003, insb. S. 29–30, 83, 155–156, 273, 303 ff. 30 Essais de Théodicée, Préface; GP VI, 38; Causa Dei; GP VI, 437 u. 439.

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Hubertus Busche „Ob aber nicht auch etwa mit der Zeit tüchtigere Gründe der Rechtfertigung derselben erfunden werden könnten, die angeklagte Weisheit nicht (wie bisher) bloß ab instantia zu absolviren: das bleibt dabei doch noch immer unentschieden, wenn wir es nicht dahin bringen, mit Gewißheit darzuthun: dass unsre Vernunft zur Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermögend sei; denn alsdann sind alle fernere Versuche vermeintlicher menschlicher Weisheit, die Wege der göttlichen einzusehen, völlig abgewiesen. Dass also wenigstens eine negative Weisheit, nämlich die Einsicht der nothwendigen Beschränkung unsrer Anmaßungen in Ansehung dessen, was uns zu hoch ist, für uns erreichbar sei: das muß noch bewiesen werden, um diesen Proceß für immer zu endigen; und dieses läßt sich gar wohl thun“ (263, 8–21).

Aufgrund dieser Vorgaben lässt sich die Zuordnung der juridischen Rollen zu den Parteien des Theodizee-Diskurses deutlich erkennen. Vier Rollen sind zu unterscheiden: (1.) Der Angeklagte ist selbstverständlich Gott selbst. Er wird unter Verweis auf die Übel in der Welt, die gewissermaßen als corpus delicti angeführt werden, der fehlenden Gerechtigkeit, Güte und Weisheit beschuldigt. (2.) Die Ankläger, die Kant hier nicht beim Namen nennt, rekrutieren sich nicht nur aus den Reihen der Atheisten, die die Ungerechtigkeitsbezichtigung als Argument gegen die Existenz Gottes nutzen, sondern auch aus den Reihen der Skeptiker wie Hume und Bayle, die Gottes Güte bezweifeln, ja streng genommen sogar aus den Reihen jener Gläubigen, die mit ihrem Gott hadern. (3.) Die Verteidiger sind selbstredend die historischen Vertreter der Theodizee, die auch nach Kants Auffassung defensiv reagieren, indem sie die Anklagegründe der Angreifer argumentativ zu entkräften suchen. (4.) Was aber schließlich die Rolle des Richters betrifft, so besteht kein Zweifel, dass Kant sich dieses Amt selbst zuschreibt31. Denn er beansprucht, diesen ganzen „Proceß für immer zu endigen“ (263, 20). Und er vollzieht diese Beendigung durch den Urteilsspruch, dass beide, Ankläger wie Verteidiger, „nicht beweisen können“ (263, 7–8), was sie beweisen wollen. Damit scheint Kants Theodizee-Prozess strukturell den beiden ersten Antinomien der kosmologischen Antithetik der Kritik der reinen Vernunft zu gleichen: Auch hier soll ja nachgewiesen werden, dass These wie Antithese gleichermaßen falsch sind, weil beide eine Erkenntnis beanspruchen, die unmöglich ist. Auf den ersten Blick scheint diese ganze Rollenaufteilung plausibel und stimmig. Es wird sich jedoch zeigen, dass erstens die Parallele zwischen der These der Ankläger und der Antithese der Verteidiger einerseits und der These und Antithese der ersten beiden kosmologischen Antinomien unhaltbar ist und dass zweitens Kants tatsächliche Inszenierung und Durchführung dieses Prozesses keineswegs mit der Rolle eines unparteiischen Richters verträglich ist. Vielmehr führt Kant gewissermaßen einen zweiten Prozess innerhalb des Prozesses und wechselt hierfür ständig zwischen Anklagebank und Richterstuhl. Der eigentliche Angeklagte nämlich, der den Hauptgegner Kants bildet, ist der Verteidiger selbst. Damit erweist sich Kants Rechtshandel als weit entfernt von einem regelgerechten 31 So auch Dieringer, S. 125; treffend ist auch sein Urteil: „Während Kant in den Vorlesungen über Rationaltheologie noch selbst den Part der Verteidigung übernommen hat, nimmt er im Theodizee-Aufsatz auf dem Richterstuhl der Vernunft Platz […]“ (98).

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Prozess. Diese Nebenanklage ist umso erstaunlicher, als Kant zumindest verbaliter dem Vertreter der Theodizee keine unbilligen Beweislasten aufbürdet. „Der Verfasser einer Theodicee willigt also ein, daß dieser Rechtshandel vor dem Gerichtshofe der Vernunft anhängig gemacht werde, und macht sich anheischig, den angeklagten Theil als Sachwalter durch förmliche Widerlegung aller Beschwerden des Gegners zu vertreten: darf letztern also während des Rechtsganges nicht durch einen Machtspruch der Unstatthaftigkeit des Gerichtshofes der menschlichen Vernunft (exceptionem fori) abweisen, d. i. die Beschwerden nicht durch ein dem Gegner auferlegtes Zugeständniß der höchsten Weisheit des Welturhebers, welches sofort alle Zweifel, die sich dagegen regen möchten, auch ohne Untersuchung für grundlos erklärt, abfertigen […] – Doch auf eines hat er nicht nöthig sich einzulassen: nämlich daß er die höchste Weisheit Gottes aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt lehrt, auch sogar beweise; denn hiermit würde es ihm auch schlechterdings nicht gelingen, weil Allwissenheit dazu erforderlich ist […]“ (255, 20–256, 6).

Das Zitat besagt dreierlei. Erstens muss, da der ganze Prozess vor dem „Gerichtshofe der menschlichen Vernunft“ – oder, wie Kant an anderer Stelle schreibt, „vor dem Gerichtshofe der Philosophie“ (263, 1–2) – zu führen ist, sich der Verteidiger Gottes, ebenso wie der Ankläger und der Richter, auf eine rein rationale Argumentation verpflichten, bei der die eine Partei von der anderen keinerlei Glaubensvoraussetzungen einfordern darf. Das bedeutet aber, dass weltanschauliche Voraussetzungen wie theistische oder atheistische Überzeugungen keine gerichtsentscheidende Bedeutung haben dürfen. Daraus folgt auch, dass Gegenstand des Prozesses nicht etwa die Entscheidung über die Existenz oder Nicht-Existenz Gottes ist. Der Streitpunkt ist vielmehr allein dies, ob sich die vorgetragenen Anklagegründe gegen Gott, falls er denn existiert, als hinreichend für seine mögliche Verurteilung wegen fehlender bzw. unterlassener Gerechtigkeit, Güte und Weisheit erweisen oder nicht. Zweitens behauptet das Zitat, dass, weil beiden Parteien im Prozess billigerweise gleiche Waffen zugestanden werden müssen, die gemeinsame Waffe nur die „Vernunft“ als die standpunktlich voraussetzungslose Macht des logischen Folgerns sein kann. Und obwohl es in diesem Prozess (wegen der Erkenntnistranszendenz von Gottes Wesen) nicht um Einsicht in objektiv erkennbare Gegenstände geht, kann es doch nur der theoretische Vernunftgebrauch im Sinne der Richtigkeit des Folgerns innerhalb hypothetischer Zusammenhänge sein, der die letzte Instanz des richterlichen Urteils bildet32. Folglich muss sich auch die Kernfrage, ob Theodizee wirklich zum Misslingen verurteilt ist, wie Kant glaubt, oder nicht, einzig und allein an der logischen Kohärenz und Stringenz rationaler Argumentation bemessen. Drittens aber – dies ist im Hinblick auf die Beweislastverteilung von großer Wichtigkeit – räumt Kant in diesem Zitat explizit ein, dass der Verteidiger nicht etwa positiv die Gerechtigkeit, Weisheit und Güte Gottes zu beweisen braucht. Wie bei jedem rechtsstaatlichen Prozess auch, muss er nicht etwa die Unschuld des Angeklagten beweisen; vielmehr muss er lediglich negativ nachweisen, dass die Beschuldigungen von Seiten der Ankläger

32 Mit Recht merkt schon Billicsich, Bd. II, S. 228 an, „daß der ganze Rechtsstreit vor dem Forum der theoretischen Vernunft geführt wird“.

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nicht ausreichen, um den Angeklagten wegen mangelnder Gerechtigkeit, Weisheit und Güte zu verurteilen33. Doch auch in diesem wohlklingenden Punkt der Beweislastverteilung wird sich zeigen, dass Kant sich nicht an seine eigenen kriteriellen Vorgaben hält. Vielmehr macht er die Argumente der Verteidiger schwächer als die der Ankläger. Um das zeigen zu können, ist zunächst die allgemeine Verfahrenslogik darzulegen, nach denen die Parteien der Anklage und der Verteidigung argumentieren.

III. DIE ALLGEMEINE LOGIK DER ARGUMENTATION IN ANKLAGE UND VERTEIDIGUNG Kant zeigt, dass das allgemeine Argumentationsschema, in dem sich Theodizee bewegt, reaktiv ist. Es antwortet nämlich auf einen Argumentationstyp der Ankläger, der gleichsam einen Widerspruch zwischen zwei Welten geltend macht. Auf der einen Seite stehen die „Eigenschaften der höchsten Weisheit des Welturhebers“ (257, 9), d. h. die Vollkommenheiten Gottes, die vom vernunftgestützten Glauben vorausgesetzt werden. Kant teilt diese vom Glauben zugeschriebenen Eigenschaften Gottes in die drei folgenden ein: 1. die „Heiligkeit“ Gottes als des „Gesetzgebers“ und „Schöpfers“; 2. die „Gütigkeit“ Gottes als des „Regierers“ und „Erhalters“ der Welt; und 3. die „Gerechtigkeit“ Gottes als des (strafenden) „Richters“ (257, 9–16). Jeder dieser drei positiven Eigenschaften Gottes setzt nun die Anklage jeweils ein besonderes Negativum oder Übel entgegen, das Kant hier terminologisch „Zweckwidriges“ nennt, da es elementaren Zwecken des Menschen zuwiderläuft. Die Quelle, aus der diese korrespondierenden drei Arten von Übel geltend gemacht werden, ist nicht der vernunftgestützte Glaube, sondern die Erfahrung. Die drei erfahrungsursprünglichen „Zweckwidrigkeiten“ werden von den Anklägern „als Einwürfe“ gegen die drei positiven Eigenschaften Gottes vorgebracht (257, 10), fungieren also im Prozess wie ein corpus delicti. Kant teilt entsprechend das „Zweckwidrige in der Welt“, das „der Weisheit ihres Urhebers entgegengesetzt werden könnte“ (256, 10–11), in folgende drei Arten ein: 1. Das „schlechthin Zweckwidrige“ oder „moralische Zweckwidrige“, das Kant später mit dem „Moralisch-Bösen“ (258, 5) gleichsetzt, fällt zusammen mit demjenigen, was bei Leibniz das „malum morale“ genannt wurde. Es bildet also den Inbegriff aller moralischen Verfehlungen, Bosheiten oder (theologisch gesprochen) Sünden, die – da sie ja von Gott selbst zugelassen wurden – im Sinne der Anklage bereits gegen Gottes Heiligkeit sprechen. 2. Das „physische Zweckwidrige“, das bei 33 Diesen entscheidenden Punkt übersieht Lempp, S. 260–263, der überhaupt Kant unkritisch nach dem Munde redet. Weil Lempp glaubt, die Theodizee wolle positiv „die vollkommene Güte Gottes rechtfertigen“, d. h. „nachweisen, daß alle Handlungen Gottes durchaus, in absoluter Weise, von der Güte hergeleitet werden“, glaubt er folglich auch, dass solche Versuche aufgrund Kants Kritik „als gescheitert zu betrachten sind“. „Es ist nicht möglich, zu beweisen, daß die Übel in der Welt keine gültigen Einwände gegen die Annahme einer moralischen Weltordnung seien“ (263).

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Leibniz das „malum physicum“ genannt wurde, steht dagegen im weitesten Sinne für das Leiden aller schmerzfähigen Geschöpfe überhaupt, mag es durch menschliche Schuld, mag es durch Naturereignisse verursacht werden. Dass Kant diese Formen des Übels, die von der Anklage als Argumente gegen die Existenz eines gütigen Gottes geltend gemacht werden, auf die „zahllosen Übel und Schmerzen der vernünftigen Weltwesen“ einschränkt, womit er das Leiden der Tiere ausklammert, dient vielleicht nur der Komplexitätsreduktion. 3. Was Kant schließlich die „IIIte Art des Zweckwidrigen“ nennt, nämlich „das Mißverhältnis zwischen der Straflosigkeit der Lasterhaften und ihren Verbrechen in der Welt“, besteht darin, dass es auf Erden augenscheinlich keine notwendige Korrelation gibt zwischen der Quantität und Qualität an moralisch Bösem, dessen sich eine Person schuldig macht, einerseits und der strafenden Austeilung eines proportionalen Übels an den Missetäter durch Gott andererseits. Diese alltägliche Beobachtung, dass die Übeltäter oft ungeschoren davon kommen, wird von der Anklägerseite als Indiz oder gar Beweis dafür angeführt, dass es entweder keinen Gott gibt oder dass dieser jedenfalls keine (strafende) Gerechtigkeit ausübt (256, 10–257, 18). Obwohl diese trichotomische Antithetik zwischen drei positiven Eigenschaften Gottes und drei mit ihnen unvereinbaren negativen Erfahrungstatbeständen sicherlich einen Großteil der traditionellen Kontroversen christlicher Theodizee abbildet, fällt doch auf, dass Kant mit dieser Einteilung die Reichweite des Theodizee-Problems in zweierlei Hinsicht stark verkürzt. Gemeint ist nicht etwa die von der Forschung längst konstatierte Tatsache, dass Kant das von Leibniz so genannte „malum metaphysicum“ völlig ausklammert. Da das metaphysische Übel nämlich bloß in der Endlichkeit und Unvollkommenheit aller Kreaturen besteht, würde eine Anklage, die sich darüber beschweren wollte, dass wir nicht eine Vollkommenheit genießen, wie man sie sich bei Gott vorstellt, sich von vornherein der Lächerlichkeit preisgeben. Kant tut deshalb gut daran, nicht eigens ein „metaphysisch Zweckwidriges“ als vierten Anklagegrund einzuführen34. Was in Kants Architektonik dagegen für den Gerichtsprozess eine präjudizierende Kraft haben wird, ist eine zweifache Verkürzung des in der Tradition verwendeten Begriffs der göttlichen Gerechtigkeit. Indem Kant diese vielmehr nur auf eine Strafgerechtigkeit reduziert, gerät erstens das Problem der (fehlenden) Distributivgerechtigkeit Gottes gar nicht erst in den Blick, damit aber auch ein sehr wichtiges Argumentationsfeld zu Gunsten der Ankläger: Wie kann Gott, wenn er gerecht ist, den einen so viel Glück und langes erfülltes Leben schenken, während er für die anderen nur eine erbärmliche, leidvolle Existenz übriglässt? Zweitens verkürzt Kant aber auch die anstelle der Distributiv-gerechtigkeit ganz in den Vordergrund gerückte Korrektivgerechtigkeit Gottes noch einmal dahingehend, dass er den Gedanken einer von Gott erwirkten Belohnung von Individuen

34 Treffend ist das Urteil von Billicsich, Bd. II, S. 231: „Es mag nun auffallen, daß Kant, ähnlich wie der hl. Augustinus […,] die ‚Schranken‘ der endlichen Wesen nicht als ein Übel anerkennt, das zu rechtfertigen wäre. Er leugnet sie zwar nicht, aber sie sind nichts ‚Zweckwidriges‘. Sie gehören zum Begriff der Kreatur“.

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für das moralisch Gute ihres pflichtbewussten Willens ebenfalls ganz ausklammert35. Diese beiden Verkürzungen des Problem- und Phänomenspektrums der Theodizee sind für die Frage, ob sich die Argumente der Ankläger oder die der Verteidiger als stärker erweisen, gewiss nicht unerheblich. Gleichwohl soll diesem Problem hier aus Platzgründen keine weitere Beachtung geschenkt werden. Stattdessen soll die am Schluss anstehende kritische Bilanzierung rein immanent gemäß Kants verkürzter Begriffsarchitektonik göttlicher (Un-)Gerechtigkeit erfolgen. Entscheidend ist nun, dass Kant aller Theodizee im Prinzip eine reaktive Form der Argumentation zuschreibt. Sie sucht die Vollkommenheiten Gottes gegen die Ankläger dadurch zu verteidigen, dass sie die oben genannten drei Arten des Übels (des Zweckwidrigen) als grundsätzlich logisch vereinbar mit Gottes Vollkommenheiten zu erweisen sucht. Entsprechend macht sie besondere Argumente dafür geltend, dass 1. die empirische Existenz des moralisch Bösen keinen wirklichen Widerspruch zur Heiligkeit Gottes als eines Gesetzgebers und Schöpfers darstellt, dass 2. die empirische Existenz des physischen Übels logisch durchaus vereinbar ist mit der Güte Gottes als des Regierers und Erhalters der Welt, und dass 3. auch die empirische Existenz strafloser Laster und Verbrechen nicht logisch unvereinbar ist mit der Gerechtigkeit Gottes als eines strafenden Richters. Da die besonderen Argumente, die zu diesen drei Punkten im historischen Verlauf der Theodizee von Platon bis Kant vorgebracht wurden, sehr zahlreich, ja schier unabsehbar sind, schlägt Kant einen sehr klugen Weg ein, um das Verfahren durch eine Transformation vom bloß Historischen in eine kombinatorische Logik abzukürzen. Er reduziert nämlich die Erwiderungen, mit denen die Theodizee auf jeden der drei Anklagepunkte antwortet, auf jeweils drei grundsätzliche logische Möglichkeiten, so dass sich insgesamt eine Kombinatorik von 3 x 3 Argumenten ergibt. Der „vermeintliche Sachwalter Gottes“ könne nämlich zu jedem der drei Anklagegründe wieder je drei alternative Gegenargumente vorbringen: (A.) „entweder“ erwidert er nämlich, „daß das, was wir in der Welt als zweckwidrig beurteilen, es nicht sei“, leugnet oder relativiert also die jeweiligen Übel; (B.) „oder“ er behauptet, dass selbst dann, wenn das Übel ein wirkliches Übel ist, 35 Kants (eher implizite) Begründung für diese Ausklammerung der belohnenden Korrektivgerechtigkeit, nämlich das Argument, dass das Schielen des Menschen nach Belohnungen den rein aus Pflicht zu bestimmenden moralischen Willen durch eudämonistische Motive verfälsche (257*, 19–39 u. 258, 27–38), ließe sich ebensogut auch auf die unlautere Verfälschung des Willens ausdehnen, die durch ein Handeln aus Angst vor einem strafenden Gott hervorgerufen wird. Ferner wird man in Kants Begründung dafür, warum die fehlenden Belohnungen für das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen angeblich nicht so verletzend und empörend sind wie die ausbleibenden Bestrafungen, kaum eine angemessene Beschreibung unserer moralischen Intuitionen erkennen können. Nach Kant geht „die Klage über den Mangel einer Gerechtigkeit, die sich im Loose, welches den Menschen hier in der Welt zu Theil wird, zeige, nicht darauf, daß es den Guten hier nicht wohl, sondern daß es den Bösen nicht übel geht“ (258*, 30–33). Mit dieser anfechtbaren Behauptung, die den Anspruch auf eine empirische Beschreibung durchschnittlicher Bewertungen erhebt, scheint Kant – im Interesse, seine eigene Moral- und Straflehre zu verteidigen –, eine Klitterung der moralischen Phänomene in Kauf zu nehmen.

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„es doch gar nicht als Factum, sondern als unvermeidliche Folge aus der Natur der Dinge beurtheilt werden müsse“, d. h. dass das Übel nicht gewollt, sondern als unausweichliche Konsequenz aus der Verkettung des größtmöglichen Guten bloß zugelassen worden sei; (C.) „oder endlich“ behauptet der Vertreter der Theodizee, dass das jeweilige Übel „wenigstens nicht als Factum des höchsten Urhebers aller Dinge, sondern bloß der Weltwesen, denen etwas zugerechnet werden kann […], angesehen werden müsse“; er versucht also, Gott trotz seiner Letztursächlichkeit als Schöpfer doch die Verantwortlichkeit für die Übel zu nehmen (255, 11–19). In der Tat wird man Kant bescheinigen können, dass sich seine anschließende Kritik der Theodizee recht genau an dieses kombinatorische Schema hält. Mit diesen allgemeinen Vorgaben zur Logik der Argumentation sind nun die Rahmenbedingungen für das Gerichtsverfahren geklärt, und die kritische Prüfung der beiden von Kant beanspruchten Beweisziele kann beginnen. Betrachten wir zunächst die erste Prozessphase, in der Kant nach dem kombinatorischen Schema von 3 x 3 Anklage- und Verteidigungsargumenten nachweisen will, dass die bisherige, historische Theodizee gescheitert sei. Hierbei kommt es uns nicht darauf an, nach den historischen Vertretern der Theodizee zu suchen, die Kant bei seinem Referat der Argumente vor Augen gehabt haben mag. Kant selbst nennt hier bekanntlich kaum einen einzigen Namen. Im Folgenden werden Namen nur dort ins Spiel gebracht, wo es für das Verständnis Kants wichtig ist. Insbesondere wird auf Leibniz (dessen Essais de Théodicée Kant bekannt waren) dort rekurriert, wo Kant die Theodizee über Gebühr schwach darstellt und Leibniz die Stärke ihrer Argumente zu repräsentieren vermag.

IV. ERSTE PROZESSPHASE: KRITIK DER BISHERIGEN THEODIZEE Kant eröffnet die erste Prozessphase entsprechend seiner drei Punkte mit der Reihe jener Anklagen, die unter Berufung auf die empirisch unleugbare Existenz des moralisch Bösen gegen Gott erhoben werden. Er charakterisiert hierbei die Anklagen als „Beschwerde gegen die Heiligkeit des göttlichen Willens aus dem Moralisch-Bösen“ (258, 4–5):

IV.1. Kants Kritik dreier Verteidigungsstrategien gegen die Anklagen aus dem moralisch Bösen (A.) Das erste Argument der Verteidiger Gottes innerhalb dieser Reihe läuft gewissermaßen auf eine Immunisierungsstrategie gegen die Ankläger hinaus. Es sucht nämlich Gott dadurch moralisch in Schutz nehmen, dass es eine Inkommensurabilität zwischen unseren und Gottes Begriffen vom moralisch Gebotenen und Verbotenen behauptet. Hieraus würde dann folgen, dass es „ein solches schlechterdings Zweckwidrige, als wofür wir die Übertretung der reinen Gesetze unserer Vernunft nehmen, gar nicht gebe, sondern dass es nur Verstöße wider die mensch-

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liche Weisheit seien“, d. h. gegen das, „was nur relativ für Menschen in diesem Leben Gesetz ist“ (258, 7–17). Dem Einwand gegen eine solche Art der Verteidigung, den Kant im Namen der Ankläger referiert, kann man nur voll und ganz beipflichten: „Diese Apologie, in welcher die Verantwortung ärger ist als die Beschwerde, bedarf keiner Widerlegung und kann sicher der Verabscheuung jedes Menschen, der das mindeste Gefühl für Sittlichkeit hat, frei überlassen werden“ (258, 20–23).

In der Tat liefe eine solche Äquivozität der Begriffe des Guten und Bösen auf den verwerflichen Standpunkt hinaus, dass z. B. grausamste Verbrechen möglicherweise in den Augen Gottes als reinste Wohltaten angesehen würden. Kant ist somit völlig Recht zu geben, dass man mit diesem Argument nicht Gott, sondern allenfalls einen Tyrannen verteidigen kann. Entsprechend ist auch nicht erkennbar, wer von den historischen Vertretern der Theodizee sich eines solchen schlechten Arguments bedient hätte. Es hat folglich den Anschein, als zwänge das 3 x 3-Schema Kant dazu, zumindest partiell Standpunkte einer „bisherigen Theodizee“ zu konstruieren, die es historisch entweder nie gegeben hat oder die völlig randständig sind. (B.) Ein zweites Verteidigungsargument leugnet demgegenüber nicht die „Wirklichkeit des Moralisch-Bösen in der Welt“, sucht „den Welturheber aber damit zu entschuldigen, dass es nicht zu verhindern möglich gewesen: weil es sich auf den Schranken der Natur des Menschen, als endlicher Wesen, gründe“ (258, 24 – 259, 1). Dieses (Leibniz’sche) Argument besagt also: Wer Menschen, d. h. freie, aber endliche, leibgebundene Vernunftwesen erschaffen wollte, musste damit auch notwendig gewisse faktische Grenzen der moralischen Selbstbestimmung billigend in Kauf nehmen. Kants Einwand gegen diesen Verteidigungsversuch lautet: „Aber dadurch würde jenes Böse selbst gerechtfertigt werden; und man müßte, da es nicht als die Schuld des Menschen ihnen zugerechnet werden kann, aufhören es ein moralisches Böse zu nennen“ (259, 2–4).

Im Unterschied zum ersten Argument ist hier erstmals eine Metakritik der Kant’schen Kritik fällig: Die von Kant behauptete Konsequenz ergibt sich nämlich keineswegs. Das Argument von den Schranken der menschlichen Natur, das Leibniz unter der Gattung des malum metaphysicum behandelt, ist gar nicht normativ, sondern deskriptiv; es rechtfertigt nicht etwa das Böse, sondern sucht vielmehr die Neigung zum Bösen aus der angeborenen Schwäche des Menschen zu erklären. Ein Alltagsbeispiel kann das verdeutlichen. Wir handeln z. B. faktisch empirisch nicht immer aufmerksam, da die Schranken unserer Natur unsere Aufmerksamkeit selektiv verteilen und nicht selten durch Müdigkeit eintrüben. Aus diesem faktischen Umstand ergibt sich aber keineswegs die normative Konsequenz, dass z. B. ein Chirurg während einer Operation nicht zur vollsten Aufmerksamkeit verpflichtet wäre. Begeht er etwa einen schweren Kunstfehler, kann er sich mitnichten durch einen Hinweis auf die angeborenen Schranken der menschlichen Natur aus der Affäre ziehen. Der faktische Hang zur Unaufmerksamkeit rechtfertigt in keiner Weise seine Verletzung der Sorgfaltspflicht.

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Das Beispiel lägsst sich auf alle anderen Arten angeborener Tendenzen übertragen, die die Existenz des moralisch Bösen statistisch wahrscheinlich und daher grundsätzlich nicht verhinderbar machen. Entsprechend enthält auch das von Kant hier referierte Verteidigungsargument weder eine Rechtfertigung des Bösen als Bösen noch die Folgerung, dass das Böse „nicht als die Schuld des Menschen ihnen zugerechnet werden kann“. Das Argument besagt nämlich gar nicht, dass die Endlichkeit (Schranken) des Menschen eine hinreichende Bedingung des Bösen ist, sondern lediglich, dass sie eine verführerische Neigung zum Bösen hervorbringen. Umgekehrt gesagt: Gott hätte auch eine Welt nur aus Engeln erschaffen können, so dass eine solche Welt frei vom Bösen wäre. Sofern er jedoch auch diese Zwitterwesen namens Menschen erschaffen wollte, musste er damit auch zulassen, dass aus ihrer Schwäche moralisch Böses erwächst. Dass Kant dieses zweite Verteidigungsargument viel schwächer macht, als es ist, verwundert umso mehr, als er hier der Sache nach eine Idee kritisiert, die auch er selbst vertritt. Gerade der späte Kant betont nämlich, dass die Menschen faktisch eine unbezwingbare Neigung zur Selbstliebe, ja sogar einen radikalen, „natürlichen Hang zum Bösen“ haben36. Und doch würde Kant aus dieser Voraussetzung massiver „Schranken der Natur des Menschen, als endlicher Wesen“ niemals den Schluss ziehen, dass die unter den Bedingungen dieser tendenziellen Schwäche entspringenden Handlungen den Menschen „nicht als Schuld zugerechnet werden“ können, weil sie nun einmal durch unsere verdorbene Natur begünstigt werden. (C.) Ein drittes Argument zur Verteidigung Gottes angesichts der Existenz des moralisch-Bösen besagt, „daß, gesetzt auch, es ruhe wirklich mit dem, was wir moralisch böse nennen, eine Schuld auf dem Menschen, doch Gott keine beigemessen werden müsse37, weil er jenes als That der Menschen aus weisen Ursachen bloß zugelassen, keineswegs aber für sich gebilligt und gewollt oder veranstaltet hat“ (259, 5–9).

Kants Kritik dieses (ebenfalls auch von Leibniz angeführten) Arguments enthält zwei Einwände: Erstens könne man am Begriff „des bloßen Zulassens“ bei Gott, der doch als „alleiniger Urheber der Welt“ gedacht wird, „Anstoß“ nehmen. Zweitens laufe das Argument auf „einerlei Folge“ wie (B) „hinaus: nämlich daß, da es selbst Gott unmöglich war dieses Böse zu verhindern, ohne anderweitigen höhern und selbst moralischen Zwecken Abbruch zu thun, der Grund dieses Übels (denn so müsste man es eigentlich nun nennen) unvermeidlich in dem Wesen der Dinge, nämlich den nothwendigen Schranken der Menschheit als endlicher Natur, zu suchen sein müsse, mithin ihr auch nicht zugerechnet werden könne“ (259, 9–17). Auch hier ist Kants Kritik derart schwach und verrät eine derart negative Voreingenommenheit gegen die Theodizee, dass eine Metakritik nötig ist. Weder versteht Kant das Argument richtig noch folgt die von ihm gezogene Konsequenz. Erstens mag die Ausdrucksweise eines Leibniz, dass Gott das moralisch Böse zwar nicht gewollt, wohl aber es „zugelassen“ habe, auf den ersten Blick tatsächlich 36 Vgl. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, A-A VI, 28–53. 37 In Kants Königsberger Deutsch bedeutet dieses „müssen“ soviel wie „dürfen“.

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merkwürdig klingen. Denn Gott wird als die höchste Ursache aller Dinge gedacht, so dass er niemand anderes um Erlaubnis für die Wahl der von ihm für gut befundenen Welt zu fragen brauchte. Was Leibniz jedoch meint, ist klar. Gott hat das moralisch Böse nicht direkt intendiert. Vielmehr hat er es als ein notwendiges Übel, das sich als unausweichliche Folge aus der insgesamt bestmöglichen Welt (die auch freie Menschen enthalten sollte) ergibt, in Kauf genommen38. Gottes ursprünglicher Wille (voluntas antecedens) ist demnach nur auf „das Gute“ gerichtet. Weil aber innerhalb der unendlichen Anzahl möglicher Welten das Gute nicht ohne Übel zu haben ist, wählt Gottes nachfolgender Wille (voluntas consequens) schließlich „das Beste“, das möglich ist. „Was aber das Übel angeht, so will Gott das moralische Übel überhaupt nicht und ebensowenig auf unbedingte Weise das physische Übel oder die Leiden“39. Ganz in diesem Sinne einer bloß notwendigen Konsequenz aus dem Besten hat Leibniz den Ausdruck „zulassen“ verwendet. Dass Kant es sich nicht nehmen lässt, am Wort „Zulassung“ Anstoß zu nehmen, obwohl Leibniz diesen Sprachgebrauch eigens problematisiert und gerechtfertigt hat40, wirkt etwas kleinlich. Zweitens aber bringt Kant auch wenig Verständnis für das hier in Rede stehende Argument selbst auf, dem zufolge Gott das Böse „aus weisen Ursachen bloß zugelassen, keineswegs aber für sich gebilligt und gewollt oder veranstaltet“ habe. Es besagt lediglich, dass eine Welt ohne Übel und sogar ohne moralisch Böses insgesamt schlechter wäre als die tatsächliche. „Es ist richtig, dass man sich mögliche Welten ohne Sünde und ohne Elend vorstellen kann und hieraus etwas gestalten kann, was Romanen, Utopien und Sévaramben gleicht. Doch diese Welten würden im übrigen der unsrigen Welt weit unterlegen sein“41.

Von Leibniz’ differenzierter Begründung dieser These sei im Folgenden nur eine einzige Teilbegründung näher erläutert, nämlich das Argument, dass eine Monotonie des Angenehmen nicht vereinbar mit dem Besten wäre. „Die Tugend ist die edelste Eigenschaft der erschaffenen Dinge, aber sie ist nicht die einzige gute Eigenschaft der Geschöpfe; es gibt vielmehr noch eine Unzahl anderer, die die Neigung Gottes auf sich ziehen. Aus allen diesen Neigungen ergibt sich das höchstmögliche Gute, und daraus ergibt sich, daß es, wenn es nur Tugend und nur vernünftige Geschöpfe gäbe, weniger Gutes geben würde. Midas fühlte sich weniger reich, als er nur noch Gold hatte. Überdies muss die Weisheit Vielfalt hervorbringen. Die Vervielfältigung nur einer Sache aber, so edel sie auch sein mag, wäre etwas Überflüssiges, wäre Armseligkeit. Tausend gut eingebundene Vergile in seiner Bibliothek haben, andauernd die Arien aus der Oper ‚Kadmus

38 Man könne den Gedanken nicht missbilligen, „daß Gott vermöge seiner über alles erhabenen Macht aus der Zulassung der Sünde Güter herleite, die größer als diejenigen sind, die vor der Sünde bestanden“ (Essais de Théodicée, I. Teil, § 11; GP VI, 109). 39 Ebd., I. Teil, § 23; GP VI, 116. 40 „Da wird man mir jedoch vorhalten: Was sprichst du von ‚zulassenǥ? Bewirkt Gott denn nicht das Übel, und will er es nicht? Deshalb wird es nötig sein, hier zu erörtern, was ‚Zulassung‘ [permission] bedeutet, damit ersichtlich wird, daß ich dieses Wort nicht ohne Grund verwende“ (ebd., I. Teil, § 22; GP VI, 115). 41 Ebd., I. Teil, § 10; GP VI, 108.

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und Hermione‘42 singen, alles Porzellan zerbrechen, um nur noch Tassen aus Gold zu besitzen, nur diamantene Knöpfe tragen, nur Rebhühner essen, nur Ungar- oder Schiraswein trinken – würde man das vernünftig nennen?“43

Das von Kant nicht in seiner Stärke referierte Argument besagt also, dass – bei Unterstellung eines weisen Urhebers der Welt – nicht das moralisch Gute das einzige und höchste Kriterium bei der Wahl der bestmöglichen Welt gewesen sein kann, sondern die größtmögliche Vielfalt an Wesen, die sich vereinbaren lässt. Wenn es eine Welt ohne jedes moralisches Übel hätte geben sollen, wäre diese eine reduzierte Welt ohne leibhaftige Menschen geworden. Auch wüssten wir das Gute nicht in seinem Wert zu schätzen. Hierfür bedarf es der Kontrasterfahrung durch das Böse, ähnlich der Wertschätzung von Gesundheit durch Erfahrung von Krankheit. Das Verteidigungsargument stützt sich also gar nicht, wie Kant glaubt, auf die „nothwendigen Schranken der Menschheit als endlicher Natur“. Auch wird das „Wesen der Dinge“, auf das sich das Argument in der Tat stützt, nicht, wie Kant behauptet, anthropozentrisch auf die „Schranken der Menschheit“ verkürzt, da die Idee der besten aller möglichen Welten kosmologisch zu verstehen ist und da es zu der in ihr gedachten Maximalharmonie gehört, dass der Mensch hier nur eine Spezies unter zahllosen anderen ist. Erst recht aber folgt aus dem Argument nicht, wie Kant behauptet, dass das moralisch Böse den Menschen dann „nicht zugerechnet werden könne“. Somit ergibt sich als Zwischenbilanz des ersten Teils der ersten Prozessphase, dass zwar Kants Kritik des ersten (und schwächsten) Arguments völlig zutreffend ist, dass aber das zweite und dritte Argument zur Verteidigung Gottes von Kant nicht angemessen gewürdigt werden. Wenn der Richter also in dem von Kant geführten Rechtsstreit unparteiisch bilanzieren würde, müsste er einräumen, dass die gegen Gottes Vollkommenheit vorgebrachten Einwände aus der empirischen Existenz des moralisch Bösen nicht ausreichen, um Gott schuldig zu sprechen.

IV.2. Kants Kritik dreier Verteidigungsstrategien gegen die Anklagen aus dem physischen Übel Im anschließenden zweiten Teil der ersten Prozessphase kritisiert Kant drei Verteidigungsstrategien, mit denen die Vertreter der Theodizee die unter Berufung auf das existierende malum physicum formulierten Angriffe der Ankläger, d. h. „die Beschwerde, die wider die göttliche Gütigkeit aus den Übeln, nämlich Schmerzen, in dieser Welt erhoben wird“ (259, 18–19), abzuwehren versuchen. Auch diese Kritik zeigt, dass Kants Darstellung in einem Ausmaß voreingenommen zu Ungunsten der Verteidiger ist, das sich mit der Rolle eines unparteiischen Richters nur schwer verträgt. 42 Bei diesem Operntitel handelt es sich um die „tragédie lyrique“ des Jean-Baptiste Lully, die 1673 in Paris uraufgeführt wurde. Vielleicht hat Leibniz sie während seiner Pariser Zeit sogar gehört. 43 Ebd., II. Teil, § 124; GP VI, 178.

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(A.) Das erste Verteidigungsargument betrifft die quantitativen Proportionen zwischen den physischen Übeln und den physischen Gütern und besagt, dass das von Anklägerseite behauptete „Übergewicht des Übels über den angenehmen Genuß des Lebens“ nur „fälschlich angenommen“ werde. Dass vielmehr umgekehrt die Güter die Übel überwiegen, zeige sich schon darin, dass „ein Jeder, so schlimm es ihm auch ergeht, lieber leben als todt sein will“ (259, 21–24). Dieses Argument hält Kant für „Sophisterei“. Man könne es nämlich getrost „[…] dem Ausspruche eines jeden Menschen von gesundem Verstande, der lange genug gelebt und über den Werth des Lebens nachgedacht hat, um hierüber ein Urtheil fällen zu können, überlassen, wenn man ihn fragt: ob er wohl, ich will nicht sagen auf dieselbe, sondern auf jede andre ihm beliebige Bedingungen (nur nicht etwa einer Feen-, sondern dieser unserer Erdenwelt) das Spiel des Lebens noch einmal durchzuspielen Lust hätte“ (259, 28–35)44.

Auch dieser Angriff Kants gegen die Verteidiger bedarf einer Metakritik, denn Kants Erwiderung ist gleich in mehrfacher Hinsicht noch schwächer als das Argument der Verteidiger. Schwach ist das Argument der Theodizee nämlich tatsächlich, und zwar aus einem Grund, den Kant gar nicht kritisiert: Die pauschale These vom Übergewicht der Güter über die Übel entstammt einem naiv undifferenzierten Räsonnement, das zweierlei ganz vernachlässigt: Erstens bleibt hochproblematisch, wie man denn die Summe aller physischen Güter und die Summe aller physischen Übel überhaupt objektiv quantifizieren können soll, zumal eine Totalbilanz in kosmologischem Ausmaß die Fähigkeiten des Menschen weit übersteigt. (Dem widerspricht nicht, dass wir im Alltag nicht selten solche Bilanzen von Freuden und Leiden ziehen, ohne zu merken, wie subjektiv, augenblicksgebunden und einseitig sie sind.) Zweitens abstrahiert die pauschale These vom Übergewicht der Güter über die Übel auch sträflich von der durchaus ungleichen Verteilung der Güter und Übel unter die Geschöpfe und erst recht unter die Individuen der menschlichen Spezies. Da jedoch auch eine entsprechende Antithese auf Seiten der Ankläger, die umgekehrt pauschal ein Übergewicht der physischen Übel über die physischen Güter behauptet, in ähnlicher Weise unzulänglich wäre, braucht diesem Kritikpunkt hier nicht weiter nachgegangen zu werden. Umso bemerkenswerter ist jedoch, dass Kant hier geradewegs in die Falle des unreflektierten Widerspruchs tappt. Kants Erwiderung beruht insgesamt auf noch mehr problematischen Voraussetzungen und setzt sich vor allem drei metakritischen Einwänden aus. Erstens ist Kants Gegenbehauptung, dass jeder mit Urteilskraft begabte oder zur Weisheit gediehene Mensch gegen Lebensende zur Auffassung gelangen müsse, dass ein zweites Leben nicht der Mühe wert sei, selbst empirischer Art und macht sich deshalb entsprechend leicht angreifbar. Wie viele lebensbejahende und dennoch nicht minderreflektierte Senioren mag es (insbesondere in der gegenwärtigen westlichen Welt) geben, die liebend gerne ein zweites irdisches Leben anträten, wenn ihnen dies vergönnt wäre! 44 Billicsich, Bd. II, S. 227, findet diese Wertung Kants „bemerkenswert“ angesichts des Umstands, dass Kant „doch keine schweren Unglücksschläge zu erdulden hatte und sich großer Erfolge erfreuen durfte“.

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Doch selbst wenn alle Menschen (wie Kant im Jahre 1791) mit dem 68. Lebensjahre oder früher zu der Einschätzung Kants gelangten, dass ein zweites Leben nicht lebenswert wäre, so wäre das zweitens nicht unbedingt ein objektives Urteil über die wirkliche Bilanz der individuellen biographischen Summen von Freud und Leid, sondern könnte ebenso einer altersbedingten Trübung der Perspektive oder des Gedächtnisses entspringen. Auch hier mag nämlich die empirische Richtigstellung erlaubt sein, dass es auf Erden nicht wenige Menschen gibt, die, nachdem sie in ihrer Jugend alle Freuden dieser Welt ausgiebig genossen haben (manche sogar bis hin zur Krankheit), in der zweiten Lebenshälfte dann über das Elend des Lebens klagen. Dies spricht aber viel eher für ein schlechtes, undankbares Gedächtnis als für ein objektives Übergewicht der physischen Übel über die physischen Güter. Noch viel problematischer ist jedoch drittens, dass Kant auf die positive Seite nur „angenehmen Genuß“, d. h. einen subjektiv positiven Extremwert setzt, auf die negative dagegen die „zahllosen Übel und [!] Schmerzen der vernünftigen Weltwesen“ (257, 14–15), d. h. ebenso objektive wie subjektive Faktoren einbezieht. Diese unausgewogene Voraussetzung läuft darauf hinaus, das Endergebnis der Bilanz einseitig zu präjudizieren. Auch in diesem Punkt hat Leibniz wohltuende Klärungen vorgenommen, die den status controversiae ein wenig präzisieren. Dass Kant sie für seine Theodizee-Kritik nicht zur Kenntnis nimmt, hat zur Folge, dass er sich im selben Boot wie Pierre Bayle wiederfindet und sich mithin dieselbe Kritik gefallen lassen muss, die schon Leibniz an diesem übte. Um Bayles „[…] Frage, ob es mehr physisches Übel oder physisches Gute in der Welt gebe […], richtig beantworten zu können, muss man klären, worin diese Güter und Übel bestehen. Ich gebe zu, daß das physische Übel nichts anderes als Missbehagen (déplaisir) ist, und ich verstehe darunter den Schmerz, den Kummer und jede andere Art von Unannehmlichkeit (incommodité). Aber besteht das physische Gute einzig und allein im Vergnügen (plaisir)? Monsieur Bayle scheint dieser Ansicht zu sein; ich bin jedoch der Meinung, dass es auch bereits in einem mittleren Zustand wie dem der Gesundheit besteht. Man ist recht gut zurecht, wenn man kein Übel erduldet; nicht verrückt zu sein bedeutet bereits eine erste Stufe an Weisheit. […] Wie man ja auch schon sehr lobenswert ist, wenn man nicht mit Recht getadelt werden kann. […] Und unter dieser Voraussetzung sind alle Empfindungen, die uns nicht mißfallen, alle Übungen unserer Kräfte, die uns nicht unangenehm sind, deren Verhinderung uns jedoch unangenehm wäre, physische Güter, selbst wenn sie uns kein Vergnügen bereiten; denn ihr Fehlen ist ein physisches Übel. Auch werden wir uns des Gutes der Gesundheit und anderer ähnlicher Güter erst dann bewußt, wenn sie uns fehlen. Und unter dieser Voraussetzung [!] wage ich zu behaupten, daß sogar in diesem Leben die Güter die Übel überwiegen […]“45.

Leibniz räumt also explizit ein, dass seine Gegenrechnung zu Bayle auf Voraussetzungen beruht; er legt sie jedoch klar offen. Insofern muss man Leibniz sogar von dem oben gemachten Vorwurf freisprechen, bei Bilanzierung physischer Güter und Übel naiv und undifferenziert zu pauschalisieren. Umgekehrt wird man jedoch für Kant das Fazit ziehen dürfen, dass dessen polemische Abqualifizierung 45 Essais de Théodicée, III. Teil, § 251; GP VI, 266.

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des ersten Verteidigungsargumentes als „Sophisterei“ nur auf ihn selbst zurückfällt. Das Urteil dieses Richters über alle „bisherige Theodizee“ erweist sich erneut als weder unparteiisch noch elaboriert. (B.) Ein zweites Verteidigungsargument angesichts des malum physicum besagt, dass „das Übergewicht der schmerzhaften Gefühle über die angenehmen von der Natur eines thierischen Geschöpfes, wie es der Mensch ist, nicht könne getrennt werden“ (259, 36 – 260, 2). Kants Erwiderung besteht einzig in der Rückfrage, weshalb dann „der Urheber unsers Daseins uns überhaupt ins Leben gerufen“ habe, „wenn es nach unserm richtigen Überschlage für uns nicht wünschenswerth ist?“ (260, 3–6) Auch diese Kritik schreit geradezu nach einer Metakritik, da sich zweierlei auf sie erwidern lässt. Erstens zieht Kant hier eine für die historische Theodizee nicht sonderlich repräsentative Meinung heran, die er bei Pietro Verri46 kennenlernte und die den Anklägern viel zu weit entgegenkommt, da sie die Richtigkeit der Behauptung vom „Übergewicht der schmerzhaften Gefühle über die angenehmen“ bereits unterstellt. Zweitens aber ist, was Kant für einen Einwand ausgibt, gar nicht eine unfreiwillige Konsequenz des Verteidigungsarguments selbst, so dass es auch nicht geeignet ist, dieses ad absurdum zu führen. Vielmehr zeigt ein Vergleich mit Kants Kritik zu Punkt 2 (A.), dass seine scheinbar kompromittierende Rückfrage an die Theodizee in Wahrheit nur eine Konsequenz seiner eigenen Wertung ist und folglich ein persönliches Problem Kants dokumentiert. Dass Kant nämlich aus dem, was er selbst für den faktisch „richtigen Überschlag“ hält, d. h. das Überwiegen der Schmerzen über die Freuden, das normative Urteil zieht, dass das Leben dann „nicht wünschenswert“ sei, ist freilich sein gutes privates Recht. Ebenso privat ist jedoch auch seine Wertung. Und sie besagt schlechterdings gar nichts über mögliche Wertungen und subjektive Fähigkeiten anderer Menschen, auch ein an Freuden nicht eben reiches Leben, ja sogar ein schmerzbeladenes Leben dennoch als Geschenk eines gütigen Gottes aufzufassen und zu erleben. (C.) Das von Kant herangezogene und ebenfalls negativ beurteilte dritte Verteidigungsargument zur Entlastung Gottes angesichts des physischen Übels ist gleichsam pädagogischer Art und besagt, dass „der mühe- und trübsalvolle […] Zustand des gegenwärtigen Lebens“ notwendig „um einer künftigen Glückseligkeit willen“ vorhergehen müsse, damit „wir eben durch den Kampf mit Widerwärtigkeiten jener künftigen Herrlichkeit würdig werden sollten“ (260, 11–16). Mit seinem anschließenden Einwand macht Kant nun erstmals eine genuin erkenntniskritisch begründete Kritik geltend, die allerdings eher angedeutet als ausgeführt wird. Dass das Erdenleben eine „Prüfungszeit“ als Bedingung künftiger Freuden darstelle, könne „[…] zwar vorgegeben, aber schlechterdings nicht eingesehen werden, und man kann also freilich diesen Knoten durch Berufung auf die höchste Weisheit, die es so gewollt hat, abhauen, aber nicht auflösen: welches doch die Theodicee verrichten zu können sich anheischig macht“ (260, 17–25). 46 Idee sull’ indole del piacere, Livorno 1773.

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Auch hier ist Metakritik fällig. Kants Einwand bezeugt nämlich, dass er der Theodizee als solcher und generell den Erkenntnisanspruch unterstellt, sie wolle Gottes Beweggründe für die Einrichtung der Welt „einsehen“. Kant setzt also voraus, dass die historischen Repräsentanten der Theodizee, wie Boethius, Augustinus oder Leibniz, Gott nicht dadurch gegen seine Verurteilung zu verteidigen suchen, dass sie sogar den empirischen physischen Übeln einen möglichen Sinn abgewinnen, indem sie auf mögliche Beweggründe Gottes rekurrieren. Vielmehr glaubt Kant, dass die Vertreter der Theodizee beanspruchen, die wirklichen Motive Gottes erkennen zu können. Gegen diese Kritik ist wiederum zweierlei zu erwidern. Erstens ist es zwar richtig, dass alle Theodizee einen gewissen Minimalanspruch auf Erkennbarkeit des wirklichen Willens Gottes unter Prämissen des Glaubens erheben muss. Dieser erstreckt sich jedoch nur auf dasjenige, was sich z. B. unter der Glaubensvoraussetzung, dass Gott das Bestmögliche gewollt haben muss, unmittelbar schlussfolgern lässt. Für Leibniz bedeutet das etwa, dass Gott nur die Maximalharmonie gewollt haben kann, und hieraus folgert Leibniz, dass die Welt die größtmögliche Vielfalt an Arten und Individuen bei gleichzeitig größtmöglicher Einfachheit an Prinzipien aufweisen muss. Dass die historischen Vertreter der Theodizee jedoch über diese allgemeinen Beweggründe hinaus den Anspruch erhoben haben, die konkreten wirklichen Beweggründe Gottes, wie Kant glaubt, „einsehen“ zu können, muss entschieden verneint werden. Hiergegen spricht auf Seiten der traditionellen Verteidiger nicht nur die Betonung der Endlichkeit unserer Vernunft, sondern auch der häufig zu findende und keineswegs bloß rhetorische Selbstbescheidungstopos der „unerforschlichen Weisheit“ und der „unergründlichen Wege“ Gottes47. Zweitens aber ist auf Kants Kritik zu erwidern, dass selbst für den Fall, dass dieser oder jener Vertreter der Theodizee einmal den Anspruch erhoben haben sollte, dem lieben Gott in die Karten seiner pädagogischen Pläne mit dem Menschengeschlecht gucken zu können, dieser vermessene Wissensanspruch bloß akzidentell, nicht aber notwendig mit der Theodizee verknüpft wäre. Ähnlich wie Kant bei Festlegung der Beweislastverteilung einräumte, dass der Verteidiger Gottes nicht positiv „die höchste Weisheit Gottes“ zu „beweise[n]“ brauche, sondern nur negativ die Beschuldigungen ob des Weisheitsmangels als unzureichend für eine Verurteilung Gottes erweisen müsse, so braucht Theodizee nämlich gar nicht die Wirklichkeit der von ihr vorgebrachten Beweggründe Gottes darzutun. Sie muss vielmehr nur plausibel machen, dass es für diejenigen Übel, die wir hienieden erleben und die wir weder als physische noch als moralische Folgen unseres eigenen Handelns verstehen können, eine Möglichkeit des Sinnes gibt, die wir nicht im Einzelnen zu verstehen brauchen. Dass die Bereitschaft, eine solche blo47 Mit Recht hat auch Brachtendorf, S. 62, Anm. 16, – gegen die These von Schulte, S. 391, dass Kant mit der „Grundvoraussetzung aller philosophischen Theodizee seit der Antike“ breche, der zufolge „die göttliche Weisheit teleologisch alles Irdische, inclusive der mala, in einem vernünftigen und menschlich einsichtigen [!] Zweck-Zusammenhang geordnet“ habe – darauf hingewiesen, dass für Augustinus, Leibniz u. a. „dieser Zusammenhang konkret gerade nicht einsichtig ist“.

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ße Möglichkeit auch als wirklich zu akzeptieren, schon die Glaubensbereitschaft an einen Gott voraussetzt, während ein Atheist hierin wohl nur eine billige Vertröstung sehen dürfte, ist einzuräumen. Doch dürfen solche standpunktlichen Vorentscheidungen, wie ja auch Kant selbst eingangs einräumte, selbstverständlich keine Rolle im angestrebten Gerichtsprozess spielen, da „dieser Rechtshandel vor dem Gerichtshofe der Vernunft“ stattfindet (255, 20–21) und folglich die Frage, ob die Argumente der Ankläger oder die der Verteidiger stärker sein mögen, nur von der logischen Kohärenz und Stringenz rationaler Argumentation abhängen kann, nicht aber von weltanschaulichen Prämissen. Dass es für den Zweck der Verteidigung, die aus der Empirie geholten Anklagegründe hinsichtlich der physischen Übel als unzulänglich für eine Verurteilung Gottes zu erweisen, völlig hinreicht, die bloße Möglichkeit glaubenskonformer Beweggründe Gottes aufzuzeigen, ohne den Anspruch auf Einsehbarkeit ihrer Wirklichkeit erheben zu müssen, hierfür ist Leibniz wieder ein gutes Beispiel. „Monsieur Bayle scheint aber ein wenig zu viel zu verlangen: Er möchte, daß man ihm im einzelnen zeige, auf welche Weise das Übel mit dem bestmöglichen Plan für das Universum verknüpft sei. Das wäre eine vollständige Erklärung der Erscheinung. Eine solche aber unternehme ich gar nicht und bin auch nicht dazu verpflichtet, denn man ist nicht zu etwas verpflichtet, was uns in unserem gegenwärtigen Zustand unmöglich ist. Hier genügt es darauf hinzuweisen, daß nichts daran hindert, daß ein besonderes Übel sehr wohl mit dem allgemeinen Besten verknüpft sein kann. Diese unvollständige Erklärung, die auch im anderen Leben noch etwas zu ergründen übrig läßt, reicht zur Widerlegung der Einwände, nicht aber zur Einsicht in die Sache aus“48.

Leibniz flankiert diese ironische Volte gegen einen Anspruch, für jegliches Übel eine wohlfeile Erklärung verlangen zu dürfen, durch die Ermahnung, es auch in diesem Punkt lieber mit der docta ignorantia als mit der unbescheidenen Wissensprätention zu halten. Deshalb lokalisiert er auch gerade jene Anmaßlichkeit, die Kant auf Seiten der Verteidiger zu sehen glaubt, vielmehr auf der Seite bestimmter Ankläger, zu denen er auch Bayle zählt. Der „Gegenstand Gottes“ und „seine Sorgen umfassen das Universum. Was wir davon kennen, ist beinahe nichts im Vergleich zu dem, was wir nicht kennen. Und doch wollen wir seine Güte und seine Weisheit mit unserem Wissen messen: welche Vermessenheit (quelle témérité), oder besser, welche Torheit (quelle absurdité)!“49

Leibniz beschränkt demnach die Theodizee nachweislich auf die Einsehbarkeit möglicher, nicht aber der wirklichen Beweggründe Gottes, wie Kant annimmt. Bilanziert man den zweiten Teil der ersten Prozessphase unvoreingenommen, so wird eine Prüfung der Kant’schen Kritik auch hier zu dem Ergebnis gelangen, dass Kant die Argumente der Verteidigung in einem Ausmaß verkürzt, ja verdreht, das mit der Rolle eines Richters unverträglich ist.

48 Essais de Théodicée, II. Teil, § 145; GP VI, 196. 49 Ebd., II. Teil, § 134; GP VI, 188.

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IV.3. Kants Kritik dreier Verteidigungsstrategien gegen die Anklage fehlender Strafgerechtigkeit Kant beschließt seine erste Prozessphase, in der er das Scheitern aller bisherigen Theodizee nachzuweisen beabsichtigt, mit einer Kritik dreier Verteidigungsstrategien gegen die Anklage „wider die Gerechtigkeit des Weltrichters“ (260, 26–27). Wie schon in Kap. III unserer Untersuchung erläutert, schränkt er hierbei die Gerechtigkeit Gottes erstens auf die Korrektivgerechtigkeit ein und zweitens auch diese noch einmal auf die strafende Gerechtigkeit, indem er die Frage nach der belohnenden Gerechtigkeit ausklammert. (A.) Ein erstes Verteidigungsargument, das – zumindest in einer abgeschwächten Form – historisch z. B. von Shaftesbury vertreten wurde, besagt, dass eine wirkliche „Straflosigkeit der Lasterhaften in der Welt“ gar nicht existiere; vielmehr führe „jedes Verbrechen seiner Natur gemäß schon hier die ihm angemessene Strafe bei sich […], indem die innern Vorwürfe des Gewissens den Lasterhaften ärger noch als Furien plagen“ (261, 1–4). Da Kant das Argument so referiert, dass es die universelle Proposition einschließt, „jedes Verbrechen“ werde von Gott bestraft, ist sein Einwand hier völlig zutreffend: Das Argument unterstellt in der Tat beim „Lasterhaften“ fälschlich schon jene Gewissensskrupel, von denen doch nur der „tugendhafte Mann“ oder zumindest derjenige Mensch gepeinigt wird, dessen Gewissen noch nicht verstummt ist. Der Lasterhafte dagegen „lacht“ nur über diese „Ängstlichkeit der Redlichen“ (261, 5–17). Gleichwohl macht Kant auch in diesem Falle das Argument schwächer, als es ist, so dass eine Metakritik nötig ist. Indem Kant nämlich sein Gegenbeispiel auf den Extremfall des „Lasterhaften“ zuspitzt, also auf den Gegensatz zum „tugendhaften Mann“, bedient er sich eines Schwarz-Weiß-Modells, das die unterschiedlichen Grade an moralischer Verwerflichkeit der Gesinnung und des Handelns, folglich aber auch die unterschiedlichen Grade an möglicher Gewissenlosigkeit, gänzlich vernachlässigt. Da Kant hier letztlich empirisch argumentiert, ist ihm entgegenzuhalten, dass man zwar bei den Exemplaren einer habituellen und zum Charakter verfestigten moralischen Beeinträchtigung, wie es etwa bei einem völlig skrupellosen Schwerverbrecher oder bei bestimmten Formen der Psychopathie und Soziopathie der Fall sein mag, wahrscheinlich eher nicht nach einem strafend nagenden Gewissenswurm suchen darf, dass man aber bei allen anderen, weniger schwerwiegenden Formen moralischer Beeinträchtigung Grund hat anzunehmen, dass die Phänomene der Reue und des Leidens an eigener Schuld je nach dem Schweregrad auch mehr oder weniger stark verbreitet sind. Man denke hier nur an die nicht wenigen Individuen, die ihr ganzes Leben für zerstört halten, weil sie mit einer eigenen begangenen moralischen Verfehlung nicht fertig werden. Kants Einwand ist deshalb zwar partiell zutreffend, bleibt aber nichtsdestoweniger weit davon entfernt, die wohlverstandene These der Verteidiger zu widerlegen, dass es ungeachtet des offenkundigen Fehlens eines Automatismus zwischen moralischer Schuld und ihrer Bestrafung dennoch bereits in diesem Leben gewisse intrinsische Strafen für moralisch Böses gibt. Auch bei diesem Kritikpunkt fällt es schwer zu glauben, dass es ein logischer Schnitzer oder eine theore-

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tische Unaufmerksamkeit war, die Kant zu seiner einseitigen Aburteilung der Verteidigerseite verleitete. Vielmehr wird man um das Urteil nicht herumkommen, dass Kants geradezu aberwitzige Unterstellung, irgendein ernstzunehmender Vertreter der Theodizee habe jemals behauptet, dass „jedes [!] Verbrechen seiner Natur gemäß schon hier die ihm angemessene Strafe bei sich führe“, nur auf der Grundlage eines starken Affektes, ja eines Ressentiments gegen die Theodizee erklärlich ist. Dieser Befund gilt in ähnlicher Weise auch für die beiden letzten Punkte der ersten Prozessphase. (B.) Ein zweites Verteidigungsargument besagt, dass zwar nicht zu leugnen sei, dass auf Erden weitgehend ein „der Gerechtigkeit gemäßes Verhältniß zwischen Schuld und Strafen“ fehlt. Die Erfahrung zeige in der Tat nicht wenige Beispiele von Lebensläufen, in denen ausgerechnet die Gerechten leiden, während umgekehrt „oft ein mit schreiender Ungerechtigkeit geführtes Leben“ doch „bis ans Ende“ als ein „glückliches“ wahrgenommen wird. Diesem vielleicht härtesten, moralisch am meisten empörenden Phänomenkreis, durch den sich die Theodizee seit ihren Anfängen herausgefordert weiß50, suchen Verteidiger mit folgendem Gegenargument die Kraft zu nehmen: Die Tugend werde ihrem eigenen Selbstverständnis nach gerade durch ungerechtes Leiden in ihrem „Werth“ erhoben, da es zur „Eigenschaft der Tugend“ gehöre, „mit Widerwärtigkeiten zu ringen“, so dass erlittene Ungerechtigkeit gleichsam den „Wetzstein der Tugend“ bilde (261, 19–30). Kants Einwand besteht (was nur auf den ersten Blick überrascht) nicht etwa darin, dieses Argument gänzlich von der Hand zu weisen. Für eine generelle Zurückweisung finden sich in Kants moralphilosophischen Schriften auch viel zu viele stoische Züge, die einem vergleichbaren moralischen Heroismus nahe kommen, der aus der Erhabenheit über die Neigungen der Selbstliebe und aus der Bezwingung natürlicher wie sozialer Widerstände geradezu seine Energie schöpft. Kant hält vielmehr das Argument, dass „ungerechtes Leiden“ bzw. das „Glück des Lasterhaften“ erst nach einer Zeit der Bewährung durch eine gleichsam genugtuende Verkehrung der Verkehrung wieder ausgeglichen wird, durchaus für plausibel in denjenigen Fällen, in denen der ungerecht Leidende noch vor seinem Tod die Bestrafung der an seinem Leiden schuldigen Missetäter erlebt. Das Verteidigungsargument verfange dagegen nicht, wenn selbst am Lebensende die genugtuende Bestrafung der Bösen ausbleibe. Die bloße „Möglichkeit“ einer erst im anderen Leben stattfindenden Strafgerechtigkeit könne nämlich „nicht für Rechtfertigung der Vorsehung gelten“, sondern sei „bloß ein Machtspruch der moralischgläubigen Vernunft, wodurch der Zweifelnde zur Geduld verwiesen, aber nicht befriedigt wird“ (262, 4–8). Eine Metakritik des Kant’schen Einwandes muss zunächst sicherlich einräumen, dass die empirischen Fälle von Leiden bei moralisch integeren Menschen, die ihre Peiniger ein scheinbar glückliches Leben führen sehen, gewiss zu den denkbar härtesten Herausforderungen zählen, die es für den Glauben an einen 50 Vgl. etwa H. J. Klimkeit: „Der leidende Gerechte in der Religionsgeschichte“, in: H. Zinser (Hrsg.): Religionswissenschaft, Berlin 1988, S. 164–184.

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gütigen und gerechten Gott geben kann. Gleichwohl ist gegen Kants Einwand dreierlei zu erwidern: Erstens lässt Kant hier erneut alle Differenzierungen sowohl des Leidens gerechter als auch des Glückes ungerechter Personen weg, so dass unklar bleibt, an welche Fallbeispiele man hier zu denken hat. Wenn etwa die Leiden eines moralisch hochwertigen Menschen (seien sie körperlichen oder seelischen Ursprungs) nicht sehr gravierend ausfallen, ist auch die „Dissonanz der unverschuldeten Übel des Lebens“ (261, 29–30) nicht sonderlich der Rede wert. Wenn aber das Leiden sogar – wie Kant hier primär vor Augen zu haben scheint und wie auch seine Bemerkung bestätigt, dass das Lebensende des ungerecht Leidenden dann „widersinnig“ ausfalle (261, 36) – nicht einmal so sehr in körperlichen oder seelischen Schmerzen besteht, sondern vielmehr nur im empörenden Bewusstsein, dass im Vergleich zum eigenen Leben die Schurken gut davonkommen, so wäre ohnehin zurückzufragen, ob ein solches ausschließliches Leiden am verletzten Gerechtigkeitsgefühl selbst nicht seinerseits moralisch fragwürdig genannt werden müsste, da es einem bloßen Rachebedürfnis, das sich zudem noch am eigenen erlittenen Unrecht entzündet, bedenklich nahekommt. (Um positive Belohnungen für Tugend darf es nach Kants Voraussetzungen, wie oben in Kap. III erläutert, hier ohnehin nicht gehen.) Ernstzunehmende Gegenstände des Kant’schen Widerspruchs können demnach nur gravierende Fälle einer moralischen Disproportionalität unverdienten Leidens bzw. ungesühnter Schuld sein. Zweitens muss sich Kant gerade an dieser Stelle eine Frage gefallen lassen, die man eigentlich an seine ganze Schrift zurückgeben muss, die sich aber hier ganz besonders aufdrängt und deshalb in der Kantforschung auch zu diesem Punkt aufgeworfen wurde: Wie will Kant vermeiden, dass seine Abqualifizierung des Verteidigungsarguments als „Machtspruch der moralisch-gläubigen Vernunft, wodurch der Zweifelnde zur Geduld verwiesen, aber nicht befriedigt wird“, nicht für seine eigene Theorie eine höchst destruktive Nebenwirkung entfaltet? Kant zerschlägt hier nämlich derart viel Porzellan, dass auch sein eigenes, aus praktischem Fürwahrhalten motiviertes Ideal des höchsten Gutes, das eine Proportionalität von moralischem Lebenswandel und verdientem Glück bzw. Unglück zum Gegenstand des Hoffens macht, erheblich beschädigt wird51. Da Kants Ideal des höchsten Gutes sich an denselben zweckwidrigen Phänomenen messen lassen muss wie die sog. „doktrinale Theodizee“, würde Kants eigenes Ideal hier unbe-

51 So schon Kremer, S. 167–168: „Das Schlimmste an Kants Beweisführung ist aber nun, dass sie sich ebensowohl gegen ihn selbst und seine ‚authentische‘ Theodizee richtet, wie gegen die ‚doktrinale‘“. Und Kremer gibt folgende treffende Erläuterung: „Das angegriffene Argument, dass das Leiden mit der Tugend in moralischer Übereinstimmung sei, stimmt vollkommen mit Kants Lehre überein, der die Tugend in der Pflichterfüllung wider die eigne Neigung sieht und sie also für notwendig mit Unlust verbunden halten muss; und seine eigene Theodicee, die auf dem Machtspruch der moralisch-gläubigen Vernunft, auf der notwendigen Idee der mit Tugend (als Glückswürdigkeit) verbundenen Glückseligkeit beruht, unterliegt eben derselben Einwendung, die er gegen die theoretische Theodicee macht: dass auf eine solche künftige Ausgleichung, auf eine göttliche Gerechtigkeit nach unseren Begriffen nicht zu hoffen sei“.

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absichtigt die Züge eines credo quia absurdum bekommen, wenn sein Einwand triftig wäre. Drittens aber ist auf Kant in sachlicher Hinsicht zu erwidern, dass seine streng zweigeteilte Beurteilung der Phänomene durch das Kriterium des Todes des ungerecht Leidenden nicht einleuchtet. Freilich ist es trivial, dass die Hoffnung auf eine erst post mortem sich einstellende Proportionalität von Glück und moralischem Lebenswandel für diejenigen, die ohnehin an einem künftigen Leben zweifeln, eine groteske Zumutung an Vertröstung darstellt. Denjenigen hingegen, die trotz allen Zweifeln letztlich ein vergleichbares Ausmaß an empirisch unanfechtbarer Glaubensstärke aufbringen wie der von Kant als leuchtendes Vorbild hingestellte Hiob (265, 1 – 267, 14), mögen deshalb sehr wohl eine mögliche „Rechtfertigung der Vorsehung“ in dem Gedanken finden, dass erst im künftigen Leben ihre moralischen Verdienste belohnt bzw. die Freveltaten der Schuldigen bestraft werden. Doch auch ungeachtet dieser glaubenspsychologischen Voraussetzungen bleibt festzuhalten, dass die normative Rechtfertigungsleistung eines Verteidigungsarguments nicht abhängt von der faktischen Überzeugungskraft gegenüber Zweifelnden. (C.) Das dritte und letzte Verteidigungsargument, mit dessen Kritik Kant die erste Phase seines Gerichtsprozesses beschließt, ist von der Sache her eigentlich unauflöslich mit dem gerade erörterten verknüpft, so dass es sich von diesem kaum trennen lässt. Es besagt nämlich, dass zwar in diesem Leben „alles Wohl oder Übel bloß als Erfolg aus dem Gebrauche der Vermögen der Menschen nach Gesetzen der Natur proportionirt ihrer angewandten Geschicklichkeit und Klugheit“ sowie zufälligen Umständen „beurtheilt werden“ müsse, dass aber „in einer künftigen Welt […] sich eine andere Ordnung der Dinge hervorthun“ werde, in der „jedem zu Theil“ werde, „wessen seine Thaten hienieden nach moralischer Beurtheilung werth sind“ (262, 11–19). Kants Einwand lautet: Eine solche Aufspaltung der Ordnungen für beide Leben sei „willkürlich“. Weil nämlich die Vernunft „für ihre theoretische Vermuthung“ keinen anderen „Leitfaden“ besitze als „das Naturgesetz“, so müsse sie es „nach bloßen Regeln des theoretischen Erkenntnisses“ auch „wahrscheinlich finden: dass der Lauf der Welt nach der Ordnung der Natur, so wie hier, also auch fernerhin unsre Schicksale bestimmen werde“. Folglich könne Vernunft auch nur folgern, „dass die Übereinstimmung des Schicksals der Menschen mit einer göttlichen Gerechtigkeit nach den Begriffen, die wir uns von ihr machen, so wenig dort wie hier zu erwarten sei“ (262, 19–37). Die metakritische Beurteilung des Kant’schen Einwandes wird Kant zwar zunächst in dem Punkt zustimmen, dass eine derartige „Auflösung“ des „unharmonischen Verhältnisses zwischen dem moralischen Werth der Menschen und dem Loose, das ihnen zu Theil wird“, in der Tat völlig willkürlich erscheinen muss. Mehr noch: Da sich, wenn auch (wie oben unter 3 A. erläutert) nur innerhalb gewisser Grenzen, bereits in diesem Leben Phänomene der reuigen Zerknirschung und des Leidens an eigener Schuld ebenso finden lassen wie gewisse Formen moralischer Genugtuung, muss die von Kant zu Recht kritisierte Zweiteilung, derzufolge es in diesem Leben keinerlei Korrespondenz von Moral und Glück gebe,

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sondern ausschließlich im künftigen, als eine völlig künstliche und kontraintuitive Gedankenkonstruktion erscheinen. Ein erster Einwand gegen Kant muss aber gerade deshalb auch lauten, dass er hier wieder einmal das Argument der Verteidigung schwächer macht, als es ist, indem er eine Karikatur zeichnet. Es bleibt demnach zu erwidern, dass die in der Tat willkürliche Aufspaltung in ein irdisches Leben einerseits, das unter dem völlig morallosen „Naturgesetz“ des Ellenbogens stehe (262, 26), und in ein von moralischen „übersinnlichen Zwecken“ regiertes künftiges Leben andererseits (262, 16) gar kein notwendiger Bestandteil des wohlverstandenen Arguments einer göttlichen Korrektivgerechtigkeit ist52. In der von Kant kritisierten Tradition war deshalb auch der Gedanke weit üblicher, dass eine moralische Weltordnung grundsätzlich in beiden Leben herrscht, dass sich diese aber (aus Gründen, die wir nicht einsehen) im diesseitigen Leben nur ansatzweise und unvollkommen realisiert, während sie ihre vollständige Verwirklichung erst im künftigen Leben findet. Aus dieser ersten metakritischen Erwiderung ergibt sich als zweite, dass Kant bei seinem inszenierten Gerichtsverfahren über seiner Abfertigung einer Karikatur gar nicht erst die ernstzunehmenden Versuche der Theodizee eines Blickes würdigt, den Theologumena des Purgatoriums und des Infernums einen subtilen Sinn abzugewinnen. Man denke hier nur an Leibniz’ aufklärerisch motivierte Deutung der ewigen Höllenstrafen als Strafen eines zur Reue nicht bereiten Gewissens – eine Deutung übrigens, die durchaus auf einer Linie mit Kants eigener in der Religionsschrift skizzierten Auffassung vom erwachenden Gewissen liegt.

IV.4. Zwischenbilanz: Inwiefern ist alle bisherige Theodizee misslungen? Bilanziert man die erste Prozessphase als ganze, so ist natürlich primär die Frage zu beantworten, inwiefern Kant sein erstes Beweisziel erreicht, d. h. den Nachweis erbracht hat, „daß alle bisherige Theodicee das nicht leiste, was sie verspricht, nämlich die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel, die dagegen aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt zu erkennen giebt, gemacht werden, zu rechtfertigen“ (263, 2–5).

Der Einfachheit halber soll hierbei ganz von der methodischen Fragwürdigkeit abgesehen werden, wie sich Kants Anspruch rechtfertigen lässt, „alle bisherige Theodizee“ auf drei mal drei Argumente zu reduzieren, die er noch dazu auf weniger als sechs Seiten darzustellen und zu entkräften versucht. Zunächst ist festzustellen, dass der „Rechtshandel“, den Kant richterlich entscheiden zu können glaubt, mehrere Anomalien aufweist, die mit einem ordentlichen, fairen Prozess nicht vereinbar sind: (a.) Der Richter bilanziert hier nicht etwa in unparteiischer Intention, auf einer Reflexionsstufe zweiter Ordnung, auf 52

Insofern verfehlt auch der folgende Einwand von Billicsich, Bd. II, S. 229, Anm 14, den Kern: „Dies scheint der schwächste Punkt der Kantischen Argumentation. Die Ordnung in einer künftigen Welt kann doch eine andere sein als hier. Der Einwand Kants, daß auf einen gerechten Ausgleich dort nach unseren Begriffen nicht zu hoffen sei, würde sich auch gegen eine ‚authentische‘ Theodizee richten“.

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die begrenzten Plausibilitäten beider Seiten. Vielmehr wechselt er selbst ständig zwischen Richterstuhl und Anklagebank hin und her, um die Argumente der Ankläger stark zu machen. (b.) Es fehlt, mit Ausnahme jener in 256, 3–9 formulierten abstrakten Konzession, an die sich Kant aber selbst nicht hält, jede richterliche Reflexion auf die konkrete Beweislastverteilung. Stattdessen werden die Verteidiger mit unterstellten Beweisansprüchen auf reine Einsicht in Gottes Motive überfrachtet. Auch ist es zu viel verlangt, von den Vertretern der Theodizee, die aus dem Glauben heraus argumentieren, zu erwarten, dass sie sämtliche „Zweifel“ der Ankläger zum Verstummen bringen, zumal sich diese auf empirische Evidenzen berufen. (c.) Gar nicht erst thematisiert wird die ‚juristisch‘ alles entscheidende Frage, ob es den Verteidigern nicht trotz der Voraussetzungen, die sie machen müssen, aufgrund plausibler Möglichkeiten von Sinnstiftung gelingt, zu jedem der drei Anklagegründe mindestens eine, wenn nicht gar mehrere argumentative Möglichkeiten der Entlastung Gottes aufgezeigt zu haben, um auf diese Weise die Verurteilung des Angeklagten nach dem Muster eines Indizienprozesses als leichtfertig zu erweisen. Jeder unvoreingenommene Prozessbeobachter würde diese Frage wohl bejahen und einräumen, dass den vorgebrachten Übeln oder Zweckwidrigkeiten zahlreiche Güter bzw. Zweckerfüllungen gegenüberstehen. (d.) Der Richter dieses Verfahrens beherzigt weder den Grundsatz des „audiatur et altera pars“ noch den des „in dubio pro reo“, sondern steht von Beginn bis zum Ende auf Seiten der Ankläger. Wenn es sich um einen realen Gerichtsprozess handelte, müsste man den Verteidigern wohl grobe Inkompetenz vorwerfen, wenn sie gegen einen solchen Richter keinen Antrag auf Befangenheit stellten. Kant selbst scheint in seiner eigenen Zwischenbilanz zur ersten Prozessphase in gewisser Weise sogar einzuräumen, dass ihr Ergebnis nicht ausreicht, den Angeklagten namens Gott der mangelnden moralischen Vollkommenheit anzuklagen. Er bleibt nämlich bei seinem Fazit in einem verblüffenden Widerspruch befangen, dessen er sich offensichtlich nicht bewusst ist: Einerseits glaubt er nämlich feststellen zu dürfen, dass der bisherige „Ausgang dieses Rechtshandels“ zeige, „daß alle bisherige Theodicee das nicht leiste, was sie verspricht, nämlich die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel, die dagegen aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt zu erkennen giebt, gemacht werden, zu rechtfertigen: obgleich freilich diese Zweifel als Einwürfe […] auch das Gegentheil nicht beweisen können“ (263, 1–8).

Dieses Ergebnis bedeutet also eine Form des Einstands aufgrund der Isosthenie der Argumente aufseiten der Ankläger und der Verteidiger. Wenn dies aber so ist, so läuft das bisherige Ergebnis – bei Zugrundelegung des Rechtsprinzips „Im Zweifel für den Angeklagten“ – auf einen Freispruch Gottes aus Mangel an Beweisen hinaus. Dass dies tatsächlich Kants eigene Auffassung ist, verrät der zweite Teil der Zwischenbilanz, die den Übergang zur zweiten Prozessphase bildet. Auch dort räumt Kant nämlich ein, dass das bisherige Ergebnis auf einen Freispruch aus Mangeln an Beweisen (eine absolutio ab instantia53) hinausläuft:

53 Zum juristischen Terminus siehe die Erläuterungen und Literaturhinweise bei Brachtendorf, S. 75, Anm. 49, und Dieringer, S. 113–114., Anm. 166.

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„Ob aber nicht noch etwa mit der Zeit tüchtigere Gründe der Rechtfertigung derselben erfunden werden könnten, die angeklagte Weisheit nicht (wie bisher) bloß ab instantia zu absolviren: das bleibt dabei doch noch immer unentschieden, wenn wir es nicht dahin bringen, mit Gewißheit darzuthun: daß unsre Vernunft zur Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermögend sei; denn alsdann sind alle fernere Versuche vermeintlicher menschlicher Weisheit, die Wege der göttlichen einzusehen, völlig abgewiesen“ (263, 8–17).

Wenn Kant jedoch selbst der Auffassung ist, dass der Angeklagte namens Gott nach dem bisherigen Teil des Prozesses freizusprechen ist, und sei es auch nur aus Mangel an Beweisen, so bleibt andererseits zu fragen, warum er dieses für die Theodizee doch höchst erfolgreiche Ergebnis dann so negativ bilanziert, dass sie „das nicht leiste, was sie verspricht“. An Kant bleibt deshalb die Frage zurückzugeben, was Theodizee in ihrer Geschichte denn mehr versprochen haben soll als dies, die Anklagen gegen Gott als unzureichend zu erweisen. Erneut scheint sich zu bestätigen, dass Kant die Theodizee zunächst mit Ansprüchen überfrachtet, um sie dann dafür kritisieren zu können. Hiergegen bleibt zu erwidern, dass Theodizee grundsätzlich keinen höheren Anspruch erheben kann und erhoben hat als den negativen, die Anklage Gottes wegen mangelnder Heiligkeit, Gerechtigkeit und Güte als unzulänglich zu erweisen. Was Kant als Ziel der Theodizee beschreibt, nämlich „die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel […] zu rechtfertigen“, kann ja, wie er selbst auch konzediert, prinzipiell niemals eine positive Rechtfertigung in dem Sinne sein, dass gleichsam die Unschuld des Angeklagten bewiesen würde; sie kann vielmehr nur eine negative Rechtfertigung in dem Sinne sein, dass die vorgebrachten Belastungsgründe für die angebliche Schuld als unzureichend für eine Verurteilung erwiesen werden. Dies bestätigt Kant zum einen durch das schon zitierte Argument, dass der Vertreter der Theodizee es „nicht nöthig“ habe sich darauf einzulassen, „daß er die höchste Weisheit Gottes“ aus der Erfahrung von Zweckmäßigkeit oder Güte „sogar beweise“, da hierzu „Allwissenheit […] erforderlich“ wäre (256, 3–9). Zum anderen bestätigt Kant den negativen, defensorischen Charakter von Theodizee auch dadurch, dass er ihrem „Verfasser“ die Aufgabe zuschreibt, „den angeklagten Theil als Sachwalter durch förmliche Widerlegung aller Beschwerden des Gegners zu vertreten“ (255, 20–23). Angesichts dieser inneren Widersprüchlichkeit der Kant’schen Wertung, der zufolge die bisherige Theodizee einerseits an ihren falschen Versprechungen gescheitert sein soll, andererseits aber im Ergebnis eine Art Freispruch des Angeklagten wegen Unzulänglichkeit der Anklagegründe zu erwirken fähig ist, wird man wohl zu folgendem Urteil gelangen müssen: Kant hat es im ersten Teil seiner Theodizee-Kritik über seiner Kritik der Einzelargumente versäumt, die allgemeinen Kriterien dafür zu klären, wann Theodizee als misslungen und wann als gelungen bezeichnet werden kann. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass ihm auch sein eigener Wertungswiderspruch unbemerkt blieb.

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V. ZWEITE PROZESSPHASE: GRUNDSÄTZLICHE KRITIK ALLER THEODIZEE ÜBERHAUPT Wie in Kap. II geklärt, besteht Kants zweites Beweisziel, dem die zweite Prozessphase gewidmet ist, darin, die prinzipielle Unmöglichkeit jeder sog. doktrinalen Theodizee mit Hilfe eines erkenntniskritischen Grundsatzeinwandes zu erweisen. Hiernach beansprucht Theodizee angeblich „eine Einsicht, zu der kein Sterblicher gelangen kann“ (264, 6). Sie beansprucht nämlich, wie Kant meint, „Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit stehe“, wozu sie freilich „schlechterdings unvermögend sei“, weil der Anspruch darauf hinauslaufe, „die Wege der göttlichen [Weisheit] einzusehen“. Kant will folglich den ganzen Prozess der Theodizee „für immer […] endigen“ durch das richterliche Urteil, dass die von der Theodizee beanspruchten Einsichten für unsere endliche Vernunft „zu hoch“ sind (263, 12–21). Um diesen grundsätzlichen Nachweis der Unmöglichkeit von Theodizee zu erbringen, zieht Kant das Begriffspaar von „Kunstweisheit“ und „moralischer Weisheit“ heran, weil mit ihm jene beiden Extreme göttlicher Weisheit bezeichnet sind, deren innere Verbindung Theodizee nach Kants Meinung einzusehen sich anmaßt. Diese Anmaßung ist demnach so zu verstehen, dass sie in der prätendierten „Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen mögen [Kunstweisheit], zu der höchsten Weisheit [moralische Weisheit] stehe“, liegt54. Wie Kant im Sinne der Kritik der Urteilskraft einräumt, gibt die „Teleologie“ (und durch sie auch die „Physikotheologie“) „reichliche Beweise“ für die Kunstweisheit Gottes „in der Erfahrung“, d. h. für eine im Schönen und Lebendigen kunstvoll und zweckmäßig eingerichtete Natur (256, 25–29). Umgekehrt können wir nach Kant „auch einen Begriff von einer moralischen Weisheit, die in eine Welt überhaupt durch einen vollkommensten Urheber gelegt werden könnte, an der sittlichen Idee unserer eigenen praktischen Vernunft“ entwickeln (263, 25–27). Wovon wir jedoch angeblich „keinen Begriff“ haben und auch „nie zu gelangen hoffen“ dürfen, ist die „Einheit in der Zusammenstimmung jener Kunstweisheit mit der moralischen Weisheit in einer Sinnenwelt“ (ebd., 28– 31)55. Und folglich „gilt“ von der empirisch konstatierbaren Kunstweisheit des 54 Leider ist Kants Begründung dafür, weshalb dieser Anspruch auf Einsehbarkeit des Verhältnisses zwischen Gottes Kunstweisheit und Gottes moralischer Weisheit verfehlt sei, auf zwei unterschiedliche Textteile verteilt, da zwar seine Erläuterung von „Kunstweisheit“ und „moralischer Weisheit“ in einer frühen Fußnote erfolgt (256, 18–40), sein erkenntniskritischer Einwand jedoch erst später ausgeführt wird (263, 22 – 264, 6). Deshalb müssen beide Stellen zusammengenommen werden. 55 Diese Behauptung ist natürlich strenggenommen falsch. Denn es ist von der Kritik der reinen Vernunft her betrachtet zwar in der Tat nicht möglich, einen anschaulich erfüllten Begriff der genannten Einheit zu erlangen. Daraus folgt jedoch keineswegs, dass wir von ihr überhaupt „keinen Begriff“, d. h. auch keinen problematischen Begriff haben könnten. Kohärente, widerspruchsfreie Begriffe können wir nämlich auch nach Kant nicht bloß von Wirklichem, sondern auch von Möglichem haben. Andernfalls müsste man denn folgern, dass wir z. B. auch von Freiheit keinen Begriff haben können, weil dieser nicht empirisch erweislich ist.

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Schöpfers in seiner Schöpfung „kein Schluß auf die moralische Weisheit des Welturhebers, weil Naturgesetz und Sittengesetz ganz ungleichartige Principien erfordern, und der Beweis der letztern Weisheit gänzlich a priori geführt, also schlechterdings nicht auf Erfahrung von dem, was in der Welt vorgeht, gegründet werden muß“ (256, 25–33). Eine Metakritik dieser Kant’schen Grundsatzkritik wird zunächst einräumen, dass – die Gültigkeit der Kant’schen Erkenntniskritik einmal vorausgesetzt –, Kants These von der Uneinsehbarkeit des Verhältnisses zwischen der Kunst in der Natur (als dem Phänomenalen) einerseits und der moralischen Gestaltung des Weltlaufs (als dem Intelligiblen) andererseits völlig plausibel ist. Fragwürdig ist dagegen, mit welchem Recht Kant der Theodizee den Anspruch unterstellt, dieses Verhältnis überhaupt erkennen zu wollen. Auch hier ist der Befund unabweislich, dass Kant der Theodizee Erkenntnisansprüche unterstellt, die vielleicht akzidentell bei diesem oder jenem Theoretiker einmal erhoben worden sein mögen, die aber insgesamt mit dem Hauptgeschäft der Theodizee, Gottes moralische Weisheit gegen die Anklage aus den empirischen Übeln zu verteidigen, keineswegs in einem notwendigen Zusammenhang stehen. Auch historisch dürfte es kaum belegbar sein, dass – mit Ausnahme vielleicht der physikotheologisch inspirierten Literatur – eine Mehrheit ihrer Vertreter von der Theodizee verlangt hat, sie müsse zugleich die moralischen Vollkommenheiten Gottes aus der teleologischen Vollkommenheit der Natur erweisen. Im Übrigen ist aber die Frage, ob und wie sich die Existenz Gottes und seiner moralischen Vollkommenheit empirisch erweisen lasse, gar nicht Gegenstand von Theodizee. Vielmehr wäre Theodizee auch unnötig und überflüssig, wenn jene Güte und Gerechtigkeit Gottes, die doch allererst gegen die Ankläger als verteidigungsfähig erwiesen werden soll, umgekehrt bereits vorab aus der Kunst der Natur erwiesen werden könnte. Auch für eine theoretisch-spekulative Theodizee (die im Sinne Kants „doktrinal“ genannt werden könnte) reicht es völlig hin, aus der Glaubensvoraussetzung der Vollkommenheiten Gottes hypothetische Schlussfolgerungen abzuleiten, um die aus der Empirie vorgebrachten Anklagen als unzureichend für eine Verurteilung zu erweisen. Als Beispiel für eine solche Theodizee, die Gottes moralische Vollkommenheiten bei ihrer argumentativen Verteidigung bereits voraussetzt, kann wiederum Leibniz gelten. Obwohl wir nämlich nach Leibniz auch durch Vernunft erkennen können, „daß es ein einziges, vollkommen gutes und weises Prinzip aller Dinge gibt“, und obwohl wir, wenn wir die „universale Harmonie“ richtig verstünden, wir sogar „sehen und nicht bloß glauben“ müssten, „daß das, was Gott gemacht hat, das Beste ist“, macht Leibniz innerhalb seiner Theodizee überhaupt keinen Gebrauch von dieser Erkenntnisart; vielmehr setzt er die drei auch von Kant genannten moralischen Vollkommenheiten (als Inbegriff der moralischen Weisheit) Gottes bei deren Verteidigung einfach voraus und beschränkt sich auf eine Argumentation a priori: „Es kann nichts von Gott kommen, was nicht vollkommen seiner Güte, seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit entspricht“56. Aus dieser Glaubensprämisse werden dann die zur theoretischen Abwehr der An56 Essais de Théodicée, Disc. prél. 35; GP VI, 70.

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klagegründe benötigten allgemeinen Sätze geschlussfolgert: Wenn Gott gut und gerecht ist, kann er keine unvollkommene, sondern muss die beste Welt gewollt und geschaffen haben, die grundsätzlich möglich ist. Diese beste aller möglichen Welten kann nur diejenige sein, die möglichst vielen Geschöpfen die Existenz schenkt, muss also größtmögliche Fülle an Arten und Individuen mit gleichzeitiger Einfachheit der Prinzipien verbinden. In einem solchen Optimum sind das malum physicum und das malum morale nicht vermeidbar. Und folglich haben wir überall dort, wo wir Übel antreffen, die wir selbst nicht verhindern können, Grund dafür anzunehmen, dass sie in Gottes Ökonomie unvermeidbar waren. Usw. Eine derartige Verteidigung Gottes, die ihre eigene Glaubensprämisse eingesteht, ist zwar durchaus rational, philosophisch und im Sinne Kants doktrinal, beansprucht aber gar nicht, wie Kant meint, dass „unsre Vernunft zur Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit stehe“, fähig sei (263, 12–15). Angesichts dieser Tatsachen erweist sich Kants richterliches Urteil, dass Theodizee „eine Einsicht“ beanspruche, „zu der kein Sterblicher gelangen kann“ (264, 6), als eine ignoratio elenchi. Und sie beruht erneut auf derselben Überfrachtung der Theodizee mit außerwesentlichen Erkenntnisansprüchen, die sich schon zuvor bei Kant gezeigt hatte. Deshalb rennt Kant auch mit seinem Anspruch letztlich offene Türen ein, gezeigt zu haben, dass die Theodizee es „nicht sowohl mit einer Aufgabe zum Vortheil der Wissenschaft, als vielmehr mit einer Glaubenssache zu thun“ habe (267, 16–18). Genauer gesagt ist indes schon diese Entgegensetzung von Wissenschaft und Glaubenssache schief, denn wie Kant selbst weiß, beruht auch alle Wissenschaft auf hypothetischen Voraussetzungen, deren Fürwahrhalten ihrerseits nicht mehr aus Wissen erfolgen kann, sondern sich auf das nur subjektiv zureichende Fürwahrhalten eines Glaubens gründen muss. (Dies gilt ja auch für die doktrinalen Teile von Kants eigenem wissenschaftlichen System, dessen metaphysische Anfangsgründe selbst kein Gegenstand des Wissens sein können.)

VI. FAZIT: DAS MISSLINGEN DER KANT’SCHEN THEODIZEE-KRITIK Fasst man am Ende Kants gesamte Kritik der Theodizee von 1791 in einem Fazit zusammen, so gelangt man zu folgendem Ergebnis: Die Rekonstruktion beider Prozessphasen der Kant’schen Theodizee-Kritik zeigte, dass Kants beanspruchter Nachweis vom „Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ seinerseits gründlich misslungen ist. Kants erstes Beweisziel, dass „alle bisherige Theodicee“ nicht fähig sei, „die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel“, die aus den empirischen Zweckwidrigkeiten erwachsen, „zu rechtfertigen“, bleibt in der Luft hängen, weil ein wirklicher, die vor Gericht geltenden Beweislastverteilungen mitreflektierender Vergleich zwischen der Validität der Anklagegründe und der Validität der Verteidigungsgründe auch nicht im Ansatz versucht wird. Außerdem räumt Kant sogar selbst ein, dass die von der bisherigen Theodizee zugeschriebenen 3 x 3 Verteidigungsargumente insgesamt zu einer Art Freispruch des angeklagten Gottes führt. Kants zweites Beweisziel, dem zufolge

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grundsätzlich alle Theodizee aus dem Grunde scheitere, weil sie eine „Einsicht“ in das wirkliche Verhältnis zwischen Erfahrungswelt und moralischer Weisheit beanspruche, „zu der kein Sterblicher gelangen kann“, erweist sich ebenfalls als nicht gut begründet. Denn eine rational argumentierende Verteidigung Gottes setzt nicht notwendig den Anspruch voraus, den Zusammenhang zwischen Phänomenalem und Intelligiblem objektiv erkennen zu können, so wie ja auch umgekehrt dogmatische Metaphysik nicht notwendig Theodizee sein will. Für eine rational argumentierende Verteidigung Gottes würde es vielmehr völlig ausreichen, wenn die Pro-Argumente zugunsten einer moralischen Weisheit in der Welt die Contra-Argumente überwögen. Insgesamt kann gesagt werden, dass der Hauptmangel der „in Kants späterem Denken nicht mehr revozierten, letztgültigen Abfertigung der philosophischen Versuche in der Theodizee“57 in einem viel zu weiten und überladenen Begriff von Theodizee besteht, der dem verhältnismäßig engen und eingeschränkten Ziel der traditionellen philosophischen Theodizee, die Güte und Gerechtigkeit Gottes mit rationalen Argumenten gegen die Bezweifelungen aus den empirischen Übeln zu rechtfertigen, nicht gerecht wird. Aus diesem Grundsatzmangel resultiert der zweite Mangel, der in der weitgehenden Ungeklärtheit der Kriterien besteht, die für Gelingen und Misslingen von Theodizee entscheidend sind. Somit dürfte das exzeptionelle Urteil Kremers von 1909 durchaus zutreffend sein, wonach Kants Theodizee-Aufsatz von 1791 „das Schwächste ist, was Kant in dieser Sache geschrieben hat“ – nicht zuletzt auch deshalb, weil er selbst nicht bemerkt, dass seine Verwerfung zahlreicher Verteidigungsstrategien theoretischer Theodizee auch seinen eigenen, moralisch-praktisch motivierten Glauben an eine göttliche Weltregierung schwächt58. Über dieses fundamentale Ergebnis vom Misslingen der Kant’schen Misslingensbehauptung hinaus leidet der destruktive Teil der Schrift Kants von 1791 aber auch an einem sachlich ungeklärten Ausgang des von Kant geführten Gerichtsprozesses. Genauer gesagt bleibt am Ende der von Kant beschriebene „Ausgang dieses Rechtshandels vor dem Gerichtshofe der Philosophie“ (263, 1) im Halbdunkel eines massiven Selbstwiderspruchs: Einerseits beansprucht Kant nämlich, diesen ganzen Prozess höchstrichterlich „für immer zu endigen“ (263, 20), andererseits endet das Verfahren aber ohne einen förmlichen und klaren Richterspruch. 57 Schulte, S. 372. 58 Kremer, S. 165. „Überhaupt richtet sich, da Kant doch auch einen Gott annimmt, alles was er gegen die Gründe der Theodicee sagen kann, auch gegen Kant selbst und seinen Glauben, woferne er nicht die Verträglichkeit all dieser anscheinenden Gründe gegen Gottes Güte und Weisheit mit dem Glauben an diese zugibt. Mehr verlangt er aber selbst, mit Recht oder Unrecht, vom Anfang an nicht von einer Theodicee, weil, um die höchste Weisheit zu beweisen, Allwissenheit nötig wäre. Kant übersieht also im Laufe dieser Abhandlung, was er in ihrem Anfange behauptet hat, dass eine Theodicee keinen positiven Beweis, sondern nur eine Widerlegung der Stichhaltigkeit der Zweifel an Gottes Weisheit und Güte zu bringen habe. Blieben nun die Zweifel stichhaltig, so gälte dies auch gegen Kants ‚authentische‘ Theodicee. Beweisen aber die Zweifel nichts gegen den Glauben, so kommt dies auch dem Standpunkte Leibnizens mindestens eben so sehr zu Gute, wie dem Kants“ (168).

