1365 - 2015 - 2065: Etwas andere Geschichten der Universität Wien 9783205794141, 9783205796619

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1365 - 2015 - 2065: Etwas andere Geschichten der Universität Wien
 9783205794141, 9783205796619

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Marianne Klemun – Hubert Szemethy – Fritz Blakolmer – Martina Fuchs (Hg.)

1365 – 2015 – 2065

Etwas andere Geschichten der Universität Wien

2015

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch Universität Wien Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien Vereinigung zur Förderung der Genomforschung (VFG)

Kulturabteilung der Stadt Wien (Magistratsabteilung 7)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. © 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien, unter Verwendung einer Vorlage von Bluetango Layout: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: BALTO print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79661-9

Inhalt Etwas andere Geschichten der Universität Wien: Überlegungen und Motive Marianne Klemun Danksagung

Februar 1388 Johann, Artistenstudent an der hoen schuel zu Wien

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Marianne Klemun

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Marianne Klemun

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Marianne Klemun

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Elisabeth Haid – Christoph Augustynowicz

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September 1461 Ulrich, »Bummelstudent« und Freund Regiomontans

Februar 1524 Martin, angehender medicus zu Wien

Herbst 1673 Albrechts standesgemäßes und kurzweiliges Studium in Wien

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Inhalt

Juni 1774 Gottfried, Student der Philosophischen Studien Marianne Klemun, unter Mitarbeit von Elmar Fröschl

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Julia Rüdiger

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Christian Knoblauch, unter Mitarbeit von Marianne Klemun und Fritz Blakolmer

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Alois Stuppner – Otto H. Urban

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Sommer 1883 József, Kunstgeschichtestudent und Flaneur im Universitätsviertel

Herbst 1927 Julius, Student der Ägyptologie im Banne Tutanchamuns

Frühjahr 1939 Heinrich, Student der Urgeschichte auf Exkursion

Mai 1945 Wilhelms ideologische Lehrjahre an der Wiener Universität Herbert Nikitsch

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Gerhard Langer

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März 1965 Erika, Studentin der Orientalistik und Judaistik

Herbst 1967 Nikos, Grete, Panos – Studieren während der griechischen Militärdiktatur Adamantios Skordos – Maria A. Stassinopoulou 122

Winter 1984 Ursula, bewegte Studentin der Klassischen Archäologie und Alten Geschichte

Inhalt

Fritz Blakolmer – Hubert Szemethy

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InterviewerInnen: Ina Markova – Christoph Mentschl – Maria Wirth

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Fritz Blakolmer

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Februar 2014 Azra und Sevde – Studieren heute. Ein Interview zur aktuellen Situation von Studierenden an der Universität Wien

Frühling 2065 Winona hat das Studium »Kulturwelten« an der Neuen Universität Wien gebucht

Verzeichnis der AutorInnen und HerausgeberInnen

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Etwas andere Geschichten der Universität Wien: Überlegungen und Motive Die Alma Mater Rudolphina wurde am 12. März 1365 gegründet. Kaum eine andere Universität kann auf eine so lange Geschichte von 650 Jahren zurückblicken, kaum eine andere Universität hat eine so vielschichtige Vergangenheit vorzuweisen! In Etappen nähert sich das Buch in knapper Form dieser Geschichte vom Jahre 1365 bis in die Gegenwart. Aus der Sicht von fiktiven Studenten und Studentinnen der Universität Wien werden diese 650 Jahre lebendig. Diese Personen sind zwar erfunden, aber ihr Kontext und ihr Handlungsraum sind belegt, recherchiert und historisch-kritisch erzählt. Jede Figur repräsentiert jeweils einen Zeitabschnitt der Universitätsgeschichte. In einem inneren Monolog werden interessante und charakteristische Bezüge zum relevanten zeitgenössischen Geschehen der Universität hergestellt. Diese spezifische Art der Erzählung versteht sich als science communication, als neuer Weg, in einem frischen Ton eine komplexe Geschichte erzählerisch knapp zu vermitteln. Wie von einem Fenster aus werden wichtige Stationen der Universität eingefangen. Die Geschichten sind zwar für sich abgeschlossen, haben aber gemeinsame Aspekte: die Art und Weise des Erwerbs von Wissen, die Räumlichkeiten des Studiums und Lebens der Studenten und Studentinnen, die Einbettung der Universität im Stadtraum und wichtige Veränderungen, die das Studium mitbetreffen. Die studentische Per­ spektive ist absichtlich gewählt, denn die Studenten und Studentinnen sind es letztlich, die das Potenzial der Universität ausmachen. Insofern stellt dieses Buch eine traditionelle Darstellungsform auf den

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Etwas andere Geschichten der Universität Wien

Kopf, indem es sich von den Studenten und Studentinnen zu jenen Vertretern und Phänomenen vorarbeitet, die im Gedächtnis der Universität ihren prioritären Platz haben. Diese Perspektive entspricht auch einer Tendenz, die sich in den letzten Jahren innerhalb der Wissenschaftsgeschichte abzeichnet, nämlich statt auf Ideen und Theorien mehr auf die Praktiken der Wissensaneignung und -produktion zu setzen. Die Frage, ob die Fiktion für uns als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ein zulässiges Hilfsmittel sein darf, kann hier eindeutig mit Ja beantwortet werden. Denn letztlich ist nicht die von uns erfundene Person, sondern der mit ihr in Verbindung gebrachte Kontext unser Anliegen. Unsere hier präsentierte Darstellung ist durchaus bestimmt von methodischen Überlegungen, denn auch in unseren sonstigen Forschungen ist die Frage der Narration innerhalb der Debatten der Konstruktion historischen Wissens eine zentrale. Mit »wir« ist die »Fakultätsgruppe Öffentlichkeitsarbeit« der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät gemeint, die seit 2007 im Team Projekte kreiert und die neben unseren eigenen Communities eine breitere Öffentlichkeit ansprechen will. Geplant waren 13 Geschichten, die auch symbolisch die 13 Institute der Fakultät repräsentieren sollten. Die historisch-kulturwissenschaftliche Darstellung hat sich jedoch zu einem großen Panorama der ganzen Universität und ihres Wandels ausgedehnt. Zwei Geschichten fallen aus dem Rahmen: die Gegenwart, die durch ein nicht fiktives Interview mit Studierenden thematisiert wird, und der Blick in die Zukunft, welcher die Phase bis 2065 ins Visier nimmt. So werden wir dem Anspruch des ursprüng­lichen Titels »uni-fiction« besonders in der letzten Geschichte voll gerecht. Die einzelnen Geschichten wurden seit dem 12. März 2014 jeweils am 12. jeden Monats auf der Homepage der Universität Wien als Blog der Universität (http://blog.univie. ac.at/kategorie/uni-fiction/) veröffentlicht. Wir näherten uns so in langsamen Schritten dem Datum des Jubiläums im Jahre 2015 und kamen am 12. März 2015 in der Gegenwart an. Marianne Klemun

Danksagung

Danksagung

Unser Projekt wäre nicht aus dem Blogstatus in eine Buchform befördert worden, hätten wir nicht mit unseren Texten Gefallen und besondere Unterstützung gefunden. Dafür bedanken wir uns ganz besonders bei Herrn o.Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Dr. h. c. Heinz W. Engl (Rektor der Universität Wien) und bei Frau o.Univ.-Prof. Dr. Claudia Theune-Vogt (Dekanin der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien). Hilfestellung erfuhren wir von unterschiedlichen Einrichtungen der Universität Wien. Dazu zählt das Team des Jubiläumsbüros, unter der Leitung von Hon.-Prof. emer. o.Univ-Prof. Dr. Dieter Schweizer, mit dem operativen Leiter Falk Pastner und Frau Michaela GriehslerHolstein. Besonders freundliche Unterstützung wurde uns auch von folgenden Stellen gewährleistet: Frau Mag. Cornelia Blum (stellvertr. Leiterin des Büros des Rektors) und Frau Mag. Elisabeth Mattes (Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit). Während der Phase, als unser Blog auf der Uni-Homepage erschien, haben uns Frau Mag. Ursula Fuchs (Social Media Kommunikation der Universität Wien) und Mina Jaramaz (Grafikservice, auch verantwortlich für die grafische Umsetzung des von Fritz Blakolmer entworfenen uni-fiction-Logos) kontinuierlich immer kompetent unter die Arme gegriffen. Für die Zurverfügungstellung von Bildmaterial danken wir allen Rechteinhabern, insbesondere dem Archiv der Universität Wien (Leiter Mag. Thomas Maisel). Den Förderern dieser Publikation verdanken wir ihr Zustandekommen, dem Team des Verlages die schnelle Umsetzung unseres Projektes. Das HerausgeberInnenteam: Marianne Klemun, Hubert Szemethy, Fritz Blakolmer und Martina Fuchs

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Johann, Artistenstudent an der hoen schuel zu Wien