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Angesichts dieser Unabgeschlossenheit des Prozesses bieten sich fünf mögliche Interpretationen an, von denen sich zeigen wird, dass sie in einem Pentalemma enden: (1.) Entweder wird Gott angesichts der erdrückenden empirischen Evidenzen des Zweckwidrigen (Übels) als schuldig verurteilt. Diese Deutung scheidet aus, da Kant explizit einräumt, dass auch die Vorwürfe der Ankläger „das Gegentheil“ göttlicher Weisheit „nicht beweisen können“ (263, 7–8). (2.) Oder Gott wird umgekehrt, und zwar auch nach der zweiten Prozessphase, gleichsam aus Mangel an Beweisen freigesprochen, da die Verteidiger immerhin Möglichkeiten der Vereinbarkeit zwischen den empirischen Zweckwidrigkeiten und den möglichen Beweggründen der göttlichen Weisheit aufgezeigt und somit keine Einsicht in den wirklichen und vollständigen Zusammenhang zwischen Phänomenalem und Intelligiblem beansprucht haben. Zu einem solchen Ausgang kann sich Kant jedoch nicht durchringen, und dies wäre auch ein eklatanter Selbstwiderspruch zu der im Titel exponierten Behauptung vom „Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“. (3.) Oder aber der Rechtsstreit wird an eine höhere Gerichtsbarkeit delegiert, als es der „Gerichtshof der Vernunft“ ist. Dieser Ausgang wäre zum einen sehr unkantisch, zum anderen ein Widerspruch zum expliziten Anspruch Kants, den Prozess „für immer zu endigen“. (4.) Wieder eine andere Lösung bestünde im Urteilsspruch, dass der Rechtsstreit aus dem Grunde unauflösbar sei und somit prinzipiell nicht abgeschlossen werden könne, weil er erstens inhaltlich offen bleibt für neue Argumente von beiden Seiten und weil zweitens über die Stärke der jeweiligen Pro- und Contra-Argumente nicht von einem neutralen Standpunkt aus geurteilt werden kann, sondern deren Bewertung abhängig bleibt von den (Un)Glaubensvoraussetzungen der Parteien. So sehr diese Deutung auch vielleicht von der Sache her zutreffen dürfte, vertrüge sie sich doch ebenfalls nicht mit Kants Anspruch auf ein definitives richterliches Urteil. (5.) Die fünfte Deutung schließlich bestünde in der Einsicht des Richters, dass weder Ankläger noch Verteidiger einen legitimen Anspruch behaupten dürfen, in der strittigen Sache irgendein treffendes Argument vorzubringen, da sie in Wahrheit um Kaisers Bart zanken und folglich beide nach Hause geschickt werden können. Es ist zwar offensichtlich, dass Kant selbst dieser Ansicht zuneigt, indem er beiden Parteien einen illegitimen Anspruch auf Einsicht in Uneinsehbares attestiert, ähnlich wie den Vertretern von These und Antithese bei den ersten beiden kosmologischen Antinomien der reinen Vernunft. Es muss jedoch bezweifelt werden, ob dieses nicht nur unzutreffende, sondern obendrein auch formalistische und künstliche Urteil wirklich als Kants tatsächliche Überzeugung gelten kann. Denn am wenigsten Kant dürfte leugnen wollen, dass zunächst einmal jedes für ungerecht gehaltene Übel gegen und jedes ausgeteilte Gut für eine göttliche Vorsehung spricht, ohne dass in solchen Verweisen auf Güter und Übel sowie in ihren Bilanzierungen schon eine Anmaßlichkeit steckte. Umgekehrt aber grenzt Kants Anspruch, die Erkenntnisbemühungen von Anklage und Verteidigung eines illegitimen Vorgehens zu überführen, an eine moralische Zumutung. Es ist für den Leser von Kants Theodizee-Kritik kein Ausweg aus diesem Pentalemma, dass er zudem den verkomplizierenden Eindruck gewinnen dürfte, dass Kant innerhalb des expliziten und vordergründigen Gerichtsverfahrens, in

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dem Gott selbst angeklagt und von zwei Parteien Argumente erfährt, noch einen impliziten, subtileren Prozess führt, in dem gar nicht mehr Gott, sondern sein Verteidiger der eigentliche Angeklagte ist59. Dass Kant in der Tat einen solchen nicht explizit gemachten Doppelprozess führen lässt, zeigt sich schon an seiner ganzen Polemik gegen die Verteidigung, die sich streckenweise auch in einer moralischen Disqualifizierung der Verteidiger ausdrückt: Kant wird nicht müde zu betonen, dass Theodizee zwar „die Sache Gottes verfechten“ heiße, aber „im Grunde“ doch nur „die Sache unserer anmaßenden, hiebei aber ihre Schranken verkennenden Vernunft sein möchte“, so dass sie das Zeichen von „Eigendünkel“ sei (255, 3–7). Zu dieser Bezichtigung von „Anmaßungen“ der Theodizee (263, 18) kommt noch Kants Suggestion von Unredlichkeit hinzu, die er durch Kontrastierung mit Hiob als dem Prototypen der „authentischen Theodizee“ erzeugt und kraft deren am Ende die Vertreter der Theodizee auf dieselbe Stufe gestellt werden wie die „religiösen Schmeichler“, die sich Hiobs Freunde nennen (266, 33 – 267, 4). Diese ganze Kanalisierung von Kants Polemik spricht dafür, dass der eigentliche Angeklagte in diesem Prozess gar nicht Gott hinsichtlich seiner moralischen Weisheit ist, sondern vielmehr „der Verfasser einer Theodicee“ (255, 20). Dass Kant einen solchen zweistufigen Prozess führt, würde zum einen auch erklären, dass er sich um einen formalen Abschluss des Verfahrens nicht bekümmert, weil ein solcher sachlich allzu komplex geworden wäre. Zum anderen würde sich hierdurch auch so manche argumentative Schwäche Kants erklären, die sich aus seiner impliziten Doppelrolle als Richter über die Reichweiten von Anklage und Verteidigung einerseits und als Ankläger des angeblich anmaßlichen Unterfangens der Theodizee andererseits ergibt. Wie auch immer, das Ergebnis der hier versuchten Rekonstruktion und metakritischen Beurteilung von Kants Kritik der Theodizee dürfte die Notwendigkeit aufgezeigt haben, gleichsam Revision gegen Kants Richterspruch einzulegen und diesen ganzen Prozess erneut aufzurollen.

59 In diese Richtung geht wohl auch schon Cavallar, S. 98: „Kant zwingt nicht die göttliche Weisheit, sondern den Verfasser einer Theodizee zu einem Rechtshandel vor dem Gerichtshofe der Vernunft“.

JOB AU SIECLE DES LUMIERES − VOLTAIRE ET LA CRISE DE LA THEODICEE Roberto Celada Ballanti (Gênes)

« Bonjour, mon ami Job… » (Voltaire, Dictionnaire philosophique)

I. LA PORTE DE PALLAS ET LA PORTE DU DERVICHE Deux portes – et deux seuils, deux limina – dans l’histoire de la théodicée au XVIIIe siècle, cernent de façon emblématique, de la théodicée-même, d’un côté le sommet, la consécration la plus grande, et de l’autre côté la crise extrême. La première se trouve dans le célèbre apologue qui termine les Essais de Théodicée leibniziens : il s’agit de la porte du palais des destinées gardée par la Déesse Pallas, devant laquelle Théodore, « le grand Sacrificateur » qui avait mis en doute la bonté de Jupiter, est porté en rêve : « Théodore fit le voyage d’Athenes: on luy ordonna de coucher dans le temple de la Déesse. En songeant, il se trouva transporté dans un pays inconnu. Il y avoit là un palais d’un brillant inconcevable et d’une grandeur immense. La Déesse Pallas parut à la porte, environnée des rayons d’une majesté eblouissante »1.

Théodore, conduit par la Déesse dans l’un des appartements qui composent cette construction géométrique à forme pyramidale, dont les bases restent inaccessibles, passe la porte. Il voit alors non plus un seul appartement, mais tout un monde, et les événements qui s’y déroulent, « comme d’un coup d’oeil, et comme dans une representation de theatre »2. À la fin, Théodore est conduit dans l’appartement sup-rême, placé au sommet de la pyramide, le plus beau de tous. La visio beatifica se termine avec le réveil de Théodore, suivi par la certitude renouvelée de la bonté de Jupiter, unie à sa sagesse, et de la gratitude pour ce qu’il avait pu comprendre. Il y a donc une porte ouverte dans la théodicée leibnizienne, qui amène à un Palais. En effet, il s’agit d’une immense Bibliothèque qui contient, pour chacun des mondes, le Livre des destinées, parfaitement clair, intelligible et prêt à s’ouvrir pour l’heureux lecteur appelé, par la grâce, à le consulter. Mais, il n’en sera pas toujours ainsi : il y a le moment, dans la trajectoire du XVIIIe siècle de la 1 2

Essais de Théodicée, § 414 ; GP VI, 362. Ibid., § 415 ; GP VI, 363.

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théodicée, où la porte se ferme devant l’anxieux quêteur et où le limen se traduit en brutale, infranchissable barrière. Cela arrive dans les dernières pages du Candide voltairien. Voici la deuxième porte à laquelle nous faisions allusion : « Il y avait dans le voisinage un derviche très fameux, qui passait pour le meilleur philosophe de la Turquie ; ils allèrent le consulter; Pangloss porta la parole, et lui dit: Maître, nous venons vous prier de nous dire pourquoi un aussi étrange animal que l’homme a été formé. De quoi te mêles-tu? dit le derviche, est-ce là ton affaire ? Mais, mon révérend père, dit Candide, il y a horriblement de mal sur la terre. Qu’importe, dit le derviche, qu’il y ait du mal ou du bien? Quand Sa Hautesse envoie un vaisseau en Egypte, s’embarrasse-t-elle si les souris qui sont dans le vaisseau sont à leur aise ou non ? Que faut-il donc faire? dit Pangloss. Te taire, dit le derviche. Je me flattais, dit Pangloss, de raisonner un peu avec vous des effets et des causes, du meilleur des mondes possibles, de l’origine du mal, de la nature de l’âme et de l’harmonie préétablie. Le derviche à ces mots leur ferma la porte au nez »3.

Bien sûr, la porte brusquement claquée au nez de Candide et Pangloss – idéal antipode du solennel accès au Palais des destinées permis au Théodore de Leibniz – est comme le congé voltairien de la théodicée spéculative et, avec elle, du « meilleur des mondes possibles » où, par calcul divin, les bénéfices récompensent largement les coûts et le mal reçoit compensation dans un plus grand ordre universel. Et c’est en même temps, le congé de ce Dieu infiniment bon, sage et puissant qui, comme le disent les Essais leibniziens, aime de temps en temps revenir dans ce Palais « pour se donner le plaisir de recapituler les choses, et de renouveller son propre choix, où il ne peut manquer de se complaire »4. À la porte fermée correspond, chez Voltaire, l’inaccessibilité du Livre des destinées. Déjà dans Zadig, en attendant le Poème sur le désastre de Lisbonne où sera confirmé que « le livre du sort se ferme à notre vue », ce Livre reste opaque à la compréhension humaine. En reprenant le motif de Leibniz, mais aussi de Pope, Voltaire rend ce texte prodigieux non-intelligible au protagoniste du conte5.

II. AU DEBUT DE LA CRISE: ZADIG C’est justement dans Zadig, écrit en 1747–48, que Voltaire commence à exposer la problématisation de la théodicée. L’optimisme « modéré » d’œuvres comme le Traité de Métaphysique (1734), le Discours en vers sur l’homme (1738), la Métaphysique de Newton (1740) se fêle. Personne, peut-être, plus que Voltaire ne fut harcelé au XVIIIe siècle par le problème de la théodicée. Il représente la blessure non fermée de sa religiosité, la plaie de son théisme, comme l’évoque l’ouvrage de René Pomeau, La religion de Voltaire6. Voltaire, le déiste Voltaire, à partir de la crise existentielle commencée autour de 1748, est celui qui, plus que tout autre, 3 4 5 6

Les Œuvres Complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire, 48, Oxford 1980, pp. 256–257. GP VI, 362. Cf. Les Œuvres Complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire, 30B, Oxford 2004, pp. 211–212. R. Pomeau : La religion de Voltaire, nouvelle édition, Paris 1995.

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au siècle des Lumières, a refusé de détourner son regard du nœud crucial de la théodicée, en l’amenant, avant Kant, au point extrême de sa dissolution, et en mettant en évidence son échec. Il rejoint le déisme au cœur de sa logique, en démasque la stratégie centrale, tout en déclarant la fausseté. Jean Ehrard remarque à propos de ce point : « La crise profonde que Voltaire traverse en 1748 n’est pas seulement un épisode individuel; elle est celle du naturalisme déiste qui achoppe sur le problème du mal, de la même façon que le providentialisme chrétien. Une fois dissipées les illusions du tout est bien, le credo du déiste ne peut plus que juxtaposer ces deux certitudes antinomiques qui sont la bonté de Dieu et la nécessité du mal. Dans la philosophie déiste la nature est à la fois l’empire de la nécessité et le règne de la finalité. C’est ce caractère hybride que masquait l’euphorie des années 1730– 1740. Le mérite de Voltaire philosophe, digne continuateur de Bayle, consiste dans son refus de fermer désormais les yeux sur cette contradiction, alors même que ses deux termes continuent à lui paraître également fondés »7.

Dans ce texte, on identifie le fléchissement structurel de la stratégie spéculative des théodicées que Voltaire démasque: il s’agit de l’identité ou de la soudure entre la nécessité naturelle du mal et la finalité providentielle. Pour une telle identité, le mal paraît bien sûr ontologiquement nécessaire, élément constitutif de la structura mundi, mais son impératif est compensé par l’être providentiellement pensé en vue d’un Bien général. Le croisement, ou la superposition, de la nécessité et de la finalité est le noyau porteur des théodicées spéculatives. Or, chez Voltaire, la dissociation entre les deux termes déjà évoqués, commence à être évidente précisément à partir de Zadig. Robert Mauzi a écrit : « L’une des principales fonctions du conte voltairien est de mettre en scène, sinon le tragique de la condition de l’homme, du moins l’absurdité du monde et la vanité des projets humains »8.

Le conte philosophique naît dans le déclin de la période optimiste de la pensée voltairienne9. Zadig ou la Destinée (1747–48), en particulier, inaugure un schéma narratif destiné à se répéter dans Memnon, Scarmentado, Candide: c’est l’histoire d’un jeune homme, riche et vertueux, qui a toutes les qualités pour être heureux, mais dont les prédispositions se heurtent à une série de mésaventures qui le conduisent au désespoir. La stratégie de la composition que Voltaire perfectionne ici, et qu’il exploitera dans Candide, est la disproportion paradoxale, entre les intentions nobles du héros et les effets catastrophiques qui s’ensuivent, entre l’innocence de l’action et la brutalité des résultats. Cette disproportion, au fil des 7 8 9

J. Ehrard : L’idée de nature en France dans la première moitié du XVIIIe siècle, Paris 1994, p. 653. R. Mauzi : L’idée du bonheur dans la littérature et la pensée françaises au XVIIIe siècle, Paris 1960, p. 64. « Depuis longtemps, le mal posait à la philosophie déiste un problème que Voltaire, quant à lui, résolvait par l’optimisme, implicitement dans les Lettres philosophiques, explicitement dans ce sixième Discours, où un ange prêchait à un vieux Chinois le système leibnizien de la Providence. Dans la crise de 1748, le mal n’est plus un sujet de controverse, il devient une pierre de scandale; et Voltaire l’aborde désormais par le conte. Car le conte voltairien naît définitivement de la crise de 1748 » (Pomeau, op. cit., p. 248).

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malheurs de Zadig, commence à miner le mécanisme optimiste-providentiel de la théodicée : le bien n’est pas du tout récompensé, l’iniquité triomphe, le cours du monde passe indifférent à côté des intentions vertueuses du juste en les emportant, le destin – mot qui commence à prendre le sens d’obscure fatalité, d’inexorable nécessité – domine l’événement humain en répartissant d’une façon capricieuse biens et maux, sans correspondance entre vertu et bonheur. Déjà fatigué par une série de malheurs paradoxaux, Zadig, vers la moitié du conte, devient ministre du roi de Babylone. Il paraît se remettre, mais la jalousie du souverain, qui le soupçonne d’une liaison avec la reine Astarté, l’oblige à une nouvelle fuite. C’est ici que Zadig se plaint en lançant une série de questions : « Qu’est-ce donc que la vie humaine ? O vertu ! à quoi m’avez-vous servi ? […] Tout ce que j’ai fait de bien a toujours été pour moi une source de malédictions, et je n’ai été élevé au comble de la grandeur, que pour tomber dans le plus horrible précipice de l’infortune. Si j’eusse été méchant, comme tant d’autres, je serais heureux comme eux »10.

« Qu’est-ce donc que la vie humaine ? O vertu ! à quoi m’avez-vous servi ? », demande Zadig. Ici, observe Jacques Van den Heuvel11, le conte prend son envol et le problème éthique dévient métaphysique et religieux : de quid agendum ? il devient ad quid istud agere et agi ? On arrive, ainsi, au point crucial des événements où, dans la réflexion voltairienne sur le mal et sur la Providence, le point de non-retour, la déchirure à jamais ouverte sont marqués. Un beau passage décrit cette acquisition : « Zadig dirigeait sa route sur les étoiles. La constellation d’Orion et le brillant astre de Sirius le guidaient vers le pôle de Canope. Il admirait ces vastes globes de lumière qui ne paraissent que de faibles étincelles à nos yeux, tandis que la terre, qui n’est en effet qu’un point imperceptible dans la nature, paraît à notre cupidité quelque chose de si grand et de si noble. Il se figurait alors les hommes tels qu’ils sont en effet, des insectes se dévorant les uns les autres sur un petit atome de boue. Cette image vraie semblait anéantir ses malheurs en lui retraçant le néant de son être et celui de Babylone. Son âme s’élançait jusque dans l’infini, et contemplait, détachée de ses sens, l’ordre immuable de l’univers. Mais lorsqu’ensuite rendu à luimême et rentrant dans son cœur, il pensait qu’Astarté était peut-être morte pour lui, l’univers disparaissait à ses yeux, et il ne voyait dans la nature entière qu’Astarté mourante et Zadig infortuné »12.

Dans ce « flux » et «reflux de philosophie sublime et de douleur accablante», une chose décisive advient: la révélation de l’ordre naturel contemplé dans l’immensité de la voûte étoilée ne suffit plus à apaiser l’inquiétude de Zadig. C’est comme si le poids de sa douleur était tel qu’il ne pouvait être racheté par la vision harmonique de la nature. Comme un grumeau, un nœud qui ne se défait pas dans le Tout cosmique, qui reste là, comme en excès. Une fêlure, jamais plus comblée chez Voltaire, destinée à s’agrandir dans l’abîme du Dieu lointain de Candide, se dessine. Cette fêlure se trouve entre une Providence générale, qui dirige les lois 10 Les Œuvres Complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire, 30B, p. 156. 11 J. van den Heuvel : Voltaire dans ses contes. De «Micromégas» à «l’Ingénu», Paris 1967, p. 156. 12 Les Œuvres Complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire, 30B, p. 157.

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universelles de la nature et une Providence individuelle, appelée à veiller sur le destin de chacun, dont le visage est devenu énigmatique. C’est la relation entre les deux formes de Providence qui devient obscure, aux yeux de Voltaire: comment réunir la perfection sublime des lois cosmiques à la misère scandaleuse de la condition humaine ? Pourquoi cette perfection n’est-elle pas capable de garantir le bonheur de l’homme aussi ? Une science du bonheur est-elle possible si l’irrationalité domine les actions humaines ? Tel est l’abîme où tombe la théodicée voltairienne, pour ne plus en sortir. Voltaire met en scène dans Zadig le mal « en excès »13, réfractaire à l’ordre. D’autres belles âmes voltairiennes – Memnon, Scarmentado, Candide – tireront toutes les conséquences de la déchirure. Pour l’instant, dans Zadig, c’est une épiphanie angélique qui recoud la déchirure. Si la révélation naturelle ne suffit pas à apaiser le héros voltairien, une deuxième révélation – pour ainsi dire surnaturelle – apaise son amertume: amertume apportée par l’ange Jesrad, dont les mots évoquent la doctrine leibnizienne de la théodicée : « Les méchants, répondit Jesrad, sont toujours malheureux. Ils servent à éprouver un petit nombre de justes répandus sur la terre, et il n’y a point de mal dont il ne naisse un bien. Mais, dit Zadig, s’il n’y avait que du bien, et point de mal ? Alors, reprit Jesrad, cette terre serait une autre terre ; l’enchaînement des événements serait un autre ordre de sagesse ; et cet autre ordre, qui serait parfait, ne peut être que dans la demeure éternelle de l’Être suprême, de qui le mal ne peut approcher. Il a créé des millions de mondes, dont aucun ne peut ressembler à l’autre. Cette immense variété est un attribut de sa puissance immense. Il n’y a ni deux feuilles d’arbre sur la terre, ni deux globes dans les champs infinis du ciel, qui soient semblables ; et tout ce que tu vois sur le petit atome où tu es né devait être dans sa place et dans son temps fixe, selon les ordres immuables de celui qui embrasse tout. Les hommes pensent que cet enfant qui vient de périr, est tombé dans l’eau par hasard, que c’est par un même hasard que cette maison est brûlée : mais il n’y a point de hasard; tout est épreuve, ou punition, ou récompense, ou prévoyance »14.

La conclusion célèbre « Mais… » de Zadig qui essaye de retenir le vol (ou la fuite ?) de l’ange leibnizien désormais projeté vers la dixième sphère, témoigne d’une dernière hésitation, d’une incertitude que même l’épiphanie angélique n’a pas déracinée15. Elle atteste que la soudure entre Providence générale et particulière, entre nécessité du mal et finalité providentielle, proposée par Jesrad, dans sa réitération qu’ « il n’y a point de mal dont il ne naisse un bien », est un compromis instable destiné à être renversé. Dorénavant, Voltaire opposera de plus en plus à la magie dialectique des théodicées spéculatives, qui transforme les mala in mundo en Bien général, la tautologie têtue pour laquelle « le mal est mal ». Il n’y a rien de plus affligeant qu’une idée du Bien général comme la somme de maux particuliers.

13 Cf. P. Nemo : Job et l’excès du mal, Paris 1978. Sur les problèmes du mal et de la Providence dans l’œuvre de Voltaire, cf. F. Guerrera Brezzi : L’esegesi biblica e il problema del male in Voltaire, Roma 1970 (en part. Troisième Partie). 14 Les Œuvres Complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire, 30B, pp. 220–221. 15 Pour une interprétation de l’épisode de l’Hermite, cf. van den Heuvel, op. cit., p. 170 et suiv.

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III. THEODICEE ET JOBISME Le problème que Voltaire met en scène dans ses contes les plus célèbres rappelle, sans aucun doute, celui posé par le personnage biblique de Job. En effet, est-ce l’esprit de Job qui veille sur la crise voltairienne, dont on voit les traces dans le désespoir et les incertitudes de Zadig ? Tel est le point de vue – difficile à nier – d’Alfred Foulet qui dans les événements de Zadig, a vu des aspects d’inspiration authentiquement jobiques16. Jacques Van den Heuvel, en percevant dans Babouc, Memnon, Zadig, Scarmentado, Candide, les mêmes constantes (le juste qui souffre; la déchirure entre vertu et bonheur; la plainte sur l’injustice de la condition humaine; la recomposition finale grâce à des révélations) élargit, en quelque sorte, la « clef de Job »17 à toute la série des contes des années de la crise. Au milieu

16 « Les dures épreuves et les tribulations subies par Zadig et Job – écrit le chercheur – bien qu’elles soient, bien sûr, différentes en de nombreux et importants aspects, présentent, néanmoins, une importante caractéristique commune: elles paraissent construites comme épreuve d’un homme exceptionnellement bon par la divine Providence. Ce lien peut être casuel, mais je ne crois pas qu’il le soit. On sait que quelques années avant de la composition de Zadig (précédemment appelé Memnon et publié, avec ce titre-là, en 1747) Voltaire avait lu le Livre de Job et il en avait parlé avec Madame du Châtelet. Zadig contient nombreuses plaisanteries sur la religion révélée, prêtres et Saintes Écritures. En sus de ces attaques bien évidentes, il n’est pas improbable que Voltaire puisse s’être amusé dans un sournois et ironique remaniement du Livre de Job » (A. Foulet : « Zadig and Job », in : Modern Language Notes LXXV, 5 [1960], p. 422). Le point de vue de Foulet est évoqué aussi par A. Hausen, dans le cadre d’un paragraphe dédié à Voltaire und dom Calmet, dans Id.: Hiob in der französischen Literatur. Zur Rezeption eines alttestamentlichen Buches, Bern – Frankfurt a. M. 1972, p. 135. Le même volume peut être utile pour comprendre la genèse du mot jobisme, néologisme d’origine romantique (cf. op. cit., p. 145 et suiv.). En outre, cf. J. L. Curtis : La Providence : vicissitudes du dieu Voltairien, Oxford 1974, p. 42 ; R. Mortier : De Dom Calmet à Voltaire, ou les avatars du «pauvre Job», dans Id. : Les Combats des Lumières. Recueil d’études sur le dix-huitième siècle, Ferney-Voltaire 2000, pp. 174–182. On voit encore, naturellement, l’entrée Job dans le « Dictionnaire philosophique », in : Les Œuvres Complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire, 36, Oxford 1994, pp. 243–253. Cf., enfin, le mot Job dans : Inventaire Voltaire, sous la direction de J. Goulemot, A. Magnan, D. Masseau, Paris 1995, pp. 754–755. L’identification de Voltaire au destin de Job commence bientôt. Déjà en octobre 1724, une lettre à Marguerite Madeleine Du Moutier, marquise de Bernières, indique : « Je voudrais bien n’avoir à exercer ma constance que contre cette maladie. Mais je suis au fumier près, dans l’état où était le bonhomme Job, faisant tout ce que je peux pour être aussi patient que lui et n’en pouvant venir à bout » (Les Œuvres Complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire, 85 : Correspondence and related documents, I, definitive edition by T. Besterman, Genève 1968, p. 232). Sur les circonstances biographiques liées à la période en question, cf. Voltaire en son temps, sous la direction de R. Pomeau, t. 1 (1694–1759), nouvelle édition, imprimé en Grande-Bretagne, 1995, pp. 129–143. Des nombreux références à Job dans l’épistolaire voltairien offrent un cadre Hausen, op. cit., pp. 132–142. On voit aussi, F. Bessire : La Bible dans la correspondance de Voltaire, Oxford 1999, pp. 96–97; M.-H. Cotoni : « Présence de la Bible dans la correspondance de Voltaire », in : Studies on Voltaire & the Eighteenth Century 319 (1994), pp. 357–397 (pour les références à Job, pp. 376–377) ; Voltaire en son temps, II, pp. 188, 500, 502. 17 Cf. D. Leduc-Fayette : Pascal et le mystère du mal. La clef de Job, Paris 1996.

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de ces contes, écrit ce grand savant, se trouvent toujours les héros jeunes et purs qui, « comme Job […] voudraient que Dieu leur parlât, ‹ qu’il ouvrît la bouche pour leur répondre et qu’il leur montrât les secrets de sa sagesse ›. Cette exigence d’un absolu au départ et cet effort pour le retrouver à travers l’expérience conduisent tôt ou tard, d’une manière ou d’une autre, à un échec. Alors, on consulte l’‹interprète›, ange, génie, derviche, vieillard, – celui, quel qu’il soit, qui est censé savoir. Ce qu’il révèle, ou refuse, ou est incapable de révéler, conditionne le dénouement, qui apparaît toujours, sur un plan plus ou moins modeste, comme une ‹ résolution › après une dissonance, un rétablissement après un choc »18.

Tel est, donc, le décor qui se dessine de Zadig à Candide, avec des traits destinés, après 1748, en ce qui concerne la description de l’univers humain, à être toujours plus sinistres et impitoyables. Un monde sans grâce ni valeurs, aux contours absurdes, irrationnels, sans proportion entre les causes et les effets, marqué par un destin arbitraire contre lequel se heurte le désir de liberté des hommes qui ressemblent à des « marionnettes »19. Désir de liberté qui fait irruption en Zadig, prend en Memnon et puis en Scarmentado des traits de plus en plus brutaux, tout en s’élevant, dans ce dernier conte, à un jugement sur l’histoire universelle. C’est un monde, qui s’oppose à l’univers-Heimat de Micromégas. Il est semblable, en effet, à une forêt obscure ou à un cosmos gnostique, où l’homme est geworfen et heimatlos, un cosmos où règne une nécessité qui a abandonné tous les travestissements de la finalité pour prendre le visage glacial et impitoyable d’une légalité objective, d’une nécessité naturelle.

IV. JOB PARMI LES DECOMBRES: LE POEME SUR LE DESASTRE DE LISBONNE On avait besoin, toutefois, des célèbres secousses telluriques de la ville portugaise pour exacerber et amener au sommet la crise, à la fois spéculative et existentielle, de Voltaire. Jamais, comme dans le Poème sur le désastre de Lisbonne (1756), n’est aussi évident l’archétype qui s’inspire du Livre de Job. Harald Weinrich le remarque : « La catastrophe, d’un côté, les tristes consolateurs de l’autre côté, et, enfin, pas de réponse sur le problème du sens du mal : nous reconnaissons, ici, un célèbre modèle littéraire bien

18 Van den Heuvel, op. cit., p. 331–332. Cf. aussi ibid., pp. 259–260. 19 Cf. la lettre de Voltaire du 2 janvier 1748 à Pierre Robert Le Cornier de Cideville : « Je ne vis point comme je voudrais vivre, mais quel est l’home qui fait son destin ? Nous sommes dans cette vie des marionetes que Brioché mène et conduit sans qu’elles s’en doutent » (Les Œuvres Complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire, 94 : Correspondence and related documents, X, definitive edition by T. Besterman, Genève 1970, p. 195). Sur la crise de la conception voltairienne de la liberté et sur la renonciation à l’idée de libre arbitre dans les années en question, cf. Pomeau, op. cit., p. 246 et suiv.

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Roberto Celada Ballanti connu par Voltaire et familier à ses lecteurs du XVIIIe siècle. Je fais allusion au Livre de Job de l’Ancien Testament »20.

Ernst Cassirer a écrit, décrivant ainsi la modalité dans laquelle Voltaire détruit de l’intérieur la théodicée spéculative : « S’étant ainsi lui-même dépouillé de toutes ses armes contre le scepticisme sur la question de l’origine du mal, il se voit maintenant poussé jusque dans ses derniers retranchements. Il prend acte de toutes les réponses et les rejette toutes »21.

On voit en particulier dans le Poème sur le désastre de Lisbonne, se développer une pensée qui se dépouille de toutes les catégories, de tous les paradigmes explicatifs à travers lesquels la tradition occidentale, au cours de son histoire métaphysique et religieuse, a répondu à la question de l’ « unde malum ». Rien n’est épargné, tout tombe sous la hache de la déclaration de faillite: de Platon à Épicure, des personnages de la justice distributive et rétributive au dogme du péché originel, de la révélation chrétienne aux théodicées modernes, toute explication se montre insuffisante à répondre au scandale de Lisbonne. Pourtant, à la fin, il conclut : « Quelque parti qu’on prenne, on doit frémir, sans doute. Il n’est rien qu’on connaisse, et rien qu’on ne redoute »22.

Ce qui reste après cela, dans le Poème, c’est un homme désarmé, nu, sans défenses dogmatiques et spéculatives face à l’ « immense puissance du négatif » et face à Dieu: c’est un point unique retenu avec ténacité. Dans cette nudité et dans la réaffirmation de la Providence, Voltaire rencontre Job. Il le rencontre, pourraiton dire, parmi les décombres de Lisbonne, en reliant son personnage – et c’est une nouveauté dans la pensée européenne qui devance Kant23 – au problème de la 20 H. Weinrich : « Literaturgeschichte eines Weltereignisses: Das Erdbeben von Lissabon », dans Id.: Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1971, p. 70. Le savant ajoute, en évoquant une importante clef herméneutique pour lire la présence du Livre de Job dans Voltaire : « Job est, donc, une présence actuelle, là où Voltaire, dans le grand désastre de Lisbonne et sur les problèmes de la théodicée, prend une position. Il n’est pas nommé, il est rapetissé, déguisé. Le Livre de Job fait partie de la constellation spirituelle qui a modelé la pensée de Voltaire, sans lui imposant, bien sûr, des voies précises, mais en lui les offrant. Cela est très caractéristique de la pensée illuministe » (ibid., p. 73). Cf. en outre l’Introduzione de A. Tagliapietra à: Sulla catastrofe. L’illuminismo e la filosofia del disastro. Voltaire, Rousseau, Kant, Milano 2004, pp. IX–XXXIX, introduction qui confirme les suggestions jobiques du Poème et texte auquel nous renvoyons aussi pour la bibliographie sur le sujet (ibid., pp. 141–143). 21 E. Cassirer : La philosophie des Lumières, Paris 1966, p. 163. On peut lire une analyse complète du Poème dans J.-M. Rohrbasser: Le Poème sur le désastre de Lisbonne: une philosophie de la catastrophe, in : P. Rateau (éd.) : L’Idée de théodicée de Leibniz à Kant: héritage, transformations, critiques (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 36), Stuttgart 2009, pp. 127– 143. 22 Voltaire : Poème sur le désastre de Lisbonne, in: Id.: Mélanges, texte établi et annoté par J. van den Heuvel, Paris 1961, p. 308. 23 Observe P. David dans Job ou l’authentique théodicée, Paris 2005 (cf. en part. Introduction, pp. 7–23) que, avant que Kant, il est difficile de retrouver dans la littérature philosophique des allusions au Livre de Job. Le jugement est confirmé par G. Moretto dans Giustificazione e interrogazione. Giobbe nella filosofia, Napoli 1991, p. 120.

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théodicée. Dans un tableau semblable, les proverbiaux « amis de Job », les « avocats de Dieu » s’habillent comme les théoriciens du « tout est bien » : « Tristes calculateurs des misères humaines, Ne me consolez point, vous aigrissez mes peines; Et je ne vois en vous que l’effort impuissant D’un fier infortuné qui feint d’être content »24.

Le nœud de la théodicée, naissant de l’impossibilité de réunir la Providence universelle, régulatrice de l’ordre naturel et de ses lois, et la providence particulière, attentive aux destins de chacun, s’éclaire de manière définitive : « Dieu tient en main la chaîne, et n’est point enchaîné ; Par son choix bienfaisant tout est déterminé: Il est libre, il est juste, il n’est point implacable. Pourquoi donc souffrons-nous sous un maître équitable ? »25

Aussi le refus de la dialectique optimiste des théodicées spéculatives est-il clair : « ‹ Ce malheur, dites-vous, est le bien d’un autre être ›. De mon corps tout sanglant mille insectes vont naître; Quand la mort met le comble aux maux que j’ai soufferts, Le beau soulagement d’être mangé des vers ! »26

C’est le « non-savoir » – véritable «ignorance savante» puisée dans la brutalité inconcevable du malum mundi – le point d’abordage du tourmenté itinerarium mentis in malum du Poème : « Il le faut avouer, le mal est sur la terre : Son principe secret ne nous est point connu. […] Les sages me trompaient, et Dieu seul a raison »27.

24 25 26 27

Voltaire : Poème sur le désastre de Lisbonne, in : Id. : Mélanges, p. 306. Ibid. Ibid. Ibid., p. 307 et 309. Parmi les nombreuses lettres significatives de Voltaire de cette période, d’un grand intérêt est celle à Élie Bertrand du 18 février 1756, de laquelle nous ne citons ici qu’un passage : « On a besoin d’un dieu qui parle au genre humain. L’optimisme est désespérant. C’est une philosophie cruelle sous un nom consolant. Hélas ! si tout est bien quand tout est dans la souffrance, nous pourons donc passer encor dans mille mondes, où l’on soufrira, et où tout sera bien; on ira de malheurs en malheurs, pour être mieux. Et si tout est bien, comment les leibnitiens admettent ils un mieux ? Ce mieux n’est il pas une preuve que tout n’est pas bien ? Eh ! qui ne sait que Leibnits n’attendait pas de mieux ? Entre nous, mon cher monsieur, et Leibnits et Shaftesburi, et Bolingbroke, et Pope, n’ont songé qu’à avoir de l’esprit. Pour moy, je soufre et je le dis » (Les Œuvres Complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire, 101 : Correspondence and related documents, XVII, definitive edition by T. Besterman, Banbury 1971, p. 73). Sur les circonstances biographiques de Voltaire au temps du Tremblement de terre de Lisbonne, nous renvoyons à Voltaire en son temps, op. cit., I, pp. 816–834. Un autre chercheur qui résume avec autorité les textes qui témoignent la crise voltairienne avant le Tremblement de terre de Lisbonne c’est T. Besterman dans « Voltaire et le désastre de Lisbonne: ou, La mort de l’optimisme », in : Studies on Voltaire & the Eighteenth Century 2 (1956), pp. 7–24.

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« Dieu seul a raison » : que Dieu soit – semble dire Voltaire –, cela suffit28. Cela suffit à sauver le monde du chaos, du non-sens, à fonder l’engagement dans l’amélioration et dans les progrès de la raison. Malgré ses absences insondables et même si à Lisbonne, le juste périt et le méchant survit, Dieu reste summum bonum. Il est difficile de trouver un penseur moderne qui, plus que Voltaire, s’en est tenu fermement, dans la crise des formes de justification du mal élaborées en Occident, à cette pensée platonique et chrétienne. D’aucune manière, l’horror mundi semble témoigner d’une façon persuasive contre cette pensée. Après la révolte, après le « non », c’est le « oui » dit à l’être qui gagne. Chez Voltaire l’a priori du bien est plus fort que la frayeur, que le sentiment du malheur humain. L’exigence de la recomposition, de réaffirmation du positif – tendue entre résignation au nonsavoir et engagement pour le progrès du genre humain – est plus forte que chaque évidence contraire. Ainsi, dans cette direction, un nouvel espace s’épanouit à la théodicée en sollicitant, juste à travers le non-savoir et la résignation, sa transformation vers une direction pratique : l’espace, projeté dans le futur, de l’espérance : « Un jour tout sera bien, voilà notre espérance ; Tout est bien aujourd’hui, voilà l’illusion »29.

V. CANDIDE : « JOB HABILLE A LA MODERNE »30 À l’entrée « Chaîne des événements » du Dictionnaire philosophique, un paragraphe est relié à la représentation du monde humain qui se trouve dans Candide (1759), expression de la difficile décennie précédente dans la vie de Voltaire : « Ce système de la nécessité et de la fatalité, a été inventé de nos jours par Leibnitz, à ce qu’il dit, sous le nom de raison suffisante ; il est pourtant fort ancien; ce n’est pas d’aujourd’hui qu’il n’y a point d’effet sans cause, et que souvent la plus petite cause produit les plus grands effets. […] Mais il me semble qu’on abuse étrangement de la vérité de ce principe. On en conclut qu’il n’y a si petit atome dont le mouvement n’ait influé dans l’arrangement actuel du monde entier ; qu’il n’y a si petit accident, soit parmi les hommes, soit parmi les animaux, qui 28 Moretto, op. cit., p. 49, note n. 104, a saisi, avec une grande acuité critique, une analogie entre le voltairien « Dieu seul a raison » et le « Gott ist, ist genug » que Karl Jaspers met dans la bouche du prophète de l’Ancien Testament Jérémie face à la ruine de son peuple et de sa patrie, dans les célèbres cours sur la Schuldfrage : « Qu’est-ce que cela veut dire ? Dieu est, c’est assez. Quand tout disparaît, Dieu est, c’est le seul point solide » (cf. K. Jaspers : La culpabilité allemande, traduit de l’allemand par J. Hersch, Paris 1990, pp. 124–125). Cf. aussi de Voltaire les Dialogues entre Lucrèce et Posidonius (1756) où on peut lire à propos de Dieu: « Nous devons admettre qu’il est, sans savoir ce qu’il est, et comment il opère » (Voltaire: Mélanges, op. cit., p. 324). 29 Voltaire : Poème sur le désastre de Lisbonne, p. 309. 30 Il s’agit, comme il est bien connu, de l’expression de Frédéric II suivie à la lecture de Candide et ainsi communiquée à Voltaire: « […] Monsieur Candide, c’est Job habillé à la moderne, il faut le confesser, Monsieur Panclos ne sauroit prouver ses beaux principes, et le meilleur des mondes possibles est très méchant et très malheureux » (Les Œuvres Complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire, 104 : Correspondence and related documents, XX, definitive edition by T. Besterman, Banbury 1971, p. 134).

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ne soit un chaînon essentiel de la grande chaîne du destin. Entendons-nous: tout effet a évidemment sa cause, à remonter de cause en cause dans l’abîme de l’éternité; mais toute cause n’a pas son effet, à descendre jusqu’à la fin des siècles. Tous les événements sont produits les uns par les autres, je l’avoue; si le passé est accouché du présent, le présent accouche du futur ; tout a des pères, mais tout n’a pas toujours des enfants. Il en est ici précisément comme d’un arbre généalogique; chaque maison remonte, comme on sait, à Adam, mais dans la famille il y a bien des gens qui sont morts sans laisser de postérité. […] Donc, les événements présents ne sont pas les enfants de tous les événements passés; ils ont leurs lignes directes ; mais mille petites lignes collatérales ne leur servent à rien. Encore une fois, tout être a son père, mais tout être n’a pas des enfants »31.

Il y a dans ce passage, comme le souligne Jean Starobinski32, la signification de la stratégie ontologique qui en Candide est opposée à Pangloss, le disciple de Leibniz-Wolff. À la « causalité longue du plan divin », où chaque événement est enchaîné dans un « enchaînement des causes » sans fin, Voltaire oppose la « causalité courte » d’épisodes brefs, la logique dans laquelle se déroule le paradoxal et halluciné isolement de leur exposition empirique. Dans le conte, l’enchaînement qui lie les faits en séquences placées sous la fin dernière de l’harmonie, se transforme en un défilé de misères, souffrances, brutalités, injustices sans aucun sens ni progrès, chacune laissée dans la plus absolue et effrayante solitude distéléologique. L’enchaînement des effets et des causes, dans une semblable séquence accélérée d’abominations, faite de corps détériorés, déchirés, d’âmes blessées, de désastres naturels paraît se fragmenter, résilier les liens d’harmonie universel entre les événements, non nécessairement destinés à produire des effets transitifs: si chaque effet a une cause, ce n’est pas pour autant que chaque cause produit des effets. Il arrive – poursuit Voltaire dans ce passage du Dictionnaire – que comme dans les généalogies, quelqu’un meurt sans laisser de descendance. Les arbres généalogiques s’épanouissent ou s’enrichissent entre branches cassées ou stériles. Ce ne sont plus des boucles providentiellement pensées en fonction d’un progrès du bien et d’un accroissement des valeurs à réaliser, éclairées et soutenues par le Satz vom Grund, mais des atomes qui se rencontrent ou s’annulent selon une casualité aveugle et sans finalité. La généalogie de la vérole décrite dans le chapitre IV de Candide, ou la liste des rois assassinés, dressée dans la Conclusion, ressemble plus aux rhizomes, aux diramations adventices, imprévisibles de Deleuze et Guattari – définie par les philosophes français comme « une antigénéalogie »33 – qu’à une succession qui peut être rassemblée dans un tissu providentiel et rationnel.

31 Entrée « Chaîne des événements » in : Dictionnaire philosophique, Les Œuvres Complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire, 35, Oxford 1994, pp. 523, 525–526, 528. 32 J. Starobinski : Le remède dans le mal. Critique et légitimation de l’artifice à l’âge des Lumières, Paris 1989, p. 137 et suiv. Pour une analyse générale de Candide nous nous limitons à renvoyer à l’étude de W. F. Bottiglia : Voltaire’s Candide. Analysis of a classic, Oxford 1959, ainsi qu’à l’Introduction de R. Pomeau à l’édition critique de Candide dans le cadre des Œuvres Complètes de Voltaire, 48, pp. 17–113. 33 Cf. G. Deleuze/F. Guattari : Capitalisme et schizophrénie. Mille plateaux, Paris 1980, p. 32.

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Candide, ainsi, sous le ris philosophique, est la représentation du concassage des harmonies préétablies, des optimismes métaphysiques. Guerres, massacres, violences inénarrables, iniquités folles, tremblements de terre, épidémies: tout contribue à représenter un monde déformé, une « dissonance préétablie », où à chaque moment, des abîmes de non-sens s’épanouissent. De l’ordre providentiel ne reste que la comique, parodique réinvention de ces soudaines et paradoxales découvertes de personnages, renversés et jetés dans les lieux les plus lointains du monde, qui ne succombent jamais définitivement et qui donnent l’illusion, pour un instant, d’un tissu finaliste, d’une trame de sens. Celle-ci, après beaucoup de malheurs, se manifeste enfin et en réalité, prépare de nouveaux abîmes de calamités. À la « Grande Chaîne de l’Être » de Leibniz et Pope succède, donc, dans la représentation de Candide, l’ « Arbre généalogique », avec ses branches multiples où quelques ramifications se perdent dans le néant, d’autres donnent des fruits, mais qui ne se rassemblent jamais dans l’harmonie d’un système où « tout se tient ». À cet arbre-là appartient le vide et non pas le plein absolu et ininterrompu de la Chaîne. Mais ces casualités-là tranchées, imparfaites s’inscrivent dans le vide et dans ses discontinuités. Dans l’Arbre généalogique, ainsi dans Candide les apparentes circularités sont, en réalité, des cavités, des trous noirs, des points morts, des impasses, Holzwege, où on peut se perdre ou on peut précipiter, parce que les maux particuliers ne peuvent pas être rassemblés dans un bien général. L’ontologie implicite dans Candide, en effet, atteste de cela: l’inconvertibilité des mala in mundo en Bien universel. L’Arbre généalogique est le symbole, le chiffre de cet anti-système opposé au système de la chaîne métaphysique platonicienne-leibnizienne. Sous le regard « candide » du protagoniste, à travers les horreurs, humaines et naturelles, éprouvées dans chaque partie du monde, se révèlent les lambeaux, les fragments de la longue et vénérable causalité, que Pangloss s’obstine à enchaîner et qu’il est incapable, en réalité, de faire remonter aux sources, à la Cause première. Bien avant Kant, Voltaire casse, dans le domaine de la théodicée, le Leitfaden entre Cause première et causes secondes. Et avant Kant, pourrait-on ajouter, c’est Voltaire qui montre de facto – même si ce n’est pas encore fait de jure, comme le montrera le philosophe de Königsberg dans son célèbre essai du 1791 – l’échec de toutes les tentatives des philosophes en matière de théodicée. Cependant, dans ce monde à l’envers, à la fin, la Providence est réaffirmée. Une Providence dont Voltaire a besoin pour retenir le monde au bord du précipice, pour le sauver de la dérive nihiliste. Les séductions manichéennes de Martin, dans un monde où l’homme paraît geworfen, sont proches, mais c’est le Derviche, en réalité, et non le philosophe manichéen (derrière lequel on voit l’ombre de Bayle), qui offre l’image de la religion voltairienne, après l’effondrement de l’optimisme : une religion marquée par une Providence sans providentialisme, par une finalité sans finalisme, par une impossible remontée des distéléologies du monde humain à Dieu. Selon Starobinski,

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« le dernier représentant de l’autorité religieuse, le Derviche, refuse toute réponse ; il enjoint au Système, en la personne de Pangloss, de se taire […] »34.

C’est la raison pour laquelle, à la fin, « il n’y a plus d’ordre à contempler ; il y a un sol à travailler »35. L’éthique du « jardin », dans ce sens-là, n’est pas tout à fait défaitiste. Chasser Dieu du monde, ne pas contempler dans l’histoire universelle, un « Roman de la vie humaine, […] tout inventé dans l’entendement divin »36, signifie une nouvelle responsabilité historique de l’homme, c’est-à-dire soigner (cultiver) le monde. À l’ordre déjà donné des théodicées spéculatives, succède la découverte d’un ordre à construire, la découverte de l’ordonnancement de la réalité à travers l’engagement dirigé vers l’effacement du mal dans le monde, jusqu’à la dernière possibilité. S’il n’y a plus d’espace pour une « eidétique » du mal et pour le providentialisme, prendre congé d’eux équivaut à épanouir « une nouvelle philosophie d’action »37 tournée vers la lutte contre les maux socialement évitables. Le temps de l’indignation, de la guerre à l’Infâme, arrive. Mais toute la pensée de Voltaire – comme l’avise R. Pomeau38 – ne se retrouve pas dans Candide. Voltaire, en réalité, observe Bronislaw Baczko, « n’est pas un utopiste. Au bout de sa campagne contre l’‹ infâme › ne se profile nul Eldorado nouveau, aucune contrée où tout serait bien »39.

Qu’à la fin de tous les traités dédiés au problème du mal, il faille conclure: « non liquet, Cela n’est pas clair »40, ne signifie pas que la blessure du malum mundi disparaisse. Elle reste, ouverte et inoubliable, troublante, dérangeante, mais n’entame pas, finalement, l’incoercible « oui » voltairien à la vie et à l’être. Jusqu’à la fin, Voltaire reviendra sans arrêt sur la question de la théodicée, à la recherche d’une solution, qu’il ne trouvera jamais de façon satisfaisante. Dans ses derniers écrits, le philosophe utilisera souvent l’ensemble des catégories concernant les théodicées du XVIIe siècle de Malebranche, Leibniz, Spinoza. La théodi34 Starobinski, op. cit., p. 139. 35 Ibid., p. 140. 36 Essais de Théodicée, § 149 ; GP VI, 198. À propos de ce sujet, nous nous permettons de citer notre monographie Erudizione e teodicea. Saggio sulla concezione della storia di G. W. Leibniz, Napoli 2004 (en part. chap. III). Sur Voltaire et Leibniz nous rappelons l’étude de W. H. Barber : Leibniz in France from Arnauld to Voltaire, Oxford 1955 (en part. part three [pp. 174–243]). En outre : R. A. Brooks: Voltaire and Leibniz, Genève 1964; R. Galliani : « À propos de Voltaire, de Leibniz et de la Théodicée », in : Studies on Voltaire & the Eighteenth Century 198 (1980), pp. 7–17. 37 Cf. Curtis, op. cit., p. 78. 38 Pomeau : La religion de Voltaire, p. 313. 39 B. Baczko : Job, mon ami: promesses du bonheur et fatalité du mal, Paris 1997, p. 87. É. Martin-Haag fait allusion au lien entre la réception voltairienne du personnage de Job et les progrès de l’esprit humain dans Voltaire. Du cartésianisme aux Lumières, Paris 2002, pp. 163–164. Cf. aussi J. Gray : Voltaire, Paris 2000, qui dédie le chap. 1 à « Voltaire et la théodicée des Lumières » (ibid., pp. 7–26). 40 L’entrée « Bien, tout est bien » du Dictionnaire philosophique s’appuie sur cette conclusion péremptoire. Cf. Les Œuvres Complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire, 35, p. 428.

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cée européenne, à son déclin, revient paradoxalement à ses origines. En se mettant sous la protection de ses dieux tutélaires, elle se replie sur elle-même, en déclarant son impuissance. Voltaire met en évidence ce vide à l’intérieur de la théodicée. Il en montre de facto la faiblesse et l’exténuation, en se remettant au « Mißlingen » de iure que Kant déclarera. Dans le Dialogue du douteur et de l’adorateur, Voltaire est autant l’un que l’autre. Cet enchaînement de doute et d’adoration est le meilleur de son esprit jobique et de la théodicée pratique qu’il érige, encore avant Kant, sur les cendres de la théodicée spéculative. L’abandon, la résignation au Dieu lointain, ne vont pas sans la hantise du doute, du tourment de la révolte, de la plainte face à l’énigme du mal. L’abandon à la Providence est authentique – jobique même – s’il garde en soi l’aiguillon de la révolte. Peu de pages comme celles qui terminent Sophronime et Adélos (1776), témoignent de cet abord pratique de la nouvelle théodicée voltairienne: pour sortir du labyrinthe de la théodicée, de ses inextricables nœuds liés à la justice de Dieu et à la liberté de l’homme, la voie à suivre fait appel à la conscience, aux remords et à la paix intérieure, plutôt qu’aux enfers et aux mondes mythologiques de l’audelà. Voltaire, en faisant parler Epictète mourant comme Job, écrit : « J’aime donc la vérité quand Dieu me la fait connaître; je l’aime, lui qui en est la source ; je m’anéantis devant lui, qui m’a fait si voisin du néant. Résignons-nous ensemble, mon cher ami, à ses lois universelles et irrévocables, et disons en mourant, comme Épictète : ‹ O Dieu ! je n’ai jamais accusé votre providence. J’ai été malade, parce que vous l’avez voulu, et je l’ai voulu de même; j’ai été pauvre, parce que vous l’avez voulu, et j’ai été content de ma pauvreté ; j’ai été dans la bassesse, parce que vous l’avez voulu, et je n’ai jamais désiré de m’élever. Vous voulez que je sorte de ce spectacle magnifique, j’en sors; et je vous rends mille très humbles grâces de ce que vous avez daigné m’y admettre pour me faire voir tous vos ouvrages, et pour étaler à mes yeux l’ordre avec lequel vous gouvernez cet univers › »41.

C’est « le théisme inquiet »42 et, en même temps, le jobisme de Voltaire.

41 Voltaire : Sophronime et Adélos, in : Mélanges, op. cit., p. 1372. 42 De « théisme inquiet de Voltaire » a parlé, sur la base du volume classique de Pomeau, op. cit., E. Berl dans la Préface aux Mélanges, op. cit., p. XXIX. Sur ces questions, voir aussi notre essai Giobbe nel secolo dei Lumi. Voltaire e la crisi della teodicea, publié dans : D. Venturelli, R. C. Ballanti, G. Cunico (éd.) : Etica, Religione e Storia. Studi in memoria di Giovanni Moretto, Genova 2007, pp. 319–357.

MAUPERTUIS ET LE SYSTÈME LEIBNIZIEN DES ESSAIS DE THÉODICÉE1 Christian Leduc (Heidelberg/ Montréal)

Dans la préface aux Essais de Théodicée, Leibniz renvoie au Système nouveau de la nature et de la communication des substances qu’il avait publié une quinzaine d’années auparavant ; il résume les principales thèses qu’il y soutient et les discussions qui s’en sont suivies, en particulier avec Pierre Bayle. Dans ces quelques pages, on retrouve les principaux éléments de ce que Leibniz nomme lui-même son système : il y est essentiellement question de l’harmonie préétablie, de la préformation des corps organisés, du principe du meilleur et de la notion d’entéléchie2. Leibniz revient évidemment à maintes reprises sur quelques-uns de ces aspects dans la suite du texte puisqu’ils sont liés à l’élaboration d’une théodicée. Toutefois, il n’est pas évident que Leibniz veuille ici faire référence à une véritable philosophie systématique, dont la reconstruction complète permettrait de déduire l’ensemble des vérités de prémisses préalablement admises3. Leibniz fait bel et bien mention d’un système, à la fois dans l’opuscule de 1695 et dans les Essais de Théodicée, mais le terme semble surtout désigner les quelques affirmations relatives au problème du rapport entre l’âme et le corps. Le système de l’harmonie préétablie serait surtout une hypothèse métaphysique stipulant la correspondance non causale instaurée par Dieu entre les ordres spirituels et matériels4. La question de savoir si Leibniz présuppose dans les Essais de Théodicée une structure systématique, tel que Wolff et Kant l’ont ultérieurement proposé dans l’élaboration de leur propre philosophie, est difficile à résoudre ; je ne tenterai d’ailleurs pas ici d’y répondre. Il importe néanmoins de savoir que pour plusieurs 1

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Je tiens à remercier Peter McLaughlin, François Duchesneau, Hans Poser et Ursula Goldenbaum pour leurs commentaires sur des versions antérieures de la présente contribution. Je remercie également la Fondation Alexander von Humboldt de son soutien financier qui m’a permis de mener à bien ce travail. Essais de Théodicée, Préface ; GP VI, 39–45. C’est notamment la définition que donne Condillac dans son ouvrage consacré à la pensée systématique : « Un système n’est autre chose que la disposition des différentes parties d’un art ou d’une science dans un ordre où elles se soutiennent toutes mutuellement, et où les dernières s’expliquent par les premières ». É de Condillac : « Traité des systèmes », in : Id. : Œuvres complètes (1798), II, Genève 1970, p. 1. Maupertuis approuve d’ailleurs les analyses de Condillac dans sa discussion sur les systèmes: Lettre VII, in : P. L. Moreau de Maupertuis : Œuvres (1756), II, Hildesheim 1965, p. 260. Dans le Système nouveau de la nature, Leibniz emploie notamment l’expression hypothèse des accords pour désigner la thèse de l’harmonie préétablie : GP IV, 485.

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lecteurs au XVIIIe siècle, il semble clair que Leibniz y expose les pièces principales d’un système. Maupertuis fait notamment partie de ceux qui croient reconnaître dans l’œuvre leibnizienne, tout en s’y opposant, les fondements d’une philosophie systématique5. Bien qu’il reconnaisse l’importance de plusieurs travaux de Leibniz, notamment dans les sciences formelles6, Maupertuis lui reproche d’avoir adopté une méthode erronée d’explication de la nature. De manière générale, les théories systématiques seraient un obstacle au progrès de la science puisqu’elles visent avant tout à défendre leur propre cohésion doctrinale, plutôt qu’à confirmer dans les faits les énoncés qu’elles contiennent. Maupertuis soulève cette critique dans l’une de ses Lettres : « Les systèmes sont de vrais malheurs pour le progrès des Sciences : un Auteur systématique ne voit plus la Nature, ne voit que son ouvrage propre. Tout ce qui n’est pas absolument contraire à son système le confirme: les phénomènes qui lui sont les plus opposés ne sont que quelques exceptions »7.

Par la suite, Maupertuis soutient que la doctrine leibnizienne constitue à l’époque le meilleur exemple de système et que la popularité dont il jouit tient davantage à la réputation de son auteur qu’aux vérités qu’il comporte8. Autrement dit, le défaut premier de la philosophie leibnizienne résiderait dans son caractère systématique. Certains principes architectoniques, en particulier celui de raison suffisante, ont été considérés par Leibniz et ses disciples comme des outils majeurs pour la constitution d’une méthode de la découverte; mais ils ne sont pourtant, selon Maupertuis, que les composantes d’un système sans fondements empiriques. Contrairement à Newton, qui n’a jamais cherché à former un système, mais bien à déterminer les vraies lois du mouvement confirmées dans et par l’expérience9, Leibniz se serait enlisé, particulièrement dans les Essais de Théodicée, dans des réflexions métaphysiques qui dépassent très souvent la portée de nos capacités cognitives. La présente communication portera sur les répercussions de cette interprétation. À mon avis, les principales critiques que Maupertuis adresse à Leibniz doivent se comprendre à l’aune de cette opposition à une pensée systématique. Il existe certes des raisons plus spécifiques qui expliquent certaines objections de Maupertuis, par exemple contre la loi de conservation de la force vive. Le fait qu’on ne puisse appliquer cette loi à tous les types de corps, y compris aux parties inflexibles de la matière, suffirait pour en contester le caractère premier et 5 6 7 8 9

C’est aussi le jugement de Condillac qui consacre une bonne partie de son Traité des systèmes à la pensée leibnizienne: chap. VIII. « Essai de cosmologie », in : P. L. Moreau de Maupertuis : Œuvres (1756), I, Hildesheim 1965, pp. XVIII–XVIX; « Harangue », in : Œuvres (1756), III, Hildesheim 1965, pp. 265–266. Lettre VII, in : Œuvres, II, p. 257. Ibid., p. 258. « Mais c’est une justice qu’on doit rendre à Newton, il n’a jamais regardé l’attraction comme une explication de la pesanteur des corps les uns vers les autres : il a souvent averti qu’il n’employait ce terme que pour désigner un fait, et non point une cause; qu’il ne l’employait que pour éviter les systèmes et les explications ». « Discours sur la figure de la terre », in : Œuvres, I, pp. 91–92.

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universel10. Il semble néanmoins que l’argumentation de Maupertuis se base au départ sur une divergence méthodologique fondamentale : selon lui, la plupart des thèses leibniziennes se valideraient pour l’essentiel depuis les prémisses d’un système métaphysique, et non par leur concordance avec notre connaissance empirique des corps. Il ne s’agirait pas de récuser tout principe métaphysique, mais ceux qui s’appuient sur des présuppositions architectoniques. Le principe de moindre action représenterait justement une option plus légitime par rapport aux hypothèses systématiques. Contrairement au principe leibnizien de conservation de la force vive, celui de moindre action serait confirmé par l’ensemble des lois de la nature.

I. LE SYSTÈME LEIBNIZIEN Maupertuis revient sur quelques thèses qui semblent constituer selon lui l’essentiel du système de Leibniz. Le postulat le plus fondamental demeure sans conteste le principe de raison suffisante. Même si Maupertuis en discute très peu, il est clair qu’il s’agit pour lui d’une prémisse de la pensée leibnizienne, voire de la pièce première de toute l’organisation théorique. Il en traite surtout dans ses Lettres : « Il [Leibniz] avait dit que rien n’était sans raison suffisante. Cela signifie qu’il y a toujours quelque cause pour laquelle une chose est telle qu’elle est : et je ne crois pas que personne n’en ait jamais douté. On fit de la raison suffisante une nouvelle découverte; un principe fécond qui conduisait à mille vérités jusque-là inconnues »11.

Même si l’analyse que Maupertuis suggère peut nous paraître quelque peu déconcertante, surtout l’adéquation rapide qu’il fait entre les concepts de raison suffisante et de cause, on doit surtout retenir la place qu’occupe le principe dans cette reconstruction: c’est à l’aide du principe de raison suffisante qu’il a été possible à Leibniz de déduire une bonne partie, sinon l’entièreté, des propositions de sa doctrine. Avant de proposer une explication ou une hypothèse, il faudrait en trouver la raison suffisante. On constate que Maupertuis doute dès le départ de la fécondité du principe, dont le caractère trivial ne saurait contribuer à l’établissement d’une méthode de la découverte. Pour l’instant, il faut surtout savoir que Maupertuis interprète le principe de raison suffisante comme étant la pierre de touche de la pensée leibnizienne. À partir de celui-ci, il est envisageable de démontrer d’autres vérités qui permettront de découvrir l’ordre de la nature. À ce propos, Maupertuis n’a sans doute pas tort: dans les Essais de Théodicée, Leibniz s’appuie à plusieurs endroits sur ce principe pour élaborer son argumentation, en particulier pour montrer que Dieu est la première raison de toutes choses12. Avec le principe

10 Ibid., p. XIX. 11 Lettre VII, in : Œuvres, II, p. 258. 12 Essais de Théodicée, § 7 ; GP VI, 106.

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de contradiction, le principe de raison suffisante ou déterminante constitue l’un des fondements de la métaphysique leibnizienne13. Deux lois importantes peuvent ensuite être dérivées du principe de raison suffisante, celles du meilleur et de la continuité. Maupertuis est bien conscient que le principe du meilleur constitue chez Leibniz l’un des instruments essentiels à l’argumentaire des Essais de Théodicée. En stipulant que la sagesse divine veut toujours le meilleur, on peut inférer que le monde actuel, malgré ses défauts, est le plus parfait de tous les mondes possibles. Or, Maupertuis résume ce projet dans son Essai de cosmologie, mais pour immédiatement l’écarter. Il n’est pas nécessaire selon lui de justifier l’ordre instauré par Dieu, le choix du meilleur: il faut plutôt trouver un principe téléologique qui prouvera l’existence de la nature divine. Le problème central de la théodicée leibnizienne est qu’elle s’attarde trop aux détails de la création, à juger de la totalité universelle depuis la convenance et la disconvenance des parties. En revanche, la recherche d’une preuve solide et première de l’existence de Dieu, laquelle montrerait qu’il est la source de toutes choses, suffirait amplement à reconnaître l’ordre et l’harmonie du monde : « Le vrai Philosophe ne doit, ni se laisser éblouir par les parties de l’Univers où brillent l’ordre et la convenance, ni se laisser ébranler par celles où il ne les découvre pas. Malgré tous les désordres qu’il remarque dans la Nature, il y trouvera assez de caractères de la sagesse et de la puissance de son Auteur, pour qu’il ne puisse le méconnaître »14.

Autrement dit, le projet leibnizien cible le mauvais objectif: au lieu d’expliquer par les causes finales l’équilibre des parties dans l’univers, il faudrait essayer de trouver le principe général confirmant l’origine divine de l’harmonie des choses. Toute discussion sur les modalités possibles de l’univers fait obstacle, pour Maupertuis, à la recherche d’une preuve de l’existence de Dieu15. En conséquence, le principe leibnizien du meilleur ne saurait constituer le fondement d’une théologie physique. Nécessairement tourné vers l’examen de la plus parfaite compossibilité des contingents, le principe du meilleur rate l’essentiel de ce que devrait produire une théologie physique, à savoir un principe universel régissant tous les phénomènes et en attestant l’origine dans une Intelligence suprême. Si Maupertuis fait peu mention du principe du meilleur, le jugeant inadéquat pour la constitution d’une doctrine théologique, il se penche davantage sur le principe de continuité. En fait, celui-ci revêt une importance cruciale, car Leibniz l’a employé pour déterminer les lois régissant le mouvement des corps. Contrairement aux principes de raison suffisante ou du meilleur, lesquels contribuent très peu, selon Maupertuis, à l’explication des phénomènes, le principe de continuité a des répercussions directes sur les hypothèses physiques. Il en est question dans un

13 Ibid., 127. 14 Maupertuis : Œuvres, I, p. 18. 15 André Charrak a clairement montré comment la cosmologie au XVIIIe siècle, en particulier chez Maupertuis, s’élabore sans aborder le problème des mondes possibles : Contingence et nécessité des lois de la nature au XVIIIe siècle, Paris 2006, pp. 98–108.

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texte sur l’optique16, mais surtout dans l’Examen philosophique qui traite des lois de la physique17. Je reviendrai dans la deuxième partie sur le détail des objections de Maupertuis, en particulier quant à la notion leibnizienne d’élasticité. Mais on peut d’emblée affirmer que le jugement de Maupertuis à l’égard de la doctrine leibnizienne est, encore une fois, plutôt négatif. L’argument principal montre que la notion de continuité est ambiguë: si les changements des choses, par exemple entre les mouvements des corps, sont insensibles, peut-être le sont-ils simplement à cause des limites de notre entendement18. Autrement dit, les modifications de la nature nous apparaissent continues, mais il se peut très bien que des discontinuités se produisent à un degré plus subtil de réalité, c’est-à-dire entre des intervalles que l’entendement ne peut concevoir. Maupertuis ne se prononce pas davantage dans ce texte sur ce qu’il considère comme étant des abstractions métaphysiques, mais ce qu’il fait surtout remarquer, c’est que la loi leibnizienne présuppose une structure matérielle continue sans nécessairement en attester, selon lui, la validité du point de vue de la connaissance. De cette structure architectonique, dont le principe de raison suffisante serait la prémisse centrale alors que les lois du meilleur et de la continuité en constitueraient les principales conséquences, Maupertuis identifie en dernier lieu trois thèses de la métaphysique leibnizienne qui en seraient les suites plus ou moins directes: l’harmonie préétablie, la théorie des monades et la loi de conservation de la force vive. Sur l’harmonie préétablie et les monades, Maupertuis dit peu de choses: pour éviter les difficultés de l’hypothèse occasionnaliste, Leibniz en aurait déduit que les mouvements du corps suivent l’ordre des perceptions de l’âme selon une harmonie prédéterminée par Dieu. Quant aux corps, Leibniz en aurait conclu qu’ils sont remplis d’entéléchies, c’est-à-dire d’êtres simples pourvus de perceptions et de forces19. On sait que Maupertuis a partiellement récupéré la notion leibnizienne de perception dans ses travaux de physiologie. La perception serait une propriété dynamique des éléments de la matière et expliquerait entre

16 « Accords de différentes lois de la nature », in : Maupertuis : Œuvres, IV, p. 15. Maupertuis fait référence à un mémoire de Leonhard Euler (« Sur le principe de moindre action », in : Histoire de l’Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres de Berlin, Berlin 1753, pp. 199–209), qu’il a annexé à son propre essai. Les débats de l’époque sur l’usage de la loi de continuité en optique se base au départ sur un texte que Leibniz a fait paraître dans les Acta Eruditorum : Unicum opticae, catoptricae et dioptricae principium, in: Acta Eruditorum [Juin 1682], pp. 185–190). 17 « Cette loi, que la Nature n’agit point par sauts; mais que tout changement se fait par degrés insensibles : est ce que Leibniz et ses disciples ont appelé la loi de continuité, ils la croient sans doute applicable dans bien d’autres occasions que dans le mouvement des corps : mais comme il n’est ici question que de ce mouvement, nous ne l’examinerons que par rapport à lui ». « Examen philosophique », in : Maupertuis : Œuvres, I, p. 418. 18 Ibid. 19 Lettre VII, in : Œuvres, II, pp. 258–259. Ailleurs, Maupertuis soutient que la définition leibnizienne de la force serait une tentative de cacher notre ignorance des propriétés intrinsèques de la matière. « Essai de cosmologie », in : Œuvres, I, pp. 28–29.

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autres comment ceux-ci s’assemblent pour former des corps organisés20. Mais de manière générale, Maupertuis est grandement défavorable à la construction de ce genre d’hypothèses métaphysiques, puisqu’elles dérivent d’une organisation architectonique peu intelligible. Maupertuis en conclut qu’il est tout simplement impossible de fournir une description exacte du système leibnizien21. L’opinion de Maupertuis à l’égard de la loi de conservation de la force vive est en revanche beaucoup plus positive. Il en cautionne même la validité empirique, du moins dans son mémoire intitulé Loi du repos. La loi leibnizienne conserverait une légitimité partielle dans l’explication du mouvement des corps élastiques22. Cependant, Maupertuis en minimise la portée dans ses textes ultérieurs, à tel point qu’il semble vouloir complètement l’écarter : tout comme l’hypothèse cartésienne de la conservation du mouvement, celle de Leibniz serait également partielle, donc inadéquate23. C’est le manque d’universalité de la loi leibnizienne qui pose problème : puisqu’on ne saurait l’employer pour expliquer le mouvement de tous les phénomènes, tant solides qu’élastiques, il faut la remplacer par un principe rendant compte de l’ensemble des modifications de la nature24. Le détail de l’argumentation de Maupertuis sera examiné dans la prochaine partie, mais pour le moment, il faut retenir deux choses : 1) la loi de conservation de la force vive possède, selon lui, une certaine validité scientifique, car elle est partiellement avérée sur le plan expérimental. Maupertuis ne remet donc pas complètement en question, du moins dans certains textes, les travaux de Leibniz sur le mouvement des corps élastiques; 2) c’est à son extension universelle qu’il s’en prend pour finalement rejeter la loi leibnizienne et favoriser le principe de moindre action. Contrairement à la loi de Leibniz, le principe de Maupertuis s’appliquerait à tous les phénomènes sans justification métaphysique requise et constituerait probablement la meilleure hypothèse pour exprimer l’organisation première de la nature. En somme, on constate que la reconstruction proposée par Maupertuis n’inclut que quelques éléments de la pensée leibnizienne, et trop souvent pour en déformer ou minimiser le contenu. Mais ce qui importe pour la suite de l’exposé est la présentation systématique qu’il en fait: un ensemble d’inférences déductives relierait les propositions du système, du principe de raison suffisante jusqu’à la loi de conservation de la force vive. Qu’il existe ou non une telle structuration chez Leibniz, en particulier dans les Essais de Théodicée, est à nouveau pour nous d’importance secondaire. Ce qu’il importe de se rappeler, c’est que l’interprétation de Maupertuis fait partie d’une démarche argumentative : elle vise à mettre à 20 « Système de la nature », in : Œuvres, II, pp. 171–174. À propos de la théorie physiologique de Maupertuis voir F. Duchesneau : La physiologie des Lumières, La Haye 1982, pp. 236–258. 21 « Je voudrais pouvoir vous donner une connaissance plus parfaite de ce système: mais comme ceux qui le soutiennent ne l’ont jamais exposé d’une manière intelligible, et qu’ils ne s’accordent point entre eux sur plusieurs points principaux, je n’entreprendrai point d’expliquer ceux qui ne peuvent pas s’expliquer eux-mêmes ». Lettre VII, in : Maupertuis : Œuvres, II, pp. 259–260. 22 Œuvres, IV, p. 47. 23 « Essai de cosmologie », in : Œuvres, I, p. XVII. 24 « Examen philosophique », in : Ibid., p. 417.

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mal un type systématique d’hypothèse métaphysique pour ensuite promouvoir un autre principe, celui de moindre action, cautionné à la fois par l’expérience et les lois de la physique, plus précisément par les lois newtoniennes du mouvement.

II. ÉLASTICITÉ ET CONTINUITÉ Les deux composantes de la doctrine leibnizienne qui intéressent Maupertuis sont dès lors les principes de continuité et de conservation de la force vive. Maupertuis s’oppose à ces deux principes pour différentes raisons. Les premières objections portent directement sur la loi de conservation de la force vive. L’argument principal, qu’on a déjà mentionné, repose sur le fait que cette loi ne serait pas applicable à tous les corps. Précisons: d’abord, Maupertuis fait la distinction, qui est devenue classique depuis Descartes25, entre deux types principaux de corps, les durs et les flexibles. Voici les définitions que Maupertuis en donne : « Voyons maintenant la différence que la dureté ou l’élasticité des corps cause dans les effets du choc. Les corps parfaitement durs sont ceux dont les parties sont inséparables et inflexibles, et dont par, conséquent, la figure est inaltérable. Les corps parfaitement élastiques sont ceux dont les parties, après avoir été pliées, se redressent, reprennent leur première situation, et rendent aux corps leur première figure »26.

L’importance de cette distinction concerne l’usage des différentes hypothèses physiques pour expliquer le mouvement des corps. En définitive, Maupertuis entend démontrer que son principe de moindre action – selon lequel la quantité d’action d’un changement dans la nature est toujours la plus petite possible – explique autant le mouvement des corps inflexibles que celui des corps élastiques. La quantité d’action, qui s’obtient en multipliant la masse des corps par leur vitesse et l’espace qu’ils ont parcouru (mvs), serait toujours la moindre, quelle que soit la nature flexible ou inflexible des corps27. Au contraire, le principe leibnizien de conservation de la force vive rendrait compte du mouvement des seuls corps élastiques. Le calcul de la force, qui s’obtient par le produit de la masse et de la vitesse au carré (mv2), ne saurait s’appliquer aux corps considérés comme étant parfaitement solides. Avec ce calcul, la quantité de forces des corps durs tendrait à varier, non à se conserver28. Ce qui fait dire à Maupertuis que le principe mv2 n’a pas l’universalité que Leibniz lui a conférée et qu’il faut donc lui préférer le principe de moindre action. Parallèlement à ce premier argument, qui vise à montrer les limites du calcul de la force vive, Maupertuis s’attaque à la caractérisation leibnizienne de la ma25 R. Descartes : « Le monde », in : Œuvres de Descartes, publiées par C. Adam et P. Tannery (AT), XI, Paris 1909, pp. 12–16; Id. : Principia philosophiae, AT VIII, pp. 70–71. 26 « Recherche sur les lois du mouvement », in : Maupertuis : Œuvres, IV, p. 34. Maupertuis signale par la suite qu’il n’est pas nécessaire d’ajouter à cette différenciation les corps mous ou fluides, car il s’agit en réalité d’agrégations de corps durs ou élastiques. 27 Ibid., pp. 36–42. 28 « Examen philosophique », in : Œuvres, I, p. 416.

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tière. D’après lui, Leibniz et ses disciples ont soutenu, pour conserver la validité du principe mv2, que la nature n’est composée que de corps élastiques29. Autrement dit, tout corps aussi indivisible qu’il paraisse ne le serait jamais complètement. Johann Bernoulli, que Maupertuis cite comme principal héritier de la physique leibnizienne, a en effet nié l’existence des corps parfaitement durs. La matière est une entité continue et divisible à l’infini, laquelle n’est jamais entièrement insécable. Pour Bernoulli, les corps qui semblent durs sont en fait ceux dont les parties pliées forment un amas matériel difficilement compressible30. Mais aucune partie de matière n’est complètement inflexible: la flexion plus ou moins grande de la matière explique les niveaux de densité, ce qui donne différents types de corps, des plus liquides aux plus solides. D’après Maupertuis, deux principales raisons auraient été évoquées pour défendre cette dernière thèse. 1) La première s’appuie sur les résultats de certaines expérimentations prouvant l’élasticité première des corps. Maupertuis retient celle où l’on montre que deux globes solides peuvent s’aplatir lorsqu’ils s’entrechoquent. Si l’on colore préalablement l’un des deux globes, on pourra s’apercevoir que la marque laissée par le premier globe sur le deuxième est plus grande que celle qu’on avait teinte au départ, ce qui supposerait que les deux corps se sont aplatis lors du choc31. Cette expérience prouverait donc le caractère flexible des corps puisque les globes, présumés au départ inflexibles, se sont au contraire pliés lorsqu’ils sont entrés en contact. Maupertuis n’a pas essayé d’infirmer ces expériences; il a plutôt voulu combattre la thèse leibnizienne en soutenant l’idée que la flexibilité universelle contredit la définition généralement admise de la matière. En fait, qualifier la matière d’élastique irait à l’encontre de l’impénétrabilité, propriété essentielle des corps perçue dans l’expérience sensible. Contrairement à Leibniz32, Maupertuis affirme que l’impénétrabilité engage nécessairement la dureté : « Au contraire, dès qu’on a réfléchi sur l’impénétrabilité des corps, il semble qu’elle ne soit pas différente de leur dureté; ou du moins il semble que la dureté en est une suite nécessaire. Si dans le choc de la plupart des corps, les parties dont ils sont composés se séparent ou se 29 Sur l’évolution du principe d’élasticité dans l’œuvre de Leibniz voir H. Breger : « Elastizität als Strukturprinzip der Materie bei Leibniz », in : A. Heinekamp (éd.) : Leibniz’ Dynamica, Stuttgart 1984, pp. 112–121. 30 J. Bernoulli : « Discours sur les lois de la communication du mouvement », in : Id. : Opera Omnia, III, Lausanne 1742, p. 11. 31 « Ils allèguent des expériences faites sur des corps qu’on appelle vulgairement durs, qui prouvent que ces corps ne sont qu’élastiques. Lorsque deux globes d’ivoire, d’acier, ou de verre, se choquent, on leur retrouve peut-être après le choc leur première figure; mais il est certain qu’ils ne l’ont pas toujours conservée. On s’en assure par ses yeux, si l’on teint l’un des globes de quelque couleur qui puisse s’effacer et tacher l’autre : on voit par la grandeur de la tache, que ces globes pendant le choc se sont aplatis, quoiqu’après il ne soit resté aucun changement sensible à leur figure ». « Essai de cosmologie », in : Maupertuis : Œuvres, I, p. 37. 32 Selon Leibniz, même si la matière est divisible à l’infini, elle est également pourvue d’impénétrabilité ou de résistance, puisqu’elle constitue la force primitive passive des corps : « Specimen Dynamicum », in : GM VI, 246–248. Daniel Garber retrace l’émergence de cette position chez le jeune Leibniz : Leibniz. Body, Substance, Monad, Oxford 2009, pp. 22–29.

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plient, cela n’arrive que parce que ces corps sont des amas d’autres: les corps primitifs, les corps simples, qui sont les éléments de tous les autres, doivent être durs, inflexibles, inaltérables. Plus on examine l’élasticité, plus il paraît que cette propriété ne dépend que d’une structure particulière, qui laisse entre les parties des corps des intervalles dans lesquels elles peuvent se plier »33.

On sait que Maupertuis serait plutôt favorable à l’atomisme: il existerait des parties parfaitement inflexibles se mouvant dans l’espace et composant les corps que nous percevons. Leur assemblage expliquerait aussi l’élasticité de certains corps : les intervalles d’espace entre les parties inflexibles permettraient à des corps de se plier et de se redresser, à l’instar des globes qui se sont aplatis. Maupertuis n’a jamais entièrement cautionné la théorie des atomes, mais sa position s’oppose clairement à la thèse leibnizienne affirmant que la matière est pleine, élastique et divisible à l’infini34. L’impénétrabilité, perçue directement dans l’expérience, impliquerait forcément que les parties primitives de la matière soient solides. Par là, on récuserait l’idée selon laquelle la matière est essentiellement élastique. 2) C’est toutefois la deuxième raison qui serait pour les Leibniziens la plus fondamentale: admettre des corps entièrement solides contredirait la loi de continuité. Leibniz soutient en effet, notamment dans les Essais de Théodicée, que les mouvements des corps changent de manière continue. L’état de repos devrait même être considéré comme un état de mouvement s’évanouissant, lequel diminue par degrés sans complètement disparaître. En d’autres mots, les changements ne font jamais subir de discontinuités à la réalité matérielle35. Si l’on admettait l’existence de corps durs se mouvant dans un espace vide, il faudrait renoncer au principe de continuité, car le mouvement impliquerait des sauts entre les intervalles36. La caractérisation de la matière en tant qu’entité élastique et pleine découlerait somme toute du principe téléologique suivant lequel la nature n’agit jamais par discontinuités. La stratégie de Maupertuis consiste non pas à répondre directement à cet argument, mais à réitérer son désaccord par rapport à un type systématique d’hypothèses. Pour lui, l’élasticité primitive de la matière n’est pas seulement une thèse qui contredit notre représentation empirique des corps – laquelle se structure au contraire autour des propriétés d’impénétrabilité et de dureté –, mais c’est aussi une thèse qui s’appuie pour l’essentiel sur l’adhésion préalable à un principe téléologique. Maupertuis disqualifie d’emblée la caractérisation leibnizienne de la réalité matérielle, car elle se justifie principalement par un choix méthodologique visant à conforter la loi de continuité. C’est ce qu’il souligne dans l’Essai de cosmologie : « En effet la conservation de la force vive a lieu dans le choc des corps élastiques, mais elle ne l’a plus dans le choc des corps durs : et non seulement on n’en saurait déduire les lois de ces corps, mais les lois que ces corps suivent démentent cette conservation. Lorsqu’on fit 33 34 35 36

« Essai de cosmologie », in : Maupertuis : Œuvres, I, p. 39. Lettre IX, in : Œuvres, II, pp. 264–268. Essais de Théodicée, § 348; GP VI, 321. Bernoulli abonde dans le même sens. « Discours sur les lois de la communication du mouvement », in : Bernoulli : Opera Omnia, III, p. 9.

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Christian Leduc cette objection aux Leibniziens, ils aimèrent mieux dire qu’il n’y avait point de corps durs dans la Nature que d’abandonner leur principe. C’était être réduit au paradoxe le plus étrange auquel l’amour d’un système ait jamais pu réduire: car les corps primitifs, les corps qui sont les éléments de tous les autres, que peuvent-ils être que des corps durs? »37.

L’amour du système dont il est ici question fait surtout référence au respect de la loi de continuité. L’objection consiste à dire que la principale raison évoquée par Leibniz pour défendre la thèse de l’élasticité et le principe de conservation de force vive est qu’ils sont cohérents avec la loi téléologique de continuité. Or, il est clair, selon nos précédentes analyses, que Maupertuis refuse ce genre de raisonnement: l’adoption d’un principe ne saurait être faite sur la base de sa simple adéquation théorique avec les prémisses d’un système. D’une part, il n’est pas évident que la loi de continuité se confirme toujours dans le mouvement des corps; Maupertuis insinue même qu’une conception claire de la nature des corps permet de la remettre en question38. D’autre part, fonder des propositions, comme le principe de conservation de force vive et l’élasticité des corps, sur des présuppositions systématiques les rend difficilement défendables. Le critère ultime pour valider un principe métaphysique ne devrait pas être l’accord avec d’autres principes qu’on aurait préalablement postulés, mais essentiellement avec l’expérience et les lois de la nature qu’on en induit. Maupertuis rejette donc en bloc trois éléments centraux de la physique leibnizienne: le principe de continuité, la loi de conservation de la force vive et la caractérisation élastique de la matière. L’essentiel de cette critique repose, à mon avis, sur le refus d’un type de raisonnement. Selon Maupertuis, Leibniz aurait principalement cautionné le principe de la conservation mv2 et la thèse de l’élasticité parce qu’ils doivent s’accorder avec la loi de continuité. Leur légitimité proviendrait de leur convenance avec un principe architectonique, lui-même fondé, d’ailleurs, sur le principe de raison suffisante. Il s’agirait de dériver les hypothèses de prémisses architectoniques antérieurement admises. Par conséquent, Leibniz aurait surtout cherché à défendre la cohérence de sa doctrine. Or, non seulement une telle cohérence ne constitue pas un argument valable pour défendre des hypothèses, mais il n’est pas évident que les prémisses du système leibnizien soient acceptables du point de vue de la méthodologie. Comme postulats a priori sans fondements empiriques premiers, on ne saurait dire si les principes de raison suffisante et de continuité constituent des évidences scientifiques ou de pures spéculations métaphysiques. Il en serait finalement de même du principe de conservation de la force vive et de la définition de la matière comme essentiellement élastique, puisque Leibniz les aurait adoptés sur la base de ces prémisses architectoniques.

37 « Essai de cosmologie », in : Maupertuis : Œuvres, I, p. XVII. 38 Ibid., p. XIX.

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III. LE PRINCIPE MÉTAPHYSIQUE DE MOINDRE ACTION Quelle est finalement la solution de rechange de Maupertuis? Bien entendu, il souhaite faire la promotion du principe de moindre action. Les aspects scientifiques de ce principe ainsi que les controverses entourant son élaboration sont depuis longtemps bien documentés39. Le point que je souhaite faire valoir concerne davantage les conditions méthodologiques favorisant d’après Maupertuis son propre principe. Le principe de moindre action possède essentiellement deux fonctions: d’une part, fonder une preuve de l’existence de l’Intelligence suprême; d’autre part, unifier sous une seule loi les explications scientifiques, c’est-à-dire être capable de rendre compte de l’ordre des phénomènes par un principe unique. De la première fonction, on retiendra l’idée que le principe de Maupertuis est de nature téléologique: pour Maupertuis, on ne saurait expliquer par des causes strictement mécaniques que la quantité d’action d’un changement phénoménal est toujours la plus petite. Il faut donc qu’une intervention divine maintienne dans la nature la quantité moindre d’action pour tous les changements40. La recherche d’une preuve de l’existence de Dieu doit constituer chez Maupertuis l’essentiel de la théologie physique. Encore une fois, il n’est pas question de développer, à la manière de Leibniz, un projet de théodicée. La preuve de l’existence de l’Intelligence suprême suffira à reconnaître l’ordre des choses dans l’univers. On ne doit pas étudier la convenance des parties pour trouver l’harmonie du monde, mais seulement chercher un principe qui en prouve la source ultime en Dieu. Ce n’est pas tant la multiplication des arguments que la force de certains qui rendront possible une véritable théologie physique. Un principe métaphysique premier ne se trouve point dans l’examen des parties de la nature, par exemple dans l’analyse du détail de certaines organisations végétales ou animales, mais en considérant la nature dans sa totalité41. On ne saurait dire si ce reproche s’adresse directement à la théodicée leibnizienne; mais il est clair que Leibniz et ses disciples n’ont pas su élaborer, aux yeux Maupertuis, un principe qui porte l’empreinte de la sagesse et de la puissance de Dieu42. Le principe de conservation de la force vive demeure partiel et ne constitue pas une explication générale prouvant l’origine divine de la nature. Maupertuis n’est donc pas hostile à l’établissement d’un principe 39 Cf. M. Gueroult : Leibniz. Dynamique et métaphysique, Paris 1967; S. Bachelard: « Maupertuis et le principe de moindre action », in : Actes de la journée Maupertuis, Paris 1975, pp. 99–112; G. Tonelli : La pensée philosophique de Maupertuis: son milieu et ses sources, Hildesheim 1987; D. Beeson : Maupertuis: An Intellectual Biography, Oxford 1992; U. Goldenbaum : « Die Bedeutung der öffentlichen Debatte über das Jugement der Berliner Akademie für die Wissenschaftsgeschichte. Eine kritische Sichtung hartnäckiger Vorurteile », in: H. Hecht (éd.): Pierre Louis Moreau de Maupertuis. Eine Bilanz nach 300 Jahren, Berlin 1999, pp. 383–418. 40 « Parlons maintenant du principe que j’ai regardé comme un argument des plus forts que l’Univers nous offre pour nous faire reconnaître la sagesse et la puissance de son souverain auteur. C’est un principe métaphysique sur lequel toutes les lois du mouvement sont fondées ». Maupertuis : Œuvres, I, pp. XIII–XIV. 41 Ibid., pp. X–XI. 42 Ibid., pp. XXV–XXVI.

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métaphysique, mais celui-ci doit nécessairement servir de fondement universel à une démonstration de l’existence de Dieu43. Il faut également que le principe métaphysique remplisse la deuxième fonction tout juste mentionnée. Comme on le sait, un critère de cohésion systématique n’en justifie pas l’adoption. Maupertuis propose plutôt un critère qui se fonde sur l’adéquation générale avec les lois de la physique. L’accord entre le principe et les lois du mouvement constitue dès lors la condition première pour en asseoir la validité épistémologique. Maupertuis explicite cette position dans l’Essai de cosmologie : « Ceux qui n’étaient pas assez instruits dans ces matières, crurent que je ne faisais ici que renouveler l’ancien axiome, Que la Nature agit toujours par les voies les plus simples. Mais cet axiome, qui n’en est un qu’autant que l’existence et la providence de Dieu sont déjà prouvées, est si vague que personne encore n’a su dire en quoi il consiste. Il s’agissait de tirer toutes les lois de la communication du mouvement d’un seul principe, ou seulement de trouver un principe unique avec lequel toutes ces lois s’accordassent »44.

Deux choses sont affirmées dans cet extrait : d’abord, il ne faudrait pas faire l’erreur de confondre le principe de moindre action avec l’axiome traditionnellement admis selon lequel la nature suit toujours les voies les plus simples. Ce dernier appartient à un genre de métaphysique que Maupertuis entend récuser. Le principe de simplicité, tout comme les principes leibniziens de raison suffisante et de continuité, ne prouve pas l’existence de Dieu, mais la présuppose. Un véritable principe permet au contraire de démontrer par son universalité l’existence de la nature divine. Ensuite, une authentique hypothèse métaphysique doit être tirée des lois du mouvement, ou du moins être en accord avec celles-ci. Ici, Maupertuis n’est pas des plus clairs: à certains endroits de l’Essai de cosmologie, il semble affirmer que toutes les lois de la physique, principalement les lois du mouvement, pourraient être déduites du principe de moindre action45. Autrement dit, il y aurait un lien démonstratif entre le principe, comme prémisse, et les lois du mouvement, comme conséquences. À mon avis, cette interprétation pose problème: d’abord, il n’est pas évident que Maupertuis puisse conduire une telle démonstration. Par exemple, serait-il vraiment envisageable de déduire la loi d’inertie du principe de moindre action? Si une telle démonstration est possible, Maupertuis ne l’a toutefois jamais produite. Ensuite, soutenir un tel modèle risquerait de faire du principe de moindre action un précepte architectonique, ce que Maupertuis veut absolument éviter. Il serait étonnant que le principe de moindre action soit l’axiome général duquel toutes les lois sont dérivées. Il me semble qu’une lecture plus adéquate doit mettre l’accent sur la toute dernière affirmation de l’extrait : « ou seulement de trouver un principe unique avec lequel toutes ces lois s’accordassent ». En d’autres mots, le lien entre le principe de moindre action et les lois de la nature en serait un de concordance. Le 43 Sur la théologie physique chez Maupertuis : M. Fichant : « Téléologie et théologie physique chez Maupertuis », in : Actes de la journée Maupertuis, pp. 141–156. 44 Maupertuis : Œuvres, I, p. XV. 45 Ibid., p. 43.

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principe de moindre action ne constituerait pas tant la prémisse d’où découlerait le système de la nature qu’une hypothèse téléologique dont on constate l’application universelle. La validité du principe de Maupertuis proviendrait de son accord général avec les lois du mouvement, tant celles qui régissent les phénomènes astraux que celles qui se rapportent aux organisations végétales et animales46. Autrement dit, le principe de moindre action est au fondement de l’ordre naturel parce qu’il se confirme dans les théories physiques et physiologiques. La supériorité du principe de Maupertuis sur d’autres hypothèses métaphysiques tiendrait finalement de sa capacité à rendre compte de tous les changements phénoménaux. L’opposition à la doctrine leibnizienne prendrait appui par conséquent sur une décision méthodologique: proposer l’hypothèse téléologique la plus probable et la plus solide, au lieu d’une démonstration systématique et complète. L’avantage du principe de moindre action est qu’il s’accorde avec les lois de la nature et pourrait se confirmer dans toutes les occurrences. À cet égard, Maupertuis fait dans la Loi du repos une distinction entre deux types de principes: les premiers constituent des évidences, par exemple les axiomes en mathématiques, les deuxièmes représentent plutôt des hypothèses validées par les observations : « Si les Sciences sont fondées sur certains principes simples et clairs dès le premier aspect, d’où dépendent toutes les vérités qui en sont l’objet, elles ont encore d’autres principes, moins simples à la vérité, et souvent difficiles à découvrir; mais qui étant une fois découverts, sont d’une très grande utilité. Ceux-ci sont en quelque façon les lois que la Nature suit dans certaines combinaisons de circonstances, et nous apprennent ce qu’elle sera dans de semblables occasions. Les premiers principes n’ont guère besoin de démonstration, par l’évidence dont ils sont dès que l’esprit les examine; les derniers ne sauraient avoir de démonstration générale, parce qu’il est impossible de parcourir généralement tous les cas où ils ont lieu »47.

Même s’il n’est pas directement question dans cet extrait du principe de moindre action, on pourrait sans aucun doute l’associer au deuxième type. Il s’agirait d’un principe non démonstratif dont l’exactitude se confirme par l’ensemble des cas observés. De cette manière, la production d’un principe métaphysique s’appuierait sur un accord général avec les lois de la nature. Il faut, d’une part, éviter de produire des hypothèses dont la validité est tirée de prémisses a priori, c’est-à-dire de les déduire de présuppositions rationnelles, et, d’autre part, en mesurer l’universalité par leur application au plus grand nombre de phénomènes possible. Pour simplifier, on pourrait dire que c’est l’accord avec les phénomènes, plutôt qu’avec des prémisses d’un système, qui fait en sorte qu’un principe métaphysique soit légitime ou non. Il n’est certes pas envisageable de fournir une démonstration exhaustive du principe de moindre action, d’en donner un fondement purement a priori, mais celui-ci demeure néanmoins l’explication la plus plausible en ce qu’elle s’harmonise avec l’ensemble des certitudes scientifiques.

46 Ibid., pp. 44–45. 47 Œuvres, IV, p. 45. Marco Panza analyse longuement les implications mathématiques et métaphysiques de cette distinction principielle chez Maupertuis : « De la nature épargnante aux forces généreuses : le principe de moindre action entre mathématique et métaphysique. Maupertuis et Euler, 1740–1751 », in : Revue d’histoire scientifique 48 (1995), pp. 435–520.

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En conclusion, Maupertuis rejette les principes leibniziens non seulement parce qu’ils seraient empiriquement inexacts, mais surtout parce qu’ils s’appuient sur une méthode systématique de la découverte. La recherche d’une cohérence doctrinale ne suffit jamais à valider des propositions ; elle conduit même à l’adoption d’hypothèses qui sont contredites par les lois de la physique, comme le principe de conservation de la force vive. En proposant le principe de moindre action, Maupertuis entendait donc éviter les difficultés du système leibnizien exposé dans les Essais de Théodicée : d’un côté, fournir un fondement premier à la démonstration de l’existence de Dieu, et en conséquence écarter les spéculations métaphysiques qu’entraîne nécessairement le projet d’une théodicée ; de l’autre, proposer l’unique critère de concordance avec les lois empiriques de la nature pour valider un principe téléologique. La seule façon de produire un principe métaphysique serait d’en appuyer la validité sur les lois universelles du mouvement qui, elles, nous sont connues de manière certaine.

CHARLES BONNET ET L’IMMORTALITÉ DES VIVANTS SELON LES ESSAIS DE THÉODICÉE François Duchesneau (Montréal)

La vocation philosophique du naturaliste Charles Bonnet (1720–1793) fut principalement suscitée par la lecture des Essais de Théodicée, même si par la suite d’autres textes du corpus leibnizien l’ont aussi inspiré1. Toutefois, Bonnet s’est toujours défendu d’avoir reproduit les thèses leibnitiennes dans ses propres ouvrages, voire même de les avoir adaptées à sa doctrine des vivants. Les recherches les plus récentes sur la philosophie naturelle de Leibniz, notamment sur sa théorie de l’organisme et des substances composées2, ont suscité l’interrogation sur l’influence que les concepts leibniziens ont pu exercer dans le développement des sciences de la vie. Bonnet intègre de fait concepts et modèles explicatifs leibniziens à une approche théorique significativement différente. À partir des Considérations sur les corps organisés (1762) et de La Contemplation de la nature (1765–1766), il multiplie les comparaisons entre ses propres vues et celles que Leibniz exposait dans les Essais de Théodicée. Tel est tout particulièrement le cas lorsqu’il spécule, dans la Palingénésie philosophique (1769–1770), sur la transformation des vivants à la naissance et à la mort et sur la destinée des êtres corpusculaires mixtes après l’extinction des processus physiologiques. Quelles propositions de la Théodicée Bonnet exploite-t-il principalement ? Comment transforme-t-il les concepts leibniziens dans la mise en scène à laquelle il se livre, notamment dans la Palingénésie? Un aspect majeur de l’héritage des Essais de Théodicée ne se manifesterait-il pas ainsi dans le contexte du naturalisme des Lumières ?

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Voir à ce sujet R. Savioz : Mémoires autographes de Charles Bonnet, Paris 1948. Voir à ce sujet F. Duchesneau : La Physiologie des Lumières, La Haye 1982, pp. 65–102 ; id. : Les Modèles du vivant de Descartes à Leibniz, Paris 1998, pp. 315–372 ; M. Fichant : « Leibniz et les machines de la nature », in : Studia Leibnitiana 35, 1 (2003), pp. 1–28 ; F. Duchesneau : Leibniz. Le vivant et l’organisme, Paris 2010 ; J. Smith : Divine Machines : Leibniz and the Life Sciences, Princeton 2011.

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I. LE VIVANT EVOQUE DANS LES ESSAIS DE THEODICEE Les Essais de Théodicée résument l’essentiel de la doctrine leibnizienne du vivant dont les composantes principalement s’étaient progressivement cristallisées du Discours de métaphysique (1686) et de la correspondance avec Arnauld au Système nouveau de la nature et de la communication des substances (1695)3. Cette théorie du vivant avait par la suite constitué l’un des thèmes majeurs des échanges de Leibniz avec Bayle et, pour cette raison, elle devait se voir intégrer à l’architecture complexe d’arguments développés dans le grand ouvrage de 1710. Dans la Préface des Essais de Théodicée, référence est ainsi faite à la théorie de la « nature plastique » de Cudworth, agent spécifique d’organisation vitale immanent à la nature, que Le Clerc avait remise en scène dans la Bibliothèque choisie. S’en était suivie une polémique entre Bayle et Le Clerc. Bayle récusait tout pouvoir intramondain apte à assumer la formation des corps organiques et il renvoyait à Dieu seul l’intelligence et l’efficience requises pour assurer le fonctionnement et la génération des vivants : ceux-ci représenteraient autant d’entités complexes résultant d’une connexion transcendante entre opérations psychiques et fonctions physiologiques, hors de toute juridiction autonome suivant les lois de la nature. Lorsque Leibniz intervient dans le débat sur les natures plastiques, par la publication en 1705 de ses Considérations sur les principes de vie et sur les natures plastiques dans l’Histoire des ouvrages des sçavans de Basnage de Beauval, il rejette certes les natures plastiques comme principes formels de production – nous pourrions dire d’«ontogenèse» – des vivants, mais il soutient en même temps l’autosuffisance d’opération des corps organiques, qu’il s’agisse de formation, de développement, de conservation ou de fonctionnement, une fois ces corps constitués comme formes préalables ou originaires dans les germes ou les semences. Trois points dominent le résumé qu’il donne de sa position dans les Essais de Théodicée. 1) Il s’agit, en premier lieu, de la thèse méthodologique et épistémologique suivant laquelle le mécanisme suffit à rendre compte de tous les processus des corps organiques, y compris ceux de leur production à partir de ce que l’on peut tenir pour une pré-programmation originelle. Cette autosuffisance de l’explication mécaniste des processus vitaux justifie le rejet de principes explicatifs du type des âmes de la physiologie traditionnelle. 2) Il s’agit deuxièmement de la thèse leibnizienne de l’ « organisme »4, c’est-à-dire d’un ordre spécifique

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Dans cette section, nous nous appuyons sur des arguments que nous avons plus longuement développés dans F. Duchesneau : « Autonomie des âmes et de devenir des corps dans la Théodicée », in : P. Rateau (dir.) : Lectures et interprétations des Essais de Théodicée de G. W. Leibniz (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 40), Stuttgart 2011. Leibniz est l’un des premiers penseurs modernes à avoir utilisé ce terme en lui conférant un sens technique, qui n’est pas encore celui que la biologie a consacré au point d’en faire l’équivalent d’ « individualité vivante ». Le sens originellement leibnizien est celui d’un artifice inhérent à l’organisation des corps organiques qui leur permet de produire par mécanisme les structures et les opérations des vivants. Cela est manifeste, par exemple, dans ce passage du 5e Écrit à Clarke (1716), §115–116 ; GP VII, 417–418 : « L’organisme des animaux est un

Charles Bonnet et l’immortalité des vivants selon les Essais de théodicée

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d’arrangement des dispositifs mécaniques en lesquels consistent les corps organiques: cet ordre fait en sorte que l’unité intégrative du tout et son aptitude fonctionnelle se trouvent impliquées de façon régressive à l’infini dans ses parties constituantes – ce que, souligne Leibniz, l’anatomie subtile des modernes tendrait à nous montrer. Et nous savons par ailleurs que seuls les corps organiques servent à constituer les substances composées de la nature, à la différence des agrégats dont la relation aux parties composantes est extrinsèque à l’idée d’une unité intégrative gouvernée par la forme du tout. Nous savons aussi que, sous-jacents aux divers agrégats phénoménaux, se trouvent des corps organiques véritables: ceux-ci manifestent une organisation déployée à l’infini derrière les apparences de chaos, c’est-à-dire derrière l’absence apparente de formes organiques dans une grande partie du divers phénoménal perçu. 3) Le dernier point majeur évoqué concerne la référence au concept de « préformation », ce terme désignant ici une entité résultant de l’action d’un Dieu aussi sage que puissant : cette préformation consisterait en une organisation telle que les divers vivants puissent en provenir par la médiation de semences emboîtées de façon sérielle. La préformation est donc à situer au sein des semences originelles, détenant elles-mêmes le potentiel de produire des organismes qui détiendraient à leur tour, sous forme de semences, le potentiel de développer les organismes des générations suivantes, et ainsi de suite. C’est là la thèse dont Leibniz trouve le fondement analogique dans les hypothèses de naturalistes contemporains lorsque ceux-ci tendent à expliquer les phénomènes de la génération par la préformation embryonnaire, voire par la préexistence des germes emboîtés en tant que miniatures des organismes à advenir. Les déclarations de Leibniz sont sans équivoque sur ces trois points : « [Dans les Considérations …,] je tâchay de faire voir qu’à la verité le Mechanisme suffit pour produire les corps organiques des animaux, sans qu’on ait besoin d’autres natures plastiques, pourveu qu’on y ajoute la préformation déjà toute organique dans les semences des corps qui naissent, contenues dans celles des corps dont ils sont nés, jusqu’aux semences premieres ; ce qui ne pouvoit venir que de l’Auteur des choses, infiniment puissant et infiniment sage, lequel faisant tout d’abord avec ordre, y avoit préétabli tout ordre et tout artifice futur. Il n’y a point de chaos dans l’interieur des choses, et l’organisme est partout dans une matiere, dont la disposition vient de Dieu. Il s’y decouvriroit même d’autant plus, qu’on iroit plus loin dans l’anatomie des corps ; et on continueroit de la remarquer, quand même on pourroit aller à l’infini, comme la nature, et continuer la subdivision par nostre connoissance, comme elle l’a continuée en effect »5.

Par comparaison avec l’harmonie préétablie qui implique la correspondance dans le développement des états de l’âme et du corps, Leibniz conçoit un rapport analogue entre les effets de production, de développement et de fonctionnement des vivants, c’est-à-dire les marques de l’organisation vitale ou substantielle des corps d’une part, et l’enchaînement des mécanismes susceptibles de les produire d’autre part. Or, cette harmonie préétablie de type organique, figurée par analogie, dépend causalement de la préformation. Le concept de préformation sert corrélativement

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mechanisme qui suppose une préformation divine : ce qui suit est purement naturel, et tout à fait mechanique ». Essais de Théodicée, Préface ; GP VI, 40.

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à fournir, contre l’occasionnalisme, un fondement à la thèse suivant laquelle la nature produirait les vivants en vertu de l’exercice continu, régulier et autonome de ses propres lois. Il s’agit toutefois de restreindre la portée de cette conception commune en reconnaissant que l’organisation originaire elle-même ne saurait découler de telles lois, mais seulement d’une cause transcendante. L’origine surnaturelle de l’organisation laisse place dans la suite des choses à des séquences causales naturelles, lesquelles sont en quelque sorte préfigurées dans la forme d’origine des corps organiques. Une telle thèse avait choqué Bayle : celui-ci faisait valoir que les seules lois du mécanisme naturel ne pourraient assumer la suite continue des productions organiques sans une adjonction constante de direction intelligente. Il se refusait cependant à faire intervenir quelque esprit intramondain, du type de la « nature plastique » de Cudworth ou du « principe hylarchique » ou « esprit de la nature » (spirit of nature) de Henry More, ce qui a son avis ne pouvait qu’ouvrir la porte à une conception spinoziste des déterminations naturelles. Pour sa part, il rapportait toute l’efficience en cause à la seule puissance divine : Dieu ainsi n’aurait de cesse d’orienter les processus naturels requis pour la genèse et le fonctionnement des vivants, donc d’en assurer le maintien et la réplication dans le temps6. C’est en critiquant cette thèse de type occasionnaliste que Leibniz figure au moyen d’analogies l’autosuffisance des mécanismes, s’agissant d’expliquer la production même des vivants sur la base d’une préformation originelle. Ces analogies portent sur la fabrication d’automates aptes à exécuter des mouvements normalement identifiés comme volontaires, mais aussi sur la représentation d’un navire qui poursuivrait par le seul effet de l’agencement séquentiel de mécanismes internes et externes un itinéraire prédéterminé le menant à bon port. Comment pourrait-on restreindre la puissance divine en excluant qu’elle puisse avoir agencé les dispositifs naturels de telle sorte qu’ils réalisent sans conscience ni volition le dessein organique prévu ? S’ajoute la métaphore du feu d’artifice dont l’effet actualisé est en quelque sorte déjà compris dans le montage de la machine pyrotechnique. L’harmonie préétablie dans un tel cas est celle des dispositifs immanents aux réalités naturelles, qui requièrent d’avoir été concertés dans le plan original des choses de telle sorte que leur actualisation ultérieure suivant les lois de la nature s’avère conforme au dessein originellement programmé : « Il faut juger que Dieu a preformé les choses, en sorte que les organisations nouvelles ne soyent qu’une suite mechanique d’une constitution organique precedente »7. C’est ce qu’illustrent les exemples fournis par des naturalistes tels que Swammerdam dans 6

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Ibid., § 188 ; GP VI, 228–229 : « Cependant M. Bayle s’en embarrasse : il ne veut point admettre les natures plastiques destituées de connoissance que M. Cudworth et autres avoient introduites, de peur que les Stratoniciens modernes, c’est à dire les Spinosistes, n’en profitent. C’est ce qui l’engage dans les disputes avec M. Le Clerc. Et prevenu de cette erreur, qu’une cause non-intelligente ne sauroit rien produire où il paroisse de l’artifice, il est éloigné de m’accorder la preformation, qui produit naturellement les organes des animaux, et le système d’une harmonie que Dieu ait préetablie dans les corps, pour les faire repondre par leur propres loix aux pensées et aux volontés des Ames ». Ibid., Préface ; GP VI, 41.

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son Historia insectorum generalis (1669), notamment celui des métamorphoses du ver à soie en papillon. Compte tenu de l’organisation germinale d’origine, les séquences de développement ne consisteraient proprement qu’en développements de structures et d’opérations organiques subsumées sous les lois de la nature. Par homologie, Leibniz fait consister l’harmonie préétablie de l’âme et du corps dans la correspondance des séries de déterminations entre processus physiologiques et processus perceptifs-appétitifs. Cette correspondance ne peut se concevoir que comme l’expression de lois de développement qui se réfléchissent en quelque sorte l’une l’autre, tant par la règle qu’elles incarnent respectivement que par le détail et l’enchaînement des éléments qu’elles englobent et promeuvent à l’existence. Vu la doctrine de l’harmonie préétablie et de la préformation appliquée aux corps organiques, Leibniz doit envisager un traitement équivalent concernant le devenir et la transformation des âmes. Deux passages des Essais de Théodicée traitent de cette question. Il s’agit des articles 86 à 91, que commente ultimement l’article 397. Leibniz défend la subsistance originelle comme aussi l’indestructibilité naturelle de toutes les formes substantielles, comprenant certes les esprits, mais aussi les âmes des bêtes auxquelles la tradition a eu quelque difficulté à reconnaître l’immortalité. Le texte de l’article 90 est probant à cet égard : « Or comme j’aime des maximes qui se soutiennent, et où il y a le moins d’exceptions qu’il est possible, voicy ce qui m’a paru le plus raisonnable en tout sens sur cette importante question. Je tiens que les Ames et generalement les substances simples ne sauroient commencer que par la creation, n’y finir que par l’annihilation : et comme la formation des corps organiques animés ne paroit explicable dans l’ordre de la nature, que lorsqu’on suppose une preformation déja organique, j’en ay inferé que ce que nous appellons generation d’un animal, n’est qu’une transformation et augmentation : ainsi puisque le même corps étoit déjà organisé, il est à croire, qu’il étoit déjà animé, et qu’il avoit la même ame ; de même que je juge vice versa de la conservation de l’ame, lorsqu’elle est créée une fois, que l’animal est conservé aussi, et que la mort apparente n’est qu’un enveloppement ; n’y ayant point d’apparence que dans l’ordre de la nature, il y ait des ames entierement separées de tout corps, ny que ce qui ne commence point naturellement, puisse cesser par les forces de la nature »8.

Les métamorphoses que le corps subit, englobant les effets de génération apparente et de croissance, forment une séquence de modifications « programmées » dans l’organisation d’origine, ce qui renvoie à la force primitive de l’âme intégrant des variations qualitatives correspondantes sous forme de loi de développement formel. Pour établir la vraisemblance de la préformation ainsi conçue, Leibniz évoque les observations de naturalistes microscopistes, mais il va plus loin et accrédite l’association entre préformation organique et préexistence de germes emboîtés, telle que la soutenaient à divers titres Swammerdam, Malebranche, Bayle, Pitcairne et Hartsoeker. Le recours à la préformation vise ici à faire admettre que les effets d’organisation déployés au fil des générations successives doivent être rattachés à l’harmonie des forces primitives inhérentes aux âmes. Dans ce contexte, Leibniz avance l’idée d’une « transcréation » des âmes humaines et rationnelles à partir de certaines « âmes sensitives ou animales, douées 8

Ibid., § 90 ; GP VI, 152.

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de perception et de sentiment, destituées de raison »9. Certes, les âmes animales ne seraient pas, quant à elles, concernées par ce rehaussement qui ouvre la voie non simplement à l’indestructibilité, mais à une forme d’immortalité liée à l’identité personnelle. Or, dans l’article 397, Leibniz envisage la possibilité de faire l’économie du miracle que constituerait cette « transcréation », car le rehaussement de certaines âmes sensitives au rang d’esprits pourrait se trouver directement intégré au schème conceptuel de la préformation des vivants, corps et âmes combinés. « […] Et cela se pourra expliquer, en concevant que dans ce grand nombre d’Ames et d’Animaux, ou du moins de corps organiques vivans qui sont dans les semences, ces ames seules qui sont destinées à parvenir un jour à la nature humaine, enveloppent la raison qui y paroitra un jour, et que les seuls corps organiques de ces ames sont preformés et predisposés à prendre un jour la forme humaine, les autres petits animaux ou vivans seminaux, où rien de tel n’est préetabli, étant essentiellement differens d’eux, et n’ayant rien que d’inferieur en eux »10.

Certaines âmes de type animal sont donc originellement prédisposées à s’exprimer comme esprits, en passant du mode de la sensibilité à celui de la rationalité : cette transition, bien qu’elle représente une métamorphose radicale, s’inscrit dans la série des changements internes du même sujet substantiel animal. La même loi de développement inscrite dès l’origine comme disposition formelle de ce sujet enveloppe et actualise une telle transformation. De la même manière, le corps organique d’origine, quelle que soit sa structure propre, celle d’un animalcule ou d’un vivant séminal, enveloppe, selon une loi individuelle de transformation, la force de générer à terme le corps d’un vivant humain. Il y a donc harmonie de ces deux lois, celle du développement des états internes de la monade ou de l’âme, et celle de la production séquentielle des structures et opérations organiques. Mais il y a plus dans la mesure où ces deux lois en relation harmonique l’une avec l’autre constituent conjointement la raison formelle de la génération et du développement du vivant: substance composée, substance corporelle, machine de la nature. Par un souci de révision remarquable, Leibniz reprend le vocable de « traduction » qu’il avait écarté pour sa signification métaphysique traditionnelle à l’article 88 : alors que ce terme servait précédemment à désigner une production d’âmes nouvelles par d’autres principes formels agissant comme causes efficientes à l’intérieur de l’ordre naturel, il sert désormais à caractériser la dérivation d’un corps organique depuis une organisation préalable où résiderait de façon immanente le principe formel, la disposition dynamique apte à engendrer le vivant accompli : il y aurait somme toute « traduction » de vivant à vivant en vertu de la continuité du lien formel que constitue la loi harmonique de développement, orchestrant en quelque sorte « par programme »11 les transforma9 Ibid., § 91 ; GP VI, 153. 10 Ibid., § 397 ; GP VI, 352. 11 O. Nachtomy : « Leibniz and The Logic of Life », in : Studia Leibnitiana 41, 1 (2009), suggère très fortement que le concept de programme, d’importance majeure en biologie contemporaine, pourrait analogiquement s’appliquer à la conception de la génération des organismes vivants selon Leibniz.

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tions qui nous paraissent parfois abruptes et radicales dans le devenir des substances corporelles, les seules du monde créé.

II. REVISION PAR BONNET DE LA THEORIE DES CORPS ORGANIQUES La relation de Bonnet à Leibniz, qui, partie d’une lecture des Essais de Théodicée, se développe et s’amplifie dans le temps, se rapporte à certains thèmes d’intérêt biologique : la définition du corps organique, l’hypothèse de la préexistence et de la préformation des germes, le schéma théorique de la chaîne des êtres (scala naturæ), la conception du rapport âme-corps dans l’être mixte12. À ce réseau de thèmes se rattachent des spéculations d’ordre métaphysique qui comportent de nettes extrapolations par rapport à ce que l’on peut tenir pour une théorie de l’organisation vitale stricto sensu. Considérons d’abord le volet positif de la théorie, avant de nous tourner vers le volet spéculatif. Limitons-nous d’ailleurs aux thèmes de l’organisation individuelle et de la genèse des corps organiques, objets principaux des Considérations sur les corps organisés. Cet ouvrage se veut l’incarnation d’une «espèce de logique» qui développerait analytiquement les hypothèses dans la seule mesure où elles peuvent s’inférer des faits et leur servir de principes explicatifs13. La problématique est celle de l’origine, du développement et de la génération des corps organisés. Indiscutablement, la méthode d’analyse se veut empiriste: nulle part n’est-il question de coiffer les concepts issus des analogies de l’observation par un réseau de principes rationnels et de notions abstraites. Un tel schéma intervient sans doute, mais de façon implicite et partielle. Quelques postulats relèvent d’une veine que l’on peut à juste titre qualifier de « leibnizienne ». Ainsi peut-on mentionner le recours au principe architectonique de continuité dont l’emprise croîtra dans l’œuvre ultérieure de Bonnet, mais aussi à deux autres présupposés épistémologiques que l’on peut tenir pour primordiaux : l’un a trait à l’ordre complexe des organismes, ordre que l’on ne saurait résorber par aucune analyse mécaniste ; l’autre concerne la combinatoire infinie, ou du moins indéfinie, des conditions de l’organicité dans la nature. Le premier postulat donne lieu à une reprise de la distinction leibnizienne entre machine de la nature et machine de l’art, qui sous-tendait la définition même de l’organisme chez Leibniz. Le second donne lieu à la thèse de l’emboîtement des structures organiques les unes dans les autres en une régression analytique qui concerne à la fois la préexistence des germes et la décomposition des structures de l’organisme individuel. Quant au troisième postulat, il n’est pas sans affinité avec la définition leibnizienne des corps organiques et avec l’adhésion de Leibniz à une approche préformationniste des phénomènes de la génération. 12 Sur le rapport de Bonnet à Leibniz, voir O. Rieppel : « The reception of Leibniz’s philosophy in the writings of Charles Bonnet (1720–1793) », in : Journal of the History of Biology XXI, 1 (1988), pp. 119–145 ; F. Duchesneau : « Charles Bonnet’s neo-Leibnizian theory of organic bodies », in : J. E. H. Smith (éd.) : The Problem of Animal Generation in Early Modern Philosophy, Cambridge 2006, pp. 285–314. 13 C. Bonnet : Considérations sur les corps organisés (1762), Paris 1985, p. 19, Préface.

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Or, ces trois présupposés de l’analyse chez Bonnet, par delà les convergences manifestes, témoignent de divergences profondes qui suggèrent une assimilation sélective et inventive, voire déviante, de la théorie leibnizienne de la part du naturaliste genevois. Celui-ci ne saisit guère l’articulation d’ensemble de la théorie et il ne fait qu’en soupçonner le raffinement méthodologique. Bonnet n’a-t-il pas d’ailleurs lui-même avoué que, si la lecture des Essais de Théodicée en 1748 l’avait amené à esquisser le programme de toutes ses recherches théoriques ultérieures, la conception monadologique le rebutait si profondément qu’il n’en intégra des éléments à sa philosophie que sur le tard, et, peut-on ajouter, hors contexte de l’investigation biologique proprement dite ?14 Or les continuités/divergences sont ici fort instructives. Tournons-nous donc vers les trois présupposés qui rattachent les Considérations à l’héritage leibnizien. Bonnet évoque longuement le principe leibnizien de continuité dans le cadre d’une réflexion sur les modes de reproduction de type végétal caractéristiques du polype15. Il insiste à ce propos sur le caractère non analogique de la reproduction du polype, si l’on se réfère à la représentation normative suivant laquelle tout système organique animal se reproduirait à partir d’un état suffisamment intégral et intégré de l’organisme d’origine. Suivant les observations d’Abraham Trembley (1710–1784), la reproduction constatée du polype à partir d’une portion incomplète de cet organisme suggère un système d’ordre interne du vivant animal à la frontière de l’état végétal16. D’où l’exigence d’une extension gradualiste de la notion de système organique, de telle sorte que cette notion puisse signifier des formes qui se complexifient et se différencient par transition continue. La loi générale de la vie organique, pourrait-on estimer, doit prendre en compte la série continue des modes de reproduction que l’expérience des capacités de métamorphose et de régénération nous permet de retracer. En formulant son principe Natura non facit saltus, Leibniz aurait anticipé cette idée de l’enchaînement sériel des formes vivantes en progression hiérarchique. La lettre de Leibniz révélée au monde savant par König, que Bonnet considérait comme authentique, en porterait témoignage17. L’auteur y présentait ainsi l’usage du principe de continuité dans la détermination des classes naturelles : «Je pense donc avoir de bonnes raisons pour croire que toutes les différentes classes des êtres, dont l’assemblage forme l’univers, ne sont dans les idées de Dieu, qui connaît distinctement

14 Savioz : Mémoires autographes, pp. 100–101. 15 Bonnet : Considérations, § 209, pp. 177–179. 16 Voir A. Trembley : Mémoires pour servir à l’histoire d’un genre de polypes d’eau douce, en bras en forme de cornes, Leyde 1744 ; V. P. Dawson : Nature’s Enigma: The Problem of the Polyp in the Letter of Bonnet, Trembley and Réaumur, Philadelphia 1987. 17 Certains spécialistes parmi les plus autorisés tendent aujourd’hui à donner cette lettre pour authentique, mais, lors de la controverse sur l’invention du principe de la moindre action, elle avait été dénoncée comme un faux à l’instigation de Leonhard Euler. Voir Lettre de Mr. Leibniz, dont Mr. Koenig a cité le fragment (d’après les Maupertuisiana publiés à Hambourg en 1753) in : L. Euler : Opera omnia, II 5, Lausanne 1957, pp. 265–266; P. Costabel : « L’Affaire Maupertuis-Koenig et les ‹ questions de fait › », in: K. Figala/E. Berninger (éds.) : Arithmos-Arrythmos. Skizzen aus der Wissenschaftsgeschichte, München 1979, pp. 29–48.

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leurs gradations essentielles, que comme autant d’ordonnées d’une même courbe, dont l’union ne souffre pas qu’on en place d’autres entre deux, à cause que cela marquerait du désordre et de l’imperfection. Les hommes tiennent donc aux animaux, ceux-ci aux plantes et celles-ci derechef aux fossiles, qui se lieront à leur tour aux corps que les sens et l’imagination nous représentent comme parfaitement morts et informes. Or, puisque la loi de continuité exige que, quand les déterminations essentielles d’un être se rapprochent de celles d’un autre, […] aussi en conséquence toutes les propriétés du premier doivent s’approcher graduellement de celles du dernier, il est nécessaire que tous les ordres des êtres naturels ne forment qu’une seule chaîne, dans laquelle les différentes classes, comme autant d’anneaux, tiennent si étroitement les unes aux autres qu’il est impossible aux sens et à l’imagination de fixer précisément le point où quelqu’une commence, ou finit : toutes les espèces qui bordent, ou qui occupent pour ainsi dire les régions d’inflexion et de rebroussement, devaient être équivoques et douées de caractères qui peuvent se rapporter aux espèces voisines également […] [D’où le renversement] des règles communes, bâties sur la supposition d’une séparation parfaite et absolue des différents ordres des êtres simultanés qui remplissent l’univers»18.

Or quelle interprétation ce texte problématique, surgi au cœur de la controverse sur la priorité de découverte du principe de la moindre action, suggère-t-il à Bonnet? Essentiellement, la thèse d’un ordre continu des formes vivantes spécifiques se hiérarchisant en complexité et en perfection. Nous sommes appelés à concevoir empiriquement cet ordre, pourvu que nous parvenions à répertorier les diverses formes intermédiaires entre les règnes. Les polypes établissent cette transition qui correspond à l’échelon naturel des zoophytes. En tout état de cause, soutient Bonnet, les formes organiques différenciées des diverses espèces, selon les limites de notre compréhension des rapports essentiels entre individus ressemblants, se présentent ou du moins peuvent se présenter en un tableau sensible et gradué des structures vivantes. Ce tableau est d’autant plus exact que l’on parvient à retracer les caractéristiques des organismes à l’état de germes et les modes de composition et de développement de ceux-ci. Bref, le principe de continuité selon Bonnet doit servir de postulat d’ordre pour l’analyse des apparences sensibles: il n’est pas appelé à servir d’instrument de passage à un ordre rationnel symbolique par delà le niveau estimé confus de l’observation sensible. Il ne saurait surtout servir à dévoiler les conditions d’intelligibilité d’organisations complexes présentant des discontinuités apparentes impossibles à résorber au plan même de l’analyse empirique. Or tel était précisément le rôle du principe dans la science leibnizienne. Selon Leibniz, comme il apparaît clairement dans les Nouveaux Essais sur l’entendement humain, la compréhension intégrale des espèces, si elle était possible, se ferait en termes de coordonnées représentant toutes les propriétés d’un type d’organisme19. Cette conjonction de propriétés serait différentiellement distincte de la conjonction de propriétés exprimant l’espèce la plus voisine. D’une certaine manière, la seconde conjonction se comprendrait comme la limite de détermination de la première; mais, en même temps, elle constituerait une détermination hétérogène par rapport à la première. Tous les types organiques effectivement réalisés exprimeraient donc une même similitude de base du point de vue des structures et des fonctions du vivant, mais cette similitude admettrait des de18 Euler, op. cit., pp. 265–266. 19 F. Duchesneau : Leibniz et les modèles de la science, Paris 1993, pp. 272–274.

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grés, et ces degrés correspondraient à des formes d’organisation, à des modes d’intégration des propriétés différentiellement distincts les uns des autres. Le passage à l’ordre des phénomènes nous limite à la construction de modèles hypothétiques : ceux-ci se fondent sur le choix de caractéristiques qui permettent de constituer des séries graduées possibles de déterminations structurales et fonctionnelles. Mais les différences entre espèces ne peuvent dépendre que d’une intégration totale impliquant une pluralité infinie de telles propriétés. C’est pourquoi il faut concevoir la constitution interne spécifique des types d’organisme comme une sorte de matrice permettant de combiner diverses séries de déterminations structurales et fonctionnelles. La chaîne des classes d’êtres apparaît alors comme la courbe d’intégration de ces déterminations combinatoires formant des matrices pour le développement apparent des structures et des fonctions organiques. Mais ce point de vue métaphysique outrepasse les strictes limites de l’hypothèse de la chaîne des êtres réduite, chez Bonnet, à ses seules corrélations empiriques et analogiques. Le second postulat leibnizien des Considérations concerne l’ordre complexe des organismes, dont l’analyse strictement mécaniste serait impuissante à rendre compte. À diverses reprises dans le texte, Bonnet reprend la distinction leibnizienne des machines de la nature et des machines de l’art pour souligner que l’organisation même du vivant primordial échappe à toute possibilité d’explication épigénétique. Certes, on doit pouvoir expliquer mécaniquement les processus de transformation des germes, voire l’ensemble des processus caractéristiques du développement des structures organiques, mais ce qui échappe à toute forme d’analyse mécaniste reste l’organisation vitale même, à la fois pour la combinaison structurale harmonieuse qu’elle implique et pour les fonctions diverses qu’elle est destinée à accomplir. Or, la thèse de Bonnet se réduit à présumer qu’une action extra-mécanique initiale a inscrit un dessein immanent de fonctionnalité dans des machines hyper-subtiles. D’où la nécessité de se donner la représentation d’une organisation intégrée et fonctionnelle des structures minimales qu’il faudra concilier avec l’analyse des mécanismes par lesquels cette structure se déploie et s’actualise. Le premier chapitre des Considérations est consacré aux « germes, principes des corps organisés » et pose l’alternative de deux hypothèses préformationnistes, celle de l’emboîtement et celle de la dissémination : l’exposition y est commandée par le postulat suivant lequel il apparaît impossible d’ « expliquer mécaniquement la formation des êtres organisés »20. La seule issue est alors de poser la préexistence embryonnée d’un germe ou corpuscule organisé. La description des germes, particulièrement selon l’hypothèse de l’emboîtement, paraît dépendre conceptuellement du leibnizianisme à trois titres: le recours analogique aux infinitésimales, l’appel à un dépassement de l’imagination par l’intellection a priori, le schématisme d’un monde d’êtres organisés en emboîtement sériel ou en enveloppement dans le moindre germe. L’hypothèse de la dissémination, dont

20 Bonnet : Considérations, § 1, p. 21.

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l’inspiration moderne provient sans doute de Claude Perrault (1608–1680)21, ne comporte pas pour sa part de traits leibniziens spécifiques, sauf qu’à l’occasion de cette hypothèse, Bonnet souligne le caractère de totalité organique du germe et fournit une raison empirique d’indestructibilité en sa faveur, puisque la petitesse du germe lui permettrait d’éviter la dissolution affectant les mixtes. Le principe de continuité enveloppant celui de raison suffisante – « La nature ne va point par sauts. Tout a sa raison suffisante ou sa cause prochaine et immédiate »22 – sert à justifier une double démarche analytique que l’on peut présumer d’allégeance leibnizienne. Le problème est d’abord celui du développement, c’està-dire du processus de croissance affectant la structure minimale de l’organisme et produisant les transformations observables de celui-ci. Bonnet suppose que la mécanique de l’accroissement est proprement inaccessible. À cette explication causale inatteignable, il convient donc de substituer une description de phases d’évolution que l’on tiendra pour les degrés d’un enchaînement sériel continu. La stratégie d’analyse concerne le lien à établir entre le germe comme ébauche ou esquisse du corps organisé, et la description empirique de l’organisme résultant. Si l’on présumait que l’ébauche est fort dissimilaire et d’ordre nettement inférieur à l’organisme qui en émerge, on se trouverait obligé de recourir à des modèles mécanistes d’épigenèse partielle qui ne sauraient rendre compte de l’organisation émergente. L’explication mécaniste se révèle en effet inadéquate à rendre compte des caractéristiques d’intégration et de fonctionnalité organique. D’où la solution consistant à attribuer au germe l’organisation essentielle de l’organisme résultant : « On dit que le germe est une ébauche ou une esquisse du corps organisé. Cette notion peut n’être pas assez précise. Ou il faut entreprendre d’expliquer mécaniquement la formation des organes, ce que la bonne philosophie reconnaît être au-dessus de ses forces ; ou il faut admettre que le germe contient actuellement en raccourci toutes les parties essentielles à la plante ou à l’animal qu’il représente »23.

À l’évidence, Leibniz soutenait une version plus forte de la maxime méthodologique Omnia fieri mechanice in natura. Chez lui, aucune limitation ne devait affecter en principe la formulation d’explications mécanistes des phénomènes vitaux. Il présupposait en outre l’intégrale correspondance des raisons téléologiques et des explications causales dans l’analyse des processus physiologiques. Certes, la voie de la description fonctionnelle est plus immédiate et moins profonde, mais elle ne saurait que provisoirement se substituer à un dévoilement des micromécanismes enveloppés. Comme la correspondance entre Leibniz et Bourguet l’illustre par ailleurs, Leibniz était en outre porté à concevoir une considérable disparité d’ordre entre les corps organiques séminaux et les organismes que ces corps séminaux deviennent par transformation radicale. Certes, la continuité des formes du simple au complexe, de l’embryonné au développé, est la règle absolue, mais la courbe qui symboliserait la transformation du germe en organisme com21 Voir J. Roger : Les Sciences de la vie dans la pensée française du XVIIIe siècle, Paris 21971, pp. 339–344 ; Duchesneau : Les Modèles du vivant, pp. 265–295. 22 Bonnet : Considérations, § 6, p. 23 23 Ibid., § 35, p. 33.

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plexe ne saurait résulter d’une simple progression linéaire de l’imperceptible au perceptible; il faut au contraire supposer qu’elle impliquerait des inflexions majeures, des passages à la limite par intégration et autres telles transformations remarquables. D’où la possibilité d’admettre des modèles d’épigenèse partielle dans le cadre d’une théorie qui présuppose par ailleurs un déploiement d’organisation à l’infini dans la production des corps animés. Selon Bonnet, du moins dans la période précédant la Palingénésie philosophique, le schème continuiste implique la préexistence extensive de l’organisme dans le corpuscule; selon Leibniz, il se serait plutôt agi de préexistence dynamique à titre de disposition structurante, de tendance à l’organisation et à la complexification, bref de préexistence d’un dessein reflété dans des microsystèmes de points de force corrélés et interagissant sous forme de corps organiques. Le troisième présupposé d’allégeance leibnizienne dans les Considérations concerne la combinatoire infinie des conditions de l’organicité. En présentant l’hypothèse de l’emboîtement des germes, hypothèse qu’il retiendra comme l’explication la plus vraisemblable de la génération, Bonnet accrédite la notion d’un « enveloppement » à l’infini des structures organiques : « Les différents ordres d’infiniment petits abîmés les uns dans les autres, que cette hypothèse admet, accablent l’imagination sans effrayer la raison. Accoutumée à distinguer ce qui est du ressort de l’entendement, de ce qui est du ressort des sens, la raison envisage avec plaisir la graine d’une plante ou l’œuf d’un animal, comme un petit monde peuplé d’une multitude d’êtres organisés, appelés à se succéder dans toute la durée des siècles »24.

D’apparence typiquement leibnizienne, cette représentation se renforce de la double thèse d’une division actuelle à l’infini des systèmes de corps et de l’intégration en tout animalcule appartenant à un tel système d’un monde d’autres corps et donc de vivants encore plus élémentaires : « Un animal, affirme Bonnet, est un monde habité par d’autres animaux; ceux-ci sont des mondes à leur tour, et nous ne savons point où cela finit »25. « Je me plais, ajoute-t-il ailleurs, à considérer cette magnifique suite d’êtres organisés, renfermés comme autant de petits mondes les uns dans les autres »26. Or, des limitations sont immédiatement assignées à l’hypothèse pour l’infléchir en un sens moins leibnizien. Soit pour un passage graduel des formes les plus embryonnées de l’organisme individuel à ses formes développées ! mais à condition que ce soit suivant une transition qui ne se réduise pas à une série de transformations mécaniques, série de transformations dont un physiologiste leibnizien aurait précisément entrepris de saisir la loi par diverses techniques d’approximation – comme le traduisent excellemment les modèles développés par Pietro Antonio Michelotti, l’un des correspondants de Leibniz, dans le De separatione fluidorum in corpore animali (1721)27. Bonnet opte plutôt pour une hypothèse de structure minimale pré-ordonnée à ce qu’il appelle la 24 25 26 27

Ibid., § 3, p. 21. Ibid., § 72, p. 54. Ibid., § 128, p. 88. P. A. Michelotti : De separatione fluidorum in corpore animali dissertatio physico-mechanicomedica, Venitiis 1721.

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« mécanique secrète de l’accroissement »28. Influencée par la physiologie de Haller, cette hypothèse est celle d’un ensemble de fibres simples capables d’intégrer, suivant leurs dispositifs matériels spéciaux formant autant d’ « espèce[s] d’ouvrage[s] à réseau »29, les particules véhiculées par les fluides vitaux. Les processus d’assimilation/désassimilation des réseaux fibrillaires sont ainsi appelés à permettre la croissance, la conservation et le fonctionnement diversifié de la structure végétale ou animale. Selon Bonnet, les réalités de l’univers physique résultent de combinaisons diverses d’éléments dotés de propriétés essentielles ou primordiales (étendue, solidité, force d’inertie) et de propriétés modales qui impliquent des variations de figure, de proportion et de qualité30. Les éléments premiers ou inorganiques de type atomique se combinent pour former des éléments seconds ou organiques qui représentent des combinaisons invariables et impérissables: tels sont les corpuscules organiques ou germes dont le développement, inanalysable mécaniquement, produit les organismes perceptibles. C’est l’organisation du germe comme texture fibrillaire de base qui détermine la nutrition, la croissance et la reproduction caractéristiques des touts organiques. De ce point de vue, il n’y a pas de régression analytique indéfinie des conditions de l’organicité dans la composition de l’organisme individuel, mais plutôt une réduction concevable de l’organisme complexe au stade primordial du germe qui représenterait la combinaison organique minimale. Dans ces conditions, les machines individuelles de la nature, en raison de la combinaison corpusculaire dont elles seraient issues, ne pourraient guère déployer l’organisation à l’infini que requerrait la perspective leibnizienne. La notion de corps organisé qu’adopte Bonnet contrevient au modèle leibnizien, même si par ailleurs l’auteur des Considérations se rapproche de ce modèle par la façon dont il conçoit l’emboîtement sériel des germes ou corpuscules organiques, tout finis qu’ils lui apparaissent dans leurs compositions respectives. Mais, selon lui, la combinatoire apparemment infinie des processus de la génération repose de fait sur une organisation des vivants individuels que l’on devrait pouvoir analyser en structures fibrillaires, elles-mêmes dépendantes de structures corpusculaires en réseau. C’est là, parmi d’autres, un indice probant du fait que Bonnet inscrit les principes néo-leibniziens de son analyse dans un cadre empirique général conforme à une physique d’inspiration newtonienne et qu’il remodèle ainsi significativement les concepts leibniziens d’organisme et de corps organique. Ce remodelage atteint son terme avec la Palingénésie philosophique dans laquelle Bonnet développe in extenso son modèle « néo-leibnizien » du vivant.

28 Bonnet : Considérations, § 15 note 1, p. 25. 29 Ibid., § 14, p. 25. 30 Ibid., § 130–132, pp. 61–63.

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III. UNE DOCTRINE NEO-LEIBNIZIENNE DE L’ORGANISATION VITALE C’est en effet essentiellement avec cet ouvrage que le leibnizianisme de Bonnet s’affirme avec ampleur. Or, même alors, Bonnet revendique l’originalité de ses thèses et leur autonomie par rapport à celles de Leibniz et des principaux néoLeibniziens. En témoigne la polémique qui l’oppose à l’Abbé Pierre Sigorgne après la publication anonyme des Institutions leibnitiennes de ce dernier en 176831, alors qu’il travaille lui-même à la Palingénésie; en témoigne aussi, par la suite, l’échange épistolaire entre Johann Caspar Lavater (1741–1801) et Moses Mendelssohn (1729–1786) auquel il participe en tiers. Tout nous incite à avaliser le jugement que profère ultimement Mendelssohn en mars 1770 : « Je n’ai jamais voulu contester [le] mérite [de l’invention] à M. Bonnet. Je voulais simplement (et la liaison le prouvera à tout lecteur intelligent) faire entendre à M. Lavater que les principes philosophiques d’où part M. Bonnet ne sont plus nouveaux pour les Allemands ; que, depuis Leibniz, tous les monadistes, et surtout Hansch, Bilfinger, Cantz, Baumgarten sont arrivés par des spéculations subtiles au point où le palingénésiste a été conduit par la voie de l’observation. On ne saurait faire un reproche à un homme tel que M. Bonnet de n’avoir jamais lu ces métaphysiciens allemands. Le seul Leibniz devait lui être connu, et le palingénésiste rend toute la justice possible à cet homme, qui fait la gloire de l’Allemagne »32.

Bonnet se donne un cadre théorique leibnizien par l’importation de concepts et de principes architectoniques, mais il ne manque jamais de préciser ses points de divergence par rapport au système qu’il considère le plus voisin de ses propres hypothèses. Dans la Palingénésie, l’écart se creuse, la différence s’affiche surtout par rapport aux thèses que Leibniz exposait dans les articles 89 et 90, avec reprise à l’article 397 des Essais de Théodicée33. Bonnet crédite Leibniz pour avoir soutenu d’une part l’indestructibilité de toutes les âmes ou formes substantielles, bref de toutes les monades – terme qu’il n’hésite plus à s’approprier – d’autre part l’union perpétuelle de tout principe formel du type de l’âme à un corps organique. C’est cette double thèse qu’il repère dans les œuvres de Leibniz qui lui étaient connues et qu’il retient comme un acquis définitif de la philosophie leibnizienne. Dans le même temps, il relève cependant chez Leibniz une représentation trop sommaire, voire à son avis foncièrement inadéquate, de la persistance des organismes animaux après dissolution de leurs corps grossiers. Cette représentation serait inadéquate parce qu’elle impliquerait un parallélisme purement analogique et donc fictif entre la formation des corps organisés par « évolution » (au sens ancien) ou par développement, et leur rétrogradation à un stade ultime d’enveloppement. Bonnet rejette en effet l’hypothèse de l’enveloppement consécutif au développement vital dont il constituerait la stricte contrepartie. 31 P. Sigorgne : Institutions leibnitiennes ou Précis de la monadologie, Lyon 1768. 32 Savioz : Mémoires autographes, pp. 281–282. 33 Bonnet retrouve par ailleurs ces thèses dans quelques passages des Nouveaux essais sur l’entendement humain portant sur la relation essentielle des âmes aux corps organiques, sur la préformation des vivants à l’état de germes, sur l’enveloppement de l’organisme et sur la survivance des états psychiques des animaux après la mort.

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Leibniz ne pouvait que poser comme indestructible l’âme des bêtes, immatérielle et indivisible comme toute autre entéléchie, mais il réservait, dans le même temps, l’immortalité aux esprits, en tant qu’âmes douées « de conscience ou du sentiment réflexif de ce qu’elles [sont] », ce qui en faisait des sujets moraux impérissables et susceptibles de récompense et de châtiment. Sur ce point, Bonnet se croit autorisé à attribuer à l’âme des bêtes une forme de « personnalité » dont le fondement serait la consécution empirique des sensations, ce que Leibniz, pour sa part, considérait au mieux comme une capacité d’apperception inférieure, car non réflexive, de ce fait inapte à concevoir des rapports abstraits et à accéder à la raison des consécutions empiriques34. L’argumentation leibnizienne se limitait à poser que les âmes, comme toutes les substances simples, peuvent seulement commencer par création et finir par annihilation : d’où la nécessité de les concevoir comme impérissables. Parallèlement, l’organisme des corps animés ne peut surgir que d’ « une préformation déjà organique »35: toute génération de ces corps ne suppose que la transformation et l’accroissement de la structure minimale qui en constitue le germe et à laquelle était déjà assignée l’âme qui éprouvera les séquences de perceptions corrélatives au développement de ce germe. Ce développement implique donc les mutations sérielles de l’organisme primitif jusqu’à son terme, la mort apparente: celle-ci consiste dans la dissolution des structures intégrées de la grande machine qui ne laisse plus en place qu’un corps organique minimal correspondant au repliement extrême de la structure animée. La conception leibnizienne des corps organiques implique par ailleurs que la totalité des phénomènes affectant l’organisme dans ses phases de développement et d’enveloppement puisse s’expliquer mécaniquement. Le mécanisme en question reste toutefois subordonné à un principe transcendant d’intégration fonctionnelle des parties. Dans son devenir, cette intégration fonctionnelle par voie de machines naturelles emboîtées exprime la loi d’enchaînement des états de l’âme à travers les phases de transformation du composé substantiel. C’est ce que traduisait excellemment le passage de la Préface des Essais de Théodicée que cite Bonnet : « Le mécanisme suffit pour produire les corps organiques, […] pourvu qu’on y ajoute la préformation déjà toute organique dans les semences des corps dont ils sont nés, jusqu’aux semences premières ; ce qui ne pouvait venir que de l’Auteur des choses, lequel faisant tout d’abord avec ordre, y avait préétabli tout ordre et tout artifice futur »36.

Dès la première mouture des Considérations sur les corps organisés, Bonnet avait tenté de produire une représentation physique aussi rigoureuse que possible du développement et de l’enveloppement des structures organiques. Cette représentation prenait appui à la fois sur la préexistence des corps organiques dans les germes emboîtés, sur une conception de ces corps conforme à la théorie fibrillaire dont Haller venait de fournir le modèle, sur une théorie de l’assimilation/désassimilation des éléments nutritifs et stimulateurs, y compris ceux de la semence, et 34 Sur cette question, voir M. Kulstad : Leibniz on Apperception, Consciousness, and Reflection, München 1991. 35 Essais de Théodicée, § 90 ; GP VI, 152. 36 Essais de Théodicée, Préface ; GP VI, 40.

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sur une interprétation mécaniste de la mort apparente. Selon cette transposition, l’enveloppement leibnizien n’apparaît plus que comme une réduction de la structure globale du corps, telle qu’elle a été transformée et altérée par les diverses phases de la vie organique. Comme Bonnet le note dans la Palingénésie : « [Leibniz] pensait que toutes les âmes avaient toujours préexisté dans une manière de corps organisé ; et son grand principe de la raison suffisante lui persuadait qu’elles demeureraient unies après la mort à un tout organique : n’y ayant point d’apparence, disait-il, que dans l’ordre de la Nature il y ait des âmes entièrement séparées de tout corps. Mais il ne s’était pas expliqué sur la nature de ce corps futur, sur son lieu, sur ses rapports avec l’ancien corps, etc. On voit même […] qu’il paraissait croire que ce serait le même corps, mais concentré ou enveloppé. Ce que nous appelons génération, avait-il dit, n’est qu’une augmentation ; la mort apparente n’est qu’un enveloppement »37.

Bonnet prend prétexte de la Préface des Nouveaux essais sur l’entendement humain pour étayer plus fermement la doctrine leibnizienne de l’union des âmes aux corps organiques, union qu’il convient d’interpréter à la lumière du principe métaphysique de l’harmonie préétablie. Il insiste particulièrement sur le recours à la loi de continuité pour garantir le lien d’enchaînement des séries d’états à rapporter respectivement à l’âme et au corps organique, les deux séries étant strictement requises de s’exprimer l’une l’autre. Il trouve confirmation dans ce texte du fait que c’est « l’animal réduit en petit » que Leibniz tient pour se conserver après la mort et il cite deux passages cruciaux qui corroborent son interprétation. Ainsi Leibniz soutenait-il : « [qu’] en général aucun dérangement des organes visibles n’est capable de porter les choses à une entière confusion dans l’animal, ou de détruire tous les organes, et de priver l’âme de tout son corps organique, et des restes ineffaçables de toutes les traces précédentes »38. De même, s’opposant à toute conception de l’âme séparée et sujette à métempsychose, l’auteur des Nouveaux Essais professait : « [L’âme] garde toujours, même dans la mort, un corps organique, partie du précédent, quoique ce qu’elle garde soit toujours sujet à se dissiper insensiblement et à se réparer et même à souffrir en certain temps un grand changement. Ainsi, au lieu d’une transmigration de l’âme, il y a transformation, enveloppement ou développement et enfin fluxion du corps de cette âme »39.

Or cette réduction ne saurait aboutir à des germes de restitution susceptibles de permettre la régénération de l’organisme de départ, voire sa transformation en une entité vivante plus parfaite selon l’ordre naturel. D’où le constat d’échec que Bonnet associe à la doctrine leibnizienne du développement/enveloppement et le rappel des lignes de force de sa propre doctrine : « Ces expressions ‹réduit en petit› ne sont plus équivoques, et j’avais bien raisonné sur l’‹enveloppement› de mon auteur. Il n’avait donc point imaginé un germe indestructible logé

37 C. Bonnet : « Palingénésie philosophique », VIIe partie, section V, in : Id. : Œuvres d’histoire naturelle et de philosophie, XV, Neuchâtel 1779–1783, p. 310. 38 Nouveaux Essais (NE), Préface ; A VI, 6, 58. 39 Ibid., 2.27.6 ; A VI, 6, 233.

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dès le commencement dans le cerveau visible ; il n’avait pas considéré ce germe comme le véritable siège de l’âme ; il n’y avait point fait résider la personnalité »40.

Selon l’interprétation qu’en donne Bonnet, la thèse leibnizienne de l’enveloppement du corps organique après la mort équivaut à admettre une irrémédiable dissolution de celui-ci. Par ailleurs, présumer que Leibniz aurait reconnu une personnalité à l’animal n’apparaît guère évident, puisque la personnalité, liée à la conscience de soi, requerrait l’accès à une apperception de notions et de principes abstraits, condition d’exercice de la véritable capacité réflexive : à la différence de l’être humain, l’animal selon Leibniz ne pourrait être caractérisé comme une personne, puisque l’intellection dans son cas se trouverait au mieux limitée à la simple consécution empirique des représentations sensibles, sans pouvoir se rehausser même partiellement au stade de l’argumentation rationnelle. Or, Bonnet détecte un double risque dans la position consistant à réserver l’immortalité personnelle aux seuls esprits, donc au seul type de monades associé aux corps enveloppés correspondants. Ce risque est d’abord celui de réduire l’immortalité des bêtes à une simple persistance de composés organiques minimaux: cette position qui avoisine le matérialisme rend suspecte la postulation d’une origine non matérielle des organismes, ainsi que la supposition de processus psychiques se situant à la source du fonctionnement organique et fournissant la raison déterminante globale des effets intégrés que l’on rattache au mécanisme organique. De façon parallèle, le risque pointe à l’horizon de considérer l’âme rationnelle et la personnalité qui en découle comme des rehaussements contingents du principe psychique au sein de mixtes organiques résultant d’une volition particulière de Dieu: ce statut impliquerait une précarité dans la durée qui menacerait la persistance même du moi dans un stade ultérieur à la mort. De nouveau, la critique relève une discrimination insuffisante de la position leibnizienne par rapport à une interprétation du mécanisme organique qui tendrait au matérialisme. Or, ce ne pourrait être là l’orientation fondamentale de la métaphysique leibnizienne : il est donc préférable de soutenir que Leibniz n’a pas assez considéré les implications de sa théorie de l’enveloppement et qu’il aurait pu la corriger à la lumière d’une analyse plus poussée des réquisits empiriques de la préformation organique telle que dévoilée par les naturalistes qui ont étudié les métamorphoses des insectes. Bonnet révise la thèse leibnizienne de l’enveloppement. Il présume que l’âme des êtres sensibles est constamment liée à un petit corps indestructible et forme avec lui un mixte substantiel. Celui-ci constitue en quelque sorte le germe essentiel duquel résultent tous les développements aboutissant au corps grossier et aux séquences d’états qui le caractérisent. Par ailleurs, les opérations intellectives des âmes sensibles impliquent un continuum d’expressions phénoménales et par suite une gradation des formes de la personnalité qui englobe jusqu’aux degrés inférieurs de l’animalité. Les opérations intellectives et les actes de la conscience de soi sous-tendant l’attribution de la personnalité requièrent constamment la présence d’un réseau intégré et fonctionnel de fibres nerveuses, ce que l’on peut 40 Bonnet : «Palingénésie », VIIe partie, section VII, in : Œuvres, XV, p. 326.

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qualifier de « cerveau ». La préexistence d’une telle structure enveloppée constitue une condition essentielle d’émergence des organismes vivants à partir de leur délinéation germinale, mais, par delà celle-ci, cette structure doit trouver sa raison suffisante dans le substrat intemporel que constitue le mixte d’âme animale et de petit corps indestructible. L’immortalité des êtres vivants tient à ce mixte substantiel qui traverse des métamorphoses séquentielles, mais reliées aux divers stades d’expression phénoménale de l’organisme impliqué, y compris au-delà de la mort et de la dissolution massive du corps grossier. Et Bonnet de s’insurger à la fin de la VIIe Partie de la Palingénésie sur l’attribution à Leibniz de sa propre doctrine sur ce point, attribution que l’Abbé Sigorgne avait opérée en 1768 dans ses Institutions leibnitziennes ou Précis de la monadologie, privant l’auteur de la Contemplation de la nature par le fait même de reconnaissance pour ses thèses originales de philosophie naturelle. Ainsi, parmi les divergences notables par lesquelles Bonnet module son adhésion au modèle leibnizien de l’organisme, figure sans doute le présupposé selon lequel il existerait un terme à l’analyse de l’organisation matérielle. Certes, Bonnet ne se fait pas faute de souligner le perfectionnement des moyens d’analyse qui permettent dès son époque et permettront encore plus à l’avenir d’accéder à des dimensions microstructurales et micro-fonctionnelles actuellement inconnues de l’être vivant, que ces moyens soient ceux de la mécanique, de la chimie ou de l’observation microscopique41. La décomposition en parties des corps suppose une pluralité de niveaux de composition et, dans le cas des corps organisés, une pluralité de paliers d’intégration. Leibniz supposait la progression infinie d’une telle décomposition analytique des parties matérielles et la nécessité de postuler la raison suffisante des composés sous forme de monades. Accordant en quelque sorte un statut réel à des quantités infinitésimales que Leibniz pour sa part n’aurait considérées que comme de simples limites et donc comme des êtres de raison, Bonnet suppose que, si la progression actuelle comporte un terme atteignable, ce terme serait constitué d’ « éléments » qui figureraient des « substances absolument simples »42. Il ne saurait évidemment s’agir d’atomes, puisque ceux-ci comporteraient de l’étendue matérielle et que cette dernière serait de l’ordre d’un phénomène requérant lui-même une raison suffisante de sa composition en parties. Bonnet prend appui sur Leibniz pour exorciser le paradoxe du continu qui semble affecter la réduction ultime des parties matérielles : « Si on prend la peine, affirme-t-il, d’approfondir ces principes généraux, on reconnaîtra avec l’inventeur des fameuses monades que l’étendue matérielle n’est qu’un pur phénomène, une simple apparence relative à notre manière d’apercevoir »43.

La monade devient ainsi de ce fait le véritable élément dans l’ordre de décomposition, par delà tous les jeux d’apparences que l’analyse ferait servir à caractériser empiriquement les ingrédients ultimes des composés de type organique. 41 Ibid., XIIIe partie, section I, in : Œuvres, XVI, pp. 31–32. 42 Ibid., XIIIe partie, section II, in : Œuvres, XVI, p. 34. 43 Ibid., p. 35.

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Bonnet est cependant suffisamment leibnizien pour souligner que le monde des phénomènes, par delà la relativité des apparences, renvoie à des lois constitutives qui nous font accéder à l’ordre sous-jacent aux phénomènes mêmes. Ainsi la nature serait-elle un « système régulier d’apparences; car ces apparences sont déterminées par les lois les plus sages, et ce sont uniquement ces lois qu’il nous est donné de connaître, et sur lesquelles nous formons ces belles théories, qui constituent le fond le plus précieux de nos connaissances naturelles »44.

Pour Bonnet toutefois, c’est a posteriori, par la seule connaissance empirique des effets que les entendements finis peuvent s’élever à la connaissance des lois de la nature, fondement des explications probables que nous pouvons formuler sur l’ordre systémique régissant les phénomènes45. Dans le même temps, selon lui, la nature intime des principes actifs sous-tendant les propriétés auxquelles nous relions la production causale des effets observables, nous reste inconnaissable audelà de la simple formulation d’hypothèses. Mais, sur ce point, le modèle méthodologique hérité de Newton et impliquant le recours à des inconnues explicatives, telles que des forces d’attraction, d’irritabilité ou de sensibilité, pour symboliser les causes latentes des phénomènes, nous écarte du modèle leibnizien de construction d’hypothèses par schématisation mécaniste sous l’égide des principes architectoniques. Ainsi l’analogie des phénomènes observables garantit-elle la représentation d’une échelle indéfiniment graduée des espèces d’êtres vivants sans postulation de mécanisme sous-jacent susceptible de rendre compte d’une telle disposition scalaire des formes. De même, l’analogie des phénomènes nous guiderait vers la représentation d’un mode de composition des corps organisés qui refléterait leur intégration fonctionnelle et leur rapport intime aux phénomènes de la sensibilité. Nous accéderions également par cette voie à des lois de développement et de reproduction des corps organisés qui découleraient du constat d’un dessein organisationnel primordial tissant la continuité des générations successives. Dans cet esprit précisément, le « fond pré-ordonné d’organisation »46 dont les caractéristiques essentielles se révèlent progressivement à l’expérience, sans que nous puissions en découvrir le mécanisme même de production, sert à garantir l’enchaînement sériel des systèmes organiques particuliers que forment tant les espèces que les individus. Si une configuration future de l’organisme doit voir le jour, elle est déjà impliquée dans ce fond initial d’organisation : « La constitution actuelle de l’animal, je dis sa constitution organique et psychologique renferme donc des particularités secrètes qui sont le fondement de la liaison de cette constitution avec celle qui doit lui succéder »47.

44 45 46 47

Ibid. Ibid., XIIIe partie, section VIII, in : Œuvres, XVI, pp. 59–60. Ibid., XIVe partie, section III, in : Œuvres, XVI, p. 70. Ibid., XIVe partie, section I, in : Œuvres, XVI, p. 65.

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Articulée au principe de continuité, cette proposition atteste du lien qui unit la structure préformée du germe à la structure développée de l’organisme, mais, dans l’esprit de Bonnet, elle assume une portée plus métaphysique: au-delà de l’ « enveloppe » du « masque » ou de l’ « écorce », que constitue tant le germe phénoménal que son expansion organique, il s’agit d’affirmer, par hypothèse, l’existence du « germe impérissable » qui forme avec l’âme la « personnalité de l’animal »48. Par delà les apparences sensibles, cette personnalité s’inscrirait en continuité du microorganisme germinal et de son expression sous forme de corps organisé de plus grande ampleur; elle assumerait même la continuité analogique des phases de transformation de la même constitution organique de base, mais avec un rehaussement et un perfectionnement tels que cette constitution se révélerait le noyau substantiel de l’être vivant dépouillé de ses enveloppes phénoménales. Avec cette assimilation de la monade à un germe immortel, source de personnalité pour l’organisme vivant et responsable de la restitution ultime des corps organiques à l’état de perfection, s’estompe la distinction cruciale selon Leibniz entre l’ordre phénoménal où se déploient les mécanismes des corps organisés, et l’ordre substantiel, celui des monades, principes formels d’intégration des processus fonctionnels propres aux machines de la nature. La science leibnizienne n’entendait pas dépasser l’analyse des mécanismes organiques en lui substituant une représentation spéculative de petits corps inaltérables et impérissables associés à autant de principes animiques. Dans sa représentation du vivant, Bonnet en est venu à fusionner les considérations monadologiques et physiques. Dans sa conception de la science physiologique, Leibniz distinguait soigneusement les considérations mécaniques liées aux corps organisés et les considérations fonctionnelles liées aux monades en tant que principes formels, tout en supposant la correspondance harmonique des unes et des autres dans l’analyse des phénomènes bien fondés. Bonnet, pour sa part, situe ces deux ordres de considérations sur le même plan et les résorbe analytiquement dans l’organisation même du germe impérissable et de son corps minimal essentiel, dont tous les phénomènes organiques et psychologiques ne seraient que des modalités variables.

CONCLUSION Les continuités et les divergences par rapport au modèle leibnizien de l’organisme que nous avons d’abord relevées dans les Considérations sur les corps organisés de Bonnet déterminent pour une bonne part, chez celui-ci, la poursuite d’une trajectoire intellectuelle tangentielle par rapport à la conception leibnizienne de l’organisme. Ces continuités et ces divergences portent sur le recours au principe de continuité afin de concevoir le liaison des états structuraux et fonctionnels propres à l’organisme individuel et déterminant plus globalement la transition graduée des espèces; elles portent aussi sur l’ordre complexe des corps organisés 48 Ibid., XIIe partie, section I, in : Œuvres, XVI, p. 9.

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qui en fait des machines de la nature irréductibles dans leur formation originelle à l’analyse mécaniste, et sur la représentation de l’emboîtement de germes soustendant l’émergence des corps organisés. Par la suite, l’assimilation/différenciation des thèses leibniziennes que Bonnet a découvertes dans les Essais de Théodicée ne fera que s’accentuer. Ainsi la représentation sérielle de la chaîne des êtres offre-t-elle un indice de différence sensible par rapport aux thèses que Bonnet a pu reprendre du philosophe de Hanovre. Malgré les insinuations de plagiat formulées par Sigorgne et la référence de Mendelssohn aux conclusions similaires formulées par les Leibniziens allemands, la différence dans la continuité par rapport au modèle de Leibniz se marque de façon encore plus tranchée dans les développements de la Palingénésie philosophique relatifs à l’état de survie des organismes animaux et à la destinée des êtres mixtes corpusculaires après la mort physiologique. Si Bonnet se sert de l’harmonie préétablie pour représenter la prédélinéation de tous les êtres organisés dans des germes originels, il conçoit, au fondement de ces germes, des âmes dotées de personnalité et de petits corps organiques impérissables, dont les corps soumis aux vicissitudes de la génération et de la mort ne seraient que des réalisations contingentes. De ce fait, il s’éloigne du rapport des monades dominantes aux corps phénoménaux selon Leibniz. Par ailleurs, s’inspirant non seulement des expériences de Trembley relatives à la régénération et à la reproduction des polypes, mais aussi de celles de Spallanzani sur les animalcules des infusions, Bonnet en vient à relativiser le concept de « germe » jusqu’à le réduire à représenter l’élément préformé des structures organiques sous-tendant l’ontogenèse d’organismes constitués essentiellement de « parties similaires ». Il s’écarte d’autant de la notion de structures organiques intégrées à l’infini qui constituait le cœur de la représentation leibnizienne des « machines de la nature ». Le modèle auquel il se rallie est plus conforme à la théorie des architectures fibrillaires et des propriétés fonctionnelles émergentes selon Haller. Reprochant à Leibniz sa conception trop relativiste de la persistance des organismes animaux après la mort, Bonnet substitue à la notion leibnizienne de l’ « enveloppement » organique sa propre vision de la dissolution des corps grossiers. À travers cette dissolution, se maintiennent les « mixtes substantiels » que constituent les petits corps impérissables animés: ce seraient là de véritables « germes de restitution », aptes à produire les organismes composant un système de la nature plus parfait et plus achevé que le nôtre. Du point de vue épistémologique, Bonnet tend à « réduire » l’analyse infinie des conditions déterminant la composition et l’ordre des processus organiques selon Leibniz. Il présume d’une fin de l’analyse appliquée à l’organisation matérielle des vivants: celle-ci atteindrait ainsi le « fond pré-ordonné de l’organisation ». Il en vient surtout à situer sur le même plan les monades et les éléments ultimes des corps organisés que constituent les germes primordiaux. C’est cette réinterprétation originale que refléteront avec lucidité, au-delà même des développements de la Palingénésie, plusieurs des écrits figurant au dernier tome, publié en 1783, de ses Œuvres d’histoire naturelle et de philosophie (1779–1783). Avec de considérables réserves, liées à la cristallisation de plus en plus dense de ses propres vues philosophiques, il participe alors à la redécouverte des modèles leibniziens les plus suscepti-

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bles d’éclairer la compréhension des organismes dans leur individualité et leur interrelation complexe. Bonnet témoigne ainsi à sa façon d’une « renaissance » leibnizienne qui, pendant la seconde moitié du XVIIIe siècle, a radicalement influencé la réflexion épistémologique sur le vivant. Cette réflexion adopte des formes très diverses : elle implique des sélections apparemment antinomiques de thèses leibniziennes et annexe celles-ci à des théories en nette évolution par rapport au noyau central de la théorie de l’organisme que Leibniz avait esquissée. De Maupertuis à Needham, de Caspar Friedrich Wolff à Blumenbach et Kant, de Bonnet aux premiers théoriciens de la « biologie », se développent des lignes parfois parallèles, parfois croisées de modélisations leibniziennes. Et tout cela part sans doute de lectures déviantes des Essais de Théodicée.

PHYSIOLOGIE DE LA THÉODICÉE − LES ESSAIS DE THÉODICÉE DANS LE DÉBAT SUR L’ORIGINE DE L’ÂME ET LA GÉNÉRATION DES CORPS, À L’OCCASION DES ANONYMI DILUCIDATIONES (1738–1751) Arnaud Pelletier (Hannover)

La réception des Essais de Théodicée ne se limita pas à la seule question de la doctrine de la justice ou de la justification de Dieu. En effet, le seul ouvrage d’envergure publié par Leibniz fut rapidement considéré comme l’exposé central de sa philosophie – malgré les différents articles déjà parus – de sorte qu’un certain nombre d’énoncés et de formulations elliptiques devaient susciter l’interrogation de ses lecteurs au-delà de la seule ‘affaire Dieu’. Il est ainsi bien connu que les quelques mentions, laconiques et apparemment irréconciliables, concernant la substance et la substantialité dans les Essais suscitèrent des demandes d’éclaircissement qui devaient mener Leibniz à rédiger en 1714 les exposés métaphysiques des Principes de la nature et de la grâce et de la soi-disant Monadologie1. D’autres énoncés, apparemment plus secondaires par rapport au propos central, ont également suscité des interrogations et ont finalement ouvert une autre ligne de réception, d’interprétation, et un autre usage des Essais de Théodicée. C’est le cas des paragraphes 91 et 397 des Essais de Théodicée, où il est question de la préexistence de l’âme rationnelle dans les corps organiques, et qui font l’objet d’une référence insistante dans certains traités allemands de théologie mais aussi de physiologie des années 1730. C’est en particulier le cas d’un texte anonyme, qui connut trois éditions entre 1738 et 1751, et qui est à la fois emblématique et central dans ce débat: les Anonymi Dilucidationes vberiores arduae doctrinae de origine animae et malo haereditario, Quam Leibnitivs in Theodicaea primvm tradidit. Il est emblématique du fait qu’il unit de manière très singulière, au moyen de la référence aux Essais de Théodicée, un traité de physiologie de la reproduction humaine à la question du péché originel. Et il est central au moins pour avoir été repris par un certain nombre d’auteurs, wolffiens ou non, qui assurèrent ainsi indirectement une continuité dans l’usage de ces deux paragraphes dans le débat sur l’origine de l’âme rationnelle et la génération d’un corps2. 1

2

Cf. A. Lamarra : « La pensée monadologique de Leibniz dans la Théodicée », in : P. Rateau (éd.) : L’idée de théodicée de Leibniz à Kant (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 36), Stuttgart 2009, pp. 11–21. Ce travail a été réalisé lors d’un séjour de recherche aux Archives Leibniz soutenu par la Fondation Alexander von Humboldt, que nous remercions. Les paragraphes 91 et 397 de la Théodicée furent également commentés en Italie dans les recherches sur la préformation d’A. Vallisneri : « Opinione interno l’anima delle bestie e

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L’exposé s’attachera ainsi à restituer l’histoire de cette autre réception des Essais de Théodicée en examinant successivement : les paragraphes 91 et 397 de la Théodicée posant la question de la transcréation et de la traduction chez Leibniz (I) ; les Dilucidationes de 1738, qui posent la question de la préexistence et de la préformation en contexte wolffien (II) ; et enfin les lectures des Dilucidationes et du § 91 par Johann Gustav Reinbeck et Johann Friedrich Bertram, autour de la question de l’âme des spermatozoïdes (III).

I. LES PARAGRAPHES 91 ET 397 DES ESSAIS DE THEODICEE: TRANSCREATION ET TRADUCTION Les paragraphes 91 et 397 abordent la question de la préexistence de l’âme en tant qu’humaine, c’est-à-dire en tant qu’elle peut recevoir ou développer la qualité d’être rationnelle, et partant d’être soumise au péché originel, contrairement aux autres âmes en général. Cette question de l’origine de la distinction entre les âmes simples et les âmes raisonnables, c’est-à-dire aussi de la distinction, parmi les corps organiques, entre ceux qui sont associés à des « substances incapables de raison » et ceux qui sont associés à des créatures raisonnables3, n’avait pas été tranchée dans l’article paru en mai 1705 et intitulé Considérations sur les principes de vie et les natures plastiques. Leibniz en rappelle la teneur essentielle dans la préface aux Essais de Théodicée, à savoir la distinction entre l’organisme, qui est « partout dans une matière dont la disposition vient de Dieu », et les corps organiques des animaux qui supposent, plus qu’une disposition, une « préformation toute organique dans les semences dont il naissent »4. Il distingue ainsi deux niveaux d’analyse des corps: d’un côté, la matière ou masse, prédisposée par Dieu, merveilleuse machine infinie contenant une infinité de créatures, c’est-àdire contenant partout de l’organisme5; de l’autre, ces arrangements corporels organiques préformés dont une âme fait l’unité. Le contexte immédiat de l’article de 1705 n’impose pas d’envisager la question de l’âme en tant que spécifiquement humaine, et Leibniz refuse ainsi explicitement de trancher la question difficile de l’origine rationnelle de l’âme humaine, que l’on peut rapporter soit à une préexistence ordinaire soit à une intervention extraordinaire de Dieu :

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dell’uomo, e interno i vermicelli spermatici di Leibnizio nel suo libro intitulato Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la Liberté de l’Homme, et l’origine du mal », in : Epistolario II, Milan 1998 (cité par F. Duchesneau : Leibniz, le vivant et l’organisme, Paris 2010, p. 206). Essais de Théodicée (= Théodicée), § 124 ; GP VI, 179. Théodicée, Préface ; GP VI, 40. Cf. Les Considérations sur les Principes de Vie, et sur les Natures Plastiques, par l’Auteur du Système de l’Harmonie préétablie ; GP VI, 539. Cf. Théodicée, § 130 ; GP VI, 182 : « Dieu fait de la matiere la plus belle de toutes les machines possibles » ; Théodicée, § 195 ; GP VI, 232 : « Il y a une infinité de Creatures dans la moindre parcelle de la matiere, à cause de la division actuelle du Continuum à l’infini ».

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« Je n’ose rien assurer ni à l’égard de la préexistence, ni à l’égard du détail de l’état futur des âmes humaines, puisque Dieu se pourrait servir à cet égard de voies extraordinaires dans le règne de la grâce »6.

Cependant la question du mal héréditaire (§ 86), c’est-à-dire la question de la transmission du péché originel d’une âme à une autre au moment de la génération des corps organiques humains, impose, dans le contexte de la Théodicée, de poser la question de l’origine et de la transmission de la forme raisonnable, c’est-à-dire de la perfection rationnelle de l’âme humaine. Si toutes les semences des corps organiques sont bien associées à certaines âmes animales ou sensitives, comment rendre compte du devenir rationnel de certaines de ces âmes? Le problème de l’origine de l’âme humaine ou rationnelle est établi dans la philosophie allemande du second XVIIe siècle – et ainsi que Leibniz l’indique luimême au § 88 – comme une suite du problème de l’origine des formes substantielles – où il s’agit d’examiner les thèses concurrentes de l’éduction (ou émergence de l’âme par variation des limitations de la matière), de la succession (ou création d’âmes successivement infusées dans le corps) ou encore de la traduction (ou transmission d’une âme des parents aux enfants au moyen des semina). La question fut particulièrement discutée d’un point de vue physique dans la philosophie luthérienne: puisque l’âme incorruptible ne peut être tirée de la matière corruptible et que l’infusion successive d’âmes est absurde, la solution traducianiste fut majoritairement soutenue7. Jakob Thomasius préside ainsi en 1665 une thèse intitulée De anima rationali disputatio physica reprenant cette argumentation, avant de rédiger lui-même, en tant que praeses, une Disputatio physica de origine animae humanae soutenue le 27 janvier 1669, et dont Leibniz prend connaissance8. Si l’opinion traducianiste a l’avantage d’être plus compatible avec la 6 7

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GP VI, 545. Un aperçu sur les registres des universités allemandes indique que pas moins de cinquante thèses portant sur l’âme rationnelle (De anima rationali) furent soutenues entre 1660 et 1700, et pour la plus grande partie dans la décennie 1670 : Cf. H. Marti : Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750, München 1982. L’examen moderne des trois hypothèses remonte au moins à Hermann Conring (Dissertatio de origine formarum, Leiden 1630), Johann Sperling (De anima rationali disputatio physica, Wittemberg 1631) et surtout Daniel Sennert (Hypomnemata physica, IV, Frankfurt 1636, chapitres X–XIV) qui définit ainsi la traduction : « ut anima non e semine educatur, sed per semen & cum semine deferatur ad partes e semine generandas, & verum lumen a lumine accensum, animae propagandur » (chapitre VI, p. 230). Sur l’opposition au traducianisme de Sennert, auquel Leibniz fait allusion (Théodicée, § 88 ; GP VI, 151) voir R. Arthur : « Animal generation and substance in Sennert and Leibniz », in : J. Smith (éd.) : The problem of animal generation in early modern philosophy, Cambridge 2006, p. 154. Cf. J. Thomasius (président)/J. J. Thurm (répondant et auteur) : De anima rationali disputatio physica Leipzig 1665. (L’auteur soutient la thèse de la traduction [§ XXIX], après avoir rejeté la thèse (thomiste) de la succession des âmes végétative, sensitive et rationnelle comme absurde [§ XXVII], et la thèse de l’éduction [§ XXVIII] comme immédiatement contradictoire avec l’incorruptibilité de l’âme). Cf. aussi J. Thomasius (répondant: J. Vacke) : Disputatio physica de origine animae humanae, Leipzig 1669 (3ème édition: Leipzig 1669 ; rééditions : Halle 1725 et 1745). Voir aussi : Lettre de Thomasius à Leibniz du 16 mai 1669 ; A II, 12, 40 ; « Dissertatio praeliminaris », 1670 ; A VI, 2, 426.

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génération physique d’une part, et avec la doctrine de la transmission du péché originel d’autre part9, la distinction entre l’âme rationnelle et l’âme sensitive n’est pas thématisée: les corps humains sont dotés d’une unique âme, et il s’agit alors de savoir si elle leur est associée par création ou par traduction10. Il importe avant tout d’interroger l’origine de l’âme humaine prise dans sa totalité, sans préciser comment se développent ou se rapportent les unes aux autres ses différentes facultés, et en particulier la faculté rationnelle11. La formulation du problème leibnizien est différente: il ne s’agit pas de poser la question de l’origine de l’âme dans sa totalité et en général12, mais de poser la question du devenir rationnel d’une âme qui, avant que le corps organique associé n’atteigne un certain développement, n’est pas rationnelle. Autrement dit: le devenir rationnel de certaines âmes n’est pas un simple cas particulier et une simple suite de l’origine des formes substantielles en général. Leibniz apporte alors deux réponses successives au problème du devenir rationnel des âmes dans la Théodicée: celle de la transcréation (§ 91) et celle de la traduction des âmes (§ 397). Ces deux solutions sont explicitement caractérisées par leur plus grande convenance au regard de deux philosophèmes leibniziens bien établis : l’origine des âmes par création d’une part, et le système de l’harmonie des âmes et des corps d’autre part. D’un côté en effet, la thèse que les formes substantielles en général ne peuvent exister que par création incline à soutenir de même une transcréation des âmes rationnelles et à écarter l’idée d’un développement ou d’une traduction de l’âme sensitive en âme rationnelle; de l’autre, le déploiement du corps organique d’une créature raisonnable à partir d’une semence préexistante – ainsi que les observations de Leeuwenhoek l’ont établi13 – incline à soutenir de même la préexistence de l’âme rationnelle dans l’âme de la semence. Mais au-delà d’une simple convenance entre l’origine de l’âme rationnelle et certains philosophèmes, le véritable enjeu est bien entendu celui de la nature même de l’âme rationnelle qui, dans le cas de la traduction, est comprise dans une continuité naturelle avec les âmes simples, et qui, dans le cas de la transcréation, témoigne de sa discontinuité radicale d’avec les autres âmes. Il est ainsi remarquable que la question spécifique de la nature et de l’origine de l’âme rationnelle semble devoir poser une alternative entre deux philosophèmes majeurs et constants de la métaphysique leibnizienne. La juxtaposition des deux paragraphes cités indique que Leibniz semble indécis quant à la solution la plus convenable, et surtout peu enclin à trancher abruptement l’alternative. Les deux paragraphes ont d’ailleurs la particularité de présenter d’abord la solution adverse avant de s’en détourner, de sorte que si l’on désigne 9 10 11 12 13

Cf. J. Thomasius : De origine animae humanae, IV, 20–22, selon la formule de Tertullien : tradux animae, tradux peccati. Ibid., I, 10, 19. Cf. aussi D. Sennert : Hypomnemata physica, IV, XIII (An plures sint in homine Animae?), p. 314 sq. Leibniz soutient la thèse de l’origine des âmes par création. Cf. Théodicée, § 90 ; GP VI, 152. Cf. A. Leeuwenhoek : « Observationes D. Anthonii Lewenhoeck, de Natis è semine genitali Animalculis », in : Philosophical Transactions of the Royal Society of London 12 (1677).

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par A et B les deux parties de chaque paragraphe – clairement distinguées par une locution adversative (pour le § 91: « Mais il me paraît encore », GP VI, 152; pour le § 397 : « Cependant il sera bon d’ajouter », GP VI, 352) – la thèse de la traduction ordinaire des âmes est récusée en 91 A puis soutenue en 397 B, et celle de la transcréation extraordinaire est soutenue en 91 B puis récusée en 397 A. Ces deux paragraphes renvoient en réalité à deux strates différentes de la rédaction de l’ouvrage : (a) Dans la première version manuscrite des Essais de Théodicée, qui ne comporte pas encore la division en paragraphes (manuscrit autographe A), ne figure que le texte du futur § 91 où Leibniz se rallie à la solution de la transcréation ou opération extraordinaire de Dieu14 : les âmes destinées au corps humain existent à l’état d’âmes sensitives et « destituées de raison » lorsqu’elles sont associées aux semences des ancêtres, et elles reçoivent leur qualité rationnelle au moment de la conception15. Cette solution va cependant directement à l’encontre de la ligne argumentative suivie jusque là. Leibniz vient en effet de rappeler au paragraphe 90 comment la thèse de l’existence des âmes par création (et de leur fin par annihilation) est compatible, du point de vue du système de l’harmonie, avec d’une part l’hypothèse de la préformation des corps organiques et d’autre part l’hypothèse d’une absence de génération des corps: les corps ne sont pas engendrés mais transformés et augmentés dans la grossesse et la croissance, selon l’hypothèse qui est appelée dès les années 1680 metasomatosis ou mestaschematismus16. A la suite de ceci, le § 91 A argumente que si l’on tient à la fois l’hypothèse de la préformation et l’hypothèse de l’harmonie, alors il faut tenir aussi l’hypothèse d’une préexistence des âmes rationnelles jusque dans les âmes des semences d’Adam. Mais c’est alors soutenir, comme nous l’avons vu, une continuité naturelle entre l’âme rationnelle et l’âme sensitive. Leibniz se contente alors dans la seconde partie du paragraphe (91 B) de souligner la difficulté qu’il y a à concevoir un « moyen naturel d’élever une âme sensitive au degré d’âme raisonnable »17 − et qu’il vaut ainsi mieux soutenir le passage discontinu de l’âme sensible du spermatozoa à l’âme rationnelle de l’enfant. La transcréation est ainsi à tout le moins le dernier mot de la première rédaction de la Théodicée, et est aussi la solution qui est soutenue à la même époque dans la correspondance avec Des Bosses18. 14 LH I, I, 2, f. 71v. 15 Théodicée, § 91; GP VI, 152. 16 Cf. « De natura mentis et corporis », A VI, 4, 1491. Notons que Leibniz n’a pas toujours soutenu l’hypothèse de la préformation des corps organiques. Cf. J. Smith : « Leibniz on Spermatozoa and Immortality », in : Archiv für Geschichte der Philosophie 89, 3 (2007), p. 277. 17 Théodicée, § 91 ; GP VI, 153. En guise « d’explication » du recours à l’intervention divine, Leibniz note que cela « est d’autant plus aisé à admettre, que la revelation enseigne beaucoup d’autres operations immediates de Dieu sur nos ames » (ibid.). Cela peut à la rigueur assurer que la transcréation est possible, mais non qu’elle est plus « convenable » ou « raisonnable » que la traduction – au sens où il dit préférer « des maximes qui se soutiennent, et où il y a le moins d’exceptions qu’il est possible» (ibid., § 90 ; GP VI, 152). 18 Leibniz à Des Bosses du 24 avril 1709 ; GP II, 371 (« Plutôt qu’une création absolue de l’âme raisonnable, on pourrait soutenir une transcréation de l’âme non-raisonnable en âme raisonnable, ce qui se ferait par l’adjonction miraculeuse d’un degré essentiel de perfection. Ce que

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(b) Dans la seconde version manuscrite (manuscrit autographe B), Leibniz ajoute le paragraphe désigné comme 39719. Cette fois-ci, il rappelle dans un premier temps (397 A) la solution de la transcréation du § 91 B, mais il lui substitue immédiatement l’opinion de la traduction, selon laquelle certaines âmes enveloppent ordinairement en elles la puissance rationnelle qui ne sera développée qu’à l’occasion de ce qu’il faut bien continuer d’appeler la génération du corps organique humain correspondant20. Pas plus qu’il n’explicitait en quoi la transcréation était moins coûteuse que la continuité naturelle, il se contente ici d’indiquer la difficulté du recours à la discontinuité du miracle divin : « Cependant j’aimerais mieux me passer du miracle dans la génération de l’homme »21. Aussi, alors que la traduction d’une âme à une âme, au sens classique de Tertullien et de D. Sennert, a été explicitement écartée aux paragraphes 88 et 9022, Leibniz légitime désormais la traduction d’un animé rationnel à un autre animé rationnel : tout comme les corps organiques humains sont préformés dans les semences des ancêtres, les âmes rationnelles humaines doivent être prédisposées dans les âmes des semences des ancêtres. L’examen des paragraphes 91 et 397 ne permet pas d’établir une solution définitive au problème de l’origine de l’âme rationnelle, qui reste ainsi ouvert dans la Théodicée même si Leibniz exprime sa préférence23. Dans le traité sur la Causa Dei qu’il fait paraître en parallèle, il précise: que cela advienne « par une opération ordinaire ou extraordinaire de Dieu, je n’en décide pas »24. Ce faisant, en soulignant les difficultés propres à chaque solution, Leibniz indique que l’on ne peut en aucun cas supposer la préexistence d’une âme rationnelle comme telle. Cela est évident dans le cas de la transcréation où l’âme du spermatozoa est par définition « destituée de raison » (91 B) ; mais cela est aussi vrai de la traduction, selon laquelle l’âme du spermatozoa n’enveloppe pas la raison, mais une puissance de raison, ou encore « enveloppe la raison qui y paraîtra un jour » (397 B). Il faut donc affirmer qu’il y a à la fois une manière de prédisposition de la rationalité dans les âmes des semences sans affirmer de disposition rationnelle de ces âmes : les âmes des semences sont potentiellement rationnelles mais non essentiellement rationnelles. Autrement dit, Leibniz soutient la thèse d’une préexistence actuelle des âmes simples depuis la Création et exclut la préexistence actuelle des âmes

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je soutiens dans ma discussion contre Bayle ») ; ainsi que la lettre du 8 septembre 1709 ; GP II, 389. LH I, 1,1, f. 239. Étant le développement d’un corps organique préexistant, la génération n’est donc qu’apparente pour Leibniz (cf. GP IV, 480). L’idée d’une absence de génération était couramment attribuée à Swammerdam. Théodicée, § 397 ; GP VI, 352. Ibid., § 88 ; GP VI, 151. Sur les problèmes laissés ouverts par la doctrine de la substantialité dans les Essais de Théodicée, nous nous permettons de renvoyer à : A. Pelletier : « Substance, corps et phénomène dans la Théodicée. Avec une note inédite de Leibniz sur la Réponse aux questions d’un provincial de Pierre Bayle », in : P. Rateau (éd.) : Lectures et interprétations des Essais de Théodicée (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 40), Stuttgart 2011, pp. 117–138. Causa Dei, § 81 ; GP VI, 451.

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rationnelles: pour reprendre une distinction introduite à l’endroit des corps organiques, on pourrait dire qu’il soutient la préexistence de l’âme et refuse la préformation de l’âme rationnelle25. Cette précaution doctrinale – qui le distingue de la version luthérienne du traducianisme que nous avons mentionnée – est présente dès les années 1680 et remonte sans doute à la visite de Leibniz à Leeuwenhoek en 1676: elle consiste à refuser le statut d’âmes pleinement rationnelles et donc humaines aux âmes des simples animalcules − qui sont comme tels exclus du plan du salut26. La traduction présente une solution certes plus naturaliste au problème de l’origine de l’âme rationnelle, mais Leibniz refuse par principe de faire de la rationalité une disposition naturelle de l’âme – et n’exclut ainsi pas totalement une manière de transcréation. De même que Leibniz affirme la préexistence des corps organiques mais qu’il ne tranche pas entre les versions animalculiste et oviste du préformationisme27 ; de même affirme-t-il la préexistence des âmes simples et sensibles mais ne tranche pas sur les voies de leur devenir rationnel. Ces deux paragraphes des Essais de Théodicée ont presque immédiatement été considérés comme un lieu central de réactivation de l’hypothèse de la préexistence de l’âme au tournant du XVIIIe siècle, hypothèse soutenue désormais par les découvertes anatomiques sur la formation des corps et par la métaphysique du système de l’harmonie. Le texte le plus emblématique de leur réception fut publié en 1738.

25 Sur cette distinction, voir P. J. Bowler : « Preformation and Preexistence in the Seventeenth Century: A Brief Analysis », in : Journal of the History of Biology 4, 2 (1971), pp. 221–244. L’auteur caractérise la préformation par la présence de corps organiques en miniature dans les semences : Leibniz ne l’entend pas de cette manière puisqu’il caractérise la préformation par la préexistence de corps organiques pouvant se transformer en d’autres corps organiques dotés d’autres organes (cf. « Considérations sur les principes de vie » ; GP VI, 544). Leibniz serait donc un partisan de la préexistence et non de la préformation selon Bowler. 26 Cf. Smith, art. cit., p. 275. 27 Le paragraphe 91 de la Théodicée mentionne indifféremment des partisans des deux théories.

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II. LES ANONYMI DILUCIDATIONES: PREEXISTENCE DE L’AME ET PREFORMATION ORGANIQUE DES CORPS EN CONTEXTE WOLFFIEN En 1738 paraît de manière anonyme un ouvrage promettant dans son titre de « très riches éclaircissements sur la difficile doctrine de l’origine de l’âme et du mal héréditaire exposée pour la première fois par Leibniz dans la Théodicée »28. Le texte présente trois éléments : (1) une préface (pp. 3–5) qui identifie la « difficile doctrine » en question en citant intégralement le § 397, ou plutôt le § 396 de la traduction allemande mis en exergue de ce traité latin29, et dans lequel sont exposées les deux solutions de la transcréation et de la traduction30 ;

28 Anonymi dilvcidationes vberiores arduae doctrinae de origine animae et malo haereditario, Quam Leibnitivs in Theodicaea primvm tradidit, Holmiae, sumptibus auctoris, 1738. 29 Les paragraphes 274 et 275 de la Théodicée sont réunis dans le seul paragraphe 274 des traductions allemandes, décalant ainsi la numérotation des paragraphes suivants : G. W. Leibniz : Essais de Théodicée, traduction Richter, Amsterdam, Boudestein (en réalité : Hannover, Förster), 1720 (1ère édition = Ravier : Bibliographie des oeuvres de Leibniz, Paris 1937, n. 349) ; Theodicaea, révision Richter, Amsterdam, Boudestein, 1726 (2ème édition = Ravier, n. 375) ; Theodicaea, révision Richter, Hannover, Förster, 1735 (3ème édition = Ravier, n. 402) ; Theodicee, révision Gottsched, Hannover, Förster, 1744 (4ème édition = Ravier, n. 421). 30 Anonymi dilucidationes, pp. 3–5 (nous indiquons les deux parties A et B du § 396/397) : « Ut mens illustris Leibnitii de Animae origine, quam § 8 c. 6 explicavimus, eo distinctius perspiciatur, ipsa dabo Leibnitii Verba § 396 Theodicaea : [A] Ich habe oben (Part. I, § 86 sq.) gezeigt, daß die Seelen natürlicher Weise weder gebohren, noch eine aus der andern genommen werden können, und daß die unsere entweder geschaffen worden, oder praeexistirt haben müsse, ja, ich habe ein gewisses Mittel zwischen einer Schöpffung, und zwischen einer gänzlichen Praeexistenz gezeiget, indem ich befunden, daß man gar wohl sagen könne, die Seele, die vom Anfange aller Dinge in dem Saamen praeexistirt, die sey nur eine Anima sensitiva gewesen; aber zu dem höchsten Grade der Vernunfft erstlich damals gelanget, als der Mensch, dem diese Seele zugehören sollen, entfangen worden, und als der organisirte Leib, der diese Seele vom Anfange an, unter vielen Veränderungen begleiten sollen, sey determinirt worden, den menschlichen Cörper zu formiren. Ich habe geurtheilet, man könne auch diese Erhöhung der Animae sensitivae, die sie zu einem höhern wesentlichen Grade, nemlich zu der Vernunfft gebracht, der ausserordentlichen Würckung Gottes zuschreiben. [B] Inzwischen befinde ich vor gut, noch dieses zu erinnern, daß ich in der Zeugung des Menschen, wie in der Zeugung anderer beseelten Creaturen, lieber das Wunderwerk weglassen wolte, und dieses könte so erkläret werden, daß man sich vorstelle, daß unter der großen Zahl der Seelen und der beseelten Geschöpffe, oder wenigstens der organisirten lebendigen Cörper, die in dem Saamen stecken, allein diejenigen Seelen, die einst zur menschlichen Natur werden solten, die Vernunfft in sich verborgen habe, die einst an den Tag kommen soll, und daß allein die organischen Cörper praeformirt und praedisponirt sind, die menschliche Gestalt einst anzunehmen, indem die andern kleinen Thiere oder lebendige Saamen, in denen doch dergleichen vorher nicht bestimmet ist, dem Wesen nach, von jenen unterschieden, und weit geringer sind. Diese Hervorbringung ist eine Art einer Traduction, die aber weit bequemer ist, als man gemeiniglich lehret, sie leitet nicht eine Seele aus der andern, sondern bloß ein beseeltes aus dem andern, und vermeidet die vielen Wunderwercke einer neuen Schöpffung, die ine ganz reine und neue Seele in den Cörper, den sie corrumpiren soll, hinein bringen würde ».

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(2) des prolégomènes (pp. 6–8) qui indiquent ensuite que l’ouvrage a pour objet la propagation des animaux (propagatio animalium) c’est-à-dire la procréation des descendants (sobolis procreationem), et traitera par conséquent: des parties génitales masculines (chap. 1), des parties génitales féminines (chap. 2), du coït (chap. 3), de la conception (chap. 4), de la formation du fœtus (chap. 5), de l’origine de l’âme (chap. 6) « puisque l’animal naît non seulement avec un corps, mais aussi avec une âme »31; et enfin de l’accouchement (chap. 7) et des particularités pathologiques voire tératologiques des fœtus (chap. 8). (3) enfin le développement des huit chapitres (pp. 9–110). L’ouvrage expose ainsi une anatomie des organes reproducteurs, suivie d’une physiologie et d’une pathologie de la reproduction dont l’auteur précise la bibliographie scientifique jusqu’aux traités récents De spermatologia (1720), De parthenologia (1729) ou De muliebria (1729) de Martin Schurig32. L’objet du traité délimité dans les prolégomènes ne se limite ainsi pas au problème posé dans la préface, dont l’éclaircissement apparaît plutôt comme une conséquence remarquable de la doctrine. L’auteur indique d’ailleurs que la doctrine de la propagation des animaux ne concerne pas la seule connaissance du vivant mais apporte des éclaircissements dans d’autres domaines et est ainsi susceptible de quatre usages particuliers: par les théologiens (afin de mieux interpréter les passages des Écritures Saintes portant sur la génération, de mieux connaître la possibilité du péché originel et de pouvoir statuer sur le baptême des monstres); mais aussi par les jurisconsultes qui veulent établir les cas de virginité et de grossesse légitime; par les médecins qui pourront mieux administrer des médicaments par leur connaissance de « l’état naturel » (statu naturali) ; et enfin par les philosophes qui posent le problème leibnizien de l’origine de l’âme rationnelle33. Les promesses du titre ne sont ainsi réalisées que dans le seul chapitre 6. S’il est ainsi mis en avant, c’est qu’il semble porter les conséquences les plus remarquables, concernant l’origine de l’âme rationnelle, de la doctrine de la génération des corps. L’auteur prend d’abord position entre les deux versions récentes de la génération prise en un sens préformationiste, et que l’on qualifierait l’ovisme et l’animalculisme34. D’un côté, « la théorie ordinaire des médecins, qui attribue la génération du fœtus à des fibres préexistantes dans l’ovule (staminibus praexistentibus) » qui sont comme gonflées et reçoivent la vie de l’aura de la semence virile. L’auteur renvoie pour cette première théorie, entre autre, à la Medicina Rationalis Systematica de Friedrich Hoffmann, le célèbre medicus theologus de Halle, où est développée la doctrine de corpuscules organiques infimes contenus dans la

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Ibid., Prolegomena, § 2, p. 6. Ibid., Prolegomena, § 5, p. 8. Ibid., Prolegomena, § 3, p. 7. Ibid., 4, 9 (le premier chiffre renvoie désormais au chapitre, le second au paragraphe). Les appellations d’ovisme et d’animalculisme datent du XIXe siècle.

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semence35, et qui ne sont organiques qu’en tant qu’ils «embrassent l’idée de tout le corps»36. La seconde théorie est celle des animalcules spermatiques (de animalculis spermaticis) contenus dans l’aura de la semence virile, et dont on mentionne ici les deux versions de la fusion des semences avancées respectivement par Andry et Boerhaave37. L’auteur se prononce pour la théorie animalculiste, qui semble mieux correspondre aux phénomènes observés par Malpighi et par Leeuwenhoek38: la génération des corps est ainsi comprise comme une explicatio des parties de l’animalcule39. Une fois la génération des corps ramenée au préformationisme animalculiste, le chapitre 6 porte alors sur l’origine de l’âme en tant qu’humaine, c’est-à-dire en tant que conscience réflexive40. L’auteur rejette alors toutes les doctrines reçues de l’animation des corps, qui introduisent à chaque fois une manière de saut ontologique dans le passage de l’absence d’âme d’un corps à son animation – saut qui semble désigner Dieu comme la cause prochaine des âmes corrompues par le péché originel. Contre ces doctrines du saut ontologique, l’auteur introduit l’idée d’une gradation qualitative de la force représentative de l’âme, en s’appuyant sur la caractérisation wolffienne de l’âme : « Anima est ens simplex, vi repraesantativa universi, pro situ corporis organici, praeditum, seu pro mutationibus in organis sensoriis corporis sui factis »41. Aussi, poursuit l’auteur, de même qu’il y a une génération continue du corps humain à partir de l’animalcule, de même faut-il penser que l’âme passe continûment des représentations obscures de l’animalcule aux représentations les plus distinctes : « De même que le corps de l’animalcule, transformé et rendu plus parfait, constitue le corps humain, de même son âme, en raison de l’harmonie avec le corps (propter harmoniam cum corpore), rendue en même temps plus parfaite à sa manière et élevée à un plus grand degré 35 F. Hoffman : Medicina Rationalis, T 1, pars II, Halle 1718, chap. XII (De semine humano utriusque sexus). 36 Ibid., T. 1, pars II, chap. XI, § 3, p. 234 : « Quod omnes partes sint organicas, id est, totius corporis ideam complectiantiur ». Sur ce point, voir F. Duchesneau : Physiologie des Lumières, The Hague 1982, p. 55 sq. 37 Anonymi Dilucidationes, 4, 9. Cf. N. Andry : De la génération des vers dans le corps de l’homme, Paris 1700; H. Boerhaave: Institutiones Medicae, Leiden 1708. 38 Ibid., 4, 11. Sur la prudence interprétative de Leeuwenhoek et Malpighi concernant leurs propres observations, voir : Bowler, art. cit., p. 232 sq. 39 Anonymi Dilucidationes, 5, 1. 40 Ibid., 6, 1 : « Ens, quod sibi, sui aliarumque rerum extra se positarum in nobis conscium est, dicitur Anima ». Au final, Leibniz n’est mentionné que trois fois dans tout l’ouvrage : dans la préface en tant que posant le problème de l’âme humaine, au § 8 du chapitre 1 en tant qu’auteur d’une hypothèse de la spermatogénèse, au § 8 du chapitre 6 en tant qu’auteur de l’hypothèse de la traduction. 41 Ibid., 6, 4 : l’âme est un « étant simple doué d’une force de représentation de l’univers selon le lieu de son corps organique, c’est-à-dire selon les changements qui affectent les organes sensoriels de son corps ». Référence est faite aux paragraphes 742 et 753 de la métaphysique allemande de Wolff : « Die Seele hat eine Krafft sich die Welt vorzustellen nach dem Stande ihres Cörpers in der Welt ». (Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Frankfurt – Leipzig 1733, § 753) ; ainsi que le paragraphe 900 et suivants sur « les degrés de la force représentative de l’âme » (die Grade der vorstellenden Krafft).

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essentiel de représentation, constitue l’âme humaine, de sorte que l’âme sensible devient rationnelle (adeoque anima sensitiva fiat rationalis) »42.

On retrouve ici la pétition de principe de la solution traducianiste: l’âme de la semence n’est pas essentiellement et actuellement rationnelle mais enveloppe une puissance de raison (rationem potentia involvere), c’est-à-dire «enveloppe la raison qui y paraîtra un jour» selon les termes du § 396 / 397 de la Théodicée auquel il est explicitement fait référence43. En quel sens peut-on parler d’éclaircissements (dilucidationes) de la doctrine de Leibniz ? Le traité anatomique et physiologique de la formation du fœtus n’estil pas qu’une simple illustration de la metasomatosis leibnizienne; et l’échelle wolffienne de gradation des représentations obscura, clara, distincta, distinctissima n’est-elle pas qu’une simple caractérisation des transformations de l’âme ? Il peut sembler que la contribution propre de l’auteur soit précisément de tirer argument de la thèse de l’harmonie pour décider de la question de l’origine de l’âme rationnelle (propter harmoniam cum corpore) là où Leibniz n’exprimait qu’une préférence. Le système de l’harmonie impose d’écarter les solutions de la création (du néant) et de l’éduction (des corps ou d’autres esprits), et n’est conséquent qu’avec l’hypothèse de la traduction comprise comme la préexistence de l’âme humaine unie à un corps organique, mais unie à lui dans un état de représentations obscures : « Cette origine possible de l’âme est aussi en acte. Car si l’âme humaine ne naît dans la génération ni du néant, ni du corps, ni d’un esprit différent d’elle, il suit qu’elle doit préexister : il ne reste en effet rien d’autre. […] Des représentations claires et distinctes produisent le fait d’être conscient à soi (§ 737 Met. Wolff). L’âme avant la génération fut dans un état de représentations obscures et moins claires »44.

Par ces énoncés univoques, l’auteur anonyme pourrait passer pour être plus conséquent avec le système de l’harmonie que l’auteur du système lui-même : renvoyer au seul § 396 / 397 de la Théodicée, c’est précisément ne pas renvoyer au 42 Ibid., 6, 7 : « Anima hominis in utero & paulo post nativitatem clarae tantum repraesentationes habet, & deinde distinctas, adeoque pertinet ad classem secundam & tertiam, cum anima animalculi spermatici sit ex prima vel secunda. Dum autem transitus entis simplicis ex classe superiore, vel a gradu essentiali inferiore ad superiorem sit possibilis, fieri potest, ut, velut corpus animalculi transformatum & perfectius redditum, constituit corpus humanum, ita anima ejus, propter harmoniam cum corpore, simul suo modo perfectior reddita, & ad majorem repraesentandi gradum essentialem evecta, constituat animam humanam, adeoque anima sensitiva fiat rationalis ». 43 Ibid., 6, 8 : « Quomodo autem evectio naturaliter fieri queat, ita explicat Leibnitius in Theodicaea § 396. Quod animae solae animalculorum spermaticorum ad naturam humanam aliquando constituendam destinatorum, potentia jam involvant rationem aliquando ad parituram, adeoque essentialiter a reliquis differunt. Unde corpore conveniente per gradus accidentales ab inferiori essentiali possint ad superiorem transcendere (§ 7) ». 44 Ibid., 6, 10 : « Haec possibilis animae est etiam actu. Nam si anima humana in generatione nec ex nihilo oriatur, nec ex corpora, nec ex spiritu a se diverso, sequitur eam praeexistere debere. Nihim enim aliud superest. […] Valde clarae & distinctae repraesentationes IJò esse sibi conscium (§ 737. Met. Wolff). Ergo anima ante generationem fuit in statu obscurarum & minus clararum repraesentationum ».

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§ 91. S’il en est ainsi, alors la contribution interprétative de l’auteur anonyme est presque nulle: certes, le problème n’est pas catégoriquement tranché dans le texte de la Théodicée, mais le paragraphe 82 de la soi-disant Monadologie, publiée en 1720, affirme très clairement la solution d’une traduction naturelle jusqu’au « degré de la raison »45. En réalité, les éclaircissements annoncés ne portent pas sur l’alternative entre traduction et transcréation, mais viennent expliciter de quelle manière l’hypothèse de la traduction naturelle peut rendre compte de l’origine rationnelle de l’âme et du péché originel. En effet, puisqu’il est établi que l’âme de l’enfant vient de l’âme de l’animalcule spermatique (Anonymi dilucidationes, 6, 11 et 6, 13), et puisque les animalcules ne vivent en dehors de la semence mâle46, l’hypothèse de l’involution rapporte de proche en loin tous les animalcules à la semence d’Adam, et permet finalement de rendre compte de la transmission du péché originel : « Les âmes des animalcules spermatiques sont en Adam entachées d’imperfections et en même temps élevées à la rationalité. Or ces imperfections – cette obscurité de l’entendement, cette résistance de la volonté et tout ce qui s’ensuit – constituent précisément le péché originel, voyez les Betrachtungen über die Augspurgische Confession de Reinbeck, considération 25, § 11 sq. [Les âmes] frappées du mal héréditaire sont donc unies au corps, et les imperfections croissent à mesure que l’embryon croît »47.