Februar 1388

Marianne Klemun

Hartes Lager, Kälte. Freilich, Johann erwartet vom Osten mehr Sonne, aber der Winter scheint hier in Wien derselbe zu sein wie zu Hause, frostig, und die mit so vielen geteilte Kammer fühlt sich klamm an, aber der Atem vieler Scholaren wärmt das Gewölbe der Burse1 auf. Den während der Woche immer wieder vorgelesenen Kommentar zum Aristotelestext bekommt er nicht aus dem Kopf, den kennt er buchstäblich schon auswendig. Einige Zeilen kommen ihm erneut in den Sinn. Das Repetieren hämmert wie Glocken in seinem Kopf. Er tut sich leicht mit der lateinischen Sprache. Als Scholaren sollten sie diese nicht nur lesen können, sondern eigentlich auch im Gespräch mit­einander gebrauchen. Im Gewölbe fällt so manches ihm unbekannte Wort, das vielleicht sächsisch ist, jedenfalls fremd klingt. Woher sie nicht alle kommen, seine Mitscholaren! Aus allen Richtungen, niemand jedoch aus Halberstadt. Ein Artistenstudium,2 das ist eine Besonderheit. Keiner seiner Freunde, mit denen er als Kind gespielt 1 2

Unter Burse versteht man die räumliche Gemeinschaft der Scholaren, wo gelehrt, gelernt, gegessen und geschlafen wurde. Es herrschte Bursenzwang, also die Verpflichtung für jeden Scholaren, in eine Burse einzutreten. Das Artistenstudium war eine Art Grundschule und Ausgangspunkt für alle weiteren Studien, die an der Theologischen, Medizinischen oder Juridischen Fakultät fortgesetzt werden konnten. Im Rahmen des Triviums (Dreiweg) wurden die Fächer Grammatik, Rhetorik und Dialektik, im Rahmen des Quadriviums (Vierweg) Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik gelehrt.

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Februar 1388

hatte, konnte ihn begleiten, denn entweder fehlte das Geld oder fehlten die Lateinkenntnisse. Und Johann selbst hatte damals noch nicht gewusst, was das eigentlich sei, so ein Artistenstudium. Repetieren und repetieren, ob nun die Quaestiones3 oder den Traktat. Durchhalten, denkt er sich, doch er fühlt sich noch so fremd Abb. 1: Großes Siegel der Wiener Artistenfakultät, 1388 (Archiv der in Wien. In der Uniform, die sie Universität Wien/August Steininger) hier tragen müssen, sehen alle wie Kleriker aus. Die meisten Scholaren sind es auch. Johann ist froh, diese Tracht zu besitzen und überziehen zu können, denn seine eigenen Kleider hatten während der langen, von Halberstadt nach Wien führenden peregrinatio4 gelitten, hatten Löcher bekommen. Schlimm war zuletzt die Schiffsreise gewesen, denn die Donau zeigte sich sehr stürmisch. Aber er hatte unterwegs beim Anlegen einen Scholaren getroffen, der in die entgegengesetzte Richtung nach Halberstadt unterwegs war; ihm hatte er Grüße an seine Familie mitgeben können. Bisher hatte Johann eigentlich Glück gehabt. Denn der Bischof, bei dem die Mutter in seiner Heimat, in Halberstadt, als Kammerfrau arbeitete, hatte ihm geholfen. Tatsächlich! Warum der Bischof damals so begeistert von ihm war, entzieht sich bis heute seinem Verständnis. Jedenfalls hatte er die Lateinschule des Domes in Halberstadt besuchen müssen. Lieber hätte er beim Tischler Sepp gelernt, doch das Lesen des Lateinischen mochte er damals schon, als er es immer wie-

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Für die lectio, die Auslegung klassischer Texte, hatte sich in der Scholastik eine literarische Form ausgebildet, die zugleich eine pädagogische Funktion bekam. Die quaestiones waren Fragen, welche die magistri (die Professoren) gemeinsam mit den Scholaren im Prozess um die Wahrheitsfindung beschäftigten. Die Wanderung (peregrinatio) von Scholaren und magistri zwischen Universitäten zählte zur selbstverständlichen Praxis des akademischen Lebens im Mittelalter.

Johann, Artistenstudent an der hoen schuel zu Wien

der während der Messe hörte; es klang so klar, und die Regeln ­waren auch immer dieselben. Da passierte es einmal, während seine Mutter die Kammer des Bischofs in Halberstadt heizte, dass sie einen Stoß Pergament aus der Nähe des Ofens wegräumte. Ups, da sprang eine Maus heraus, und sie war nur die erste von mehreren! Überall waren sie und hatten in die Handschrift bereits ein beträchtliches Loch gefressen. Mutter nahm das Pergament in ihre Kammer mit, um es vom Mäusekot zu befreien. Da beugte sich Johann über die Handschrift, konnte dieses Geschreibsel entziffern und sogar übersetzen, was die Mutter sehr überraschte. Dieser Bub! Der Inhalt jedoch, den Johann ihr da vorlas, der beunruhigte sie. Er redete von einer Kraft (impetus)5 in den Dingen, welche jede Bewegung ermögliche. Sie musste dem Beichtvater später ihre Zweifel anvertrauen, sie wichen aber im Gespräch bald. Der Beichtvater jedoch, wohl schon immer ein geschwätziger Mann, erzählte dem Bischof von diesem weisen Jungen, der den Traktat nicht nur übersetzen gekonnt, sondern auch seinen Inhalt verstanden hatte. Der Bischof, selbst Autor dieser Handschrift, in gelehrten Kreisen Albert von Sachsen bzw. von Rickmersdorf 6 genannt, war ein kluger, gelehrter und weit gereister Mann. Er hatte schon in Paris als Rektor gewirkt, bevor er 1365 zum ersten Rektor der neu gegründeten hoen schuel in Wien – gemeint ist die Universität – ernannt worden war. Danach war er als Bischof nach Halberstadt gekommen. Dass der Bischof selbst etwas mit dem geheimnisvollen Traktat zu tun hatte, das wird Johann erst viel später erfahren, als er den 5

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Die Impetuslehre implizierte nach Aristoteles, dass jede Bewegung von einer entsprechenden Kraft ausgehe. Bei der Bewegung von Geschossen bzw. fallenden Körpern schrieb man der Bewegung ebenfalls eine innere Kraft zu, die Albert von Sachsen entsprechend dem Verschwinden der Kraft in drei Phasen teilte. Albert von Sachsen (1316–1390), oft auch Rickmersdorf genannt, war 1353 Rektor an der Sorbonne in Paris, 1365 erster Rektor der Universität Wien und von 1366 bis zu seinem Tod als Albrecht III. Bischof von Halberstadt. Er war Gelehrter von europäischem Rang und hinterließ viele Handschriften. S. Martin Grabmann, Albert von Sachsen Albrecht III. Bischof von Halberstadt. In: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 135.

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Februar 1388

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Bücherschrank nahe der Kanzel im Collegium ducale 7 in Wien gleich nach seiner Ankunft im Herbst 1388 persönlich inspiziert. Er wird dort weitere solche Handschriften sehen, in die Hand nehmen und einiges abschreiben. Erlaubt hat ihm das keiner. Damals in Halberstadt hatte ihn der Bischof höchstens manchmal ein Abb. 2: Collegium ducale (ÖsterreichiSchmalzbrot aus der Küche mitsche Nationalbibliothek, Cod. 2765) nehmen lassen. Von der prunkvollen Gründungsversammlung, die just zu Frühlingsbeginn (am 12. März) 1365 in Wien stattfand, hatte der Bischof ihm so nebenbei erzählt, als er Johann eröffnete, dass er ihn zum Studium nach Wien schicken wolle. Johann hatte keine andere Wahl. Ob er wollte oder nicht, er musste Mutter und Schwester trösten und sich alsbald auf die Reise begeben. Aber wo war Wien? Wohl einige Tagesreisen von Halberstadt entfernt. Was der Bischof ihm so erzählt hatte von dieser neuen hoen schuel, davon war in Wien, als er ankam, nichts mehr zu erfahren. Es sollte ein junger, enthusiastischer Herzog, genannt Rudolf IV.,8 diese gestiftet haben. In persona hatte ihn aber niemand gesehen. Da war sein Vertreter, Landmarschall Leutold von Stadegg, der den skeptischen Bürgermeister und einige Bürger zur Zusammenarbeit überreden musste. Albert von Sachsen sollte hier vermittelt haben, 7

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Das Collegium ducale war sozusagen die »universitäre Zentrale«, die von Albrecht III. gegründet und 1385 eröffnet wurde. Hier sollten 12 Magistri artium und 3 Doktoren der Theologie wohnen und unterrichten. Dieses Collegium lag nicht, wie ursprünglich geplant, neben der Herzogsburg, sondern im Stubenviertel in Nachbarschaft des 1226 gegründeten Dominikanerklosters. Rudolf IV. (1339–1365), der ambitionierte habsburgische Herzog, sorgte für den Kirchenausbau von St. Stephan, weshalb er den Beinamen Stifter erhalten hatte. Auf ihn geht auch die Stiftung der Universität Wien zurück. S. Heinz Dopsch, Rudolf IV. In: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 179f.