L’affaire du chapitre 6 est ainsi rondement menée. Les éclaircissements se limitent en fait à deux caractérisations : d’un côté la caractérisation wolffienne de la raison comme le degré le plus distinct de la force représentative48 ; de l’autre la caractérisation du péché originel comme résultant des obscurités de l’entendement et de la volonté, rapportée au théologien wolffien Johann Gustav Reinbeck. En somme, il s’agit d’éclaircissements wolffiens du texte de Leibniz. Le philosophème d’une harmonieuse continuité entre la génération des corps et la perfection des âmes est ainsi entièrement soutenu par pas moins de dix citations ou renvois à 45 Monadologie, § 82 ; GP VI, 621. Sur la copie dite A du manuscrit de la Monadologie, le paragraphe 82 renvoie précisément aux paragraphes 91 et 397 de la Théodicée (cf. E. Boutroux : La monadologie, Paris 1881). 46 Anonymi Dilucidationes, 6, 14. L’auteur renvoie sur ce point aux Expériences physiques de Christian Wolff, à savoir au texte allemand des Allerhand nützliche Versuche, dadurch zu genauer Erkäntniss der Natur und Kunst, den Weg gebahnet wird, T. III, Halle 1723, p. 452. 47 Anonymi Dilucidationes, 6, 26: « Animae animalculorum ergo spermaticorum sunt, quibus Adam, iisdem obrutae imperfectionibus, simulae in rationalem evehuntur. Hae imperfectiones autem, caligo intellectus, & voluntatis repugnantia & quae cum illis connexa, peccatum originale constituunt, conf. S. R. Reinbeck in Betrachtungen über die Augspurgische Conf. Betr. XXV. §. 11. seq. Malo ergo haereditario adflictae cum corpore uniuntur, & embryone crescente crescunt hae imperfectiones ». 48 Cf. C. Wolff: Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, 1738, chap. V, § 865, p. 536: « Dadurch, daß wir uns verschiedne Dinge zugleich deutlich vorstellen können, haben wir eine Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten, das ist, wir begreifen, wie eines in dem andern gegründet ist, und noch mehr geschiehet solches in der figürlichen Erkäntniß durch die Schlüsse. Da nun diese Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten die Vernunfft ist; so kommet die Vernunfft gleichfals aus der vorstellenden Krafft der Seele, und zwar aus einem besonderen Grade ihrer Vollkommenheit ».

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la Métaphysique allemande et à la Physique expérimentale allemande de Christian Wolff49. Les Dilucidationes ne feraient-elles alors que simplement reprendre la doctrine wolffienne? Il faut sur ce point être prudent. Si les thèses citées sont bien des éléments de doctrine présents chez Wolff, l’articulation d’une description physiologique précise et de l’hypothèse de l’harmonie pour décider de la préexistence de l’âme, de l’origine de sa rationalité et de la transmission du péché originel ne se trouve jamais comme telle chez Wolff, et constitue une synthèse propre aux Anonymi Dilucidationes. Les exposés de Wolff présentent en effet deux types d’articulation de ces thèses. (a) Dans les traités relevant de la métaphysique spéciale, à savoir la psychologie rationnelle et la théologie naturelle, Wolff explicite bien le parallélisme de la préformation et de la préexistence, mais n’y trouve aucun éclaircissement de la transmission du péché originel. Ainsi le chapitre de la Psychologia rationalis intitulé De animae ortu, unione cum corpore & immortalitate (§§ 697–748) rejette l’hypothèse de la transcréation (§ 700), de la traduction ‘classique’ des âmes (§ 703) pour défendre la « préexistence de l’âme dans des corpuscules organiques préexistants à partir desquels le fœtus se forme dans l’uterus » (§ 704): cette âme préexistante est dans un état originel de confusion due à ses perceptions obscures (§ 706), sans mémoire (§ 708) et sans raison (§ 709)50. Il se produit alors un passage naturel (translatio naturalis) des perceptions confuses du corpuscule aux perceptions distinctes du fœtus en raison des déterminations essentielles de l’âme (determinationes essentiales, § 711) ou des dispositions naturelles aux perceptions claires et distinctes (dispositiones naturales ad perceptiones claras atque distinctas, § 712). Leur développement est réglé par le régime de l’harmonie préétablie puisque la «série des perceptions dans l’âme et la série des mouvements dans le corps s’accordent du fait de la nature de l’âme et du corps» (§ 717)51. Cela suffit pour établir deux différences entre Wolff et l’auteur wolffien des Dilucidationes. D’une part, Wolff ne soutient pas la thèse particulière de la préexistence animalculiste des corps organiques, mais la thèse plus générale de la préexistence de corpuscules organiques – « que ceux-ci soient des animalcules spermatiques ou des rudiments du fœtus » – et laisse donc la possibilité de rompre la continuité corporelle de l’animalcule et du fœtus, et par conséquent de rapporter le péché originel aux âmes des semences d’Adam. D’autre part, ni la traduction ni la transcréation ne permettent pour Wolff de lever la véritable difficulté du péché originel – à savoir si Dieu, créateur des âmes, en est l’auteur ou non : « Que tu tiennes que les âmes sont créées au moment précis où le corps commence à vivre dans l’utérus, et sont versées en lui, ou que tu tiennes qu’elles ont été établies immédiatement

49 A savoir, Id. : Vernünfftige Gedanken, op. cit.; Allerhand nützliche Versuche, op. cit. 50 Id. : Psychologia rationalis methodo scientifica pertractata, Frankfurt – Leipzig 1734, Sect. IV, cap. II. Les paragraphes 704 et 705 sont réputés ne pas avoir été repris dans l’édition Ramanzini, publiée à Vérone, sans doute à l’insu de Wolff. Ils sont cependant bien cités par au § 780 de la Theologia naturalis. 51 Id. : Psychologia rationalis, p. 637.

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Arnaud Pelletier à la création première et unies aux rudiments du fœtus, la même difficulté resurgit, quoique de manière différente »52.

Les traités de métaphysique spéciale indiquent ainsi clairement que Wolff articule les thèses de la préformation des corps et de la préexistence des âmes sans pour autant y lire une justification de la transmission du péché originel. (b) La question de la préformation est par ailleurs aussi abordée dans les traités expérimentaux, nés des leçons expérimentales de Wolff, et elle n’est alors jamais articulée à la question de la préexistence53. Cette dernière ne relève simplement pas du domaine de l’anatomie de la reproduction, dont Wolff s’emploie à justifier l’utilité contre certaines gens « qui pervertissent le christianisme en tartufferie »54. Il apparaît ainsi que les Éclaircissements apportés à l’articulation leibnizienne entre la préformation des corps, la traduction des âmes rationnelles et la transmission du péché originel dans le cadre du système de l’harmonie, consiste essentiellement à rapprocher deux philosophèmes: d’une part, la gradation (leibnizienne et wolffienne) des âmes selon leur degré de confusion et distinction; d’autre part, l’identification de la confusion comme la trace du péché originel. En rapprochant ces deux caractérisations, l’auteur anonyme détermine la question du péché originel en faisant jouer une référence wolffienne (Reinbeck) contre la lettre et la prudence des textes wolffiens. L’ouvrage anonyme de 1738 suscite alors à son tour un débat, en particulier en milieu wolffien, qui vient explicitement prolonger la réception des paragraphes 91 et 397 de la Théodicée55.

52 Ibid., § 705, p. 627 : « Non video quid inde sequatur, quod vel naturali, vel revelatae religioni, vel virtuti sit adversum, si in prima statim rerum creatione animas a Deo ex nihilo productas affirmes una cum staminibus foetus. Si difficultatem moveat propagatio peccati originalis, ea non a praeexistentia, sed a creatione pendet. Sive enim sumas animas tum demum creari, ubi corpus vivere incipit in utero, eidemque infundi, sive admittas eas in prima statim creatione conditas & staminibus fœtus unitas esse; eadem urgebitur difficultas, quamvis non pari successu. In casu nimirum posteriori facilius eam removere licet, quam in priori, quemadmodum ex principiis Theologiae naturalis de permissione mali liquet ». 53 Cf. id. : Allerhand nützliche Versuche, op. cit., en particulier T. 3, chap. VI, § 99, p. 445 sq. (« Von den Thierlein im männlichen Saamen ») consacré aux observations microscopiques des spermatozoa par Leeuwenhoek et Hartsoeker. 54 Cf. id. : Vernünfftige Gedancken von dem Gebrauche der Theile in Menschen-Thieren und Pflanzen, Frankfurt – Leipzig 1725, chap. 6 (« Von den Geburths-Gliedern »), § 183, p. 502 : « Leute in unseren Zeiten, die das Christenthum in Heucheley verkehren ». L’auteur des Dilucidationes cite précisément ce passage en appendice de la deuxième partie de la deuxième édition de 1740 (Anonymi dilucidationum de origine animae et malo haereditario pars posterior, qua doctrina de malo haereditario ratione originis et propagationis examinatur), p. 48. 55 Les présentations de Leibniz comme acteur du débat sur l’origine de l’âme sont cependant antérieures aux Dilucidationes: voir, par exemple, J. H. von Elswich : Disputatio de recentioribus de anima controversiis, 1717.

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III. LES LECTURES DES DILUCIDATIONES ET DU § 91 DE LA THEODICEE PAR JOHANN GUSTAV REINBECK ET JOHANN FRIEDRICH BERTRAM, OU LA QUESTION DE L’AME DES SPERMATOZOÏDES L’ouvrage fut reçu de manière très critique, et en particulier le chapitre 6 qui reprend l’articulation leibnizienne de la traduction des âmes et de la transmission du péché originel: aucune recension ne s’attarde sur la partie physiologique et anatomique du texte sauf pour s’étonner de l’inutile complaisance des détails du chapitre 3 (De coitu)56. Les mentions de l’ouvrage que nous avons pu établir sont donc, le plus souvent, lapidaires. Ainsi, du côté catholique, le dominicain Tommaso Cattarini qualifie « d’hérésie » les doctrines de la préexistence inspirées explicitement du § 91 de la Théodicée et qui relèvent, au choix, du matérialisme, du spinozisme, de l’idéalisme et de l’athéisme57. Cette réception catholique de la doctrine leibnizienne, et cette manière de la discréditer, sont alors courantes: rappelons que le jésuite Louis Bertrand Castel venait de forger en 1737 le terme d’optimisme pour vitupérer, dans les mêmes termes, « le matérialisme déguisé » et le « spinosisme spirituel » des Essais de Théodicée58. Du côté protestant, on peut mentionner la recension parue dans les Frühaufgelesene Früchte der Theologischen Sammlung dont l’auteur rejette non seulement les sept chapitres physiologiques et anatomiques comme ne relevant pas du problème posé, mais indique surtout que l’auteur anonyme ne répond pas au problème: s’il lie péché originel et imperfections, « il ne dit pas pourquoi toutes les âmes auraient chuté avec Adam »59. Cette recension est à l’origine de la seconde édition de l’ouvrage, en

56 Ainsi la recension parue dans les Franckfurthischen gelehrte Zeitungen (n. 100, 1738, p. 596 sq.) ne dit rien du traité physiologique et qualifie l’hypothèse d’une évolution des âmes dans les semences de « labyrinthe philosophique » (cité par J. F. Bertram : Bescheidene Prüfung der Meinung von der Praeexistenz, 1741, p. 257). 57 T. Cattarini : Philosophica Wolfii et Leibnitii de origine & praeexistentia animarum theologice discussa et excussa sententia, Verone 1738, p. 6 et 12. 58 Anonyme (Louis Bertrand Castel sj.) : « Essais de Théodicée », Mémoires pour l’histoire des sciences et des beaux arts – commencés d’être imprimés l’an 1701 à Trévoux, Paris 1737, pp. 208–210. 59 Frühaufgelesene Früchte der Theologischen Sammlung von Alten und Neuen, worinnen nur die neuesten Bücher, Kirchen-Begebenheiten, u.s.f. vorkommen, […], Leipzig, Dritter Beytrag auf das Jahr 1738, pp. 146–147: « Daß es mit dem durch die Leibnizische Philosophie angerichteten Verderben immer weiter gehe, bezeuget auch diese Probe. Der Autor will erweisen, daß die menschlichen Seelen vom Anfange der Welt ohne Verstand gewesen wären, und gleichsam geschlafen hätten; So bald aber eine derselben, nebst dem Saamen-Thiergen in ein tüchtiges Ey des weiblichen Ovarii komme, daß ein Menschen-Leib könte gebildet werden, so rege sich die Vernunft, so in ihnen verborgen gewesen: Allsdenn regten sich auch alle ihre Unvollkommenheiten, und dieses sey die Erb-Sünde, p. 86. Er sagt aber nicht; warum durch Adams Fall alle Seelen mitgefallen wären. Bey dieser Gelegenheit werden, unter dem Vorwand, daß alle | 147 | deutlich gemacht und demonstriret werden solle, alle Kleinigkeiten von den Geburths-Gliedern, der fleischlichen Beywohnung, u.s.f. nicht ohne Aergernüß [Ärgerniß] beschrieben, und meistens Dinge, so hierher gar nicht gehören. Die ungeheure Meinung, daß mit der Lufft, Speise und Tranck täglich eine grosse Menge der Saamen-Thiergen

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1740, remaniée en 1751, ou sont ajoutés une seconde partie traitant explicitement de «l’origine et de la propagation du mal héréditaire» et un appendice en guise de réponse au censeur60. La difficulté est tranchée par la notion peu explicite d’accord (consensus) entre les âmes des animalcules spermatiques et l’âme d’Adam61. La faiblesse argumentative s’explique peut-être par la révélation d’un second auteur anonyme pour cette seconde partie, lequel auteur n’aurait fait que rassembler en première partie des notes de cours, non destinées à publication, et qu’un professeur de très grand mérite donnait à certains étudiants d’une université florissante (in Academia florentissima)62. Toujours est-il que cette seconde partie ne donne lieu à aucune défense ou discussion conséquente des thèses des Dilucidationes, contrairement aux répliques que font paraître Johann Gustav Reinbeck et Johann Friedrich Bertram. Johann Gustav Reinbeck (1683–1741) est considéré comme un des tenants du wolffianisme en théologie luthérienne, et fut d’ailleurs l’artisan principal du retour de Christian Wolff à Halle. Il est l’auteur de sermons qui donnèrent lieu aux volumes des Betrachtungen über die in der Augsburgischen Confession enthaltenen Wahrheiten (1731–1741), dans lesquels il soutient la thèse de la préexistence des âmes63. Il consacre surtout en 1739 un ouvrage à la question de l’immortalité de l’âme raisonnable sous le titre de Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit64. L’âme raisonnable dont il est question est celle qui a « la faculté de se faire des représentations distinctes, d’examiner, de comparer, d’apercevoir l’enchaînure

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in alle menschliche Cörper kämen, und daß fast alle darinnen verderben, ist ein besonderes Essen. O crudas hominum delicias! » Anonymi dilucidationum de origine animae et malo haereditario pars posterior, qua doctrina de malo haereditario ratione originis et propagationis examinatur, Holmiae, 1740. Ibid., § 77, p. 39. Ibid., p. 46 (traduction) : « J’avoue très librement que je ne suis pas l’auteur de la première partie, si l’on excepte quelques petites choses que j’ai ajoutées, mais j’en suis seulement l’éditeur. L’auteur de cet opuscule est un homme d’une bien plus grande estime, qui proposait ces pages à certains de ses auditeurs d’une excellente université. Quand ce manuscrit fut entre mes mains, et que quelque Patron en prit par hasard connaissance, je fus engagé, avec son exhortation et son injonction, à le rendre public: ce que je ne pouvais refuser et je me pliais à cet ordre avec obéissance ». On ne peut cependant exclure qu’il ne s’agit là que d’un artifice rhétorique. J. G. Reinbeck: Betrachtungen, vol. I, Berlin 1740, XV, p. 2. Id.: Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit, nebst einigen Anmerkungen über ein französisches Schreiben, darin behauptet werden will, daß die Materie denke, Berlin 1739; traduction de S. Formey: Réflexions philosophiques sur l’immortalité de l’âme raisonnable, avec quelques remarques sur une lettre dans laquelle on soutient que la matière pense, Amsterdam – Leipzig 1739. L’ouvrage ne mentionne pas les Anonymi dilucidationes, et la préface (§§ 14–16) indique que son objet est de convaincre des preuves de l’immortalité de l’âme avancées par Christian Wolff, à l’encontre de la lettre française mentionnée dans le titre. Dans le conflit d’interprétation du paragraphe 91 de la Théodicée, Reinbeck se range du côté de l’auteur anonyme et sera même suspecté de s’en être très largement inspiré.

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des vérités, & d’en tirer certaines conséquences » − ce que Leibniz et Wolff appelaient par ailleurs esprit65. Reinbeck établit de manière très commune l’immortalité ou l’indestructibilité de toute âme en raison de son indivisibilité, ou de sa simplicité66. S’appuyant sur le principe qu’un étant indestructible ne peut perdre son essence (§ LXXXVI), il en conclut que l’âme qui est potentiellement rationnelle ne peut perdre son essence de puissance représentative d’idées distinctes : elle est donc par essence potentiellement rationnelle. Certes, il garantit ainsi l’immortalité de l’âme raisonnable67, mais en hypostasiant l’âme du spermatozoa comme une âme qui reste « toujours capable d’idées distinctes » – selon une formulation très ambigüe – ce que Leibniz refusait précisément. Le dernier tiers de l’ouvrage aborde la question de « la propagation de l’âme humaine »68 et rappelle les inconvénients des trois hypothèses de la traduction, de la création et de l’union, et se demande si « de nouvelles découvertes des Philosophes nous seront plus utiles »69. Reinbeck renvoie alors au passage déjà cité des Allerhand Versuche de Christian Wolff70 et aux différentes observations microscopiques des animalcules, ces petits animaux qui sont en vie et qui, par conséquent, « doivent nécessairement avoir une sorte d’âme »71. L’opinion de la préexistence d’une âme humaine associée à des organes corporels est alors rapportée, inévitablement, au § 91 de la Théodicée72. Il en est fait un double usage selon qu’il est considéré dans sa première partie (91A) ou dans sa seconde (91B). (a) Le paragraphe 91A – qui ne concerne que la préexistence d’une âme, sans préciser encore sa qualité sensitive ou rationnelle – est cité avec le § 90 sur la préformation pour identifier l’hypothèse propre à Leibniz, à savoir que « les âmes humaines ont existé dès le commencement dans Adam, avec une espèce de corps organisé »73. Reinbeck en profite ainsi pour rendre justice à Leibniz et lui attribuer l’originalité des idées défendues par Johann Andreas Planer en 1712, et qui avait passé sous silence ses emprunts à la Théodicée74. Reinbeck s’arrête alors au cas suivant : l’enfant mort en bas âge aura-t-il des pensées rationnelles après la mort ? L’enjeu est d’assurer que l’âme humaine de l’enfant aura, d’une manière ou d’une autre, dans la vie ou dans la mort, réalisé son essence rationnelle ; car sinon il faudrait parler d’une ‘âme humaine restée sensitive’. Le problème de Reinbeck vient 65 Ibid., § VIII, p. 9 ; trad. p. 8. 66 Ibid., § XLVII ; trad. p. 56 et p. 58 : « Notre âme étant simple & indivisible, elle est aussi indestructible, & conserve constamment son actualité ». 67 Ibid., § LXXXVI ; trad. p. 105–108. Cette dernière proposition fait l’objet de nombreux éclaircissements, de digressions et d’illustrations ou de confrontations à certains cas (le sourd, le muet, le boulanger suisse sourd et muet, le peintre allemand sourd et muet, le petit enfant, le petit enfant élevé par les ours, le petit enfant qui meurt en bas âge, etc.). 68 Ibid., § CXXVI ; trad. p. 210. 69 Ibid., trad. p. 212. 70 Wolff: Versuche, op. cit., 3. Teil, p. 438 71 Reinbeck, op. cit., CXXVII ; trad. p. 214. 72 Ibid., § CXXX, p. 259 ; trad. p. 217; et encore § CXL ; trad. p. 256. 73 Ibid., § CXXXVIII, p. 284 ; trad. p. 248. 74 Ibid., Anhang, p. 312 ; trad. p. 223. Cf. J. A. Planer : Nova de animae humanae propagatione sententia, Wittemberg 1712.

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bien entendu de son interprétation du § 91A en termes « d’essence potentiellement rationnelle », et il lui est donc nécessaire de trancher la question en décidant que rien n’empêche le devenir rationnel de l’âme après la mort – ce qui lui permet alors, à bon compte, de parler de la propagation non pas de l’âme mais de l’âme en tant qu’esprit (die Seele als ein Geist)75. (b) Ce faisant, il est clair que le paragraphe 91B, qui expose la transcréation de l’âme non-raisonnable en âme raisonnable, devient inutile pour Reinbeck. L’âme unie à l’animalcule reste obscure, mais jointe à l’étoffe humaine portée par la mère dans l’embryon, elle peut insensiblement mais essentiellement développer sa faculté rationnelle : « daß allem Ansehen nach der kleine Cörper, mit welchem die menschliche Seele anfänglich verbunden ist, nicht den Urstoff des menschlichen Leibes in sich enthalte, sondern nach der Zeugung eines Menschen als etwas fremdes abgeleget werde, obgleich die Seele ihr eigenthümliches und von ihr unabsonderliches kleines cörperliches Wohnhaus behalte; so ist der Grund, warum eine Seele, wenn sie in solcher Vereinigung eine Zeit lang bleibet, nach und nach zu deutlichen und vernünfftigen Vorstellungen gelangen kann. Bleibet sie aber nicht in solcher Vereinigung, sondern sie muß frühzeitig ihren menschlichen Leib verlassen; so ist § 138 schon angezeiget worden, wie es zugehe, daß sie nach dem Tode des Leibes dennoch zu dem wircklichen Gebrauch der Vernunfft, deren sie wesentlich fähig ist, hinan steigen könne »76.

Reinbeck se passe ainsi complètement de la transcréation par l’hypothèse non d’une transformation du spermatozoa en embryon, mais par l’hypothèse beaucoup plus coûteuse semble-t-il de l’abandon (als etwas fremdes abgeleget) du corps de l’animalcule pour le corps de l’ovule maternel, qui a en propre une étoffe humaine, favorable au développement proprement rationnel de l’âme. Reinbeck n’échappe à une interprétation du paragraphe 91B dans le sens d’une métempsychose – ou passage de l’âme d’un corps à un corps étranger – qu’en assurant que l’âme garde toujours, dans la génération, son petit domicile propre inséparable (ihr unabsonderliches kleines cörperliches Wohnhauß). Reinbeck ne peut se satisfaire alors du système de l’harmonie, mais postule une liaison indissoluble (ein unauflösliches Band) de l’âme avec le petit domicile corporel qu’elle ne quitte pas dans la génération77. L’hypothèse garantit ainsi une sorte de continuité corporelle minimale dans la génération des corps organiques, sans se confondre toutefois avec la conception leibnizienne du développement et de l’augmentation des corps. Et puisque l’auteur se passe de l’harmonie, il faut comprendre que c’est par une manière d’interaction physique que l’âme unie un certain temps (eine Zeit lang) à 75 Ibid., § CXXXVIII, p. 284 ; trad. p. 248. 76 Ibid., CXL, p. 296 ; trad. p. 258 : « Suivant toutes les apparences le petit corps auquel l’âme est unie dès le commencement ne contient point l’étoffe originale du corps-humain, & l’âme s’en dépouille après la génération de l’homme, comme de quelque chose d’étranger, quoiqu’elle conserve son petit domicile propre et inséparable; voilà la raison pourquoi une âme présentement unie à un corps-humain, si elle demeure un certain temps dans cette union, arrive insensiblement aux idées distinctes & aux pensées raisonnables. Que si elle rompt de bonne heure le lien qui l’attache au corps humain, on a vu comment elle arrive après la mort à l’usage actuel de la raison, dont elle est essentiellement susceptible » (nous soulignons). 77 Ibid., CXXXVIII, p. 284 ; trad. p. 248.

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un corps humain peut développer des représen-tations distinctes et rationnelles. L’intention de Reinbeck consiste ainsi à s’appu-yer sur les acquis des observations anatomiques pour poser la question de l’origine de l’âme rationnelle dans le cadre du système de l’influx physique et non plus du système de l’harmonie78. Cette défense de la préexistence de l’âme rationnelle, ni leibnizienne ni wolfienne, n’est pas restée sans réponse. En 1741, Johann Friedrich Bertram (1699–1741), un des opposants les plus vindicatifs au retour de Wolff à Halle, publie sous le titre de Bescheidene Prüfung der Meinung von der Praeexistenz, oder dem Vorherseyn menschlicher Seelen in organischen Leibern un examen de la doctrine de Reinbeck qu’il considère être une erreur latente dans « notre église évangélique »79. Dans la section Historia Litteraria der Praeexistentiariorum, qui retrace « l’histoire moderne de cette erreur », Bertram identifie une doctrine qui serait commune à Christoph Sand, Johann Andreas Planer, Leibniz, Wolff, un certain anonyme (ein gewisser Anonymus) et Reinbeck, et qu’il restitue en réalité au plus près des formulations de Reinbeck – à savoir que Dieu a créé les âmes humaines qui préexistent, et qui passent d’un corps à un autre (von einem Cörper zum andern wandern) de sorte que le premier corps périt dans ce passage (nach dem Absterben ihres ersten Cörpers)80. Bertram note que Reinbeck s’est inspiré littéralement de l’auteur anonyme81, lequel est reconnu de fait comme le centre de gravité de la doctrine de la préexistence dans ce débat. Les quelques 200 pages de remarques adressées à Reinbeck sont structurées autour d’une sorte de déconstruction sceptique du paragraphe 91A qui est mentionné pas moins de cinq fois82. L’idée est de reconduire l’argument à une forme syllogistique et d’en contester la vraisemblance des prémisses tout comme la validité de la conclusion : 1) Il existe des animalcules ; 2) La génération en provient ; 3) Donc l’âme des hommes préexiste dans les animalcules83. Bertram identifie ainsi le cœur du renouveau de la théorie de la préexistence des âmes, dans les différentes versions proposées par Leibniz, l’auteur anonyme et Reinbeck, à savoir : 78 Dans le débat initié par Lange pour censurer la doctrine wolffienne de l’harmonie, J. G. Reinbeck soutient la thèse de l’influx physique, mais se refuse pourtant à condamner l’harmonie (Erörterung der philosophischen Meinung von der sogenannten Harmonia praestabilita, Berlin 1737). 79 J. F. Bertram : Bescheidene Prüfung der Meinung von der Praeexistenz, oder dem Vorherseyn menschlicher Seelen in organischen Leibern, Bremen 1741, préface et p. 8. 80 Ibid., pp. 227–228. 81 Ibid., p. 232. 82 Ibid., § VII (p. 15), § XII (p. 56), § XX (p. 85 et 103), § XXV (p. 127). 83 Ibid., p. 13 : « Wenn man diese Gedancken des Herrn Auctoris eine syllogistische Gestalt geben solte ; so möchten sie etwa folgender gestalten heraus kommen : Es gibt vermöge der angeführten Observationen, so unbeschreiblich-kleine lebendige Creaturen : Leuwenhoek und Hartsoecker haben solche auch in dem Saamen der Menschen und Thiere wahrgenommen ; ja sie haben auch gesaget, daß die Schwängerung durch solche Thierchen geschehe ; also ist daraus muthmaßlich zu schliessen, daß die Seelen der Menschen in kleinen organisirten Cörpern praeexistiren, und die Schwängerung durch dieselbe bey den menschen geschehe ». Cf. aussi § XVII, p. 72.

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l’acceptation de prémisses tirées des observations de Leeuwenhoek. Le renversement du préexistentialisme consiste ainsi à montrer que ces observations sont trop peu assurées pour que des conclusions certaines puissent en être tirées – et d’autant plus que le traducianisme qu’elles sont censées étayer n’est qu’une forme déguisée de matérialisme. Bertram exprime ainsi ses doutes à propos d’animalcules qui seraient des milliers de fois plus petits qu’un grain de sable; il remarque que leur mouvement n’implique pas de leur attribuer des âmes humaines mais les plus petites des âmes – c’est-à-dire les âmes les plus infiniment insensibles84; et il juge finalement douteux, si ce n’est invraisemblable que les animalcules soient la cause de la génération – parce qu’il juge douteux que les expérimentateurs aient réellement pu observer un mouvement de ces animalcules qui n’a dû être qu’une extrapolation de leur imagination85. Devant de telles prémisses, Leibniz n’a pu témoigner, dit-il, que d’un désespoir philosophique (philosophische desperation) pris entre le Charrybe de la transcréation et le Scylla de la traduction – selon l’expression qui vient conclure un commentaire du paragraphe 9186. La critique ne se borne cependant pas à douter des observations anatomiques, mais à rejeter plus fondamentalement l’hypothèse de l’harmonie qui permettait d’articuler observations physiologiques et préexistence de l’âme. Certes, Reinbeck ne soutient précisément pas l’hypothèse, mais il s’accommode cependant d’une certaine interprétation de l’influx comme harmonie des représentations sensibles et des organes sensitifs : tout comme Reinbeck avait rédigé une Erörterung de l’harmonie préétablie pour lui ménager un sens modéré, Bertram a rédigé une Beleuchtung de l’harmonie préétablie pour rejeter jusqu’à cette interprétation : l’hypothèse wolfienne est selon Bertram plus radicale, puisque l’âme toute entière est préétablie dans toutes ses pensées et est donc soumise à un nécessitarisme athée87. La fin de le Bescheidene Prüfung est consacrée à cette dispute88. Le théologien anti-wolffien Bertram rejette ainsi tout autant le système de l’harmonie que celui d’un accord préétabli entre l’âme d’Adam et les âmes des animalcules, ce consensus que l’auteur anonyme avançait pour rendre compte du péché originel : il ne peut y avoir, dit-il, aucune communauté entre l’âme d’Adam et l’âme des animaux spermatiques89. 84 Ibid., § VIII, p. 26. 85 Ibid., § XI, pp. 39–40 : « Man versezet das, was im Auge ist und geschiehet auf das Object, und vermehret es in der Einbildung. […] So ist wenigstens Leuuwenhoeks Vorgeben, daß die Schwängerung durch diese Saamen-Thierlein geschehe, überaus zweifelhaft, wenn nicht ganz unwahrscheinlich ». 86 Ibid., § XX, p. 104. 87 Cf. infra note 78, et J. F. Bertram : Beleuchtung der Neu-getünchten Meynung von der Harmonia Praestabilita durch Veranlassung der jüngst-edirten Reinbeckischen Erörterung, Bremen 1737. La même critique de l’harmonie sera illustrée par Kant dans l’image du tournebroche (AA, 05, 097). 88 J. F. Bertram : Bescheidene Prüfung, op. cit., p. 185 sq. 89 Ibid., § XXI, p. 107 et 135 : « Die praeexistierenden Seele sind nemlich in Adam gewesen, als eigene, und von seinem Wesen ganz abgesonderte Creaturen, die mit Adams Seele keine Gemeinschaft gehabt, noch auch nach der Wolfischen Lehre, von den einfachen Dingen haben können ».

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Finalement, en notant que les deux échos les plus vifs faits à l’ouvrage anonyme sont le fait d’un des premiers partisans de Wolff d’une part, et d’un de ses premiers opposants d’autre part, on comprendra que le petit problème laissé ouvert par Leibniz dans quelques lignes de la Théodicée s’est révélé être d’un enjeu crucial pour mettre à l’épreuve le système de l’harmonie à la fin des années 173090.

CONCLUSION Les paragraphes 91 et 397 des Essais de Théodicée ont particulièrement attiré l’attention des premiers lecteurs. Ils ménagent un autre usage des observations les plus récentes en anatomie et en physiologie: celles-ci ne servent pas simplement à déchiffrer la providence divine dans le vivant, à la manière de Friedrich Hoffmann91, mais permettent de reposer, dans le cadre métaphysique du système de l’harmonie, la vieille question de l’origine de l’âme humaine. Leibniz laisse cependant la question ouverte et, pas plus qu’Augustin, ne se décide univoquement pour le traducianisme ou le (trans)créationisme – lesquels posent eux-mêmes d’autres difficultés au regard de la doctrine du péché originel. La publication des Anonymi dilucidationes en 1738, qui présentent une défense appuyée de la version leibnizienne du traducianisme, va trouver un écho particulièrement vif en plein débat autour du wolfianisme: l’argumentation du paragraphe 91, c’est-à-dire tout à la fois le statut de l’harmonie et l’usage que l’on peut faire des observations anatomico-physiologiques, sera tantôt modérée par les wolffiens (J. G. Reinbeck), tantôt rejetée par leurs adversaires (J. F. Bertram). La physiologie de la théodicée est ainsi le nom d’un problème indiqué par Leibniz, et qui se déconstruit progressivement dans la première moitié du XVIIIe siècle allemand. La question de l’identité de l’auteur anonyme reste une des énigmes de l’histoire de cette réception de la Théodicée. Le profil de cet auteur, ainsi que le révèle la seconde édition des Dilucidationes, est celui d’un professeur de grande renommée dans une grande université92, qui disposait de connaissances précises en anatomie tout en citant les œuvres allemandes de Wolff et de certains théologiens wolffiens, et qui se prononce en faveur de la préexistence animalculiste d’une part et du traducianisme d’autre part. Cela exclut, par exemple, Friedrich Hoffmann, ou encore son élève Johann Gottlob Krüger que Kurt Müller indiquait 90 Le débat né des Anonymi dilucidationes et poursuivi par Reinbeck et Bertram, suscita d’autres répliques. Citons par exemple Georg Möller qui s’opposa depuis Marbourg à Bertram (Untersuchung der Bertramischen Beleuchtung der von ihm so genannten Neugetünchten Meynung von der Harmonia praestabilita, Marburg 1738), et Johann Friedrich Behrendt qui s’opposa au traducianisme de Reinbeck (Harmonia systematis de hodierna animarum creatione cum creatoris sanctitate et p[eccati] o[riginalis] propagatione, Berlin 1744). 91 Voir la dissertation inaugurale de F. Hoffmann : De atheo convincendo ex Artificiosissima machinae humanae Structura Oratio, 1693. 92 Voir infra, note 62.

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comme l’auteur du traité93. S’il fallait engager une recherche de paternité, il faudrait commencer par examiner l’entourage de Christian Wolff lui-même à l’université de Marbourg, alors Academia florentissima. Mais aucun élément ne semble devoir être trouvé dans la correspondance de Wolff ni dans les ouvrages contemporains des Dilucidationes, de sorte que celles-ci n’ont finalement qu’un seul lieu d’origine : les paragraphes 91 et 397 des Essais de Théodicée.

93 Cf. K. Müller/A. Heinekamp : Leibniz-Bibliographie: Die Literatur über Leibniz bis 1980, Frankfurt a. M. 1984, p. 418. Le catalogue de la bibliothèque royale de Suède (www.kb.se) fait par ailleurs mention d’une identification, elle aussi non justifiée et sans doute improbable, de l’auteur du traité avec le médecin suédois Johann Gottschalk Wallerius. Le catalogue précise toutefois que le type d’impression est caractéristique de l’Allemagne, même si le sceau d’imprimeur (‘JCR’?) ne peut être clairement identifié.

VON DER „DOCTRINALEN“ ZUR „AUTHENTISCHEN“ THEODIZEE − AUSGÄNGE AUS DER THEODIZEE VON LEIBNIZ ERÖFFNET VON HEGELS SPEKULATIVER GOTTESMYSTIK IN DER PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES Kurt Appel (Wien)

I. VORBEMERKUNG In den folgenden Überlegungen soll die sich mit Leibnizens Theodizeefrage verbindende Gotteslehre anhand von zentralen Gedanken aus Hegels Phänomenologie des Geistes (PhdG)1 weitergedacht werden. Damit, so die These des hier vorliegenden Aufsatzes, ist es möglich, Intentionen der Leibniz’schen Theodizee und der in ihr zum Ausdruck kommenden Gotteslehre aufzunehmen, ohne die Kantischen Einwände missachten zu müssen. Eine entscheidende Einschränkung ergibt sich dabei aus dem Format des Artikels, der eine detaillierte Besprechung des Themas nicht zulässt. Dafür wäre eine umfassende Interpretation der Schriften von Leibniz, Kant und Hegel (inklusive dessen Jugendschriften und der Wissenschaft der Logik) nötig, die hier nicht geleistet werden kann. Allerdings sollten die angeführten Überlegungen reichen, um eine Richtung anzuzeigen, die im Ausgang von Leibnizens Philosophie genommen werden kann, um die Theodizeefrage entsprechend zu stellen. Zuerst werde ich in einer Einleitung ein paar Anmerkungen zu den Notwendigkeiten und Grenzen der Theodizeefrage versuchen. Im Anschluss daran gebe ich eine zusammenfassende Interpretation von Perspektiven, die sich aus Leibnizens Monadenlehre für die Theodizeefrage öffnen, werde aber auch auf Grenzen eingehen, die zu berücksichtigen sind. Im dritten Teil werden einige Passagen aus Hegels Phänomenologie des Geistes interpretiert, aus denen eine „authentische Theodizee“ zu folgern sein wird2. 1

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Die Phänomenologie des Geistes (PhdG) wie überhaupt die Werke Hegels werden im Folgenden zitiert nach: G. W. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu ed. Ausgabe (= stw 601–620), hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1986. Eine Auseinandersetzung mit Schellings Spätphilosophie, die als „Gegenposition“ oder vielleicht besser gesagt zur Ergänzung Hegels sinnvoll wäre, muss hier unterbleiben. Vgl. dazu aber K. Appel: Zeit und Gott. Mythos und Logos der Zeit im Anschluss an Hegel und Schelling, Paderborn 2008, S. 135–201. Ebenso F. Tomatis: Kenosis des Logos. Ragione e rivelazione nell´ultimo Schelling, Roma 1994. Interessant wäre auch im Gefolge Schellings eine

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II. DIE THEODIZEEFRAGE Im monotheistischen Kontext stellt sich die Frage in aller Schärfe, wie ein allwissender, allmächtiger und gerechter Gott das Leid zulassen kann. Das Buch Hiob ist dafür, wie nicht nur Kant weiß, ein berühmter Zeuge. Betrachten wir dieses Buch allerdings genauer, fällt auf, dass die eigentliche Frage, die hinter diesem Buch steht, nicht so sehr die Frage nach dem gerechten Gott angesichts der Übel ist, sondern vielmehr diejenige nach der Möglichkeit, Gott in Unrecht und Not zu „lieben“3. Gott konnte der alten Welt Adressat der Klage und sogar der Anklage sein, die dahinterliegende Frage war aber die nach dem Bund zwischen dem Menschen und Gott (bzw. den Göttern), d. h. ob Gott seinen Verheißungen als Grundlage der Liebe/Achtung/Treue zu ihm treu ist oder nicht. Erst in der Neuzeit wird Gott vor das Forum der Vernunft geholt, insofern das „Ich“ und dessen Rationalität sukzessive den Platz Gottes als Garant der kosmischen Ordnung einnehmen. Letztlich sind damit auch gewisse Grenzen der Theodizeefrage angezeigt, denn es kristallisiert sich eine Vernunft in Distanz zu den Ereignissen der Welt heraus, die quasi „von außen“ die Welt (und damit Gott) be- und gegebenenfalls verurteilt. Die Theodizeefrage wird also zur Machtfrage einer sich absichern wollenden Rationalität. Das Leid des unschuldigen Anderen stört, insofern es die eigene Weltkonzeption irritiert. Wahrgenommen wird also weniger der andere Leidende, sondern eine potenzielle Bedrohung, die es zu bewältigen gilt. Die Theodizeefrage wird so gesehen zur Technik einer Weltbeherrschung. Ein Beispiel dafür sind theologische Versuche wie derjenige von A. Kreiner, der beweisen will, dass unsere Welt sinnvoll ist und dabei die Schlüsse erhält, die in seinen Prämissen schon vorgezeichnet sind4. Es liegt darin eine Welt- und Gotteskonstruktion, die sich daran beruhigt, alle möglichen in sich geschlossenen Verstandeswelten bauen zu können. Die „Realität“ als „Sache des Anderen“ spielt dabei keine Rolle. Spiegelverkehrt sind natürlich die Versuche, die Gott mit der Theodizeefrage widerlegen wollen, wie etwa derjenige von G. Streminger5. Zu zeigen wird sein, dass gerade Leibniz kein Apologet „doctrinaler“ Theodizee ist. Vielmehr, so eine These dieses Aufsatzes, liegt in seinem Versuch der erste Schritt zu einer Art „Wahrnehmungslehre“, die anleiten soll, die Welt weder aus rein empirischer Perspektive noch „rationalistisch“ im Sinne einer Selbstbe-

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Betrachtung der Philosophie von Pareyson. Vgl. L. Pareyson: Ontologia della libertà. Il male e la sofferenza, Torino 1995. Vgl. dazu J. Ebach: Streiten mit Gott. Hiob, 2 Bde., Neukirchen-Vlyn 1996. Ebenso G. Gutierrez: Von Gott sprechen in Unrecht und Leid, München – Mainz 1988. Man muss sich beim biblischen Ausdruck „Liebe“ immer vergegenwärtigen, dass damit nicht einfach ein romantisches Gefühl verstanden werden darf, vielmehr bezeichnet es gegenseitige Achtung und Treue. Vgl. A. Kreiner: Gott im Leid (= QD 168), Freiburg 1997. Einen völlig anderen Weg in Richtung „doctrinale Theodicee“, die auch in diesem Artikel vertreten wird, gehen Metz und Reikerstorfer. Vgl. J. B. Metz (in Zusammenarbeit mit J. Reikerstorfer): Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg – Basel – Wien 2006. Vgl. ebenso J. Reikerstorfer: Weltfähiger Glaube, Wien u. a. 2008. G. Streminger: Gottes Güte und die Übel der Welt, Tübingen 1992.

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hauptung des endlichen „Ich“ zu denken. Der Überschritt hin zum spekulativen Denken zeichnet sich ab und wird seine kongeniale Reformulierung und Weiterführung in Hegels Philosophie finden. In diesem Sinne ist auch der Titel dieses Aufsatzes zu verstehen: „Ausgang“ bezeichnet das Verlöschen von bestimmten Denkpositionen: Gerade von der Philosophie von Leibniz wird empiristischen Rationalismen genauso wie reflexiven ein alternativer Weg der Weltwahrnehmung entgegengestellt. Es sind also Wege, die angesichts der Leibniz’schen Gedankenbewegung verlöschen. „Ausgang“ bezeichnet zweitens eine Öffnung aus einer geschlossenen Sphäre. In diesem Sinne wird es wichtig sein, das Leibniz’sche Konzept davor zu bewahren, eine Welt zu konstruieren, in der die Endlichkeit, die Verletzlichkeit und das Leid der Welt nicht mehr ansichtig werden. Und schließlich verweist „Ausgang“ im Sinne von „ausgehen von“ auf eine Art Anfang, der weitergeführt wird. So verstanden ist Leibniz Ausgangspunkt für philosophische Bemühungen von Kant bis Hegel. Die Entscheidung, sich im Rahmen dieses Symposions mit Hegel zu beschäftigen, hängt damit zusammen, dass seine spekulative Philosophie insofern das Potenzial zu einer adäquat gestellten Theodizeefrage hat, als es, allem Anschein des allumfassenden und allbewältigenden Systemphilosophen zum Trotz, wie kaum eine andere Philosophie in der Lage ist, den Blick für die Verletzlichkeit des Seins zu öffnen und die Theodizeefrage mit einer anderen Frage zu koppeln, die an deren Ausgang auch möglicherweise deren Tiefendimension bezeichnet: nämlich die Frage nach der Wahrnehmung der Not des Anderen.

III. VON DER „DOCTRINALEN“ ZUR „AUTHENTISCHEN“ THEODIZEE III.1. Die Theodizee von Leibniz als Gottesmystik Schon im Titel seiner Theodizeeschrift ist das große Thema der Neuzeit angezeigt: Es geht um die „Freiheit des Menschen“. Die „Güte Gottes“ und der „Ursprung des Übels“ rahmen diese gewissermaßen und die Théodicée ist deren Verkünderin, die in der Monadologie ihre Verdichtung und esoterische Gestalt findet. Für Leibniz ist dabei eine Sache zentral: Die Freiheit des Menschen ist nicht erschwinglich ohne den Gedanken der Einheit der Welt: Diese Einheit transzendiert die Dualitäten von Geist und Materie, von Gut und Übel, von Zweck- und Wirkursachen, von Gnade und Natur, von Freiheit und Notwendigkeit, von Denken und Sein, letztlich in noch zu bestimmender Weise von Gott und Mensch. Sie ist transzendentale Bedingung nicht nur menschlicher Freiheit, sondern der Sinnhaftigkeit der Welt überhaupt. Dementsprechend konzipiert Leibniz die Monade als „einfache Substanz“ ohne Ausdehnung und ohne Gestalt6. Das Seiende zeigt sich als aus Raum- und Zeit6

Vgl. Monadologie, § 3; GP VI, 607; zitiert nach G. W. Leibniz: „Monadologie“, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, 2 Bde., übersetzt von A. Buchenau mit Einleitung und Anmerkungen hrsg. von E. Cassirer (= PhB 496, 497), Hamburg 1996, § 3, S. 603. Ich

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elementen Zusammengesetztes, in denen, wie nicht zuletzt das berühmte Mühlengleichnis festhält, nur Stücke zu finden sind, „die einander stoßen, niemals aber etwas, woraus man eine Perzeption erklären könnte“7. Die innere Einheit des bestimmten Seienden, welches uns in der Welt begegnet, insofern wir etwas als etwas ansprechen können, setzt einen transzendentalen Einheitsgedanken voraus. Der nächste Schritt der Leibniz’schen Überlegung liegt nun darin, dass wir gar keine andere Vorstellung dieses Einheitsgedanken haben als jene, die in der Subjektivität (im „Ich“) begründet ist. Daraus folgt, dass die Monade als transzendentale Einheit des Seienden in Analogie zu einem Subjekt gedacht werden muss. Objekte sind zusammengesetzt, Subjekte bilden eine innere Einheit als die Bedingung der Möglichkeit von deren Perzeption. Dies ist der Hintergrund des zweiten Paragraphen der Monadologie: „Einfache Substanzen muß es aber geben, da es Zusammengesetzte gibt […]“8. Damit ist Leibniz gewissermaßen bei Descartes angekommen, allerdings mit einem viel weiteren Subjektbegriff, denn dieser umfasst nicht nur selbstbewusste Monaden, sondern alle Einheiten, also auch lebendige und sogar materielle wie Gestirne bzw. alles, was eine innere Differenzierung aufweist9. Die Vermittlung von Subjekt und Objekt denkt Leibniz konsequenterweise nicht äußerlich, vielmehr „zeitigt“ und verräumlicht sich jede Monade, insofern sie Einheit in der Vielfalt ist. Da sie derart nicht in der Zeit und im Raum steht und Subjekt-Objekt ist, haben die Monaden „keine Fenster, durch die etwas hinein- oder heraustreten könnte“10. Jede Monade ist Subjekt-Objekt, d. h. (innerer) Kraftpunkt, welcher sich in der Totalität des Seienden äußert. Man kann bei der Monade von Leibniz an ein Prisma denken: In ihm fokussiert sich das Kontinuum der Wellen. Ebenso fokussiert sich das Kontinuum der Raumzeit in jeder Monade auf je bestimmte Weise. Vor diesem Hintergrund ist auch das Leibniz’sche Diktum zu verstehen, demgemäß die Natur keine Sprünge macht11. Jede Unterbrechung des Kontinuums würde auf die Monade selber zurückfallen und dessen Bündelung als Subjekt verunmöglichen. Die Monade wäre eine multiple „Entität“ und mit ihr zerfiele, wie sich noch zeigen wird, die Welt. Ein weiterer entscheidender Punkt in den Überlegungen von Leibniz liegt darin, dass die Monade unendlicher Spiegel des Universums, allerdings in bestimmter Perspektive, ist. Im 65. Abschnitt der Monadologie spricht Leibniz davon, dass die Materie „aktuell stets ohne Ende weitergeteilt ist“ und „jeder Teil in neue Teile sich gliedert“. Leibnizens Überlegungen sind nur verständlich, wenn man sich die werde für die Leibniz-Stellen im Folgenden die Übersetzungen aus dieser Ausgabe heranziehen, da sie als „klassisch“ gelten kann. 7 Ebd., § 17; GP VI, 609; zitiert nach Hauptschriften, S. 605–606. 8 Ebd., § 2; GP VI, 607; zitiert nach Hauptschriften, S. 603. 9 Zur Diskussion um unbelebte Monaden vgl. H. D. Klein: System der Philosophie, Bd 1: Untersuchungen zur Vernunftkritik, Frankfurt a. M. 2002, S. 36–37. 10 Monadologie, § 7; GP VI, 607–608; zitiert nach Hauptschriften, S. 603–604. 11 Nouveaux essais sur l’entendement humain, livre 4, chap. XVI; GP V, 453–456; A VI, 6, 473, Z. 9–10; zitiert nach G. W. Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von E. Cassirer (= PhB 498), Hamburg 1996, Buch IV, Kapitel 16, § 12, S. 515.

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Bedeutung des Kontinuums klar macht: Nur in einem dynamischen Kontinuum kann die Monade als innere Einheit betrachtet werden, insofern sie dies aber ist, spiegelt sie keine endliche Anzahl anderer Monaden, vielmehr ist sie unendlicher Spiegel. Mit anderen Worten: Die unendliche Teilung ist eine Art exoterischer (d. h. für die Vorstellung eingeführter) Begriff für die Tatsache, dass jede Monade als nicht in Raum und Zeit befindliche Subjekt-Objekt-Einheit die Kontinuität aller anderen Monaden ist. Die „Kurt Appel Monade“ spiegelt (perzipiert) ebenso die Sonne wie die Monaden, die ihre Eltern ausmachen usw., wenngleich in verschiedener Perspektive, die sich als unterschiedliche Raum-Zeit-Konfigurationen äußern. Innerhalb der Monade besteht daher eine eigenartige Dialektik: Insofern jede Monade Subjekt ist, ist sie von den anderen unterschieden und diskret; insofern sie als Subjekt überhaupt nur in der Perzeption der objektiven Welt (Einheit nur in Vielfalt) besteht, ist sie die Kontinuität der anderen Monaden. Insofern sie alle anderen Monaden als (Letzt-)Subjekt spiegelt, ist sie unendlich, insofern jede Spiegelung nur eine bestimmte Perspektive wiedergibt, sich also raumzeitlich vermittelt, ist sie „endlich“. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist auch der berühmte Satz des zureichenden Grundes zu verstehen12: Dass etwas „so ist und nicht anders“, beinhaltet in den Denkbahnen von Leibniz und der formalen Logik die Totalität aller Gründe. Jede Monade ist nur in der Perzeption aller anderen Monaden geschlossen und nur als dynamisches und unendliches Kontinuum denkbar. Mit jeder Monade entsteht die gesamte Raumzeit, der gesamte Kosmos. Für das Verständnis der Theodizee von Leibniz sind damit entscheidende Bahnen gezeichnet. Wenn sich die innere Einheit der Monaden im Satz des zureichenden Grundes zum Ausdruck bringt, warum etwas so und nicht anders ist, dann verweist dieser zureichende Grund auf eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten, aus denen eine als wirklich hervortritt. Nur in dieser Wirklichkeit kann die Monade als Einheit gedacht werden, in allen anderen Konfigurationen wäre sie alogisch, multipel, höbe sie sich in ihrer Logizität auf. In den anderen Welten wäre die Monade nicht unendlicher, sondern blinder Spiegel, sie wäre als Subjekt nicht denkbar. Wie der Satz bereits nahe legt, ist die zureichende Begründung nur in einer unendlichen Instanz, also in Gott möglich. Aus exoterischer Sicht kann gesagt werden, dass dieser aus einer unendlichen Anzahl von möglichen Gründen, die er in seiner Allwissenheit übersieht, aus Liebe eine Welt auswählt und diese Wahl in Allmacht umsetzen kann. Damit wäre also die Theodizeefrage im System von Leibniz genau der Punkt, der notwendig ist, um Denken und Sein vermitteln zu können, der Punkt, an dem sich die Vernunft selbst erhalten kann. Alle Argumente, die im Einzelnen dann in der Theodizeeschrift genannt werden, haben deshalb nur illustrativen Charakter: Jedem Argument, welches einer gütig eingerichteten Welt Hohn spricht, kann in dieser Sicht ein anderes Argument entgegengehalten werden, was Leibniz nicht ohne Ironie in seinem berühmten Werk ausbreitet.

12 Vgl. Monadologie, § 32; GP VI, 612; zitiert nach Hauptschriften, S. 609.

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Man muss allerdings Leibnizens Überlegungen noch von einer tieferen Warte aus betrachten. Gerade in der Theodizeeschrift verteidigt er vehement die menschliche Freiheit. Aus den bisher angeführten Überlegungen ist es verständlich, dass er in diesem Zusammenhang nicht den Weg einschlagen kann, die Freiheit in der Willkür (Zufälligkeit) zu verankern13, da damit ein Moment gegeben wäre, welches sich dem zureichenden Grunde entzöge und damit die Kontinuität und Einheit der Monade selber preisgeben müsste. Leibniz könnte in einem ersten Schritt zur Verteidigung der Freiheit festhalten, dass die Monade in keiner endlichen Instanz zureichend begründet ist. Jede Monade spiegelt den gesamten Kosmos wieder, womit es innerhalb desselben keine Begründungsinstanz gäbe, aus der heraus die Monade determiniert wäre. Die Monade wäre also in den Augen Gottes durch dessen Wahl vorherbestimmt, auf der Ebene des Universums wäre sie frei14. Allerdings ist auch diese Überlegung noch zu vertiefen: Ausgangslage ist dabei wiederum das Moment der Einheit. Die Leibniz’sche Monade ist deren transzendentaler Ausdruck. Dabei spiegelt sich die Einheit des Seienden darin wieder, dass es als Seiendes differenziert werden kann, im Bereich des höheren Lebendigen verinnerlicht sich diese Einheit und manifestiert sich als Gedächtnis. Der Mensch kann aber das Gedächtnis transzendieren und mittels der Vernunft die Einheit der Welt als Einheit denken, indem ihm die ewigen Wahrheiten, d. h. die Welt als in Gott begründeter Vernunftzusammenhang, zugänglich sind15. Daraus aber ergibt sich für den Menschen eine zunehmende Kongruenz von Denken und Sein, von Erkennen und Erkanntsein. Der Mensch, der die in Gott zureichend begründete Welt erkennt, erkennt sich gleichzeitig als von Gott Erkannter. Ein besonderes Licht fällt damit auf die Feststellung von Leibniz, dass Gott keinen Ruhm besäße, „wenn nicht seine Größe und Güte von den Geistern erkannt und bewundert würde“16 und dass die „Geister in eine Art Gemeinschaft mit Gott eintreten“17. Die berühmte prästabilierte Harmonie zwischen dem physischen Reich der Natur und dem moralischen Reich der Gnade18, die die Harmonie von der wirkenden (Objekt) und der Zweckursache (Subjekt) ergänzt, hat darin ihre tiefste Sinngebung. Es handelt sich dabei um die Harmonie von endlichem und unendlichem Blick, der sich in der Gemeinschaft mit Gott erschließt. Oder deutlicher gesagt besteht die eigentliche Freiheit des Menschen in der Erkenntnis Gottes, die sowohl ein Erkennen von als auch ein Erkennen durch Gott impliziert. Wenn Leibniz in seinen Ausführungen zum zureichenden Grund betont, dass Gott als

13 Vgl. die Auseinandersetzung, die Leibniz innerhalb seiner Theodizeeschrift mit William King in dem Abschnitt „Bemerkungen über das vor kurzem in England veröffentlichte Buch über den Ursprung des Übels“ führt. 14 Vgl. dazu E. Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Hamburg 1998. Ebenso M.-Th. Liske: Leibniz’ Freiheitslehre. Die logisch-metaphysischen Voraussetzungen von Leibniz’ Freiheitslehre (= Paradeigmata 13), Hamburg 1993. 15 Vgl. Monadologie, § 29; GP VI, 611; zitiert nach Hauptschriften, S. 608. 16 Ebd., § 86; GP VI, 621–622, zitiert nach Hauptschriften, S. 619. 17 Ebd., § 84; GP VI, 621; zitiert nach Hauptschriften, S. 619. 18 Vgl. ebd., § 87; GP VI, 622; zitiert nach Hauptschriften, S. 619–620.

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zureichender Grund außerhalb des Zusammenhangs des Begründeten liegt19, so liegt der eigentliche Sinn dieser Aussage darin, anzuzeigen, dass das Reich der Gnade nicht innerhalb des physischen Zusammenhangs der Natur zu verorten ist. Die menschliche Freiheit ist in ihrem letzten Sinne gewissermaßen ortlos bzw. findet ihre Verwirklichung als Selbstvollzug der Erkenntnis Gottes. Die Rationalität der Welt betrifft das Reich der Natur und das Bild einer Einheit, aber diese Einheit wird ihrerseits noch einmal transzendiert von dem theoretischen Selbstvollzug Gottes im Menschen. An ihrem höchsten Punkt kippt also die rationalistische Philosophie von Leibniz in eine Gottesmystik20 und das entscheidende Moment ist ein Blickwechsel, in dem die Gottesliebe als höchste Form der Gotteserkenntnis an die Stelle jeder Selbstversicherung tritt. Auf diese Art und Weise ist Leibniz tatsächlich dem Buch Hiob wesentlich näher als rationalistischen Traditionen, mit denen er üblicherweise in Verbindung gebracht wird. Das Paradoxe an seiner Theodizeeschrift liegt gewissermaßen darin, dass er den Fideisten Bayle kritisiert und diesem zwar keinen Fideismus im Sinne eines Antirationalismus entgegenstellt, wohl aber eine Mystik, die biblischer war als der Voluntarismus des Kritisierten. Allerdings wurde Leibniz, der in seinem Denken neuzeitlichen Rationalismus und biblische Theologie, Metaphysik und Heilsgeschichte zu verbinden suchte, von dem weiteren Fortgang des neuzeitlichen Denkens überholt. Die „Augen des [gläubigen] Verstandes, […] mit denen wir uns dahin stellen müssen, wo wir mit den Augen des Leibes nicht stehen, noch stehen können“21, waren der nachfolgenden Welt, wie bereits das Erdbeben von Lissabon gezeigt hatte, nicht mehr gegeben, und das Bewusstsein der Endlichkeit des Menschen trat immer stärker hervor.

III.2. Kants Theodizeekritik Kants Theodizeekritik kann hier nicht in der gebotenen Ausführlichkeit behandelt werden22. Erwähnt sei daher nur das grundsätzliche Argument Kants: Dieser betont, dass die moralische Endabsicht Gottes nicht aus der mit Kunstweisheit 19 Vgl. ebd., § 37; GP VI, 613; zitiert nach Hauptschriften, S. 609–610. 20 Von hier aus wären interessante Parallelen zum Umschlag der negativen in die positive Philosophie Schellings zu ziehen. Meiner Ansicht nach ist dieser Umschlag nicht ein solcher von einer rationalistischen in eine geschichtliche Philosophie – es ist kein Zufall, dass Schelling keine Geschichtsphilosophie ausgearbeitet hat –, vielmehr liegt der Umschlagspunkt in einer Art Übergabe des sich mittels Vernunft und Willen selbstsetzenden Ichs an die eschatologische Verheißung Gottes, dem Blickwechsel von Leibniz, der hinter der Harmonie von Natur und Gnade steht, ähnlich. Vgl. dazu K. Appel: Entsprechung im Wider-Spruch. Eine Auseinandersetzung mit dem Offenbarungsbegriff der Politischen Theologie des jungen Hegel, Münster u. a. 2003, S. 193–197. 21 G. W. Leibniz: „Von dem Verhängnisse“, in: Hauptschriften, S. 339. 22 Vgl. dafür S. Schilling: Das Problem der Theodizee bei Leibniz und Kant, Nordhausen 2009. Ebenso K. Appel: Kants Theodizeekritik. Eine Auseinandersetzung mit den Theodizeekonzeptionen von Leibniz und Kant, Frankfurt a. M. u. a. 2003; siehe den Beitrag von H. Busche im vorliegenden Band.

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eingerichteten Natur abgeleitet werden kann23. Näherhin liegt der entscheidende Schritt Kants gegenüber Leibniz darin, dass Ersterer nachzuweisen sucht, dass alle unsere theoretische Kenntnis sich innerhalb eines Raum-Zeit-Bezugs generiert. Wenn Leibniz also die Welt gewissermaßen mit der Monade beginnen lässt und die Monade als bestimmte Perspektive des Alls der Realität einführt, so liegt darin laut Kant bereits ein Überstieg des theoretisch Möglichen vor, da diese Kenntnis die ihr zugrundeliegende Anschauungsform verlassen hat. Über Kants Antinomien ließe sich viel diskutieren, entscheidend ist aber der dahinterstehende Gestus: Kant bestreitet schlicht und einfach die Möglichkeit, der Totalität des Seienden Existenz zuzuordnen, da in diesem Falle die bestimmte Existenz verloren ginge. Damit wird die Argumentation von Leibniz im Grunde genommen umgedreht: War bei diesem das Denken der Existenz der Totalität Voraussetzung, bestimmtes Sein zur Sprache bringen zu können, ist bei Kant entscheidend, dass dieses Denken den Status der Idee nicht aufgibt. Besonders deutlich sieht man die Konsequenz in Bezug auf die Monade: Sie hat bei Leibniz de facto den Status einer Urteilstotalität: Einem Subjekt wird eine Totalität von Prädikaten zugesprochen, um seine Existenz zu denken. Bei Kant wird die Monade, die bei Leibniz quasi daseiendes Urteil ist, durch den Akt der Synthesis des Urteilens selber ersetzt. Dessen oberster Grundsatz ist nicht mehr die Existenz Gottes als zureichender Grund (Kontinuum) der Monade, sondern das „Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“24. Zu beachten ist, dass sich diese Synthesis des „Begleiters“25, wie Kant im transzendentalen Schematismus deutlich macht, als Bestimmung des inneren Sinnes, also der Zeit konkretisiert26. Näherhin manifestiert sie sich als Erzeugung der Zeit (Erstellung der Zeitreihe), Erfüllung der Zeit (Erstellung des Zeitinhalts), Erstellung der Zeitordnung und Erstellung eines Zeitinbegriffs (ob ein Gegenstand zur Zeit gehöre)27. Die Synthesis ist also auch bei Kant gleich der Monade zeitbildend, was Heidegger auf den Punkt bringt, wenn er festhält: „Die Zeit und das ‚Ich denke‘ stehen sich nicht mehr unvermittelt und ungleichartig gegenüber, sie sind dasselbe“28. Der radikale Unterschied zwischen Kant und Leibniz besteht aber darin, dass die Zeit bei Ersterem zugleich eine Grenze bildet, aus der kein „Ich denke“ – gerade insofern es gewissermaßen selber die Zeit ist – herausspringen kann. Was die Theodizee betrifft, ist damit bei Kant ein Problem vorgezeichnet: Auf der einen Seite gehört der Mensch als Naturwesen grundsätzlich der Zeitordnung 23 Vgl. I. Kant: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee; in: Ders.: Kant’s gesammelte Schriften (AA), Abt. 1: Kant’s Werke, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1912, S. 252 24 Ders.: Kritik der reinen Vernunft (KrV); B 131–132. 25 Wichtig ist, dass dieses „Ich denke“ nicht substanzialisiert wird, da ansonsten ein Paralogismus unvermeidlich wäre. Auch das „Ich“ ist gewissermaßen Resultat, nicht Voraussetzung der Synthesis. 26 Vgl. ebd., 181. 27 Ebd., 184–185. 28 M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt 61998, S. 191.

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an, er ist sie sogar in gewisser Hinsicht, auf der anderen Seite kann nach Kant dem Phänomen der Freiheit damit nicht adäquat Rechnung getragen werden. In gewisser Hinsicht liegt eigenartigerweise auch im Freiheitsbegriff ein Leibnizianischer Rest bei Kant vor (welcher auch bei Hegel wieder begegnen wird): Es wurde gezeigt, dass auf der höchsten Bestimmung der Leibniz’schen Gotteslehre Gott als der zureichende Grund auftrat, der nicht auf der Ebene des Begründeten zu verorten ist, sondern dieses als nicht integrierbares Moment überhaupt erst zu beschließen vermag. Die Freiheit wiederum war dieser Selbstvollzug Gottes in der Erkenntnis, d. h. auch sie rekurrierte auf ein unaufhebbares „Außen“. Oder dialektisch formuliert: Es war ein diskretes Moment notwendig, um das Kontinuum als solches bestimmen zu können. Eine ähnliche Figur findet sich bei Kant: Die Kausalität aus Freiheit kann nie in der Kausalität der Natur und damit in der Zeit verortet werden. Sie ist paradox formuliert ein überschießendes Moment innerhalb der Naturkausalität und kann aus dieser nicht abgeleitet werden. Nicht zuletzt deshalb ist es ein genialer Schachzug Kants, wenn er dieses Moment mit dem „Sollen“ in Verbindung bringt, welches bestimmt, ohne durch das Seiende bestimmt zu werden. Erhellend für die Theodizeefrage bei Kant ist die Kritik der Urteilskraft (KdU) und der durch die Urteilskraft eingeführte Zweckbegriff29. Zunächst gelingt es Kant dadurch, zwischen der Singularität des Sinnlichen und der Allgemeinheit der Verstandeskategorien eine Vermittlungsinstanz einzuschalten. Von Interesse ist dabei die Unterscheidung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft. Während Erstere das Besondere unter das Allgemeine subsumiert, findet Zweitere das Allgemeine zu einem gegebenen Besonderen. In Bezug auf das bisher Ausgeführte ergibt sich, dass die Monade mittels des durch die reflektierende Urteilskraft gesetzten Zweckbegriffes ersetzt wird. Während also die produktive Einbildungskraft die Welt erstellt, ist es die reflektierende Urteilskraft, durch die uns die Welt als bestimmte (mannigfaltige) und zweckmäßige Welt entgegentritt. Mit der KdU ist auch die Bahn der Theodizeefrage näher bestimmt. Ist die Moralität das Reich der bestimmenden Urteilskraft, insofern das in ihr geltende Gesetz unbedingte Allgemeinheit beansprucht, steht die Natur unter der Schirmherrschaft der reflektierenden Urteilskraft. Die „doctrinale Theodicee“ wäre gewissermaßen der Versuch, die Reflexion zu hypostasieren, was einen absoluten Blick voraussetzte, während die „authentische Theodicee“ bestimmend ist. Die entscheidende Frage, die sich für die Theodizeefrage in den Spuren Kants ergibt, ist der Übergang der reflektierenden in die bestimmende Urteilskraft. Während die Zweckmäßigkeit der Natur immer in der Sphäre der reflektierenden Urteilskraft anzusiedeln ist und der theoretischen Vernunft deren eigene Anwendung auf das dadurch als Einheit und Zusammenhang gesetzte Seiende ermöglicht, ohne doch zu einer abschließenden Totalität zu gelangen, ist der Mensch Endzweck der

29 Vgl. dazu R. Langthaler: Kants Ethik als „System der Zwecke“. Perspektiven einer modifizierten Idee der „moralischen Teleologie“ und Ethikotheologie (= Kant-Studien, Ergänzungshefte 125), Berlin 1991.

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Schöpfung als „Noumenon“30 (Freiheitswesen) für die bestimmende Urteilskraft, wie nicht zuletzt der kategorische Imperativ31 zum Ausdruck bringt. Insofern der Mensch also unter dem unbedingten Zweck des guten Willens steht32, transzendiert er sich und mit ihm die Natur, ohne dieselbe einfach zurücklassen zu können. Beachtenswert ist der § 88 der KdU, in dem Kant klar festhält, dass der Endzweck der Schöpfung als „das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt“33 zwar, wie im § 87 festgehalten ist, zum moralischen Beweise des Daseins Gottes führt, dieser aber für die „reflektierende, nicht die bestimmende Urteilskraft gefällt“ ist34. Der entscheidende Punkt in Kants Postulatenlehre liegt darin, dass es um die Anwendbarkeit des moralischen Gesetzes in der Sphäre der Natur geht oder grundsätzlicher gesprochen: Das Postulat des Daseins Gottes soll die Einheit der Vernunft selber absichern. Ohne dasselbe würde die praktische Vernunft ihren Weltbezug verlieren und der Mensch wäre nicht mehr Bindeglied von Natur und Freiheit bzw. Kopula von Welt und Gott, sondern auf ein (moralisches) Gesetz zurückgeworfen, welches keinerlei Verankerung in der menschlichen Lebenswelt beanspruchen dürfte bzw. mit einer Welt konfrontiert wäre, welche sich jeder Ausführung desselben entzöge. Damit endet, so scheint es zunächst, auch Kants Theodizeeversuch in einer doktrinalen Richtung. Ähnlich dem Rationalismus, so könnte man glauben, ginge es auch bei ihm im Letzten in der Gottesfrage um die Aufrechterhaltung der Vernunft, die quasi von der reflektierenden Urteilskraft gesteuert ist. Damit die Welt die Vernunft zu reflektieren vermag, bedarf es der Postulatenlehre. So wie bei Leibniz allerdings das letzte Wort in Bezug auf die Theodizeefrage der Überstieg von der Selbstbehauptung der Vernunft in die Gottesmystik (Liebe Gottes) war, ist auch bei Kant das letzte Wort nicht mit der hier angezeigten Figur gesprochen. In der späten Theodizeeschrift spricht Kant von einem göttlichen Machtspruch35, durch den Gott zum Ausleger seines göttlichen Willens wird. Damit ist der Übergang von der „doctrinalen“ in die „authentische“ Theodizee und von der reflektierenden in die bestimmende Urteilskraft angezeigt. Entscheidende Bedeutung bekommt damit der Satz: „Es ist ein Gott. — Denn es ist ein categorischer Pflichtimperativ vor dem sich alle Knie beugen die im Himmel auf Erden etc. sind und dessen Nahme heilig ist ohne daß eine Substanz angenommen werden darf welche dieses Wesen für die Sinne repräsentirte […]“36.

30 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft (KdU); AA V, 398. 31 Besonders deutlich in der zweiten Fassung des kategorischen Imperativs in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“. AA IV, 429. 32 Vgl. ders.: KdU; AA V, 411. 33 Ebd., 423 (§ 87). 34 Ebd., 433 (§ 88). 35 Kant: Mißlingen; AA VIII, 264. 36 Ders.: Opus postumum, Erstes Convolut, Fünfter Bogen, Dritte Seite; AA XXI, 64.

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Dieser Gott entzieht sich nicht nur der Repräsentation durch die Sinne, sondern auch der Reflexion der Verstandestätigkeit, und damit der Selbstbespiegelung unseres Denkens. Für die Theodizeefrage kann festgehalten werden, dass ihre letzte Bedeutung nicht darin liegt, dass der Mensch einen Endzweck der Schöpfung herausdestillieren und Gottes Existenz damit rechtfertigen könnte, vielmehr geht es auch und gerade bei Kant um einen Blickwechsel hin zum unbedingten Gebot des moralischen Imperativs und der damit verbundenen Weltwahrnehmung, ein Gebot, welches – in Anlehnung an eine Aussage des jungen Hegel über das Ideal37 – wir weder außer uns noch in uns setzen können38. Die Theodizeefrage hat sich bei Leibniz zu einem Blick Richtung Gottesmystik, konkreter zur Frage nach der Liebe Gottes in unserer Welt verschoben, bei Kant transformiert sich diese Frage zu einer „Mystik der Moralität“, deren Imperativ alle Weltwahrnehmung noch einmal transzendiert und gerade in dieser Transzendenz religiöse Bedeutung erhält. Eine Verbindung beider Momente finden wir in vielfacher Hinsicht in Hegels Phänomenologie des Geistes. In ihr vereinigen sich Gottesmystik und die Wahrnehmung des Anderen auf radikale Weise. Wie bei Leibniz und Kant – und auch beim späten Schelling, dessen Übergang in die positive Philosophie genau diesen Blickwechsel von der reflexiven Rationalität zur „Gottesmystik“ darstellt – liegt auch bei Hegel der entscheidende Schritt in einem Transzendieren der Reflexivität, also der Selbstbespiegelung der Rationalität. In Kantischer Terminologie: Der entscheidende Schritt ist jener von der reflektierenden in die bestimmende Urteilskraft als wahrer Theodizee.

IV. RELIGION ALS ÜBERWINDUNG DER REFLEXION BEI HEGEL UND DER ÜBERGANG ZUR AUTHENTISCHEN THEODIZEE In diesem Aufsatz wird bewusst nicht die Wissenschaft der Logik (WdL) für die Theodizeefrage herangezogen, erstens, weil eine Interpretation dieses Werkes den Rahmen eines Artikels sprengte, zweitens, weil sich meiner Meinung nach ganz entscheidende Gedanken für die Theodizeefrage sowohl in Hegels Jugendschriften39 als auch in Hegels PhdG finden. Auf einige Passagen der zweiten Schrift soll hier näher eingegangen werden, da üblicherweise das Potenzial, welches sich in 37 Vgl. Hegel: Werke, Bd. I, S. 244. Vgl. dazu auch die Interpretation von H. Busche: Das Leben der Lebendigen. Hegels politisch-religiöse Begründung der Philosophie freier Verbundenheit in seinen frühen Manuskripten (= Hegel-Studien, Beiheft 31), Bonn 1987, S. 207– 216. 38 Von da wäre zu hinterfragen, ob Kant wirklich im Opus postumum den Gottesbegriff auflösen will. Zur Diskussion vgl. R. Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie (= Kant-Studien, Ergänzungshefte 124), Berlin – New York 1990. Ebenso A. Cortina: „Die Auflösung des religiösen Gottesbegriffes im Opus postumum Kants“, in: Kant-Studien 75 (1984), S. 280–293; G. Held (Hrsg.): Kants Opus postumum, Frankfurt a. M. 1989. 39 V. a. die Ausführungen über die Liebe geben entscheidende Hinweise für eine authentische Theodizee. Vgl. dazu Appel: Entsprechung.

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ihr für die Frage der Religion bzw. Gottesmystik im Allgemeinen und die Theodizeefrage im Besonderen verbirgt, übersehen wird.

IV.1. Vorurteile in Bezug auf Hegels Philosophie: Das Absolute als totalitäres System und als pantheistische Struktur Dazu trägt bei, dass bis heute Hegels Philosophie – und zwar nicht nur die Vorlesungen, wo dies vielleicht nicht unberechtigt wäre, sondern auch die spekulativen Schriften – mit zwei (Vor-)Urteilen behaftet ist: einem philosophischen und einem theologischen. 1. Das philosophische besteht darin, in Hegels Philosophie eine Art panlogische Vollendung der Geistphilosophie zu sehen, die entweder affirmiert oder aber, v. a. unter dem Eindruck der Entdeckung der Alterität und der Endlichkeit des Daseins, kritisiert wird. Als gewichtige Stimmen in diese Richtung seien Philosophen wie Levinas, Ricœur oder auch Heidegger genannt. In deren Sicht wäre Hegels Philosophie die Vollendung der Einheit von Denken und Sein, die Letzteres aufhöbe. Hinter dieser Aufhebung aber drängt sich spätestens seit Kant ein schwerwiegender Verdacht auf: Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft (KrV), wie angedeutet, aufgezeigt, dass die Reflexionsstrukturen des Verstandes, abgehoben von der kategorialen Grundlage, in den transzendentalen Schein führen. Kant radikalisierend gibt es (meiner Meinung nach seit Hegel und dann fortgesetzt durch Heidegger, Foucault, Derrida u.a.) den grundlegenden Verdacht, dass das abendländisch-neuzeitliche Denken überhaupt dadurch gekennzeichnet ist, dass sich in ihm das Denken so der Welt bemächtigt habe, dass diese nicht mehr in ihrem „freien Anderssein“ hervorzutreten vermag. Die Welt (Re-alität) wird durch die menschliche Reflexion ersetzt und als Folge davon fiktionalisiert. Resultat ist ein Abstraktionsprozess, in dem sich nichts mehr er-eignen kann, weil das Sein in einem gedanklichen Rahmen eingefügt ist, innerhalb dessen es lückenlos präsent(iert) wird. Mit Heidegger gesprochen: Diesem „Gefüge“ fehlte die Fuge, das „Nichts“. Insofern die Lichtung nicht erklärbar aus „Seiendem“, sondern das „Zwischen“ und „Inzwischen“, also der unhintergehbare „Zeit-Raum“ ist, wäre dieser Panlogismus gerade nicht die Eröffnung des Seins, sondern dessen „Re-flexion“, dessen Schein. Darin wäre das Sein in seiner vollkommenen Präsenz genauso undurchdringlich wie das Spiegelbild und nicht Frei-Gabe des Verborgenen. 2. Das (katholische) theologische Vor-Urteil ist dem philosophischen nicht unverwandt. Als Beispiel soll jemand herangezogen werden, der weder Hegel religiös versteht oder verstehen will noch Berührungen mit der Theologie aufweist, trotzdem aber in seinem Kommentar das zum Ausdruck bringt, was von Seiten der Theologie als Vorwurf an Hegel gerichtet wird, nämlich Ludwig Siep: Er spricht von Hegels PhdG als Selbstexplikation des syllogistischen Zusammenhangs und gebraucht den Begriff „einer allgemein gültigen Ordnung“, die eben gerade nicht den Gedanken eines „selbstbewußten, sich in sich unterscheidenden, verendlichenden und zu seiner ‚Sichselbstgleichheit‘ zurückkehrenden Geistes“

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zum Ausdruck bringt, wie ihn das Christentum (ich ergänze: angeblich) entwickelt habe40. In die Richtung von Siep gehen auch – von Schelling angefangen – viele theologisch motivierte Kritiken, so dass Hegel interessanterweise nahezu zum Feindbild der (katholischen) Theologie wurde. Der Inhalt der Kritik beruht darauf, dass in Hegels Philosophie pantheistische Tendenzen festgemacht werden – nämlich in dem Sinne, dass an die Stelle eines persönlichen Gottes ein immanentes Allprinzip gemäß der Siep’schen Hegelinterpretation träte. Der endliche Geist ist so verstanden Selbstvollzug des absoluten Geistes, Gott die „Ichheit“ des „Ichs“. Die ganze Welt ist ein großer trinitarischer Schluss im (neuplatonischen) Rhythmos „Sich-Anders-Werden des Geistes“ und „Rückkehr“ dieses AndersWerdens. Die Theodizeefrage wäre in diesem Sinne gelöst, allerdings wäre es eine doktrinale Theodizee, in der jener hier bereits angedeutete und für eine christliche Theodizee angesagte Blickwechsel hin zur Würde des Endlichen und Verletzlichen gerade keine Rolle spielte und Gott als rettender Gott keine Bedeutung hätte. Dass viele Texte Hegels auf den ersten Blick in eine solche Richtung deuten, namentlich in der Geschichts- und der Religionsphilosophie, soll an dieser Stelle nicht bestritten werden. Wenn aber gerade bei Hegel die Methode dem Inhalt nicht äußerlich sein kann und seine philosophische Methode das Be-Denken der Negativität ist (als Dreischritt der Negation: a) Negation – b) sich auf sich beziehende Negation oder absolute Vermittlung41 – c) sich in ihrem Selbstbezug negierende Negation oder absolute Negativität42), dann kommen für die genuine Explikation Hegels nur zwei Schriften in Frage, nämlich die PhdG und die WdL. Denn nur diese beiden Schriften sind von ihrer Methodik her die Variation des spekulativen Satzes, den Hegel in der Vorrede seiner Philosophie (also der PhdG und der WdL) auf pointierteste Weise zum Ausdruck bringt: „Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des Systems rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken“43.

Die beiden Hauptwerke Hegels sind im Grunde genommen nichts anderes als die Entfaltung dieses Satzes, also die Bewegung der Bedeutung von „Substanz“ in die 40 Vgl. L. Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und „Phänomenologie des Geistes“, Frankfurt a. M. 2000, S. 245. 41 Darin fände sich das Begründungsgefüge, d. h. die von Leibniz angedachte Kontinuität. 42 Entscheidend wäre, dass sich diese Negativität in ihrem Selbstbezug noch einmal negiert und darin spekulativ das zum Ausdruck kommt, was Leibniz erreichen will, wenn er betont, dass Gott als zureichender Grund nicht auf der Ebene des Begründeten liegt. Ebenso interessant wäre ein Bezug auf Kant: Wenn er etwa in der dritten Antinomie von einer Kausalität der Natur und einer Kausalität aus Freiheit spricht, ist Letztere zwar vollständig auf der Ebene der Natur, aber nicht aus ihrem Vermittlungsgeschehen hervorgehend. Bei Hegel entspräche dem die bestimmte Bestimmtheit oder die dritte Stufe der Negation, die sozusagen ein Moment der Unmittelbarkeit in einem Überschuss an Vermittlung hervortreten lässt. Von daher wird verständlich, dass bei Hegel jeder Schluss an seinem höchsten Punkte auch als Entschluss gedacht werden muss. 43 Hegel: PhdG, Bd. III, S. 22–23.

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Bedeutung von „Subjekt“, die die Rückbewegung der Bedeutung von „Subjekt“ in die Bedeutung von „Substanz“ sein wird. Kant zeigt in der KrV wie angedeutet auf, dass „Ich“ und „Welt“ keine Totalitäten darstellen, die reflexiv, d. h. mittels theoretischer Vernunft einzuholen wären. Vielmehr ist der Weltbegriff vermittelt nur über den Kontext des „Zweckbegriffs“ der reflektierenden Urteilskraft und zwar als heuristisches Prinzip. Bei Hegel wird sich, in der Terminologie Kants gesprochen und für die hier gestellte Theodizeefrage ganz entscheidend, die große Frage auftun, wie die reflektierende Urteilskraft bestimmend werden kann, wo also der Umschlagspunkt statthat von einem noetisch-heuristischen Prinzip unserer Weltbegegnung zu einem das „Andere der Reflexion“ bezeichnenden „NichtOrt“, in dessen verbindlichen An-Spruch wir gestellt sind. Dieser Nicht-Ort des „Absoluten“, so die hier vertretene These, ist weder als panlogische Totalität (etwa als unendliche Selbstreflexivität eines göttlichen Ich=Ich) zu verstehen noch als Gegenstand im Sinne eines distanzierbaren U-Topos.

IV.2. Wider die panlogische Reflexionstotalität Die Auffassung des Absoluten als (Reflexions-)Totalität kritisiert Hegel an zwei markanten Punkten der PhdG, nämlich einerseits im Kapitel „Das geistige Tierreich und der Betrug und die Sache selbst“, andererseits in der Haupteinleitung zum Religionskapitel. 1. Der Topos des „geistigen Tierreichs“ ist das Vernunftkapitel, also die Vereinigung von Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Letzteres verortet sich in der Vernunft an den Gegenständen seiner Weltbegegnung, seien diese nun natürlicher (Physik, Biologie) oder kultureller Art (Psychologie, Ethos). Das geistige Tierreich ist dadurch gekennzeichnet, dass das Bewusstsein die Welt vollkommen mit seinem „Selbst“ durchdrungen hat. Die Welt drückt gewissermaßen die „Flüssigkeit“, die uneingeschränkte Anpassungsfähigkeit des Selbsts aus, welches sich in seiner Umgebung vollkommen beheimatet. Die Symbolisierung der eigenen Individualität erfolgt mittels eines je bestimmten Werkes. Gesellschaftskritisch könnte man sagen, dass wir uns in dieser Wissensform in einer kapitalistischen Markenlogik samt der ihr entsprechenden konservativen Anpassung bewegen. Denn auch der Kapitalismus ist geprägt durch die absolute „Verflüssigung“ der Welt, die alle Lebens- und Kulturformen durchdringt und nirgends festmachbar und verortbar ist. Er stellt gerade, indem er jeden Ort durchdringt, die totale Ortlosigkeit der Welt dar. Um sich darin auf irgendeine Weise präsentieren zu können bzw. um die (vom Kapitalismus geforderte) Individualität (gefordert ist sie, weil sie allein die totale Nichtverortung zum Ausdruck bringt) festmachen zu können, muss sich das Individuum als „einzelnes und bestimmtes“44 zeigen, also als „Marke“. Da aber diese Marke nicht die ganze Sphäre der Individualität bestimmen kann („Diese Beschränkung des Seins jedoch kann das Tun des Bewußtseins nicht beschränken,

44 Ebd., S. 294.

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denn dieses ist hier ein vollendetes Sich-auf-sich-selbst-Beziehen“45.), kann und muss sich das Individuum jederzeit auch aus dieser Marke, aus seinem „Werk“ herausnehmen. Übrig bleibt die allgemeine Sache, die gerade keinen „Sachgehalt“ hat, sondern die absolute Geschmeidigkeit, die vollendete Anpassung des Individuums darstellt. Existenziell haben wir es mit einem Selbst zu tun, welches sich von allem und jedem, d. h. aus der Realität als Sache des Anderen distanzieren und in sich zurückziehen kann. Die Immanenz innerhalb der PhdG hat in diesem Kapitel eine Art absoluten Höhepunkt. Theologisch wäre es die „pantheistischste“ Figur, deren Logos alles ohne Unterschied durchdringt und vor deren absoluter Flüssigkeit jeder Ausgang unmöglich wäre. In Bezug auf die Theodizeefrage wäre es eine Figur, die für jeden Umstand die passende Antwort und jede Frage damit getilgt hat. 2. Die zweite Stelle, die ich nennen will im Zusammenhang der Vorstellung eines allumfassenden Logos, betrifft die Einleitung in das Religionskapitel: Dort ist die Rede davon, dass im Geist der Religion die Wirklichkeit im „Kleid seiner Vorstellungen“ eingesargt ist, wobei ihr „in dieser Vorstellung nicht ihr vollkommenes Recht [widerfährt], nämlich nicht nur Kleid zu sein, sondern selbständiges freies Dasein“46.

IV.3. Wider das Absolute als distanzierbaren U-Topos Neben der Auffassung des Absoluten als alles durchdringender Negativität unterliegt allerdings auch die Vorstellung des Absoluten als U-Topos (man könnte solche Auffassungen vielleicht in Kants Postulatenlehre oder in Schellings eschatologischer Gottesbestimmung identifizieren), insofern dieses als ein räumlich oder zeitlich distanzierbarer, fiktionaler Ort verstanden wird, der Hegel’schen Kritik. Eine Auseinandersetzung damit begegnet z. B. in den Ausführungen über die „Bildung“, namentlich in der Dialektik von Glaube und Einsicht. Im Gegensatz zur Welt der Sittlichkeit ist die Welt der Bildung eigenartig substanzlos. Die Sittlichkeit ist letztlich an dem ihr immanenten Gegensatz des Begriffs (der Subjektivität, des Selbsts, der Negativität – insofern diese in den Gegensatz von Einzelnem und Allgemeinem zerfallen, deren Vermittlung zerbricht, insofern das Einzelne nicht mehr im Beziehungsgefüge des Allgemeinen aufgehoben werden kann) zerbrochen, den sie vergeblich integrieren wollte. Resultat der Bemühung des sittlichen Selbsts, sich im sittlichen Geist zu beheimaten, war die Erfahrung von dessen Gegensätzlichkeit, der ihr jede Ver-Ortungsmöglichkeit genommen hat. Aus diesem Widerfahrnis heraus versuchte die Bildung im Glauben (als dem anderen der Einsicht, die dieselbe Tiefenstruktur aufweist) diese Negativität in einem Nicht-Ort, einem U-Topos zu verorten, dem „prädikatlosen, unerkannten und unerkennbaren Absoluten“47 als dem ab-soluten Jenseits jeder Bestimmung, 45 Ebd. 46 Ebd., S. 497–498. 47 Ebd., S. 423.

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welches auch die Substanz der aufklärerischen Einsicht ist, insofern diese nichts anderes ist als die Zernichtung des substanziellen Gehalts der Welt durch die Verab-solutierung der eigenen negativen Reflexionstätigkeit. Mit anderen Worten: Hegel bringt in der PhdG den Verdacht zum Ausdruck, dass u-topische Räume die reflexive Distanzierung von Welt bedeuten, deren Funktion darin besteht, die Re-alität gerade nicht bestimmend werden zu lassen. Die Totalität des Logos und damit die Immanenz desjenigen „Gottes“, der jedes Anderssein in sich enthielte, und das losgelöst Andere eines U-Topos sind zwei Seiten derselben Medaille: nämlich das vollständige Einverleiben des Seins bzw. dessen vollständige Distanzierung, um sich von dessen Realität nicht berühren lassen zu müssen. Die Theodizeefrage, die ihren Ausgang in einem U-Topos oder in einer panlogischen Erklärung des Seienden sucht, endet in der Welt ihrer eigenen Reflexivität bzw. in den eigenen Virtualitäten, in denen sich die narzisstische Verstandesstruktur widerspiegelt.

IV.4. Der Entzug des Seins als zentrales Moment der PhdG für eine Gottesbestimmung Nachdem angedeutet wurde, dass übliche Herangehensweisen an Hegels PhdG in dieser selber destruiert werden, möchte ich, bevor ich exemplarisch auf einige Topoi seiner Philosophie und im Anschluss daran auf Konsequenzen für die Theodizeefrage eingehen werde, die Frage des „Entzugs“ beleuchten. Bereits im letzten Abschnitt wurde angedeutet, dass Hegel nicht einfach als Reflexionsphilosoph zu verstehen ist, was sich auch daran zeigt, dass im Gebäude der WdL die Reflexionsphilosophie lediglich ein Durchgangsstadium darstellt. Das „Ich=Ich“ ist keine Spiegelung in dem Sinne, dass sich irgendetwas abbilden ließe. Vielleicht könnte man an das Phänomen des Spiegels generell denken: Dieser spiegelt solange etwas, solange er begrenzt ist. Fällt diese Begrenzung weg, gibt es auch kein Spiegelbild mehr. Hegels PhdG kann zunächst einmal als Destruktion solcher versuchten Spiegelungen betrachtet werden. Das Selbst lässt sich nicht im Horizont des Seienden abbilden. „Beheimatungen“ bleiben ihm schon in der Sphäre der Sinnlichkeit verwehrt wie auch in der Wahrnehmung oder im Reich der Kräfte. Über den Umweg der „zweiten übersinnlichen Welt“48 erfährt das Bewusstsein, dass das „Innere der Dinge“ oder wenn man so will das Gesetz aller Gesetze die absolute Negativität des Seins ist, dessen Entzug/Negativität es als „Ich“, „Zeit“ oder „Tod“ erfährt. In der Begierde, als sich vollziehende Negation, erfährt sich das „Selbst“, um mit Rilke zu sprechen, als „Brand aller Dinge“49, d. h. es wird die (biblische) Erfahrung machen, dass es sein Begehren nicht mittels Vernichtung der Dinglichkeit stillen kann. Die ultimative Negativität scheint ihm in der Begegnung 48 Vgl. ebd.: „Kraft und Verstand, Erscheinung und übersinnliche Welt“, S. 107–136, besonders S. 128. 49 R. M. Rilke: „Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht“, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte Erster Teil, Das Stunden-Buch (= itb 1101), Frankfurt 1987, S. 294–295.

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mit dem Anderen im Kampf auf Leben und Tod zu widerfahren. Diese absolute Negativität, die das Ich selber ist und deren es am anderen gewahr wird, führt zum Versuch der gegenseitigen totalen Vernichtung. Dass diese in die Positivität des Leichnams umschlägt, in dem sich das Selbst nicht verorten kann und von dem es keine Anerkennung erlangt, führt zu mannigfaltigen Sublimierungen des Todes, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Entscheidend ist aber, dass das „Selbst“ auch in der Folge keinen Ort erfährt, an dem es sich beheimaten könnte. Weder in der Natur („beobachtende Vernunft“) noch in den psychologischen oder logischen Gesetzen der Welt (bekanntlich endet dieser Versuch damit, dass sich das Selbst nur mehr von der Seite der Dingheit zu erfahren vermag), auch nicht in der Erotik („Die Lust und die Notwendigkeit“), in der handelnden Selbstverwirklichung („Das geistige Tierreich und der Betrug oder die Sache selbst“), den Gebilden der Sittlichkeit wie Staat und Familie („Die Sittlichkeit“), den Versuchen der Selbstfindung in der Bildung, in der Moralität oder in den ästhetischen Bemühungen der Religion wird es sich im Letzten verorten können. Vielmehr spiegeln ihm diese Orte eine eigenartige Abwesenheit wieder, was, wie zu zeigen sein wird, in der Religion explizit wird. Man könnte in diesem Zusammenhang an Foucault denken, wenn er in seinem berühmten Aufsatz „Von anderen Räumen“ auf den Spiegel als Utopie und Heterotopie eingeht. Einerseits ist das Spiegelbild völlig undurchdringliche und ortlose Reflexion, andererseits „funktioniert er [der Spiegel] aber als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt“. Weiters entdecke ich „durch den Spiegel […], dass ich nicht an dem Ort bin, an dem ich bin, da ich mich dort drüben sehe“50. Hegels PhdG ist ein solcher Spiegel, der, wie sich noch zeigen wird, unsere usurpierten Orte (inklusive des absoluten Ortes, den wir an Stelle Gottes einnehmen) entortet. Sie hält uns einen Spiegel vor, an dem wir gewahr werden, dass unser unhinterfragter Ort illusionären Charakter hat. Wir bemerken anfänglich, dass die Spiegelorte, an denen wir uns in der PhdG begegnen, zwar nicht irreal sind, sondern auf uns zeigen, ohne aber dass wir uns an Ihnen im Letzten verorten können. Und am Schluss, auf den ich noch eingehen werde, merken wir in einem letzten radikalen Gestus, dass das Nichtsein im Spiegel auf uns selber zurückweist. Es gibt kein letztes Bei-Sich-Sein im Angesicht der Spiegelung, aber der Entzug des Ortes verunmöglicht auch die Positivierung der Negativität im Spiegelbild. Eine Interpretation mittels der „Spiegelmetapher“ des „Im-Anderen-beisich-Sein“ wäre eine völlige Verharmlosung der Hegel’schen Dialektik und würde tatsächlich einen Rückgang hinter Kant bedeuten, der uns bereits von einem Begleiter kündet, der uns nicht in unseren Projektionen, aber auch in keinem primordialen Selbstsein begegnet. Was bleibt, und das sehe ich als zentrale Errungenschaft der PhdG an, ist ein radikaler Versetzungsschritt, oder wie es Hegel ausdrückt: Ein Sich-Anders-Werden als 50 M. Foucault: „Von anderen Räumen“, in: Ders.: Schriften, Bd. IV: 1980–1988, Frankfurt a. M. 2005, S. 935–936.

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entscheidende spekulative Denkfigur. Wir erblicken uns nicht in den Spiegelungen, nicht im Entzug, nicht in einem primordialen Bei-Sich-Sein, sondern in dieser eigenartigen Versetzung, im Blickwechsel, in einer Aufspaltung zwischen dem u-topischen Ort des Spiegels und dem ebenso u-topischen Ort eines Bei-sichSeins. Hegels Logik versucht dies in ihrer Dialektik zum Ausdruck zu bringen. Die dritte Stufe ist nicht die Negation der Negation als sich wiederherstellender Positivität, sondern die Negation der reflexiven Selbstbeziehung der Negation. Erst durch diese Aufspaltung wird die absolute Bestimmtheit der absoluten Beziehung, wie sie sich in der Reflexion (Negation der Negation) zum Ausdruck bringt, wirklich bestimmt. Deshalb kann Hegel von der „bestimmten Bestimmtheit“ als des dritten Moments des Begriffs sprechen, neben der Allgemeinheit, die die absolute Beziehung auf sich ist, und der Besonderheit, die das Moment der Entzweiung (Reflexion; „Schein nach innen“ – „Schein nach außen“) in diesem Selbstbezug ausmacht. In dieser Entzweiung ist keines der Momente real, sondern die Realität ist die metaphorische (!) Mitte, das „Zwischen“, also das Moment der Versetzung oder des Anderen. In diesem Zusammenhang sei Heidegger erwähnt, der wohl in die nächste Nähe Hegels rückt, wenn er in seinem Hegelband im Kapitel „Lichtung – Abgrund – Nichts“ im Zusammenhang einer Be-Stimmung des „Seienden“ als „Vorstellen von einem Ding als etwas im Lichte von Seiendheit“ davon spricht, dass die „Lichtung […] nicht erklärbar ist aus Seiendem, sondern […] das ‚Zwischen‘ und Inzwischen (im zeit-räumlichen Sinne des ursprünglichen Zeit-Raumes) [ist]“51. Wenn also das „Ich=Ich“ nicht nur einen Entzug, sondern auch einen Versetzungsschritt impliziert, in dem erst aufgehen kann, was Gottesmystik und Anerkennung des Anderen im Anschluss an Hegel heißen können, dann wird es geboten sein, solche neuralgischen Versetzungsschritte, d. h. Topoi, in denen das „Ich“ seine radikale Entortung erfährt (auch noch einmal die Entortung einer sich distanzierenden Ortlosigkeit), nachzuzeichnen. Konkret möchte ich einige Überlegungen 1) zur „absoluten Freiheit und zum Schrecken“, verbunden mit der Todesfrage, 2) zum Ende des Gewissenskapitels, 3) zur Einleitung der Religion und 4) zur Stellung des absoluten Wissens anführen, um von diesen Überlegungen die Gottesfrage und die Frage der Anerkennung, wie sie sich im Anschluss an Hegel stellen könnte, zu skizzieren.

IV.5. Versetzungsschritte aus der eigenen Doktrinalität 1. Der Schrecken der absoluten Freiheit und der Tod als der absolute Herr Das Kapitel über die Aufklärung steht am Ende des Bildungskapitels und damit der Entfremdung. Ausgangspunkt des Geistkapitels war die „Sittlichkeit“, die am immanenten Gegensatz des Subjekts, an dessen „Entzweiung“ durch die Tat unterging. Mit anderen Worten: Innerhalb der Sittlichkeit erfuhr das Subjekt keine 51 M. Heidegger: Hegel, Bd. LXVIII, Frankfurt a. M. 1993, S. 45.

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Anerkennung in seiner dem Allgemeinen entgegengesetzten Singularität. Während der Staat unter dem Zeichen des das Einzelne als Einzelnes vernichtenden allgemeinen Willens (deshalb die in der PhdG im Gegensatz zu späteren Schriften Hegels richtige, wenngleich zumindest aus heutiger Sicht zynische Sichtweise, dass die Funktion des Staates der Krieg als Aufhebung der Individualität ist) die Singularität als das „Andere“ seiner der Familie zuordnete, war auch innerhalb dieser die Singularität wiederum nur als der abstrakt Tote, d. h. als Geist der Unterwelt präsent, der seinen (Un-)Ort am Grab als Repräsentation der über den Einzelnen hinwegreichenden genealogischen Abfolge der Familie innehatte. Der Gegensatz, der innerhalb der sittlichen Sphäre noch als ansichseiender Gegensatz von Staat und Familie, Mann und Frau auftrat und in Realität bereits der Gegensatz von Allgemeinem und Einzelnem, „bewußtloser Ruhe der Natur und selbstbewußter unruhiger Ruhe des Geistes“52 war, wurde als solcher absolut virulent im Rechtszustand. War die Sittlichkeit noch vom allgemeinen Selbst zusammengehalten (also wenn man so will, von der ungebrochenen sittlich-kulturellen Substanz), so ist das Selbst des Rechtszustandes nur mehr die absolute Abstraktion des aus dem Allgemeinen herausgefallenen Einzelnen ohne Substanzialität. Ihren Inhalt gibt sich dieses Selbst – und dies stellt bereits den entscheidenden Schritt in die Welt der Bildung dar – durch seinen Geltungsanspruch. Dieses Selbst ist die völlig „nackte“, aller Substanzialität entkleidete Individualität, dessen erste Art und Weise der Selbstvergewisserung (Ich=Ich) sich als „Ich will gelten“ manifestiert, ein Geltenwollen, welches, wie mehrfach angedeutet, auch den Hintergrund vieler Theodizeeversuche ausmacht. Man könnte sagen, dass der Rechtszustand durch das In-den-Gegensatz-Getretensein des Individuums gekennzeichnet ist, das für sich gelten will. Dadurch ist gleichzeitig das ganze Bildungskapitel charakterisiert. Der genial gesellschaftskritische Aspekt dieses Teils der PhdG liegt darin, dass Hegel Recht, Besitz, absolute Staatsmacht bis hin zu Glaube und Aufklärung als Absicherung dieses abstrakten Geltenwollens dechiffriert. Wenn die erste Form dieses Geltungsanspruchs etwa die Schaffung von Eigentum ist, weist Hegel gleichzeitig (kritisch) aus, dass die Funktion des Rechts nicht etwa in der Gerechtigkeit liegt, sondern in der Geltungsabsicherung dieses Eigentums53. Für den Zusammenhang dieser Ausführungen ist nun wichtig, dass sich der ansichseiende Gegensatz, der sich in der Sittlichkeit als „natürlicher“ von Mann und Frau, Staatsmacht (die Männer ziehen in den Krieg, wo es den Tod als Verflüssigung des Individuums „abzuholen“ gilt, deshalb diese Zuordnung zum Allgemeinen …) und Familie bestimmt hat, nun in einen fürsichseienden Gegensatz umwandelt. Das herausgetretene „Ich“ vollzieht seine eigene Gegensätzlichkeit bewusst, also für sich, indem es die Welt seinem Urteil unterwirft und zwar zunächst in der Form „Gut/Böse“. In diesem Artikel kann nicht auf die Details des Hegel’schen Bildungskapitels eingegangen werden, wichtig ist allerdings folgende 52 Hegel: PhdG, Bd. III, S. 354. 53 Für den Eigentumsaspekt in der PhdG vgl. T. Auinger: „Bildung als Betrug und Selbstbetrug“, in: Ders./F. Grimmlinger (Hrsg.): Wissen und Bildung. Zur Aktualität von Hegels Phänomenologie des Geistes anlässlich ihres 200jährigen Jubiläums, Frankfurt a. M. u. a. 2009.

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Grundstruktur: Das „Ich“ vollzieht seine Geltung und sein Heraustreten im UrTeil. Dieses ist die treibende Kraft der folgenden Wissenstopoi. Das „Ich ur-teile“ (welches in vergegenständlichter Form den „Gott“ des „Glaubens“ bildet) tritt dabei immer reiner in den Vordergrund, und man kann gewissermaßen das ganze Entfremdungskapitel als Auseinandersetzung mit der theoretischen Vernunftkritik Kants lesen, v. a. mit dem Gedanken des „Ich denke, das alle meine Vorstellungen begleiten können soll“. Die Geltung des „Ich denke“ wird zunehmend der Maßstab in Bezug auf die Gegenständlichkeit der Welt, die im Nützlichkeitsdenken völlig in das „Ich“ zurückgeht. Ausgangspunkt war das aus der Welt herausgesetzte „Ich“, welches in der Welt keine Entsprechung findet und diese daher radikal entleert. Eine Stufe dieser Entleerung ist die Nützlichkeit mit der völligen Integrierung der Gegenständlichkeit („Das Ding ist das Ich“ bzw. „Alles gilt in Bezug auf mein Urteil“), die ihre weitere Radikalisierung in der „Freiheit“ findet. Denn insofern sich die Gegenständlichkeit in der Nützlichkeit nicht halten kann, da sie nur in Bezug auf deren Urteil existiert, vollzieht sich der Urteilsübergang von einem Beurteilen der Welt zum reinen Urteil „Ich bin Ich“. „Die Welt ist [dem Geist der Freiheit] schlechthin sein Wille“54. Hegel schreibt prägnant: „Diese Bewegung ist hierdurch die Wechselwirkung des Bewußtseins mit sich selbst, worin es nichts in der Gestalt eines freien ihm gegenübertretenden Gegenstandes entläßt“55. In dieser absoluten Negativität wird jeder positive Ausdruck verzehrt und das Resultat ist die „Furie des Verschwindens“. Der Entzug, von dem eingangs gesprochen wurde, radikalisiert sich zur absoluten Zernichtung jeder Substanzialität (bis hin zur Zernichtung des Individuums). Der Gegenstand dieses Bewusstseins und es selbst sind absolut leer. Übersehen wird meist der Umstand, dass diese absolute Freiheit des Ich=Ich auch ihre eigene Genese „vernichtet“56. Dies hat dramatische Auswirkungen auf die ganze PhdG bzw. auf den Geschichtsgestus von Hegel überhaupt: Die absolute Freiheit kappt ihre eigenen Wurzeln und insofern kann die PhdG nicht mehr als genetische Geschichte des Geistes geschrieben werden. Hat bis dato der Spiegel der PhdG einzelne Gestalten in ihrem Zusammenhang präsentieren können, so ist dieser Zusammenhang jetzt an ein grundlegendes Ende getreten. Die Geschichte als Genese des Geistes entlässt sich frei aus sich heraus (somit gibt es auch keine Geschichtstheodizee). Dies bedeutet nicht zuletzt, dass der epochale Umbruch des Terrors der Aufklärung darin besteht, dass die eigene Genese bzw. Herkunft getilgt wurde. Europa wird von da an ohne (genealogischen) Herkunftsort sein, wenngleich dies kontinuierlich verschleiert werden soll. Aufklärung heißt also nichts Anderes als die radikalst mögliche Form von Entwurzelung. Dazu gilt es weiters noch einmal an den Topos des „prädikatlosen Absoluten“ zu erinnern: Dieses tauchte im Zusammenhang der Dialektik von Glaube und Aufklärung auf. Es bezeichnete bereits dort die Reflexionstätigkeit des absolut gelten wollenden und alle Bestimmungen hinter sich lassenden „Ich=Ich“ und 54 Hegel: PhdG, Bd. III, S. 432. 55 Ebd., S. 434. 56 Vgl. dazu H. D. Bahr: Sätze ins Nichts. Versuch über den Schrecken, Tübingen 1986.

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gestaltete sich im „Glauben“ als die vergegenständlichte Leere des eigenen Denkens (der absolute Gott als Nichts des Endlichen) und in der Einsicht als die zersetzende Bewegung des Denkens selber, die sich als „Materie“ (wiederum als reine Abstraktion des Seienden) und schließlich als „Nützliches“ manifestierte. Jetzt aber bekommt das prädikatlose, d. h. von aller Bestimmung abstrahierende Absolute eine neue Tiefendimension. Es bezeichnet den absoluten Herrn, nämlich den Tod, der – ohne selbst bestimmt zu sein – alles (s)einer ultimativen Bestimmung zuführt. Der Gott der absoluten Freiheit ist das nihil negativum Kants, das absolut Nichtende, welches an die Stelle des Entzugs getreten ist. Die HerrKnecht-Dialektik hat ihr dialektisches Moment abgestreift und es tritt ein Herr auf, der nicht mehr durch den Knecht berührt ist. Es fragt sich an dieser Stelle, ob so ein absolutes Nichts, verbunden mit dem Scheitern jeder Sinngebung der Welt und dem Ende des Gottesnamens und der in ihm mitgeführten Verheißungen erreicht ist und damit die PhdG als sich vollbringender Nihilismus an ihr Ende geführt ist. „Anerkennung“ gibt es vom Tod nur invertiert als das jeder Sinngebung enthobene Nichts, und diesem Gott kann nicht mehr gedankt werden … Folgerichtig spricht daher Hegel in Bezug auf das Individuum „vom kältesten, plattesten Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wasser“57. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass der Tod bei Hegel gewissermaßen den Umschlagspunkt der Reflexion bezeichnet. Er ist Resultat von deren abstrahierender Bewegung und gleichzeitig zeigt er das Ende der Verortbarkeit des Selbsts an. Es wird sich in keiner Welt und auch in keinem Spiegel finden können angesichts dieses Erfahrungsschrittes, der ihm widerfahren ist. Gerade in Bezug auf die Religion darf nicht vergessen werden, dass jede ihrer Figuren auf ihre Weise die Todeserfahrung reflektiert (bzw. nicht reflektiert, da die Religion das Ende der Projektionsfläche des Gegenständlichen bezeichnet)58. Was allerdings nach Hegel (vorläufig) bleibt, ist die Urteilsstruktur in der Gestalt des allgemeinen Willens. Das Selbst kann sich am Ausgang der Freiheit nicht mehr „für sich“ retten, es erhält sich nicht, allerdings bleibt die Negativstruktur der Reflexion als Erfahrungsschritt erhalten. D. h. nichts anderes, als dass das Selbst seine Aufhebung durch den Geltungsanspruch eines allgemeinen Willens erfährt. Was also aus dem allgemeinen Tod des Individuums, aus dem Verlust der Ver-ortung resultiert, ist – so scheint es – die Form der Allgemeinheit. Die Moralität hat, zusammenfassend gesagt, ihre Genese am Terror, der selber wiederum Bruch mit jeder Genese (und damit der Sittlichkeit) ist.

57 Hegel: PhdG, III, S. 436. 58 Während alle Stufen bis zum Religionskapitel Reflexionen des Geistes in der Form des Gegenständlichen sind, also Bewusstsein des Geistes, ist die Religion als Selbstbewusstsein des Geistes nicht mehr im Gegenständlichen spiegelbar!

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2. Die Aufhebung des Gewissens und der Umschlag in die Religion Wenn man die Lektüre der PhdG „über die absolute Freiheit und den Schrecken“ hinaus fortsetzt, darf man nicht vergessen, dass das Bewusstsein den Tod gesehen hat und dass damit die Reflexion gewissermaßen ihr eigenes Ende anzeigt, da sich das Individuum im Tod nicht zu reflektieren vermag. Der erste Schritt vom vorher angezeigten Umschlag von der reflektierenden Urteilskraft in die bestimmende Urteilskraft deutet sich an. Der Verlust des „Sich“ lässt allerdings nicht, wie dies bei Heidegger der Fall ist, die radikale Einzelheit des Daseins hervortreten, sondern – ganz im Gegenteil – verweist auf einen das Individuum aufhebenden Geltungsanspruch durch das allgemeine Urteil. Dieses zeigt sich zunächst als Moralität. Deren geistiges Moment liegt darin, dass es in seiner Allgemeinheit den negativen Gegenstand seines Bewusstseins (das Moment der Singularität, der Natur usw.) frei aus sich zu entlassen vermag. Das ungeistige Moment liegt daran, dass es dieses Freilassen gleichzeitig zurücknimmt und ihr das Singuläre als das Aufzuhebende gilt. Darin liegt das prädikatlose Allgemeine des Todes und seine Nichtung als Moment in ihr verborgen und ihre bestimmende Kraft ist noch Produkt der Reflexion. Das Endliche gilt ihr als Aufzuhebendes und sie muss ihre Geltung daran applizieren. Hier soll nicht das Moralitätskapitel ausgelegt werden, sondern wichtig ist für die Sichtung des Gewissens v. a. der Umschlag, der an der Moralität statthat: Logisch könnte festgehalten werden, dass die Moralität der ständige negative Umschlagspunkt von Allgemeinem und Einzelnem ist und dadurch die Negativität des Selbsts, wie sie im Gewissen auftritt, hervorbringt. In den Vordergrund sei aber eine phänomenale Deutung gestellt: Gerade weil die Moralität das Selbst in den Blick nimmt, ohne es – nach der Erfahrung des Todes – auf eine Projektionsfläche eigener Selbstfindung reduzieren zu können, tritt das Andere an ihr hervor. An diesem Widerspruch, nämlich einerseits allgemeiner Wille zu sein, der sich im Anderen reflektieren will, und andererseits keine Reflexionsfläche mehr zu haben, geht die Moralität zu Grunde. Sie hat kein Zuhause im Spiegel und ist nicht bei sich. Das Gewissen ist in Bezug auf die Moralität deren Verschärfung: Denn was in ihm bewahrt ist, ist die Urteilsform. In gewisser Hinsicht rücken im Gewissen die „Exterritorialität“ des Ur-Teils und das Moment des Anderen in die engste Nähe. Der entscheidende Punkt ist, dass das Gewissen unter seinem eigenen abstrakten Ur-Teil steht. Gerade weil das Gewissen keine Spiegelfläche mehr hat, bricht an ihm das Andere auf, aber dieses Andere ist immer schon dem Ur-Teil unterlegt. In gewisser Hinsicht ist das vielgepriesene Gewissen die tödlichste Figur der PhdG, da sich in ihm die Präsenz des Kontingenten nicht mehr in einen Rahmen zu Bringenden deutlicher meldet, ohne dass dieses als solches anerkannt werden kann. Jeder Vollzug (das „handelnde Gewissen“) unterliegt dem Ur-Teil („des urteilenden Gewissens“) und nichts kann sich dem gegenüber erhalten. Darin ist es der Bruder des Todes, dem sich ebenfalls nichts entziehen kann. Was diesen Kreis durchbricht, also das „Brechen des harten Herzens“ oder mit anderen Worten: das Brechen des Geltungsanspruchs, wie er sich im Ur-teil zeigt, ist ein Akt nicht-genetischer, also nicht vermittelter, sich ereignender An-Erkenntnis.

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Zwei auch für die Theodizeefrage bedeutsame Spitzensätze, ungeheuer in ihrer Zumutung und ihrem Wesen nach mitten in die Religion fallend, bringen die Essenz des Umschlags innerhalb des Gewissens zum Ausdruck: „Es [nämlich das ur-teilende] Gewissen zeigt sich dadurch als das geistverlassene und den Geist verleugnende Bewußtsein, denn es erkennt nicht, daß der Geist in der absoluten Gewißheit seiner selbst über alle Tat und Wirklichkeit Meister [ist] und sie abwerfen und ungeschehen machen kann“59.

Und der zweite: „Das Wort der Versöhnung ist der daseiende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seienden Einzelheit anschaut, – ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist“60.

Man könnte den ersten Satz dahingehend deuten, dass die Negativität des Selbsts über alle Bestimmtheiten hinausgeht und durch solche Bestimmtheiten nicht einholbar ist. Damit ist nicht das Entscheidende gesagt: Was erkannt wird, ist, dass der Andere im Urteil immer meine Projektionsfläche war. Hinter dem Akt des Urteilens steht der Akt einer Selbstsetzung, die zwar bereits im Tod erschüttert wurde, aber gewissermaßen erst jetzt dem Bewusstsein ansichtig wird. Es – hier ist Hegel ganz Protestant in lutheranisch-paulinischer Tradition, die er spekulativ zu durchdringen versucht – vollzieht sich die Erkenntnis des Gewissens, dass es keinen Bestand gibt unter dem Urteil. Der Ort, von dem aus das Urteil exekutiert wurde, war die Projektionsfläche eines Selbsts, aus der all die bisherigen Gestalten hervorgetreten sind, aber es war eben – Projektion. Die „Bewegung des Gegensatzes“ als „indiskrete Kontinuität“ und „Gleichheit des Ich=Ich“ ist die Selbsterkenntnis im Verlust des Anderen als (gegen-ständliche) Projektionsfläche, die sich im Verzicht des unendlichen äußeren Beobachters ergibt. Im Übergang von der Wesenslogik zur Begriffslogik, der sich am Übergang vom Gewissen zur Religion logisch vollzieht, taucht der Satz auf, dass das Anundfürsichsein Gesetztsein ist (aus einem dritten „Ort“ heraus, der weder innerhalb noch außerhalb der absoluten Beziehung des Gegen-satzes gesetzt ist). Entscheidend ist die Erkenntnis, dass der Ort, von dem aus der Andere ver-urteilt wurde, ein durch und durch gesetzter Ort ist und dass das, was ich am Anderen verortete, schon immer meine Projektion war. Mit dem Verlust des Spiegels bleibt nur mehr eine Aufspaltung, ein „Zwischenraum“ über, in der bzw. in dem das „Selbst“ entspringt. Das Sichselbstwissen im „absoluten Gegenteil“ ist kein Sichselbstwissen in der eigenen Projektion, sondern ein Sichselbstwissen im absoluten Verlust seiner. Nur in diesem Verlust ist der Geist stärker als alle Tat und nur in diesem Geschehen, welches an keiner aus der Vergangenheit erwachsenen Geltung festhält, gibt es Verzeihung und Neuschöpfung. Was Hegel also sucht, ist ein „Punkt“, der über das Ich=Ich hinausweist. Der Verlust der Substanz ist nicht die reflexive Einholung desselben, sondern der Verlust der reflexiven Einholung. Erst daraus kann 59 Ebd., S. 491. 60 Ebd., S. 493.

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das Subjekt als substanzielles Subjekt hervorgehen. Mit diesem Verlust des äußeren Ortes geht eine Blickwende einher: Der Andere und mit ihm die Welt ist nicht mehr unendliche Spiegelfläche, sondern er ist uns gerade in seinem Aufgang als „Anderer“ aus unserer Verfügungsgewalt entlassen.

IV.6. Der Aufgang der Religion Das Paradoxe der Religion besteht darin, dass sie keinen Gegenstand mehr hat oder mit Worten Hegels gesagt, dass ihr „Gegenstand die Form freier Wirklichkeit hat“, also nicht mehr unter der Schirmherrschaft eines bestimmten Rahmens, einer bestimmten Projektionsfläche zu verstehen ist. Die Religion als Selbstbewusstsein des absoluten Geistes ist die Versöhnung des Bewusstseins mit dem Selbstbewusstsein in der Form des Ansichseins, während das Gewissen die Versöhnung in der Form des Fürsichseins ist61. Die Vereinigung beider ist das absolute Wissen. Für die Ausführungen hier ist zunächst von Bedeutung, dass die Religion ein materiales Element hat (Form des Ansichseins). Dies kann so gedeutet werden, dass der Geist in der Religion sich quasi gegenständlich herausstellt und sich in dieser Gegenständlichkeit auch erkennt. Allerdings ist dies, wie vorhin gerade angedeutet wurde, zu kurz gegriffen: Ein Zugang zur Religion führt nur über eine „Umkehr des Bewusstseins“, die am Ende des Gewissens erfahren wurde. Daher wird die Gegenständlichkeit der Religion nicht mehr die der bisherigen Stufen sein können, sondern sie ist „Form des freien Andersseins“62; sie wird also keine ungebrochene Projektionsfläche des Selbsts sein können, denn eine solche setzte einen Rahmen, d. h. eine Begrenzung voraus, den es in der Religion nicht mehr gibt. Vielmehr „repräsentiert“ der „Gegenstand“ der Religion nicht mehr den Gegenstand eines Bewusstseins, sondern dessen Abwesenheit63. Wie oft in der PhdG gibt die erste Stufe, in unserem Fall die der Religion, also das „Lichtwesen“, Aufschluss über die Gesamtrichtung, die einzuschlagen ist. Wichtig scheint mir besonders der folgende Absatz zu sein: „In der unmittelbaren ersten Entzweiung des sich wissenden absoluten Geistes hat seine Gestalt diejenige Bestimmung, welche dem unmittelbaren Bewußtsein oder der sinnlichen Gewißheit zukommt. Er schaut sich in der Form des Seins an, jedoch nicht des geistlosen, mit zufälligen Bestimmungen der Empfindung erfüllten Seins, das der sinnlichen Gewißheit angehört, sondern es ist das mit dem Geist erfüllte Sein. […] Dies mit dem Begriffe des Geistes erfüllte Sein ist also die Gestalt der einfachen Beziehung des Geistes auf sich selbst oder die Gestalt der Gestaltlosigkeit. Sie ist vermöge dieser Bestimmung das reine, alles enthaltende 61 Vgl. ebd., S. 579. Für genaue Ausführungen vgl. T. Auinger: Das absolute Wissen als Ort der Ver-einigung. Zur absoluten Wissensdimension des Gewissens und der Religion in Hegels Phänomenologie des Geistes, Würzburg 2003. 62 Hegel: PhdG, Bd. III, S. 497. 63 Man könnte hier durchaus eine Parallele zu Kant ziehen. Die Erhabenheit des Menschen tritt gerade in solchen Naturerfahrungen auf, in denen sich der Mensch nicht finden kann, also paradoxerweise dort, wo sich die Natur in Macht zeigt. Gerade darin aber kann sich der Mensch nicht mehr in die Natur hinein reflektieren und erkennt sich als Anderes der Natur und deren reflexiver Vermittlung.

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und erfüllende Lichtwesen des Aufgangs, das sich in seiner formlosen Substantialität erhält“64.

Nicht zufällig ist in diesem Abschnitt vom „Aufgang“ die Rede. Betrachtet man die Großstruktur der PhdG bis zur Religion, kulminiert das Gewissen in einer „Entäußerung“ des Subjekts, welches auf sich, d. h. sowohl auf seinen theoretischen Selbsterhalt mittels der Einsicht als auch auf seinen praktischen Selbsterhalt mittels des Urteils, also auf Weltbewältigung und Selbstbespiegelung mittels der Reflexivität verzichtet. In der Religion wird der „Aufgang“ dieser „Entäußerung“ als substanzielles Geschehen „angeschaut“ – bis hin zur offenbaren Religion, wo sich in Jesus Christus die „Entäußerung des Subjekts“ und die „Entäußerung der Substanz“ kreuzen und vereinigen. Näherhin betrachtet bedeutet diese Entäußerung der Substanz, dass die Wirklichkeit die mannigfaltigen „Verkleidungen“65 und „Masken“66 der Reflexion (bis hin zur Tragödie, deren Notwendigkeit bereits die Reflexionsgestalt in ihrer unverhüllten Form anzeigt) fallenlässt, sich von diesen löst und damit sich als Ab-solutes manifestiert. Nicht vergessen darf dabei werden, dass der Sinn all dieser Masken, wie uns die offenbare Religion, also die Menschwerdung Gottes und der Kreuzestod Christi enthüllt, darin bestanden hat, den Menschen in seiner Ausgesetztheit zu verbergen. Paradoxerweise tritt bei Hegel also die Transzendenz an dieser äußersten Immanenz der nackten Existenz des Anderen auf. Deren Verletzlichkeit und Ausgesetztheit ist paradoxerweise die paradiesische Nacktheit (also mit Agamben gesprochen das paradiesische „Lichtkleid“ der nackten Ureltern67), welches unsere Weltwahrnehmung im Allgemeinen und jede doktrinale Theodizee im Besonderen verbirgt. Substanziell ist also nicht mehr die Einordnung in einen bestimmten Rahmen, sondern das Wissen um den „Entzug“ des Seienden als „Substanz“ eines „freien Andersseins“. Einhergehend damit vollzieht sich ein Blickwechsel: War bisher z. B. die sinnliche Gewissheit auf einen Gegenstand gerichtet, ist ihr dieser Gegenstand als unmittelbarer abhanden gekommen („entzogen“). Er ist damit aber nicht entschwunden, sondern er kann gerade „aufgehen“, indem er nicht mehr unter einem bestimmten Wissensmaßstab festgehalten wird. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der entscheidende Weg der PhdG einen Versetzungsschritt inkludiert, ein „Sich-anders-Werden“ des Wissens, welches in der Erkenntnis der Gestalten als Projektionsebenen liegt, durch die das Absolute gerade nicht zu fassen ist, sondern die uns unseren verendlichenden Blick geradezu zurückspiegeln. Wenn dieser Spiegel nicht mehr als Re-alität genommen wird, wenn also auch unser Wissensrahmen ins Leere greift, kann, so die Intention Hegels, eine Umkehr dahingehend statthaben, dass der Gegenstand von sich her aufzugehen vermag. Diese Entäußerung der Substanz, d. h. den „Aufgang“ des Sinnlichen und all der anderen Stufen, die „schon an und für sich bei uns sein wollen“, versucht das Wissen in der Religion noch einmal zu genetisieren. Dabei wird sich aber der 64 65 66 67

Ebd., S. 506. Vgl. ebd., S. 497–498. Vgl. ebd., S. 542. Vgl. G. Agamben: „Nudità“, in: Ders.: Nudità, Rom 2009, S. 83–128.

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Kurt Appel

Blickwinkel immer stärker hin auf den verbalen Vollzug des Absoluten verbunden mit einem Verlust des Absoluten als Verortbares (und sei es als Verortbares „jenseits“ der Orte) richten. Das Kunstwerk tritt immer stärker von seinem Aufgang her in den Blick. Es ist also nicht so, dass sich das Selbst durch eine Tat in einer Substanz spiegelt, sondern im abstrakten, lebendigen und geistigen Kunstwerk findet der Aufgang des Absoluten statt, welches sich gewissermaßen selber in das Leben bringt, ohne von einem Subjekt intentional hervorgebracht zu werden. Die Richtung geht wie gesagt immer stärker auf ein verbales Verständnis des Absoluten, d. h. es wird zunehmend bewusst, dass die Bilder von dessen Aufgang sich in ihrem Festhalten selber aufheben. In der Komödie als Kulminationspunkt der religiösen Substanzentäußerung spricht der Geist den Satz aus: „Das Selbst ist das absolute Wesen“ und das Selbst als die absolute Negativität und Verkehrung verkehrt sich in den Gegensatz, wird also entäußert. In der offenbaren Religion wird der Entäußerung der Substanz, wie sie im Lichtwesen beginnt und in der Komödie kulminiert, die Entäußerung des Subjekts im Kreuzestod Christi entsprechen und auch entsprechend angeschaut. Entscheidend ist aber auch hier noch einmal eine „Blickwende“, von der das absolute Wissen spricht.

IV/7: Das absolute Wissen als Loslösung des Wissens und der Aufgang Gottes Interessant wäre es, Kants Diktum von der Aufhebung des Wissens, um dem Glauben Platz zu machen, auch auf Hegel zu applizieren. Denn das absolute Wissen ist das von sich losgelöste Wissen. Es ist jenes Wissen, welches die (Selbst)Spiegelungen und Rahmungen hinter sich gelassen hat, in denen sich der eigene Geltungsanspruch, hermetisch abgeschlossen, befindet. Damit ist es der Umschlagsort, in dem das Absolute aufgehen kann, worin sozusagen die Gottesmystik Hegels läge (viel mehr als in seinen trinitarischen Schlüssen, die uns allerdings vor Augen halten, dass es keinen opaken, in sich undurchlässigen Ursprungsort gibt, von dem ich das Geistige herschreiben könnte). Die „Gestalt“ (wenn man von einer solchen noch sprechen kann) des absoluten Wissens ist nicht mehr die der Religion in einem bestimmten „Kleid“, welches dann wieder distanzierbar wäre, sondern Vollzug, genauer Selbstvollzug als Vollzug Gottes als verbales Geschehen, welches keine substantiierbaren Träger mehr hat. Hegel spricht im abschließenden Kapitel davon, dass das „Handeln […] das erste ansichseiende [„sich“ gesperrt!] Trennen der Einfachheit des Begriffs und die Rückkehr aus dieser Trennung [ist]“68. Im Handeln entzweit sich das Bewusstsein und trennt, wie im Gewissen virulent wurde, das Einzelne und das Allgemeine. Diese Trennung aber ist zugleich die Rückkehr, weil die „Trennung“ des Handelns und das damit verbundene „Insichgehen“, d. h. das Moment der Singularität selber bereits substanzielles Moment ist. Mit anderen Worten: Das absolute Wissen weiß darum, dass es kein allumfassendes reflexives Kleid im Sinne einer absoluten Selbstbespiegelung als Ursprung gibt; es weiß auch, dass es selber in seinem Vollzug der Verzicht 68 Hegel: PhdG, Bd. III, S. 578.

Von der „doctrinalen“ zur „authentischen“ Theodizee

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auf eine absolute Positionierung ist und dass darin erst das Andere in seinem Aufgang frei aus sich entlassen werden kann. Diesem Aufgang entsprechen nicht mehr die großen Bilder der Kunstreligion oder ein positiviertes Jesusbild, sondern er ist „Geist“ als „Geschehen“ oder „Ereignis“, welches nicht mehr von „mir“ her zu schreiben ist, sondern „Es“ geschieht im Aufgang des Anderen, dessen erste Gestalt sich als „reiner Dieser“, als (kontingenter) „Einzelner“ zeigen wird … Damit wird, und dies soll nicht vergessen werden, von Hegel doch wiederum eine U-Topie einer Weltwahrnehmung vorgezeichnet, die für die Theodizeefrage von entscheidender Bedeutung ist und Motive von Leibniz und von Kant verbindet. Mit Leibniz ist ein Blick gefordert, der über die Reflexionsdistanz des Verstandes hinausgeht und darauf verzichtet, quasi als äußerer Beobachter über Gott, Welt und Mensch zu richten. Mit Kant geht die Richtung in eine Weltwahrnehmung, in der der Andere gerade, insofern er (verletzliches) Sinneswesen ist, zum moralischen Imperativ und zum Ort der Transzendenz wird. So transformiert sich auch bei Hegel die Theodizeefrage in eine Frage der entsprechenden Welt-, Menschen- und Gottesbegegnung. Gott und Welt sind nicht äußerlich be- und verurteilbar, sondern der Mensch vermag als Verletzlicher dem Verletzlichen gerade, indem er sich dieser Verletzlichkeit aussetzt, als „Ich, das Wir und als Wir, das Ich ist“69 zu begegnen und sich in dieser Begegnung über alle „Materie“, über alles Objekthafte und über jede urteilende und handelnde Intentionalität hinaustragen zu lassen – und Leben und den göttlichen Richtspruch der Liebe zu empfangen.

69 Ebd., S. 145.

LEIBNIZ AND WILLIAM JAMES’S PHILOSOPHIC OPTIMISM Jaime de Salas (Madrid)

The comparison between William James (1842−1910) and Leibniz as far as evil and the salvation of the created world are concerned, seems an unpromising subject. William James is better known for his work in Principles of Psychology and The varieties of religious experience. Pragmatism helped to set off an academic discussion on the nature of truth which still remains open. Leibniz is seldom cited by James and at times it becomes obvious that his knowledge of the author of the Théodicée could be improved. It is clear that Leibniz was not read with the attention that Kant received. We are not on firmer ground when it comes to a systematic comparison of both authors. It appears that The Critique of Pure Reason and On the Failure of all attempted Theodicies mark a decisive moment. James was conscious that his starting point was very different from that of Leibniz. In one of the few texts in which he cites the German philosopher1 he maintains that the project of a Theodicy understood as a rational apology of God, his goodness and the compatibility of evil and pain in the created world, is impossible, taking into account the level of knowledge that humanity had attained by the end of the nineteenth century. He further adds that the possibility of man identifying himself with nature, that is, with the created world, as a Theodicy implies, is also not feasible. I quote: “Visible nature is all plasticity and indifference”. And therefore, “To such a harlot we owe no allegiance; with her as a whole we can establish no moral communion”. We are very far from classical and Christian conceptions of man and nature which philosophy reflected. One way of establishing the difference is that Leibniz in his work on creation can count upon the transcendental nature of the idea of Good which allows his God to compare different possible worlds and acknowledge the best, while James’s viewpoint is practically reduced to the action that man can give rise to2. To read William James in this context implies not only acknowledging a cultural distance. Were we to compare the Théodicée with Pragmatism, we would immediately be conscious of the difference between a body of knowledge that has been refined for over twenty centuries and the more makeshift and improvised character of the thought of the author of Pragmatism, despite the value and clarity 1 2

W. James: Writings, 2 Vols., New York 1987 and 1992. In this case: Vol. 1, p. 489. The above cited text is a continuation of the following introduction: “Truly all we know of good and bad proceeds from nature, but nonetheless so all we know of evil. Visible nature is all plasticity and indifference”. In The Dilemma of Determinism he concludes (ibid., p. 582): “Is there something rather absurd in our ordinary notion of external things being good or bad in themselves?”

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of many of his insights. The body of Leibniz’s thought on theological questions, which includes not only the Théodicée but also Confessio Philosophi, De rerum Originatione radicali and a host of other writings, can be understood as one of the great achievements of the history of philosophy. It contrasts with our present predicament where we are very conscious of the reality of evil in our world, but at the same time we find great difficulty in arriving at any clear characterization of it. In fact, the idea of good so present explicitly and implicitly in contemporary thought appears almost as a philosophical enigma. We can start by distinguishing the metaphysical argument in favor of the best of all possible worlds and its compatibility with the conventional notion of God on the one hand, and the ensuing confidence that Leibniz’s arguments afford as to man’s insertion in his social and natural reality. Philosophical reasonings imply an initial doubt and self-questioning which would cease with the philosophical answer. It could be the case that one can arrive at a certain level of security through other ways of philosophical reasoning which would therefore be comparable but not reducible to Leibniz’s Théodicée. My thesis, in the first place, is that William James offers one such way. The need for a general philosophical answer was still intact but the evolution of science and philosophy meant that it was necessary to argue in favor of optimism in a different manner. The real question is that the need for philosophy was still present. It is true that the two great revolutions at the end of the eighteenth century and the big change in society which the industrial revolution implies determine that the issue on evil and the legitimacy of reality are converted – at least partly – into political issues. God is no longer seen as he who guarantees a fixed order. On the contrary, each society should establish its own constitution and find its balance in day-to-day politics. However, when we pose the problem of evil we must also take into consideration that there is another dimension which has become more significant during the last two centuries: that related to personal development. One’s identity in an open society, where pre-established social orders weigh less as time goes on, becomes a central issue. This is reflected by a new genre: The Bildungsroman. Salvation comes to be understood in a profane and psychological context. This is the price to pay for such an adaptation to society and its requirements. Existential anxiety and depression are part of the biographical context in which William James worked3 in a way inconceivable for Leibniz, despite the latter’s ambition and need for court advancement. The Will to Believe not only expresses the skepticism of a seasoned scientist in science itself, but also the experience of the difficulty of leading a life which would justify itself. In this context one has to take into account not only Kant, but also Rousseau and his insight on the importance of man achieving a moral balance. I will not enter into this subject here, but it is important to take it into account because the intellectual personality of William James is not only rich but also complex. The reason for studying James in this context is that this secular kind of salvation is central to his thinking in the twenty years of his specifically philosophical 3

R. B. Perry: The Thought and Character of William James, Nashville 1976, pp. 119 ff.

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activity. One should take into account at least The Sentiment of Rationality (1880), The Dilemma of Determinism (1884), Is life worth living? (1895), The Will to Believe (1896), Philosophical Conceptions and Practical Results (1898), The Varieties of Religious Experience (1902), the Appendix to Some Problems of Philosophy (1911), and especially the defense of meliorism which is central to the argument of Pragmatism. This does not, properly speaking, mean a reception of Leibniz’s metaphysics, but certainly it represents an attempt to solve the same problem and to arrive at the same certainty which the Théodicée intended to produce. James is not drawn into Natural Theology but engages in a vindication of personal freedom as a prerequisite to finding one’s own personality. One can speak of attention to God, though not to the God of natural theology but to the common denominator of different religions which each in its own way guarantees the possibility of acting. The following definition of religion not only is central to The Varieties of Religious Experience, from the second lecture of which it is taken, but also is that which appears in The Will to Believe and Pragmatism. Religion is understood not primarily as an institution, dogma or system of theology, but as certain psychological experiences which would be common to all religions. It would be “the feelings, acts, and experiences of individual men in their solitude, so far as they apprehend themselves to stand in relation to whatever they may consider divine”4. Theology would be subsequent to religious experience as it is understood in James. Its theses are “secondary accretions upon a mass of concrete religious experiences, connecting themselves with feeling and conduct, that renew themselves in saecula saeculorum in the lives of private men. If you ask what these experiences are, they are conversations with the unseen, voices and visions, responses to prayer, changes of heart, deliverances from fear, inflowings of help, assurances of support, whenever certain persons set their own internal attitudes in an appropriate way”5,

whereas for Leibniz theology from a certain point of view is the Aristotelian “divine science” which brings philosophy to its culmination. What is really real from the viewpoint of William James is this kind of experience inherent in everyman’s existence. At the same time, religious experience cannot be reduced to physiological or neurological conditions. It has its own consistency and plays a role within the general economy of human existence. “Religion […] makes easy and felicitous what in any case is necessary”6 and thus should be studied. Its solutions are practical and cannot take the place of theory, but at the same time the whole effort of James is to establish an area in which the individual can establish himself without the weight of disbelief7. In fact, Leibniz also made a considerable contribution to the philosophy of religion with his attention to different forms of worship and prayer, but certainly he 4 5 6 7

James: Writings, 2, p. 36. Id.: Writings, 1, p. 1090. Id.: Writings, 2, p. 53. Ibid., p. 489.

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does not have the psychological insights which support James’s position in The Varieties of Religious Experience. Ultimately, he thought that these differences were resolved in a God who could be thought, and to an extent understood, by means of Natural Theology. In this way, and despite the distance of some two centuries, there is a certain continuity between the two thinkers and we can also see that some of Leibniz’s insights are developed in a different context by James.

I. SOME COMMENTS ON THE ARGUMENTS IN FAVOR OF THE POSSIBILITY OF GOD’S PRESENCE IN THE WILL TO BELIEVE Both thinkers attribute the burden of proof to their opponents, those who would doubt God’s existence or the reality of some of his attributes. One should first specify that the Théodicée is directed primarily towards issues such as God’s liberty and the goodness of the created world, whereas the subject matter of James is restricted to the cultural emancipation of the individual8. It is true that there is also a theory of personal liberty in Leibniz which can be compared with James’s, but the crucial issue for Leibniz is theological. James’s starting point is the individual’s limitations. He cannot reason from the existence of a creator. It is revealing how he understood the very idea of empiricism: “[…] he who takes for his hypothesis that it (pluralism) is the permanent form of the world is what I call a radical empiricist. For him, the crudity of experience remains an eternal element thereof. There is no possible point of view from which the world can appear an absolutely single fact. Real possibilities, real indeterminations, real beginnings, real ends, real evil, real crises, catastrophes and escapes, a real God and a real moral life, just as common sense conceives these things, may remain in empiricism as conceptions which that philosophy abandons the attempt to “overcome” or to reinterpret in a monistic form”9.

Whereas in the case of Leibniz the reduction of Vérités de Fait to Vérités de Raison is permanently present – even if not enacted – James stands by the irreducibility of facts. It is noteworthy that Leibniz manages to articulate the two opposing principles of continuity and of the irreducibility of the indiscernibles, but the main drive of his thought is towards a metaphysical point of convergence that tends to leave the concrete behind. Leibniz’s God is still an Aristotelian God insofar as he is understood as the most knowable in himself despite the limitations of our intelligence and the dependence we have on our sensibility. It is, therefore, possible to use a deductive method when one discusses theological issues and at the same time to recognize the indigent standpoint. The distinction between a God intelligible in himself and the difficulties for man to know him lies behind the difference between what Leibniz considers as that which is against reason and that which is above (human)

8 9

The study of God’s attributes is derided by James, for instance in Writings, 1, p. 1088.

Ibid., p. 448.

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reason, as stated in the “Discours préliminaire” of the Théodicée10. The limitation of our knowledge of God is recognized, but one can use a rational approach with the conviction that it corresponds to God’s nature and at the same time allows the use of argument to refute certain objections. What is contrary to reason should be dismissed, and the work achieves a defensive role while the burden of proof lies squarely with those who wish to prove the contrary11. A recent commentator contrasts the ignorant knowledge of those who doubt the goodness or wisdom of God with the wise ignorance of those who defend God’s will12. The decisive point is that a human intelligence would be incapable of arriving at anything like the vision which allows God to choose the best of all possible worlds. It is only through rational thought, abstract argumentation or metaphorical descriptions, such as the Myth of Sextus and Pallas Athene at the end of the Théodicée, that we can arrive at some sort of understanding of the way the world was created13. In no way can man supplant divine reason. There is a frontier which human reason cannot surpass, that of the irreducibility for human reason of Vérités de Fait to Vérités de Raison. However, even if one cannot prove the goodness of the world because of its contingency, the general upshot of Leibniz’s explanations is the possession of a world view which William James’s empiricism cannot attain. Leibniz’s readers could at the same time acknowledge the limits of their reason while finding solace in a metaphysical view of reality. James is conscious of the fallibility of science itself. The weight of The Transcendental Dialectics is very clear regarding not being able to count on a principle beyond phenomenal reality, but Kant is interpreted from a positivist’s point of view. He defines the empiricism he practices as the assurance that “conclusions concerning matters of fact are hypotheses liable to modification in the course of future experience”14. What I find distinctive in James, for instance in The Will to Believe, and what helps to explain his contemporary appeal is the importance of individual consciousness and the acknowledgement of its rights which, mutatis mutandis, brings him close to the idea of the postulates of reason of the second Kantian critique. By individual consciousness one must understand not only the inner spectator of one’s mental activity but also a capacity to act which is supported by personality traits and beliefs. In matters of religion The Will to Believe can conclude: “Our passional nature not only lawfully may, but must decide an option between propositions, whenever it is a genuine option that cannot by its nature be decided on intellectual grounds”15.

One’s personality has its own rights, and the acknowledgement of these implies accepting the limits of science and of the objectivity that a scientist seeks to follow. Thus, he can conclude: 10 11 12 13 14 15

Essais de Théodicée, Discours préliminaire, § 23 and § 60; GP VI, 64 and 83. P. Rateau: La question du mal en Leibniz, Paris 2008, pp. 433 and 441. Ibid., p. 462. Ibid., p. 458 on the limits of the Théodicée. GP VI, 360 ff. James: Writings, 1, p. 447. Ibid., p. 464.

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Jaime de Salas “I simply refuse obedience to the scientist’s command to imitate his kind of option in a case where my own stake is important enough to give me the right to choose my own form of risk”16.

In contrast to James, Leibniz’s use of contingency is ambivalent. On the one hand it implies that man’s actions are not necessary and in some cases do not take place automatically. On the other, what should be stressed is the power of an individual who is confronted by a range of possible actions and has to define himself with his choice. Without contingency it would be hard to conceive the representation of intersubjective reality that takes place simultaneously to action when the individual affirms himself by choosing one option and discarding the others. To my knowledge, James does not use the term contingency. He certainly does not have the sense of it consisting of a certain lack of rationality that involves diminished reality, which is central to Leibniz’s exemplarism and God’s choice of the best of all possible worlds. Man’s limitations do not consist only in having a confused perception of reality, but also in needing to define himself in his action that takes place in a world that transcends him. From a purely metaphysical standpoint, actions take place inside the monad, but in point of fact the very action of choosing implies an openness to reality, the capacity to do something significant and at the same time expressive of one’s inwardness. The individual may reproduce in his actions some fore-ordained order, but it is also very significant that with his action he finds himself. This theme is even more developed in the case of William James.

II. THE APPROACH TO THE CONCEPT OF PERSPECTIVE We can sum up the content of this chapter by saying that Leibniz defines perspective better but James, without being a perspectivist, takes its conditions into account. The contrast between the two authors seems clear. At first sight they appear to be completely opposed. One can contrast Leibniz’s anthropological intellecttualism with the voluntarism of The Will to Believe. We can think of De obligetione Credendi which concludes: “Nulla est obligatio credendi sed tantum summo studio inquirendi”17, which implies that the will has to follow the intellect. James’s position in The Will to Believe consists of maintaining that in the case of decisions where evidence of any kind does not exist, the issue is not to avoid a mistake but to follow that decision with which one identifies the most. My thesis here is that insofar as these decisions are taken in view of a perspective, there is a certain reasonableness in the decision even if it does not imply any kind of scientific evidence.

16 Ibid., p. 476. 17 A VI, 4C, 2154.

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In the following section, I would like to dwell on the importance of the individual’s perspective in understanding the choice he makes. By perspective I mean the context in which interaction with the world and knowledge takes place. The concept of perspective can be related to a conception of truth, that is, of the correspondence of thought and reality, and several positions are possible. One can deny objective truth because of the reality of perspectives, as in Nietzsche, or one can understand that individual perspectives yield to an all-inclusive truth, as in Leibniz. And of course there are others. Let us now pass on to the belief in God. For James, one can doubt of God’s existence and find oneself in an agnostic position. Being confronted by two hypotheses that are incompatible – God exists or God does not exist – is the starting point of The Will to Believe. It is clear that for James different persons will be more or less open to this or any other kind of belief. But the real point is that the election of the hypothesis, even if not sustained by evidence, can in some sense be reasonable. The decisive issue would be the role that belief can play in the life of the individual. Thus, James places belief in an individual’s perspective. He appeals to a perceptual context and presuppositions which permit and even require this belief or, on the contrary, tend to make it irrelevant. “Not in its origin but in the way it works on the whole is […] (the) final test of belief”18. When James insists on the future consequences of belief he could be read as being indifferent to the immediate effect it has when accepted by an individual in the development of the latter’s perspective. A new belief can, to a greater or lesser extent, change the totality of his perspective. To use Pascal’s terminology like James in The Will to Believe, it is a question of the heart, or of the instinct, as James also writes. But it is certainly not a blind process and it gives rise to certain dispositions which tend to reinforce themselves by creating something approaching a unified perspective19. Belief in God would be important due to its capacity for working on the perspective and developing it. It is what James calls a total reaction. “Total reactions are different from casual reactions, and total attitudes are different from usual or professional attitudes. To get at them you must go behind the foreground of existence and reach down to that curious sense of the whole residual cosmos as an everlasting presence, intimate or alien, terrible or amusing, lovable or odious, which in some degree everybody possesses”20.

On the other hand, James writes of a “living” hypothesis, which means that he is conscious that the adoption of a belief requires it to be acceptable within a certain community. “[…] the freedom to believe can only cover living options which the intellect of the individual cannot by itself resolve; and living options never seem absurdities to the person who has them to consider”21. A belief allows one to interact with one’s world and therefore acquires certain objectivity insofar as it 18 19 20 21

James: Writings, 2, p. 26. In this point I would differ from James in The Will to Believe. Cf. James: Writings, 1, p. 412. Writings, 2, p. 39. Writings, 1, p. 477.

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becomes part of the relation an agent sustains with society. The implication is that this position is important to the extent that it implies that reality is, at least in part, the construction of a community who shares and transmits a common culture. One can find many other pointers towards perspectivism in James’s work. The idea of the correlation of man and landscape in A certain kind of Blindness22, and the correlation of ideals and personal activity23. Therefore, James makes an important contribution to the understanding of perspective even if to my knowledge he does not employ the term in a technical sense and certainly should not be considered a perspectivist in a Leibnizian, Nietzschean or any other sense. However, he contributed to the awareness of the complexity of experience and the need for some organizing principle working at an individual’s level24. One of his main contributions was to take into account the importance of personality traits. I shall come back to the distinction between tough- and tender-hearted philosophers. Above all, one has to value the effort to stick to his own perspective and place himself and his reader in a situation where he retains the immediacy of his personal vision and suggests a more enhanced activity. The contrary are modes of thought and action that have been prearranged and are used mechanically. Obviously, James’s accomplishment depended on his observational qualities and his literary skill, but his main contribution was the effort to find for himself the right position to judge religious phenomena25. This comparison between James and Leibniz is abetted by the proximity on two issues, both related to the Leibnizian notion of perception. On the one hand, both would be contrary to the vision of understanding the mind as ultimately just the depository of ideas, as in Locke or even in Hume. James’s stream of consciousness blends well with the notion of an actual complexity of each moment of perception that Leibniz defended26. Finally, underlying both visions of reality one can recognize the importance of vitalism, the recognition of an immanent force 22 Ibid., p. 843. 23 Ibid., p. 847. 24 Occasionally he uses the term: “What we say about reality. Depends on the perspective into which we throw it”, but this of course does not amount to a theory of perspective. James: Writings, 2, p. 594. 25 Writings, 1, p. 458. 26 The difference between the two on this point is basically methodological. Though the complexity of experience gives rise to famous examples in the confrontation of Locke, the unity of a perspective is established from the need for a foundation for the said complexity. W. James: Principles of Psychology, London 1891, pp. 225 ff. James cites five principles to describe the stream of consciousness of which three are present in Leibniz’s description of the monad: the adscription of a thought to a personal consciousness – though in the case of the monad it is not only human, and the concept of perception is in that sense wider – its constant change and its continuity. For his part, James introduces two further characteristics that do not count in the case of Leibniz: the fact that it deals with objects independent of itself, which is contrary to Leibniz’s immanentism, and the fact that it is organized around a selective principle, while in the case of Leibniz the organization is understood as some kind of inner harmony. Finally, the warmth that James recognizes in inner experience would be of lesser importance for Leibniz being degraded to the level of Vérités de Fait, while it plays a very important role in James’s description. Ibid., p. 239.

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that drives a personality on. Obviously, Leibniz would be distant from James’s idea of neutral monism but they both belong to a tradition that values the importance of life as a primeval agent. In fact, Leibniz is highly influential in the extension of this idea, as Ernst Cassirer noted27.

III. PRAGMATISM AS AN ALTERNATIVE TO THEOLOGY Pragmatism is one of James’s most widely read books. In the context of this paper it is important to point out that it has been valued as the clearest and most developed exposition of James’s method, as the title of the book implies. It is also the starting point for the discussion of the pragmatic theory of truth which, though implicit in previous works, here receives a full development. This in turn gave rise to great controversy and the publication two years later by James himself of The Meaning of Truth. The distinction he draws between tough- and tender-minded philosophers is well known, though it may not have contributed to James’s academic standing. However, one should take into account that, though significant for these reasons, we are dealing with a book with its own distinctive argument. In fact Pragmatism should be read as a sequel to and reformulation of The Will to Believe28. It reformulates the problem of an individual’s salvation and the role of religion. We can trace an overarching argument and not just statements on the nature of truth that have mainly attracted the attention of critics. James’s starting point is everyman’s widespread need for philosophy and the difficulty of reaching some sort of balance between the demands of science and the needs of faith. “You find an empirical philosophy that is not religious enough and a religious philosophy that is not empirical enough”29, and so the first chapter of the book concludes with the assertion that pragmatism as a philosophical movement “can remain religious like rationalism, but at the same time like empiricism it can preserve the rich intimacy with facts”30. The solution will be meliorism as stated in the closing chapter 8 but, with the exception of two chapters, religion and theology will never be absent. God would guarantee the world order and therefore provide the possibility for everyman to act with confidence. The accent in Pragmatism is not so much on the denial of the relevance of science in the solution of certain problems, but rather in the formulation and application of the pragmatic method. However, the aim is similar: to empower the individual to find himself in his reality and this thanks to the acceptance in some cases of the possibility of religion. It is certainly directed to the lay reader, as 27 E. Cassirer: Filosofía de la Ilustración, Mexico 1950, pp. 142 and 153. 28 There are two antecedents in James’s writings: The Dilemma of Determinism (1884) and Philosophical Conceptions and Practical Results (1898). In the first case the opposition of optimism and pessimism (James: Writings, 1, p. 580) and in the second case with the contrast of materialism and theism (ibid., pp. 1082 ff.). 29 James: Writings, 2, p. 492. 30 Ibid., pp. 500 ff.

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opposed to Principles of Psychology, but that does not mean that James’s personality was not involved in his writings. From our standpoint, the role Leibniz plays in Pragmatism is of interest and we can speak in a tentative fashion of a reception of the Théodicée. One can understand James as reformulating the vexed issue of the compatibility of efficient and final causes that appears in Le Discours de Métaphysique31, certainly in a new context but with equivalent moral undertones. In James’s case it is the clash between two sensibilities, the tough- and the tender-minded, which the pragmatic method would overcome. We have already cited the beginnings of The Will to Believe where he maintains that he sides with facts and not ideas. In Pragmatism he further develops his position, stressing the negative quality that facts often have. We are faced with evil and pain which can lead an individual to despair as to his possibilities of overcoming them. Leibniz is converted into the villain of the piece sporting an illicit use of reasoning. Instead of acknowledging facts for what they are, he attempts to evade them with metaphysical constructions, and James objects to this. “I ask you in all seriousness on this colossal universe of concrete facts, on their awful bewilderments, their surprises and cruelties, on the wildness which they show and then tell me whether ‘refined’ is the one inevitable descriptive adjective that springs to your lips”32.

If one wishes to see facts for what they are, natural theology is completely insufficient. “[…] a philosophy that breathes out nothing but refinement will never satisfy the empiricist temper of mind. It will seem rather a monument of artificiality”33. And so our author is the object of censure: “Leibniz was a rationalist mind with infinitely more interest in facts than most rationalist minds can show. Yet if you wish for superficiality incarnate, you have only to read that charmingly written Théodicée of his, in which he seeks to justify the ways of God to man, and to prove that the world we live in is the best of all possible worlds”34.

On the other hand, James is confronted by the same abiding sense of the limitations of radical empiricism as in The Will to Believe35. He wishes to find a way of accomodating religion, as we have seen he understood the term, in the second lecture of The Varieties of religious experience and The Will to Believe, thereby overcoming any pessimism which hard facts can give rise to. He believes that religion is natural to man, a resource that he needs in order to be able to act. Though natural theology and its methods are unacceptable and ignore the reality of facts, religion is indispensable for the great majority. In an earlier writing “Is life worth living?” James concludes that there are two solutions: to accept facts as

31 32 33 34 35

A VI, 4B, 1564. James: Writings, 2, p. 496. Ibid. Ibid. Ibid., p. 495: “You find empiricism with inhumanism and irreligion, or else you find a rationalistic philosophy may call itself religious but that keeps itself out of all definite touch with the concrete facts and joys and sorrows”.

Leibniz and William James’s Philosophic Optimism

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they are or to develop an analysis proving the possibility of religious faith with the limitations we have already described36. In Pragmatism this leads to a new formulation of the theory of truth into which I shall not enter, but it also involves the general attitude the reader and the author can take towards reality. James calls his position “meliorist”. Optimism and Pessimism imply for him a world completely determined and foreordained. “Optimism […] would be the doctrine that thinks the world’s salvation is inevitable” whereas pessimism maintains that the world has no salvation. Meliorism would maintain that salvation is possible but not inevitable. It depends on the human agent37. To my knowledge, James does not make explicit the concept of salvation he is working with, but by the context I understand that it involves some sort of moral and material progress through the conscious agency of man38. Another relationship with Leibniz’s thought appears in his understanding that meliorism depends on the notions of possibility and impossibility. Even if we are restricted to the narrow confines of our knowledge, we can in some cases recognize the possibilities from the very fact that there is no obvious reason that hinders their existence39. There is no doubt that James’s interpretation of Leibniz is open to several objections. It is necessary to take them into account though the important systematic issue lies elsewhere, in the possibility of a pragmatic theory of truth. I shall therefore make some very general observations, hopefully consistent with the general import of Leibniz’s system. In the first place, Leibniz deals with two forms of liberty: that of God with his infinite power, knowledge and goodness, and that of man who, even though he can arrive at some theological knowledge, finds himself limited like William James’s agent, enclosed in finite time and beset by his ignorance. The duality of perspectives, that of God and that of man, explains how God can create the best possible world and yet leave to man the possibility of saving or condemning himself. Accordingly, James’s concept of meliorism is perfectly compatible with Leibniz’s vision of man’s involvement in the world. However, Leibniz would deny optimism and pessimism as James formulates the terms, that is, as implying necessity, and therefore distancing himself from Spinoza’s understanding of contingency. Since the only thing necessary would be God’s foreknowledge of how human beings use their freedom, this would be the privilege of an agent who is literally outside time and perfectly compatible with human contingency. On the other hand, we also understand that Myers, a well-known James scholar, understands James’s position as optimistic40, since the good is possible to man,

36 Writings, 1, p. 487. 37 Writings, 2, p. 612. 38 The Dilemmas of Determinism reemploys the term “gnosticism” which can’t be reduced to optimism or pessimism (Writings, 1, p. 581). 39 Writings, 2, p. 611. 40 G. Myers: William James. His Life and Thought, New Haven 1986, pp. 404 ff. The conclusion of Is life worth living? is that with one’s life one can contribute to the good of the world

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as is also the case for Leibniz. Man, and particularly those with political power, collaborates in God’s plan and therefore his action is understood as valuable. Even if Davillé, the French Leibniz scholar41, is right when he deals with the complexities of the idea of progress in Leibniz, nonetheless there is scope for freedom on the part of man to improve this world. And the difference between the Christian and the Moorish or Stoic vision of fate42 also implies positive human action. Even his opposition to Hobbes and Spinoza hinges on this essential point43. I would like to finish with two observations. William James presents criticism of some of enlightenment’s most cherished ideals. It is not only that he cannot, like Leibniz, maintain a transcendental concept of goodness. It is that he must admit that scientific knowledge is conventional and fallible. Leibniz’s great achievement was to provide a metaphysical framework for the science of his day. The distance between the two thinkers in that sense is wider than the first formulations I have used would permit one to envisage. Secondly, James’s intention is primordially moral. He wishes to avoid both naive belief and academic apathy where science cannot be of help44. While in Leibniz the individual substance is regulated by a “notio”45, in James we are reduced to a subject who has to affirm himself in his actions. Clearly he has lost the belief in a rational world as expression of its creator that Leibniz so clearly exemplifies. From our point of view we can see that the best of all possible worlds can mean just that all other worlds are worse46. Obviously, this thesis does not fit with the historical Leibniz’s intentions. Leibniz’s overall attitude is one of confidence in progress. James still believes in the possibility of progress but it is reduced in scope and in quality. However, even today it seems possible in some fashion to maintain James’s meliorist principles. The important remaining problem is to find a workable definition of the concept of goodness related to salvation, which to my mind is left largely undefined.

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(James: Writings, 1, p. 501) and therefore James uses the term optimism to describe the resulting goodness of the world. L. Davillé: Leibniz historien, Paris 1909, p. 709. GP VII, 191. Grua, 478 ff. James: Writings, 1, p. 449. A VI, 4B, 1546. J. Ortega y Gasset: Obras Completas, VI, Madrid 2006, p. 523.

LEIBNIZ ALS „HALBER CHRIST“ – LUDWIG FEUERBACHS KRITIK DER THEODIZEE Wenchao Li (Hannover/Potsdam)

Ludwig Feuerbach zählt zu denjenigen Denkern, die im 19. Jahrhundert Entscheidendes zur Neubelebung des breiten Interesses an Leibniz’ Leben und dessen Philosophie beigetragen haben. Kurt Müller nennt ihn in einem Atemzug mit G. E. Guhrauer und Joh. Eduard Erdmann – alle drei hätten mit ihren Forschungen und Publikationen1 „eine neue Phase des Leibnizverständnisses“ eingeleitet, die schließlich mit Louis Couturat „ihren entscheidenden Durchbruch erreicht“ habe2. Bereits Friedrich Jodl würdigt im Vorwort zu der von ihm im Jahre 1910 herausgegebenen, vom Verfasser – Feuerbach – „durchaus mit der größten persönlichen Anteilnahme an der Sache, man möchte beinahe sagen mit dem Herzblut“3 geschriebenen Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie4 als „eine der wichtigsten und wertvollsten Anleitungen zu tieferem Eindringen in die so eigenartige und schon durch die rhapsodische Art ihrer Aufzeichnungen5 1

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G. W. Leibniz: Deutsche Schriften, hrsg. von G. E. Guhrauer, Berlin 1838; J. E. Erdmann: God. Guil. Leibnitii Opera Philosophica quae exstant latina gallica germanica omnia, Berlin 1839/40. K. Müller: „Gottfried Wilhelm Leibniz“, in: W. Totok/C. Haase (Hrsg.): Leibniz. Sein Leben – sein Wirken – seine Welt, Hannover 1966, S. 1–64, hier S. 9. Siehe L. Couturat: La logique de Leibniz d’après des documents inédits, Paris 1901; ders.: Opuscules et fragments inédits de Leibniz, Paris 1903. L. Feuerbach: Sämtliche Werke, neu hrsg. von W. Bolin/F. Jodl, Bd. 4: Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibniz’schen Philosophie. Zur neueren Philosophie und ihrer Geschichte, durchgesehen und neu hrsg. von F. Jodl, Stuttgart 1910, S. V–VI. Zitiert wird im Folgenden nach: L: Feuerbach: Gesammelte Werke, Bd. 3: Geschichte der neuern Philosophie. Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie, hrsg. von W. Schuffenhauer, Berlin 21981 – im Folgenden als „Feuerbach: Leibniz“. Zum Begriff der „Entwicklung“ im Titel siehe Feuerbach: Leibniz, S. 4. Jodl hebt, an derselben Stelle (S. VI), besonders hervor, dass Feuerbachs Leibniz aufgebaut sei „auf ein außerordentlich sorgfältiges und umfassendes Studium des ganzen damals zugänglichen Quellenmaterials“. Gemeint sind vor allem die von Feuerbach in der Tat mühsam zusammengetragenen „Belegstellen“ (bei Jodl S. 221–240; bei Feuerbach: Leibniz, S. 329– 354) und die ausführlichen Anmerkungen (bei Jodl S. 241–295; Feuerbach: Leibniz, S. 187– 327). Feuerbach stützt sich dabei hauptsächlich auf die von Louis Dutens editierten Opera omnia (Genf 1768), außerdem auf R. E. Raspes Oeuvres Philosophiques latines et françaises de Leibniz (1765), Joachim F. Fellers Otium Hanoveranum (1718, zweite, unveränderte Auflage 1738), Christian Kortholts Leibnitii Epistolae ad Diversos (1734–1742), Johann G. Heinrich Feders Commercii epistolici Leibnitii Selecta Specimina (1805), Leibnitii et Bernoullii Commercium mathematicum et physicum (1745) sowie Leibniz’ Publikationen in Zeitschrif-

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schwierige Gedankenwelt des Leibniz“ und spricht von einem „Markstein“ „für die Zeit ihrer ersten Veröffentlichung“6. Noch in unsere Zeit hinein wird und sollte dieses Werk, das in der gegenwärtigen Leibniz-Forschung weitgehend wenig Beachtung findet7, nicht nur die „erste“, sondern die „einzige umfassende Biographie“ Leibnizens bleiben8. In den Jahren zwischen 1834 bis 1836 entstanden, erschien Feuerbachs Darstellung 1837 als unmittelbare Fortsetzung der vom Verfasser vier Jahre zuvor (1833) publizierten Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza in Ansbach im Verlag C. Brügel9 und in Kommission in Leipzig bei Herbig. 1844 erschien die zweite Auflage ohne den Obertitel Geschichte der neuern Philosophie in Leipzig im Verlag Otto Wigand. Eingehende Überarbeitung und umfangreiche Erweiterungen, besonders im Anmerkungsteil, erfuhr die Darstellung, als Feuerbach zehn Jahre später, 1847, das Werk als Band 5 in die ein Jahr zuvor eröffneten Sämtliche[n] Werke von ihm in Leipzig, ebenfalls bei Otto Wigand, einreihte. Unter den zahlreichen, oft seitenlangen Ergänzungen und Erweiterungen sind für unsere Fragestellung vor allem die neu eingefügten Anmerkungen 62 und 65, mit der Einleitung „Einige Bemerkungen über die Leibnizische Theologie und Theodizee von 1847“ (Anmerkung 62) bzw. „Einige Bemerkungen über die Leibnizische Pneumatologie von 1847“ (Anmerkung 65), von Bedeutung. In der von Jodl herausgegebenen Ausgabe wurden unter anderem diese beiden Anmerkungen, „ihrer besonderen inhaltlichen Wichtigkeit wegen“, „zum Verständnis der persönlichen Entwicklung Feuerbachs“10 ausgelassen und unmittelbar nach dem letzten Abschnitt 2011 der Originalausgabe als zwei ten wie etwa den Acta Eruditorum. Bei der erweiterten Ausgabe von 1847 (siehe unten) benutzt Feuerbach ferner die inzwischen erschienenen, von Erdmann besorgten Opera Philosophica quae exstant latina gallica germanica omnia (Berlin 1839/40) und die von Guhrauer gesammelten Deutschen Schriften (Berlin 1838). Vgl. Jodl, S. 25, Anm. Aus der Theodizee zitiert Feuerbach mit Angaben der Paragraphen; aus der Monadologie zitiert Feuerbach bei der 2. Auflage direkt aus der von Erdmann besorgten Ausgabe mit Paragraphenangaben. 6 F. Jodl: „Vorwort“, in: Feuerbach: Leibniz, S. VI. 7 Alexis Philonenko thematisiert eher Feuerbachs Verhältnis zu Hegel und stellt im LeibnizBuch bereits einen Bruch mit der Philosophie Hegels fest; siehe A. Philonenko: „Feuerbach et la monadologie“, in: Revue de Métaphysique et de Morale 75, 1 (Janvier–Mars 1970), S. 20– 46. Ihm widerspricht D. Turck: „Leibniz, Hegel und Feuerbach“, in: Studia Leibnitiana 4, 2 (1972), S. 119–132. Vgl. jedoch K. E. Kaehler: „Das Leibniz-Bild Ludwig Feuerbachs im Rahmen seiner theologiekritischen Deutung der neueren Philosophie“, in: A. Lewendoski (Hrsg.): Leibniz-Bilder im 18. und 19. Jahrhundert (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 33), Stuttgart 2004, S. 239–255. 8 Totok/Haase, S. VII, Vorwort der Herausgeber: „Seine [Leibniz’] erste und bis heute einzige umfassende Biographie ist vor mehr als 120 Jahren erschienen“. 9 – unter dem Titel: Geschichte der neuern Philosophie. Von Ludwig Feuerbach. Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie. 10 Feuerbach: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. VII (Vorwort des Herausgebers). 11 Die Ausgaben von 1837 und 1844 gliedern den Text in 19 Paragraphen auf, wobei die „Einleitung“ nicht mitgezählt wurde. Da Paragraph 8 doppelt gezählt wurde, endete der Text mit „§ 18“. Die Ausgabe von 1848 berichtigte diesen Fehler und ließ die „Einleitung“ als Paragraph 1 beginnen, so dass der Text aus 20 Paragraphen besteht.

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neue Abschnitte eingefügt. Die „Bemerkungen“ über die Pneumatologie wurden jedoch als Abschnitt 21 unter dem Titel „Kritik der Leibniz’schen Pneumatologie“ vor die „Bemerkungen“ über die Theologie und Theodizee gesetzt. Die Akademieausgabe, der der Text der ersten Fassung (von 1837 bzw. 1844) zugrunde liegt, weist diese Anmerkungen wie alle anderen Abweichungen der Ausgabe von 1847 als Textvarianten nach: Die „Bemerkungen über die Leibnizische Theologie und Theodizee von 1847“ finden sich als Variante zu Anmerkung 61 (in der Ausgabe von von 1837 bzw. 1844) in Petitdruck auf S. 253–268; die sieben Fußnoten Feuerbachs zu den „Bemerkungen“ in der Ausgabe von 1847 werden als Variante zu diesen auf S. 268–272 dokumentiert; die „Bemerkungen über die Leibnizsche Pneumatologie von 1847“ finden sich als Variante zu Anmerkung 63 (in der Ausgabe von 1837 bzw. 1844), ebenfalls in Petit, zwischen S. 274 und S. 287. Im Folgenden soll es indessen aber nicht um Feuerbachs Würdigung genuiner Leibniz’scher Philosophie (der Monadologie)12 gehen. Angeschnitten werden sollen zuerst zwei markante Tendenzen der Leibniz’schen Rezeption im deutschsprachigen Raum: 1) der angebliche Wanderweg der (europäischen) neuzeitlichen Philosophie von Italien durch Umwege nach Deutschland und Leibniz als dessen „bedeutungsvoller“ Philosoph; 2) die Abkopplung der Monadologie von der Theodizee im 19. Jahrhundert. Anschließend wird Feuerbachs Unterscheidung der Theologie von der Philosophie thematisiert, im Zentrum stehen seine „Kritik des theologischen Standpunkts als Einleitung zur Leibnizischen Theodizee“ (in der Darstellung) und die im Jahre 1847 verfassten „Bemerkungen über die Leibnizsche Theologie und Theodizee“. I. DIE PHILOSOPHIE „JUXTA PROPRIA PRINCIPIA“13 UND LEIBNIZ ALS DEUTSCHER DENKER Auch wenn kaum einer der bedeutenden Gelehrten des Abendlandes so europäisch war wie Leibniz, und auch wenn er sich gerade in den letzten Jahren seines Lebens gern offen bekennt, dass er nicht von denen sei, die „so auf ihr Vaterland, oder sonst auf eine gewisse Nation, erpicht seyen“14, wurde Leibniz nach seinem Tod schnell zu einer ausschließlich deutschen Figur uminterpretiert und stilisiert, die sich besonders um die Bildung deutscher Sprache zu einer Wissenschaftssprache und so direkt um die deutsche Nationenbildung verdient gemacht habe. Wenn 12 Siehe Kaehler. 13 Feuerbach: Leibniz, S. 7. 14 Leibniz an Peter den Großen, 16. Jan. 1712; G. W. Leibniz: Oeuvres de Leibniz, publiées par A. Foucher des Careil, T. 7, Paris 1875, S. 506–515, hier S. 514. In einer Denkschrift aus dem Jahre 1711 bezeichnete Leibniz das zu gründende „Collegium“ unter Peter dem Großen gar als einen Ort, „worinn verschiedene Nationen plaz finden mögen“. Ebd., S. 492. Vgl. L. Richter: Leibniz und sein Russlandbild, Berlin 1946, S. 49. Vgl. W. I. Guerrier: Leibniz. In seinen Beziehungen zu Russland und Peter dem Grossen. Eine geschichtliche Darstellung dieses Verhältnisses nebst den darauf bezüglichen Briefen und Denkschriften, 2. Teil (Dokumente, separate Zählung), Petersburg 1873, S. 181.

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Fontenelle in seinem berühmten Leibniz-Nachruf nicht ohne französischnationalen Stolz darauf hinweist, dass Leibniz „so gar französische Verse“ machte – allein „im Deutschen wollten ihm die Gedichte nicht glücken“15, wird Gottsched ihm bald entgegenhalten, dass der Franzose sich hier ohne Zweifel geirrt habe, „indem ihm, wie seinen übrigen Landleute, das Deutsche ganz unbekannt ist, so dass sie unmöglich davon urteilen können“16. Und die Gottsched’sche Theodizee-Übersetzung ist gerade unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass im Vergleich zu früheren Übersetzungen hier „der Wust ausländischer Kunstwörter „nicht mehr herrsche“17. Die geschichtliche Zuordnung Leibnizens durch Feuerbach folgt weiterhin, bis ins 19. Jahrhundert hinein, allerdings bereits klischeehaft gewordenen Erklärungsversuchen nationaler Unterschiede als geographisch-klimatisch wie anthropologisch-ethnisch verursachter und bedingter mentaler wie charakterlicher Wesensdifferenzierungen. So sei die Entstehung der neueren Philosophie (Europas) – nach ihm einer reinen, autonomen Philosophie „juxta propria principia“ (gemäß den eigentümlichen Prinzipien), die keine theologischen Voraussetzungen außer sich habe und ihre eigene Begrifflichkeit („Standpunkt“18) pflege – mit einer Irrfahrt eines abstrakten (und absoluten) Geistes vergleichbar, der sich von Italiens „düstern Klostergebäude“ aus19 auf eine Wanderung durch England20, Frankreich21 und Holland22 begeben habe, nur um einen geeigneten Nährboden und eine 15 Zitiert nach: G. W. Leibniz: Herrn Gottfried Wilhelms Freiherrn von Leibnitz Theodicee, das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprung des Bösen. Nach der 1744 erschienenen, mit Zusätzen und Anmerkungen von J. C. Gottsched ergänzten, vierten Ausgabe, hrsg., kommentiert und mit einem Anhang versehen von H. Horstmann, Berlin 1996, S. 13. 16 Ebd., Anm. 2. 17 Zu Gottscheds Leibniz-Rezeption siehe R. Otto: „Gottscheds Leibniz“, in: F. Beiderbeck/S. Waldhoff: Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G. W. Leibniz. Beiträge zu seinem philosophischen, theologischen und politischen Denken, Berlin 2011, S. 191–263; ders.: Leibniz und die Bildung deutscher Kulturnation (= Hefte der LeibnizStiftungsprofessur, 12), Hannover 2011. 18 Siehe unten. 19 – ohne es allerdings zu vergessen, die ihr durch den Geburtsort mitgegebene „Glut des südlichen Himmels“ mitzunehmen; siehe Feuerbach: Leibniz, S. 7. 20 – sei unglücklicherweise dort aber in den „Luftkreis des englischen Utilitarismus und Merkantilismus“ geraten; ebd. 21 „Der Franzose ist empfindsamer als der Engländer, er hat einen allgemeineren, humaneren Sinn, es rollt ein spirituelles, idealistisches Prinzip in seinen Adern. Der Franzose erhebt sich daher mit leicht erregbarer Begeisterung über die Sphäre des Bestimmten und Besondern zum Übersinnlichen, zum Allgemeinen empor, aber er kann nicht den Gedanken in sich selbst festhalten und bestimmen, er findet im Denken keinen Übergang zum Sein“; ebd., S. 8. 22 „[D]ie Philosophie […] kehrt hier aber nicht bei einem eigentlichen Holländer ein, sondern bei einem Individuum, in dem sich eine bedeutungsvollere Differenz als der Nationalunterschied, die Differenz zwischen Judentum und Christentum, hervorhebt […]“. Ohne den Namen Spinoza zu nennen, würdigt Feuerbach dessen „Schleifarbeit“ auch in der Philosophie: „[…] hier schliff sie sich Augengläser, um recht klar und deutlich zu sehen; hier gab sie ein reines, ein getreues Ebenbild ihrer selbst“. Aber der „Stoff“, worin sie sich abbilde, sei hart, sei unpassend gewesen; ebd., S. 8–9.

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natürliche wie kulturelle und soziologische Umgebung, mit Feuerbach gesagt in Deutschland die „Wohnstätte“ für sich zu finden: „Hier in Deutschland erst machte sich die Philosophie ansässig, verschmolz sie mit dem Wesen der Nation. Zunächst wohl blieb sie der Nation noch ferne; aus Frankreich herübergekommen und immer noch im lebhaftesten Verkehr mit diesem Lande begriffen, bediente sie sich zum Ausdruck ihrer Gedanken noch der französischen und lateinischen Sprache. (1) Sie hatte überhaupt noch etwas Fremdartiges in ihrem Wesen, einen Anstrich vom französischen esprit; sie benahm sich daher auch wie eine Fremde, die sehr sachte, galant, vorsichtig und rücksichtsvoll auftritt, um keinen Anstoß zu geben“23.

„Die gehaltvollste Erscheinung“ nach Descartes und Spinoza24 und der „bedeutungsvolle Mann, der sich zuerst in Deutschland zu einer selbständigen und selbsttätigen, produktiven Philosophie erhob“, sei eben Leibniz gewesen; ihm allein, „ungeachtet der […] höchst empfindlichen Lücken und Mängel seiner Philosophie“, habe daher der Verfasser, Feuerbach, „den zweiten Teil seiner Geschichte“ der neueren Philosophie bestimmt25.

II. VON DER THEODIZEE ZUR MONADOLOGIE Leibniz als der „bedeutungsvolle Mann“, der die neuere Philosophie bereitet habe, damit ist jedoch, in unserem Zusammenhang, nicht der Leibniz der Theodizee, sondern der der Monadologie gemeint. Kaum anderswo ist diese Abkopplung deutlicher zu beobachten als gerade bei Feuerbach. Die 1714 in französischer Sprache entworfene so genannte „Monadologie“ war wohl von Leibniz selbst als Einführung und Ergänzung zu der vier Jahre zuvor erschienenen Theodizee gedacht und verfasst, wie die von ihm selbst später der Monadologie hinzugefügten zahlreichen Verweise auf die entsprechenden Stellen in der Theodizee dies anschaulich belegen: Von den insgesamt 90 Paragraphen der Monadologie finden sich nämlich in 46 Paragraphen, also knapp über die Hälfte, mehr als 180 Hinweise auf sachverwandte Abschnitte der Theodizee. Nicht von ungefähr sieht seinerzeit Gottsched in der Monadenlehre die deutliche Grundlage „unsre[r] Theodicee“26. Noch Hermann Glockner wird in seiner 1954 23 Ebd., S. 10. 24 Ebd., S. 3. 25 Später wird man bei der Suche nach „deutscher“ Philosophie weit über Leibniz hinaus z. B. bis zu Albertus Magnus zurückgehen. Siehe etwa Th. Haering (Hrsg.): Das Deutsche in der deutschen Philosophie, Stuttgart 1941. Dominic Kaegi weist neuerlich ausdrücklich darauf hin, dass 1933 eine Zäsur bedeutet habe. Mit der Machtergreifung Hitlers habe der Diskurs über deutsche Philosophie die Unschuld einer Ersatzvornahme verloren. D. Kaegi: „‚Als hinge von Dir ab das Schicksal der deutschen Dinge‘ – Zur Leibnizrezeption bei Kurt Huber“, in: W. Li/H. Rudolph (Hrsg.): „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 42), Stuttgart 2012, S. 149–167. 26 J. C. Gottsched: „Neueste Zugabe zur fünften Auflage der Theodicee von Leibniz (1763)“, in: G. W. Leibniz: Herrn Gottfried Wilhelms, Freyherrn von Leibnitz, Theodicee, das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freyheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen, 5. Ausgabe durchgehends verbessert, auch mit neuen Zusätzen und Anmerkungen vermehret, von J. C.

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erschienenen deutschen Übersetzung in der Monadologie eine „gedrängte Form und übersichtliche Anordnung“ der Theodizee sehen. Denn die „Theodizee war nämlich leider durch unzählige Einzeldiskussionen mit den verschiedensten älteren und neueren Philosophen und Theologen zu einem – trotz des streckenweise anmutigen allgemeinverständlichen Plaudertons – im Ganzen schwer lesbaren und kaum mehr zu überschauenden Buch angeschwollen, in welchem die tiefsten und persönlichsten Einsichten des Verfassers immer wieder von fremdem Gedankenstoff überwuchert und verdunkelt wurden“27. Inwieweit die beiden Schriften Leibnizens durch „die charakteristischen Züge einer eigentümlich deutschen Weltanschauung“ charakterisiert worden seien, vermag auch Glockner nicht klar zu benennen. Und gerade auch vor dem Hintergrund des von Glockner noch in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts hingewiesenen Zusammenhangs zwischen der Theodizee und der Monadologie gilt es festzustellen, dass spätestens mit Feuerbachs Leibniz-Darstellung eine radikale Abkopplung vollzogen wurde: Während die Monadenlehre immer wieder ins Zentrum der Leibniz’schen „KraftPhilosophie“ gerückt und als „Idealismus“28 gedeutet wurde, wurde dabei gleichzeitig die, eigentlich mit der Monadologie eng verbundene, prästabilierte Harmonie – Leibniz’ „Favoritkind“ – zu dessen „schwache[r] Seite“ erklärt, und die einst von Gottsched als „Triumpf der Schrift und Vernunft“29 hoch gelobte Theodizee zur „Vorstellungsweise der Theologie“. Die von Leibniz unternommene „conformité de la foi avec la raison“ wird noch einmal zum Exempel der philosophischen Unverträglichkeit, ja Unerträglichkeit von Glauben und Wissen, von theologischem und philosophischem „Standpunkt“. So setzt Feuerbach eine Tendenz fort, die sich spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum immer deutlicher abzeichnete. Die einstige „Halbjahrhundertidee“30 der Theodizee wurde mit der Zeit „ein Buch, das niemand lesen könne, ein Meer von Gelehrsamkeit, worauf das Raisonnement wie ein kleines Kähnchen schwimmt“31. Inwieweit der Spinozismus-Streit und nicht

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Gottscheden, Hannover 1763, S. 865–908, hier S. 880; vgl. J. C. Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 10, 2. Teil: Kleinere Schriften, hrsg. von P. M. Mitchell, Berlin u. a. 1980, S. 461–503, hier S. 477. G. W. Leibniz: Monadologie. Neu übersetzt, eingeleitet und erläutert von H. Glockner, Stuttgart 1954; durchgesehene und erweiterte Auflage 1979, S. 8. Siehe Kaehler, S. 243. S. 241: „In seiner Leibniz-Monographie hat Feuerbach den Gehalt der Metaphysik durchaus immanent mit außerordentlichem Blick für die Reichweite und Komplexität der Konzeption der Monaden und ihrer Phänomene dargestellt“. J. C. Gottsched: „Das Andenken des vor 100 Jahren in Leipzig gebohrnen Freyherrn Gottfried Wilhelms von Leibnitz“, in: Ders.: Ausgewählte Werke, 1. Band, Berlin 1968, S. 188–203, hier S. 201. H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1986, S. 121. J. K. Wezel: Über Sprache, Wissenschaft und Geschmack der Deutschen, Leipzig 1781, S. 262. Diese Bemerkung Wezels hat zum Streit mit Ernst Platner geführt. Innerhalb von fünf Monaten zum Jahreswechsel 1781/82 soll es 26 Streitschriften pro und contra gegeben haben. Siehe S. Dietzsch: „Aufklärungsquerelen. Anmerkungen zur Wezel-Platner-Debatte 1781/82: Ein Streit um Leibniz’ Theodizee“, in: Weimarer Beiträge 5 (1989), S. 861–868, hier S. 862.

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zuletzt Herders Spinoza-Interpretation, die auf eine Belebung und Dynamisierung der „todte[n]“32 Modi mit Hilfe der Leibniz-Philosophie hinauslief33, zum Aufkommen der „Kraft-Philosophie“ von Leibniz beitrug, ist eine Frage, der nachzugehen sich lohnen würde. Bei Feuerbach ist der Bruch zwischen Monadologie und Theodizee fast physisch spürbar. Nach kurzen Darstellungen des „Prinzip[s] der Leibnizischen Philosophie im Unterschiede von Spinoza“ (§ 2) und desselben im Unterschiede von Descartes (§ 3) beginnt der gleich die „Seele oder Monade“ behandelnde Paragraph 4 direkt mit einer Frage nach der „Kraft“: „Was ist denn nun aber die Kraft, die, im Unterschiede von der Cartesischen Philosophie, in der Leibnizischen die innerste Natur des Körpers begründet, im Unterschiede von der Spinozischen die endlichen Wesen aus in sich selber wesenlosen, flüchtigen Modifikationen zu Substanzen, zu Wesen von eigenem Grunde und Bestande, macht?“

Von den ursprünglich 19 Kapiteln, das heißt in der Ausgabe von 1837, sind 10 Kapitel, dazu noch die zentralen, Kap. 5. bis 14. der Monadologie gewidmet. Berücksichtigt man, dass Kap. 16, die wesentlichen Gedanken der Theodizee, aus lauter Quellentexten besteht, bleibt nur ein einziges Kapitel, die Nummer 15, das unter dem Titel „Kritik des theologischen Standpunktes“ eine „Einleitung zur Leibnizschen Theodizee“ anbietet. Diese Knappheit ist freilich nicht ohne Grund, der im Titel zu finden ist: der theologische Standpunkt.

III. DER THEOLOGISCHE STANDPUNKT DER THEODIZEE Philosophisch gefasst hat das Unternehmen einer Theodizee nach Feuerbach keine andere Aufgabe, „als die scheinbaren oder wirklichen Widersprüche der Empirie mit der Idee aufzulösen, die Wirklichkeit der Idee auch in dem noch, was der Idee widerspricht, aufzuzeigen“34. Eine solche, philosophische Theodizee, in der es um möglichst klare Erkenntnis Gottes als eines unendlichen und unerschöpflichen Gegenstandes der Erkenntnis geht, wie etwa in der Wissenschaft des Rechts um Erkenntnis der Idee „der allgemeinen, absoluten Gerechtigkeit“, einer Idee, „welche eine wesentliche Realität, eine göttliche Wesenheit ausdrückt“35, sei die Leibniz’sche indessen nicht. Im Gegenteil: Bei Leibniz sei „nicht nur vom Willen Gottes, sondern auch von einem Willen von diesem und jenem, von aparten,

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Vgl. ferner Alexander Košenina: Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Arzt und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. XXXV), Würzburg 1989. J. G. von Herder: Sämtliche Werke, Bd. 16, hrsg. von B. Suphan, Berlin 1877–1913; ND Hildesheim 1967, S. 453. Siehe E. Adler: Herder und die deutsche Aufklärung, ins Deutsche übersetzt von I. Fischer, Wien u. a. 1968, passim; R. Taylor: Studies on Leibniz in German Thought and Literature 1787–1835, Berlin 2005, S. 25, 30; S. 49: „Herder develops a radical reformulation of Spinoza’s metaphysics via his Leibnizian spiritualization of matter“. Feuerbach: Leibniz, S. 109–110. Ebd., S. 110.

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einzelnen Willensakten, von Zwecken, Plänen, Ratschlägen, Absichten Gottes“,36 kurz, vom Theologisch-Dogmatischen die Rede; dieser Standpunkt sei nach Feuerbach „der theologische“, Leibniz’ Theodizee als „Gebrauch der Vernunft in der Theologie“ („l’usage de la Philosophie dans la Theologie“)37 sei ein Versuch, „zugleich das Interesse der Theologie und das Interesse der Philosophie zu befriedigen“ und die „ganz unterschiednen, ja entgegengesetzten Kategorien, die dem theologischen und philosophischen Denken zugrunde liegen, miteinander zu vermitteln“.38 Vor allem die Hervorhebung des kategorialen Unterschiedes zwischen dem Praktischen und dem Theoretischen, dem Subjektiven und dem Objektiven39 ermöglicht nun Feuerbach seinerseits ein „leichtes Spiel“ mit Leibniz’ Theodizee. Demnach löst Leibniz, Feuerbach zufolge, das Problem, indem er von vornan die „theologische Vorstellungsweise“40 zur Grundlage seiner Theodizee nimmt, allen voran die Vorstellung von den Eigenschaften Gottes – etwa die Gerechtigkeit –, und dem Gedanken, sprich der Philosophie nichts übrig bleiben lässt, als „einzuschränken, abzuwehren, zu modifizieren, zu unterscheiden, zu mildern und zu erweitern“41. Somit habe Leibniz auch „ein leichtes Spiel“ mit Bayle. Denn während Bayle sich streng innerhalb des Kreises der theologischen Vorstellungen halte (und seine Fragen stelle), verteidige Leibniz diese Vorstellungen aus „seinem“ (Leibniz’) eignen erweiterten Gesichtspunkt, so z. B. wenn er von dem Standpunkt des Universums aus die Anzahl der Übel, der Unglücklichen und ewig Verdammten als ein „presque néant“ (fast gar nichts) verschwinden lasse. Anderes gesagt: Leibniz verteidigt die theologischen Vorstellungen – ein Zentralbegriff bei Feuerbach –, indem er genau das Gegenteil des theologischen Standpunktes einnimmt, wo im vorliegenden Fall z. B. „Gott nur in der Beziehung auf das Individuum vorgestellt wird, alles sich um dieses dreht, das Positive allein das 36 37 38 39

Ebd., S. 111. Essais de Théodicee, Discours préliminaire, § 1; GP VI, 49. Feuerbach: Leibniz, S. 111. „Der Standpunkt der Theologie ist wesentlich der praktische Standpunkt des Menschen; der der Philosophie der Standpunkt der ԂİȦԒȓĮ [theoretischen Betrachtung] (im allgemeinsten und ursprünglichsten Sinne des Wortes); von dem praktischen Standpunkt aus erscheint die Welt als Produkt des Willens, als eine Tat, die geschehen, aber auch unterbleiben konnte, als zufällig; vom theoretischen aus erscheint sie in einem inneren Zusammenhang, als Produkt des Wesens, als Produkt der Intelligenz, als notwendig darum. Die Welt als notwendig fassen heißt denken, begreifen, die Welt als Tat fassen sie vorstellen, imaginieren“ (S. 116). Auf dem praktischen Standpunkt sei die Person das Wesentliche. „Ob ich das und das erkannt habe, ist gleichgültig, tut nichts zur Sache; aber ob ich das und das getan habe, gerade darauf kommt es auf dem praktischen Standpunkt an“ (S. 118). Auf dem praktischen Standpunkt fragt der Mensch den Gegenstand: „Was bist du für mich?“ Auf dem theoretischen Standpunkt fragt er den Gegenstand: „Was bist du für dich selber?“ (S. 119). Die Kategorie der Theologie sei daher die Relation, die der Philosophie die Substantialität (S. 111). 40 Feuerbach: Leibniz, S. 109. 41 Kaehler weist darauf hin, dass Leibniz bereits seinem Discours de Métaphysique „mit der Erörterung und der Bestimmung der Idee Gottes, seiner Vollkommenheit und seiner Freiheit“ beginnen ließ, „um erst von da aus überzugehen zum Verhältnis zwischen Menschen und zur geschaffenen Welt insgesamt“ (Kaehler, S. 252).

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Individuum ist, der Begriff eines Ganzen, eines Universums verschwindet oder […] als ein bloßes Abstraktum des Menschen erscheint“42. Gerade die „einschränkende, modifizierende, unterscheidende, mildernde und erweiternde“ Aufgabe des Gedankens (sprich der Philosophie) ermöglicht Leibniz – dies muss aber Feuerbach zugeben –, die „eigentliche Lösung“ des Themas: die Beschränkung des Willens durch den Verstand, und die Vermittlung beider selbständigen und berechtigten Prinzipien durch den Begriff einer moralischen bzw. hypothetischen Notwendigkeit. Darin liegt trotz allem die Tiefe der Leibniz’schen Theodizee, nämlich „daß er die leere Vorstellung eines bloßen Willens, die Kategorie der bloßen Beziehung auf uns, beseitigte oder doch in ihre Schranken wies, dass er den Begriff der Notwendigkeit geltend machte, ihn aber dadurch mit dem Begriff der Freiheit zu vermitteln versuchte, daß er wesentliche Unterschiede in diesem Begriff machte. Nur dadurch entschädigt uns auch Leibniz […] für den Unwillen und die Langeweile, deren man sich bei der Lektüre seiner Theodizee nicht erwehren kann, wenn wir ihn die eitelsten, leersten theologischen Vorstellungen und Kniffe akzeptieren sehen, wie z. B. die Vorstellung, dass Gott die Sünde, das Böse zugelassen habe, und selbst die barbarische Vorstellung einer ewigen Hölle, die doch nichts weiter ist als eine dogmatische Skt. Bartholomäusnacht, als das hypostasierte Gallenfieber der Orthodoxie, das ihr die Wut gegen Andersdenkende zugezogen hat“43.

IV. FEUERBACHS „BEMERKUNGEN ÜBER DIE LEIBNIZISCHE THEOLOGIE UND THEODIZEE“ VON 1847 In den zehn Jahre später verfassten und als Anmerkung Nr. 62 in die Ausgabe von 1847 eingefügten „Einige Bemerkungen über die Leibnizischen Theologie und Theodizee“ fokussiert Feuerbach, inzwischen Autor des Wesen[s] des Christentums (1841), der Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie (1842) und der Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843), nochmals seine TheodizeeKritik, indem er zum einen selbst in dem letzten, durch Wolffs Kritik übrig gebliebenen ontologischen Gottesbeweis eine „Willkürlichkeit des menschlichen Denkens und Vorstellens“ ausfindig gemacht zu haben glaubt – „die Welt ist zufällig, weil ich in Gedanken, in der Einbildung, in der Vorstellung, die Welt […] als nicht seiend und anders seiend denken kann“; zum anderen aber den nach ihm eigentlich christlichen, d. h. auf die Praxis, auf das Leben, das Individuum, auf Wunder, die Behebung der Naturgesetze in einer anderen kommenden Welt und somit auf das Jenseits bezogenen Glaubens- und Gottesbegriff herausarbeitet, den Gott des Pascal oder des Bayle, und diesen dann gegen den Leibniz’schen Gott ausspielt. Zuerst gilt es aber, auch und gerade die Leibniz’sche Theologie in „Anthropotheologie“ zu überführen. Indem Feuerbach die von Leibniz durchaus festgehaltene „Gottähnlichkeit“ des Menschen umdreht, gelangt es ihm in der Tat, in 42 Feuerbach: Leibniz, S. 125. 43 Ebd., S. 126.

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der Leibniz’schen Theologie „ein[en] sehr populäre[n] Beweis“ zu finden, dass „das Geheimnis der Theologie die Anthropologie“ sei44. Denn „moraliter“ ist Gott „das unbeschränkte menschliche Wesen – das menschliche Wesen, vorgestellt ohne Schranken, ohne Mängel und Fehler, darum das Vorbild, das Ideal des Menschen“45. Gott erweist sich so als ein „handgreiflich menschliche[s] Wesen“. Der wahre Unterschied zwischen Gott und Mensch besteht nach Feuerbach darin, dass nach Leibniz Gott andererseits „physisch gleichsam als den letzten Grund der Dinge“46, als „die Ursache der Natur“ vorzustellen sei. So ist der Mensch nicht sein einziger Gegenstand – „seine Sorgen umfassen das Universum“47. So wichtig dieser Blick Gottes über das Anthropozentrische hinaus auf das Ganze für die Erklärung der Existenz des Übels ist – „Die göttliche Weisheit erforderte eine Welt von Körpern, eine Welt von vorstellenden, aber vernunftlosen Substanzen; kurz, sie mußte das wählen, was zusammen den besten Effekt machte. Das ist die Pforte, durch welche die Sünde in die Welt kam“48 –, eine logische Folge wäre, dass die Menschheit nur „ein Teil des Ganzen“ ist und in Anbetracht des Universums einzelne, individuelle Schicksale leicht ins Unbedeutende geraten könnte. Zum einen: „Soll Gott keinen deswegen keinen Regen geben, weil er niedrig gelegenen Orten Schaden bringt? Soll die Sonne deswegen nicht so stark leuchten, als es für das Ganze notwendig ist, weil dadurch einige Gegenden ausgetrocknet werden?“49, zum anderen: „Gott sieht sicherlich mehr auf einen Menschen als auf einen Löwen, aber man kann wohl schwerlich behaupten, daß Gott einen Menschen dem ganzen Löwengeschlecht in jeder

44 Ebd., S. 261. 45 Ebd., S. 262. Feuerbach bezieht sich auf die Theodizee, § 114: Gott sei immer vergnügt und zufrieden (GP VI, 163–164); § 17: der wahre Gott sei immer derselbe (GP VI, 220); § 217: Gott handele um Gutes zu tun, nicht, um Gutes zu empfangen (GP VI, 247–248); § 337: Gott könne nie unentschlossen sein; er wisse alles; er könne nicht zweifeln etc. (GP VI, 314–315); §§ 327, 318, 319: die Herrschaft Gottes, die Herrschaft des Weisen sei immer die Herrschaft der Vernunft, nur Gott allein sei immer durch die Vernunft bestimmt (GP VI, 309–310; 305; 305–306). 46 „Physice scil. ut ultimam rerum rationem“. Feuerbach zitiert hier Leibniz an Placcius. Dutens, VI, I, 84. 47 Feuerbach: Leibniz, S. 263; vgl. Essais de Théodicée, §§ 122, 134; GP VI, 175–177; 187– 188. 48 Feuerbach (Leibniz, S. 263) zitiert aus: Essais de Théodicée, § 124; GP VI, 179: „Dieu puisqu’il faut à la sagesse de Dieu un monde de corps, un monde de substances capables de perception et incapables de raison; enfin puisqu’il falloit choisir de toutes les choses possibles, ce qui faisoit le meilleur effect ensemble, et que le vice y cest entré par cette porte“. Feuerbach: Leibniz, S. 263: „Die Sünde und folglich das Übel – denn das Übel ist auch nach L[eibniz] nur eine Folge, die Strafe der Sünde – haben also nur darin ihren Grund, daß der Mensch nicht das einzige Wesen ist, sondern außer ihm noch andere Wesen existieren; daß er folglich kein absolutes, sondern beschränktes Wesen, nicht das Ganze, sondern ein Teil des Ganzen ist; oder, mit anderen Worten, daß Gott nicht nur den Menschen, sondern auch die nicht menschlichen Wesen vertritt und repräsentiert, nicht nur der Gott oder das Wesen des Menschen, sondern auch der Gott oder das Wesen der Natur ist“. 49 Feuerbach (Leibniz, S. 263) zitiert aus: Essais de Théodicée, § 134; GP VI, 187–188.

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Rücksicht vorzieht“50. Schließlich sei unsere Erde samt ihren Bewohnern im Vergleich zu dem unermesslichen Universum „unvergleichlich weniger als ein physikalischer Punkt“51. Ist aber ein Gott, der stets das Ganze erwägt und nicht einmal „die leblosen Dinge“52 vernachlässigt, noch der christliche Gott, der Bayle Probleme macht? „Leibniz wirft dem Bayle vor, daß er Gott sich gar zu menschlich vorstellt; aber das, wodurch sich L[eibniz] über Bayles Anthropomorphismen erhebt, wodurch er sie beseitigt oder wenigstens beschränkt, ist nur die Vorstellung der Natur, die Vorstellung des Weltalls. Der Gott, welcher aber nur eine Repräsentation der Natur, nur das personifizierte, vermenschlichte, vergötterte Weltall ausdrückt, ist nicht der eigentliche, wahre, christliche Gott. Dieser ist vielmehr die Repräsentation des Menschen; dieser ist der Gott, der um des Menschen willen die Welt schafft, um des Menschen willen selbst Mensch wird, um des Menschen willen Wunder tut – zum deutlichen Beweis, daß ihm mehr an dem Wohl des Menschen gelegen ist, als an dem Zusammenhang der Welt oder der Natur. Diesen Gott vertritt Bayle, diesem setzt er die Übel entgegen und findet sie nun mit vollem Rechte unerklärbar, unvereinbar mit seinem Wesen“53.

„Bayle ist […] ganzer Christ, ganzer Theist; aber Leibniz ist ein halber Christ, er ist Theist oder Christ und Naturalist“54. Leibnizens Rationalisierung des Gottesbegriff ist, so Feuerbach weiter, eine Beschränkung des Theismus durch Naturalismus; in der Beschränkung, ja Unterwerfung der Güte und Macht Gottes an die Weisheit und an den Verstand liegt in der Tat Leibnizens Schlüssel für eine Verteidigung Gottes, aber dieser Verstand, so Feuerbach, sei „nichts anderes als ein Naturalienkabinett, […] nur eine Vorstellung des Naturzusammenhangs, des Weltganzen“55. Hier tut sich in der Tat eine weitere Spaltung auf zwischen Leibnizens Weltordnung und der christlichen Eschatologie; so mag Leibnizens Theodizee rationalistisch schlüssig sein, sie ist letzten Endes eine Rechtfertigung dieser Welt und, nach Feuerbach, nicht eine christliche Theodizee, und daher auch nicht eine Theodizee, die Bayle hätte überzeugen können. Leibnizens Welt ist diese Welt, hier ist er, so Feuerbach, „in seinem Element, aber der christliche Theist hat sein Vaterland im Himmel“56.

50 Feuerbach (Leibniz, S. 263) bezieht sich hier auf: Essais de Théodicée, § 118; GP VI, 169: „Il est seur que Dieu fait plus de cas d´un homme que d´un lion; cependant je ne say si l’on peut assurer que Dieu prefere un seul homme à toute l´espece des lions à tous egards“. 51 Feuerbach (Leibniz, S. 263–264) zitiert aus: Essais de Théodicée, § 19; GP VI, 114. 52 Feuerbach (Leibniz, S. 263), zitiert aus: Essais de Théodicée, § 246; GP VI, 263–264: „Dieu ne neglige point les choses inanimées; elles sont insensibles, mais Dieu est sensible pour elles. Il ne neglige point les animaux; ils n’ont point d’intelligence, mais Dieu on a pour eux“. 53 Feuerbach: Leibniz, S. 264. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd.