Johann, Artistenstudent an der hoen schuel zu Wien

bis der Stifterbrief samt städtischem Konsensbrief ausgefertigt worden war. Viele Gebäude rund um das Collegium ducale durften nun nur mehr an Angehörige der hoen schuel vermietet werden. Das passte den Bürgern nicht so recht, auch verständlich! Im Jahr seiner Ankunft, 1388, hörte Johann das Gerücht, dass eine archa universitatis, eine eisenbeschlagene, mit vier Schlössern versehene Archivtruhe, diesen Stifterbrief enthalte. Gesehen hatte er nur die Truhe, aber nie Abb. 3: Porträt Herzog Rudolf IV. ihren Inhalt. Vielleicht, munkelte (Dommuseum – Domkapitel, einer der Magister, der es wohl gut Foto: © Dommuseum Wien) wissen musste, weil Plätze für einige Siegel frei geblieben waren. Verringert das die Bedeutung der hoen schuel? Da die Siegel ohnehin niemand herausnehmen darf, wohl eher nicht, denkt sich Johann. So prunkvoll, wie der Bischof von Halberstadt behauptet hatte, scheint Wien doch nicht zu sein. Ja, die Stadt hat hohe Häuser, aber die Enge ist beinahe bedrohlich. Nicht einmal ein Pferdefuhrwerk kommt durch diese schmalen Gassen. Wenige Jahre vor Johanns Ankunft, 1384, hatte ein Herzog die Gunst der Stunde genutzt, einige Gelehrte aus Paris nach Wien zu berufen,9 die infolge des abendländischen Schismas10 den Pfründen ledig geworden waren. Wie fein, dass in Wien die Pfründen aus der Pfarre Laa an der Thaya für die hoe schuel gesichert waren. Das hatte ihm auch der neu eingesetzte rector puerorum erzählt, dem er seine 9

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So etwa Heinrich von Oyta, Gerhard von Kalkar, Michael von Frankfurt oder Heinrich von Odendorf. Im sogenannten abendländischen Schisma (1378–1417) erhoben mehrere Personen den Anspruch auf das Papsttum, der Gegenpapst residierte in Avignon.

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Februar 1388

Empfehlung vom Halberstädter Bischof überreicht hatte und der ihn in die Matrikel eintrug. Aber der Bischof in Halberstadt verfügte wohl über mehr Pfründen. So schnell würde er sich jedenfalls nicht mehr aus der pfaffen­statt,11 wie das spatium um das Collegium ducale in Wien einmal genannt wurde, hinausbegeben, denn die Wachen am Zugangstor würde er nie vergessen! Sie ließen ihn, als er neugierig und müde nach Wochen hier an der Stadtmauer in Wien ankam, endlos lange warten und schimpften über die vielen Scholaren, die nun die Stadt überrannten. Hatte es sich gelohnt, den weiten Weg hierher nach Wien zu kommen? Ja, denn es ist ein Anfang des hohen studiums für ihn. Den dritten Magister der Artisten hört er von Bologna schwärmen, es sei ein toller Ort, an dem man auch studieren könne, nämlich Jurisprudenz. Das würde die Mutter doch freuen, denn da könnte er vielleicht in der bischöflichen camera arbeiten. Eine peregrinatio academica, das ist sein nächstes Ziel. Einstweilen aber widmet er sich dem Geschreibsel eines gewissen Heinrich von Langenstein,12 nachdem er einer Predigt dieses Herrn beigewohnt hatte. Heinrich ist Theologe, und einer seiner discipuli hat ihm die Lektüre der Thesen zur Konstituierung des Kirchenfriedens, der das Schisma überbrücken soll, nahegelegt. Und beim jetzigen Herzog soll sich Heinrich auch für die hoe schuel eingesetzt 11 12

Die Einrichtung des Campus neben der Herzogburg war von Rudolf IV. als abgesondertes Territorium mit Vorrechten der Sondergerichtsbarkeit, Steuer-, Zoll- und Mautfreiheit, nicht nur personal, sondern auch territorial innerhalb der Stadtmauern, vorgesehen worden. Heinrich von Langenstein (1325–1397) war Theologe, Professor an der Sorbonne in Paris und lehrte ab 1384 an der Theologischen Fakultät der Universität Wien. Er war es, der Albrecht III. die Reorganisation der Universität nahelegte und nicht nur den statutenmäßigen Ausbau, sondern auch den Ausbau von Collegien forderte. S. Albert Lang, Heinrich Heinbuche von Langenstein. In: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), S. 410. Zum Albertinischen Privileg 1384 s. zuletzt Christian Lackner, Möglichkeiten und Perspektiven diplomatischer Forschung. Zum Privileg Herzog Albrecht III. für die Universität Wien. Wien u. a. 2013 (Stabwechsel. Antrittsvorlesungen aus der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 4).

Johann, Artistenstudent an der hoen schuel zu Wien

haben. Johann jedoch legt diese abgegriffene Abschrift zur Seite, weit interessanter scheint ihm Heinrichs Quaestio de cometa,13 Erörterungen bezüglich der vom Himmel und aus dem Äther kommenden Erscheinungen. Und sie sagen auch astrologisch eine gute vita voraus, ihm wie auch jener universitas,14 der er jetzt hier in Wien für mindestens zwei Jahre angehören wird. Wenn nur nicht das unentwegte Repetieren wäre!

Weiterführende Literatur: Harald Berger, Bischof Albrecht III. (1366–1390) als Gelehrter von europäischem Rang (Albert von Sachsen). In: Günter Maseberg (Hg.), Halberstadt. Das erste Bistum Mitteldeutschlands. Zeitzeugnisse von Kaiser Karl dem Großen bis zum Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Halberstadt 2004 (Veröffentlichungen des Städtischen Museums Halberstadt 29), S. 81–92. Klaus Hentschel, Zur Begriffs- und Problemgeschichte von »Impetus«. In: Christiane Dick, Hamid Reza Yousefi (Hgg.), Das Wagnis des Neuen. Kontexte und Restriktionen der Wissenschaft. Festschrift für Klaus Fischer zum 60. Geburtstag. Nordhausen 2009, S. 479–499. William J. Hoye, Die mittelalterliche Methode der Quaestio. In: Norbert Herold u. a. (Hgg.), Philosophie: Studium, Text und Argument. Münster 1997 (Münsteraner Einführungen: Philosophie 2), S. 155–178. Georg Kreuzer, Heinrich von Langenstein. Studien zur Biographie und zu den Schismatraktaten unter besonderer Berücksichtigung der Epistola pacis und der Epistola concilii pacis. Paderborn u. a. 1987 (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte Neue Folge 6). Kurt Mühlberger, Universität und Stadt im 14. und 15. Jahrhundert am Beispiel Wiens. Wesentliche Grundlagen und ausgewählte Szenen einer »konfliktbeladenen Harmonie«. In: Kurt Mühlberger, Meta Niederkorn-Bruck (Hgg.), Die Universität im Konzert europäischer Bildungszentren. 14.–16. Jahrhundert. Wien 2010 (Veröffentlichung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 56), S. 53–83.

13 Die Astrologie hatte im Mittelalter den gleichen Stellenwert wie die Astronomie. 14 Unter Universitas magistrorum et scholarium versteht man die Gemeinschaft der Scholaren und Professoren.

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Ulrich, »Bummelstudent« und Freund Regiomontans

September 1461

Marianne Klemun

Immer dieses Knarren der Bretter, bei jeder Bewegung geben sie ein Geräusch von sich! Ulrich fällt es schwer, dieses unbewegliche Verharren in der Bank, eingespannt wie in einem Schraubstock, es macht die Glieder so steif. Meine Beine sind einfach zu lang, denkt er sich. Vielleicht hängt sein Unbehagen auch mit seinem für das Studieren doch schon fortgeschrittenen Alter zusammen. Der frühe Beginn der Vorlesung publica1 um 6 Uhr ist auch eine Plage. Fast mit Neid denkt er an seinen ehemaligen Sitznachbarn Johannes,2 der sichtlich immer mit Vergnügen dem Magister und dessen instructiones gelauscht hatte. Kein Wunder, dass dieser bei seinem jugendlichen Alter mit seinen viel kürzeren Beinen auch bequemer saß! Und Ulrich selbst musste ja das Studium immer wieder unterbrechen, nach Hause wandern, weil die Großmutter gestorben war oder 1 2

An der Universität Wien wurden in dieser Zeit zwei verschiedene Typen von Vorlesungen angeboten: privata und publica. Während die erstere Form beim Magister bzw. in der Burse stattfand, wurde die zweite im Lehrsaal gehalten. Der im fränkischen Königsberg geborene Johannes Müller, genannt Regiomontanus (1436–1476), war der bedeutendste Mathematiker und Astronom des 15. Jahrhunderts. Er hatte sich am 15. April 1450 an der Artistenfakultät in Wien immatrikuliert, erwarb 1452 das Bakkalaureat und wurde 1457 Magister der Artistenfakultät. Er lehrte bis 1461 in Wien, begab sich dann nach Italien und betrieb zuletzt in Nürnberg eine Druckerei. S. Menso Folkerts, Andreas Kühne, Regiomontan, Johannes. In: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 270f.