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Wenchao Li „L[eibniz] läßt deswegen Gebete nicht erhören, weil dem Ganzen, der Naturordnung, ihre Erhörung widerspräche57, aber der Christ deswegen nicht, damit nicht der Mensch über dem Glück in dieser Welt seine Bestimmung für den Himmel vergißt […] L[eibniz] erblickt in den Übeln dieser Welt nur unbedeutende partielle Störungen der Ordnung, nur Ausnahmen von der Regel; aber der christliche Theismus – und diesen will doch Leibniz verteidigen – erblickt das Übel dieser Welt schon in ihrer Ordnung, ihrer Regel, und glaubt daher an ihre Aufhebung in einer anderen, besseren Welt“58.

Nicht ohne Augenzwinkern merkt Feuerbach süffisant an, die Ordnung der Leibniz’schen Welt möge in dem Wechsel von Tag und Nacht, Wachen und Schlafen bestehen, der Christ hoffe aber auf eine Welt, wo ein ewiger Tag ohne Nacht, ewiges Wachen ohne Schlaf und ewige Freude ohne Leiden stattfindet. „Die faktische Auflösung der Übel im anderen Leben ist vom Standpunkt des christlichen Theismus allein auch ihre theoretische Auflösung. Nur das Jenseits ist hier die Theodizee; denn nur dort realisiert sich erst die Idee Gottes. […] Leibniz dagegen erwähnt in seiner Theodizee nur en passant das zukünftige Leben, ob er gleich sonst so großen Werth auf die Unsterblichkeit legt“59.

Gegen Bayles Einwurf, dass Gott nur die Welt erschaffen habe, um sich als einen geschickten Baumeister, aber nicht als einen Freund der Tugend und Menschheit zu zeigen, verweist Leibniz, im § 247 der Theodizee, auf die Lehre der prästabilierten Harmonie zwischen dem Reich der wirkenden Ursachen und dem der Zweckursachen (Reich der Natur und Reich der Gnade), der zufolge Gott nicht weniger der beste Monarch als der größte Architekt sei und „folglich die Materie eine solche Einrichtung habe, daß die Gesetze der Bewegung der besten Regierung der Geister dienen und entsprechen“60. Feuerbach sieht darin einen weiteren Beweis für Leibniz’ „Halb-Christenheit“: denn die prästabilierte Harmonie sei „in Wahrheit nichts anderes als die Disharmonie, der Widerspruch“ zwischen Leibniz’ Idealismus und Materialismus, Theismus und Naturalismus. „In dem mit sich einigen, wahrhaft christlichen Theismus ist Gott nicht Monarch und zugleich Architekt […] sondern nur Monarch, und nur als Monarch Baumeister, darum nicht Baumeister, sondern Schöpfer. […] [D]er christliche Gott […] bringt die Welt hervor durch sein bloßes Wort oder Gebot, seinen bloßen Willen. Da ist von keinen Bewegungsgesetzen die Rede, nach denen sich Gott bei der Erschaffung und Lenkung der Dinge richte; da steht die Sonne still auf Gottes Befehl und Menschen Wunsch61; da ist der Wille Gottes allein das

57 Schon vorher, S. 263, verweist Feuerbach auf die Theodizee, § 120: „Mit ungestümen Gebeten richtet man bei Gott nichts aus; er weiß besser als wir, was wir bedürfen, und gewährt nur, was dem Ganzen gemäß ist“ (GP VI, 174). 58 Feuerbach: Leibniz, S. 264–265. 59 Ebd., S. 265. Feuerbach verweist auf Leibnizens Antwort auf einen Brief Bierlings, wo Leibniz vor einer Beseitigung der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele warnt, denn so wäre auch die Lehre von der Vorsehung nutzlos, „denn in diesem Leben bringt sich die Gottheit nicht genug zur Geltung – neque enim in hac vita se vindicat divinitas“. Feuerbach zitiert aus Dutens V, 391; vgl. GP VII, 511. 60 Feuerbach: Leibniz, S. 266. 61 Vgl. Josua 10,1.

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Gesetz, allein die Natur der Dinge, da ist das einzige reelle Wesen das supranaturalistische Wesen“62.

Die Ablehnung eines voluntaristischen Gottesbegriffs zum einen und die monotheistische Ableitung alles Existierenden aus Gott als dessen Schöpfer zum anderen führen bei Leibniz dazu, die Quellen des Übels nur in dem göttlichen Verstand zu suchen und dort ausfindig zu machen. Da aber Gott durch den Verstand, nicht der Verstand durch Gott bestimmt sei – sonst wäre der Gottesbegriff ein voluntaristischer –, lägen die Quellen des Übels in der metaphysischen, d. h. wesensbestimmenden und wesensbedingten Beschränktheit des Geschaffenen selbst63. Gott wäre nur der Urheber von der Existenz, aber nicht von dem Wesen der Dinge, er verwirklicht nur kraft seiner Willensmacht den Verstand; und „die ursprüngliche Unvollkommenheit der Geschöpfe setzt der Tätigkeit des Schöpfers, der zum Guten strebt, Grenzen“64, mit der Folge: „Gott will mit seinem vorhergehenden Willen, d. h. an sich, nur Gutes, keine Übel, keine Sünde, aber der gute Wille scheitert an der verhängnisvollen Verstandesnotwendigkeit, dass die Kreatur wesentlich beschränkt, wesentlich materiell ist, und bringt daher statt des schlechten Guten nur das Beste hervor“65.

Abgesehen davon, dass nach Feuerbach das Schieben des Übels auf die Kreatur66 „inhuman genug“67 sei, sei die zu ziehende Konsequenz daraus vielmehr, dass die Welt sich dann nicht aus Gott erklären und abteilen lasse, denn die Kreatur, die Welt sei der Grund ihrer selbst, ihrer Übel wie ihrer Limitation. Ein Rekurs auf Gott, der, geleitet vom Verstand, zwar für die Existenz, aber nicht für das Wesen seiner Schöpfung verantwortlich sei, sei bei dem Erkennen und Erklären der Schöpfung nicht mehr erforderlich. 62 Feuerbach: Leibniz, S. 266; Feuerbach verweist auf Augustinus, De Civ. Dei, 1.21, c. 8: „Und doch lesen wir in der Heiligen Schrift, daß die Sonne auf Gottes Gebot ihren gesetzmäßigen Lauf änderte“. 63 – nach Feuerbach letzten Endes doch in der Materie bzw. in dessen Materialität, denn „diese Beschränktheit ist ja ihre [der Kreatur] Materialität“. „So wie die Dinge sind, so stellt sie der der Verstand vor; aber die Kreaturen sind beschränkte, d. h. materielle Wesen, also stellt sie auch schon der Verstand als solche sich vor, also ist auch die Materie trotz dem, was L[eibniz] dagegen sagt, eine ewige und notwendige Wahrheit, denn so ewig und notwendig die Limitation, die Beschränktheit, so ewig und notwendig ist die Materie in dem Begriff der Kreatur enthalten“. Feuerbach: Leibniz, S. 267. 64 Ebd., S. 267. Feuerbach zitiert aus der Theodizee, § 380: „L’imperfection originale des créatures donne des bornes à l’action du Créateur, qui tend au bien“ (GP VI, 341); § 388: „Les imitations et imperfections y naissent par la nature du sujet, qui borne la production de Dieu“ (GP VI, 346). 65 Feuerbach: Leibniz, S. 267–268. 66 Ebd., S. 268: „Die Kreatur selbst ist die Ursache ihrer Übel. Von Gott kommt nur das Positive d. h. Vollkommne [sic!], Gute, aber das Negative, Mangelhafte kommt von der Kreatur selbst, hat in ihrer ursprünglichen, idealen Beschränktheit ihren Grund“. Feuerbach verweist auf die Theodizee, § 30: „Dieu est la cause de la perfection dans la nature et dans les actions de la créature, mais la limitation de la réceptivité de la créature est la cause des défauts qu’il y a dans son action“ (GP VI, 120). 67 Feuerbach: Leibniz, S. 268.

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Wenchao Li „So bestätigt sich auch an Leibniz, daß alle Erklärungen und Deduktionen der Welt aus Gott nur Spiele der Phantasie, nur Selbsttäuschungen, Illusionen sind. Woher oder ‚von wem‘ ist denn die Welt? Von Gott. Gut, aber wie ist sie denn in Gott entstanden? Woher kommt sie in Gott? ‚Aus der Idee‘. Aber woher kommt denn diese Idee? Und woher der Unterschied von dieser Idee, die Wirklichkeit, die materielle Existenz der Welt? Lauter Fragen, die der Theismus nicht beantwortet, nicht beantworten kann, aus dem einfachen Grund, weil die erste Frage: Woher ist die Welt?, selbst schon eine Torheit ist; denn sie ist identisch mit der törichten Frage: ‚Pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien? Car le rien est plus simple et plus facile que quelque chose!!‘“68

68 Ebd. Feuerbach zitiert aus: Principes de la nature et de la grâce fondés en raison, § 7; GP VI, 602.

DIE LEIBNIZ’SCHE THEODIZEE IN DER PROTESTANTISCHEN THEOLOGIE DES 20. JAHRHUNDERTS Walter Sparn (Erlangen)

I. EINE BIOGRAPHISCHE REMINISZENZ In dem wohl bedeutendsten deutschsprachigen systematisch-theologischen Text des 20. Jahrhunderts, der zwischen 1932 und 1967 erschienenen Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth, findet sich in dem 1945(!) erschienenen Band III/1 über die Lehre von der Schöpfung“ der Satz: „Die christliche These, daß die Geschöpfwelt von Gott ihrem Schöpfer gut gewollt und geschaffen ist, trifft im Wortlaut zusammen mit den berühmten Aufstellungen, in denen Gottfr. Wilh. Leibniz […] seine metaphysische, physische, moralische und doch auch theologische Wissenschaft gekrönt hat […]“.

Dieser Satz leitet eine längere Auseinandersetzung mit dem metaphysischen Optimismus des 18. Jahrhunderts ein, in der die besondere Größe Leibnizens mehrfach herausgestellt wird, die aber gleichwohl auf das Verdikt zusteuert, dass „die tiefe, christliche Unwissenheit dieses Optimismus“ am Tage liege1. Dieses Verdikt war keineswegs das einzige theologische Votum von Gewicht. Es sei erlaubt zu berichten, was ich im Theologiestudium im Tübinger Stift, in den 1960er Jahren, über Leibniz’ Theodizee erfuhr. Das Neueste war der Artikel „Theodizee“ in der dritten Auflage des Standardwerkes Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 6 (1962). Im sog. Dogmengeschichtlichen Teil des Artikels notierte der theologisch und auch philosophisch sehr gebildete Autor Heinz-Horst Schrey, dass die reformatorische Umkehrung der Theodizeefrage „im neuzeitlichen Rationalismus“ nicht durchgehalten worden sei; die spekulative Theodizee Leibniz’ und des Idealismus, zumal ihre teleologische Sinngebung des Bösen und der Sünde, werde „von der heutigen Dogmatik allgemein abgelehnt“. Schrey fügt lapidar hinzu: „Seither [seit dem Idealismus] sind in Philosophie und Theologie keine neuen Gesichtspunkte zur Lösung des Theodizeeproblems aufgetaucht“2. Im systematischen Teil des Artikels gesteht der auch religionsphilosophisch produktive Autor Wolfgang Trillhaas zu, „daß der Glaube von metaphysischen Reflexionen schwer lösbar ist“, weist aber „zur Klärung der Sachlage“ auch darauf hin, dass die „unstillbare“ Theo1 2

K. Barth: Die kirchliche Dogmatik, Bd. III/1, Zollikon – Zürich 1945, S. 446–476; Zit. S. 446, S. 475. H.-H. Schrey: Art. „Theodizee: II.“, in: K. Galling (Hrsg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG³), Bd. 6, Tübingen ³1962, Sp. 740–743; Zit. 743.

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dizeefrage ihrer weltanschaulichen Natur nach „eine unlösbare Frage“ sei. Sie werde jedoch nur dann zu einer echten Frage, wenn sie „die Frage des Menschen in seiner Subjektivität“ bleibe, wenn sie also nicht um ihren Anlass im Zweifel und in der Anfechtung bereinigt werde, m. a. W. „wenn ihr unmittelbarer religiöser Charakter zurückgewonnen wird“3. Nicht viel anders hatte der kurz zuvor erschienene Artikel „Leibniz“ von Heinrich Schepers votiert. Zwar rückt der Kenner Leibniz’ diesen durchaus ab von dem „seichten optimistischen Anthropozentrismus“ der nachfolgenden Aufklärung, stellt aber auch fest, dass der Gedanke, dass die wirkliche Welt die beste aller möglichen Welten sei, „aus einem ergebenen Vertrauen in die Güte Gottes“ lebe „Uns fehlt die Einsicht in die Gott rechtfertigende Sinngebung des jeweiligen uns treffenden Übels, das ein innerhalb der optimalen Weltordnung notwendiges, aus der Endlichkeit der Kreaturen resultierendes privatives Element darstellt“4.

Das weitere Studium bekräftigte den Eindruck der exklusiven Disjunktion von theologischer und philosophischer Sicht der Theodizeefrage vor allem im Zusammenhang der Debatte um die moderne (christentumskritische oder umgekehrt christlich inspirierte) „Säkularisierung“ der Welt und um den möglicherweise gnostischen Charakter des Projektes „Neuzeit“ – die Ablehnung aller Metaphysik zugunsten des so genannten „geschichtlichen Denkens“ auch in der hermeneutischen Fortentwicklung der Dialektischen Theologie nahmen dem Interesse an Leibniz’ Theodizee jegliches Motiv5. Für das ziemlich pauschal modernitätskritisch unterlegte Desinteresse war etwa die Anmerkung kennzeichnend, die Friedrich Karl Schumann, obwohl oder weil Schüler von Johannes Rehmke, einem Vortrag am 10. Juni 1945(!) in Halle über „Menschliches Schicksal und göttliche Gerechtigkeit“ anfügte: „Ist nicht eben das der große Irrweg der europäischen Menschheit in den letzten Jahrhunderten, daß ihr aus der Frage der Reformation nach der Rechtfertigung des Menschen vor Gott die Weltanschauungsfrage der Theodizee geworden ist?“

„Theodizee“ ist dabei ohne Weiteres definiert als „Rechtfertigung Gottes vor unserem Denken“ – Leibniz tritt gar nicht erst auf6.

3 4 5

6

W. Trillhaas: Art. „Theodizee: III.“, in: RGG³, Bd. 6, Sp. 743–747; Zit. Sp. 743, Sp. 746. H. Schepers: Art. „Leibniz“, in: RGG³, Bd. 4, Sp. 291–294; Zit. Sp. 293. So fehlt in dem die Säkularisierungsdiskussion neu entfachenden und noch H. Blumenbergs Votum für die Legitimität der Neuzeit (1966) provozierenden Buch von F. Gogarten: Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, Stuttgart 1952, trotz der Konzentration auf den Weltbegriff jeglicher Hinweis auf Leibniz. F. K. Schumann: Wort und Wirklichkeit, Berlin – Hamburg 1971, S. 220–238; Zit. S. 227, Anm. 13. Unter dem o. a. Titel sind zwei Vorträge zusammengezogen; der zweite Vortrag vom 24. Juni 1945 befasste sich mit der göttlichen Gerechtigkeit in der Geschichte, ausgehend von Friedrich Schillers „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“, ebd., S. 231. Vgl. ders.: Der Gottesgedanke und der Zerfall der Moderne, Tübingen 1929; hier wurde Leibniz erwähnt, aber nur im Zusammenhang des Entstehens des Idealismus aus Mystik, S. 80.

Die Leibniz’sche Theodizee in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts

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Dieser Vortrag erschien 1971; in der Zwischenzeit hatte der Student allerdings gelernt, dass die protestantische Theologie in Deutschland vor dem Bruch mit der Moderne, den nach dem Ersten Weltkrieg zumal die Dialektische Theologie für sie bedeutete, sich zu Leibniz ganz anders gestellt hatte. Sein „großer Lehrmeister“ Adolf von Harnack, berichtete Heinrich Scholz, der als Theologe und Religionsphilosoph begann und zum mathematischen Logiker wurde, habe allen Philosophen misstraut, mit einer einzigen Ausnahme: Leibniz7. Dass und wie es so war, konnte ich und kann man immer noch in der monumentalen Geschichte der Königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1900) nachlesen8. In ihrer Lehre von der göttlichen Providenz in der Erschaffung und Erhaltung der Welt, dem traditionellen Locus des Theodizeeproblems, hatte die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, wenn nicht sogar im Gefolge der Geschichtsmetaphysik G. W. F. Hegels (der spekulative Strang), so doch auf der schöpfungstheologischen Spur der Theodizee Leibniz’ (der liberale Strang) argumentiert. Aus guten Gründen ging sie dabei aber nicht so weit wie die neuscholastische katholische Theologie, die im ausgehenden 19. Jh. ihre philosophische Propädeutik, d. h. ihre „theologia naturalis“, insgesamt „Theodizee“ nannte9; denn damit war eine vorkritische Metaphysik gemeint, die recht weit von Leibniz’ Metaphysik, erst recht von der neuprotestantischen Religionsphilosophie der Zeit entfernt war.

II. NEUPROTESTANTISCHE LEKTÜREN DER THEODIZEE LEIBNIZ’ II.1. Die Theodizee Ernst Troeltschs Der neben A. v. Harnack führende liberale, speziell die religionsgeschichtliche Schule repräsentierende Theologe und Kulturphilosoph hat sich mit Leibniz in der Perspektive der umfassenden Frage nach dem spezifischen Profil der Neuzeit befasst; einer Neuzeit, die er nicht schon mit der Reformation des 16. Jahrhunderts, sondern erst in der westeuropäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts und der zugehörigen „Neologie“, der theologischen Genese des „Neuprotestantismus“, anbrechen sah. Sein Versuch, die Bedeutung des Christentums in der modernen Welt in einer Synthese von kultur-, sozial-, geistesgeschichtlicher Analyse und religionsphilosophischer Reflexion neu zu bestimmen, rückte in beiderlei Hinsicht auch Leibniz in den Gesichtskreis. Im Kontext der historischen Untersuchungen steht auch der systematisch-theologische Artikel „Theodizee“ im Band 5 des seit 7 8 9

H. Scholz: „Leibniz (1942)“, in: H. Hermes u. a. (Hrsg.): Mathesis universalis, Basel – Stuttgart 1961, S. 128–151; Zit. S. 128. A. Harnack: Geschichte der Königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 1, 1. Hälfte, Berlin 1900, S. 9–19. So z. B. C. Gutberlet: Die Theodicee, Münster 1878, ²1890, Einleitung, § 1 (S. 1–2), die (falsche) Darstellung Leibniz’ Kap. V, § 5 (S. 203–204), Ablehnung des Pessimismus, ebd., § 7 (S. 212–218); J. Donat SJ: Theodicea, Innsbruck 71936, Introductio; zur Theodizee i. e. S. ebd., Thes. 31 (S. 265–273).

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1909 erscheinenden neuen, der liberalen Schule zugehörigen Lexikons Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Troeltsch stellt erstens fest, dass das Theodizeeproblem nur im (theistischen) Christentum wirklich schwer empfunden werde, weil nur dieses die ganze Welt „aus den Zwecken und Werten des persönlichen Lebens restlos und prinzipiell begreifen will und dabei den Widerspruch des Unpersönlichen und Persönlichkeitswidrigen irgendwie erklärt“. Zwar werde das Theodizeeproblem „von allen stark religiösen Epochen nicht empfunden“, so z. B. nicht vom Urchristentum. Doch sei es dem religiösen Bewusstsein, zumal im Christentum, das personalistisch allein geistig-ethische Werte als absolute annehme, als „Spannung“ und „Sprungfeder“ immanent und verlange stets von neuem neben der praktischen, im religiösen Glauben selbst schon vorweggenommenen „Lösung des Kampfes“ auch „eine theoretische Erleuchtung“10. Zweitens erklärt Troeltsch die „kirchliche Theodizee und de(n) hierbei verwendete(n) Begriff der Freiheit“ für „völlig unhaltbar“, sowohl in religiöser als auch in metaphysischer Hinsicht, v. a. im Blick auf das „kolossale Missverhältnis“ zwischen dem geistigen Leben und den physischen und psychischen Gesetzen einer unermesslichen Welt und ihres kontinuierlichen Verlaufs. Diese Theodizee lebe zum guten Teil noch von der seit dem persischen Dualismus überlieferten Entlastung des Theodizeeproblems11. Drittens entwirft Troeltsch nun eine „Theodizee der modernen Glaubenslehre“, die im Kern besagt: „Der Sinn der Welt ist die Emporbildung der Kreatur aus der von Gott ewig gesetzten Natur zur Teilhabung an seinem Wesen“. Dieser Aufstieg sei nur zu denken als „Bildung und Erziehung durch den göttlichen Geist“, der das aufstrebende Leben an die Schranken seiner Endlichkeit stoßen lässt und so „zur Preisgabe der endlichen Selbstheit und zur Hingabe an das göttliche Leben leitet, so daß in den freien Persönlichkeiten nun Gottes Wille als ihr Wille Person geworden ist“. In diesem Prozess, der auch Gottes Leben reicher macht, empfindet der Mensch, gebundenes Naturwesen und als zum Geistwerden bestimmter Lebenskeim in einem, den Gegensatz der Natur gegen die Freiheit und lernt aus den Leiden der Natur diese Natur als endliches Prinzip erkennen. Angesichts der immer endlich-selbstsüchtigen Kreatürlichkeit „sind Weltleid und Sünde wesentliche Bestandteile der Schöpfung, durch die hindurch allein sich die Emporbildung zur Person als Setzung eigener Tat und als volle Hingebung an Gott zugleich vollziehen kann“. Es ist dem Autor wichtig zu betonen, dass dies nur als Werk der Freiheit (weil Anteilnahme an der Freiheit Gottes) und als Wesenshingabe an Gott (weil auch Selbstverzicht) zugleich möglich ist und dass dieser „Sinn der Welt“ nicht nur durch die Menschheit, sondern „von jedem der zahllosen Geisterreiche in Kampf und Leiden errungen“ werden muss12. In dieser modernen Theodizee fällt der Name Leibnizens nicht; es findet sich nur der den Artikel einleitende Hinweis auf die Herkunft des Ausdrucks „Theodizee“. 10 E. Troeltsch: Art. „Theodizee: II. Systematisch“, in: RGG, Bd. 5, Tübingen 1913, Sp. 1186– 1192; Zit. Sp. 1187. 11 Ebd., Sp. 1188. 12 Ebd., Sp. 1189–1190.

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Zweifellos sind wichtige Aspekte der Leibniz’schen Theodizee präsent, v. a. die für die fromme Aufklärung im Ganzen typische „irenäische“, pädagogische Konzeption der Heilsgeschichte13 und speziell die Formeln „aus der Natur in die Freiheit“ und „durch Freiheit zur Gnade“, auch die (nicht zugeschriebenen) „Lebenskeime“. Aber auch der Abstand zur Leibniz’schen Theodizee ist deutlich, beginnend damit, dass statt Leibniz’ J. Böhme und F. W. J. Schelling rekurriert werden. Troeltsch erklärt seine Theodizee als dem neuplatonischen Gedanken des Ausgangs und der Rückkehr zu Gott ähnlich; sie berühre sich auch mit dem indisch-pythagoräisch-platonischen Gedanken der Seelenwanderung und mit dem Buddhismus; sogar das Fegefeuer erfährt eine gewisse Schätzung. In der Aufnahme der „großen religiös-spekulativen Ideen“ der Religionen in das Christentum, ihr „Sammel- und Konvergenzpunkt“, bleibe das wesentlich Christliche erhalten: „die Idee der Freiheit und der Gnade“14. Troeltsch macht sich keine Illusionen über die gleichwohl weiter bestehenden dualistischen Gefährdungen, vor allem über das Missverhältnis zwischen der unermesslichen materiellen Natur und den aus ihr sich emporkämpfenden Geisterreichen und über das Missverhältnis zwischen dem Individuum und dem absoluten Weltzweck geistiger Freiheit aller. Sein Abstand zu Leibniz’ Theodizee erscheint noch größer angesichts der völligen Abwesenheit des kosmologischen Horizonts, und überhaupt eines Weltbegriffs, der nicht bloß metaphorisch wäre. Troeltschs Theodizeeproblem ist deutlich nicht mehr der unvollkommene Kosmos, sondern die schließlich alle Werte vergleichgültigende Geschichte, ist der damals so genannte „Historismus“15. Troeltsch präsentiert seine eigene Theodizee explizit als „eine aus dem Begriff der Persönlichkeit und ihrer prophetischchristlichen Deutung entspringende Spekulation“, als eine „annähernde Lösung“ der in der schlichten Frömmigkeit entbehrlichen, „im ernstesten religiösen Leben und Denken“ aber ganz unabweislichen „offenen Fragen und Rätsel“ – auf den Wegen „unserer wissenschaftliche(n) Phantasie“16.

II.2. Der theologiehistorische Kontext der Theodizee Troeltschs Man könnte vermuten, dass es ein Zeichen der Schätzung Troeltschs war, als die RGG² den systematischen Artikel von 1913 im Jahr 1931 im Wesentlichen unverändert nachdruckte (der Autor war 1923 früh verstorben); weggelassen sind fast nur die einleitenden Sätze, in denen Leibniz als Titelgeber für diese „Grundfrage aller Religion“ genannt war17. Aber der geschichtliche Teil des Artikels „Theodizee“, 13 Vgl. W. Sparn: Art. „Theodizee: V.“, in: RGG4, Bd. 8, Tübingen 2005, Sp. 228–231. 14 Troeltsch: Art. „Theodizee: II. Systematisch“, Sp. 1191. 15 Vgl. F. W. Graf/H. Ruddies: „E. Troeltsch: Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“, in: J. Speck (Hrsg.): Philosophie der Neuzeit, IV, Göttingen 1986, S. 128–164, bes. S. 141 ff. 16 Troeltsch: Art. „Theodizee: II. Systematisch“, Sp. 1191–1192. 17 Ders.: Art. „Theodizee: III. Systematisch“, in: RGG², Bd. 5, Sp. 1102–1107. Die Bibliographie (1913: E. von Hartmann, R. Rothe, K. Fischer) ist jetzt ergänzt um P. Tillich: Das Dämonische, 1926, und J. Hontheim: Theodicea sive Theologia naturalis, Herder 1926.

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den seinerzeit Otto Lempp verfasst hatte, wurde jetzt ersetzt durch einen religionsgeschichtlichen Teilartikel, verfasst vom „modern-positiven“ Karl Beth, und einen dogmengeschichtlichen Teilartikel, verfasst von dem auch einer moderat liberalen Perspektive verpflichteten Kirchengeschichtler (und Herausgeber der RGG) Leopold Zscharnack. Hier wird Troeltschs Teilartikel teils bekräftigt, teils aber auch schon historisch distanziert. Karl Beth übernimmt Troeltschs religionstheoretische Enthistorisierung der Leibniz’schen Theodizee, indem er darauf hinweist, dass Theodizee „im weiteren Sinn“ des Glaubens an einen positiven Sinn der Welt in allen Religionen vorkomme, und darauf, dass die christliche Theologie stark von der stoischen und neuplatonischen Theodizee beeinflusst worden sei18. Die Ablösung des Theodizeeproblems von seiner spezifischen Bearbeitung im theologischen und im kosmologischen Aspekt der Théodicée Leibnizens, die hier mit Troeltsch bekräftigt wird, lässt sich auch bei Max Weber beobachten, der mit Troeltsch das Theodizeeproblem als Problem enthistorisierte, um religionssoziologisch drei funktional unterscheidbare rationale Formen der Theodizee zu typisieren19. Auf andere Weise wird der Bezug auf Leibniz gelockert im neuen dogmengeschichtlichen Artikel in RGG², der Troeltsch einschließlich seiner Bemühung um eine bessere, richtiger: methodologisch viel bescheidenere Theodizee, in einen vergehenden historischen Kontext rückt. Im geschichtlichen Teilartikel von 1913 hatte O. Lempp die Theodizee Leibniz’ nahe an die ästhetisch-kosmozentrische Theodizee der Stoa gerückt, diese aber für ebenso hinfällig erklärt wie die christliche Kirchenlehre. Die erkenntnistheoretisch unabweisliche „Umwälzung der Weltanschauung“ seit I. Kant habe den kosmozentrischen Standpunkt aufgelöst, so dass die dem Christentum eigene, einer Frömmigkeit entsprechende Theodizee sich neu orientieren müsse am kontinuierlichen Aufstieg des Natürlichen zur persönlichen Sittlichkeit, d. h. zum göttlichen Geist und Leben. Lempp zielt jedoch, „nach dem Zusammenbruch der kirchlichen Weltanschauung“, auf eine neuplatonisch inspirierte, dem modernen Entwicklungsdenken entsprechende „idealistische Theodizee“; für die nötige „Neubildung der Theodizee“ verweist er auf den folgenden Text Troeltschs20. Lempp rückt den kosmozentrischen Leibniz zugunsten des personalistischidealistischen Troeltsch in die Vergangenheit; dafür hatte er in seinem kurz zuvor erschienenen Buch Das Problem der Theodizee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts die nötige historische Arbeit geleistet21.

18 K. Beth: „Art. Theodizee: I.“, in: RGG², Bd. 5, Sp. 1095–1098. 19 E. Troeltsch: „Die Bedeutung des Begriffes der Kontingenz (1910)“, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze, II, Tübingen 1922, S. 769–778; M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (1921), Tübingen 41956, S. 314–319; ders.: Gesammelte Aufsätze zu Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen 1920 u. ö., S. 536–573. 20 O. Lempp: Art. „Theodizee: I.“, in: RGG, Bd. 5, Sp. 1177–1186; Zit. Sp. 1185, Sp. 1186. 21 Ders.: Das Problem der Theodizee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1910, ND Hildesheim – New York 1976; zu Leibniz S. 33–64, zur Umstellung der Theodizee auf sittliche Freiheit S. 426–429.

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Anders als O. Lempp bezieht 18 Jahre später L. Zscharnack nicht nur die philosophische und theologische Arbeit am Theodizeeproblem seit Plato und Aristoteles bzw. Origenes und Augustin ein, sondern distanziert sich auch deutlich von der sittlichen Theodizee des nachkantischen Idealismus. Er will aber nicht etwa zu Leibniz’ stoischer Kosmosidee zurückgehen, auch wenn er nicht bestreitet, dass der Gedanke der inneren Freiheit über die sinnliche Welt oder die Idee eines gerechten Ausgleichs im Jenseits „altes christliches Gut“ sei. Er tadelt daher, dass, obwohl zumal in der Entwicklungsvorstellung die „eigentlichen Elemente des christlichen Erlösungsglaubens“ nicht verwertet worden seien, die Theologie des 19. Jahrhunderts Grundgedanken der idealistischen Theodizee in sich aufgenommen habe – und er verweist dafür auf den Teilartikel Troeltschs. Er lässt also dessen „Neubildung“ nicht als solche gelten, die eigene Überschrift Troeltschs ist denn auch nicht mehr abgedruckt. Und während Lempp sich der reformatorischen Theologie nur im Hinweis auf die Eliminierung der Theodizeefrage im calvinistischen „unergründlichen Willen (Gottes), d. h. auf die absolute Irrationalität der Welt“ erinnert hatte, und während der Leibniz-Artikel in der RGG² urteilt, „die Verbindung von Idealismus und Christentum verdankt Leibniz wertvolle Impulse“, weist Zscharnack nun hin auf die Rede von der unergründlichen Majestät Gottes bei M. Luther und J. Calvin22.

II.3. Troeltschs Anknüpfung an Leibniz’ Monadologie Man sieht, dass Troeltschs Theodizee zu Beginn des zweiten Drittels des 20. Jahrhunderts weniger als Votum für Leibniz’ Theodizee erschien denn als neuprotestantisch modifizierter Idealismus. Dieser aber war nicht vereinbar mit der krisistheologischen Neuorientierung der evangelischen Theologie seit 1918, die in der Tat exklusiv am göttlichen „Majestätswort“ orientiert war, das nicht im kulturgeschichtlichen Fortschritt aufschien, sondern, mit einem sehr populären Ausdruck K. Barths, „senkrecht von oben“ in die Kultur und alle menschliche Religion einschlug. Troeltsch hat sich in der Tat von der damals so genannten „idealistischen Weltanschauung“ nicht hinreichend erkennbar unterscheiden können, die für die Erneuerung und Höchstgeltung der Werte der „Persönlichkeit“, des „geistigsittlichen Strebens“ usw. angesichts der sozial und moralisch zerfallenden ökonomisch-materialistischen Massenzivilisation meinte kämpfen zu müssen; dafür engagierten sich Zeitgenossen vom berühmten Rudolf Eucken23 bis zum nicht 22 Ders.: Art. „Theodizee: I.“, Sp. 1183; H. Hoffmann: Art. „Leibniz“, in: RGG², Bd. 3, Tübingen 1929, Sp. 1555–1558, Zit. Sp. 1557; L. Zscharnack: Art. „Theodizee: II.“, in: RGG², Bd. 3, Sp. 1098–1102; Zit. Sp. 1102. Hier werden auch die unter demselben Titel wie Lempps Untersuchung (Anm. 21) publizierten Bücher von Josef Kremer und Richard Wegener aus dem Jahr 1909 notiert. 23 R. Eucken: Geistige Strömungen der Gegenwart, Leipzig 1904, 51916; ders.: Der Sinn und Wert des Lebens, Leipzig 1907, 41914; ders.: Art. „Leibnitz, Gottfried Wilhelm“, in: A. Hauck (Hrsg.): Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 11, Leipzig

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minder berühmten Karl May (Empor zum Edelmenschen, 1904). Troeltsch wurde wahrgenommen auch als Partei im „Kampf der Weltanschauungen“, d. h. als Verfechter des christlichen, d. h. theistischen Idealismus in der „Krise der Moderne“ und im Gegenüber zu atheistischem Materialismus, ästhetischem Pantheismus und intellektuellem Nihilismus. An diesem Weltanschauungskampf24 beteiligten sich seit dem Verblassen des philosophischen Idealismus in der Tat viele apologetisch engagierte Theologen der konservativen Richtung. Leibniz wird ziemlich regelmäßig von ihnen angezogen, freilich nur wenig spezifisch unter Schlagwörtern wie z. B. offenbarungsfreundlich „gemäßigter Rationalismus“ oder (objektiver oder subjektiver?) „Idealismus“25. Troeltsch war vertreten in dem repräsentativ auftretenden Band von Wilhelm Dilthey und Max Frischeisen-Köhler u. a. Weltanschauung, Philosophie und Religion (1911)26. Allerdings unterschied sich Troeltsch noch wesentlich von den anderen „idealistischen“ Partizipanten am Weltanschauungskampf und von deren flacher Leibniz-Rezeption. In den Gesammelten Schriften III (1922), „Der Historismus und seine Probleme“, hier in dem auf Vorarbeiten von 1916 zurückgehenden Kap. II „Ueber Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge“, Nr. 5 „Historie und Wertlehre“ steht folgender Satz: „Alle diese künstlichen und unlösbaren oder nur durch Einschmuggelung dogmatisch normativer und eben geglaubter Werte lösbaren Schwierigkeiten fallen weg, wenn man den Ausgangspunkt, das sog. Ich, anders auffaßt, wenn man es nicht mehr als etwas Isoliertes und Leeres, nur mit den formalen Fähigkeiten des Vorstellens, Fühlens und Wollens Ausgestattetes, sondern als virtuell und jeweils in sehr verschiedenem Umfang das Allbewusstein in sich befassend oder umgekehrt dieses als das ich in sich schließend betrachtet, wenn man zum Leibnizischen Gedanken der Monade und insbesondere der auf Grund ihrer Komplikationen eine besondere Stufenhöhe einnehmenden menschlichen Monade in irgendeiner heute mögliche Form zurückkehrt“27.

Dieser Satz formuliert eine Art Wunsch-Antwort auf Troeltschs basales, noch tiefer als die Theodizee liegendes kultur- und religionstheoretisches Problem: die 3

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1902, S. 353–360. Vgl. F. W. Graf: „Die Positivität des Geistigen. Rudolf Euckens Programm neoidealistischer Universalintegration“, in: G. Hübinger u. a. (Hrsg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, II, Stuttgart 1997, S. 53–85. Vgl. V. Drehsen / W. Sparn (Hrsg.): Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996; W. Sparn: „Religiöse Aufklärung. Krise und Transformation der christlichen Apologetik im Weltanschauungskampf der Moderne“, in: Karl-Heim-Jahrbuch 5 (1992), S. 77–105, S. 155–164. Um nur drei zu nennen, die Troeltsch wahrscheinlich kannte: Chr. E. Luthardt: Apologetische Vorträge über die Grundwahrheiten des Christentums, Leipzig 1864; E. Pfennigsdorf: Persönlichkeit. Eine christliche Lebensphilosophie, Schwerin 1906, 91921; ders. (Hrsg.): Der Geisteskampf der Gegenwart, Gütersloh 1909–1933 (Pfennigsdorf hat sich auch mit E. Troeltschs Religionspsychologie auseinandergesetzt: Der religiöse Wille, Leipzig 1910, ²1927); A. W. Hunzinger: Das Christentum im Weltanschauungskampf der Gegenwart, Leipzig 1909, ³1919. E. Troeltsch: „Die Kirche im Leben der Gegenwart“, in: M. Frischeisen-Köhler (Hrsg.): Weltanschauung, Philosophie und Religion, Berlin 1911, S. 438–454. Ders.: „Der Historismus und sein Probleme“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, III, Tübingen 1922, ND Aalen 1977; Zit. S. 209.

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fatale Krise normativer Orientierung in Zeiten der historistischen Vergleichgültigung aller tradierten Normen und Werte einerseits, der Diskrepanz naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Denkformen andererseits. In der Mühe um eine „gegenwärtige Kultursynthese“ sah er seine geschichtsphilosophische Aufgabe darin, die allgemeinen Strukturen der Kultur und ihre jeweiligen, in kein Allgemeines auflösbaren, besonderen Data gleichermaßen zu erfassen; die Aufgabe war also, Individualität zu beschreiben. Geschichtliche Individualität ist – da greift Troeltsch sogar auf Kierkegaard zurück – die Einheit des Metaphysischen und des Zufälligen; sie ist der Ort der „Vereinigung von Faktischem und Idealem, von naturhaft und umstandsmäßig Gegebenem und zugleich ethisch Aufgegebenem, [ist] eine menschliche Schöpfung und metaphysische Realität, das Ineinander von Tatsache und Geist, von Natur und Ideal, von Notwendigkeit und Freiheit, von Allgemeinstem und Besonderstem“28.

Eine solche „Individualitätsidee“ sieht Troeltsch erstmals in Leibniz’ Monadologie gefasst. Leibniz, den er gelegentlich auch „Pluralist“ nennt29, reagiere damit auf die problematische Begründung der Metaphysik auf Bewusstseinsanalyse bei René Descartes; eine Begründung, die zwischen „körperbezogenem, allgemeingesetzlichem“ und „ichbezogenem, historisch-genetischem“ Wissen einen Riss zur Folge habe. Leibniz’ Monadologie vermöge dagegen allgemeingesetzlichmathematischen Mechanismus und historisch-teleologische Lebendigkeit unter der Voraussetzung einer göttlich prästabilierten Harmonie zuzuordnen30. Der Erlanger Philosoph Gustav Claß hatte in Fortschreibung der Philosophie Hermann Lotzes den Versuch unternommen, Leibniz’ Monadologie zu erneuern, und Troeltsch griff diese Anregung ganz bewusst auf31. Freilich, obwohl Troeltsch im Zuge seines kultursynthetischen Programms „Geschichte durch Geschichte überwinden“ immer bewusster auf eine Natur- und Geisteswissenschaften, aber auch Philosophie und Theologie verbindende Metaphysik der Individualität zielte, blieb es bis in sein letztes großes Werk beim Wunsch. Leibniz’ Begriff der Monade, dessen große Leistungsfähigkeit Troeltsch kongenial beschreiben kann, hat doch den Mangel, dass er das aktuelle geschichtliche Kontingenzbewusstsein (Troeltsch nennt dafür G. Vico, J. G. Herder, F. Schleiermacher oder W. von Humboldt) in seiner Annahme eines langfristigen Fortschritts der moralischen Welt geradezu fernhält. Leibniz korreliere, auch wenn man von seiner eigenen, konventionellen Historiographie absieht, das Allgemeinste und das Besonderste als kosmisches, nicht aber als geschichtliches Kontinuum – die Monade sei fensterlos32. Ob Troeltsch hier die Fensterlosigkeit 28 29 30 31

Ebd., S. 211–212. Ebd., S. 207, Anm., S. 484 Anm., S. 472. Ebd., S. 105, S. 483–484. Vgl. H. Will: „Ethik als allgemeine Theorie des geistigen Lebens. Troeltschs Erlanger Lehrer Gustav Claß“, in: Troeltsch-Studien I (1982), S. 175–202; vgl. auch H. Renz: „Eine unbekannte Preisarbeit über Lotze [1886/7]“, in: Ebd., S. 33–47. 32 Troeltsch: „Der Historismus und sein Probleme“, S. 17–18., S. 210; eine gute Beschreibung der Leistungsfähigkeit des monadologischen Konzepts z. B. ebd., S. 675.

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der Monade richtig verstanden hat, darf man bezweifeln; ebenso, ob Troeltsch den theologisch-metaphysischen Horizont Leibniz’ noch akzeptiert, wenn er betont, es käme darauf an, „die allgemeine, universalgeschichtliche und schließlich kosmische Bewegung […] vom Einzelnen, von der monadologischen Deutung der empirischen Individualitäten her“ zu erreichen33.

III. VERWERFUNG DER LEIBNIZ’SCHEN THEODIZEE Das Gründungsdokument der zunächst für irrational, oder, wie auch gesagt wurde: für bloß expressionistisch angesehenen „Theologie der Krisis“, später meist „Dialektische Theologie“ genannt34, ist der Römerbrief-Kommentar K. Barths von 1919 bzw. in neuer Bearbeitung von 1922. Mehrfach rückt der Autor vom weltanschaulichen Optimismus ab zugunsten der grundsätzlich anders begründeten christlichen Erfahrung des Friedens mit Gott bzw. des Zornes und Gerichts Gottes. Wo der Apostel sich nicht nur der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes, sondern auch der Bedrängnisse dieser Zeit rühmt (Kap. 5,3–5) und erklärt, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Offenbarung jener Herrlichkeit an uns (Kap. 8,18), nimmt Barth, ohne dass freilich der Name fällt, Bezug auf die Theodizee Leibniz’ und erklärt sie für christlich gegenstandslos. „[…] das tatsächliche Erschüttertsein von dem allem bildet keinen Widerspruch zu dem Frieden Gottes […], es ist kein pudendum des Glaubens, das etwa einer Theodicee [sic!] oder gar einer direkten Beseitigung bedürfte, um dem Glauben wieder Luft zu verschaffen. Die Theodicee in Betreff des Übels und seine Beseitigung ist schon gegeben durch das Wort, durch das Gott sich selbst rechtfertigt, den Glaubenden als gerecht erklärt und zum Erben seines Reiches einsetzt. Auch hier gilt: allein durch den Glauben, durch den Glauben, der wohl zum Schauen drängt und führt, der aber nicht auf das Schauen wartet, um auch ohne Schauen Glaube zu sein, also Glaube in den Bedrängnissen und im Bedrängtsein, nicht daneben, nicht erst nach äußerlich oder innerlich glücklich überwundenen, gedämpften oder doch ertragenen Bedrängnissen. Es gibt ein Seufzen, Murren und Schwachsein im Frieden Gottes […]. Im Frieden Gottes hat auch das Platz, was die religiöse Welt Unglauben nennt […]. Geglaubt, geglaubt an die Erlösung wird nicht in irgend einer Erlöstheit, in irgend einer proleptischen Sicherheit, Gelassenheit, Harmlosigkeit, und Heiterkeit, sondern mitten im Gewühl, mitten in der den Menschen bis aufs Innerst berührenden Verwirrung der unerlösten Welt. […] Gottes froh sein da wo man seiner nicht froh sein kann, das ist der ‚Ruhm des durch den Glauben Gerechten‘“35.

33 Ebd., S. 244. 34 Vgl. W. Härle: Art. „Dialektische Theologie“, in: G. Krause (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 8, Berlin 1981, S. 683–696; H. Fischer: Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, S. 15–38. 35 K. Barth: Der Römerbrief, München ²1922, S. 131–132. (zu Röm 5, 3–5); ebenso 286–289 (zu Röm 8,18).

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III.1. Ablehnung jeglicher Theodizee Die unvermittelte (missverständlich: „dialektische“) Gegenüberstellung von Christusglaube und menschlicher Religion oder menschlicher Erfahrung, das an S. Kierkegaard anknüpfende Insistieren auf dem paradoxen Status christlicher Existenz schloss jegliches Unternehmen einer Theodizee von vornherein aus. Das Verdikt galt nicht nur dem „ruchlosen Optimismus“, wie Barth erkennbar mit Arthur Schopenhauer sagt, sondern ebenso dessen und anderer Skeptiker „Pessimismus“: Es handele sich beidesmal um relative und unvermeidlich korrelative Urteile im Kontext von menschlichen, rationalistisch oder pietistisch an sich selbst interessierten „Religionen, Sittlichkeiten und Weltanschauungen“ im „Aufund Niedergang großer Kultursysteme“, wie Barth sagt, Troeltschs Worte gegen ihn wendend. Das genüge aber nicht für Hiob, M. Luther, S. Kierkegaard, I. Karamasoff36 – und es genügte nicht für K. Barth … Die radikale Disjunktion der nur allzu menschlichen Rechtfertigungen Gottes und der Selbstrechtfertigung Gottes in seiner schöpferischen Rechtfertigung des Menschen, sie bildete die Grundlage der aggressiven Ablehnung jeglicher Theodizee durch alle, die der Dialektischen Theologie folgten. Sie wurde bald allgemein und galt im größeren Teil der deutschsprachigen evangelischen Theologie bis in die 1950er Jahre geradezu axiomatisch. Leibniz’ Theodizee wurde, wenn überhaupt beachtet, pauschal proskribiert. (1) In der Dialektischen Theologie und ihren nächsten Folgegestalten kam ein schon älteres, im religionsgeschichtlich orientierten Kulturprotestantismus zurückgedrängtes Votum erneut und verschärft zur Geltung: die Lösung der Theologie von jeder Metaphysik, zumal von der „spekulativen Metaphysik“ des „idealistischen Rationalismus“, wie gängige Bezeichnungen lauteten. Dies Votum hatte, im Anschluss an Hermann Lotzes Unterscheidung von Seins- und von Werturteilen, programmatisch Albrecht Ritschl in den 1880er Jahren formuliert: Die Theologie habe sich strikt auf die Sphäre von Werturteilen zu beschränken und als Quelle ihrer normativen Erkenntnis allein die (historisch-kritisch interpretierte) Heilige Schrift zu Grunde zu legen; keinesfalls metaphysische „natürliche Gotteserkenntnis“37. Diese als „Supranaturalismus“, später auch als „Offenbarungspositivismus“ gescholtene Programmatik bestimmte nicht nur die Ritschl’sche Schule, sondern, trotz ihres Gegensatzes z. B. in der Bestimmung des Verhältnisses von Christentum und Moral, auch die Dialektische Theologie zutiefst. Es war daher auch hier klar, dass die Theologie sich den apologetischen Bemühungen zu verweigern hatte, im „Weltanschauungskampf“ der Moderne den christlichen Glauben als nicht widervernünftige, religiös überlegene und kulturell produktive Kraft zu erweisen, d. h. sein Besonderes einem Allgemeinen (Vernunft, Religion, Kultur) ein und 36 Ebd., S. 48, S. 61, S. 131, S. 183, S. 234, S. 251, S. 292–293. 37 A. Ritschl: Theologie und Metaphysik. Zur Verständigung und Abwehr, Bonn 1881, ²1887; vgl. R. Schäfer: Art. „Ritschl, Albrecht (1822–1889) / Ritschlsche Schule“, in: TRE, Bd. 29, Berlin 1998, S. 220–238, bes. S. 234–235.

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unterzuordnen, anstatt die Unableitbarkeit der Offenbarung im Alten und Neuen Testament auszulegen. (2) Die Dialektische Theologie verstärkte die schon gegen die liberale Theologie gerichtete Kritik am „Anthropozentrismus“ der Moderne, am Vorrang der „Persönlichkeit“ und an deren Stärkung im religiösen „Erlebnis“. Schon bevor K. Barth polemisierte, dass die Rede von Gott im Kulturchristentum in Wahrheit nur vom Menschen „in erhöhtem Ton“ rede, hatte jene Kritik ein Votum für die biblische und reformatorische „Theozentrik“ zur Folge, d. h. für die Priorität der Rede von Gott, ja für die endzeitlich intensive Erwartung des Einbrechens des absoluten, göttlichen Anspruchs in den kulturellen und religiösen Kosmos38. Von diesem Standort aus konnte man „Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende“ bilanzieren39. Diese Theozentrik bedeutete etwa das Desinteresse an der seit der Jahrhundertwende auch in Deutschland aufkommenden Religionspsychologie; es bedeutete vor allem den Abschied vom Gottesbild der philosophischen Tradition und ein neues, auch exegetisch motiviertes Interesse an der apokalyptischen Eschatologie. Charakteristisch dafür ist ein 1906 erschienenes Buch von Adolf Schlatter, des als Antidot gegen A. Harnack nach Berlin berufenen „positiven“ (und in vieler Hinsicht bedeutenden) Theologen. Es untersuchte die philosophische Arbeit seit Descartes, mit dem Ergebnis, dass die Theologie weder Herrin noch Magd der Philosophie mehr sein könne, sondern auch im Blick auf die Gottesidee selbständig denken müsse und „ihren Wahrheitsbesitz selbständig zu erwerben und zu verwerten hat“40. Schlatter führt Leibniz in seiner universalen Neugier und seiner Freude an der Individualität und an der Lebendigkeit der Natur als „Deutschen“ und zugleich als „Dokument unseres nationalen Unglücks“ ein, stellt die wichtigsten Aspekte der Monadologie dar und würdigt die „Theodicee“ darin, dass sie kein aus Beobachtung der Welt gewonnenes Urteil sei, sondern „eine Prolepse auf Grund der Gottesgewißheit“. Schlatter moniert jedoch, dass sie (anders als Genesis 1) ein nur relatives Urteil erreiche (so dann K. Barth), und dass ihr Verweis auf die Unendlichkeit und Vollkommenheit des Ganzen geringere „Trostkraft“ habe als die Theodizee selbst der Cartesianer. Zwar ziele Leibniz nicht bloß auf Unterwerfung, sondern auf Zufriedenheit als leidüberwiegendes Motiv; aber das sprenge das System – die Monas müsste „heraus aus ihrem Schneckenhaus“41. Aber Leibniz reduziere spinozistisch den Willen, den „radikalen Manneszorn und

38 Neben sog. Bibeltheologen wie M. Kähler und A. Schlatter steht hierfür die Greifswalder Schule, v. a. in Gestalt von E. Schaeder: Theozentrische Theologie, Bd. I, Gütersloh 1909, ³1925, Bd. II, Gütersloh 1914, ²1928. 39 W. Lütgert: Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende, 4 Bde., Gütersloh 1923– 1930, ND Hildesheim 1967. Vgl. W. Sparn: Art. „Lütgert, Wilhelm (1867–1838)“, in: TRE, Bd. 21, Berlin 1991, S. 497–500. 40 A. Schlatter: Die philosophische Arbeit seit Cartesius nach ihrem ethischen und religiösen Ertrag, Gütersloh 1906, 41959; Zit. S. 262. Vgl. W. Neuer: Art. „Schlatter, Adolf (1852– 1938)“, in: TRE, Bd. 30, Berlin 1999, S. 135–143. 41 Schlatter, S. 64–73; Zit. S. 65, S. 71, S. 73.

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Gotteszorn“, auf Vernunft bzw. die Religion auf Providenzglauben und er habe keine Eschatologie, die „den Willen gegen das Bestehende in Spannung setzt“42. (3) Mit seinem leibnizkritischen Voluntarismus stand Schlatter nicht allein. Wohl auch vor dem Hintergrund der ubiquitären Nietzsche-Debatte, sicherlich im Gefolge der sog. Luther-Renaissance, die mit dem Jubiläum 1883 einsetzte und auch im nationalen Interesse wichtig wurde43, lässt sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die Abkehr vom rational(istisch)en zugunsten eines voluntaristischen Gottesbildes beobachten44. In Bezug auf Leibniz markierte diesen Wechsel etwa der Kirchengeschichtler Karl Holl. In einem Aufsatz über „Die Kulturbedeutung der Reformation“ von 1911 betonte Holl die Nähe Leibniz’ zu Luther, etwa im Blick auf den (nicht als mechanisch bewirkt sondern als gedacht begriffenen) Weltzusammenhang, den Wert des persönlichen Lebens und das Geschichtsziel eines persönlich-sittlichen Geisterreichs, kurz: auf die „runde Bejahung der Welt“. Aber Holl stellte den bestimmtesten Gegensatz Leibnizens zu Luther darin fest, das jener das Irrationale im Gottesbegriff ins Rationale auflöse und den Willen des Menschen oder dessen dunkles Gefühl des Tragischen überspiele – anders als Luther, Böhme, Oetinger, Schelling. Böhmes Philosophie halte in ihrer Einstellung auf das Sittliche den Willen im Gottesbegriff und beim Menschen für wichtiger als das Denken: „Sie zeigte Kampf und Widerspruch, wo Leibniz nur gleitende Übergänge wahrgenommen hatte“. Die neuere Philosophie, so meinte Holl jedoch, habe die Abhängigkeit der Weltanschauung vom Willen wieder neu erkannt45. Die Stilisierung des Protestantismus als eine von dem grundstürzenden „Widerfahrnis“ oder „Erlebnis“ des göttlichen Willens ausgehenden „Gewissensreligion“ wurde im Kriegs- und Jubiläumsjahr 1917 theologisch unumkehrbar. Zu diesem Jubiläum hielt K. Holl den Vortrag „Was verstand Luther unter Religion?“, der Durchbruch der theologischen Lutherrenaissance. Dies (erkennbar moderne) Interesse v. a. am jungen Luther wurde von jungen „positiven“, sich biblisch und reformatorisch verstehenden Theologen unterstützt („Jungluthertum“, seit 1923 „Zeitschrift für Systematische Theologie“). Ebenfalls 1917 erschien ein epochemachendes Werk der Religionswissenschaft, in dem der liberale Systematische Theologe Rudolf Otto im Rückgriff auf J. F. Fries’ Annahme eines apriorischen, nur erlebbaren Wahrheitsgefühls das ebenso apriorische religiöse Gefühl als das Erleben des numinosen „Heiligen“ beschrieb und dieses, hier unter Rück-

42 Ebd., S. 73; Kritik an der Preisgabe des Willens auch S. 66–67, S. 68–69, S. 71. 43 Vgl. H. Assel: Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance, Göttingen 1994. 44 Vgl. I. Lönning: Art. „Gott: VIII. Neuzeit“, in: TRE , Bd. 13, Berlin 1984, S. 668–691, bes. S. 688–689. 45 K. Holl: „Die Kulturbedeutung der Reformation (1911)“, in: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, I: Luther, Tübingen 1921, 71948, S. 468–543; Zit. S. 530–531. Vgl. Assel, S. 59–157.

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griff auf Luther, als mysterium tremendum und mysterium fascinans bestimmte. Dieses Buch erzielte in den folgenden Jahren mehr als ein Dutzend Auflagen46. Die Ablösung der protestantischen Theologie vom Kulturprotestantismus war ein Prozess, der stark von der kulturellen Umwälzung im Gefolge der traumatischen Erfahrungen im Weltkrieg, des Zusammenbruchs des Deutschen Reiches und des Endes der protestantischen Staatskirchen geprägt war47. Nicht zufällig wurde Oswald Spenglers Kulturmorphologie Der Untergang des Abendlandes von 1918 in ihrer pointiert agonalen Perspektive und ihrer aktuellen Dekadenzdiagnose auch von Theologen geradezu bejubelt48. Für das entsprechende theologische Pathos sei der Erlanger Theologe Werner Elert angeführt, der früher über die voluntaristische Mystik Jakob Böhmes gearbeitet hatte und nun eine Analyse der neueren Geistesgeschichte publizierte, die auf die Forderung eines kämpferisch „diastatischen“ Verhältnisses des Christen zur gegenwärtigen Kultur hinauslief49. In seiner kurzen, bewusst lutherischen Dogmatik von 1925 will Elert dann aussprechen „was das Evangelium aus unserer Seele gemacht hat“. Er geht aus vom Kampf des Freiheitswillens der lebendigen Seele mit dem lebendigen Gott im Erlebnis des hoheitlichen Schicksals. Das hier zur gegenseitigen Feindschaft aporetisch verschärfte „metaphysische Abstandsgefühl“ des Menschen zu Gott wird erst durch dessen versöhnende Offenbarung in Christus überwunden. Das begründet die „optimistische Gewissheit, dass Gott die Schicksalsgewalten zu unserm Besten verwendet“ und dass wir „im Rahmen der Schöpfungsordnung zur Freiheit berufen“ sind. Elert stellt den dramatischen Wechsel vom tragischen zum neuen, eschatologischen Schicksalserlebnis unter den Titel „Optimismus“, ohne Leibniz’ Theodizee zu erwähnen50.

46 R. Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917, München 351963. Vgl. C. H. Ratschow: Art. „Otto, Rudolf (1869– 1937)“, in: TRE, Bd. 25, Berlin 1995, S. 559–563. 47 Vgl. Fischer, S. 9–14. 48 O. Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. I, Wien 1918; Bd. II, München 1922. Zur Kritik vgl. H. Scholz: Zum „Untergang des Abendlandes“, Berlin 1920, ²1921; E. Troeltsch: „Der Untergang des Abendlandes (1919/1922)“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II, Tübingen 1925, S. 677–691. 49 W. Elert: Die voluntaristische Mystik Jakob Böhmes. Eine psychologische Studie, Berlin 1913, ND Aalen 1973; ders.: Dogma, Ethos, Pathos. Dreierlei Christentum, Leipzig 1920; ders.: Der Kampf um das Christentum. Geschichte der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel, München 1921. 50 W. Elert: Die Lehre des Luthertums im Abriss, München 1924, S. 54; Zit. S. VII, S. 22, S. 55, S. 57. Der Auflage ²1926 (³1978) ist ein Anhang beigegeben, der u. a. den Gegensatz von tragischer und eschatologischer Ethik im Gegenüber v. a. zu Kant dem ihm folgenden evolutionistischen Optimismus der Idealisten von Fichte und Hegel bis zu W. Dilthey und R. Eucken darstellt; trotz einer kurzen Erwähnung Spinozas kommt Leibniz nicht vor, S. 120–136. Zur Kritik seitens der Dialektischen Theologie (F. Gogarten) und der Junglutheraner (E. Hirsch) S. 136–158. Vgl. N. Slenczka: Selbstkonstitution und Gotteserfahrung. Werner Elerts Deutung der neuzeitlichen Subjektivität, Göttingen 1999, bes. S. 88–103.

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III.2. Religionsphilosophische Marginalisierung Leibniz’ Man könnte, wie bei Elert, auch in den protestantischen Religionsphilosophien dieser Zeit von einer Anonymisierung sprechen, wenn sie, ohne Leibniz’ Theodizee zu erwähnen, gegen den rationalistischen Gottesbegriff des weltanschaulichen Optimismus wettern. Das schloss nicht jeden direkten Bezug aus, gab diesem aber eine eigene Wendung. (1) Rudolf Hermann, ein wichtiger Vertreter der Lutherrenaissance, hielt ab WS 1919/1920 in regelmäßigem Turnus eine religionsphilosophische Vorlesung (bis in die 1950er Jahre), in der er den Kritizismus I. Kants51 und die Religionstheorie F. Schleiermachers in eine neuartige Theorie des religiösen Apriori umformte. Anders als E. Troeltsch oder R. Otto setzt er nicht auf religionspsychologische Plausibilisierung, sondern erklärt strikt wissenschaftstheoretisch, wie religiöse Urteile in ihrer möglichen Geltung a priori ausgewiesen werden können. Er tritt ins Gespräch mit Ernst Cassirers Theorie der symbolischen Formen ein; die Denkpsychologie von Richard Hönigswald erklärt ihm, Gegenüber zu Leibniz’ Idee der Universalcharakteristik bzw. Mathematisierung der Wahrheitsgeltung, die präsenzzeitliche und (normal-)sprachliche Verfassung leibhafter Subjekte gegenständlichen Wissens. In seiner Analyse religiöser Kommunikation bezieht sich Hermann mittelbar auf Leibniz’ Monadenkonzept; unmittelbar auf die reformatorische Sprachtheologie, die aus dem Glauben an den Zuspruch Gottes in der Zeit resultiert52. Der andere hier zu nennende Name ist der von Heinrich Scholz, Schüler A. Harnacks und des Neukantianers Alois Riehl, seit 1917 als Theologe, seit 1919 als Philosoph lehrend. Er publizierte 1921 eine Religionsphilosophie, die ähnlich wie Hermann die Objektivität des religiös Geglaubten zu erweisen suchte, dafür aber einen phänomenologischen Weg von der religiösen Praxis und ihren Lebensformen zur irreduziblen Eigenart und möglichen Wahrheit von Religion wählte. Im selben Jahr entdeckte er jedoch die Principia mathematica von A. N. Whitehead und B. Russell; in der Folge dieser einschneidenden Erfahrung stellte Scholz seine Religionsphilosophie auf axiomatische Grundlagen um53. Auch wenn sich 51 Die erkenntnis-(metaphysik-)kritische Verbindung von Kant und Luther wurde schon in der Ritschl’schen Schule versucht, zuletzt J. Kaftan: Philosophie des Protestantismus, Tübingen 1917, bes. S. 28 ff. Vgl. H. Scholz: „Zur Philosophie des Protestantismus“, in: Kantstudien 25 (1920), S. 24–49; ders.: „Über das Verhältnis des Willens zur Weltanschauung“, in: Festgabe für Julius Kaftan, Tübingen 1920, S. 319–342. 52 R. Hermann: Religionsphilosophie, in: Ders.: Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd. V, hrsg. von H. Assel, Göttingen 1995; vgl. bes. die Einleitung, ebd., S. 9–37, sowie den § 8 „Wille, Wort und Wirklichkeit“, wo die These „Ich bin meine Zeit“ ausgearbeitet wird (S. 137–145). Vgl. Assel, S. 305–468. 53 H. Scholz: Die Religionsphilosophie des Als-ob. Eine Nachprüfung Kants und des idealistischen Positivismus, Leipzig 1921; ders.: Religionsphilosophie, Berlin 1921 (474 S.), neuverfasst ²1922 (332 S.), ND 1974. Vgl. E. Stock: Art. „Scholz, Heinrich (1884–1956)“, in: TRE, Bd. 30, S. 375–378; A. L. Molendijk: Aus dem Dunklen ins Helle. Wissenschaft und Theologie im Denken von Heinrich Scholz, Amsterdam – Atlanta 1991, S. 99–128; G. Pfleiderer: Theologie als Wirklichkeitswissenschaft, Tübingen 1992, S. 140–192.

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Scholz nun ganz der modernen mathematischen Logik zuwandte, begriff er diese doch, nach seiner Meinung mit Leibniz, als Vollendung der abendländischen Metaphysik, und bemühte sich im Bezug auf Aristoteles und Leibniz bekanntlich um die Neubegründung der Metaphysik als einer strengen Wissenschaft. Zugleich bemühte er sich im Gespräch mit dem befreundeten K. Barth um die Klärung des Wissenschaftscharakters der Theologie54. Aber auch hier spielt Leibniz’ Theodizee keine Rolle; mit dem „Leibnizischen Menschen“ meint Scholz immerhin, dass der Logiker und der christliche Theologe auf singuläre Weise durch die beiden Behauptungen verbunden sind, dass echte logische Sätze in jeder möglichen Welt gelten und dass sie auch von einem allmächtigen göttlichen Willen nicht umgestoßen werden können55. In dem schon berührten Leibniz-Aufsatz von 1942 geht Scholz auch auf Leibniz’ Theodizee ein. Nachdem er, ausdrücklich über Harnack hinausgehend, Leibniz als Herausforderung zu einer mathematisierten Grundlagenforschung eingeführt und ihn im Gegenüber zu Descartes und Kant, aber auch zu Chr. Wolff als „konservativsten Revolutionär“ der abendländischen Geistesgeschichte profiliert hat, charakterisiert er Leibniz’ Metaphysik als fundamentale „Erhellung der Gesamtheit der möglichen Welten“, die erklärt, was unsere Welt mit dieser Gesamtheit verbindet und was sie in ihr auszeichnet: Sie ist die beste der möglichen Welten, und zwar in einem streng mathematischen, auf das Integralprinzip der kleinsten Wirkung bezogenen Sinn, als die „durchsichtigste Welt für unsern Verstand“. Dies sei der tiefe Sinn des „Cum Deus calculat, fit mundus“, der eigentliche Gehalt des Leibnizischen Optimismus; alles Übrige sei „Konzession an das Publikum“. Für seine Interpretation, die übrigens die Neuschöpfungen des Leibniz’schen Programms bis zu G. Frege nicht verkleinert, beruft sich Scholz auf J. W. Goethe und auf M. Planck, der sich auch direkt auf „Leibniz’ Theodizee“ bezogen hatte56. (2) Eine weitgehende Anonymisierung Leibniz’ muss man einigen Religionsphilosophen attestieren, die das Problem oder sogar den Begriff der Theodizee gebrauchen. Das betrifft etwa Friedrich Brunstäd, einem im Geist Wilhelm Diltheys gebildeten, seit 1917 in Erlangen lehrenden Philosophen. Seine Idee der Religion von 1922 ist einem (etwas unklar) kantianischen Idealismus verpflichtet, ist aber auch von der Lutherrenaissance beeinflusst. Der Abschnitt über die „Theodizee“ lehnt die metaphysische Problemstellung ab, weil sie den Sinn des religiösen „Ich-Erlebnisses“ nicht erfasse: Der leidvolle „Wertwiderstreit“ ist gerade die Grundlage religiöser Erhebung und kultureller Arbeit. Die Lösung des Problems

54 H. Scholz: „Wie ist eine evangelische Theologie als Wissenschaft möglich?“, in: Zwischen den Zeiten 9 (1931), S. 8–53; Barth: Kirchliche Dogmatik, I/1, § 1 (S. 1–23, bes. S. 7, S. 17). Vgl. Molendijk, S. 129–230. 55 H. Scholz: „Das theologische Element im Beruf des logistischen Logikers (1935)“, in: H. Hermes u. a. (Hrsg.): Mathesis universalis, S. 324–340, hier S. 336–337. 56 Scholz: „Leibniz (1942)“, S. 136–140; Zit. S. 137, S. 139. Das Register des Sammelbandes führt das Stichwort „Theodizee“ nicht auf, nennt lediglich einmal „Optimismus, Leibnizischer“ (S. 139).

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ist nicht die Flucht in den „saueren Trost“, die Welt sei „zwar nicht gut, aber die beste der möglichen“, sondern die Aufhebung der Problemstellung. Leibniz (der ungenannt bleibt) findet sich hier nicht einmal in der Gesellschaft Hiobs oder der von Pantheisten, sondern in der des deistischen Optimismus, der nicht wahrhaben will, dass es „unüberwundene Selbstigkeit“ ist, was die Theodizee erst zum (irreligiösen) Problem macht. Aber: das religiöse Erlebnis ist die Theodizee. Es beruft dazu, das Dasein als Ringen und Kämpfen heroisch zu bejahen, das „dunkle Geheimnis des Weltleides und Weltunwertes“ positiv zu fassen und „des unbedingt-synthetischen Persönlichen, der Liebe“ inne zu werden. Brunstäds Argument entfernt sich von Leibniz, wo es nicht die der Welterfahrung überlegene Gewissheit Gottes ist, sondern die Welterfahrung, die „zur rückhaltlosen Hingabe an die allmächtige Liebe Gottes in aller Wirklichkeit, zum Vorsehungsglauben“ führen soll. Noch weiter entfernt sich das „Erlebnis der freien Allgewalt Gottes“, das die „Vernichtung des sich absolut dünkenden Endlichen“ und sogar die „freie Aneignung des Liebeswillens Gottes […] durchsetzen soll“57. Dieser voluntaristische Zug verstärkte sich nochmals mit dem Übergang Brunstäds in die Theologische Fakultät Rostock 192558. Auch in der Religionsphilosophie evangelischer[!] Theologie, die der Mitstreiter Barths, Emil Brunner, im Handbuch der Philosophie 1927 publizierte, wird Leibniz’ Theodizee nicht erwähnt, nicht einmal das Theodizeeproblem. Der philosophische Hintergrund ist ein an Kant, Kierkegaard und Luther orientierter strenger Kritizismus (er war u. a. Schüler J. Kaftans), der dem spekulativen Idealismus, aber auch der realistischen Metaphysik jede Erkenntnis des wirklichen Gottes abspricht („Religionsphilosophie“ ist daher ein uneigentlicher Titel), der nur die Erkenntnis des Irrationalen als Grenzbegriff einschließt: „Göttliche Offenbarung können wir weder erfahren noch verstehen, sondern – eben nur glauben“. Theologisch steht im Hintergrund, dass das „Machtwort“, dem der Glaube gehorcht, erfordert, Offenbarung und Vernunft gehörig auseinanderzuhalten, und zwar nicht am Maß der Unterscheidung von rational und irrational, auch wenn das Irrationale mit dem Offenbarungsparadox weniger zu tun hat als der Logos der Vernunft59. Überraschenderweise rekurriert Brunner anlässlich der Erklärung des Wahrheitsmomentes des modernen, relativistischen Historismus auf den Leibniz’schen 57 F. Brunstäd: Die Idee der Religion. Prinzipien der Religionsphilosophie, Halle 1922, S. 256– 264; Zit. S. 261, S. 258, S. 264. 58 „Luthers reformatorische Befreiung des Evangeliums bedeutet auch die Absage an den Gott der Metaphysik […] Die Hoheit Gottes ist nicht das überweltliche transzendente Sein des metaphysisch Absoluten, das der Mensch betrachtet, in das er sich versenken mag, sondern die überwältigende, verzehrende Majestät des heiligen Willens, der uns zu Gehorsam und Dienst fordert und unter sein Gericht stellt, die unergründliche Freiheit lebendigen persönlichen Tuns“. Ders.: Reformation und Idealismus, München 1925, S. 27–28. 59 E. Brunner: Religionsphilosophie evangelischer Theologie, München 1927, ²1948 (im Text selbst steht „protestantischer“), S. 4–5., S. 28–31, S. 35; Zit. S. 38, Fortsetzung: „Glaube ist, im Unterschied zur naturhaften Rezeptivität und zur ideellen Spontaneität die Form der persönlichen Existenzempfängnis. Diese aber ist zugleich persönlichste Entscheidung“. Ebd.

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Individualitätsbegriff, den er gegen eine der beiden Hauptursachen des Historismus, den „romantischen Individualismus“ aufbietet. Während dieser das eigentlich Geschichtliche nicht erreicht, weil er das Individuelle zwar Geheimnis nennt, aber als natürliche Gegebenheit versteht, sehe Leibniz Individualität im Schöpfungsakt Gottes begründet, schließe also Ewigkeit ein. Doch sei sie „metaphysisch, also nicht von der Anrede Gottes und der auf sie antwortenden Selbstbestimmung des Menschen her gedacht“, also wiederum ein (hier: geistig) Gegebenes, und sie wird ebenso erkannt als Konkretion eines Allgemeinen. Geschichtssubjekt wird der Mensch aber erst als gerufene und sich entscheidende „Tathandlung“(!), und diese Entscheidung bleibt auch dem Autobiographen ein Geheimnis. „Individualität wird vom Schöpfer gemacht, sie ist Etwas. Persönlichkeit wird vom Schöpfer angesprochen als Du“60 – man könnte hinzufügen: Sie ist Jemand. Man kann fragen, ob Brunners Annahme einer „Urentscheidung“ oder „Tat-Einheit“ dem Leibniz’schen Individualitätskonzept gerecht wird; er bezieht sich, obwohl er E. Troeltschs Historismus-Buch von 1922 kennt, nicht auf den Begriff der Monade. Brunner trennte sich seit 1929 von der v. a. durch K. Barth betriebenen christologischen Fortentwicklung der Dialektischen Theologie, um auch die „andere Aufgabe der Theologie“ wahrzunehmen, d. h. die anthropologische Identifikation dessen, auf das sich das göttliche Offenbarungswort bezieht61. Der „Personalismus der Gottesbeziehung“ bleibt jedoch so axiomatisch, dass auch die Neufassung des Begriffs der Providenz in Brunners Dogmatik (1946–1960) nicht zur Revision der Verwerfung der Leibniz’schen Theodizee führt. Denn „Leibnitzens ‚Theodizee‘“ stehe am Ende jener seit Irenäus, Origenes und Augustin vorgeschlagenen ‚Lösungen‘, die das Übel in der Welt seiner Problematik, der „Spannung […] zwischen dem Willen eines Gottes der Gerechtigkeit und Liebe und der Weltwirklichkeit“ entkleiden und es so oder so wegerklären wollen. Für das Theodizeeproblem gibt es aber keine theoretische, sondern nur eine existentiellpraktische Lösung: die „reale Erlösung“; sie muss das Übel nicht verharmlosen, weil in ihr der Mensch als der, durch den selber der Riss in der Welt hindurchgeht, gerichtet und gerechtfertigt wird. Die Frage Hiobs wird für den glaubenden Menschen gegenstandslos, sein Leiden wird zum „positiven Prinzip“; für den „natürlichen Menschen“, der sie noch in der Richter-Position stellt, muss sie an den rechten Ort gerückt werden: das Evangelium vom Kreuz62.

60 Ebd., S. 57–61; Zit. S. 60–61. 61 Vgl. H. Beintker: Art. „Brunner, Emil (1889–1966)“, in: TRE, Bd. 7, Berlin 1981, S. 236– 242, bes. S. 239–240; Fischer, S. 97–98, S. 103–104. 62 E. Brunner: Dogmatik, II, Zürich 1950, S. 208–221; Zit. S. 213, S. 219. In der Dogmatik, III, Zürich 1960, erwähnt Brunner Leibniz (sic!) als Ökumeniker, S. 108.

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III.3. Theismuskritische Distanzierung Neben der Ablehnung der Theodizee Leibniz’, die sich der Dialektischen Theologie oder der Lutherrenaissance verdankt, gab es eine dritten Strang der Distanzierung, der sich in einer entschieden existenziellen Korrelation von (Religions-)Philosophie und Theologie realisierte, in der viele Motive in dialektischen Synthesen aufgegriffen und umgeformt wurden, um sie jenseits supranaturalistischer oder naturalistischer, subjektivistischer oder objektivistischer Selbstdestruktionen zu platzieren. Die treibende Kraft dieser Entwicklung war Paul Tillich, dessen Programmatik nicht zuletzt die Zielsetzung E. Troeltschs weiterentwickelte63. Tillichs Theologie der Kultur deutete die so krisenhafte wie produktive Gegenwart in „gläubigem Realismus“ als Kairos, um das soziopolitische Handeln im (freilich: „theonomen“) „Pathos für Profanität“ zu orientieren64. Eine positive Referenz auf Leibniz’ Theodizee ist bei Tillich, der seinen akademischen Weg mit zwei Arbeiten über F. W. J. Schelling antrat, kaum zu erwarten. Er verband einen bibel- und rechtfertigungstheologischen Ansatz denn auch mit einem klar rationalismuskritischen Gottesbegriff und lehnte den gängigen Theismus eines höchsten personalen Wesens ganz ab zugunsten der vielfältigen, natural und kulturell codierten symbolischen Rede über das, „was uns unbedingt angeht“. Das Einzige, was direkt über Gott ausgesagt werden könne, ist daher, dass er das „Sein-Selbst“ ist, der Seinsgrund, die „Macht des Seins“, an der die Welt essentiell partizipiert, obwohl sie unter den Bedingungen der Existenz davon entfremdet ist. Die Überwindung dieser Entfremdung durch das Sein-Selbst ist ein „positives Paradox“, das Ineinander von göttlicher Offenbarung und menschlicher Religion, in der Folge etwa auch von Rechtfertigung und Zweifel65. Tillich hielt daher, im Unterschied zu K. Barth, auch theologisch am Begriff der Religion fest. Die Religionsphilosophie von 1925 bestimmt Religion entschieden nicht als Funktion des menschlichen Geistes neben anderen Funktionen, sondern als Intention auf das Unbedingte in allen. Ihr entspricht eine „theonome“ Einheit von Religion und Kultur, d. h. von unbedingtem Sinn-Gehalt und bedingten Sinn-Formen; eine Einheit, in der alles Seiende Symbol für das Unbedingte werden kann. „Gott“ symbolisiert die Realität des Unbedingten; der religiöse Akt setzt Gott als das Unbedingte und hebt diese Setzung zugleich auf. Der „echte Theismus“, wie Tillich

63 P. Tillich: „Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919)“, in: Ders.: Main Works / Hauptwerke, Bd. 2, Berlin – New York 1990, S. 69–85. Vgl. M. Palmer: „Paul Tillichs Theologie der Kultur“, in: Ebd., S. 33–67; Vgl. G. Wenz: Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München 1979, S. 111–161; J. Clayton: Art. „Tillich, Paul (1886– 1965)“, in: TRE, Bd. 33, Berlin 2002, S. 553–565; Fischer, S. 121–128. 64 P. Tillich: „Kairos: Ideen zur Geisteslage der Gegenwart (1926)“, in: Ders.: Main Works / Hauptwerke, Bd. 4, Berlin – New York 1987, S. 171–182; ders.: „Gläubiger Realismus (1927)“, in: Ebd., S. 183–192; ders.: „Über gläubigen Realismus (1928)“, in: Ebd., S. 193– 228. 65 Ders.: „Kritisches und positives Paradox. Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten (1923)“, in: Ebd., S. 91–116.

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gelegentlich sagen kann, enthält einen „Abgrund des Atheismus“66. Die „ungläubige Autonomie“ löst Gott in die Welt hinein auf, die „gläubige Heteronomie“ macht Gott zu einer eigenen Welt neben oder über der Welt; nur die „Theonomie“ durchschaut den „innerlich dialektischen Charakter des Gottesbegriffes“ und erkennt nicht nur den Grund, sondern auch den Abgrund in Gott, das „GöttlichSchöpferische, in dem auch das Dämonische enthalten ist“, das sich zur Welt als Formsynthesis negativ verhält. Tillich ist daher überzeugt, dass sich „in der Sphäre des Heiligen selbst […] der Gegensatz von Göttlich und Dämonisch“ erhebt. Das soll nicht religiös-metaphysischen Dualismus unter-stellen, meint aber das „zweispältig“ gewordene Gottesbewusstsein, den die Religionsgeschichte strukturierenden Kampf des sinntragenden Göttlichen gegen das sinnwidrige, formzerbrechende, dämonisch Göttliche67. Die These der Polarität von Göttlichem und Dämonischem im Seinsgrund, eines irrationalen Willens und einer dämonischen Tiefe im göttlichen Selbst, hat Tillich mehrfach bekräftigt, nicht zuletzt um die entdämonisierende Arbeit z. B. des trinitarischen und christologischen Dogmas zu würdigen68. Mit seiner religionsphilosophischen Interpretation der Zweideutigkeit nicht nur der Kultur, sondern alles Seienden und der Abgründigkeit des göttlichen Seinsgrundes entwickelte Tillich die Philosophie des späten Schelling fort, mit seiner Interpretation der Dialektik des Begriffs des Heiligen die Religionsphänomenologie R. Ottos – eine leibnizianische Theodizee ist hier ganz ausgeschlossen. Darauf deutet auch Tillichs Selbstverortung im „ontologischen Typus“ der Religionsphilosophie, d. h. in der augustinisch-franziskanischen Tradition, die eher theonom denkt, im Gegenüber zum „kosmologischen Typus“ in der thomistischen Tradition, die heteronom, d. h. zur Beanspruchung institutioneller Autorität tendiert69. Zur ontologischen, die essentielle Partizipation des menschlichen Geistes am göttlichen Geist (trotz qualitativer Differenz) annehmenden Philosophie zählt Tillich auch Plato, den Kusaner und den Deutschen Idealismus, nicht aber Leibniz. Man könnte in der Bemerkung, dass der Deutsche Idealismus zurecht ein Prius von Subjekt und Objekt restitutierte, aber darin zu weit gegangen sei, aus dem Absoluten alle kontingenten Gehalte abzuleiten70, auch eine Kritik an Leibniz’ Rationalismus vermuten. 66 Ders.: „Religionsphilosophie“, in: M. Dessoir (Hrsg.): Lehrbuch der Philosophie, Bd. 2, Berlin 1925, S. 769–835; jetzt in: Tillich: Main Works / Hauptwerke, Bd. 4, S. 117–170; Zit. S. 145. Vgl. J. Clayton: „Einführung in Tillichs Schriften zur Religionsphilosophie“, in: Ebd., S. 29–51. 67 Ebd., S. 146, S. 148–150. 68 P. Tillich: „Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte (1926)“, in: Ders.: Main Works / Hauptwerke, Bd. 5, Berlin – New York 1988, S. 99–123; ders.: „Philosophie und Schicksal (1929)“, in: Ders.: Main Works / Hauptwerke, Bd. 1, Berlin – New York 1989, S. 307–341. 69 Ders.: „The Two Types of Philosophy of Religion (1946)“, in: Ders.: Main Works / Hauptwerke, Bd. 4, S. 289–300. Diese Sicht hat Tillich ansatzweise schon früher entwickelt, allerdings unter missverständlichem Titel, vgl. ders.: „Die Überwindung des Religionsbegriffes in der Religionsphilosophie (1922)“, in: Ebd., S. 73–91. 70 Ders.: „The Two Types“, S. 295.

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Das legt auch Tillichs Metaphysik der Erkenntnis nahe, die sich in die von Duns Scotus über M. Luther, J. Böhme und F. Chr. Oetinger zum späten F. W. J. Schelling reichende Tradition stellt; A. Schopenhauer, S. Kierkegaard, F. Nietzsche, dann auch M. Heidegger stehen für die radikale Fraglichkeit, in welche das seiner Gegenwärtigkeit bewusste philosophische Denken nötigt. Tillich setzt sich ab vom Hauptstrom, der seit Demokrit und Plato über Descartes und Spinoza bis zu Goethe und den zeitgenössischen Neukantianern die Wahrheitserkenntnis so oder so an der „ewigen Form des Seienden“ orientiert, also abgetrennt habe vom individuell und geschichtlich existierenden Dasein und seiner je augenblicklichen Zeit. Dagegen sieht Tillich Wahrheitserkenntnis abhängig auch von „Entscheidung“ und „Schicksal“ – ja, die Wahrheit selbst entfaltet ihre innere Unendlichkeit dynamisch und realisiert sie in zeitlichen Gestalten – und schließt so auch existentielle, irrationale, schicksalshafte Momente ein71. Man kann die erkenntnistheoretische Position eines „gläubigen Relativismus“, der auf ein grundsätzlich offenes, den Gegensatz von Absolutem und Relativem in sich aufhebenden System geht, und die metaphysische Konzeption Tillichs geradezu als Alternative zu Leibniz’ Philosophie und ihrer Theodizee ansehen, auch wenn Tillich m. W. das nicht so ausgedrückt hat. Konträr sind der dort sapiential stabile, hier theogonisch affizierte Gottesbegriff, konträr sind auch die Bestimmungen des Zusammenhangs von Individualität und Partizipation am Ganzen: die göttlich prästabilierte Harmonie dort, die Dynamik des göttlichen Lebens hier. Der Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit Leibniz ist umso bedauerlicher, als Tillich mit Leibniz gerade die Fragen nach „Individuation und Partizipation“, „Dynamik und Form“ oder „Freiheit und Schicksal“ gemeinsam hat; als „ontologische Elemente“ der Grundstruktur von selbst und Welt hat Tillich sie auch in seiner Systematischen Theologie bearbeitet72. Hier wird nun auch Leibniz erwähnt, und zwar positiv: zusammen mit Aristoteles wegen der These der Individualität alles aktuell Seienden, mit Nikolaus Cusanus wegen der These der (durch Endlichkeit begrenzten) Gegenwärtigkeit des Universums in jedem Individuum. Doch billigt Tillich dem Seienden nur „mikrokosmische Qualitäten“ zu – „nur der Mensch ist ein Mikrokosmos“. Denn nur in ihm ist die Welt „direkt und in einer bewußten Begegnung“ gegenwärtig, d. h. er „partizipiert am Universum durch die rationale Struktur des Geistes und der Wirklichkeit“. Noch in diesem Rekurs auf Paracelsus, Böhme und Schelling, d. h. auf die „gegenseitige[!] Partizipation von Mensch und Natur“ ist der Abstand vom „kosmologischen Typus“ des Denkens deutlich: Nur der Mensch sei das Geschöpf, in dem die ontologischen Elemente vollzählig vorhanden sind. Daher will Tillich nicht von übermenschlichen Wesen im ontologischen Sinne sprechen, wie 71 Ders.: „Kairos und Logos. Eine Untersuchung zur Metaphysik der Erkenntnis (1926)“, in: Ders.: Main Works / Hauptwerke, Bd. 1, S. 265–305, bes. S. 269 ff.; ders.: Art. „Philosophie I.: Begriff und Wesen“, in: RGG², Bd. 4, Sp. 1198–1204, jetzt in: Ders.: Main Works / Hauptwerke, Bd. 1, S. 341–348; ders.: „Participation and Knowledge. Problems of an Ontology of Cognition (1955)“, in: Ebd., S. 382–389. Zur Bedeutung der Spätphilosophie Schellings auch für die Theologie Tillichs vgl. Wenz, S. 58–110. 72 P. Tillich: Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart 1955 (engl. 1951), S. 199–218.

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der Neuplatonismus und Leibniz mit seinen „höheren Monaden“ das tun73. Seine anthropologische Fokussierung auch der Ontologie ist wohl der Grund, weshalb er auf das Konzept der Monade selber überhaupt nicht eingeht. Die theologische Antwort auf die Frage nach Gott, die sich im Rahmen der Methode der Korrelation aus der philosophischen Analyse der menschlichen Endlichkeit ergibt, stellt Gott als Idee und, in der Konstellation „Gott und Welt“, Gott als Sein, als der Lebendige, als der (ursprünglich, erhaltend, lenkend) Schaffende und als in Beziehung dar. Unter dem lenkenden Schaffen Gottes versteht Tillich das auf die Zukunft bezogene, auf das Schöpfungstelos der „aktuelle(n) Erfüllung dessen, was in Gott jenseits von Potentialität und Aktualität ist“. Er gibt dem traditionellen Begriff der „Vorsehung“ angesichts des gegenwärtigen „Kampf(es) mit der Dunkelheit des Schicksals“ eine scharfe Wendung gegen den neuzeitlichen rationalen Optimismus: Es ist der „Mut des Glaubens, daß keine Situation die Erfüllung seines letzten Schicksals vereiteln“ kann74. Dieses „Dennoch“ besagt dreierlei, erstens: „Der paradoxe Charakter des Glaubens an die Vorsehung ist die Antwort auf die Theodizeefrage. […] Das physische Über ist die natürliche Folge kreatürlicher Endlichkeit. Das moralische Übel ist die tragische Folge kreatürlicher Freiheit. […] Die Schöpfung endlicher Freiheit ist das Wagnis, das das göttliche Schaffen auf sich nimmt“.

Zweitens: Die traditionelle Prädestinationslehre, in der erfüllte und nichterfüllte Einzelne getrennt werden, ist existentiell unmöglich, jede individuelle Erfüllung partizipiert vielmehr an universaler Erfüllung; die Theodizeefrage wird beantwortet in der „schöpferische(n) Einheit von Individualisation und Partizipation in der Tiefe des göttlichen Lebens“, im „Mysterium des schöpferischen Grundes“. Drittens: Auch wenn Gott als Sein-Selbst das Nichtsein absolut transzendiert, umschließt er als schöpferisches Leben auch das Endliche und mit ihm das Nichtsein; daher ist die letzte, vom mystischen und christologischen Denken unterstützte Antwort auf die Theodizeefrage, dass Gott, der Grund des Seines und des Sinnes, „an den negativen Zügen kreatürlicher Existenz partizipiert“75. Leibniz wird in diesem Abschnitt nicht erwähnt.

73 Ebd., S. 206–208, S. 299–300; Zit. S. 207, S. 208. Tillich schließt sich hier Thomas von Aquin an, dem zufolge die Engel die Polarität von Individualisation und Partizipation transzendieren, d. h. nichts Seiendes sind, sondern Seinsmächte symbolisieren, ebd., S. 300. – Mit Aristoteles wird Leibniz auch noch erwähnt als Beispiel dafür, korrelativ „von oben“ (metaphysische Prinzipien) und „von unten“ (empirische Daten) ein vollständiges System der Wirklichkeit darzustellen – ein allzu unbescheidener Versuch, ebd., S. 27, S. 72. 74 Ebd., S. 303–332; Zit. S. 304, S. 306, S. 307. 75 Ebd., S. 309–311 (5. Die Theodizee); Zit. S. 309, S. 310, S. 311.

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IV. LEIBNIZ’ THEODIZEE IN DER GENEALOGIE DES MODERNEN PROTESTANTISMUS Mit der Darstellung der nicht- oder gar antileibnizischen Theodizee Tillichs habe ich meinen autobiographischen Ausgangspunkt wieder erreicht: Ich fand sie seinerzeit plausibel. Tillich, der in Deutschland zwar erst in den 1950er Jahren, nun nicht nur als Außenseiter sondern als orientierende Zeitansage, breit rezipiert wurde, schien vielen einen Weg zu bieten aus dem Wahlzwang zwischen der „Wort-Gottes-Theologie“ K. Barths, in der die Theodizeefrage als Äußerung einer natürlichen Theologie gar nicht aufkommen durfte, und der „hermeneutischen Theologie“ im Gefolge R. Bultmanns, in der zwar ein kulturell-religiöses „Vorverständnis“ als „Anknüpfungspunkt“ der christlichen Botschaft unterstellt wurde, die das Verhältnis beider aber unter den Gegensatz von Sünde und Glaube stellte. Tillichs Korrelationsmethode schien uns so allgemein-vernünftig wie christlichfromm zu sein76. So hatte ich fast keinen Anlass, Leibniz zu lesen. Fast – denn die Dissoziation der Dialektischen Theologie in einen kerygmatischen und einen hermeneutischen (von der jeweils anderen Seite her: offenbarungspositivistischen und anthropologischen) Flügel hatte erneut die Frage nach der Kontinuität oder Diskontinuität der Theologie nicht nur zu ihren reformatorischen Anfängen aufgeworfen, sondern auch zu deren neuzeitlichen Umformungen, gegen die die junge Generation 1918 so einhellig protestiert hatte. Auch Leibniz, unstrittig Repräsentant einer „frommen Aufklärung“, musste in der Genealogie der protestantisch-theologisch Gegenwart integriert werden.

IV.1. „Die besondere Größe von Leibniz“: Karl Barth Man sollte erwarten, dass das historische Gedächtnis der Wort-Gottes-Theologie Leibniz’ Theodizee als natürlich-theologischen Abweg von reformatorischen Standards beklagt und marginalisiert hätte. Die negative dogmatische Wertung hatte aber nicht immer diese Folge, sondern konnte auch zur Kritik bereits der theologischen Vorgeschichte Leibnizens führen und Leibniz als Ende einer Verfallsgeschichte kennzeichnen; das lässt sich bei Hans Emil Weber und Karl Barth beobachten. Letzterer verknüpfte mit dem dogmatischen Verdikt gegen die Theodizee überdies eine bestimmte, erstaunlich positive Würdigung. Weber, wie Tillich ein Schüler des Bibeltheologen M. Kähler, verknüpfte dessen Ansatz ebenso mit der uneingeschränkten historisch-kritischen Methode, anders als Tillich jedoch mit der Wort-Gottes-Theologie. In seiner Frühzeit hatte er sich mit der Philosophie im Kontext der lutherisch-konfessionellen Theologie befasst und sie als eine der Verbindungsglieder zwischen Mittelalter und Neuzeit,

76 Zur späten, aber ganz enormen gesamtkulturellen Präsenz Tillichs v. a. in den USA, aber auch in Deutschland vgl. Clayton, S. 560–561.

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bis hin zu I. Kant, interpretiert77, in den 1930er Jahren arbeitete der Zwangsemeritierte an einer Geschichte der reformatorischen Theologie im 16.–18. Jahrhundert. Die These von Reformation, Orthodoxie, Rationalismus (1937) ist, dass die herkunftsbedingte Doppelschichtigkeit der Theologie als heilsgeschichtliches und als rationales System sich zunächst supranaturalistisch vereinseitigt, dann im neuzeitlichen Rationalismus aufgelöst habe78. Der 1951 postum erschienene Bd. II, der das „System der Rechtfertigungslehre“ und das „System des Prädestinatianismus“ behandelt, widmet der „Philosophie der Theodizee“ einen eigenen, interessanten Abschnitt. Weber stellt die Leibniz’sche Theodizee als eine „großartige Schau“ dar, die viele ältere Ideen verarbeitete (sie werden bis zu W. King benannt, es fehlt noch die spanische Jesuitenscholastik) und auf Calvinisten wie auf Lutheraner einen „Zauber“ ausübte: Auf jene, weil der Blick aufs Ganze bzw. der Begriff der Vollkommenheit Gottes die komplexe Frage der konträren Dekrete Gottes und den Verdacht, Gott selber sei die Ursache der Sünde, auflöste; auf die Lutheraner, weil das absolute Dekret aufgelöst wurde in die universale Philanthropie Gottes, die nur durch die menschliche Freiheit beschränkt sein konnte. Der Leibniz’sche Optimismus erscheint in der Sicht Webers als „Vermählung“ des lutherischen Gnadenuniversalismus mit der calvinistischen Prädestinations-Rationalität. Mit einigen damaligen Lutheranern (J. F. Budde, G. B. Bilfinger) moniert Weber, das diese „ontologisch-ästhetische“ Theodizee dem Geheimnis der Freiheit und dem tragischen „Urrätsel des Bösen“ nicht gerecht werde, und weist auf die Voten P. Bayles und I. Kants hin79. Webers Darstellung ist auch deshalb interessant, weil er anmerkt, dass niemand anderes als K. Barth „zunehmend freundlich“ über Leibniz’ Theodizee urteile, etwa im Vergleich zwischen der Kirchlichen Dogmatik Bd. III/1 von 1945 und der Darstellung Leibniz’ in den theologiegeschichtlichen Vorlesungen 1932/33, die allerdings erst 1946 erschienen80. Aber auch schon dort war der „große Leibniz“, wenn auch nicht in einem eigenen Kapitel, mehrfach angerufen worden gegen ein bloß rationalistisches Bild der Aufklärung. Im Blick auf den „Menschen der Aufklärung“ bescheinigt ihm Barth, um die Dialektik von rational und irrational „sehr überlegen gewußt“ zu haben. Im Blick auf die „innere Lebensgestalt“ jenes Menschen wird die Persönlichkeit Leibniz’ charakterisiert als die „reinste, die sozusagen verklärte Gestalt, zu der sich dieser neue Humanismus […] erhoben hat“. Das damalige Ideal der inneren Lebenshaltung habe er als „echtester Philosoph seiner Zeit“ „nie in Form eines Systems“, vielmehr „in Gedankengängen von hoher Originalität und einem ganz eigenartigen Glanz“ aufs

77 Vgl. W. Sparn: Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1976, S. 6–7.; H. Ruddies: Art. „Weber, Hans Emil“, in: RGG4, Bd. 8, Sp. 1316–1317. 78 H. E. Weber: Reformation, Orthodoxie, Rationalismus, Bd. I/1, Gütersloh 1937, Bd. I/2, Gütersloh 1940; Bd. II, Gütersloh 1951; Darmstadt ²1966; zur These vgl. Bd. I/1, S. X. 79 Ebd., Bd. II, S. 176–184; Zit. S. 179, S. 181, S. 183. 80 K. Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zollikon – Zürich 1946, 61994 (im Folgenden zitiert).

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Schönste vor Augen geführt: die Monade81. Barths kurze Darstellung der Begriffe der Monade und der prästabilierten Harmonie würdigt, dass nach Leibniz Gott der Schöpfer der bestmöglichen Welt ist, der aber auch jede Monade je das Bestmögliche sein lässt, was sie in Übereinstimmung mit sich und der Welt sein soll und kann – gleichwohl stellt Barth fest, das auch diese Theodizee sich entscheidend vollzieht „[…] in Form des Verweises des Menschen an sich selbst, d. h. in Form der unbedenklich an den Menschen gerichteten Aufforderung, sich frei und demütig zugleich in seine Individualität und ihre Stellung im Plan des Ganzen zu finden, sie auszufüllen, als ob nur Gott und die Seele wären […]“82.

Die daraus resultierende Annahme, dass das Böse nichts Positives ist, aber als „sozusagen vor dem Licht weichender Schatten“ eine Bedingung für die Harmonie des Ganzen darstellt, veranlasst Barth zur Frage, „ob das nicht Alles edelste Stoa“ sei, aber doch Stoa, „Triumph des Humanismus, der alle Fragen selber zu beantworten weiß und eine an ihn gerichtete Frage nicht zu kennen scheint?“ Leibniz steht repräsentativ auch für den Versuch, „das Problem der Theologie“, d. h. ihren Gegenstand zu etwas dem Menschen Eigenen zu assimilieren und zu „humanisieren“ durch Verstaatlichung, durch Moralisierung, durch Verwissenschaftlichung und durch Individualisierung oder Verinnerlichung83. Doch ist Barth überzeugt, dass dieser Versuch nur teilweise gelang – genug Nicht-Eigenes sei der gelebten Christlichkeit geblieben; aber auch, wenn man dem 18. Jahrhundert nicht katastrophale Bedeutung zuschreibe, seien wir mit ihrem Erbe „heute auch nicht von ferne fertig“84. Die von Weber bemerkte größere Freundlichkeit Barths gegen Leibniz in der Kirchlichen Dogmatik besteht darin, dass hier dessen „monistischer Optimismus“ deutlicher von Chr. Wolffs Rückgang auf Gottes Vollkommenheiten unterschieden wird: Nach Wolff ist die nach zureichendem Grund wählende Weisheit, welche die Vollkommenheit der Welt als Maschine verbürgt, größer als seine Macht; die Lehre von den Monaden wird daher überflüssig. Freilich kann auch Barth selber der Monadologie nur abgewinnen, dass sie die Anschauung Leibniz’ „immerhin mit einem gewissen formalen Geheimnis und Zauber umgibt“. Leibniz steht im Abstieg des Niveaus immerhin ganz oben; aber er muss sich sagen lassen, das dieser Weg, einmal angefangen, unaufhaltsam zu einer trivialen Endstation führe. Barth leugnet jedoch nicht, dass Leibniz und seine Nachfahren mit ihrem unbedingten Lob des Schöpfers in seinem Verhältnis zum Geschöpf ‚frohe‘ Botschaft verkündigt und sich mindestens „in formaler Affinität zur Verkündigung des 81 Ebd., S. 26, S. S. 62–64; Zit. S. 63. Nichtsdestoweniger hat Barth im Folgenden Leibniz nicht deutlich von Chr. Wolff unterschieden, besonders im Hinblick auf das entscheidende Freiheitsproblem, so z. B. ebd., S. 132. 82 Ebd., S. 63. 83 Ebd., S. 63, S. 68. Die Darstellung selbst, S. 68–112, berührt Leibniz aber nur gelegentlich, überbietet ihn auch, z. B. mit der inneren Autorität inspirierter Pietisten: […] hier existierte sie, die Monade ohne Fenster!“ Ebd., S. 98. 84 „[…] Wir Alle tragen irgendwo den Menschen des 18. Jahrhunderts gerade in seiner Stellung zum theologischen Problem noch sehr lebendig in uns“. Ebd., S. 102.