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September 1461

Abb. 1: Ptolemaios und Regiomontanus unter der Weltkugel: Titelblatt von ­Regiomontans bedeutendstem Druckwerk, Epitoma in Almagestu Ptolemei, Venedig 1496 (aus: Ernst Zinner, Leben und Wirken des Johannes Müller von Königsberg, genannt Regiomontanus. München 1938, S. V)

Ulrich, »Bummelstudent« und Freund Regiomontans

ihn der Vater in der Schmiedewerkstatt zu Enns brauchte. Aber dann hatte er sich doch aufgerafft, losgerissen und sich wieder dem Studium gewidmet. Nun will er sich selbst aber beim Schopf packen und fleißig sein; das redet er sich zumindest ein, während er in der Bank stillhält und die Vorlesung doch wieder nur an ihm vorbeiläuft. An den tollen Ausflügen der studiosi in die Weinberge will er sich auch nicht mehr beteiligen, um ja nicht in Händel zu geraten, wie sie sich zwischen den Wienern und den Studenten schon so oft mit grausamem Ausgang3 entzündet hatten. Auch sollte er sich die Haare noch rechtzeitig vor der Anmeldung für die Lizentiatsprüfung4 schneiden lassen. Denn er hatte gehört, dass einige der studiosi wegen der krausen und langen Haare nicht zugelassen worden waren. Also, jetzt muss er sich wirklich am Riemen reißen. Endlich war Friede zwischen dem Kaiser und seinem Bruder geschlossen worden.5 Die drohende Gefahr hatte bisher ja ebenfalls vom Studium abgelenkt. Man hatte sich an der hoen schuel aber gut gewappnet. Mehl, Speck und Salz waren sogar im Haus des Herzogskollegs gehortet worden, damit bei einer allfälligen Belagerung alle durchhalten könnten. Bezüglich des Glockengeläutes war festgelegt worden, dass langsame Schläge (ictus tardi) einen Brand anzeigen, schnelle beständige 3

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Solche Auseinandersetzungen sind für die Jahre 1387, 1414, 1420, 1451 und 1455 belegt. Im Jahr 1456 kam es außerhalb der Stadtmauern zu einem Zusammenstoß der Studenten mit Weinhauersknechten und bei diesen Kämpfen zum Tod eines Studenten. Bei den weiteren Schlachten bei Nußdorf gab es wieder einen Toten und mehrere Verwundete. S. dazu Kurt Mühlberger, Universität und Stadt im 14. und 15. Jahrhundert am Beispiel Wiens. Wesentliche Grundlagen und ausgewählte Szenen einer »konfliktbeladenen Harmonie«. In: Kurt Mühlberger, Meta Niederkorn-Bruck (Hgg.), Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren. 14.–16. Jahrhundert. Wien 2010 (Veröffentlichung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 56), S. 53–83, bes. S. 76. Lizentiatsprüfungen bildeten die Voraussetzung für die Zulassung zur Inceptio und zur Lehrbefugnis. Nur ein Bakkalar wurde zur Inceptio zugelassen, auf welche die Magisterpromotion folgte. Für die mündliche Auskunft sei hier Thomas Maisel, dem Leiter des Archivs der Universität Wien, gedankt. Der Friede zwischen Erzherzog Albrecht VI. und seinem Bruder Kaiser Friedrich III. wurde am 6. September 1461 im Feld bei Laxenburg durch die Vermittlung der Räte geschlossen.

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September 1461

Abb. 2: Matrikeleintrag von Georg von Peuerbach, 14. April 1446, in Zeile 41 (Archiv der Universität Wien)

Schläge (ictus veloces et continui) sich nähernde Feinde ankündigen sollten. Wenn die Glocke anschlug, hatte sich Ulrich jedes Mal zu Tode erschreckt. Nun aber klingen ihm die Glocken wieder harmonisch. Ulrich fehlt es einfach an einer Begeisterung, wie sie Johannes empfindet. Neulich nach der Vesper erzählte ihm dieser ganz auf­

Ulrich, »Bummelstudent« und Freund Regiomontans

geregt von der Berechnung der Seiten und Winkel im rechtwinkeligen Dreieck, wozu er »Sinustafeln« benutzt. Gar nichts verstand Ulrich, als Johannes – ermuntert durch dessen staunendes Nicken – einen Wortschwall über ihn ergoss. Ulrich schnappte nur auf, dass Johannes seine Sinustafeln – ganz anders als all seine Vorgänger – von Minute zu Minute fortschreitend rechnet. Als Radius des Bezugskreises6 wählt er 6.000.000, für die Ausgangswerte der Interpolation 600.000.000. Das notierte sich Ulrich schnell, denn er wollte seinem Freund demonstrieren, dass er ihn bewunderte. Dass er davon keine Ahnung hatte, stand auf einem anderen Blatt. So nickte er ständig, und Johannes setzte seine Elaborationen enthusiasmiert fort. Diese nahmen schier kein Ende! Johannes liebt die Zahlenkombinationen, besonders die komplizierte Dreieckslehre hat es ihm angetan.7 In sein »Rechenbuch«8 nimmt er seine eigenen Elaborationen und die seines großen, im heurigen Jahr leider viel zu früh verstorbenen Vorbildes Georg von Peuerbach,9 der einst auch Student in Wien war, und antiker Auto6

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Das wird in der Handschrift Codex Vindobonensis 5203, f. 28–32 dargelegt. Theorie und Tafelwerk wurden 1541 auf Veranlassung Schöners als »Compositio Tabularum sinuum rectorum« gedruckt. Vgl. dazu Wolfgang Kaunzner, Über Regiomontanus als Mathematiker. In: Günther Hamann (Hg.), RegiomontanusStudien. Wien 1980 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Mathematik, Naturwissenschaften und Medizin. Hefte 28–30. Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse Bd. 364), S. 125–145, bes. S. 132. Regiomontanus’ »De Triangulis planis et sphaericis libri quinque, una cum tabulis sinuum« wurde 1533 erstmals gedruckt und 1561 nochmals aufgelegt. Diese Gesamtdarstellung der sphärischen Trigonometrie war für die Entwicklung dieses Feldes für Jahrhunderte grundlegend. Ob Johannes von Regiomontanus selbst den Kosinussatz entwickelte oder vom arabischen Gelehrten Mohammed ibn Dschabir ibn Sinan al-Battani (lat. Albategnius oder Albatanius) inspiriert wurde, ist in der Forschung noch umstritten. Handschrift, heute genannt: »Wiener Rechenbuch«, Cod. Vindobonensis 5203, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Sammlung von Handschriften und alten Drucken. Georg von Peuerbach (1423–1461) erwarb das Bakkalaureat im Jahr 1448 an der Wiener Artistenfakultät, danach hielt er sich in Italien auf. Von 1454 bis zu seinem Tode hielt er humanistische Vorlesungen über Vergil, Juvenal und Horaz vor

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September 1461

ren auf: Darin beschäftigen sich die beiden mit den vollkommenen Zahlen und der Berechnung von Quadrat- und Kubikwurzeln aus gewöhnlichen Brüchen, die keine Quadrate sind. So wurde Johannes schon in seinen jungen Jahren Mitarbeiter des um 13 Jahre älteren Lehrers Peuerbach, der ihm mittlerweile zum engen Freund geworden war. Selbst zu seinen Beobachtungen wie jenen der Mondfinsternis in Melk hat er ihn mitgenommen. Im Jahr 1457 zum Magister geworden, durfte Johannes am Fest der hl. Katharina, der Patronin der Artistenfakultät, am 25. November sogar die Rede halten. Ulrich ist ihm nicht neid, denn Johannes ist wirklich ein Phänomen! Sein Latein und seine Rechnerei, das beherrscht er tatsächlich, besser als alle anderen magistri, von denen mehr als hundert hier an der hoen schuel lehren. Zu blöd, dass Ulrich die Lizentiatsprüfung10 noch immer nicht in der Tasche hat! Wird er sie je schaffen? Wenn nicht, wird er auch ohne sie als Handschriftenabschreiber arbeiten. Ja, das will er, er tut das sehr gern. Derzeit tauchen ja Tag für Tag neue Handschriften auf. Und die meisten der Studierenden haben doch auch noch keinen Abschluss, sagt er sich selbstgefällig. Einige vermuten, dass nun in Zukunft Bücher,11 die mithilfe von handgegossenen Lettern mechanisch hergestellt werden, die Handschriften ablösen könnten. Derzeit wird aber wegen der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 von den Gelehrten aus Byzanz das Wissensgut in Form von Handschriften noch immer nach

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allem an der Stadtschule zu St. Stephan in Wien. Daneben verfasste er bedeutsame astronomische Schriften, die »Theoricae novae planetarum« 1454 und 1460 die Tafeln zur Berechnung der Finsternisse. S. Hermann Haupt, Peuerbach, Georg von. In: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), S. 281f. Ulrich war schon Bakkalar, er hatte das examen bereits abgelegt, das die Zulassung zur Determination (eine abschließende Disputation) gewährleistete, auf die dann die Promotion zum Bakkalar gefolgt war. Aber die Voraussetzung für die Lehrbefugnis als Magister stand noch aus. Freundlicher Hinweis von Thomas Maisel. Auf Johannes Gutenberg (1400–1468) geht die Erfindung des Buchdrucks zurück. Die erste Druckerei war 1458 in Straßburg eröffnet worden. S. Aloys Ruppel, Gutenberg, Johannes. In: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 339–342.