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Evangeliums“ befunden hätten85. Und das gilt insbesondere deshalb, weil Barth nicht nur von der „guten“ Geschöpfwelt spricht, sondern tatsächlich mit Leibniz „die beste aller Welten“ sagt und ebenso das Ja Gottes zur Geschöpfwelt pointiert als „absolutes Ja“, diese Welt also nicht nur in ihrem Dasein, sondern auch in ihrem Sosein als „vollkommen“ charakterisiert: Als „unbedingte(s) Lob“ des Schöpfers muss der Leibniz’sche Optimismus dogmatisch „ernst genommen werden“86. Worin ist er „nun doch so ganz anders“ als der christliche Optimismus? (1) Darin, dass er „die ganze Schattenseite des geschöpflichen Daseins“ durchaus erkannte, ihr aber nicht standhielt, sondern sie assimilierte und umdeutete, „zu einem bloßen Rand von dessen Lichtseite“ – das Rätsel ist eliminiert, „der steinerne Gast fehlt völlig“87. (2) Seine andauernd exhortativen, heute gesetzlich oder komisch wirkenden Superlative verbreiten ein „geheime Gedrücktheit“, weil sie sich im Kreis bewegen: Das die Welt rechtfertigende Gutsein ist ein Urteil eines Geschöpfs über sich selbst und die übrige Schöpfung – „abstrakte Diesseitigkeit“, „abstrakter Anthropozentrimus“88. (3) Der Einstieg in den Zirkel zwischen Gott und Welt verdankt sich dem wagemutigen Selbstvertrauen der Vernunft, beides verbinden zu können, also ihrerseits vollkommen zu sein: Ihre optimistische These gilt a priori – sie konnte denn auch ohne Gott auskommen (dies einer der Unterschiede zwischen dem „theozentrischen“ Leibniz der Urmonade und Wolff). (4) Wie Gott mit einem Minimum an direkter Beteiligung an der veränderlichen Welt sich begnügen muss, so bleiben diese Optimisten bloß Betrachter, zu denen die Dinge nicht kommen, im Bösen nicht, aber doch auch nicht im Guten – ihre Wahl, die sie als Wahl Gottes ausgeben, bleibt daher von Angst und Ohnmacht bedroht; schon ein Erdbeben kann sie erschüttern89. Diese Defizitanzeige leugnet nicht, dass der Optimismus der Leibnizianer an die christliche Wahrheit darin erinnert, dass er zwischen den beiden Aspekten der Geschöpfwelt eine Wahl trifft, in der die Unvollkommenheit der Welt für nichtig erklärt wird, und darin, dass er diese mit Berufung auf den Namen Gottes tut; aber seine sicherlich christliche Selbsteinschätzung bleibe unspezifisch. Christlich wäre nach Barth dieser Optimismus gewesen, wenn er die Erkenntnis Jesu Christi für seine Begründung fruchtbar gemacht hätte; auch die natürliche Erkenntnis Gottes in und aus der Geschöpfwelt ist, als Erkenntnis ihrer Vollkommenheit, nach Barth nur im Medium Christi, der Erfüllung des Bundes Gottes mit seiner Schöpfung „klar, solid und notwendig“ zu gewinnen. In diesem Zusammenhang kommt Barth auf die „besondere Größe von Leibniz“ zurück, der „wenigstens einmal haarscharf an dieses Eine und Einzige herangekommen ist“: Laut § 49 der 85 Barth: Kirchliche Dogmatik, S. 451–454; Zit. S. 454. 86 Ebd., S. 464, S. 442, S. 466. Dies ist umso bemerkenswerter, als Barth später Leibniz kritisiert, weil er das Böse extra Christum zu erkennen glaubt und es daher nur als Privation definieren kann, statt als das von Gott in Christus verneinte „Nichtige“; ders.: Kirchliche Dogmatik, III/3, Zollikon – Zürich 1950, § 50 (S. 327–425). 87 Ebd., S. 463–467; Zit. S. 466–467. 88 Ebd., S. 468–469; Zit. S. 468. 89 Ebd., S. 470–474.

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Causa Dei war der „Gottmensch Jesus Christus“ die maxima ratio Gottes für die Wahl der besten, wirklichen Welt90. Doch habe Leibniz von dieser völlig für sich stehenden, systemsprengenden „Überlegung“ keinen Gebrauch gemacht – eine Folge der „doppelten Buchführung“ der früheren Orthodoxie, die die Bücher der Heilsoffenbarung und der Schöpfungsoffenbarung nebeneinander legte und damit das erstere bereits überflüssig machte91.

IV.2. Leibniz als Lutheraner moderner Weltanschauung: Werner Elert Auch einer der schärfsten Gegner Barths, Werner Elert, unterzog sich der Aufgabe, die Théodicée im Kontext der protestantischen Theologiegeschichte zu würdigen, ebenfalls in systematisch-theologischem Interesse. Allerdings war dieses Interesse ein ganz anderes: der Aufweis der religiösen, sozialen und kulturellen Konsistenz lutherischen Christentums seit der Reformation bis zur Gegenwart. Die Morphologie des Luthertums (1931/1932), die von Barth denn auch heftig verdammt wurde, rekonstruierte Theologie und Weltanschauung sowie die Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums als jeweilige Ausgestaltungen einer konstanten konfessionellen Dynamis, d. h. eines „Urerlebnisses“, das, wie schon dargestellt, als die antinomische Erfahrung von Schicksal („Gesetz“) bzw. der erlösenden Zusage des „Evangeliums“ beschrieben wird. Diese Morphologie galt auch der Widerlegung des Ansatzes der Soziallehren von E. Troeltsch (1912), ihr Aufweis der konfessionellen Wurzeln der neuzeitlichen Subjektivität implizierte die Ablehnung der Epochengrenzziehung Troeltschs zugunsten der Annahme der Gegenwart des „evangelischen Ansatzes“ auch in der Moderne92. Neben den interreligiösen Bemühungen Leibniz’ ist Elert dessen Vorsehungsglaube wichtig. Im Abschnitt über die Weltanschauung („Raum“ und „Zeit“) zieht Elert eine Linie von der Säkularisierung des Weltbildes, für die in der Reformation v. a. Philipp Melanchthon steht, auf die zwei Weltanschauungen des Positivismus und des Glaubens an eine das All gestaltende Weltdynamis; Letztere führe von Leibniz zu Herder, Schelling und Goethe; Leibniz habe die entsprechende Unterscheidung Melanchthons zwischen dem christlichen und dem „stoischen“

90 Ebd., S. 475. Barth geht hier nicht auf den Tatbestand ein, dass Leibniz den „Christus Theanthropos“ nicht im Sinne der orthodoxen Zweinaturenlehre, sondern arianisch versteht: „creatura ad summum provecta“, so dass das oberste Kriterium des moralisch Guten, „das Gott Angemessene“ (theoprepos, § 66) nicht, wie Barth das fordert, exklusiv christologisch definiert ist. 91 Ebd., S. 474–476. – Dass Barth dies zur römisch-katholischen Tradition rechnet, trifft für Leibniz’ bruchlos teleologische Verbindung von Natur und Gnade zu, aber nicht für ein Auseinanderreißen von Natur und Gnade, wovon Barth hier spricht, ebd., S. 476. 92 W. Elert: Morphologie des Luthertums, 2 Bde., München 1931–1932 (³1965). Vgl. A. Peters: Art. „Elert, Werner (1885–1954)“, in: TRE, Bd. 9, Berlin 1982, S. 493–497; W. Sparn: „Werner Elert“, in: W.-D. Hauschild (Hrsg.): Profile des Luthertums, Gütersloh 1998, S. 159–183; Slenczka, S. 128–257.

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oder „mohametanischen“ Schicksalsglauben bekräftigt93. Das Kapitel „Zeit“ setzt mit dem Thema „Kreuz und Jammertal“ ein und belegt für die Reformations- und die Barockzeit, dass den evangelischen Ansatz keineswegs lähmender Pessimismus, sondern gleichermaßen eine lebhafte, alle Geschöpfe einschließende Daseinsfreude und ein mit dem baldigen Weltende rechnender Realismus in der Wahrnehmung des irdischen Leidens und des menschlichen Bösen kennzeichnete; praktisch verbanden sich daher die Bekämpfung der Melancholie und die Akzeptanz des eigenen Leidens und Sterbenmüssens als Gottes strafend-erziehende Vorsehung. Während sich an die Fersen des lutherischen Kreaturgefühls ein naturalistisches Lebensgefühl und an den „Kreuzes-optimismus“ der „immanente Optimismus der Aufklärung“ heftetet, war es „die Größe von Gottfried Wilhelm Leibniz, daß er, der beherrschende Geist aller Wissenschaften seiner Zeit, sich der theologischen Frage nicht entzog“ – und das war, wie Elert gegen W. Dilthey betont, keine Konzession an seine Lebens-umstände94. Elert betont seinerseits, dass Leibniz in seiner Antwort auf diese theologische Frage mit der modernen Weltanschauung vollkommen verbunden sei, v. a. in seiner ethischen Interpretation der Teleologie des Universums und des Präponderanz des Ästhetischen. Die als „Theodizee“ gegebene Antwort, die Identität der wirkenden und der finalen Ursachen des Weltgeschehens in Gott, greift aristotelische Schema auf, nicht anders als das Thomas von Aquin oder Ph. Melanchthon taten95. Nicht lutherisch sei auch der Bezug auf die Unterscheidung der Arten von Notwendigkeit und auf die Abwägung der Anlässe zur Freude und der zur Traurigkeit, obwohl Leibniz sie bei Luther fand. Lutherisch sei dagegen die Begründung des Optimismus nicht aus einem moralischen Postulat wie bei Melanchthon oder I. Kant, sondern aus dem (die reformierte Prädestinationslehre negierenden) Gottesglauben, in den auch der „Erlöser Jesus Christus“ gehört. Elert sieht daher Leibniz’ Optimismus mit dem lutherischen weltanschaulich verwandt96. In zwei Aspekten sieht er die Théodicée gleichwohl in einer völlig anderen „Grundstellung“ als Luther und dessen (von Leibniz zitierte) Schrift De servo arbitrio von 1525. Der eine Aspekt: Leibniz meine, dass die Welt, wie sie ist, Gottes Macht, Weisheit und Güte zeige; er bleibe im Rahmen einer Kosmologie, die von einem ästhetischen Weltgefühl getragen sei. Luther dagegen habe in der zitierten Schrift die Auffassung vertreten, dass die wirkliche Welt vernünftigerweise nur den Schluss zulasse, dass Gott ein ungerechter Despot sei oder dass gar kein Gott sei. Der andere Aspekt: Leibniz verschiebe die Rechtfertigung des Menschen auf die der Rechtfertigung Gottes vor der Vernunft, die ja von Gott stamme.

93 Elert, S. 381, S. 384 ff. Elert teilt die Auffassung, dass der christliche Glaube Schicksalsglaube, aber nicht Fatalismus im Sinne von Determinismus sei, ebd. 94 Ebd., S. 407–419; Zit. S. 414. 95 Ebd., S. 415; Elert verweist auf P. Petersen: Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Leipzig 1921, ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 340 ff. 96 Ebd., S. 416–417; Elert bezieht sich auf Leibniz’ Zitat des Osterliedes, das von der felix culpa Adams spricht (Essais de Théodicée I, § 10), nicht auf den „Gottmenschen“ der Causa Dei.

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„Auch Luther weiß, daß die Vernunft von Gott stammt. Aber für ihn ist die Sünde nicht ein Gegenstand der vernünftigen Weltdeutung, sondern ein unvermeidliches Moment in ihr selbst“97.

Luther habe, so Elert, nicht schwärzer, sondern aufgrund seines Urerlebnisses tiefer gesehen als Leibniz, nämlich den Gedanken des Bösen zu Ende gedacht, während dieser ihn durch seine Unterordnung unter das „Übel“ verflachte. Nähme Leibniz sein Universum wirklich als Ganzes und „stellte es wie Luther ad punctum mathematicum Gott gegenüber“, dann hätte er die Vernunft nicht in der Zuschauerrolle halten und die Sünde als vereinzeltes Übel in der Welt verrechnen können: „Leibniz zehrte von dem Optimismus des lutherischen Gottesglaubens, ohne den notwendigen Preis dafür zahlen zu wollen“98. Elerts hohes Lob Leibnizens wird, ähnlich wie bei Barth, kontrastiert durch vernichtenden Tadel. Er wird nicht dadurch gemildert, dass er den immanentoptimistischen Gottesglauben und sein Umwandlung des Kreatur- in Zeitgefühl auch im Deutschen Idealismus und im Fortschrittsoptimismus tadelt; erst der Weltkrieg habe dessen Zusammenbruch und u. a. die Rückkehr zum wirklichen Luther bewirkt. Von einer Rezeption Leibniz’ kann nur in recht uneigentlichem Sinn die Rede sein; auch wegen der problematischen, die Monadologie ganz übergehenden und das Theorem der prästabilierten Harmonie nur semantisch einbeziehenden Interpretation der Théodicée. Für den Theologen bleibt unbefriedigend, dass unterstellt ist, dass die Theodizeefrage überhaupt nur in religiöser Binnenperspektive gestellt werden darf und eine Außenperspektive auf Religion nichts Bedenkenswertes beitragen kann; Elert gesteht ihr allenfalls „agnostizistischen Determinismus“99 zu.

IV.3. Die „Unvermeidlichkeit und Größe des Vorgangs“: Emanuel Hirsch Anders im Ergebnis und völlig anders in den theologischen Voraussetzungen ordnete Emanuel Hirsch den Philosophen Leibniz in die Geschichte des evangelischen Christentums ein. Hirsch, ein Hauptvertreter des Jungluthertums und wie Elert ein abgesagter Gegner K. Barths, war Schüler K. Holls, blieb aber wie der befreundete P. Tillich von Anfang an dem Deutschen Idealismus verbunden, in seinem Falle mit der Subjektivitätstheorie und der Geschichtsphilosophie J. G. Fichtes. Die kulturelle Krise im Gefolge des Weltkrieges suchte er aber ebenfalls im Rückgriff auf Luther und auf Kierkegaard zu bewältigen, ohne doch auf die transzendentale Reflexion theologischen Wissens zu verzichten, was auch den Rekurs auf F. Schleiermachers Korrelation von Philosophie und Theologie implizierte. Wie die meisten Jüngeren vertrat Hirsch eine existentiell-agonale Interpretation der religiösen Erfahrung, verband dies aber nicht mit einer modernitätskritischen Positionierung des evangelischen Christentums. Er suchte im Gegenteil 97 Ebd., S. 415–417; Zit. S. 417. 98 Ebd., S. 418. 99 Ebd., S. 358–360.

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durch intensive historische Arbeit im Gegenzug zu E. Troeltsch nachzuweisen, dass die Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit, so der Titel eines Textbuches von 1938, v. a. im aufklärerischen Vernunft- und Freiheitsverständnis mit dem reformatorischen Christentum in historischem und sachlichem Zusammenhang steht. Dies bedeutete zugleich den Abschied vom traditionellen Weltbild und von der statutarischen Bibelautorität, wie Hirsch umgekehrt auf Luther und Kierkegaard für die Überwindung des harmonistischen Optimismus der Aufklärung und des Idealismus rekurriert100. Mit Leibniz hat sich Hirsch beschäftigt in einer knappen Schrift über die Umbildung der politischen Ethik Luthers in der modernen Staatslehre; parallel zu einer politisch-sozialen Stellungnahme als Vertreter des „jungen nationalen Luthertums“101. Neben den defizitären Typen, dem durch H. Grotius und Th. Hobbes initiierten naturrechtlich-eudämonistischen und dem von J.-J. Rousseau bis zum Religiösen Sozialismus gehenden französisch-sozialistischen Typus steht die durch Leibniz begründete, im deutschen Idealismus (I. Kant, J. G. Fichte) ausgearbeitete, angemessene Umbildung der lutherischen Zwei-Regimente-Lehre in säkulares Staatsdenken: die antinomische Beziehung des (National-)Staates auf das „Reich Gottes“, d. h. auf das in einer Gemeinschaft der Gewissen reale „Geisterreich“. Hirsch ist auch überzeugt, dass der wichtigere Teil des Leibniz’schen natürlichen Religion ein in autonomes Denken übersetztes evangelisches Christentum ist: „Schon in Leibniz spricht sich aus das große Ziel aller ernsteren deutschen Denker: den wesentlichen Gehalt der christlichen Frömmigkeit und Sittlichkeit aus philosophischer Selbstbesinnung heraus frei zu erzeugen“102.

Das erwähnte „Lesebuch“ setzt denn auch ein mit „Die christliche Aufklärung“, wo vor L. von Mosheim und J. S. Semler „Gottfr. Wilh. Leibniz und die Grundlegung der christlichen Aufklärung“ platziert ist. Leibniz kommt, unter den Aspekten: Harmonie von Glaube und Vernunft, religiöse Motive seiner Weltanschauung, die Idee des Geisterreiches unter Gott und Erweichung dogmatischer Härten, vor allem in der Théodicée (übersetzt) zu Wort, auch im Schluss der Monadologie, im Entwurf De vita beata und in einem Brief vom 4. Juni 1710. Eine Anmerkung erklärt, dass Leibniz’ Optimismus, d. h. seine Lehre von der besten aller möglichen Welten, „sich entscheidend in seinem Glauben an Gott [gründet], freilich einem Glauben, der sich dann durch Gründe als mit der Vernunft in Harmonie zu rechtfertigen sucht“103.

100 Vgl. H.-J. Birkner: Art. „Hirsch, Emanuel (1888–1972)“, in: TRE, Bd. 15, Berlin – New York 1986, S. 390–394; Fischer, S. 53. 101 E. Hirsch: Deutschlands Schicksal. Staat, Volk und Menschheit im Lichte einer ethischen Geschichtsansicht, Göttingen 1920, ³1922. Dass Hirsch 1933 dezidiert für die NS-Ideologie und deren kirchlichen Zweig, die „Deutschen Christen“ votierte, hat natürlich keinerlei Bezug auf Leibniz; zur Aporie Hirschs vgl. Assel, S. 164–304, S. 476–482. 102 E. Hirsch: Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens, Göttingen 1921; Zit. S. 20. Vgl. Fischer, S. 46–49.

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Hier wie auch in den gleichzeitigen systematisch-theologischen Entwürfen erklärt Hirsch, dass wir „eine von Grund auf neue Gestalt christlichen Glaubens finden müssen“, weil sich diesem gegenüber das Humane in der Neuzeit verselbständigt hat: „Das Christliche muß sich rechtfertigen vor dem Forum der zum Bewusstsein ihrer selbst erwachten europäischen Menschlichkeit“104. Für die Möglichkeit eines wahrhaftigen Verhältnis des Christentums zu dem enzyklopädisch artikulierten neuzeitlich-abendländischen Wahrheitsbewusstein – ohne dass das Geheimnis der individuellen, persönlichen Christusbeziehung ins Allgemeine hinein aufgelöst würde – dafür verweist Hirsch exemplarisch auf Leibniz. Einen geradezu klassischen Rang in der kritisch-affirmativen Genealogie der evangelischen Theologie nimmt, im Gegenüber zu K. Barth, Hirschs Geschichte der neuern evangelischen Theologie ein, die in fünf Bänden 1949-1954 erschien. Sie widmet Leibniz ein ausführliches Kapitel; neben ihm und der „vorsichtigen“ rationalen Schulphilosophie Chr. Wolffs stehen die Begründer des Pietismus und die Präsenz J. Böhmes im radikalen Pietismus: Aufklärung und Pietismus bilden auf Dauer zusammen den Übergang in den Neuprotestantismus, der dann mit J.-J. Rousseau endgültig zur Welt geboren ist105. Hirsch führt Leibniz ein als „Mittelsmann“ zwischen dem neuen westeuropäischen und dem deutschen geistigen Leben, darin jedoch als ersten eigenartig deutschen Philosophen, der zwischen den großen Gegensätzen des Denkens und Lebens zu vermitteln sucht, der „idealistisch“ als eigentliche Wirklichkeit, auch auf dem Gebiet der kausal zu erklärenden Natur, „die im Geistig-Seelischen sich entfaltende innre Welt“ ansieht und der dies in einer Individualitätsphilosophie ausprägt; damit verbunden ist die enge Verflechtung mit religiösen und theologischen Fragen. Doch Leibniz „ist Philosoph, nicht Theologe. Es liegt ihm am Aufbau eines natürlichen Systems, welches das Ganze von Vernunft und Erfahrung in einem metaphysisch gegründeten Weltbilde von ethischer und religiöser Tiefe zusammenfaßt“106.

Leibniz’ vernünftig-religiöse Bestimmung der Harmonie von Wissen und Glaube, die darin liegende Bibelhermeneutik, die dann mögliche Kritik der augustinischen Soteriologie (Sünde, Gnade, Prädestination) schätzt Hirsch als den „entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der deutschen evangelischen Theologie“ ein, d. h. als ihren Übergang in die Aufklärung. Jene Harmonie bzw. die Einheit 103 E. Hirsch: Die Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit, Tübingen 1938, S. 1–8; Zit. S. 5. 104 Ebd., S. V; ders.: Das Wesen des Christentums, Tübingen 1939, S. 132; ders.: Leitfaden zur christlichen Lehre, Tübingen 1939, führt dieses Programm aus in der Analyse „Das Selbstverständnis des abendländischen Menschen an der Grenze der christlichen Wahrheit“, S. 61– 128. Vgl. Fischer, S. 106–109, S. 119–121. 105 E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. I–V, Gütersloh 1949–1954, 51975, ND 1976; Bd. II (1951), 18. Kapitel: „Gottfried Wilhelm Leibniz“, S. 7–48. Vgl. U. Köpf: „Die Theologiegeschichte der Neuzeit in der Sicht Emanuel Hirschs“, in: J. Ringleben (Hrsg.): Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewusstsein. Studien zur Theologie Emanuel Hirschs, Berlin 1991, S. 63–97. 106 Hirsch: Die Reich-Gottes-Begriffe, S. 9, S. 16.

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rational-wissenschaftlicher und ethisch-religiöser Weltansicht wird möglich, weil Leibniz die physikalischen Begriffe und Gesetze „von einer Metaphysik seelenhaften und religiösen Gepräges her“ deutet. Deren feste Data sind die Begriffe Gottes, des göttlichen Planes und der Monaden, jener seelen-analog immateriellen Krafteinheiten, deren tätig-leidende Beziehung aufeinander den Weltzusammenhang bildet. Für die deutsche Theologie bedeutet diese Metaphysik, v. a. als Unsterblichkeitsglaube und Entwicklungsidee, dass die durch die neue Naturwissenschaft gefährdete Stellung des Menschen im Universum neu begründet wurde107. Diese Darstellung läuft auf die Charakterisierung der Leibniz’schen Frömmigkeit und ihrer Theodizee zu. Im Begriff des göttlich regierten „Geisterreiches“, in dem das gegenwärtige politisch-soziale Leben und die Ewigkeitsbeziehung zu einer inneren Einheit verbunden sind, liegt für Hirsch „die deutsche Fassung der Humanitätsidee“. Er ist sich im Klaren darüber, dass sie, zumal ihre prästabiliert harmonische Verbindung von Natur und Gnade, gegenüber Luther und seinen ethisch-religiösen Kontrasterfahrungen eine „wesentliche Verschiebung der Frömmigkeit“ besagt; dagegen stehe aber den Gewinn, dass diese universale rational-ethische Anschauung nicht mehr an besondere christliche Voraussetzungen gebunden ist, sondern „jenseits allen Bibelglaubens und aller kirchlichen Predigt, rein aus dem geistigen Besitztum der Nation“ jedem frei denkenden Deutschen als Daseindeutung offen stehe. Hirsch lobt an Leibniz’ religiösen Ideen ihre Emanzipation aus dem Formalen von Tradition und Institution zugunsten ihrer verallgemeinerungsfähigen geistigen Gehalte; kurz, er lobt (ohne das Wort zu benützen) ihre Säkularisierungsfähigkeit108. So stellt Hirsch auch die Théodicée dar: Bereits dem natürlich-vernünftigen Glauben billige Leibniz das Wesentliche des Evangeliumsglaubens zu: dass er „gegen den Augenschein der göttlichen Liebe gewiß zu sein vermag“. So habe er „dem deutschen Geist in den von ihm eingeleiteten Rationalisierungsprozess hinein ein kostbares seelisches Gut geborgen“: ein „in Gott fröhliches, überall das Gute herausfindendes Zutrauen zu einer Macht außer und über der Welt“. Der Optimismus, der sich nicht durch Vernunftschlüsse aus der Erfahrung begründet, sondern zureichend aus vernünftigem Glauben an den unendlich weisen und gütigen Gott, der Übel nur als conditio sine qua non zulassen könne, habe P. Bayles Forderung erfüllt; weitab von der despotischen „Allmacht“ und der grundlosen „Freiheit“ des vulgären Augustinismus und Calvinismus. Hirsch verteidigt dieses „männliche“ Gottvertrauen gegen den Vorwurf der Flachheit, gesteht aber zu, dass es sich auch um ein „neues Lebensgefühl“ der Entwicklung zum und des entschlossenen Wirkens auf das Vollkommene hin handle; dessen Abstand zum bisherigen Christentum, speziell zu Luther, auf den sich Leibniz ja beruft, sei noch deutlicher, v. a. im Gottesbegriff und Begriff der Sünde, die bei Leibniz der früheren „Spannungstiefe“ entbehren109.

107 Ebd., S. 10–33; Zit. S. 17, S. 27. 108 Ebd., S. 33–39; Zit. S. 34, S. 35. 109 Ebd., S. 39–48; Zit. S. 41, S. 42, S. 46, S. 48.

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Hirsch sieht die theologische Bedeutung des Théodicée zu einem großen Teil beruhen auf ihrem Beiseiteschieben und Ausmustern traditioneller Dogmatik110. Er räumt ein, dass man die „Rätselhaftigkeit des Daseins sowie den Reichtum und die Unergründlichkeit der inneren Erfahrung anders und tiefer als Leibniz und die Aufklärung“ zur Geltung bringen kann – doch sei „man gezwungen, die Unvermeidlichkeit und Größe des Vorgangs anzuerkennen“. Leibniz tut für Hirsch einen wesentlichen Schritt auf dem Weg von Luther zu Schleiermacher (worauf im Blick auf den Sündenbegriff eigens hingewiesen wird); schon Leibniz deutet in der Sicht Hirschs die Wirklichkeit „aus der innern Selbstanschauung unser selbst als lebendiger [ergänze: individueller] Wesen“. Es fragt sich, ob damit die Monadologie Leibniz’ auf die Interessen neuzeitlicher Subjektivität zurückgenommen ist. Die neue Gestalt der deutschen evangelischen Theologie jedenfalls war nach Hirsch nur möglich aufgrund der von Leibniz gemeinten Verknüpfung des christlichen Glaubens mit dem neuen Lebensgefühl – die Frage sei, ob sie eine „echte große geschichtliche Möglichkeit ist oder nicht“111. Hirschs Würdigung ist nicht zuletzt ein theologisches Beispiel für die fortdauernde Referenz auf Leibniz als eines „deutschen“ Denkers. Auch wenn Hirsch in der Idiosynkrasie des Deutschen nicht mehr so weit geht wie die offiziösen Leibniz-Deutungen der NS-Zeit und dieses Gegenüber nicht als völkischen Gegensatz stilisiert, betont er doch noch stark, dass durch Leibniz „dem deutschen Geiste ein viel tieferer und reicherer Begriff der Vernunft entstanden“ sei als der des westlichen Denkens, wo der Weg weiterführe „vom Empirismus zum Sensualismus, Materialismus, Skeptizismus und Atheismus“112.

V. NEUE AKTUALITÄT LEIBNIZ’? Die positive Integration Leibniz’ in die Genealogie der modernen Theologie begründete zunächst nicht ohne Weiteres ein aktuelles Interesse, weil die Legitimität dieser Theologie in der Tradition der Dialektischen Theologie bestritten wurde. Das änderte sich jedoch seit der Zeit meines Studiums, in denen sich auch das historische Interesse erneut der Theologie und Philosophie seit Aufklärung zuwandte, vor allem in Gestalt F. Schleiermachers, der seit den 1960er Jahren eine 110 „[…] er hat so ohne viel Aufhebens eine recht wirksame Revision des geistigen Hausrats vorgenommen“. Ebd., S. 45. 111 Ebd., S. 46–47, S. 24, S. 48. An einer weiteren Stelle wird Leibniz als noch aktuelle Herausforderung gesehen: „Soweit wir von Naturerkenntnis und Weltbegreifen her in unserm Gottesbilde und unsrer Frömmigkeit bestimmt werden, stehn wir alle auch heute anbetend vor einer durch Gesetz und Ordnung sich kundtuenden geheimnisvollen Macht. Die Frage ist allein, ob wir noch so weit kommen wie Leibniz, uns durch Vernunft und Gewissen als zu geistigen Gemeinschaft mit ihr erhoben zu verstehn“. Ebd., S. 37–38. 112 Ebd., S. 16, S. 27. Vgl. M. Wundt: Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1939, S. 15 ff., S. 262–263.; zu Erwin Metzke vgl. H. Rudolph: „Leibniz’ Metaphysik im Urteil Karl Barths und in der Schule des Kirchenhistorikers Erich Seeberg“, in: W. Li/H. Rudolph (Hrsg.): „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus (= Studia Leibnitiana Sonderhefte 42), Stuttgart 2012, S. 117–128.

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lebhafte Renaissance erlebt. Den Abschied von einer exklusivistischen Offenbarungstheologie zugunsten der Korrelation theologischer und philosophischer bzw. humanwissenschaftlicher Perspektiven förderte eine auch religionswissenschaftlich induzierte Renaissance des Religionsthemas und damit der Frage nach der „natürlichen Religion“: Es wurde zunehmend unplausibel, Religionsphilosophie unter dem Verdikt veralteter Metaphysik einfach zu ignorieren. Dazu trug auch die Öffnung für die englischsprachige Theologie und Religionsphilosophie bei, deren Themen, z. B. „freier Wille“ oder „Existenz Gottes“, die Theodizeefrage einschlossen. Aber vor allem wurde diese Frage von den Debatten über die moralischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts so scharf aufgeworfen, so dass die theologische Beschäftigung mit ihr unabweislich und z. B. für mich zum Thema der Habilitation wurde113. Allerdings schlossen auch diese Debatten nicht ohne Weiteres ein systematisches Interesse an Leibniz’ Theodizee ein. In der Theologie stand dem entgegen die Ablehnung jeglicher theoretischen Theodizee, als mit „der“ Metaphysik verflochten und von der eschatologischen Ausrichtung des christlichen Glaubens korrigiert; mit Letzterem zusammenhängend auch die Folgen der praktischen, z. B. politischen Wendung der Arbeit am Theodizeeproblem. Sie legte eine solche Veränderung im Gottesbild nahe, die das seit Epikur formulierte Trilemma gegenstandslos machte und die „falsche Frage“ zu überwinden versprach: den Verzicht auf die metaphysischen Prädikate der Apathie und Allmacht zugunsten eines „leidenden Gottes“ im Rahmen einer trinitarischen Kreuzestheologie114.

V.1. Leibniz’ Denken als aktuelle Herausforderung: Carl Heinz Ratschow Gleich gab es auch Plädoyers für die Rezeption Leibniz’schen Denkens. Das am weitesten gehende war das von Carl Heinz Ratschow, Religionswissenschaftler und Theologe, zuletzt in Marburg und, von P. Tillich zum „literary executor“ in Deutschland bestimmt, Herausgeber seiner Hauptwerke115.

113 W. Sparn: Leiden – Erfahrung und Denken. Materialien zum Theodizeeproblem, München 1980 (zu Leibniz S. 19–41). Zu der seit den 1960er Jahren geleisteten Arbeit vgl. H. Rosenau: Art. „Theodizee: IV. Dogmatisch“, in: TRE, Bd. 33, S. 222–229; C.-F. Geyer, Art. „Theodizee: VI. Philosophisch“, in: Ebd., S. 231–237; F. Hermanni: Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung, Gütersloh 2002 (zu Leibniz S. 138–141, S. 163–219). 114 J. Moltmann: Der gekreuzigte Gott, München 1972, 72002, bes. S. 256 ff.; Leibniz wird historisch erwähnt in ders.: „Die Theodizeefrage und der Schmerz Gottes (1989)“, in: Ders.: In der Geschichte des dreieinigen Gottes, München 1991, S. 54–58; D. Sölle: „Gottes Schmerz und unsere Schmerzen: das Problem der Theodizee aus der Sicht der Armen in Latein-Amerika“, in: M. M. Olivetti (Hrsg.): Teodicea oggi?, Padua 1988, S. 237–289. Vgl. Fischer, S. 151– 206; zu Jürgen Moltmann und Dorothee Sölle vgl. Hermanni, S. 243–252. 115 Ratschow (1911–1999) war u. a. Herausgeber der Neuen Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie und Initiator der Theologischen Realenzyklopädie, vgl. Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 43 (2001), Sonderheft; Art.

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Ratschow begann als Schüler von F. Brunstäd, von dessen kantischem „Idealismus“ er sich ablöste, dessen Versuch er aber fortführte, im Rahmen einer religionstheoretisch begründeten Kulturtheologie „die Versöhnung der SubjektObjekt-Spaltung“ zu betreiben116. Im Leibniz-Jahr 1946 gab Ratschow unter dem Titel Gott Geist Güte eine umfängliche deutschsprachige Auswahl aus den Werken und Briefen Leibniz’ heraus; namentlich ist er nur als Herausgeber der Reihe Das Zeugnis – Europäische Denker genannt. Auf dem Nachsatzblatt artikuliert er die Erwartung, dass Leibniz’ Werk als eine Gestaltung des Willens zu echter Universalität gehört werde, die alles Einzelwissen zu einer Einheit verbindet, die in und aus Gott ihre Lebenswirklichkeit besitzt; das Nachwort des Verlegers nennt als Ziel, die Einheitlichkeit der seelischen Grundhaltung Leibniz’ in der Vielseitigkeit und Buntheit der Inhalte aufscheinen zu lassen117. Das Buch stellt eine m. E. thematisch umfassende und ausgewogene Auswahl dar, in der die Théodicée in den Abschnitten „Gott“, „Die harmonische Welt“ und „Das vollkommene Leben“ zitiert bzw. übersetzt wird. Die wenigen Lesehilfen lassen nichts über ihre Interpretation durch Ratschow erkennen. Das ändert sich auch in den folgenden Jahren nicht, wo Ratschow sich mit der lutherischen Schulmetaphysik und deren Reaktion auf den Verlust der Objektivität im Ansatz Descartes’ befasste und dort einen diesseits der Alternative von Sein oder Nichtsein begründeten Existenzbegriff vermutete. Dass Leibniz hier nicht auftritt, ist erstaunlich, weil dieser ja einen von Descartes sehr verschiedenen Existenzbegriff entwickelte, der durchaus eine Analogie im Begriff der Existenz Gottes mit der Existenz der Welt und speziell mit dem zur Apperzeption fähigen Menschen begründet: den monadologischen Existenzbegriff118. Leibniz wird auch nicht erwähnt in Ratschows Studie über das Phänomen des angefochtenen Glaubens, der an Gottes „Verstelltheit“ leidet und sich unvermeidlich vor die Frage der Theodizee gestellt sieht. Aber die Versuche der Theodizee hält Ratschow für letzte Bastionen menschlicher Behauptung des „kosmischen Sich-Gehörens“119. Umso überraschender ist Ratschows Präsentation Leibniz’ in einem Hauptvortrag des Europäischen Theologenkongresses von 1981, der unter dem Titel Glaube und Toleranz das theologische Erbe der Aufklärung zur Diskussion stellte. Der Vortrag Weltbewusstsein und Gottesgewissheit – in der Aufklärung des 18.

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„Ratschow, Carl Heinz (1911–1999)“, in: RGG, Bd. 7, Tübingen 2004, Sp. 60–61; Fischer, S. 138–139. Vgl. C. H. Ratschow: Art. „Brunstäd, Friedrich“, in: TRE, Bd. 7, S. 149–253. G. W. Leibniz: Gott, Geist, Güte, hrsg. von C. H. Ratschow, Gütersloh 1947; Zit. S. 493. C. H. Ratschow: Gott existiert, Berlin 1966, bes. S. 1–4, S. 11–75: Das Monadenkonzept erlaubt, sich der Existenz Gottes zu vergewissern im Schluss von der Möglichkeit auf Wirklichkeit, nicht wie beim ontologischen Gottesbeweis Descartes’ aus dem Begriff des vollkommensten Wesens, sondern aus der ontologischen Kompossibilität der (einfachen) Prädikate Gottes. Vgl. W. Schmidt-Biggemann: „Gottfried Wilhelm Leibniz. Lehre und Wirkung: Metaphysik“, in: H. Holzhey (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 4: 17. Jahrhundert, Basel 2001, S. 1064–107, hier S. 1069–1070. C. H. Ratschow: Der angefochtene Glaube. Anfangs- und Grundprobleme der Dogmatik, Gütersloh 1957, 51983, S. 290–291.

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Jahrhunderts120 situiert Leibniz historisch, als deutsches Pendant zu B. Pascal und I. Newton, um jedoch auch aktuelle Erwartungen an sein Denken zu knüpfen. Die Théodicée identifiziert er mit dem Lebensthema Leibniz’: eben dem Verhältnis von Weltbewusstsein und Gottesgewissheit, verschränkt mit der Korrelation von Individuellem und Ganzem, fokussiert sie also auf das Konzept der Monade. Ratschow geht aus von der Verarbeitung des frühneuzeitlichen Zusammenbruchs natürlicher Weltvergewisserung durch N. Kopernikus, J. Kepler, G. Galilei und G. Bruno, der die Gedanken des Kusaners an Leibniz vermittelt habe; Brunos absoluter Monismus halte die sinnliche Erfahrung und den beweisbaren, aber unanschaulichen Naturverlauf zusammen und werde so mit dem drohenden Dunkel der Unendlichkeit fertig. Leibniz stehe auch auf den Schultern der Theologen, die dem Zusammenbruch des aristotelischen Weltbildes und dem tiefen Lebens- und Weltpessimismus des Barock, sowie dem Solipsismus und der Subjekt-ObjektSpaltung Descartes’ andererseits einen modifizierten Aristotelismus entgegenstellten121. Ratschow sieht Leibniz in der Denkgeschichte, die vom Kusaner über Bruno zu Spinoza oder aber modernen Aristoteliker Leibniz geht, und setzt dies ab von der Linie, die von Descartes zu Wolff und den physikotheologischen Theodizeen der Aufklärung reicht. Leibniz’ Weg zu und wieder weg von Descartes, zurück zu den aristotelischen formae substantiales (doch mit dem neuen, an der Substanz orientierten mathematisch-physikalischen Weltbild) führt nach Ratschow zu den Einsichten, (1) dass das geschichtliche Leben durch individuelle Substanzen getragen wird, d. h. durch solche, deren Begriff alle ihre Prädikate einschließt, so dass hier ontologisch keine Kontingenz auftritt; (2) dass wir Gottes Weisheit von vornherein auch im Bösen und Übel unterstellen müssen und die Widersprüche unseres Weltbewusstseins in Gott hinein aufheben. Die Abskondität der Geschichte und der Weisheit Gottes werden „dem Glauben – als Gewissheit von der Güte Gottes – zugewiesen“. Anders als Bruno löse Leibniz die Kontingenzangst nicht mechanistisch, sondern monadologisch, und darin liege die tiefe Eigenart seines Denkens: die Wahrnehmung des apriorisch handelnden, in sich unzerstörbaren Einzelnen und Besonderen im Kontext der gesamten Weltwirklichkeit. Gegen Descartes lenke dieses Denken „hinter die Subjekt-Objekt-Spaltung zurück auf das eine und Ganze der Weltwirklichkeit, in der die Monade als forma substantialis ‚sich‘ lebt und zugleich im Kontext des Ganzen als der praestabilierten Harmonie befindlich ist“122. Die aktuelle Herausforderung durch die Theodizee Leibniz’ sieht Ratschow darin, dass ihr Optimismus kein Urteil des Weltwissens, sondern ein Urteil der Gottesgewissheit ist; der Religionswissenschaftler meint, dass sich das entfremdete und bedrohte Wettbewusstsein in allen Kulturen aus einer religiösen Basis her-

120 Ders.: „Weltbewußtsein und Gottesgewissheit – in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts“, in: T. Rendtorff (Hrsg.): Glaube und Toleranz. Das theologische Erbe der Aufklärung, Gütersloh 1982, S. 89–98; zitiert wird nach dem Abdruck in: C. H. Ratschow: Von den Wandlungen Gottes, Berlin – New York 1986, S. 102–114. 121 Ebd., S. 103–106. 122 Ebd., S. S. 107–109; Zit. S. 107, S. 109.

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aus konsolidiere, welches die fremde Welt zur eigenen, als sinnvoll verstandenen Welt macht. Aktuell sei Leibniz auch darin, dass er „zeigt, wie unter Voraussetzungen des modernen naturwissenschaftlichen Weltbildes […] ein Denken möglich ist, in dem das Menschliche in seiner Individuation so wahrgenommen bleibt, daß es keinen Generalisierungen soziologischer oder biologischer Einsichten verfallen muss“.

Er zeige auch, dass das eigentlich Menschliche, die unvergleichliche Eigenart des Individuums, und „das personenhafte Gegenüber des Gottes, des sich in seinen Handlungen dem Menschen ebenso sehr bewußt, d. h. moralisch oder anordnend, wie vor- oder unterbewußt, d. h. ontologisch und ordnend, vermittelt, aufeinander angewiesen sind“123. Ratschow formuliert die dann mögliche Korrelation von Glauben und Wissen auch so: „[…] daß die Unendlichkeit des Weltalls in Gott als seiner Wirkursache geborgen ist, daß das Kontingente in der Verborgenheit der individuellen Substanz verschwindet, daß das Böse und das Übel in dem Abgrund[!] Gottes liegen, den wir als Gott glauben, der als Zweckursache alles seiner Vollkommenheit zuführt“124.

Das Interesse Ratschows gilt Leibniz’ Konzept der individuellen Substanz als Monade, nicht einem theistischen Gottesbegriff, der bloß supranaturalistisch behauptet oder aber atheistisch bestritten würde. In einem weiteren Leibniz-Aufsatz vertritt er gegen andere Interpreten die Meinung, auch die Monadologie von 1714 habe den Schöpfungsgedanken entfaltet, wie er z. B. in De rerum originatione radicali (1697) formuliert war, und habe so das „Besondere aus dem Ganzen angemessen“ bestimmen können, eben als ein gegen Verallgemeinerungen und Nomisierungen resistentes, gleichwohl das Weltganze auf je seine Weise repräsentierendes Individuelles. Denn an dieser Bestimmung hängen, so Ratschow, die Balance von Selbst- und Weltverstehen, der Zusammenhang von Materie und Form bzw. von naturhaft-materiellem und geschichtlich-sittlichem Geschehen, nicht zuletzt die Einheit des Wissenschaftskosmos, die letztmals von Leibniz vorgestellte „Synthese von mathematisch-naturwissenschaftlichen, politisch-historischen und philosophisch-theologischen Einsichten“. In Leibniz’ „Monadologie im Horizont der göttlichen Harmonie“ ist Gott „Ausdruck des Kontinuums […], das alles Lebendige umspannt und ermöglicht und das man dann, aber nur dann, ungestraft erfaßt, wenn das Einzelne als Substanz feststeht“125.

123 Ebd., S. 109–110, S. 110. 124 Ebd., S. 109; die Theodizee Leibniz’ ist „die Einsicht in das einzelne und Besondere als zentralen Faktor des Geschehens, das sich in sich selbst und aus sich selbst entfaltet, sowie die Gewißheit, daß Gott in sich selbst in seinem Abgrund das von uns als Gut und Böse Erfahrene undurchschaubar vereint, daß wir aber zu ihm als Gott die Zuversicht haben können, daß diese Welt die beste aller möglichen Welten ist“. Ebd., S. 114. 125 C. H. Ratschow: „Gottfried Wilhelm Leibniz“, in: M. Greschat (Hrsg.): Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 8: Aufklärung, Stuttgart 1983, S. 121–155; Zit. S. 123, S. 154.

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V.2. Desinteresse im Schatten des Kampfes gegen die „cartesianische Metaphysik“ Leider hat Carl Heinz Ratschow seine Erwartungen an Leibniz’ monadologische Theodizee nicht in einer eigenen, systematischen Metaphysik der Individualität ausgearbeitet, in der die religiöse Rede von Gott, Welt und Mensch hätte reflektiert werden können. Er konstatierte, dass Leibniz wiederentdeckt werde, glaubt aber nicht, das die tief verunsicherte Gegenwart in der Lage sei, „die Schätze zu heben, die in Leibniz’ Synthese verborgen sind“126. Gewiss nicht ohne Absicht hat Ratschow der Leibniz-Auswahl von 1946 die Leibniz-Rede F. Schleiermachers vor der Preußischen Akademie aus dem Jahre 1815 vorangestellt, in der es heißt: „Und gewiß: aus der Idee des Gottheit, wie Herr von Leibniz sie aufgefaßt hatte, und den Gesetzen ihres Handelns, die er so bestimmt aussprach, aus den Monaden und aus den Gesetzen, wonach einer jeden der Verlauf ihrer Tätigkeiten und ihre ganze Stelle in der Welt bestimmt wurde, hätte sich ein System der natürlichen und geistigen Welt bilden lassen, das, wenn Leibniz sich dieser Arbeit unterzogen hätte, ganz anders würde ausgefallen sein als die größtenteils trocknen und toten Systeme seine Anhänger“127.

Nicht ohne Absicht, weil nicht nur die Schleiermacher-Rezeption in der liberalen Theologie, sondern Schleiermacher selbst Leibniz’ Theodizee bekanntlich disqualifiziert hatte als obsoletes Erzeugnis einer angeblich natürlichen, tatsächlich bloß spekulativen Theologie. Diese Kritik übte nicht nur der junge Schleiermacher, der zusammen mit F. Schlegel einen „Anti-Leibniz“ zu verfassen begann128, sondern auch noch der reife Dogmatiker: Er sage auch, das der ganze Zeitverlauf nur eine ununterbrochene Wirksamkeit der gesamten ursprünglichen Vollkommenheit sein kann und also jeder Moment eine Annäherung an diese sein muss – aber das sei eine „Behauptung, wie sie nur von dem frommen Bewußtsein ausgeht“. Für die christliche Glaubenslehre „müssen wir dabei stehn bleiben, daß die Welt gut ist, und können von der Formel, daß sie die beste sei, keinen Gebrauch machen. Und zwar, weil jenes weit mehr besagt als dies“129.

Als erfahrungstheologisch und daher nichtmetaphysisch verstand sich auch die auf Luther und Schleiermacher zugleich rekurrierende Verbindung von rechtfertigungstheologisch-existentieller Perspektive und sprachtheologisch gesicherter Hermeneutik in dem Strang der Theologie nach 1945, die sich Motti wie „Glaube

126 Ebd., S. 123. 127 Leibniz, S. 16. 128 Vgl. S. Lorenz: „Schleiermachers frühe Fragmente zu Leibniz (1797). Idealistische Kritik am Rationalismus“, in: H. Poser (Hrsg.): Nihil sine ratione, VII. Internationaler LeibnizKongress, Nachtragsband, Hannover 2002, S. 258–266. 129 F. Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 1, Berlin ²1830, § 57 („Die Allgemeinheit des schlechthinigen Abhängigkeitsgefühls schließt in sich den Glauben an eine ursprüngliche Vollkommenheit der Welt“.) – §59, S. 340–357, Zit. S. 353.

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und Verstehen“ (R. Bultmann) oder „Wort und Glaube“ (G. Ebeling) gab130. Wo allein Hermeneutik als der Ort galt, die Probleme zu bearbeiten, die in einer objektivierenden, zeitvergessenen, bloß sichernden Metaphysik nur verdorben werden konnten, da wurde von Leibniz nichts erwartet. Die Dogmatik Gerhard Ebelings (1979), eines prominenten Vertreters der Hermeneutischen Theologie, greift in der Schöpfungslehre das „Theodizeeproblem“ auf als einen auch theologisch notwendigen Widerspruch gegen das Reden über Gott; ein Widerspruch, der aber selber den Widerspruch Gottes gegen die menschliche Selbst- und Welterfahrung ausblende. Im Gegensatz zur „Situationsvergessenheit metaphysischer Gotteslehre“ setzt Ebelings Gotteslehre nicht beim selbstverständlichen, einfachen Sein, sondern beim Strittigsein Gottes von Anfang an ein131. Die theologische Antwort auf das Theodizeeproblem wird darum in die Eschatologie platziert, in den § 41 über die Gerechtigkeit Gottes. Ebeling unterscheidet von der Warum-Frage, die der leidende Mensch an Gott richtet, das räsonnierende Anklagen, will dies aber der Situation des Übergangs vom Barock zur Aufklärung, der Verteidigung Gottes in Gestalt eines neuen Gottesbeweises nicht unterstellen. Doch ohne den Lösungsversuch Leibniz’ zu prüfen, greift Ebeling dessen Kritik durch Hegel auf, um von beiden Theodizeen zu urteilen, sie höben die christlichen Voraussetzungen, von denen sie ausgehen, selber wieder auf. Demgegenüber reklamiert er für die Theologie unbeschadet ihres ebenfalls universalen und optimistischen Zugs einen Unterschied im Problemgehalt – das Böse wird radikal verstanden, der Einzelne wird nicht gegenüber dem Ganzen vergleichgültigt – und die Umkehrung der Fragerichtung – nicht die Rechtfertigung Gottes vor den Menschen und ihrer Gerechtigkeit, sondern die Rechtfertigung des Menschen vor und durch Gott nach dem Maß seiner, in Christus offenbarten Gerechtigkeit132. Dieser kritische Kontrast trifft im ersten Punkt wohl Hegel, Leibniz aber gewiss nicht, im zweiten Punkt auch nur recht ungefähr. Ebelings eigene These – Rechtfertigung des Sünders, nicht des Bösen – zieht das erklärtermaßen viel ernstere Problem der Prädestination nach sich, d. h. die Nötigung, das (als menschlicher Widerwille gegen den Allmächtigen unerklärlichen) Böse „in das Geheimnis Gottes einzubeziehen“133. Die ernsthafte Beschäftigung mit Leibniz wurde noch bis in die 1980er Jahre durch die oft extrem pauschale Antithese der Theologie zu „der“ neuzeitlichen Metaphysik fast tabuisiert; die aktuellen theologischen Debatten (Entmythologisierung, Säkularisierung, „Tod Gottes“) und nicht zuletzt die Rezeption M. Hei130 Vgl. Fischer, S. 97–98, S. 306 ff.; als Moment einer „anthropologische Wende“, ebd., S. 313 ff. 131 G. Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens, 3 Bde., Bd. I, Tübingen 1979, S. 165–173. Zu Ebeling (1912–2001) vgl. Fischer, S. 139–145. 132 Ebd., Bd. III, S. 511–519. 133 Ebd., Bd. I, S. 294f; Zit. S. 295; Bd. III, S. 519–529. Ebeling rekurriert auf Luthers Unterscheidung von Deus revelatus und Deus absconditus, die er aber keineswegs als metaphysisch situationsvergessene, sondern als „situationales Nachdenken“ im Kontext der religiösen Grundsituation, d. h. des Gebetes verstehen will; ebd., Bd. I, S. 254–257, S. 295, Bd. III, S. 521–523.

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deggers taten ein Übriges. Jene „Metaphysik“ war fest mit dem Namen Descartes’ verbunden und wurde als Ursache der modernen Subjekt-Objekt-Spaltung angesehen. Ratschows Versuch, dagegen auf Leibniz zu rekurrieren, blieb solitär; als Leitdifferenz der historischen und systematischen Orientierung konnte die zwischen „cartesianischer“, auf das verstehende Selbst sich begrenzender und „nichtcartesianischer“, umgekehrt das Selbst in das Heilsgeschehen einbeziehender Theologie angeboten werden, wie das öffentlich sehr wirksam etwa Helmuth Thielicke tat. Die von ihm aufgestellte Alternative „Interpretation Gottes durch die Welterfahrung oder umgekehrt“ schloss Leibniz allerdings aus. Seine Dogmatik, deren Prolegomena auf 600 Seiten die „Beziehung der Theologie zu den Denkformen der Neuzeit“ darstellt (1968), kommt nur ein Mal auf Leibniz zu sprechen. Wo es der Fall ist, gibt der Autor etwa zu verstehen, dass die Herrschaft des cartesianischen Ich, das den Gottesgedanken zur Funktion der Welterfahrung macht, ein Argument wie das der Leibniz’schen Theodizee, wir sähen immer nur Teile des Ganzen, nicht mehr zulässt134. Man sollte meinen, dass sich der Blick auf Leibniz gerade für den lohnen würde, der überzeugt ist: „Die cartesianische Theologie kreist im Grunde um die Theodizeefrage“135. Glauben und Denken in der Neuzeit (1983) springt von Descartes ohne Weiteres zu H. S. Reimarus und G. E. Lessing und erwähnt Leibniz nur am Rande, als Gegenstand des Spotts seitens Voltaire und H. S. Reimarus’ oder als „himmelsstürmender“ Systemdenker wie Platon und Spinoza. Die Erwähnung der Monadologie, des „symbolischen Verständnisses jedes kleinsten Weltstücks“ rückt Leibniz neben Goethe und Schleiermacher(!), bleibt aber ohne Folgen136. Die nicht nur im Blick auf Leibniz irreführende bloße Alternative zwischen „cartesianisch“ und „nichtcartesianisch“ wurde, noch vor dem postmodernen Tod der Subjektmetaphysik, am gründlichsten destruiert von Eberhard Jüngel, der die Barth’sche Offenbarungstheologie mit dem hermeneutischen Ansatz R. Bultmanns und auch M. Heideggers verknüpfte – und über beide hinausging. Das führte nicht nur zu einer neuen Konzeption „natürlicher Theologie“ in einer „natürlicheren“ Theologie, die der Universalität auch des christlichen Wortes „Gott“ Rechnung trägt, sondern überdies zum Versuch, den sich offenbarenden Gott als Gott neu zu denken, dies Wort im Sinne Kants genommen. Das Werk Gott als Geheimnis der Welt (1977) arbeitet sich vor allem an Descartes ab, dem J. G. Fichte, L. Feuerbach und F. Nietzsche zugeordnet werden, mit dem Ergebnis: „Das über so etwas wie Existenz entscheidende cogito setzte sich selbst zwischen die essentia dei und die existentia dei und zersetzte so den als Einheit von Wesen und Existenz gedachten Gottesbegriff. […] Es zersetzt damit aber seine eigene Gottesgewißheit“. 134 H. Thielicke: Der evangelische Glaube, Bd. 1, Tübingen 1968, S. 420–421; in den Bänden 2 und 3 kommt Leibniz nicht vor. Zu Thielicke (1908–1986) vgl. Fischer, S. 131–135. 135 Thielicke, S. 308. Andererseits bestreitet Thielicke nicht, dass auch und gerade der Glaube durch die Wirklichkeit angefochten wird, die also die Theodizeefrage provoziert; ebd., S. 324, S. 555–556. 136 Ebd., S. 39, S. 101, S. 105, S. 303; Monadologie, ebd., S. 222, S. 311. Thielicke missversteht allerdings die Fensterlosigkeit der Monaden empirisch, so dass er der Monade ein Ich entgegenstellt, „in dem sich die Welt spiegelt“, S. 311.

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Am „Ende der Geschichte der Metaphysik“ wird der Gottesgedanke undenkbar, und über dem Atheismus wie über der neuzeitlichen Theologie liegt der „dunkle Schatten der Undenkbarkeit Gottes“137. Für sein Ziel, „aus der Erfahrung der Menschlichkeit Gottes die Möglichkeit der Rede von Gott zu erhellen und aufgrund eindeutiger Rede von Gott diesen wieder denken zu lernen“, rekurriert Jüngel nicht auf Leibniz; vielleicht auch deshalb, weil er sich vehement gegen die Beschränkung des Gottesprädikates der Allmacht wendet, die von D. Sölle oder J. Moltmann als Lösung des Theodizeeproblems „nach Auschwitz“ vorgeschlagen wurde. Zweifellos aber deshalb, weil er im Kontext der These, dass Gott „mehr als notwendig“ und „grundlos“ sei, Leibniz’ Gebrauch des Satzes vom zureichenden Grund auch für den Gottesbegriff ablehnt und die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, nur als den Horizont akzeptiert, innerhalb dessen sich die Frage nach Gott stellt – „aber sie führt nicht auf Gott als notwendigen Grund138. Die Theodizeefrage wird eingeführt als spezifisch neuzeitliche Form der Frage: Wo ist Gott? – nachdem er nicht mehr „oben“ ist, und kritisiert, weil sie die unbe-stimmteste Weise ist, nach Gott zu fragen – weshalb am Ende der Metaphysik darauf mit dem „dunklen Wort vom Tode Gottes“ geantwortet wird. Für den christlichen Glauben ist die WoFrage dagegen die konkreteste Frage nach Gott, und sie findet ihre Antwort jenseits der Alternative von anwesend oder abwesend am Kreuz Christi. Die wohlbestimmte, das Wesen Gottes problematisierende theologische Rede vom Tode Gottes besagt, dass es zwar keine einfach „metaphysikfreie, wohl aber eine sich der Metaphysik gegenüber frei verhaltende christliche Theologie möglich wird“139. In der Diskussion der Hegel’schen Vermittlung des neuzeitlich-atheistischen Gefühls mit der christologischen Wahrheit vom Tode Gottes und des dort konstatierten Aufkommens des neuzeitlichen Subjektbegriffs stellt Jüngel Leibniz eng an Descartes’ „Cogito“; er zitiert die Definition der Substanz als einer dem Ich vergleichbaren Monade. Damit wird Leibniz die generell cartesianische Angewiesenheit des Subjekts auf und Vermittlung mit Objekten sowie der daraus folgende Übergang vom „ich denke“ zum „ich mache“ zugeschrieben140 – eine generelle Verabschiedung von Leibniz.

137 E. Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1977, 82010, S. 200, S. IX. Vgl. Fischer, S. 223–238. 138 Jüngel, S. 36–43; Zit. S. 30, S. 41, S. 42. Diese Argumentation geht natürlich bereits gegen Descartes, ebd., S. 23 ff. 139 Ebd., S. 69–71; Zit. S. 70, S. 62. 140 Ebd., S. 109–110. Jüngel zitiert Leibniz (Brief an de Volder vom 20. Juni 1703) hier nach Heidegger.

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V.3. Leibniz’ Theodizee im Horizont apologetischer Offenbarungstheologie: Wolfhart Pannenberg Neue Schätzung erfuhr Leibniz aber in einem anderen wichtigen theologischen Neuansatz des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts, in Wolfhart Pannenbergs Programm einer Theologie, die von Offenbarung nicht nur in der „Geschichtlichkeit“ der menschlichen Existenz, sondern als Geschichte spricht und der daran gelegen ist, die vernünftigen Gehalte des Geglaubten darstellen zu können. Das bedeutet die Einbeziehung der neuzeitlichen philosophischen Arbeit am Problem von Glaube und Vernunft in das theologische Wahrheitsbewusstsein und die neuerliche Integration der sog. natürlichen Theologie. Allerdings wird diese, ähnlich wie bei C. H. Ratschow, nicht nur im philosophischen Gottesgedanken aufgesucht, sondern schon in den Gotteserfahrungen der Religionen141. Pannenberg greift Leibniz’ Ergänzung des ontologischen Gottesbeweis mit dem in einen Kontingenzbeweis umgewandelten kosmologischen Beweis in der Monadologie auf, sieht dies aber doch, da Leibniz den Begriff des absolut Vollkommenen im Sinne von notwendig Existierendem bereits identisch nehme mit dem Gottesgedanken, in der Nachfolge Descartes’, d. h. auf dem von der kosmologischen zur anthropologischen Begründung der Gottesbeweise bis zu Hegel. Gegen diesen betont Pannenberg aber, dass Leibniz’ kosmologisches Argument aus der Zufälligkeit des Endlichen nicht naturreligiös sei, sondern erst auf dem Boden des Schöpfungsglaubens möglich geworden sei. Es sei kein stringenter Nachweis des Daseins Gottes, aber doch der Notwendigkeit, dass das menschliche Denken sich über alles Endliche „zum Gedanken eines durch sich selbst existierenden Ursprungs erheben muss“142. Pannenberg nimmt Leibniz’ Kritik an I. Newtons ‚pantheistischer‘ Bestimmung des Raumes als sensorium Dei leider nur zum Anlass, die Funktion des Raumbegriffes bei Newton zu verteidigen, ohne auf Leibniz’ eigenen Begriff der Allgegenwart Gottes einzugehen143. Aber im Blick auf den damit (als Bedingung)

141 W. Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 2. Kap.: „Der Gottesgedanke und die Frage nach seiner Wahrheit“, S. 73–132, hier S. 93–108; die Revision der natürlichen Theologie in ders.: Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988. Zu Pannenberg vgl. Fischer, S. 163–178; eine hegelianische Kritik nimmt vor Ch. Glimpel: Gottesgedanke und autonome Vernunft, Göttingen 2007. 142 Pannenberg, Bd. 1, S. 94–106; Zit. S. 106. Pannenberg kritisiert zugleich die DescartesInterpretation E. Jüngels, unter Rekurs auf D. Henrich, ebd., S. 94, Anm. 56. 143 Ebd., S. 446–447. Newton wird kritisiert, insofern er die Vereinbarkeit der Transzendenz Gottes und seiner Gegenwart bei den Geschöpfen zwar mit dem Begriff des immensitas benannt, aber nicht hinreichend erklärt habe, ebd., S. 447. Dieses Problem greift die Schöpfungslehre wieder auf, wo Pannenberg der Leibniz’schen Raumdefinition zustimmt, aber statt der monadischen Raumpunkte, von denen die Manifestation von Kraft ausgeht, den seit Michael Faraday eingeführten Feldbegriff einsetzt und so Raum und Zeit in einem dynamischen Feld des göttlichen Geistes korreliert sehen kann (was zugleich den traditionellen als Geist im Sinne vernünftiger Subjektivität korrigiert), ders.: Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen 1991, S. 99–124, hier S. 101–102, S. 106–108. – Auf Leibniz’ Raumtheorie greift anticartesi-

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eng verknüpften Begriff der Allmacht positioniert sich Pannenberg schon in der Gotteslehre gegen Leibniz, dass von Gottes Allmacht nicht abstrakt, als tyrannische Herrschaft) zu reden sei. Aber er schließt sich Kants Widerspruch gegen Leibniz’ Meinung an, dass nicht die Möglichkeit, sondern nur die Wirklichkeit der Dinge von Gottes allmächtigem Willen abhänge: „Gottes Schöpferhandeln begründet die Möglichkeit der Dinge selber“144. Dies wird in der Schöpfungslehre vertieft, die auch eine Diskussion der Théodicée einschließt145. Pannenberg nimmt den menschlichen Erfahrungen nichts an Gewicht, welche die Güte des Schöpfungswerkes in seiner Entsprechung zum Schöpferwillen strittig machen, aber um eine Rechtfertigung Gottes dafür kann es am Maß des biblischen Schöpfungsglaubens niemals gehen, allenfalls um die des Menschen, der jenem Willen widerspricht. Pannenberg stimmt hierin K. Barth zu, fügt aber noch das spezifische Argument hinzu, dass der christliche Glaube an das Erscheinen des endzeitlich neuen Menschen als Vollendung der Schöpfung nicht auf einen vollkommenen Anfangszustand festlegt. Das verstärkt die Verwerfung jeder theoretischen (die Schattenseite der Welt unvermeidlich bagatellisierenden) Theodizee zugunsten der Hoffnung auf die reale Überwindung des Leidens und des Bösen, und die Kritik an Leibniz konzentriert sich auf seine Begrenzung auf die ursprüngliche Weltordnung, in der die „Geschichte des göttlichen Heilshandelns und seine in Christus schon angebrochene eschatologische Vollendung“ nicht mit einbezogen ist146. Wie Leibniz lehnt Pannenberg den traditionellen Versuch ab, alle Übel als Sündenfolgen zu betrachten, ausdrücklich mit Leibniz nennt er den möglichen Missbrauch geschöpflicher Freiheit eine Bedingung geschöpflicher Realisierung der Schöpfungsabsicht Gottes. Doch angesichts der providentiellen Zulassung des Bösen und des Übels, die es nicht erlaube, es ästhetisch mit dem Guten der Schöpfung zu harmonisieren, will Pannenberg das „sehr gut“ von Gen 1,31 als Vorgriff auf die endzeitliche Erlösung der Welt auffassen147. Weil Pannenberg die traditionelle These der ontologischen Nichtigkeit des Bösen in einer eschatologischen Perspektive (nicht in der neuplatonischen) akzeptiert, besteht er gegen den irrigen Versuch einer Entlastung Gottes christologisch darauf, dass Gott die Verantwortung für seine Schöpfung einschließlich des Aufkommens des Bösen übernommen habe. Das impliziert, dass es eine bereits ursprüngliche Unvollkommenheit im Menschen gibt, und zwar nicht bloß eine Schwäche an Seinsmacht, sondern das metaphysische Übel seiner Endlichkeit.

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anisch auch zurück J. Moltmann: Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985, S. 162–166. Pannenberg, Bd. 1, S. 449–456, hier S. 446–447, mit Bezug auf Théodicée § 335; mit E. Jüngels Vorordnung der Möglichkeit vor der Wirklichkeit, ebd., S. 450. Ders., Bd. 2, S. 189–202. Ebd., S. 192. Pannenberg kritisiert ausdrücklich nicht den Versuch, der Gerechtigkeit Gottes in seinen Werken nachzuspüren, wohl aber, dass die Vernunft nicht „dem von Gott selbst zur Rechtfertigung seiner Gottheit beschrittenen Wege nachdachte“. Ebd., S. 192, Anm. 454. Ebd., S. 192–196 (Verweis auf Leibniz S. 194, Anm. 459); ebenso Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, S. 692–694, in Kritik an K. Barths christologischer Reduktion der Geschichte.

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Pannenberg stimmt dieser, von der neuplatonischen Deutung abrückenden These Leibniz’ ausdrücklich zu. Auch verteidigt er Leibniz gegen John Hick, dem zufolge die Zurückführung des malum metaphysicum schon auf das Möglichkeitswissen Gottes dessen unendliche Macht verneint: Der Wille Gottes, auch wenn dem Verstand Gottes nicht nachgeordnet, stimmt doch mit diesem überein. Mit Hick beurteilt er Leibniz’ Theodizee nicht als optimistisch, denn sie besage in Wahrheit, dass die wirkliche Welt unter den genannten Bedingungen „immer noch die relativ beste Welt [sei]: Eine bessere zu fordern, wäre töricht“148. Pannenberg kann das als „Ausdruck eines christlichen Realismus“ würdigen, lehnt aber Leibniz’ Begründung für die „beste Welt“ als der von Gott einzig realisierbaren aufgrund des „Prinzip(s) des theologischen Voluntarismus“ ab: „[…] der göttliche Wille als Ursprung der Kontingenz des außergöttlichen Seins [ist] auch selbst die Regel des Guten für die geschöpfliche Wirklichkeit“.

Er stimmt K. Barth zu, dass die Welt trotz aller ihrer Schatten gut sei, weil sie von Gott geschaffen und bejaht ist. Allerdings dürfe man, und das sei das Wahrheitsmoment in Leibniz’ Kritik des nominalistischen, radikalen Voluntarismus, diesem Willen keine abstrakte Freiheit z. B. zu Widersprüchlichem zuschreiben149. Von Leibniz rückt Pannenberg schließlich darin ab, dass es nicht genüge, die Beschränktheit des Geschöpfes als Grund der Möglichkeit des Bösen anzusetzen; das bleibe der neuplatonischen Auffassung des Bösen als Mangel verhaftet. „Die Wurzel des Bösen ist eher im Aufstand gegen die Schranke der Endlichkeit zu suchen […]“; die Selbständigkeit des Menschen, Ausdruck seiner Vollkommenheit als Geschöpf, ist verbunden mit dem Risiko seiner Verselbständigung gegen den Schöpfer und gegen andere Menschen. Wie die Vergänglichkeit und das Leiden an ihr, „mußte“ der Schöpfer auch die Möglichkeit des Bösen als Folge jenes sich selbst absolut Setzens „in Kauf nehmen“ und die Verborgenheit seiner Gottheit, ja ihre Infragestellung durch die Selbstständigkeit seiner Geschöpfe „auf sich nehmen“150. Der entscheidende Grund, weshalb die Théodicée dennoch nicht als zureichend angesehen werden kann, ist mithin, dass sie sich nicht unter einen eschatologischen Vorbehalt stellt. Pannenberg rückt ihre Diskussion unter die Fragestellung „Schöpfung und Eschatologie“, und in diesem Sinne greift er das Theodizeeproblem und die „Versuche ihrer argumentativen Bewältigung“ nochmals im letzten Kapitel der Eschatologie, „Die Rechtfertigung Gottes durch den Geist“, 148 Pannenberg, Bd. 1, S. 196–198. Pannenberg bezieht sich auf J. Hick: Evil and the God of Love, 1966 [London 1993], ebd., S. 192, Anm. 456, S. 195, Anm. 463, S. 198 sowie auf die free will defence der britischen Religionsphilosophie (J. L. Mackie, B. Mitchell, A. Plantinga), ebd., S. 194, Anm. 458. 149 Ebd., S. 198. Pannenberg widerspricht daher der calvinistisch inspirierten These A. Plantingas (God, Freedom and Evil, 1975 [Michigan 1991]), dass Gott nach seiner Allmacht jede mögliche Welt hätte erschaffen können, ebd., Anm. 473. Schon früher hatte er der Barth’schen Figur des „Nichtigen“ (s. o. Anm. 86) widersprochen, ebd., S. 29. 150 Ebd., S. 199, S. 200; ebenso ders., Bd. 3 im Vorblick auf die Offenbarung der Liebe Gottes in der Vollendung der Schöpfung, S. 689–691.

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auf. Hier stellt er erneut die bleibende Bedeutung des Begriffs des metaphysischen Übels heraus, hält aber diesen Realismus für nicht ausreichend, den Schöpfer dieser „besten Welt“ zu rechtfertigen, sobald seine Existenz in Zweifel steht – dann spricht er leicht für Atheismus; Leibniz habe der von ihm vertretenen Sache mehr geschadet als genützt. Die Frage, warum überhaupt etwas geschaffen wurde, muss zu zeigen versuchen, dass die Überwindung des Bösen in der Geschichte und der Selbstverwirklichung Gottes in ihr sich als reale Versöhnung in der Geschichte und ihrer Vollendung vollzieht. An Hegel kritisiert Pannenberg aber, dass die Versöhnung des allgemeinen Ganzen auf Kosten der Individuen geht: die „antichristliche Struktur innerweltlicher Eschatologie“151. Leider wird hier nicht Leibniz’ Verknüpfung des Individuellen mit dem Ganzen im Konzept der Monade diskutiert152.

V.4. Fazit: Théodicée – und die Monadologie? Nach ihrer Diffundierung im Weltanschauungskampf der ersten zwei Dezennien des 20. Jahrhunderts und nach ihrer Abdrängung als theologisch problematisch oder illegitim bis in die 1960er Jahre hat die Leibniz’sche Théodicée im letzten Drittel des Jahrhunderts wieder einen Platz im theologischen Diskurs erhalten – allerdings einen bislang prekären Platz. Dafür scheint erstens verantwortlich zu sein, dass die aktuelle Beziehung der Theologie auf metaphysisches Denken weniger klar ist als zu einer Zeit, in der man ohne Weiteres meinte, „existentielles“ und geschichtliches Denken in Opposition setzen zu sollen. Nach dem vermeinten Ende der Metaphysik auch in Gestalt der neuzeitlichen Subjektmetaphysik und in der Situation mannigfaltiger metaphysischer und „nachmetaphysischer“ Experimente muss die nicht einfach mit dem Gottesgedanken, sondern mit Religion befasste Theologie ihre kritischproduktive Korrelation mit „der“ Metaphysik neu ausmitteln153. Es scheint jedoch eine Art Konsens, dass die starke, theologieaffine, aber nicht weniger theologiekritische, auf jeden Fall Metaphysik Leibniz’ nicht geeignet ist, der ontologischen 151 Ebd., S. 679–684; Zit. S. 683. 152 Die historischen Vorlesungen sprachen Leibniz an in seiner kosmologischen Ergänzung des ontologischen Gottesbeweises, der monadologischen(!) Überwindung des Dualismus von res cogitans und res extensa und anlässlich der Erkenntnislehre J. Lockes, ders.: Theologie und Philosophie, Göttingen 1996, S. 148–149, S. 154–156, S. 158–159; ein Beitrag Leibniz’ für die „Konzentration auf die Individualität“ wird jedoch nicht genannt, ebd., S. 111 ff., S. 155– 156. 153 Vgl. I. U. Dalferth: Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, bes. S. 73 ff., zum Theodizeeproblem S. 307–332; M. Wrathall (Hrsg.): Religion after Metaphysics, Cambridge 2003; W. Sparn: „Ontologische Metaphysik versus metaphysische Religion. Inwiefern erfordert die theologische Analyse von Religion metaphysisches Denken?“, in: H. Deuser (Hrsg.): Metaphysik und Religion. Die Wiederentdeckung eines Zusammenhangs, Gütersloh 2007, S. 9–59; F. Hermanni: Metaphysik – Versuch über letzte Fragen, Tübingen 2011. Zum nichtprotestantischen Kontrast vgl. J. Schmidt: Philosophische Theologie, Stuttgart 2003; J. Grondin: Die Philosophie der Religion, Tübingen 2011.

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Reflexionsaufgabe der Theologie ein guter Ratgeber zu sein. Das wird, wenigstens in bestimmter Hinsicht, eher von G. W. F. Hegels Philosophie angenommen, oft am ehesten aber von der transzendentalistischen Verknüpfung von Subjektivität und Religion in der Tradition F. Schleiermachers. Wo diese philosophische Theologie abgelehnt wird, erscheint eine Relektüre der Théodicée sinnvoll: ein „Umweg über Gott“ angesichts der Ratlosigkeit der Vernunft angesichts des Übels; Leibniz rate hier der Vernunft, die inzwischen die Perspektivengebundenheit aller Vernunft erkannt hat, für das wider- und übervernünftige Kontingente zu öffnen154. Dass Leibniz’ Théodicée doch nur einen prekären Platz im theologischen Diskurs einnimmt, hängt zweitens damit zusammen, dass sich ein breiter Konsens herausgebildet hat, dass das Theodizeeproblem auch und gerade nicht in Gestalt einer konsistenten Theorie zu lösen ist, das Nachdenken darüber vielmehr nur vorläufige Bedeutung hat, vorläufig im Blick auf die einzig wirkliche befriedigende Lösung, die reale Überwindung von Leiden und Bösem. Es ist daher die der christlichen Theologie eigentümliche eschatologische Perspektive, die eine protologische Theodizee stark relativiert – es sei denn, ihr theoretisches Profil wäre nicht metaphysisch im Sinne von lediglich protologisch. Für Leibniz könnte das vielleicht der Fall sein im Blick auf die monadologische, Kontingenz ja keineswegs ausschließende Basis der Théodicée; diese Anregung C. H. Ratschows ist bislang nicht aufgegriffen worden. Sollte die Theologie dem „populären Leibniz“ im Sinne B. Russells verhaftet geblieben sein? Man darf vermuten, dass die mit dem Monadenkonzept verbundene Annahme einer prästabilierten Harmonie alles Geschehens und die Erwartung eines providentiell-evolutionär verbürgten „ewigen Fortschritts“ theologisch abschrecken; man muss aber auch sagen, dass der Begriff der Monade und speziell ihre Fensterlosigkeit nicht selten empiristisch missverstanden worden sind155. Am Ende des 20. Jahrhundert steht, so könnte man vermuten, die theologische Aufgabe an, einen die nachleibnizschen Einsichten einschließenden, modifizierten Begriff der Monade, des individuellen Seins, als ontologischen Grundbegriff im Gespräch mit den Disziplinen metaphysischen Denkens mit zu entwickeln. Schon im frühen 20. Jahrhundert hat E. Troeltsch diese Aufgabe benannt, als er für die Orientierung in der Krise forderte, das körperbezogenallgemeingesetzliche und das ichbezogen-genetische Wissen, in einer „Individualitätsidee“ zu verbinden, die Individualität beschreiben kann als „Ineinander von Tatsache und Geist, von Natur und Ideal, von Notwendigkeit und Freiheit, von 154 Ph. Stoellger: „Die Vernunft der Kontingenz und die Kontingenz der Vernunft. Leibniz’ theologische Kontingenzwahrung und Kontingenzsteigerung“; I. U. Dalferth: „Übel als Schatten der Kontingenz“, in: Dies. (Hrsg.): Vernunft, Kontingenz und Gott, Tübingen 2000, S. 73–116 bzw. S. 117–169; Zit. S. 168. 155 Das ist besonders bedauerlich, wenn zugleich der ursprünglich trinitarische Begriff der Perichorese auf alles Geschaffene angewandt wird: „Jede Monade hat – entgegen Leibniz – viele Fenster. Sie besteht in Wahrheit nur aus Fenstern. Alles was lebt, lebt auf seine je spezifische Weise ineinander und miteinander, voneinander und füreinander: ‚Alles ist ewig im Innern verwandt‘“. J. Moltmann: Gott in der Schöpfung, München 1985, S. 31.

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Allgemeinstem und Besonderstem“. Eine solche Idee zugleich natürlicher und geschichtlicher Individualität sieht Troeltsch in Leibniz’ Monadenkonzept erstmals ausgebildet; es komme darauf an, „die allgemeine, universalgeschichtliche und schließlich kosmische Bewegung […] vom Einzelnen, von der monadologischen Deutung der empirischen Individualitäten her“ zu erreichen156. Aber das ist auch heute nicht nur eine theologische Aufgabe.

156 Troeltsch: „Der Historismus und sein Probleme“, Zit. S. 211–212, S. 244; vgl. S. 207 ff., S. 243–244, S. 599–600. (Verweis auf D. Mahnke: Eine neue Monadologie, Berlin 1917).

THEODIZEE NACH AUSCHWITZ − VERSUCH ÜBER DIE WAHRUNG DES MENSCHLICHEN LEBENSSINNS1 Volker Gerhardt (Berlin)

1. VERLUST DER SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT Für das Geschehen, das sich mit dem Namen Auschwitz verbindet, findet sich kein Begriff, der angemessenen genannt werden könnte. Das Ausmaß des Verbrechens übersteigt jede Vorstellungskraft. Der Plan zum mehrfachen Genozid, der Bau der Lager, die Erfindung und Einrichtung der Vernichtungsmaschinerie, der viehische Abtransport der Opfer, ihre Misshandlung, Beraubung und Schändung, der fabrikmäßig organisierte Mord und schließlich die Beseitigung der Toten als seien sie Müll können zwar beschrieben und mit Worten benannt, aber nicht begriffen werden. Begreifen ist Verstehen im Zusammenhang einer Welt, die uns die Vernunft nur in Verbindung mit einem Begriff unserer selbst erschließt. In Auschwitz aber hat die Vernunft nicht nur in der historischen Praxis versagt; sie reicht auch in der Theorie nicht aus, um ihr Versagen verständlich zu machen. Was immer sie uns vermittelt, will nicht zum Selbstbegriff eines Wesens passen, das sich selbst „vernünftig“ nennt2. Alles in Auschwitz Geschehene ist menschlichen Einschätzungen, Absichten und Absprachen entsprungen. Es fand mitten in Europa statt, das nicht nur für sich selbst, sondern für alle anderen Kontinente den Humanismus erfand, auf den sich heute das Menschenrecht gründet. Es sollte mit Ideen zu tun haben, die hundertfünfzig Jahre zuvor mit der Rettung der Kultur verbunden worden waren und jetzt ihrer Vernichtung Vorschub leisteten. An der Organisation der jeden Gedanken an die menschliche Kultur zerstörenden Maschinerie waren Personen beteiligt, denen in Technik, Ökonomie und Verwaltung überragende Kompetenz bescheinigt wurde. Sie versahen pünktlich ihren Dienst, taten ihre amtliche Pflicht, legten besonderen Eifer an den Tag, wurden für ihre herausragenden Leistungen mit Orden

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Eine Kurzfassung des vorliegenden Beitrages erschien als Band 10 der Hefte der LeibnizStiftungsprofessur, Hannover 2012. Siehe dazu den Sammelband: D. Ganten/V. Gerhardt/J.-C. Heilinger/J. Nida-Rümelin (Hrsg.): Was ist der Mensch? Berlin – New York 2008.

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ausgezeichnet und glaubten in alledem tatsächlich, sie erfüllten eine wohl begründete politische Mission. Zwar dürfte es unter den Beteiligten niemanden gegeben haben, dem nicht klar war, dass er Unrecht tat und Schuld auf sich lud. Allen, die darüber nicht öffentlich gesprochen haben, muss bewusst gewesen sein, dass sie eine Ungeheuerlichkeit begehen. Aber sie beteiligten sich in dem Bewusstsein einer – wie immer auch verstandenen – geschichtlichen Notwendigkeit. Wenn die Geschichtsphilosophie, wie das vom 19. Jahrhundert an die Regel war, die Metaphysik ersatzlos überwindet, kann jeder in die Zukunft projizierte Zweck die Gegenwart zu einem Mittel machen, das durch den Dienst an der angeblich besseren Zukunft gerechtfertigt erscheint. Für Straftaten, die sich nur zu oft an der Grenze des Nachvollziehbaren bewegen, haben wir Begriffe, die ihre Einordnung, Bewertung und Verurteilung erlauben. Das gilt insonderheit für Verbrechen, die sich die Machthaber zu Schulden kommen lassen. Die politische Geschichte erteilt uns die Lehre, dass die Hüter des Rechts für den Rechtsbruch besonders anfällig sind; die daraus folgenden Untaten stellen für alle Zeiten das menschliche Urteilsvermögen auf eine harte Probe. Gleichwohl gibt es Kategorien und konstitutionelle Mittel, um der Perversion des Rechts entgegen zu wirken. Auschwitz aber steht für die Perversion der Normalität des menschlichen Lebens überhaupt, weil in dieses Geschehen so gut wie alles einbezogen war, was im Alltag des familiären und des öffentlichen Lebens, in Technik und Verkehr, in Erziehung und Wissenschaft, in Kultur und Politik unverzichtbar ist. Und da nicht eben wenig davon auch nachher unverzichtbar geblieben ist, hätte nach der Ungeheuerlichkeit des Holocausts eigentlich gar nichts mehr so sein dürfen, wie es früher einmal war. Alles hätte als Fortsetzung des Lebens mit teuflischen Mitteln und somit dauerhaft ins Gegenteil verkehrt erscheinen müssen.

2. DAS HOHE ZIEL DER THEODIZEE Das Makabre an Adornos Bemerkung über die Unmöglichkeit, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben, liegt darin, dass sie sich auf das preziöse Beispiel der Poesie beschränkt. Strenggenommen war alles unmöglich geworden, insbesondere das, was man „menschliches“ Leben nennt. Was konnte nach Auschwitz noch als selbstverständlich gelten? Wie sollte es nach 1945 möglich sein, eine Kindheit zu haben, von der man im Rückblick sagt, sie sei „glücklich“ gewesen? Wie konnte man weiterhin die Sprache sprechen, in der die Vernichtungsbefehle ausgegeben wurden? Warum verstummen wir nicht wenigstens, wenn sich Wörter wie „Gas“ oder „Kammer“, „Rampe“, „Wagon“, „Grube“ oder „Lager“ auf unseren Lippen bilden? Es ist nicht unmöglich, auf diese ausweglos erscheinenden Fragen eine Antwort zu geben. Das sollen die folgenden Überlegungen wenigstens wahrscheinlich machen: Wer Auschwitz als eine geschichtliche Wende begreift, muss die unsägliche Not und Ausweglosigkeit, die Katastrophen, Verbrechen und in der ge-

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schichtlichen Gegenwart definitiv erscheinenden Unmenschlichkeiten früherer Zeiten nicht in Abrede stellen. Wer an das Hinschlachten der Völker in der uns bekannten Geschichte erinnert, muss nicht in Verdacht geraten, den nationalsozialistischen Massenmord zu verharmlosen. Aber eine Verständnishilfe für den Zugang zum Unverständlichen ist es doch, auch früheren Epochen der Menschheit die Verzweiflung und Ratlosigkeit angesichts des von Mensch und Natur veranlassten Unheils zuzugestehen. Und wenn es ihnen gelungen ist, die später Geborenen immerhin so anspruchsvoll zu machen, dass sie meinen, in ihrer Zeit den absoluten Höllensturz des Sinns erlebt zu haben, dann kann uns das historische Beispiel für die Wiederbelebung des alltäglichen Lebenssinns vielleicht doch eine Hilfe sein. Das historische Beispiel ist die Theodizee. Ich verstehe sie als den unter uns heute harmlos erscheinenden Daseinsbedingungen unablässiger europäischer Kriege, fortgesetzter Vernichtung und Versklavung außereuropäischer Völker, trotz der Leibeigenschaft der heimischen Bauern, der Rechtlosigkeit des Dienstpersonals, trotz verbreiteter Seuchen, hoher Kindersterblichkeit und des Sittenverfalls sowohl in den aufblühenden Städten wie auch an den prunkvoll auftrumpfenden Höfen unternommenen Versuch, die Normalität eines vernünftigen Lebenssinns gegen den Anschein seiner alltäglichen Widerlegung zu retten. Wir verdanken es der Hartnäckigkeit einer klugen Regentin, der Königin Sophie Charlotte von Preußen, dass sie den Begründer der Berliner Akademie der Wissenschaften dazu animiert hat, seine Überzeugung von der trotz allem gegebenen Zweckmäßigkeit in der Einrichtung des menschlichen Daseins niederzuschreiben3. So können wir nachlesen, warum Leibniz den Schöpfer der Welt nicht nur moralisch ohne jeden Tadel findet, sondern ihn trotz der zahllosen Störungen durch Feuersbrünste, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche und Erdbeben sogar in seiner technischen Kompetenz als Baumeister des Ganzen „vollkommen“ nennen kann. Das 1710 erschienene, alsbald berühmte und seit dem Erdbeben von Lissabon 1755 zunehmend verlachte Werk4 zeigt in einer auch durch Kant nicht widerlegten Weise, wie sich Welt und Vernunft im Ganzen entsprechen: Erstens belegt die bloße Tatsache von Erkennen, Wissen und gelingendem Handeln, dass es der Vernunft möglich ist, sich einen Begriff von der Welt zu machen. Zweitens muss die Vernunft in der Welt ihre Entsprechung haben, wenn sie überhaupt etwas als wirklich denken können will. Drittens kann die Vernunft nicht anders, als sich notwendig auf das Ganze der Welt zu beziehen. Wollte sie nur Teile oder Bruchstücke denken, setzte sie gleichwohl deren Verbindung zu 3

4

G. W. Leibniz: Theodicee, nach der Gottsched’schen Edition von 1744 ergänzt, kommentiert und hrsg. von H. Horstmann, Berlin 1996. Zur Entstehung der Niederschrift siehe den so gelehrten wie witzigen Roman von Renate Feyl: Aussicht auf bleibende Helle, Köln 2005. Wolfgang Breidert (Hrsg.): Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel der europäischen Zeitgenossen, Darmstadt 1994; Regina Ammicht Quinn: Von Lissabon bis Auschwitz. Zum Pardigmawechsel in der Theodizeefrage, Fribourg 1992; Susan Neiman: Evil in modern thought. An alternative history of philosophy, Princeton – Oxford 2002.

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einem Ganzen voraus. Viertens kann sie keine die Welt überbietende Steigerung ihrer selbst denken, die nicht selbst wieder vernünftig wäre; das Gleiche gilt von der Vernunft. Sie kann auch nicht durch Übermaß in Unvernunft umschlagen. Da es fünftens der Vernunft widerspräche, das geballte Etwas der Welt aus dem Nichts entstehen zu lassen, muss sie sich auch einen Grund des Ganzen denken, der im Ganzen so wenig fehlerhaft sein kann, wie sie es selbst im Ganzen sein kann. Denn anders wäre nicht auszuschließen, dass sie auch im Ganzen derart anders wäre, dass die Vernunft gar nichts von ihr zu fassen bekäme. Von größter Wichtigkeit ist sechstens, dass Leibniz zwar mit erschöpfender Gründlichkeit die vielfältigen Einwände erörtert, die in der Geschichte des Denkens gegen die Macht, die Güte und die Weisheit Gottes gemacht worden sind, und ihm dabei kein Detail der Argumentation unwichtig ist. Aber seine philosophische Absicht ist darauf gerichtet, einen Begriff von der Erhabenheit Gottes in Erinnerung zu bringen, der die aus der beschränkten Vorstellungswelt des Menschen genommenen Einwände hinter sich lässt und ihm die Größe zugesteht, die ihn allererst zum Gegenstand des Glaubens und der Liebe macht: „Unser Zweck“, so heißt es in § 6, „geht dahin, den Menschen die falschen Begriffe aus dem Kopfe zu bringen, die ihnen Gott als einen unumschränkten Fürsten vorstellen, der sich einer tyrannischen Gewalt gebrauchet, und weder genugsam verdienet, dass man ihn liebe, noch das man ihn nachahme“5. Es ist, wie allein die Abgrenzung von der tyrannischen Fürstenmacht zeigt, ein aufgeklärter Begriff Gottes, der nur der Vernunft zugänglich ist, und nicht unter den unklaren Konditionen der Sinnlichkeit verhandelt werden kann. Es geht darum, Gott als den Grund zu begreifen, der dem Ganzen, wenn es denn als eine Einheit begriffen werden kann, mit Notwendigkeit zugrunde liegt. Erlassen wir uns diesen Begriff, wird alles, einschließlich unserer eigenen Existenz, unserer eigenen Handlungen und Begriffe der Beliebigkeit anheimgestellt. Ohne den göttlichen Grund ist buchstäblich alles nichts.

3. GANZES UND GRUND Der Grund, von dem hier die Rede ist, wird traditionell „Gott“ genannt, und strittig ist eigentlich nur, wie und nicht ob es ihn gibt – auch wenn viele meinen, die „Existenz“ Gottes könne ernsthaft in Frage stehen. Da es Gott ohnehin nicht geben kann, wie es Dinge und Menschen gibt, ist es sinnlos, über sein Dasein nach Art von Dingen und Menschen zu streiten. Wenn es andererseits nicht möglich ist, von der Vernunft ohne die von ihr begriffenen Welt – und vice versa – zu sprechen, schließt das die Annahme eines Grundes ein, der beide gleichermaßen, Vernunft und Welt, ermöglicht. Insofern erbringt die Theodizee auch einen Gottesbeweis: Sie setzt Gott als den Grund oder den Sinn voraus, den jeder annimmt, wenn er in seinem Handeln, vielleicht auch nur in seinem Hoffen, davon ausgeht, dass Vernunft und Welt auf5

Leibniz: Theodicee, S. 108; GP IV, 106.

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einander bezogen sind. Wohlgemerkt: Wir wissen dann nicht, wie Gott wirksam ist, wohl aber dass es ein Wesen von der ihm zugeschriebenen Perfektion sein muss, wenn wir uns so wichtig nehmen, ernsthaft tätig zu sein. Wenn wir aber tätig sind, können wir dies nicht ohne Absichten tun, die sich mit Wissen und Annahmen zu Überzeugungen verbinden. Das können alltägliche Meinungen sein. Es sind aber stets auch Erwartungen dabei, die den Sinn des Lebens, den Zweck der Erziehung oder die Bedeutung von Moral, Politik, Wissenschaft oder Kunst betreffen. Solche Überzeugungen nennen wir Glauben, der in allen Fällen auf Gründen beruht, die nicht durch Erfahrung gesichert sein können, weil sie sich notwendig auf das Ganze eines Lebenszusammenhangs stützen. Glaube ist eine Überzeugung, die bereits das Wissen trägt; folglich kann sie nicht selbst durch Wissen gesichert werden6. Die unser Wissen tragenden Überzeugungen beruhen damit auf einem Fundament, das nur im Ganzen eines Lebens- und Handlungszusammenhangs erfasst werden kann. Und wer die Überzeugung von dem sein Wissen und Handeln tragenden Grund mit überlieferten Annahmen über das Wesen und die Wirksamkeit dieses Grundes verbindet, kann darin das religiöse Fundament seines Glaubens entdecken. Im Sinne der Theodizee glauben wir an Gott, sofern wir auf unsere Einsicht setzen, und dies tun wir, auch wenn wir nichts Näheres von der Art seiner Wirksamkeit wissen7.

4. KEINE ERKLÄRUNG EINZELNER FAKTEN Der Gedanke einer Theodizee klingt vermessen. Tatsächlich aber buchstabiert er nur aus, was im ernsthaften Einsatz der menschlichen Vernunft unterstellt ist. Gesetzt, sie entdeckte in der von ihr erkannten Welt einen Mangel, gelänge ihr dies lediglich mit Blick auf eine von ihr selbst gedachte bessere Möglichkeit. Sie zu denken ist eine Leistung der menschlichen Vernunft, die das jeweils denkbar Beste in sich fasst und die – selbst zur Welt gehört! Das von ihr gedacht Beste muss der von ihr gedachten Welt entsprechen, wenn sie diese Welt überhaupt als etwas

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Dazu vom Verf.: „Glaube als Einstellung zum Wissen (1) und (2)“, in: Christ in der Gegenwart 31 und 32 (2010). Englische Fassung unter: http://www.con-spiration.de/ef.html. Die von Leibniz hier eingesetzten Begriffe des Verstandes, der Macht und des Willens, die sich auf das Wahre, das Sein und das Gute beziehen (§ 7), sind dem Menschen zwar sehr nahe, aber sie sind zugleich so allgemein, dass sie die Funktion erfüllen, die Verknüpfung anzuzeigen, um die es in der notwendigen Verbindung aller Ereignisse in allen möglichen Welten geht (§ 9). – Zur modernen Deutung verweise ich auf meine Abhandlung: „Gott und Grund“, in: H. Deuser/D. Korsch (Hrsg.): Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 23), Gütersloh 2004, S. 85–101; ferner ders.: „Die Vernunft des Glaubens“, in: N. Slenczka (Hrsg.): Die Vernunft der Religion. XVI. Werner-Reihlen-Vorlesung am 20./21. November 2007 (= Beiheft zur Berliner Theologischen Zeitschrift [BThZ]), Berlin 2008, S. 26–34.

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denken können soll, in der sie (als Vernunft) möglich ist. Wäre es anders, könnte sie in der Welt keinen ihr zugänglichen Zusammenhang erkennen. Also gilt: Die Korrespondenz zwischen Vernunft und Welt ist keine Hypothese, sondern eine Prämisse der Tätigkeit der Vernunft. Sie setzt es als zwingend voraus, die von ihr gedachte Welt als vernünftig anzusehen. Da die Vernünftigkeit der Welt nicht gesteigert werden kann, hat die in der Korrespondenz als notwendig vernünftig unterstellte Welt auch als die Beste zu gelten. Das Problem dieses Beweises, der uns schlüssig vor Augen führt, dass wir uns mit den Mitteln unserer Vernunft keine bessere Welt als die vorhandene denken können, liegt darin, dass er uns nicht hilft, das im Einzelnen erfahrene Leiden zu verstehen. Leibniz, so spottete schon Voltaire, könne uns nicht erklären, warum ausgerechnet Lissabon vom Erdbeben zerstört werden musste. Und den Juden gibt die Theodizee nicht den geringsten Fingerzeig, warum ihr Gott es zulassen konnte, dass sein Volk durch das, wofür der Name Auschwitz steht, beinahe ausgerottet wurde. Also hat die Theodizee keine Antwort auf die verzweifelte Frage nach dem geschichtlichen Sinn, der nach Auschwitz noch Bestand haben soll. Wenn sie nichts gänzlich Unangemessenes herleiten will, muss sie diesen Teil der geschichtlichen Welt wie eine Leerstelle behandeln. Zwar kann es einen Schandfleck in der Geschichte der Menschheit geben, so wie es Missetäter in einer Gesellschaft oder ein schwarzes Schaf in einer Familie gibt. Selbst in einer lückenlos fortgesetzten Historie einer als Schöpfung gedachten Welt, die das notwendige Pendant einer die Notwendigkeit denkenden Vernunft darstellt, mag es (verständliche) Unglücksfälle und (hinnehmbare) Schönheitsfehler geben. Aber welche Erklärung kann es für ein Geschehen geben, an dem sich Tausende über Jahre hinweg mit vollem Bewusstsein beteiligen und dabei alles beseitigen, was man für vernünftig halten könnte? Auschwitz ist die Selbstzerstörung der Vernunft. Hier scheint die Entsprechung zwischen Welt und Vernunft verloren zu sein, ganz abgesehen davon, dass es keine Erklärung für diesen Einzelfall geben kann. Wie soll man mit Hilfe der Vernunft Gründe in der ihr entsprechenden Welt für ein Ereignis finden, das den Zusammenhang zwischen Vernunft und Welt sprengt? Doch sehen wir von der Tatsache ab, dass der in jeder auf Einsicht angelegten Erklärung unterstellte Zusammenhang von Vernunft und Welt durch den Holocaust historisch ist: Die Theodizee ist nicht darauf angelegt, einen Einzelvorgang in seiner Singularität als vernünftig auszuweisen. Sie kann nur sagen, dass alles seinen Grund in dem einen Grund haben muss, in dem alles gründet. Und wenn „alles“ gemeint ist, kann nichts ausgenommen sein. Also muss auch der fragliche singuläre Vorgang, so schändlich, abwegig und beschämend er auch erscheint, mit einem Sinn verbunden sein. Wollen wir dem göttlichen Grund tatsächlich eine Fehlkalkulation unterstellen, an der seine Göttlichkeit zu Schanden ginge? Nur auf dem Umweg über das Ganze kommt das individuelle Ereignis in den Genuss seiner Rechtfertigung. Wollte man die Ursachen im Einzelnen auf ihre Vernünftigkeit prüfen, müsste man stets über das Ganze gehen, ohne einen den Einzelfall bündig erklärenden Schluss ziehen zu können. Niemand weiß genug,

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um auch nur einen einzigen historischen Fall unter Einbezug aller beteiligten Faktoren als vernünftig auszuweisen. Also bleibt das Argument der Theodizee unvermeidlich allgemein. Solange der Mensch an der Rechtfertigung durch Gründe festhält (was er muss, wenn sein Denken, Wollen und Handeln nicht selber grundlos erscheinen soll), muss er den jeweils anerkannten Grund in seiner Funktion eines überhaupt tragenden Grundes belassen und die – angesichts der Schwächen und Verbrechen des Menschen – ungeheuerlich erscheinende Schlussfolgerung gelten lassen, ihn als „vernünftig“ zu bezeichnen. Täte er das nicht, wäre allein der Satz, dass sich Auschwitz nicht wiederholen darf, eine durch nichts begründete Lautmalerei.