Ulrich, »Bummelstudent« und Freund Regiomontans

Rom geschmuggelt. Kardinal Bessarion12 soll hier die Drehscheibe sein. Und ausgerechnet dieser hochwürdige Herr ist gerade in einer Mission beim Kaiser in Wien! Mit ihm steht auch Johannes in Verbindung. Ulrich nimmt damit an einem Geschehen teil, das einem aus Enns stammenden Bürgersohn sonst wohl verwehrt gewesen wäre. Bessarion wirkte als Legat, der im päpstlichen Auftrag die christ­ lichen Fürsten und Kirchen gegen das aufstrebende Osmanische Reich einigen sollte. Aber da war bisher nicht besonders viel zu erreichen gewesen. Wie sich die beiden Kirchen doch im Ritus so stark entzweien konnten! Einer der Konflikte speiste sich aus dem Unterschied, dass die Vertreter der römischen Kirche das Kreuzzeichen von links nach rechts machten, in der byzantinischen Kirche hingegen ging es ,richtig‘ von rechts nach links. Ulrich denkt sich, da müsse er in Zukunft wohl besser aufpassen; wie oft hat er sich schon falsch bekreuzigt! In Rom hat sich Bessarion mit jungen Gelehrten umgeben, die sich einem neuen, dem sogenannten »humanistischen« Ideal verschrieben haben und sich mit den vielen aus Byzanz stammenden Traktaten in neuer Weise auseinandersetzen. Bessarion selbst soll im Besitz einer Sammlung von mehr als 700 Kodizes13 sein. Das ist unvorstellbar! Aber im Wiener Herzogskolleg befinden sich doch auch unzählige kostbare Handschriften. Wie viele, da ist Ulrich überfragt. Ihm reicht die eine, die er gerade abzuschreiben sich vorgenommen hat. Nun werden ja in den gelehrten Kreisen nicht nur Kopien erstellt, sondern es wird auch sprachlich hinterfragt, welches Wort falsch konjugiert und welches Latein das beste sei. Ulrich findet solche Fragen aber ein wenig überzogen. 12

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Johannes Bessarion (1403–1472), aus dem osmanisch gewordenen Byzantinerreich stammend, wurde in Trapezunt geboren und hatte in Konstantinopel studiert. Er war dort auch als Abt tätig gewesen, bevor er sich auf Konzilen als geistiger Führer der griechisch-katholischen Unionsbestrebungen im lateinischen Westen einen Namen gemacht hatte und in Rom zum Kardinal ernannt wurde. Die Sammlung bestand aus 264 lateinischen sowie 482 griechischen Handschriften und wurde der Republik Venedig vermacht. Sie bildet den Grundstock der Bibliotheca Marciana.

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September 1461

In Wien lernten Bessarion, Peuerbach und Johannes einander kennen und trafen oft zusammen. Ulrich drückt zwar noch immer die Studierbank, aber auch er kann Begegnungen mit Bessarion erleben, weil er die wertvollen Handschriften zwischen dem Minoritenkloster und dem Herzogskolleg hin- und hertragen darf. So kann er den illustren Gesprächen, die sie »Dialoge«14 nennen und in denen die drei Gelehrten ihrer Kenntnis der lateinischen Gedankenwelt Ausdruck geben, im Hintergrund beiwohnen. Wie eifrig stecken sie doch die Köpfe zusammen, wenn sie die Handschriften wie auf einem Jahrmarkt der Eitelkeiten zur Schau auflegen, miteinander vergleichen und darüber disputieren, warum die eine der anderen vorzuziehen sei.

Abb. 3: Dialog zwischen zwei Gelehrten (Petrus de Alliaco, Concordantia astronomiae cum theologia […]. Augsburg 1490 (Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Sammlung von Handschriften und alten Drucken, Ink 4.H.44, Bl. 1v) 14

Als Gestaltungsmittel fand der Dialog in den platonischen Dialogen eine literarische Form. Im Humanismus wurde er zugleich Praxis wie auch beliebte Darstellungsweise wissenschaftlicher Abhandlungen.

Ulrich, »Bummelstudent« und Freund Regiomontans

Wenn es so viele Abschreibfehler gibt, wie sie dauernd anmerken, dann muss Ulrich sich in Zukunft doch zusammennehmen und solche vermeiden. Und Johannes, ach, wie wird er ihm fehlen, er, der gerade nach Italien abgereist ist, nachdem sein Freund Peuerbach ganz plötzlich verstorben war! Dem Leid gesellte sich jedoch auch Glück hinzu, denn der Kardinal nahm ihn als seinen Klienten mit zurück nach Rom, in den Mittelpunkt der Welt. Ulrich jedoch wäre das viel zu beschwerlich. Denn selbst das Banksitzen ist ihm schon Mühe genug. Vom Knarren der Bretter mitten in der Vorlesung aus den Gedanken gerissen, scheint die Zeit mit diesen Abschweifungen doch schnell vergangen zu sein.

Weiterführende Literatur: Wolfgang Kaunzner, Über Regiomontanus als Mathematiker. In: Günther Hamann (Hg.), Regiomontanus-Studien. Wien 1980 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Mathematik, Naturwissenschaften und Medizin. Hefte 28–30. Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse Bd. 364), S. 125–145. Thomas Maisel, Universitätsbesuch und Studium. Zur Wiener Artistenfakultät im frühen 16. Jahrhundert. In: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 15 (1995), S. 1–12. Ingrid Matschinegg, Thomas Maisel, Sozialgeschichtliche Analysen zur Artisten­ fakultät im 15. und 16. Jahrhundert. In: Mensch – Wissenschaft – Magie. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 20 (2000), S. 121–140. Kurt Mühlberger, Universität und Stadt im 14. und 15. Jahrhundert am Beispiel Wiens. Wesentliche Grundlagen und ausgewählte Szenen einer »konfliktbeladenen Harmonie«. In: Kurt Mühlberger, Meta Niederkorn-Bruck (Hgg.), Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren. 14.–16. Jahrhundert. Wien 2010 (Veröffentlichung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 56), S. 53–83. Paul Uiblein, Die Wiener Universität, ihre Magister und Studenten zur Zeit Regiomontans. In: Günther Hamann (Hg.), Regiomontanus-Studien. Wien 1980 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Mathematik, Naturwissenschaften und Medizin. Hefte 28–30. Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse Bd. 364), S. 395–432.

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Martin, angehender medicus zu Wien

Februar 1524

Marianne Klemun

Martin greift auf sein cingulum.1 Fast hätte er vergessen, es sich umzubinden. Er trägt es, weil er dazu verpflichtet ist. Für klerikale Scholaren ist es ein Zeichen, dass man noch kein Graduierter ist. Immer wieder kommt ihm ein Begebnis in den Sinn, wiewohl er es selbst nicht erlebt hat. Aber es ist noch in aller Munde, hier in der codria (Kodrei).2 Vor mehr als zehn Jahren, am Fronleichnamstag 1513, soll es bei einer Auseinandersetzung zwischen Weinbauern samt ihren Bediensteten und studiosi ein paar Tote gegeben haben. Erstere hänselten die Scholaren wegen ihres Habits. Diese ließen sich die Schmach nicht gefallen, der Gegensatz eskalierte. Der Stadtrichter war auf der Seite der Weinbauern, daher wehrten sich die studiosi; sie stürmten das Herzogskolleg und verlangten, dass sie von der Pflicht, das verpönte cingulum zu tragen, befreit würden. Ihrem Anliegen wurde vorübergehend stattgegeben, dann 1

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Das studentische cingulum, ein Gürtel am Gewand, war Kennzeichen der Angehörigen der niedrigsten Stufe in der universitären Hierarchie, der Scholaren an der Artistenfakultät. Zur weiteren Gewandung: s. Thomas Maisel, »Bellum Latinum«. Eine studentische Rebellion des frühen 16. Jahrhunderts in Wien. In: Kurt Mühlberger, Thomas Maisel (Hgg.), Aspekte der Bildungs- und Universitätsgeschichte. 16. bis 19. Jahrhundert. Wien 1993 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 7), S. 191–231, bes. S. 216. Als Kodreien werden eigens für arme Studenten eingerichtete Wohnhäuser bezeichnet.

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Abb. 1: Holzschnitt mit Stadtansicht von Wien, Hartmann Schedel, Weltchronik (1493), Blatt 98v/99r (Reproduktion Niederösterreichische Landesbibliothek, St. Pölten)

das Reglement aber wieder aufgehoben. Wegen der vielen Kontrollen durch die Stadtwache auf der Suche nach Waffen kam es im Sommer danach erneut zu Unruhen: Wie stand es eigentlich mit den Privilegien, Waffen tragen zu dürfen und nur der akademischen Rechtssprechung zu unterliegen? Hatten doch die städtischen Garden3 wieder einmal durchgegriffen, was aber nicht rechtens war! Durch die vielen Zusammenrottungen angestachelt, lehnten viele studiosi die Aufforderung ab, die Waffen abzugeben. Infolge der andauernden Unruhen verwies der Rektor alle Studenten, die nicht in der Matrikel eingeschrieben waren oder auch in nicht genehmigten Bursen wohnten, aus der Stadt. Das war eine aufregende Zeit! Eine, in der Solidarität keinen schalen Beigeschmack hinterließ. Denn fast die Hälfte aller Studenten schloss sich damals, 1514, dem Auszug an, der sich wie eine Prozession formierte. Martins Onkel, der anno dazumal Augenzeuge war, sprach voller Verachtung von einer bösen Meute. Martin hingegen musste es sich verbeißen, sich ob seiner Sympathie für den studentischen Mut zu verplappern! Schade, dass er seinerzeit noch ein Kind war. Er wäre damals auch mitgezogen, denkt er sich ganz heimlich. 3

Die Rechtsprechung bezüglich der Studenten lag in den Händen der Universität. Demnach stand es den Stadtgarden nicht zu, gegen die Studenten vorzugehen.

Martin, angehender medicus zu Wien

Es gab capitanei, studentische Hauptleute, die den Zug von protestierenden Studenten weit weg von Wien führten. Und ein studentischer orator namens Melchior Seutter übergab sodann Kaiser Maximilian I. in Wels die Beschwerdeschrift. Diese prangerte besonders den Stadtrichter Johann Rinner an. Er hatte sich nämlich den Studenten gegenüber besonders brutal verhalten und eine regelrechte Jagd auf sie initiiert. Er soll seine Schergen mit folgendem Wortlaut angefeuert haben, den Martin jüngst noch von einem der studiosi rezitiert hörte: »Stecht redlich in die fossen [Taugenichtse], furt sy hin fur die prangen, haut in die khopff ab, sy sind nit bessers werdt.«4 Und das stammte aus dem Munde eines Stadtrichters! So einen Schnabel hatte nicht jeder! Viele der Studenten sind daraufhin nie mehr nach Wien zurückgekommen. Dieses Ereignis wird nicht so bald vergessen werden, jeder studentische Neuankömmling an der Universität wird davon erfahren. Vor den Unruhen soll mit dem Studieren alles besser gewesen sein. Was hatte damals Wien nicht für einen guten Ruf: beste Universität in den römisch-deutschen Landen, mit den meisten Scholaren,5 den besten Gelehrten, den besten Editionen von Unterrichtstexten und Mitschriften von Vorlesungen! Nun schien es jedoch bergab zu gehen, so das Gerücht: weniger studiosi, weniger Gelehrte. Ob das mit der im Jahre 1521 wütenden Pestilenz zusammenhängt? Ihretwegen wurde die Universität für einige Monate geschlossen, auch wurden einige Bursen versperrt, viele Studenten starben. 4

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Zitiert nach Kurt Mühlberger, Universität und Stadt im 14. und 15. Jahrhundert am Beispiel Wiens. Wesentliche Grundlagen und ausgewählte Szenen einer »konfliktbeladenen Harmonie«. In: Kurt Mühlberger, Meta Niederkorn-Bruck (Hgg.), Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren. 14.–16. Jahrhundert. Wien 2010 (Veröffentlichung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 56), S. 53–83, bes. S. 77. Von 1451 bis 1460 wurden 5.197 Personen in die Wiener Universitätsmatrikel eingetragen. Die Zahl von etwa 2.000 in Wien gleichzeitig anwesenden Studierenden galt als Durchschnitt bis 1520, danach gab es einen starken Rückgang der Studentenzahlen.

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Februar 1524

Mit Schaudern erinnert sich Martin, wie die Pestilenz seinen Großvater und seinen Vater dahingerafft hatte. Hätte er damals schon mehr über ein Gegenmittel wissen können? Er war des Lesens zwar schon mächtig, wusste aber noch nicht, dass man sich auch in theoria mit dieser Gefahr auseinandersetzen konnte. Seinem Großvater hatte er am Totenbette versprochen, sich als medicus ausbilden zu lassen. Nun aber war zunächst die Artistenzeit zu bewältigen. In der Bibliothek allerdings nimmt er sich bereits neugierig medizinische Literatur vor. »Wie man sich halten sol wann nun ains der gebrechen ankumen ist«,6 diese Anleitung hat er soeben in einer Schrift entdeckt. Alles hatten sie falsch gemacht. Großvater schlief ununterbrochen und keiner in der Familie wagte es, ihn aufzuwecken. Aber gerade der Schlaf am Tag war der Anleitung zufolge verboten, kein Käse und keine Süßigkeiten sollten gegessen werden, und der hier empfohlene Aderlass war auch nicht durchgeführt worden! So hätte man den Tod vielleicht vermeiden können. Viele Lehrer, auch Ärzte, flohen damals, 1521, aus der Stadt, darunter auch der berühmte Georg Tannstetter,7 Mathematiker, Arzt und Astrologe, dem Martin jetzt diese Ratschläge gegen die Pestilenz verdankt, doch leider zu spät. Von Tannstetter stammen auch die Einführungen in Mathematik, Astronomie und astrologische Medizin. Sie enthalten Editionen der berühmten Gelehrten, die sich Martin jetzt in seinem Artistenstudium vornehmen muss. Im Winter 1524, als sich Martin gerade gut in der Artistenfakultät zurechtfindet, ist Tannstetter Dekan der Medizinischen Fakultät. Über ihn hört Martin von verschiedensten Seiten nur Gutes. Er ist auch Professor am Poetenkolleg, das Martin allenfalls nach seinem 6

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Regiment für den lauff der Pestilentz durch Georgen Tannstetter von Rain der siben freyen künst unnd Ertzney doctor: kurtzlich beschriben. o. O. [Wien] 1521. Georg Tannstetter (1482–1535), Humanist, Mathematiker, Astrologe, Astronom und Mediziner, war ein in seiner Zeit angesehener Gelehrter. An der Universität Wien lehrte er als Magister und wurde bereits mit 30 Jahren zum Rektor gewählt. Gelegentlich stand er auch als Leibarzt in kaiserlichen Diensten, seine astrologischen Kalender machten ihn berühmt. S. Heinrich Grimm, Collimitius, Georgius, geadelt als von Tannstetter. In: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 322f.

Martin, angehender medicus zu Wien

Abb. 2: »Celtis-Kiste«: Holzkistchen (31 × 31 × 31 cm) zur Verwahrung der Insignien des Collegium poetarum et mathematicorum (Archiv der Universität Wien)

Artistenstudium besuchen möchte. Denn neben der Medizin scheint ihm die Krönung zum Dichter (»laureatus pro poeta«) als vielversprechend. Der berühmte Konrad Celtis,8 der das Poetenkolleg gegründet hatte, war 1508, also schon lange vor Martins Studienzeit, gestorben. Seine Bibliothek jedoch hat die Artistenfakultät geerbt. So findet Martin einen Schatz, der ihn ganz in den Bann zieht. Gott sei es gedankt, dass er sich hier in Celtis’ Bibliothek umschauen kann. Besonders ein prognosticon9 will er sich vornehmen. Es beunruhigten ihn nämlich besonders Vorhersagen von großen Überschwemmungen für 1524, die der Astronom Johannes Stöffler10 8

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Konrad Celtis (1459–1508) hatte an den Universitäten Köln und Heidelberg studiert. Wie viele Humanisten seiner Epoche verbrachte er eine gewisse Zeit in Italien, bevor er Poetik an den Universitäten Erfurt und Rostock lehrte. 1487 wurde er am Nürnberger Reichstag von Kaiser Friedrich III. zum »Poeta laureatus« gekrönt. Sein letztes Lebensjahrzehnt verbrachte er in Wien, wo er ein »Collegium poetarum et mathematicorum« gründete. Er entdeckte auch eine Straßenkarte des Römischen Reiches, die später als »Tabula Peutingeriana« bekannt wurde. S. Hans Rupprich, Celtis, Konrad. In: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 181–183. Prognosticon: Die Vorhersage auf Basis gewisser Anzeichen hatte seit der Antike Tradition. Johannes Stöffler (1452–1531) war Pfarrer und Astronom wie auch Astrologe und