5. ERMUTIGUNG DES EINZELNEN Die Theodizee, so müssen wir schließen, vermag uns keinen auf ein einzelnes geschichtliches Ereignis bezogenen Sinn zu vermitteln. Versuchte man ihr dennoch die Rechtfertigung eines singulären Vorgangs abzupressen, kämen nur lächerliche oder peinliche Auskünfte heraus. Jede konkrete Ausdeutung widerspricht dem Prinzip, auf dem der Beweisgang beruht. Wendete man ihn gleichwohl auf eine geschichtliche Ereignisfolge an, bliebe von der durch die Theodizee versicherten generellen Entsprechung von Welt und Vernunft nur ein durch kein Argument zu erschütternder Optimismus zurück. Er stünde in Gefahr, auf die Opfer wie auch auf die mitempfindenden Betrachter zynisch zu wirken. Wir kennen das aus der Schicksalsergebenheit der Stoiker, die sich gegen alles abzuhärten suchten, was einem Menschen nahegeht. Wäre die Theodizee in ihrer formalen Struktur nicht so eng mit der menschlichen Vernunft verknüpft, müsste sie als Ablenkung von eben dem Leiden angesehen werden, das sie verständlich machen soll. Sie gibt uns kein Mittel an die Hand, ein bestimmtes Unglück zu erklären. Sie macht keinen Schmerz erträglicher, indem sie auseinander setzt, warum er gerade jetzt und ausgerechnet von mir ertragen werden muss. Sie kann nur eine individuelle Gelassenheit erzeugen, die sich auf den Umgang mit dem Dasein als Ganzem bezieht. Und nur sofern ihr das gelingt, setzt sie den Menschen in Stand, ein ihn erschütterndes Ereignis mit Fassung hinzunehmen. Die Theodizee versagt in der Deutung singulärer Tatbestände; wohl aber kann sie das Weltvertrauen eines Menschen stärken, sofern ihm noch seine Vernunft geblieben ist. Und die bleibt ihm, solange er überhaupt an den Sinn seines Tuns und Lassens glaubt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn er die Verhältnisse kritisiert und die Umstände verbessern will.

6. DIE INDIVIDUELL ERFAHRENEN GRENZEN DES WISSENS Was aber, wenn der Mensch durch ein Geschehen wie das des Holocausts in seinem vernünftigen Selbstverständnis erschüttert ist? Was ist, wenn ein Unglück ihn persönlich so getroffen hat, dass ihm die Kraft zur Selbsthilfe fehlt? Wenn er (um

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auch diese Möglichkeit zu nennen) die Argumente der Philosophen kennt, es ihm aber nicht möglich ist, sie auf seine eigene Lage zu beziehen? Die Antwort ist auf Theorie nicht angewiesen: Dem vom Leiden gebrochenen Menschen kann nur durch konkreten Beistand, nur durch die Gegenwart, durch den Zuspruch und die Tat eines Anderen geholfen werden. Das ist der „Nächste“, den jeder dann benötigt, wenn sein Selbst- und Weltvertrauen verloren zu gehen droht. Wenn wir nicht gleich auf Vergessen und Gewöhnung setzen wollen, kann nur die Liebe bewirken, was das Argument nicht vermag. Mit Blick auf den Nächsten bekommt der Begriff Gottes einen Sinn, den man im Argumentationsgefüge der Theodizee vergeblich sucht: Aus dem Begriff für den alles tragenden Grund wird ein Name. Er steht für eine Macht, an die wir uns in der Hoffnung auf konkreten Beistand wenden. Wir sprechen sie an, als könnte sie nicht nur unsere Sprache, sondern auch unsere Sorgen verstehen. Und wir rechnen mit einer Erwiderung, die uns weiterhilft. Von einem als Person adressierten Gott erwartet man, dass er zu einer direkten Erwiderung in der Lage ist. Mit dem namentlich angerufenen Gott verbindet sich der Wunsch, dass einem in persönlicher Bedrängnis individuell geholfen werden kann. Das schließt die Hilfe für andere, womöglich für alle Menschen nicht aus. Entscheidend ist der situative, zumindest persönliche Bezug zum Bittsteller. Wo er sich ergibt, wird Gott nach dem Vorbild einer Person gedacht, die ins weltliche – und somit auch ins geschichtliche – Geschehen eingreift. Kein Zweifel, dass es sich hierbei, wie schon in der philosophischen Spekulation auf die Einheit von Selbst und Welt, um einen hoch suggestiven Vorgang handelt. Außer Zweifel steht aber auch, dass in der individuellen Hinwendung zum Grund des Ganzen ein Minimum an Vernunft gewahrt sein muss. Anders käme es nicht zu einer auf Antwort rechnenden Rede. Die Vernunft spricht hier aus einer Situation, für die ein geschichtlich bestimmter Beistand erbeten wird. So spitzt sich im Namen Gottes die Sinnerwartung an das Ganze zu; und die Stimme Gottes wird als Auskunft verstanden, die einem Einzelnen aus dem Ganzen des Daseins jetzt entgegen kommt. Im Buch Hiob ist ein solches Gespräch zwischen Gott und Mensch überliefert. Hier ist es Gott selbst, der dem Menschen die Theodizee an dessen eigenen Beispiel vor Augen führt.

7. EINE LEKTION FÜR HIOB Angesichts einer überzeugend vorgetragenen Theodizee ist, wenn ich so sagen darf, Hiobs Fall gar nicht nötig. Gleichwohl lehrt er uns am singulären Beispiel, worum es der philosophischen Demonstration der Einheit von menschlicher Vernunft und Welt eigentlich geht: Hiob hat zu lernen, dass der Mensch durch seinen Zweifel an Gott in einen Selbstwiderspruch gerät. Denn mit dem Zweifel überschreitet er die Grenzen seines Wissens und wirft sich zum Richter über den Weltzusammenhang im Ganzen auf, von dem er nichts versteht. Er nimmt Vernunft in Anspruch, um die Vernunft in Frage zu stellen. Er nimmt die Welt als Einheit und schließt sich selber davon aus. So erkennt er nicht, dass er nur in der

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Anerkennung der göttlichen Größe zu einer Übereinstimmung zwischen sich und dem Ganzen finden kann. Durch seinen fundamentalen Zweifel entzieht er sich den Grund seiner eigenen Existenz und macht die Unvernunft zu seinem Lebensmittel. Man könnte auch sagen, dass er in seinem Zweifel, die Prämissen des Zweifelns verrät. Darüber wird er durch Gott belehrt. Nach den ruinösen Klagen Hiobs lässt sich Gott selbst vom Himmel herab vernehmen und spricht zu Hiob als einzelner Person, um ihr zu erklären, dass ein Mensch niemals in der Lage sein wird, den tieferen Sinn eines Geschehens in Erfahrung zu bringen. Alles, was offenkundig ist: der Stand und Gang der Gestirne, der Kreislauf der Natur, das Leben von Pflanze und Tier oder der Wechsel von Krieg und Frieden ruht auf Bedingungen auf, die der Mensch nur unvollkommen kennt und niemals wirklich verstehen kann. Allein das göttliche Wissen, das alles gleichermaßen umfasst, erstreckt sich auch auf die Gründe, in denen der Sinn eines Geschehens beschlossen ist. Die Theodizee liegt hier in der Vergegenwärtigung der schier unglaublichen Komplexität der Welt, deren Geheimnisse dem Menschen verschlossen sind, und die doch alle ihre Einheit im Willen Gottes haben. Er allein verbürgt den Sinn des Ganzen, den man sich in seinem Namen zu Eigen machen kann, ohne selbst über die Kenntnis der Gründe zu verfügen. Anstatt sich seine Mängel einzugestehen und sich um die Haltung zu bemühen, die ihm als Teil der Schöpfung zukommt, verwirft Hiob das Ganze als heillos und verschiebt seine eigene Unvernunft in den Grund des Ganzen. Mit seinem eigenen Verstand hätte er sich klar machen können, wie eng die Grenzen seiner Einsicht gezogen sind. Folglich gibt er die Bedingungen seines eigenen Daseins preis, indem er Gott die Schuld für sein Elend zuschiebt. Hiob wird von der Stimme Gottes dafür gescholten, dass er für sein persönliches Unglück eine göttliche Ursache in Anspruch genommen und für seinen Schmerz einen Grund im Ganzen gesucht hat. Angesichts der Größe, des Reichtums und der Vielfalt der Welt ist es der größte Unverstand, in dem, was sie als Ganze ausmacht, eine Erklärung für das eigene Schicksal sehen zu wollen. Wer es dennoch versucht, der stellt eben damit unter Beweis, dass er nicht begriffen hat, was Gott bedeutet. Die Größe der Konzeption des Buches Hiob besteht darin, dass es vor Augen führt, dass eigentlich schon die Theodizee die menschlichen Kräfte übersteigt.

8. DIE VERNUNFT IM SELBSTVERTRAUEN DES MENSCHEN Die neuzeitliche Theodizee erteilt eine ähnliche Lehre. Ihr theologischer Nachteil, dass in ihr nicht Gott selber spricht, darf philosophisch als ihr Vorzug gelten. Denn wir erkennen nicht nur das menschliche Bedürfnis nach Rechtfertigung seiner Stellung in der Welt, sondern auch das Mittel, mit dem er sich diese Stellung selbst verschafft. Leibniz zeigt uns mit den Mitteln der Vernunft, dass deren Entsprechung im Ganzen liegen muss, sofern sich die Welt auch nur in einigen ihrer Teile begreifen lässt. Je mehr sich die Vernunft genötigt sieht, die Gleichung zwischen sich und

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der Welt auszuziehen, um schließlich beim Postulat eines alles tragenden göttlichen Grundes zu enden, hat sie sich einzugestehen, dass ihr der Rückschluss auf die einzelnen Taten der Menschen nicht möglich ist. Im Vertrauen auf die Rationalität des Ganzen kann sie nur auf die konkret gegebenen Einsichten setzen, um das im Einzelfall Angemessene zu tun. Ob es wirklich vernünftig ist, vermag sie nicht zu sagen; umso mehr setzt sie es voraus und bewegt sich allein dadurch bereits auf dem Terrain des Glaubens. Also selbst mit Blick auf den Glauben trägt die Vernunft des Einzelnen die ganze Last, und sie darf, indem sie die Aufgabe annimmt, mit den die Theodizee tragenden Gründen hoffen, in Übereinstimmung mit dem Ganzen zu bleiben. Konkret wissen, im Einzelfall begründen, das singuläre Ereignis als verlässlich begründet herleiten – das kann sie nicht. So wenig die Theodizee die Deduktion eines einzelnen Datums erlaubt, so wenig lässt sie sich durch einen bestimmten geschichtlichen Vorgang widerlegen. Das gilt nicht nur für diesen Tod und jene Krankheit, nicht bloß für die enttäuschte Liebe, die Hungersnot und den Krieg, sondern auch für die Vernichtungslager. Insofern steht Auschwitz in einer Reihe mit allem, was den Menschen an sich selbst und an der Welt verzweifeln lässt. Das Besondere an Auschwitz ist, dass es uns nicht nur an uns als Menschen in ihrer individuellen Verfassung zweifeln lässt. Die auf höchstem technischem Niveau mit kalter Vernunft betriebene Perfidie der Vernichtungsmaschinerie stellt auch die Kultur in Frage, auf die wir notwendig setzen, wenn wir uns zur Vernunft erziehen. Es muss, wie wir wissen, noch nicht einmal einen Befehlsnotstand geben: Politischer Opportunismus und die Aussicht auf Karriere reichen schon aus, um ein auf Anstand bedachtes menschliches Wesen zum Massenmörder werden zu lassen. Der so harmlos erscheinende Wunsch, nicht als Spielverderber zu gelten, bringt Familienväter dazu, auf Menschen wie auf Tontauben zu schießen. Was kann uns da noch Sicherheit geben? Nichts als das bessere Beispiel und das Bewusstsein, mit allem, was wir tun und erleiden, einem Geschehen zuzugehören, auf das wir unter allen Bedingungen mit unseren eigenen Gründen eingelassen sind. Und nur weil das so ist, können wir sogar noch unter dem Eindruck einer Katastrophe auf eine Wende setzen. Denn mindestens darin trauen wir uns selbst und den Verhältnissen eine Besserung zu. Und dabei setzen wir auf eine Welt, die uns trotz allem entgegenkommt. Und wenn wir darin nicht selbst wieder nur einen elenden metaphysischen Opportunismus sehen wollen, brauchen wir einen Grund, in dem wir ursprünglich mit der Welt verbunden sind. Der Name für diesen Grund ist Gott. Die Theodizee ist demnach erst dann widerlegt, wenn der Mensch die in jeder Erwartung eines Besseren wirksame Hoffnung auf die eigenen Kräfte verliert. Das Erdbeben von Lissabon wäre erst dann ein Einwand gegen sie gewesen, wenn die Menschen es einfach bei der Zerstörung belassen, ihre Toten nicht begraben und weder Rettung noch Hilfe noch ein Weiterleben in Betracht gezogen hätten. Die Wahrheit der Theodizee aber zeigt sich darin, dass der Mensch auch unter widrigsten Umständen noch in der Lage ist, eine wie immer auch beschaffene Chance

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zu ergreifen. Damit setzt er auf eben die Garantie, die seine Vernunft voraussetzen lässt, dass ihre Gründe wirklich Gründe sind. Die von Leibniz entwickelte ingeniöse Form der Rechtfertigung Gottes zeigt somit, wie sehr der Mensch auf eine Welt angewiesen ist, mit der er in seinen eigenen Gründen zusammenstimmt. Damit kann sich jeder klarmachen, dass er nichts Höheres und nichts Besseres denken kann, als die Welt, in der er lebt. Er kompensiert das Defizit seiner Natur durch eine Vernunft, die sich nur in einer Welt realisieren kann, in der sie mit ihren Gründen übereinstimmt. Darin gewinnen wir ein Verständnis Gottes, das eigentlich nicht mehr verrät, als dass wir als Menschen, sofern wir uns als vernünftige Wesen begreifen, auf die Welt, so wie sie in ihren basalen Bedingungen ist, angewiesen sind. Die göttliche Botschaft ist ebenso wie das Lehrstück der Theodizee auf den rechten Gebrauch der menschlichen Vernunft gerichtet. Sie hat eine Entsprechung im Ganzen. Davon gehen wir mit der Sicherheit einer wohl gegründeten Überzeugung aus, wann immer wir überhaupt auf die Vernunft und ihre Einsicht setzen. Aber was es am Ende ist, das dieser Vernunft als Grund der Welt entspricht, können wir nur glauben. Das ist deshalb kein sonderlich gewagter Schritt, weil wir ohnehin ein Vertrauen in unsere Einsichten haben, ohne die wir nicht auf sie setzen könnten. Wir sind notwendig von der Vernunft überzeugt, wenn wir uns auf sie berufen. Diese Überzeugung können wir schwerlich als unvernünftig bezeichnen. Den Status eines begründeten Wissens hat sie dennoch nicht. Sie ist der Glaube an die Vernunft, ohne den sie praktisch nichts bedeutet.

9. NEUE SICHERHEIT IM MENSCHLICHEN TUN Im Angesicht des namentlich angesprochenen Gottes wird der Einzelne als Individuum versichert. Zugleich gewinnt er an sachlicher und sozialer Kompetenz in seinem Tun. Denn mit dem gestärkten Selbstbewusstsein kehrt auch das Vertrauen in die Gesetze zurück, die der Kenntnis des Menschen offen stehen. Das Gesetz erlaubt selbst in denkbar größter Verzweiflung, das zu tun, was jedem Einzelnen mit dem „Du sollst“ geboten ist. Indem jeder das allgemein Gebotene in seiner Lage von selbst befolgt, kommen Universelles und Individuelles zur Deckung. Der Einzelne versichert sich selbst in einer Tat, die Bedeutung für ihn hat. Mag sein, dass ihm die Kraft fehlt, sich an die Gebote zu halten. Bringt er sie aber auf, bewegt er sich im geschichtlichen Feld, in dem er dem Urteil Anderer ausgesetzt ist. Hier muss er es sich gefallen lassen, mit einem allgemeinen Maß gemessen zu werden. Und solange er selbst Ansprüche an Andere stellt, hält er von sich aus das Wechselspiel zwischen Individualisierung und Universalisierung in Gang. So hat selbst das sich auszeichnende Individuum keinen Grund, sich dem gesellschaftlichen Urteil zu entziehen. Das gilt in besonderem Maß für jene, die sich durch ihren Verkehr mit dem Göttlichen auszeichnen, also für die Universalisierung der Individualität schlechthin. Der ethische Effekt liegt in der Verstärkung einer moralischen Einbindung

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des Individuums in seinen sozialen Kosmos. Mit der Individualisierung der Beziehung zu Gott gewinnt der moralische Konnex zwischen den Individuen einer sozialen Einheit an Verbindlichkeit. Im Angesicht des namentlich angesprochenen Gottes können seine Gebote solange nicht in Zweifel stehen, als sie das Selbst des Rat suchenden Ichs nicht zerstören. Gott, den man anreden kann wie sich selbst, erweist sich als der Nächste, der dennoch allgemein darüber Auskunft gibt, was jedem zukommt und was jeder zu tun hat, der noch über seinen eigenen Verstand verfügt. Erst das individuelle, Rat und Kraft suchende Verhältnis zu Gott8 übersetzt die Theodizee in eine Bedeutung für das konkrete Handeln. Es bedarf somit der Wahrnehmung, Bewertung und Entscheidung eines Individuums, um einen singulären Vorgang zu gewichten. Im Angesicht Gottes braucht man den göttlichen Weltplan nicht in Zweifel zu ziehen und im vertraulichen Zwiegespräch mit ihm gewinnt man die Zuversicht, das Nächstliegende zu tun. Es ist nicht die Spekulation über die letztlich zwingend vorausgesetzte Wirksamkeit des Sinns, sondern die in der individuellen Zuwendung erlebte Gegenwart dieses Sinns, der über die Verzweiflung hinweg helfen kann. So kommt Hiob wieder ins Gleichgewicht. Sein Frevel hatte darin bestanden, die Weisheit Gottes in Zweifel zu ziehen. In seiner Not hatte er Beschwerde gegen eine Instanz geführt, deren Beweggründe ihm prinzipiell verschlossen sind. Die von Gott selbst zum Vortrag gebrachte Theodizee hat ihm jedoch seine Ahnungslosigkeit vor Augen geführt. Dadurch wird die im Unglück erfahrene Demütigung noch verstärkt. Und dennoch gewinnt er in der Antwort Gottes seine Sicherheit zurück. Die individuelle Ansprache durch die unendlich überlegene Macht stärkt das Selbstvertrauen der Person. Im so versicherten Vertrauen auf das Ganze wächst auch der Kenntnis des Nächsten wieder Bedeutung zu. Hiob kann erneut auf sein eigenes Urteil setzen. Der zurückgewonnene Glauben macht es ihm leicht, sich auf das zu beschränken, was er selbst bewirken kann.

10. DIE UMSCHULDUNG AUF DEN MENSCHEN Die Leiden Hiobs erscheinen harmlos, wenn man sie mit dem Geschehen von Auschwitz vergleicht. Unter dem Eindruck des Holocausts könnte man es als völlig unangemessen ansehen, dass nur der Mensch sein Verhalten ändert. Müsste nicht die Welt als Ganze eine andere werden? Hätte nicht Gott selbst ein ganz Anderer zu sein, wenn es nach dem Menschheitsverbrechen wieder möglich sein soll, auf eine Zukunft für den Menschen zu hoffen?

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I. Kant: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), in: Ders.: Kant’s gesammelte Schriften (AA), Abt. 1: Kant’s Werke, Bd. 8: Abhandlungen nach 1781, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1912, S. 107–123.

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In seiner bewegenden Rede über den Glauben nach Auschwitz hat Hans Jonas versucht, Gott anders zu denken9. Er hat einen neuen Schöpfungsmythos erfunden, in dem sich Gott mit der Erschaffung der Welt deren eigener Entwicklung unterwirft und somit als „werdender Gott“ an ihrer Evolution partizipiert. Gott herrscht nicht über die geschichtliche Welt, sondern er nimmt leidend an deren Entfaltung teil. Gott wird zum abhängigen Teilhaber der Welt, über die nun der Mensch als Täter verfügt. Und nur sofern die Welt durch das verantwortliche Handeln des Menschen am Ende doch so wird, wie Gott es mit seiner Schöpfung ermöglicht hat, wird der Schöpfer schließlich zur wiedererlangten Einheit mit seinem Werk befreit. So befremdlich dieser nach Auschwitz entworfene Mythos ist: Offenkundig ist, dass Hans Jonas der christlichen Botschaft ein Stück entgegenkommt. Während das Neue Testament davon kündet, dass Gott seinen Sohn den Mächten der Welt überlässt, um die Menschheit zu erlösen, hat der „werdende Gott“ ganz und gar auf seine Allmacht verzichtet. Damit teilt er das Schicksal der Welt und ist ihr in Erfolg und Niederlage unterworfen. Ob er in dieser Abhängigkeit noch unserer Vorstellung von Gott entspricht, mag offen bleiben. Unter dem Eindruck des Schreckens der Vernichtungslager steht für Jonas die Entlastung Gottes im Vordergrund. Diesem Interesse entspricht, dass dem aller Entwicklung nachwachsenden Gott keine Verantwortung für den Holocaust aufgebürdet werden kann. Sie kommt allein dem Menschen zu, und dies so, dass ihm jeder Ausweg versperrt wird, seine Schuld auf die göttliche Übermacht abzuwälzen. Gleichwohl hat er sich vor Gott, der in allem anwesend ist, zu rechtfertigen, denn er geht mit einer Schöpfung um, deren göttlicher Ursprung alle Voraussetzungen enthält, die Welt in ihrer Entwicklung selbst göttlich werden zu lassen. So wird der Mensch zum Treuhänder Gottes. In seiner ihm in der Geschichte zugewachsenen Rolle hat er so zu handeln, als läge das Geschick der Welt allein in seiner Hand. Damit wird das überlieferte Konzept humaner Verantwortung in singulärer Weise auf den Menschen zugespitzt: Mit dem exorbitanten Anstieg seiner technischen Macht, so heißt es im 1978 publizierten Prinzip Verantwortung, falle dem Menschen die alleinige Zuständigkeit für die Bewahrung der Erde, ja, der Natur und des Seins im Ganzen zu. Was geschehen kann, wenn sich der Macht habende Mensch nicht an das Ziel des Bewahrens halte, habe Auschwitz gezeigt.10 In der zehn Jahre später vorgetragenen Theologie nach Auschwitz vollzieht Jonas, durchaus konsequent, den nächsten Schritt und hält es nicht nur für möglich, sondern auch für nötig, dass mit dem Sein auch dessen Schöpfer gerettet werden muss. Der Mensch ist das Geschöpf, das vollends die ganze Last der Schöpfung trägt.

9 H. Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt 1987. 10 Ders.: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1978.

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11. DIE GRENZEN MENSCHLICHER MACHT Es wäre ein Leichtes, die Rede, mit der Gott Hiob zur Besinnung bringt, auf Hans Jonas anzuwenden. Aber angesichts der alle geschichtlichen Parallelen aufbrechenden Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz, die Jonas zur Konzeption einer unumschränkten Verantwortlichkeit des Menschen nötigt, sollten wir uns des Urteils enthalten. Umso wichtiger ist die praktische Konsequenz aus der totalen Selbstverpflichtung des Menschen für das Ganze: Der neue Mythos besagt, dass es nach Auschwitz nicht ausreicht, wenn der Mensch buchstäblich alles tut, um den Erhalt der Natur und des Seins zu sichern. Er ist in dieser Bemühung für die Schöpfung als Ganze zuständig. Das heißt: Er hat auch den Erfolg zu garantieren, auf den sich Gott mit ihrer Inauguration verpflichtet hat, ohne ihn selbst realisieren oder auch nur garantieren zu können. Der Mythos vom werdenden Gott, so problematisch er aus der Sicht der alttestamentlichen und der neuzeitlichen Theodizee auch sein mag, hat den Effekt, die Verantwortlichkeit des Menschen an keine Bedingung zu knüpfen. Zugleich bindet er sie an Ziele, die seinem Wollen weit voraus liegen. Er hat für etwas zu sorgen, das gar nicht in den Entscheidungsbereich seiner eigenen Freiheit fallen kann. Die Freiheit, auf die Jonas 1978 immer dann zu verzichten empfiehlt, wenn das Sein gefährdet sieht, kommt in der Theologie des werdenden Gottes gar nicht mehr vor. Doch wie immer das auch sein mag: Der Mensch kann unter keinen Bedingungen mehr tun, als er kann. Er mag sich die Einzigartigkeit seiner Stellung zur Schöpfung vor Augen führen; er mag sich sicher sein, dass ihm angesichts der von ihm erkannten Risiken am Ende nichts Wichtigeres bleibt, als die Bedingungen seines Daseins zu erhalten. Ja, er kann sich vielleicht sogar davon überzeugen, dass es für ihn keine Entlastung von seiner Verpflichtung gegenüber seinem eigenen Seinsgrund gibt – er also tatsächlich eine absolute Verantwortung spürt: Alles das ändert nichts daran, dass der Mensch in seiner Konstitution, mit seinen Kräften und auf der Basis seines begrenzten Wissens zu handeln hat. Wie viel er sich auch vornimmt: Den Bedingungen seines Lebens kann er nicht entraten. Also hat er selber tätig zu sein. Und so groß seine Handlungsmacht auch sein mag: Im Vergleich mit den im Kosmos wirkenden Kräften ist sie so gut wie nichts. In moralischer, politischer und technisch-praktischer Absicht kann folglich der Mythos vom „werdenden Gott“ nicht mehr erreichen, als Gottes Rede zu Hiob oder die strukturelle Beweisführung in Leibnizens Theodizee: Der Mensch hat unter allen Bedingungen alles ihm Mögliche zu tun, um seine Aufgabe als Mensch zu erfüllen. Aber das ist wenig, gemessen an dem, was im Ganzen möglich wäre. Daran muss sich Hiob erinnern lassen. Das ist es auch, was uns Leibnizens Theodizee vor Augen führt: Die Reichweite der menschlichen Macht ist so beschränkt wie das menschliche Wissen, und der größte Fehler des Menschen ist, das zu vergessen. Er vergisst es bereits dann, wenn er meint, er habe den Erfolg seines Handelns selbst in der Hand. Deshalb braucht er gerade dann, wenn er um den Ertrag seines Handelns bangt, den Glauben an eine gütige Macht, die seine Schwäche kompen-

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siert. Im Vertrauen auf sie kann er dann auch, wie Jonas es verlangt, das Menschenmögliche tun. Mehr aber – leider (würde wohl Jonas sagen), Gott sei Dank (sage ich) – nicht. In praktischer Hinsicht gibt es somit keinen Unterschied zwischen dem Buch Hiob, der spekulativen Beweisführung von Leibniz und dem Mythos vom werdenden Gott: Innerhalb der Grenzen seines Wissens hat sich der Mensch seine Taten selber zuzurechnen. Und da er nicht weiß, aus welchen Gründen überhaupt etwas geschieht, da er nicht zu sagen vermag, warum es Geburt und Tod, Gesundheit und Krankheit, Freuden und Leiden geben muss, hat er sich in den engen Grenzen seines Könnens zu bewegen, die er – selbst durch die größten Forschungserfolge – nicht aufheben kann. Wo aber das Wissen des Menschen endet, da bleibt ihm entweder nur der Verzicht auf jede weitere Auskunft oder aber der Glaube an den unendlich überlegenen Ratschluss Gottes.

12. DIE GESCHEITERTE THEODIZEE Gott hat die Theodizee nicht nötig. Wenn er sie, wie im Buch Hiob, selbst erzählt, dann um des Menschen willen. Aus seinem Mund macht sie die prinzipielle Grenze zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre bewusst und kann so den Einzelnen wie die Menge vor der Selbstüberschätzung ihrer Kräfte bewahren. Wenn hingegen ein Mensch wie Leibniz den Versuch unternimmt, den Beweis dafür zu erbringen, dass die existierende Welt als die beste aller möglichen Welten anzusehen ist, und wenn er damit den Anspruch erhebt, die Ordnung des Ganzen insgesamt als göttlich auszuweisen, dann ist auch das nur eine Demonstration für seinesgleichen, denen er die Zweifel an der Weisheit und Gerechtigkeit Gottes nehmen möchte. Alles, was der Philosoph in logisch einwandfreier Weise vorträgt, ist auf den Menschen berechnet, dem deutlich werden soll, dass sein an Gottes Größe zweifelnder Verstand bereits auf eine Einheit von Welt und Vernunft gegründet ist, die letztlich nur als göttlich bezeichnet werden kann. Der Beweis, so meine ich, ist Leibniz gelungen. Und dennoch ist er mit seinem Untenehmen gescheitert. Denn die Zweifel sind geblieben, ja, sie haben sich (nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit der Theodizee) wesentlich verschärft und können heute als herrschende Meinung gelten. Die Menschheit, die Leibniz metaphysisch aufklären wollte, um sie mit der Welt und ihrer vernünftigen Ordnung zu versöhnen, hat seine Lehre nicht angenommen. Dort, wo man den untadeligen, von Kant, wie gesagt, nicht entkräfteten und von Hegel erneuerten, Beweisgang von der strukturellen Entsprechung von Vernunft und Welt, die einen sie verbindenden Grund in etwas benötigen, für das es keinen besseren Namen als den Gottes gibt … Dort also, wo man das philosophische Argument verstehen sollte, wird am wenigstens darauf gegeben. In der Wissenschaft gilt die Rede von Gott inzwischen längst als unwissenschaftlich. Jede Aussage über das Göttliche steht unter dem Verdacht, mehr zu behaupten, als sich aus menschlicher Perspektive sagen lässt. Deshalb wird zwar ausgiebig über die Religion und das Religiöse gesprochen und Soziologen, die ange-

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treten waren, den Glauben als Ideologie zu entlarven, entdecken dessen Unverzichtbarkeit. Aber Gott ist als Thema sogar den Theologen verdächtig. Sie betreiben daher lieber Religionswissenschaft als Theologie und ziehen sich immer von neuem in die Geschichte ihrer Disziplin zurück.

13. DER VORBEHALT GEGENÜBER DER THEODIZEE Nach dem Grund für die szientifische Zurückhaltung gegenüber Gott braucht man nicht lange zu suchen: Über Gott zu sprechen, setzt ein Wissen voraus, das niemand hat. Wenn Wissenschaft ihren wesentlichen Erkenntnisgrund in der Erfahrung hat, fällt es ihr schwer, von etwas zu handeln, wovon es keine allgemeingültige Erfahrung gibt. Dass auch Logik und Mathematik, Systemtheorie und Ethik, Ontologie und Metaphysik weitgehend auf empirische Belege verzichten, kommt der theologischen Rede von Gott nur selten zu Gute. Deshalb steht die Theodizee heute auch in keinem guten Ruf. Wer für sie argumentiert, setzt sich dem Argwohn aus, aus einer Perspektive zu sprechen, die er selber gar nicht einnehmen kann. Da die Theodizee, wie im Buch Hiob, streng genommen, nur von Gott selbst vorgetragen werden kann, erscheint ihre Ausarbeitung durch den Philosophen als ein illegitimer Akt, in dem der Mensch die ihm gezogenen Grenzen überschreitet. Das kann freilich auch anders verstanden werden. Leibniz etwa spricht an keiner Stelle aus dem Gesichtspunkt Gottes, sondern immer nur vom Standpunkt des Menschen aus. Es ist der Mensch, der seine Welt als objektiven Zusammenhang erkennt und der darin nach einer Auskunft über seine ihm zukommende Stellung sucht. Es ist der Mensch, dessen Verlangen nach Einheit und Sinn nicht nur die Gegenstandserkenntnis, sondern auch sein auf Zwecke gerichtetes Handeln ermöglicht. Theoretische und praktische Bedürfnisse nötigen ihn, sich und die Welt als ein Ganzes zu denken, das er mit Hilfe der Logik aus einem Grund versteht, der die Bedingung dafür ist, das sein Dasein selbst sinnvoll genannt werden kann. Wenn überhaupt, können Welt und Leben nur im Bezug auf diesen Grund verstanden werden. Erst mit diesem Grund, der die erkannte Welt und das nach Erkenntnis strebende, bedürftige Selbst zu tragen vermag, eröffnet sich der Sinnhorizont des Daseins, in dem Gott als Sinnstifter fungiert. Alles, was der Mensch über ihn zu sagen versucht, kann nur auf das Defizit der Welt bezogen sein, das mit dem Begriff Gottes behoben werden soll. Wenn wir uns einer technischen Variante der Lichtmetaphorik bedienen, ist Gott das Negativ, von dem das Positiv der Welt abgezogen wird. Von dem schließen wir dann auf ihn zurück. Ein Wissen haben wir nur von der Welt. Was immer wir über Gott zu sagen versuchen, ergibt sich stets erst in der Schlussfolgerung von der Welt auf ihn. Insofern kann alle Theologie als „negativ“ bezeichnet werden11. 11 Das ist das Verfahren der „negativen Theologie“, die aber, wie schon Nikolaus von Kues gezeigt hat, von der „affirmativen Theologie“ nicht getrennt werden kann (N. von Kues: „De

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Das stellt Leibniz unter Beweis, wenn er von der „Güte Gottes“, von der „Freiheit des Menschen“ und vom „Ursprung des Bösen“ handelt. Er bezieht sich nur auf die empirischen Gegebenheiten des menschlichen Daseins und verknüpft sie mit den als „notwendig“ gedachten Sinnbedürfnissen der menschlichen Vernunft. Dabei kommt er dann zu seinem „Versuch“, der zeigen soll, dass für den menschlichen Verstand kein Widerspruch zwischen der gleichermaßen gedachten wie gewünschten Güte Gottes, der unübersehbaren Tatsache des Bösen und der menschlichen Freiheit bestehen muss. Gleichwohl lehrt uns die geschichtliche Wirkung der ingeniösen Versuchsanordnung der Theodizee, dass sie mehr Missverständnisse hervorruft, als sie zu beseitigen vermag. Der Titel suggeriert eine Selbstrechtfertigung Gottes, und eine Beschreibung der Welt von seinem Standpunkt aus. Deshalb empfiehlt es sich, die Sache der Theodizee direkt zu benennen: Es geht um eine Wahrung des Sinns des menschlichen Daseins, das in einer Welt, die an sich sinnlos ist, selbst sinnlos werden würde. Mit dem Sinn aber ginge alles verloren, was sich der Mensch an technischen, pädagogischen, ethischen, politischen und ästhetischen Aufgaben stellt.

14. DIE THEODIZEE – NUR EIN PROBLEM DES MENSCHEN Eine Theodizee kann streng genommen nur von Gott selber vorgetragen werden. Wenn er überhaupt gerechtfertigt werden müsste, dann könnte das ausschließlich durch ihn selbst – durch sein Werk oder seine Rede – geschehen, so wie es im Buch Hiob geschieht. Für den Menschen ist diese Aufgabe definitiv zu groß. Warum sollte ausgerechnet Gott es nötig haben, sich ausgerechnet vom Menschen verteidigen zu lassen? Schon die Achtung vor der Größe Gottes sollte es dem Menschen verbieten, als sein Anwalt aufzutreten. Und wenn es dennoch geschieht, dann ist die Theorie ein Gottesdienst, den der Mensch um seiner selbst willen feiert. Tatsächlich geht es in allem, was die Theodizee betrifft, nur insofern um die Größe Gottes als sie die Schwäche des Menschen leichter zu begreifen lehrt. Mit Blick auf den Menschen hat die „Theodizee“ genannte Bemühung den Vorzug deutlich zu machen, dass es in der Welt des Menschen Zwecke gibt, für die es sich zu leben lohnt. Es geht um den Nachweis, dass die Vernunft ein Organ des Menschen ist, dessen Leistungen tatsächlich etwas entspricht. Wenn die Vernunft etwas als Ziel oder Wert eines Handelns begreift, dann muss das objektive Bedeutung haben können. Wenn sie nach kritischer Prüfung eines Handlungszwecks zu der Überzeugung gelangt, dass die Freiheit unaufgebbar und die Würde docta ignorantia“, I, XXIV – XXVI, in: Ders.: Philosophisch-theologische Werke, Bd. 1, hrsg. von E. Hoffman/P. Wilpert/K. Bormann, Hamburg 2002, S. 97 ff. Die Affirmation liegt bereits in der Übertragung des durch Verneinung der Eigenschaften der Welt gewonnenen Wissens auf einen unseren Sinnerwartungen korrespondierenden, notwendig nach unserem Bild konzipierten Träger.

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der Person unantastbar ist, dann lässt sich dieses Ergebnis nicht als Illusion abtun, die unter anderen Bedingungen auch anders hätte ausfallen können. Wenn die Kunst als ein Selbstzweck menschlicher Kultur gefördert wird, dann kann dies nicht nach einem Nutzenkalkül gegen andere Leistung abgewogen werden. Ähnliches gilt für den Wert von Erkenntnis und Liebe oder für den Selbstzweck der menschlichen Person. Solche Rangordnungen offenzulegen, zu begründen und gegen Einwände zu verteidigen, ist das eigentliche Beweisziel der „Theodizee“ genannten Theorie. Es kommt nie zu einem Ende, weil jede Zeit jeder Generation neue Bedenken gegen die Vortrefflichkeit der Welt hinterlässt. Das Ausmaß der Übel, die Vielfalt der Leiden, die Unerschöpflichkeit der Bosheit und die beständig drohende Not machen es allemal schwer, bei guten Vorsätzen zu bleiben. Es ist nicht allein der Umgang der Menschen miteinander, auch ihr Verhältnis zu Pflanze und Tier, das Ineinander von Leben und Tod, die Paarung von Lust und Grausamkeit oder die Tatsache, dass die Aufmerksamkeit für eine Sache die Achtlosigkeit gegenüber vielen anderen einschließt. Alles dies kann den Wohlgesinnten schwächen und den Gutwilligen mutlos machen.

15. DER SINN DES BÖSEN Damit die erlebten und erlittenen Widersprüche in der Welt den guten Willen nicht versiegen lassen, sind die Argumente der Theodizee von Bedeutung. Sie werden aber zu leicht genommen, wenn alles, was den guten Absichten entgegensteht, schlechthin als „böse“ bezeichnet wird. Zwar steht der Dualismus der Wertung im Ausgangspunkt ihrer Frage; gäbe es die Erfahrung des Bösen nicht, könnte auch kein Bedürfnis nach dem Guten entstehen. Aber sobald die Theodizee zu ihrer Antwort gelangt, hat sie den schlichten Gegensatz überwunden. Wenn das Böse als eine Bedingung des Guten verstanden werden und die bestehende Welt tatsächlich als die beste aller möglichen Welten gelten können soll, hat das Böse eine unverzichtbare Aufgabe im Ganzen der Realität und kann folglich so abgrundtief böse nicht sein. Schöpfungstheoretisch hat das Böse die kardinale Systemstelle der Konkurrenz, ohne die es im Widerstreit der Kräfte gar nicht zum Guten käme. Die von der Theodizee betriebene Vereinnahmung des Bösen durch das Gute hat von Anfang an für Spott gesorgt. Sie stellt in der Tat eine Zumutung für jeden dar, der dem Guten als solchem zum Durchbruch verhelfen möchte. Diesen Wunsch kann man zwar als naiv beiseiteschieben, um im Gegenzug den Realismus der Theodizee zu loben, die das Böse erst gar nicht zu leugnen sucht. Aber ihre Rechfertigung des Bösen als eines integralen Bestandteils einer im Ganzen vortrefflichen Welt muss ihrerseits nicht nur als zynisch, sondern zugleich als naiv erscheinen. Warum sollten sich das Gute und das Böse harmonisch ergänzen? Mehr noch: Warum sollte man gut sein wollen, wenn die bösen Taten nicht nur im Einzelnen, sondern auch im Ganzen der Welt so erfolgreich sind? Warum noch Gutes tun, wenn das Böse zu seinen notwendigen Voraussetzungen gehört?

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Solche Erwägungen werden durch die Erinnerung an Auschwitz schon im Ansatz erstickt. Jedes unentschiedene Sowohl-als-auch in der Abwägung der Motive und Effekte menschlichen Handelns arbeitet der Tolerierung des Ungeheuerlichen vor. Wollte man angesichts des Holocausts auf die Rechtfertigung objektiver Zwecke der Vernunft verzichten, käme dies einer nachträglichen Verharmlosung des Verbrechens gleich. Wir würden uns gleichsam vorab mit einer Welt einverstanden erklären, in der eine Wiederholung der Todesfabrikation gerechtfertigt werden könnte. Deshalb gilt: Der Mensch hat das nach seinem Verständnis ausweislich Gute mit aller Entschiedenheit zu tun; er kann sich nicht auf das stets drohende, bereits in seiner eigenen Schwäche lauernde Böse herausreden – und dann vielleicht am Ende gar nichts tun. Er setzt, ob er nun Gründe oder Entschuldigungen vorträgt, ob er Zeugen oder einen Gott anruft oder nach einer Theodizee verlangt, bereits im Akt seiner vernunftgeleiteten Überlegung auf das Gute. Das liegt in der Logik seines auf Einsichten gestützten Tuns. Und die Theodizee versichert ihn, dass er keinen Grund hat, sich durch die Existenz des Bösen von seinem Vorsatz abbringen zu lassen. In einem Weltplan, auf den er notwendig vertrauen muss, wenn er denn überhaupt handeln will, und den er annimmt, obgleich er ihn in seinen Gründen und Zielen nicht versteht, kann auch das Böse letztlich nur dem Guten dienen, das jeder Mensch braucht, wenn er denn überhaupt etwas für sinnvoll hält. Dass er dies tut, beweist sein Tun, und er tut es, obgleich er nicht über das göttliche Hintergrundwissen verfügt. „Theodizee“ ist der Begriff für dieses dem Menschen nicht erreichbare Wissen, von dem er nur die Gewissheit haben muss, dass es nicht im Widerspruch zum göttlichen Grund des Ganzen stehen muss.

16. DER SELBSTZWECK DER PERSON IM KOSMOS DES SINNS Das Theodizee genannte Vorhaben sucht dem Menschen eine Aufgabe zuzuweisen, die ihm selbst und der Welt gleichermaßen angemessen ist. Sie muss so beschaffen sein, dass der Mensch seinen Platz in der Welt selbstbestimmt erfüllen kann. Die Aufgabe muss, trotz aller Risiken und ungeachtet vielfachen Scheiterns, erfüllbar sein und sie muss die Chance zur Entfaltung von Möglichkeiten bieten. Es ist dieses Steigerungsmoment, das Verlangen nach Entwicklung und Verbesserung der eigenen Anlagen, das die besondere Interessenlage hinter der Theodizee erkennen lässt: Der Mensch möchte sich auch durch Spekulation bestätigen lassen, woran der Schmerz und die Trauer ihn zweifeln lassen, was aber das Schöne ihm anschaulich nahe bringt und jede Erkenntnis nicht anders als jede gelungene Tat ihn sicher wissen lassen: Dass er in die Welt passt. Es mag einzelne Exemplare der menschlichen Gattung geben, denen Erfolg wenig bedeutet. Im Großen und Ganzen dürfte das anders sein. Man könnte nicht lernen, nicht handeln und vermutlich auch nichts genießen, wenn es nicht die Freude am Gelingen gäbe. Mit ihr aber will der Mensch durchschnittlich über sich hinaus. Er will nicht nur Erfolg mit dem, was er aus eigenem Anspruch tut. In

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seiner kulturellen Existenz möchte er immer auch die ihm bislang gesetzten Grenzen überschreiten. Er kann nur dann mit sich und seinesgleichen zufrieden sein, wenn er sich in seinen steigenden Ansprüchen verwirklicht und damit in der Realität etwas erreicht, was seiner freien Selbstbestimmung neue Räume eröffnet. Die Entfaltung der eigenen Möglichkeiten ist in Vergleich, Wahrnehmung und Verwirklichung an die Gegenwart Anderer gebunden. Sie kann nur gelingen, wo sich ein Individuum zugleich als Teil seiner Gemeinschaft, letztlich: als Teil der Menschheit begreift. Beim Menschen geht es um eine freiwillige Integration in eine werdende Welt, in der selbstbewusste Individuen sich nur dann mit ihren funktionalen Aufgaben einverstanden erklären, wenn sie als eigenständige Wesen anerkannt sind. Sie schätzen es durchaus, ein im gesellschaftlichen Ganzen anerkanntes Mittel zu sein, wollen aber zugleich als Zweck an sich selbst geachtet werden. Das ist der Punkt, den Leibniz mit der Rechtfertigung der Freiheit aufnimmt und der im Alten Testament durch Gottes Appell an die Einsicht Hiobs berücksichtigt ist. Nach Kant kann man diesen für die Selbstintegration des Menschen in die vernünftig geordnete Welt entscheidenden Punkt auf eine kaum überbietbare Formel bringen: Freiheit vorausgesetzt, muss die Menschheit in der Person eines jeden Menschen wirksam sein. Als Person ist jeder Einzelne ein Exempel für die besten Kräfte aller, deren Bestand in jedem Individuum zu sichern ist. Nur der autonome Mensch kann sich als Teil eines Ganzen präsentieren und zugleich ganz er selber sein. Er ist der Repräsentant der Vernunft, die in jedem einzelnen Exemplar unbedingte Achtung genießt und insofern auf unverlierbare Würde Anspruch hat. Das ist Kants Form der Theodizee: Der mundus intelligibilis hat seine Repräsentanten in der Person eines jeden einzelnen Menschen. Vernünftiger kann die Welt gar nicht sein.

17. DER PRIMAT DES SINNS Es ist die Exposition des individuellen Daseins, die dem Ansatz der Theodizee zu widersprechen scheint. Zwar hat Leibniz durch die Monadologie vorgebeugt und jedes Element der Welt zu einem in sich geschlossenen, sich selbst genügenden, unvergänglichen und unverzichtbaren Moment des Ganzen erklärt. Aber da seine kühne metaphysische These unterschiedslos für alles gilt (für das Sandkorn ebenso wie für Personen und ganze Völker), fehlt ein Kriterium für den differenzierenden Umgang mit Dingen, Personen, Kollektiven und Institutionen. Das widerspricht der Selbstauszeichnung des modernen Individuums, das Anspruch darauf erhebt, alles aus seiner Perspektive wahrzunehmen. Die Theodizee, obgleich aus der Perspektive des Menschen entworfen, sucht die Zentralperspektive des Schöpfers einzunehmen und gilt daher als substantialistisch. Der funktionale Perspektivismus des modernen Menschen steht dem skeptisch gegenüber. Er bevorzugt einen individuellen Zugang, obgleich der Sinn, mit dem er die Welt als einen für alle zugänglichen und alles enthaltenden Raum erfasst, ebenfalls in eine Zentralperspektive mündet. Auch das Individuum kommt

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nicht umhin, sich die Welt als einen buchstäblich alles umfassenden Zusammenhang vorzustellen. Zu dem gehört auch das vorstellende Selbst, das damit in die Perspektive des Ganzen eingebunden ist. Ergo ist der metaphysische Abstand zu Leibniz geringer als es nach Kant, Nietzsche oder Wittgenstein erscheint. Doch in den letzten 300 Jahren hat sich der Akzent verschoben: Das sich selbst bestimmende Individuum möchte nicht nur seinen Zugang zum Ganzen privilegieren, es legt auch Wert auf seine fortgesetzte Mitwirkung. Im Bewusstsein seiner Freiheit und seiner Mündigkeit sieht es sich als tätigen Teil der Realität. Wenn das auch in der Methode der metaphysischen Beschreibung des Ganzen zum Ausdruck kommen soll, hat die Bewusstseinsleistung des Individuums eine tragende Rolle zu spielen. Damit ist man erneut auf den Sinn als das Medium der Erschließung des Zusammengangs des Ganzen verwiesen. Das sich selbst bestimmende, mündige Subjekt zieht es vor, den Zusammenhang von Selbst und Welt auf sein ihm selbst gegenwärtiges Selbstverständnis zu gründen. Also rückt es die Welt, die es sich verständlich zu machen sucht, in die Dimension seines eigenen Sinns. Das macht zwar in der Sache der Metaphysik keinen Unterschied, denn auch Leibniz wusste sehr wohl, dass er selbst es ist, der vom Göttlichen redet und dabei gar keine andere Wahl hat, als von seiner eigenen Perspektive auszugehen. Aber er sprach das so Erschlossene als die Welt und das Universum selber an. Dagegen ist begrifflich gar nichts einzuwenden, aber es kommt manchen sich modern verstehenden Autoren anmaßend vor, deshalb nehmen sie denselben Gehalt auf ihren Standpunkt und in ihren Horizont zurück. Beides verbindend spreche ich vom Sinn, in dem jeder alles versteht, was immer ihm als Empfindung, Gefühl, Wahrnehmung oder Begriff verständlich ist. Dabei ist gegen das vorherrschende Verständnis idealistischer Konzeptionen zu betonen, dass der Sinn des Menschen ihn nicht auf seine Binnenwelt reduziert. Der Sinn ist vielmehr das Medium, das Räume gemeinsamen Erlebens eröffnet. In und durch ihn wird die Welt zu einer öffentlichen Sphäre, in der man über größere physische Distanzen hinweg Informationen aufnehmen, Signale geben und Konsens erzielen kann. Im und über den Sinn geht der Mensch verstehend über sich hinaus und kann mit seinesgleichen sogar einig sein, obgleich sie gar nicht gegenwärtig sind. Wenn es gelänge, die mit dem Sinn ermöglichte Verständigung in und über die Welt aus ihren Elementen nachzuerzählen, wäre vermutlich schon der wesentliche Teil dessen geleistet, was man sich unter stärkeren theologischen Prämissen von der Theodizee verspricht. Denn hier müsste sich zeigen, wie sehr der Mensch als verständiges Wesen in den Merk- und Wirkzusammenhang seines Daseins eingelassen ist.

18. LOGODIZEE NACH AUSCHWITZ Das Große an der Theodizee besteht darin, dass sie allem einen Sinn im Zusammenhang des Ganzen zuzuweisen sucht. Sinn ist das, was sich im Kontext des Daseins so verstehen lässt, dass man im Einklang mit ihm handeln kann. Im Sinn

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spielen nicht nur Empfindung, Gefühl, Wahrnehmung und begriffliche Erkenntnis zusammen; vielmehr ist in ihm der Einzelne in den sozialen Zusammenhang des Verstehens so eingebunden, dass er immer auch glauben kann, sich selbst und die Welt zu verstehen. Im Sinn erschließt sich der Mensch den Zugang zu allem, was immer für ihn Bedeutung haben kann. Im Sinn, und nirgendwo sonst, liegt seine Welt. Dieser Sinn ist systematisch zu ermitteln, wenn der Mensch sich seiner Stellung in der Welt versichern will und damit die Voraussetzung für ein begründetes Handeln schaffen möchte. Die Theodizee hat dies mit Bezug auf einen dem Sinnverstehen zugänglichen Weltgrund zu leisten versucht. Wer glaubt, auf diesem Wege positive Aussagen über Gott machen zu können, dem steht der von Leibniz philosophisch eröffnete Weg noch heute offen. Wer aber Gott von der Hypothek der ihm zugewiesenen menschlichen Argumente freihalten möchte, der sollte sich auf die Metaphysik als einer internen Sinnanalyse des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses beschränken. Damit würde die Theodizee in eine Theorie des menschlichen Selbstverständnisses überführt. Soll dieses Vorhaben die Erinnerung an die große Leistung der Theodizee bewahren, kann man es unter dem Titel eine Logodizee betreiben: Die Vernunft, also das integrale Organ für den menschlichen Sinn, hätte bloß zu erzählen, wie sie sich selbst versteht. „Logodizee“ ist die Rede von der Herkunft, Stellung und Leistung der menschlichen Vernunft. Man könnte auch den Titel einer „Anthropodizee“ verwenden, die darüber aufklärt, worin die Aufgabe des Menschen besteht, sofern er sich als vernünftiges Wesen begreift. Ganz gleich, ob Logodizee oder Anthropodizee: In beiden Fällen geht es schon deshalb um die Vernunft, weil sie das Organ für das Sinnverstehen ist. Nur die Vernunft kann uns Begriffe wie Sinn, Zweck oder Ordnung, wie Dasein, Leben oder Welt erschließen. Nur sie kann den Zweifel am Gehalt der Begriffe begründen, und nur an ihr liegt es, wenn wir die Zweifel mit Gründen überwinden. Deshalb geht es wesentlich um sie, wenn wir uns fragen, was wir in einer Welt zu suchen haben, in der Auschwitz wirklich war und wieder möglich werden könnte. Dabei ist die Frage auf die Theorie der Vernunft, auf ihren möglichen Ursprung, ihre Verfahren und ihre die Sinnlichkeit sachlich und sozial ergänzende Leistung gerichtet. In der „Theodizee“ genannten Überlegung geht es um die Vereinbarkeit dieser menschlichen Vernunft mit der unausdenklichen Vernunft des Ganzen, die wir mit dem Namen Gottes verbinden. Die Lektion, die Hiob zu lernen hatte, hatte diese Vereinbarkeit zum Gegenstand. Sie wird uns von Leibniz vorgeführt, indem er uns zeigt, dass es den Sinn unserer menschlichen Vernunft aufheben würde, wenn wir nicht im Ganzen die göttliche Vernunft unterstellen könnten.

19. HISTORISCHE URSACHEN Zur „Logodizee“ nach Auschwitz gehört der Versuch, trotz allem zu verstehen, wie das Verbrechen möglich war. Das ist eine Aufgabe historischer Erklärung,

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psychologischen Nachvollzugs und politischer Deutung. Und natürlich auch eine Frage nach der Natur des Menschen, die, um das Wenigste zu sagen, zu schwach ist, um auch nur ihren eigenen Erwartungen standzuhalten. Das Böse kommt aus der Schwäche des Menschen und vornehmlich aus der Unfähigkeit, sie angesichts eines drohenden oder eingetretenen Versagens einzugestehen. Mit Blick auf die Vorgeschichte des Holocausts muss es genügen, an den Verfall des Rechtsbewusstseins, die Überzüchtung nationaler Begeisterung, die parteiliche Auszeichnung der sozialen Klassen sowie an den Rassenbiologismus zu erinnern, um eine Ahnung zu bekommen, wie das Verbrechen möglich werden konnte. Man muss sich an die Demontage ethischer Prinzipien, an die Geringschätzung des Wertes der Person und die Abwertung der Individualität erinnern, um vor Augen zu haben, welche Barrieren abgebaut wurden, um die fabrikmäßige Vernichtung von Menschen durch Menschen in Angriff zu nehmen. Dass hier auch die Wissenschaften und nicht zuletzt die Philosophie eine Rolle gespielt haben, darf in einer Logodizee nicht verschwiegen werden. In meinen Schriften habe ich mich stets bemüht, die bleibende Leistung Nietzsches kenntlich zu machen. Ich rechne ihn zu den großen Denkern der menschlichen Existenz und zweifle keinen Augenblick, dass er nicht nur beste Absichten, sondern auch gute Gründe hatte, die Tugenden und die Humanität auf eine neue Grundlage zu stellen. Doch in seiner exaltierten Rhetorik hat er die gültige Moral, das bestehende Recht und den herrschenden Glauben so nachhaltig desavouiert, dass es nur einiger aus dem Zusammenhang gerissener Zitate bedurfte, um den auf ihn folgenden politischen Ideologen das gute Gewissen zu geben, sie würden lediglich tun, was die philosophische Einsicht von ihnen verlangt. Auch Karl Marx, der nachvollziehbare persönliche und respektable wissenschaftliche Gründe hatte, dem Staat, dem Recht und dem Liberalismus zu misstrauen, kann man den Vorwurf einer maßlosen Überschätzung seiner theoretischen Leistung nicht ersparen. So war es ein durch Selbstkritik leicht vermeidbarer Fehlschluss, zu glauben, die durch seine Theorie angeleitete Macht könne auch nur zeitweilig Moral und Recht ersetzen. Seinen Nachfolgern wurde es damit leicht gemacht, neben Auschwitz weitere Spuren des Grauens in der Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuschleifen. Und schließlich: So sehr ich die intellektuelle Redlichkeit in der Kritik der Religion und ihrer weltlichen Vertreter zu schätzen weiß, scheue ich mich nicht, als weiteres Beispiel die leichtfertige Abwertung des Glaubens anzufügen. Der Glaube, auch wenn er nicht weniger irrtumsanfällig ist als das Wissen, bleibt unverzichtbar, solange wir von unserem Wissen praktischen Gebrauch machen wollen. Er wird von jedem in Anspruch genommen, gerade auch von den Kritikern des Glaubens. Deshalb verdienen alle seine in großen Kulturen gewachsenen Formen den Respekt, der auch den in ihm lebenden Mitmenschen gebührt. Hätte man diesen Respekt vor dem Glauben, wenigstens vor dem des Anderen, gewahrt, hätte es eine jedermann abwehrende Schranke vor der Verfolgung aus religiösen Gründen gegeben. Von diesen Prämissen der Rechtlichkeit, der Moral und der Mitmenschlichkeit hatten sich jene, die Auschwitz ausgedacht und ausgeführt haben, weit ent-

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fernt. Aber auch den Vielen, die sie haben gewähren lassen, waren die humanitären Prinzipien gleichgültig geworden. Zu groß war der Wahn der Ideologien, zu denen nicht zuletzt die der unbedingten nationalen Selbstbehauptung gehörte. So etwa muss man zu sagen versuchen, wie das hat kommen können, wofür der Name Auschwitz steht, welche Motive wirksam waren und welche Einsichten entfallen sind. Aufs Ganze gesehen hat ein moralisch und rechtlich verpflichtender Begriff der Menschheit gefehlt. Die Gewissheit, dass jeder Mensch, gleich welcher Herkunft und Überzeugung, einen Wert in sich selbst darstellt, war geschwunden. Damit verlor sich die Überzeugung, die Kants unüberbietbare Fassung des kategorischen Imperativs trägt und die auch der Theodizee zugrunde liegt, wenn sie jedem einzelnen Wesen seinen Grund in Gott zugesteht. Also blieb nur der Anspruch, so, wie man sich selbst, in mehr oder weniger zufälliger Abgrenzung gegenüber realen und fiktiven Gegnern verstand, am Leben zu bleiben. Weil jeder davon ausging, die andere Seite werde keine Rücksicht auf andere Werte nehmen, sah sich jeder von ihnen befreit. Die Gegenseitigkeit in der Unterstellung von Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit hatte selbst den Charakter der Totalität. Der Kampf auf Leben und Tod ließ alles vergessen, was das Leben wertvoll machen und wenigstens zur Achtung vor den Toten nötigen konnte.

20. EINE LETZTE FRAGE: DIE ENDLICHKEIT DER VERNUNFT Theo-, Logo- und Anthropodizee ist gemeinsam, dass sie die Eigentätigkeit des Menschen unterstellen. Welche Antworten sie auch geben: Die jeweils lebenden Generationen haben den in Gedenkstätten, Bildern, Tondokumenten, Akten und literarischen Zeugnissen gegenwärtigen Schrecken auszuhalten und, wie man so sagt, aufzuarbeiten. Man betreibt aktive Erinnerung und sühnt das Geschehene bereits in der Vergegenwärtigung. Sich die unvorstellbare Grausamkeit gegenüber den Nächsten vor Augen zu führen, ihr Ausmaß zu erkunden und ihre Ungeheuerlichkeit neu zu fassen, sind Formen des Mitleidens, die wir den Opfern schuldig sind. Wo das Verstehen des Ganzen nicht weiterkommt, ist das kein Grund, im Einzelnen die Suche nach Gründen abzubrechen. Im Verstehen des vom Menschen in die Welt gebrachten Ungeheuerlichen ist schon das Bemühen ein Gewinn. Wo die Theodizee nicht mehr überzeugt, haben wir uns umso mehr um das Bewahren der Erinnerung zu bemühen. Vielleicht gelingt es späteren Generationen, weiterzukommen und tiefer einzudringen als wir. Aber ganz gleich, ob man sich mit Hilfe einer philosophischen Theorie der Korrespondenz zwischen Mensch und Welt versichert und sich klarmacht, dass wir nur um den Preis eines ungeheuerlichen Selbstwiderspruchs das Ganze, in dem wir sind und das wir sind, als das „Unwahre“ bezeichnen können, oder ob wir darangehen, die historischen Konditionen der Menschheitsverbrechen nachzuvollziehen: In jedem Fall rechnen wir mit einer Kontinuität in der Fortexistenz des Menschen und der Einsicht gebenden Funktion seiner Vernunft. Was aber ist, wenn uns angesichts des Zustands der Welt die Ahnung beschleicht, dass die Geschichte des Menschen schon bald ein Ende haben könnte und mit dem Menschen

Theodizee nach Auschwitz

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auch die Vernunft, der wir alle großen Erzählungen von Gott, vom Menschen und natürlich auch von ihr selbst verdanken? Nehmen wir die Frage wörtlich, ist die Antwort kinderleicht: Mit der Existenz des Menschen hat auch seine Vernunft ihre Schuldigkeit getan. Und wenn es noch jemanden gäbe, der ein Resümee sprechen könnte, der könnte den Menschen mitsamt seiner Vernunft den kurzlebigen Experimenten der Evolution zurechnen, deren weitere Geschichte ihren Niederschlag vorerst nur in Gensequenzen und Materialrückständen findet. Dann ist, wie Nietzsche gesagt hat, die „hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte“, in der es den Irrtum des Erkennens gegeben hat. zu Ende12. Auf unserem Planeten zumindest hätte Gott niemanden mehr, der sich vorbuchstabieren könnte, dass er mit dem, was er tun und lassen kann, in der Ordnung bleibt, in der sich alles bewegt. Was aber bedeutet das durchaus denkbare und längst in zahllosen Szenarien und Science-Fiction-Filmen ausphantasierte Ende des Menschen für die jetzt (noch) lebende Generation? Die Anthropodizee, die Selbsterzählung des Menschen, hätte ein, wenn auch künstlich beschleunigtes, aber doch immerhin natürliches Ende gefunden. Sie hätte einen tragischen Ausgang für alle genommen, so wie er zuvor millionenfach von Einzelnen erzählt werden konnte. Die Logodizee könnte als widerlegt gelten, denn als die auf ihre innere Konsequenz bedachte Selbsterzählung der Vernunft ist sie auf Kontinuität im Ganzen angelegt. Zwar ist nicht auszuschließen, dass sie in der weiterhin bestehenden Ordnung der Vorgänge ihre fortbestehenden Voraussetzungen hätte. Aber mit ihrem Träger, der sich in ihrer Logik verständigenden Menschheit, hätte sie ihre Funktion eingebüßt – ein unausdenkbarer Zustand, über den, nach seinem Eintritt, auch der Zusatz nicht hinwegtrösten kann, dass er sich hätte vermeiden lassen, wenn sich die Menschheit an ihre Vernunft gehalten hätte. Die systematische Kraft dieser kommentierenden Ergänzung besteht allerdings darin, dass wir sie uns schon vorher denken können, so dass sie uns die Kraft geben kann, das Ende der Vernunft trotz allem abzuwehren. Und darauf kommt, im Namen der Vernunft, tatsächlich alles an. Die überlegene Größe der Theodizee besteht nicht darin, dass sie – rein theoretisch – auch nach dem Ende des Menschen und nach dem Zusammenbruch der Vernunft noch wahr bleiben könnte. Sie liegt vielmehr darin, dass sie es ist, die dem Menschen bei den zunehmenden Zweifeln im Glauben an sich und seine Vernunft eine Zuversicht geben kann, die nicht allein auf seine eigene Leistung gegründet ist. Je fragwürdiger und abgründiger dem Menschen sein eigenes Tun erscheint, umso wichtiger muss es ihm sein, einen durch Gründe versicherten Halt im Ganzen zu haben. Darin liegt der Anspruch der Theodizee. Und der hat nach Auschwitz nichts von seiner Dringlichkeit verloren. Im Gegenteil. 12 F. Nietzsche: „Ueber das Pathos der Wahrheit. Fünf Vorreden“, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), Bd. I, München – Berlin [u.a.] 1999, S. 759.

PERSONENREGISTER Abbt, Thomas 131, 132 Adorno, Theodor W. 11, 95, 172, 446 Agamben, Giorgio 367 Albertus Magnus 387 Al-Biruni 72 Albrecht, Michael 135 Aleandri, Girolamo 188 Altmann, Alexander 122, 128, 133 Amyot, Jacques 76 Andry, Nicolas 330 Anselm von Canterbury 82 Antognazza, Maria Rosa 97 Anton Ulrich, Herzog von BraunschweigWolfenbüttel 217 Appel, Kurt 18 Aquin, Thomas von 418, 424 Areskin, Robert 48 Aristoteles 76, 199, 212, 221, 403, 412, 417, 418 Arnauld, Antoine 106, 300 Arndt, Hans W. 50 Athanasius von Alexandria 98 Augustinus von Hippo 13, 27, 71, 73, 76, 82, 86, 245, 255, 341, 395, 403, 414 Baczko, Bronislaw 283 Baeumler, Alfred 212, 214, 220 Ballanti, Roberto Celada 16 Bar Kônî, Theodor 72 Barbeyrac, Jean 90 Barth, Karl 19, 20, 397, 403, 406, 407, 408, 412, 413, 414, 415, 419, 421, 419–23, 423, 425, 427, 436, 439, 440 Basilius von Caesarea 73 Basso, Luca 11 Baumeister, Friedrich Christian 47 Baumgarten, Alexander Gottlieb 193, 214, 215, 216, 220, 312 Bayle, Pierre 10, 11, 18, 19, 32, 38, 39, 46, 48, 52, 56, 59, 70–86, 114, 116, 124, 127, 131, 132, 150, 152, 166, 191, 194, 242, 253, 256, 282, 285, 300, 302, 303, 326, 390, 391, 393, 394, 420, 428 Beausobre, Isaac de 55, 73, 74, 86 Behrendt, Johann Friedrich 341

Behrens, Kai 162 Bereur de Dole, Louis 82 Bernhard von Clairvaux 82 Bernier, François 82 Bernoulli, Johann 292, 293 Bertram, Johann Friedrich 18, 322, 335–41, 341 Bertrand, Élie 279 Besterman, Theodore 279 Beth, Karl 402 Bierling, Friedrich Wilhelm 394 Bilfinger, Georg Bernhard 11, 50, 51, 100, 102, 312, 420 Billicsich, Friedrich 243, 245, 252, 261 Blumenbach, Johann Friedrich 320 Blumenberg, Hans 40, 219, 398 Boerhaave, Herman 330 Boethius 200, 201, 202, 203, 216, 255 Böhme, Jakob 401, 409, 410, 417, 427 Boileau, Nicolas 196 Böldicke, Joachim 13, 114–70 Bonnet, Charles 17, 40, 176, 342 Bosses, Bartholomäus des 42, 47, 325 Bossuet, Jacques-Bénigne 48, 208 Bourguet, Louis 29, 309 Bowler, Peter J. 327 Brachtendorf, Johannes 236, 237, 238, 255 Brahe, Tycho de 211 Brandis, Christian August 116 Brockes, Barthold Heinrich 45 Bronisch, Johannes 56 Brucker, Johann Jakob 99, 100, 102 Brügel, Carl 384 Brunner, Emil 20, 413, 414 Bruno, Giordano 432 Brunstäd, Friedrich 20, 412, 413, 431 Bubner, Rüdiger 172 Büchner, Georg 171 Budde, Johann Franz 43, 420 Bultmann, Rudolf 419, 435, 436 Burnet, Gilbert 33 Burnett, Thomas 30, 94 Busche, Hubertus 15 Caligula 81

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Personenregister

Calvin, Johannes 403 Canz, Israel Gottlieb 11, 12, 114, 312 Caroline von Brandenburg-Ansbach 121 Carpov, Jakob 97 Cassirer, Ernst 19, 135, 179, 278, 379, 411 Castel, Louis Bertrand 335 Cattarini, Tommaso 335 Cavallar, Georg 237, 269 Charrak, André 288 Châtelet, Émilie de 276 Cicero 84 Clarke, Samuel 38, 48, 121 Claß, Gustav 405 Clemens von Alexandria 71 Condillac, Étienne Bonnot de 285, 286 Conring, Hermann 323 Coudert, Allison P. 202 Couturat, Louis 19, 383 Crantz, August Friedrich 135 Crell, Samuel 98, 114 Crusius, Christian August 43, 152 Cudworth, Ralph 300, 302 Darjes, Joachim Georg 152 Davillé, Louis 382 de Beauval, Basnage 300 Deleuze, Gilles 164, 281 Delvolve, Jean 80 Demokrit 417 Descartes, René 23, 27, 48, 81, 190, 192, 215, 218, 291, 387, 389, 405, 408, 417, 431, 432, 436, 437, 438 Dieringer, Volker 239, 242 Dilthey, Wilhelm 404, 410, 412, 424 Diogenes Laertius 198 Du Moutier, Marguerite Madeleine 276 Duchesneau, François 17 Duns Scotus 417 Durandus von St. Pourçain 82 Dürrenmatt, Friedrich 172 Dutens, Louis 48, 173, 383 Ebeling, Gerhard 435 Eberhard, Johann August 122 Eberstein, Wilhelm Ludwig Gottlob von 152 Eckart, Johann Georg 189 Ehrard, Jean 273 Elert, Werner 20, 410, 411, 423–25, 425 Emil, Hans 20 Empedokles 75, 199 Epiktet 45 Epikur 56, 79, 80, 278, 430 Epiphanius von Salamis 75 Erdmann, Johann Eduard 383, 384

Ernst von Hessen-Rheinfels 48 Eucken, Rudolf 403, 410 Euklid 30 Euler, Leonhard 151, 306 Evodius von Antiochien 82 Fabri, Honoré 25 Faraday, Michael 438 Feder, Johann Georg Heinrich 383 Feller, Joachim F. 383 Fénelon, François 208 Fenves, Peter 219 Festinger, Leon 160 Feuerbach, Ludwig 19, 342–96, 436 Fichte, Johann Gottlieb 410, 425, 426, 436 Fontenelle, Bernard Le Bovier de 15, 189, 190, 191, 192 Foucault, Michel 354, 359 Foulet, Alfred 276 Frege, Gottlob 412 Freudenthal, Gideon 123 Friedländer, David 134 Friedrich II. 134, 151, 280 Frischeisen-Köhler, Max 404 Galilei, Galileo 432 Garber, Daniel 292 Gawlick, Günter 51, 60 Gellert, Christian Fürchtegott 211, 228 Gerhardt, Carl Immanuel 196 Gerhardt, Volker 14, 21, 227 Geyer, Carl-Friedrich 236 Glockner, Hermann 387, 388 Goethe, Johann Wolfgang von 25, 412, 417, 423, 436 Goeze, Johann Melchior 56 Gogarten, Friedrich 398, 410 Goldenbaum, Ursula 12, 106 Götten, Gabriel Wilhelm 151 Gottsched, Johann Christoph 13, 50, 52, 100, 149, 150, 152, 157, 195, 212, 386, 388 Gottsched, Louise Adelgunde 153 Greiffencrantz, Christoph Joachim Nicolai von 116 Grotius, Hugo 29, 90, 426 Grua, Gaston 26 Guattari, Félix 281 Guhrauer, Gottschalk Eduard 48, 383 Haller, Albrecht von 45, 311, 313, 319 Hamann, Johann Georg 133 Hansch, Michael Gottlieb 42, 47, 49, 50, 312 Harnack, Adolf von 399, 408, 411, 412

Personenregister Hartsoeker, Nicolaas 303, 334, 339 Haude, Ambrosius 56 Hausen, Adelheid 276 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 59, 102, 122, 123, 172, 7–443, 399, 410, 435, 437, 438, 441, 442, 459 Hegel, Georg Wilhem Friedrich 18 Heidegger, Martin 350, 354, 360, 364, 417, 436, 437 Heine, Heinrich 119 Helmont, François-Mercure van 202 Henrich, Dieter 438 Henry St. John, 1. Viscount Bolingbroke 279 Herbst, Nicolaus Friedrich 151 Herder, Johann Gottfried 14, 46, 130, 133, 173, 183, 184, 185, 186, 389, 405, 423 Hermann, Rudolf 411 Hick, John 440 Hiob 14, 18, 20, 21, 226, 260, 269–84, 344, 349, 407, 413, 414, 452, 453, 456, 458, 459, 460, 461, 464, 466 Hirsch, Emanuel 20, 410, 425–29 Hirzel, Rudolf 198, 199, 202 Hitler, Adolf 387 Hobbes, Thomas 23, 81, 87, 89, 92, 93, 95, 125, 129, 135, 382, 426 Hoffmann, Friedrich 329, 341 Hoffmann, Gottfried 100 Holbein, Hans d. J. 178 Hölderlin, Friedrich 102 Holl, Karl 20, 409, 425 Hönigswald, Richard 411 Huet, Pierre Daniel 114 Hugony, Charles 30 Humboldt, Wilhelm von 405 Hume, David 234, 242, 378 Ibn an-NadƯm 72 Irenäus von Lyon 71, 414 Jacobi, Friedrich Heinrich 122, 127, 135 James, William 18, 369–82 Janssens, David 135 Jaspers, Karl 161, 280 Jean Paul 14, 173, 170–88 Jesus Christus 28, 106, 125, 133, 201, 367, 368, 410, 422, 423, 424, 435, 439 Jöcher, Christian Gottlieb 152 Jodl, Friedrich 384 Johannes (Apostel) 98 Jonas, Hans 21, 457, 458, 459 Jüngel, Eberhard 436, 437, 438 Justi, Johann Heinrich Gottlob 166, 167

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Kaegi, Dominic 387 Kaehler, Klaus Erich 390 Kafka, Franz 172, 219 Kaftan, Julius 413 Kähler, Martin 408, 419 Kant, Immanuel 15, 16, 18, 19, 43, 51, 52, 123, 130, 132, 133, 185, 204, 219, 222, 226, 227, 228, 236, 237, 251, 273, 278, 282, 284, 285, 320, 321, 340, 343, 344, 345, 349–53, 353, 354, 355, 356, 357, 359, 362, 363, 366, 368, 369, 371, 372, 375, 402, 410, 411, 412, 413, 420, 424, 426, 436, 439, 447, 459, 464, 465, 468 Karamasow, Iwan 407 Karl Willhelm Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel 119 Kepler, Johannes 79, 432 Kestner, Heinrich Ernst 88 Kierkegaard, Søren 405, 407, 413, 417, 425, 426 King, William 348, 420 Kleist, Heinrich von 174, 187 Köhler, Heinrich 44 König, Samuel 306 Kopernikus, Nikolaus 33, 211, 432 Kortholt, Christian 47, 383 Körtner, Ulrich 163 Kreiner, Armin 344 Kremer, Josef 235, 259, 267, 403 Krug, Wilhelm Traugott 168 Krüger, Johann Gottlob 341 Kues, Nikolaus von 417, 460 La Fontaine, Jean de 195 Laktanz 56, 73, 79, 80 Lange, Joachim 54 Lavater, Johann Caspar 14, 173, 176, 177, 178, 312 Le Clerc, Jean 300, 302 Le Cornier de Cideville, Pierre Robert 277 Leduc, Christian 17 Leeuwenhoek, Anton van 324, 327, 330, 334, 339, 340 Lempp, Otto 244, 402 Lenz, Jakob Michael Reinhold 165 Leopardi, Giacomo 171 Lessing, Gotthold Ephraim 43, 55, 59, 97, 98, 122, 126, 127, 130, 134, 135, 136, 151, 173–76, 214, 436 Levinas, Emmanuel 354 Leyser, Polykarp 97 Li, Wenchao 19 Limborch, Philipp van 114

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Personenregister

Livius 217 Locke, John 378, 441 Lorenz, Stefan 10, 132 Lotze, Hermann 405, 407 Ludovici, Carl Günther 53, 100 Lully, Jean-Baptiste 251 Luther, Martin 19, 119, 196, 197, 223, 227, 403, 407, 409, 410, 411, 413, 417, 424, 425, 426, 428, 429, 434, 435 Machiavelli, Niccolò 80 Magath, Johann Ludwig 233 Malebranche, Nicolas 283, 303 Malpighi, Marcello 330 Mani 72, 75 Manteuffel, Ernst Christoph von 55, 56, 150, 153 Maria (Mutter Gottes) 106 Marquard, Odo 40, 172 Martin-Haag, Éliane 283 Marx, Karl 172, 467 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 17, 284–98, 320 Mauzi, Robert 273 May, Karl 404 Meier, Georg Friedrich 152, 160 Meier, Heinrich 127 Melanchthon, Philipp 423, 424 Melissos von Elea 39, 59, 78 Mendelssohn, Georg Benjamin 116 Mendelssohn, Moses 12, 43, 114–36, 176, 312, 319 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 116 Michaelis, Johann David 133 Michelotti, Pietro Antonio 310 Mill, John Stuart 58 Möller, G. 56, 59, 70 Moltmann, Jürgen 437 Montaigne, Michel de 152 More, Henry 302 Morell, Andreas 27 Moritz, Karl Philipp 130 Mormino, Gianfranco 81 Mosheim, Johann Lorenz von 426 Müller, Johann Samuel 151 Müller, Kurt 341, 383 Myers, Gerald E. 381 Needham, John Turberville 320 Nero 81 Neumann, Hanns-Peter 11, 12 Newton, Isaac 121, 286, 317, 432, 438 Nicolai, Friedrich 131, 133 Nicolás, Juan A. 13

Nietzsche, Friedrich 15, 171, 220, 221, 223, 224, 225, 226, 227, 377, 417, 436, 465, 467, 469 Nizolius, Marius 23 Oelmüller, Willi 176 Oetinger, Friedrich Christoph 409, 417 Opitz, Martin 205 Origenes 71, 73, 403, 414 Osiander, Johann Rudolph 100 Otto, Rüdiger 50 Otto, Rudolf 20, 409, 411, 416 Palm, Johann Georg 53, 54, 55, 60 Pannenberg, Wolfhart 20, 438–41 Panza, Marco 297 Paracelsus 417 Pascal, Blaise 196, 377, 391, 432 Pelagius 82 Pelletier, Arnaud 17 Perrault, Claude 309 Peter der Große 385 Peter I. von Sizilien 77 Petersen, Johann Wilhelm 126 Peterson, Michael 238 Petrus (Apostel) 28, 98 Petrus Aureoli 82 Pfaff, Christoph Matthäus 100 Philonenko, Alexis 384 Pitcairne, Archibald 303 Placcius, Vincent 94, 392 Planck, Max 412 Planer, Johann Andreas 337, 339 Platner, Ernst 388 Platon 76, 84, 199, 221, 246, 278, 403, 416, 417, 436 Ploucquet, Gottfried 102 Ploucquet, Gottlieb 11 Plutarch 75, 76 Poiret, Pierre 114 Pölitz, Karl Heinrich Ludwig 233, 234 Pomeau, René 272, 283 Pope, Alexander 43, 45, 157, 272, 279, 282 Popper, Karl R. 180 Poser, Hans 207 Pseudo-Hippolyt 71 Ptolemäus 211 Puech, Michel 52 Pufendorf, Samuel 11 Pufendorf, Samuel von 35–96 Pythagoras von Samos 75 Rader, Matthäus 77 Raspe, Rudolf Erich 173, 383 Rateau, Paul 75, 140, 141

Personenregister Ratschow, Carl Heinz 20, 430–33, 434, 436, 438, 442 Rehmke, Johannes 398 Reibnitz, Barbara von 227 Reimarus, Hermann Samuel 51, 52, 55, 56, 436 Reinbeck, Johann Gustav 18, 47, 54, 55, 56, 103, 104, 322, 332, 334, 335–41, 341 Reinhard, Adolf Friedrich 43, 157 Rémond, Nicolas 34 Reusch, Johann Peter 44 Richter, Georg Friedrich 195 Richter, Johann Paul Friedrich Siehe Jean Paul Ricœur, Paul 354 Riehl, Alois 411 Riley, Patrick 129 Ritschl, Albrecht 407 Robinet, André 42 Rösler, Sybilla Regina 102 Rousseau, Jean-Jacques 372, 426, 427 Russell, Bertrand 19, 116, 411 Saame, Otto 196 Safranski, Rüdiger 225 Saine, Thomas P. 173 Salas, Jaime de 18 Sand, Christoph 339 Saouma, Brigitte 11 Sarasa, Alfonsus Antonius de 44, 45 Schaeder, Erich 408 Schaubert, Johann Wilhelm 152, 158, 159 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 102, 221, 343, 349, 353, 355, 401, 409, 415, 416, 417, 423 Schelling, Joseph Friedrich 102 Schepers, Heinrich 9, 10, 41, 106, 398 Schiller, Friedrich 398 Schlatter, Adolf 408, 409 Schlegel, Friedrich 434 Schleiermacher, Friedrich 405, 411, 425, 429, 434, 436, 442 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 197, 226 Schnitzler, Arthur 14 Scholz, Heinrich 399, 411, 412 Schopenhauer, Arthur 138, 171, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 227, 407, 417 Schrey, Heinz-Horst 397 Schulte, Christoph 234, 235, 238, 255 Schulz, Walter 221, 224, 227 Schumann, Friedrich Karl 398 Schurig, Martin 329 Scopello, Madeleine 71, 72

475

Séguier, Antoine-Louis 189, 190 Semler, Johann Salomo 426 Seneca 45, 83, 128 Sennert, Daniel 323, 326 Shaftesbury 257, 279 Siep, Ludwig 354 Sigorgne, Pierre 312, 316, 319 Sölle, Dorothee 437 Sophie Charlotte von Preußen 10, 15, 33, 116, 151, 194, 201, 202, 204, 205, 206, 207, 447 Sophie Dorothea von Preußen 151 Sophie von Hannover, Kurfürstin 33 Spaemann, Robert 223 Spalding, Johann Joachim 46, 131 Spallanzani, Lazzaro 319 Sparn, Walter 15, 19, 20, 239 Specht, Rainer 37, 41 Spedicato, Eugenio 14 Spengler, Oswald 410 Sperling, Johann 323 Spinoza, Baruch de 23, 27, 31, 81, 128, 179, 283, 381, 382, 386, 387, 389, 410, 417, 432, 436 Starobinski, Jean 281, 282 Steiner, Uwe 14, 15 Steinhofer, Johann Ulrich 48 Strauss, Leo 12, 114–36 Streminger, Gerhard 344 Strohschneider-Kohrs, Ingrid 134 Suárez, Francisco 23 Sucro, Christoph Joseph 213, 214 Sulzer, Johann Georg 159, 160 Süßmilch, Johann Peter 131 Swammerdam, Jan 302, 303, 326 Terebinthus von Turbo 75 Tertullian 326 Thielicke, Helmuth 436 Tillich, Paul 20, 415, 416, 417, 418, 419, 425, 430 Trembley, Abraham 306, 319 Trillhaas, Wolfgang 397 Troeltsch, Ernst 20, 399–406, 411, 414, 415, 423, 426, 442 Troyel, Isaac 194 Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von 50 Turck, Dieter 384 Uz, Johann Peter 45 Valla, Lorenzo 13, 15, 153, 164, 171, 191, 198, 200, 201, 202, 216, 217, 219 Van den Heuvel, Jacques 274, 276 Verri, Pietro 254

476 Vico, Giambattista 405 Volckmann, Johann Wilhelm 233 Völker, Martin 13 Voltaire 16, 40, 96, 269–84, 436, 450 Wallerius, Johann Gottschalk 342 Weber, Hans Emil 419, 420 Weber, Max 20, 402 Wedderkopf, Magnus 28 Wegener, Richard 403 Weinrich, Harald 277 Weismann, Christian Eberhard 100 Welles, Orson 172 Wezel, Johann Karl 174, 388 Whitehead, Alfred North 411 Wieland, Christoph Martin 45 Wigand, Otto 384

Personenregister Windelband, Wilhelm 220, 223 Windheim, Christian Ernst von 44, 152 Wissowatius, Andreas 97 Wittgenstein, Ludwig 465 Wolff, Caspar Friedrich 320 Wolff, Christian 12, 48, 51, 53, 55, 57, 59, 69, 70, 97–102, 110, 111, 112, 113, 114, 128, 132, 152, 212, 285, 330, 333, 334, 336, 337, 339, 341, 342, 391, 412, 421, 422, 427, 432 Wundt, Max 235 Zarathustra 39, 59, 75, 78 Zimmermann, Johann Georg 176 Zimmermann, Robert 215, 216, 220 Zscharnack, Leopold 402, 403

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S U P P L E M E N TA

Im Auftrag der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft e.V. herausgegeben von Herbert Breger, George Henry R. Parkinson, Heinrich Schepers und Wilhelm Totok.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0303–5980

1.–5. Akten des Internationalen LeibnizKongresses vom 14.–19. November 1966 in Hannover 5 Bde., Ln. ISBN 978-3-515-02883-7 6. Hans Poser Zur Theorie der Modalbegriffe bei G. W. Leibniz 1969. VIII, 171 S., Ln. ISBN 978-3-515-00279-0 7. Hartmut Schiedermair Das Phänomen der Macht und die Idee des Rechts bei G. W. Leibniz 1970. VIII, 363 S., Ln. ISBN 978-3-515-00280-6 8. Jürgen Nieraad Standpunktbewußtsein und Weltzusammenhang Das Bild vom lebendigen Spiegel bei Leibniz und seine Bedeutung für das Alterswerk Goethes 1970. VIII, 140 S., Ln. ISBN 978-3-515-00281-3 9. Ursula Franke Kunst als Erkenntnis Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten 1973. VI, 126 S., Ln. ISBN 978-3-515-00282-0 10. Beate Monika Dreike Herders Naturauffassung in ihrer Beeinflussung durch Leibniz’ Philosophie 1973. VIII, 137 S., Ln. ISBN 978-3-515-00283-7 11. Eberhard Knobloch Die mathematischen Studien von G. W. Leibniz zur Kombinatorik Auf Grund fast ausschließlich handschriftlicher Aufzeichnungen dargelegt und kommentiert 1973. XVI, 277 S. mit 2 Faks., zahlr. Tab. und 2 Falttaf., Ln. ISBN 978-3-515-01208-9 12.–15. Akten des II. Internationalen

Leibniz-Kongresses vom 17.–22. Juli 1972 in Hannover 4 Bde., Ln. ISBN 978-3-515-02884-4 12. Band 1: Geschichte – Recht – Gesellschaftstheorie – Historische Wirkung 1973. VI, 331 S. mit 12 Abb., Ln. ISBN 978-3-515-01216-4 13. Band 2: Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte 1974. VI, 326 S., Ln. ISBN 978-3-515-01848-7 14. Band 3: Metaphysik – Ethik – Ästhetik – Monadenlehre 1975. VI, 415 S., Ln. ISBN 978-3-515-01924-8 15. Band 4: Logik – Erkenntnistheorie – Methodologie – Sprachphilosophie 1975. VI, 302 S., Ln. ISBN 978-3-515-01925-5 16. Eberhard Knobloch (Hg.) Die mathematischen Studien von G. W. Leibniz zur Kombinatorik Textband, im Anschluß an den gleichnamigen Abhandlungsband zum ersten Mal nach den Originalhandschriften herausgegeben 1976. XII, 339 S. mit 2 Faks., zahlr. Tab. und 3 Falttaf. ISBN 978-3-515-02111-1 17.–18. Leibniz à Paris (1672–1676) Symposion de la Gottfried-WilhelmLeibniz-Gesellschaft (Hannover) et du Centre National de la Recherche Scientifique (Paris) à Chantilly (France) du 14–18 Novembre 1976 17. Band 1: Les Sciences 1978. VI, 242 S., Ln. ISBN 978-3-515-02838-7 18. Band 2: La Philosophie de Leibniz 1978. VI, 171 S., Ln. ISBN 978-3-515-02839-4 19.–22. Theoria cum praxi Zum Verhältnis von Theorie und Praxis im 17. und 18. Jahrhundert. Akten des III. Internationalen Leibniz-Kongresses vom

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12.–17. November 1977 in Hannover 4 Bde., Ln. ISBN 978-3-515-03432-6 Band 1: Theorie und Praxis, Politik, Rechtsund Staatsphilosophie 1981. VII, 284 S., Ln. ISBN 978-3-515-03419-7 Band 2: Spinoza 1981. VI, 202 S., Ln. ISBN 978-3-515-03429-6 Band 3: Logik, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Metaphysik, Theologie 1980. VII, 259 S., Ln. ISBN 978-3-515-03430-2 Band 4: Naturwissenschaft, Technik, Medizin, Mathematik 1982. VI, 191 S. mit 7 Abb., Ln. ISBN 978-3-515-03431-9 Albert Heinekamp (Hg.) Leibniz et la Renaissance Colloque du Centre National de la Recherche Scientifique (Paris), du Centre d’Etudes Supérieures de la Renaissance (Tours) et de la Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft (Hannover), Domaine de Seillac (France) du 17–21 Juin 1981 1983. VIII, 242 S. mit 3 Abb., Ln. ISBN 978-3-515-03751-8 Rita Widmaier Die Rolle der chinesischen Schrift in Leibniz’ Zeichentheorie 1983. XVI, 328 S., Ln. ISBN 978-3-515-03785-3 David E. Mungello Curious Land Jesuit Accommodation and the Origins of Sinology 1985. 405 S. mit 20 Abb., Ln. ISBN 978-3-515-04331-1 Albert Heinekamp (Hg.) Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz IV. Internationaler Leibniz-Kongreß der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft vom 14.–19. November 1983 in Hannover 1986. XIX, 385 S., Ln. ISBN 978-3-515-04350-2 Ingrid Marchlewitz / Albert Heinekamp (Hg.)

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Leibniz’ Auseinandersetzung mit Vorgängern und Zeitgenossen 1990. XX, 358 S., Ln. ISBN 978-3-515-05419-5 Massimo Mugnai Leibniz’s Theory of Relations 1992. 291 S., geb. ISBN 978-3-515-05895-7 Martin Schneider Das mechanistische Denken in der Kontroverse 1993. X, 522 S., geb. ISBN 978-3-515-06013-4 Philip Beeley Kontinuität und Mechanismus 1996. 398 S., geb. ISBN 978-3-515-06393-7 Stefan Lorenz De Mundo Optimo Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791) 1997. 260 S., geb. ISBN 978-3-515-07122-2 Wenchao Li Die christliche China-Mission im 17. Jahrhundert Verständnis, Unverständnis, Mißverständnis. Eine geistesgeschichtliche Studie zum Christentum, Buddhismus und Konfuzianismus 2000. 648 S., geb. ISBN 978-3-515-07452-x Wenchao Li / Hans Poser (Hg.) Das Neueste über China G. W. Leibnizens Novissima Sinica von 1697. Internationales Symposium vom 4.–7. Oktober 1997 in Berlin 2000. 390 S., geb. ISBN 978-3-515-07448-3 Dominique Berlioz / Frédéric Nef (Hg.) L’actualité de Leibniz Les deux labyrinthes. Décade de Cerisy la Salle, 15–22 Juin 1995 1999. 668 S., geb. ISBN 978-3-515-07626-5 Jan Palkoska Substance and intelligibility in Leibniz’s metaphysics 2010. 171 S., geb. ISBN 978-3-515-09405-4

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SONDERHEFTE

Im Auftrag der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft e.V. herausgegeben von Herbert Breger, George Henry R. Parkinson, Heinrich Schepers und Wilhelm Totok.

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ISSN 0341–0765

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Diogenes Allen Mechanical Explanations and the Ultimate Origin of the Universe According to Leibniz 1983. V, 44 S., kt. ISBN 978-3-515-03867-6 12. Werner Kutschmann Die Newtonsche Kraft Metamorphose eines wissenschaftlichen Begriffs 1983. VIII, 177 S., kt. ISBN 978-3-515-03727-3 13. Albert Heinekamp (Hg.) Leibniz’ Dynamica Symposion der Leibniz-Gesellschaft in der Evangelischen Akademie Loccum vom 2.–4. Juli 1982 1984. 226 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978-3-515-03869-0 14. Albert Heinekamp (Hg.) 300 Jahre „Nova Methodus“ von G. W. Leibniz (1684–1984) Symposion der Leibniz-Gesellschaft im Congresscentrum „Leewenhorst“ in Nordwijkerhout (Niederlande) vom 28.–30. August 1984 1987. XVI, 268 S., kt. ISBN 978-3-515-04470-7 15. Albert Heinekamp (Hg.) Leibniz: Questions de logique Symposion organisé par la GottfriedWilhelm-Leibniz-Gesellschaft e.V. Hannover, Bruxelles, Louvain-la-Neuve, 26–28 Août 1985 1988. XIV, 208 S., kt. ISBN 978-3-515-04604-6 16. Hans Poser / Albert Heinekamp (Hg.) Leibniz in Berlin Symposion der Leibniz-Gesellschaft und des Instituts für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin vom 10.–12. Juni 1987 1990. 305 S., kt. ISBN 978-3-515-05056-2 17. Heinz-Jürgen Heß / Fritz Nagel (Hg.)

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Der Ausbau des Calculus durch Leibniz und die Brüder Bernoulli 1989. 175 S. mit 62 Abb., kt. ISBN 978-3-515-05082-1 Claudia von Collani (Hg.) Vorschlag einer päpstlichen Akademie für China Ein Brief des Chinamissionars Joachim Bouvet an Gottfried Wilhelm Leibniz und an den Präsidenten der Académie des Sciences Jean-Paul Bignon aus dem Jahre 1704 1989. 136 S., kt. ISBN 978-3-515-05186-6 Helmut Pulte Das Prinzip der kleinsten Wirkung und die Kraftkonzeption der rationalen Mechanik 1990. XI, 309 S., kt. ISBN 978-3-515-04984-9 Erhard Holze Gott als Grund der Welt im Denken des Gottfried Wilhem Leibniz 1991. 204 S., kt. ISBN 978-3-515-05803-2 Gottfried Wilhelm Leibniz Le Meilleur des Mondes Hg. von Albert Heinekamp und André Robinet 1992. 295 S., kt. ISBN 978-3-515-05764-6 Renato Cristin (Hg.) Leibniz und die Frage nach der Subjektivität Leibniz-Tagung in Triest vom 11.–14. Mai 1992 1994. 229 S., kt. ISBN 978-3-515-06230-5 Susanne Edel Metaphysik Leibnizens und Theosophie Böhmes Die Kabbala als Tertium Comparationis für eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung der individuellen Substanz 1995. 225 S., kt. ISBN 978-3-515-06666-2 Martine de Gaudemar (Hg.)

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La notion de nature chez Leibniz Colloque organisé par le departement de philosophie de l’université de Provence (Aix-en-Provence), le CNRS (Paris), et la G.W. Leibniz-Gesellschaft (Hannover), Aix-en-Provence, 13–15 Octobre 1993 1995. 240 S., kt. ISBN 978-3-515-06631-0 Alexander Wiehart-Howaldt Essenz, Perfektion, Existenz Zur Rationalität und dem systematischen Ort der Leibnizschen Theologia Naturalis 1996. XII, 223 S., kt. ISBN 978-3-515-06840-6 Emily Grosholz / Elhanan Yakira Leibniz’s Science of the Rational 1998. 107 S., kt. ISBN 978-3-515-07400-1 Paul Blum Philosophenphilosophie und Schulphilosophie Typen des Philosophierens in der Neuzeit 1998. 302 S., kt. ISBN 978-3-515-07201-4 Herbert Breger / Friedrich Niewöhner (Hg.) Leibniz und Niedersachsen Tagung anläßlich des 350. Geburtstages von G. W. Leibniz, Wolfenbüttel 1996 1999. 238 S. und 16 Farbtaf., kt. ISBN 978-3-515-07200-7 Martin Fontius / Hartmut Rudolph / Gary Smith (Hg.) Labora diligenter Potsdamer Arbeitstagung zur Leibnizforschung vom 4.–6. Juli 1996 1999. 240 S., kt. ISBN 978-3-515-07602-9 Brandon Look Leibniz and the ‘Vinculum Substantiale’ 1999. 143 S., kt. ISBN 978-3-515-07623-4 Andreas Hüttemann (Hg.) Kausalität und Naturgesetz in der Frühen Neuzeit 2001. 240 S., kt. ISBN 978-3-515-07858-0 Massimiliano Carrara / Antonio-Maria Nunziante / Gabriele Tomasi (Hg.) Individuals, Minds and Bodies Themes from Leibniz 2004. 297 S., kt. ISBN 978-3-515-08342-3

33. Alexandra Lewendoski (Hg.) Leibnizbilder im 18. und 19. Jahrhundert 2004. 261 S., kt. ISBN 978-3-515-08401-7 34. Daniel J. Cook / Hartmut Rudolph / Christoph Schulte (Hg.) Leibniz und das Judentum 2008. 283 S. mit 6 fbg. und 1 s/w-Abb., kt. ISBN 978-3-515-09251-7 35. Mark Kulstad / Mogens Lærke / David Snyder (Hg.) The Philosophy of the Young Leibniz 2009. 259 S. mit 1 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08098-9 36. Paul Rateau (Hg.) L’idée de théodicée de Leibniz à Kant: héritage, transformations, critiques 2009. 222 S., kt. ISBN 978-3-515-09351-4 37. Juan Antonio Nicolás (Hg.) Leibniz und die Entstehung der Modernität Leibniz-Tagung in Granada, 1.–3. November 2007 2010. 278 S., kt. ISBN 978-3-515-09357-6 38. Erich Barke / Rolf Wernstedt / Herbert Breger (Hg.) Leibniz neu denken 2009. 108 S., kt. ISBN 978-3-515-09374-3 39. Thomas Kisser (Hg.) Metaphysik und Methode Descartes, Spinoza, Leibniz im Vergleich 2010. 153 S., kt. ISBN 978-3-515-09736-9 40. Paul Rateau (Hg.) Lectures et interprétations des Essais de théodicée de G. W. Leibniz 2011. 316 S. mit 2 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09919-6 41. Wenchao Li / Hans Poser / Hartmut Rudolph (Hg.) Leibniz und die Ökumene 2013. 314 S., kt. ISBN 978-3-515-10309-1 42. Wenchao Li / Hartmut Rudolph (Hg.) „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus 2013. 309 S., kt. ISBN 978-3-515-10308-4

Warum das Böse? Mit keiner geringeren Frage als der Rechtfertigung eines Gott genannten allmächtigen, allwissenden und allgütigen Wesens angesichts der unbestreitbaren Existenz der Übel in der Welt setzten sich G. W. Leibnizens im Jahre 1700 veröffentlichte, ebenso populäre wie umstrittene Essais de Théodicée sur la bonté de dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal auseinander. So soll der Titel 300 Jahre Essais de Théodicée keine falsche Kontinuität suggerieren, zumal die Grundlage dessen, was die Leibniz’sche Theodizee mit ihren christlich-theologischen wie rational-philosophischen Implikationen

ISBN 978-3-515-10310-7

bedeutet, der Gegenwart nicht mehr sonderlich gegenwärtig ist. Gleichwohl stellt sich nach wie vor die Frage: Warum das Böse? Der vorliegende Band geht auf ein internationales Symposium zurück, das anlässlich des 300-jährigen Erscheinens von Leibnizens Theodizee in Berlin stattfand. Thematische Schwerpunkte bilden die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, besonders die Theodizee-Kritik im philosophischen, theologischen und politischen Denken des europäischen 18. und 19. Jahrhunderts, die bis in den philosophisch-politischen Diskurs der Gegenwart hinein wirkt.

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