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in einem in Venedig gedruckten Buch prophezeit hatte. Sein Onkel, der Abt, hatte es gelesen und kürzlich Martin weitergegeben. Daraus war als Prophezeiung11 für 1524 zu erfahren: »Im Monat Februar ereignen sich 20 Konjunktionen, von denen 16 in einem wäßrigen Sternzeichen passieren, die zweifellos auf so ziemlich dem ganzen Erdkreis bezüglich Wetter, Königreiche, Provinzen, Verfassung, Würden, Vieh, Meerestiere und alle Landbewohner Veränderung, Wechsel und Bewegung bedeuten.« Ein gewisser Martin Luther,12 ein ­rebellischer Mönch, hatte für 1524 ebenfalls eine schlechte Vorhersage publiziert. Gegen diesen Luther soll Tannstetter bereits 1523 aus Gründen der »zertaylung Christlicher ainigkeit« in seinem »Trostbuechlein«13 gewettert haben. Was hatte er damit wohl gemeint? Sein schon gramerfüllter und alt gewordener Onkel sieht ohnehin schwarz, was das Jahr 1524 betrifft. Wie froh ist Martin, dass er in der Bibliothek des Celtis auf die von Tannstetter 1523 verfasste Gegenschrift stößt. Noch glücklicher macht ihn die Aussage, Gott habe Noah versprochen, dass es keine Sintflut mehr geben werde. Außerdem zitiert Tannstetter antike Autoren und verweist auf ähnliche Planetenkonstellationen, die ebenfalls für 1503/04, 1465, 789 und 670 überliefert sind. Und die alten Chronisten verzeichneten für dieses Jahr keine Katastrophen! Nur ein heftiger Regen ist zu erwarten. gleichzeitig Konstrukteur astronomischer Instrumente. S. Karl Hartfelder, Stöffler, Johannes. In: Allgemeine Deutsche Biographie 36 (1893), S. 317f. 11 Johannes Stöffler, Ephemeriden. Venedig 1490. Hier zitiert nach Franz GrafStuhlhofer, Humanismus zwischen Hof und Universität. Georg Tannstetter (Collimitius) und sein wissenschaftliches Umfeld im Wien des frühen 16. Jahrhunderts. Wien 1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 8), S. 136. 12 Martin Luther (1483–1546), Augustinereremitenmönch und Doktor der Theo­ logie an der Universität Wittenberg, war Reformator, der sich nach seiner Ächtung auf dem Reichstag zu Worms 1521 auf der Wartburg u. a. der Übersetzung der Bibel ins Deutsche widmete. S. Gerhard Müller, Luther, Martin. In: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 549–561. 13 Georg Tannstetter, Zu eren und gefallen dem durchleuchtigisten […] Herrn Ferdinando […] Auch zu trost seiner Fürstlichen durchleuchtigkait underthanen Lannden und leutten. Wien 1523.

Martin, angehender medicus zu Wien

Abb. 3: Titelblatt von Georg Tannstetter, Libellus consolatorius (Trostbüchlein),14 1524 (Archiv der Universität Wien)

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Das Titelblatt des »Libellus consolatorius« für 1524 stellt allegorisch die sieben Planeten dar: Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur und Mond (von links nach rechts). In der Mitte verweist ein Spruchband auf den Inhalt des Buches: »Fürchtet euch nicht vor den Zeichen des Himmels!«

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Ein Stein fällt Martin vom Herzen, denn Tannstetter ist wohl zu glauben, er soll ja auch den Tod Kaiser Maximilians (1519) aufgrund einer vollständigen Sonnenfinsternis sechs Jahr zuvor richtig vorausgesagt haben.15 Diese Lektüre beruhigt! In ihr finden sich so viel Lob und Aufmunterndes. In diesem Gelehrtenkreis um Tannstetter soll es nicht nur um die Inhalte gehen, sondern besonders um die Formen des Ausdrucks. Viele Gedichte belegen diesen neuen Umgang der Gelehrten untereinander, was Martin so gefällt. Flut und Pestilenz sind Ängste der vergangenen Tage. Das in Celtis’ Bibliothek entdeckte Liebesgedicht will nun immer wieder gelesen werden: »De nocte et osculo Hasilinae, erotice.«16 Es wirkt wie die beste Medizin und bringt das Blut ins Wallen. Martin will mit Optimismus schnell sein Artistenstudium absolvieren, um sich alsbald ganz der Medizin zu widmen. Es ist herrlich, sagt er sich, hier in Wien zu sein und dieser hoen schuel anzugehören. Viele Jahre später, als er schon längst als Arzt in Wien praktiziert, noch immer dem Collegium verbunden, erfährt er, dass sein Optimismus bezüglich der Universitas begründet war, denn 1537 wird eine Reform die Zukunft der Institution weiter sichern. Weiterführende Literatur: Ulrike Denk, Alltag zwischen Studieren und Betteln. Die Kodrei Goldberg, ein studentisches Armenhaus an der Universität Wien, in der Frühen Neuzeit. Wien 2013 (Schriften des Archivs der Universität Wien 16). Franz Graf-Stuhlhofer, Humanismus zwischen Hof und Universität. Georg Tann­ stetter (Collimitius) und sein wissenschaftliches Umfeld im Wien des frühen 16. Jahrhunderts. Wien 1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 8). Helmuth Grössing, Humanistische Naturwissenschaft. Zur Geschichte der Wiener mathematischen Schulen des 15. und 16. Jahrhunderts. Baden-Baden 1983 (Saecvla Spiritalia 8). 15 16

Kaiser Maximilian sah auf seiner Reise zum Reichstag in Augsburg im Juni 1518 zu Kaufbeuren jene ringförmige Sonnenfinsternis, die Tannstetter schon sechs Jahre zuvor vorhergesagt und als Zeichen des Unheils gedeutet hatte. »Über die Nacht und den Kuss Hasilinas, auf erotische Art (geschrieben)«. Für Hinweise dazu sei H. Grössing gedankt. S. dazu auch Matthias Luserke u. a. (Hgg.), Literatur und Kultur des Rokoko. Göttingen 2001, S. 21f.

Martin, angehender medicus zu Wien

Helmuth Grössing, Die Lehrtätigkeit des Konrad Celtis in Wien. Ein Rekonstruk­ tionsversuch. In: Kurt Mühlberger, Meta Niederkorn-Bruck (Hgg.), Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren. 14.–16. Jahrhundert. Wien 2010 (Veröffentlichung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 56), S. 223–234. Thomas Maisel, »Bellum Latinum«. Eine studentische Rebellion des frühen 16. Jahrhunderts in Wien. In: Kurt Mühlberger, Thomas Maisel (Hgg.), Aspekte der Bildungs- und Universitätsgeschichte. 16. bis 19. Jahrhundert. Wien 1993 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 7), S. 191–231. Kurt Mühlberger, Zwischen Reform und Tradition. Die Universität Wien in der Zeit des Renaissance-Humanismus und der Reformation. In: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 15 (1995), S. 13–42. Kurt Mühlberger, Universität und Stadt im 14. und 15. Jahrhundert am Beispiel Wiens. Wesentliche Grundlagen und ausgewählte Szenen einer »konfliktbeladenen Harmonie«. In: Kurt Mühlberger, Meta Niederkorn-Bruck (Hgg.), Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren. 14.–16. Jahrhundert. Wien 2010 (Veröffentlichung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 56), S. 53–83.

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Albrechts standesgemäßes und kurzweiliges Studium in Wien

Herbst 1673

Elisabeth Haid – Christoph Augustynowicz

Eigentlich hatte Albrecht im Herbst 1673 aus seiner Heimatstadt Waidhofen im nördlichen Niederösterreich zum Studium nach ­Olmütz1 gehen wollen oder gar nach Italien, nach Rom – wie sein Vetter. So eine Reise konnte ganz neue Horizonte eröffnen, je weiter, desto besser. Was sein Vetter nicht alles zu erzählen gehabt hatte, als er zurückgekehrt war! Wunderwerke der Natur in den Kunst- und Wunderkammern waren da zu bestaunen – darinnen allerlei bisher nie da gewesenes, abgebildetes kurioses Getier wie ein sogenanntes Rhinoceros oder Nashorn. Waffenkammern und Festungsanlagen boten wohl Stoff genug zum kurzweiligen Parlieren ob all dieser Lustbarkeiten. Welterfahrung war für einen jungen Adeligen sicherlich der beste Weg zu neuen Erkenntnissen oder zumindest zu einem einigermaßen standesgemäßen Leben. Doch leider war Albrechts Vater anderer Meinung. »Wenn du etwas lernen möchtest«, hatte er gesagt, »kannst du auch nach Wien gehen. Wozu Rom, wenn die Jesuiten auch in Wien lehren? Was könnte es für einen guten Katholiken Passenderes geben, als an der Wiener Universität zu studieren?« ­Albrecht war wenig begeistert davon. Für einen jungen Mann, den es in die Ferne zog, lag die Kaiserstadt viel zu nahe. Und für ein Theologiestudium, wie sein Vater es sich wünschte, interessierte er sich 1

Die 1576 von den Jesuiten in Betrieb genommene Universität Olmütz/Olomouc war ein regionales Zentrum der Gegenreformation.

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Herbst 1673

Abb. 1: Salomon Kleiner, Jesuitenkirche und Akademisches Kolleg in Wien, 1724 (Archiv der Universität Wien)

noch viel weniger. Doch diese Entscheidung hatte immerhin noch etwas Zeit. Als Albrecht in der Stadt ankam, verflog seine Abneigung gegen ein Studium in Wien jedoch rasch. Es war eine prächtige Stadt! Nicht weniger als die kaiserliche Burg gefielen ihm die neu errichteten Universitätsgebäude,2 deren Viertel im Nordosten der Stadt von der alles an Höhe und Monumentalität überragenden Kirche der Jesuiten beherrscht wurde und wo er für die nächsten Jahre seines jungen Lebens Quartier nahm. Wie hatte nur dieser Teil Wiens seinen mittelalterlichen Charakter verloren, meinten schwärmend viele der älteren Professoren. An die Stelle niedriger Bürgerhäuser und enger Gas2

In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war an der Stelle des mittelalterlichen Herzogskollegs und mehrerer Studenten- und Bürgerhäuser ein weitläufiger frühbarocker Gebäudekomplex errichtet worden, welcher trotz einiger Neuund Umbauten bis heute weitgehend erhalten geblieben und als »Alte Universität« bekannt ist. Die Anlage umfasste neben der 1631 geweihten (1703 jedoch wesentlich umgestalteten) Universitätskirche (Jesuitenkirche) u. a. eine große Bibliothek, ein Observatorium, einen Theatersaal, Hörsaal-, Wohn- und Wirtschaftsgebäude.

Albrechts standesgemäßes und kurzweiliges Studium in Wien

sen waren die prächtige Jesuitenkirche und das Kollegium getreten. Beide zusammen bildeten einen mächtigen Komplex, der die neue Bedeutung der Jesuiten für die Universität zum Ausdruck brachte. Das war möglich geworden, weil die Jesuiten das Bildungswesen der Stadt im Jahr 1623 von Kaiser Ferdinand II. übertragen bekommen hatten. Eine der Geschichten, wie es dazu gekommen war und wie die Jesuiten so mächtig werden konnten, war für Albrecht mehr Märchen als tatsächlich passierte Vergangenheit: Die königlichen Statthalter und ein Sekretär, die von der Prager Burg aus dem ersten Stock auf einen Misthaufen geworfen worden waren; die böhmischen Adeligen, die sich gegen die Herrschaft der Habsburger erhoben und einen eigenen König gewählt hatten; schließlich das blutige Gericht, mit dem sich der Kaiser und seine Beamten an den aufständischen Adeligen Böhmens gerächt hatten. Für seinen Vater waren die Ereignisse noch näher gewesen, hatte doch dessen Vater, also Albrechts Großvater, an der Schlacht am Weißen Berg 16203 teilgenommen – noch dazu auf Seite der böhmischen Stände, worüber die Familie nicht gerne und vor allem nicht besonders deutlich sprach. Nach der Niederlage gegen die kaiserlichen Heere und der Flucht ihres gewählten Königs wollte der Großvater von Ständemacht und Reformation nichts mehr wissen – Albrechts Vater war bereits ins Wiener Akademische Gymnasium4 geschickt worden und hatte dort die Obhut der Gesellschaft Jesu erlebt. Bevor er Theologie studieren konnte, musste Albrecht sich zunächst an der Artistenfakultät5 einschreiben – just diese beiden 3

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Die Schlacht am Weißen Berg gilt als der Kulminationspunkt der Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten in Böhmen und als erste Schlacht des Dreißigjährigen Krieges. Ein Akademisches Gymnasium war ein mit der Universität verbundenes Gymnasium. Das Wiener Akademische Gymnasium wurde 1553 von den Jesuiten gegründet und ist damit das zweitälteste Akademische Gymnasium in Österreich. S. Robert Winter, Das Akademische Gymnasium in Wien. Vergangenheit und Gegenwart. Wien u. a. 1996. Das Studium an der Artistenfakultät war grundlegend und Vorbedingung für das Weiterstudieren an einer der höheren Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz, Medizin).

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Herbst 1673

Fakultäten standen unter dem rigiden Griff der Jesuiten. Was das Studium betraf, konnte er an ihrer Herrschaft aber schon ein paar positive ­Aspekte finden. Zum einen war da der Sprachunterricht, den Albrecht außerhalb der Fakultät privat genoss, um des Welschen6 mächtig zu werden. Denn das schien für seinen Stand doch unerlässlich zu sein! Sprachunterricht mittels erbaulicher Erzählungen, das fesselte ihn, wenn er sein kurzweiliges Lehrbuch aufschlug, das den umständlichen Titel Arsenale oder Zeughauß7 trug. Was bereits der Titelvorspann versprach, hielt auch der Inhalt: »Darinen Waffen und Hülffsmittel wider die Versuchung der Hauptlaster; übung der Welschen Sprach; schöne Biblische Figuren und nutzliche Gebett, zu Hauß und Kirchen zugebrauchen, zu finden.« Außerdem war da der Tanz, ebenfalls von einem eigenen Lehrer »gebührlich« vorgeführt. Dieser achtete stets auf Schamhaftigkeit und vornehme Zurückhaltung. Die Unterweisung verhalf Albrecht dank Einübung der angemessenen, d. h. langsamen, recht steif ablaufenden Bewegung zu einer kontrollierten, »fürnehmen« Haltung. Die ihr zugrunde gelegte Ordnung entsprach der stets mitgedachten Geometrie, die ihn wohl quälte. Sie führte jedoch den »leib zu einem schenen gang und besseren gebärden auch zierlich reverenzen«,8 womit Albrecht bei seinesgleichen angenehme Verehrung erwirken konnte. Und auch im universitären Unterricht konnte trockene Theorie s­ icherlich nicht eigenes Erleben ersetzen – das Theater jedoch machte vieles anschaulicher. Theatralisches ergab sich in unter6 7 8

Damit war der Unterricht im Italienischen gemeint. Die zweisprachige religiöse Moralschrift stammt vom Jesuiten Caspar Loartes und wurde von Eva Magdalena Enzmüllner von Windhag, die dem Dominikanerorden angehörte, übersetzt. Die Schrift wurde 1653 in Wien und Luzern gedruckt. Nach dem Wortlaut der Instruktion Hartmanns von Liechtenstein für die Reise seines Sohnes, 1659, zitiert nach Gernot Heiss, Standeserziehung und Schul­ unterricht. Zur Bildung des niederösterreichischen Adeligen in der frühen Neuzeit. In: Herbert Knittler (Hg.), Adel im Wandel. Politik, Kultur, Konfession 1500–1700. Niederösterreichische Landesausstellung Rosenburg 12. Mai–28. Oktober 1990. Wien 1990 (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, Neue Folge 251), S. 391–407, bes. S. 397.

Albrechts standesgemäßes und kurzweiliges Studium in Wien

Abb. 2: Promotion sub auspiciis imperatoris im Theatersaal des Akademischen Kollegs, nach einem Kupferstich im Calendarium Academicum des Ignaz Theodor Bonanno 1683 (Archiv der Universität Wien)

schiedlichen Bereichen, den exercitationes9 im Unterricht oder bei den disputationes.10 Am liebsten waren ihm aber die Aufführungen,

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Lehrveranstaltungen mit Übungscharakter. Die Disputation war ein hochformalisiertes wissenschaftliches Streitgespräch,

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Herbst 1673

bei denen auch universitätsfremde Personen anwesend waren, wenige Male sogar Mitglieder des Hofes, wo der Prunk die Regie übernahm. Bei jeder Gelegenheit besuchte Albrecht entweder die Spektakel im 2. Stock des Professhausgymnasiums, wo die Aufführungen des Schultheaters stattfanden, oder die Aula academica (heute: Alte Aula), wo das Jesuitentheater11 eingerichtet war, und verfolgte besonders im Falle von Nicolaus Avancinis Genovefa12 gebannt das Geschehen auf der Bühne. An ganz bestimmten Feiertagen, wie etwa jenen des Festes zu Neujahr oder zur Feier des heiligen Ignatius von Loyola,13 ging es da in prächtig ausgestatteten Stücken mittels pompöser Inszenierungskunst um Episoden aus der Bibel sowie um das Leben Heiliger – Märtyrer waren besonders beliebt. Neulich thematisierte eine Inszenierung politisch Aktuelles, nämlich die ständigen Konflikte mit dem Osmanischen Reich, von denen auch die kaiserliche Residenzstadt permanent bedroht war. Doch noch mehr als die Darstellung des Heiligen Landes und des Sultans auf der Bühne faszinierten Albrecht an diesem Tag einige der Zuschauer: Es waren Angehörige der tatarischen Gesandtschaft14 beim Kaiser.

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ein standardisiertes Verfahren, wodurch Wahrheiten sozial sowie akademisch erörtert und somit ausgehandelt wurden. Als »Schwester des Briefs« bestimmte sie die akademische Praxis an den Universitäten wie auch in der öffentlichen Gelehrtenkultur. S. dazu Martin Gierl, Korrespondenzen, Disputationen, Zeitschriften. Wissensorganisation und die Entwicklung der gelehrten Medienrepublik zwischen 1670 und 1730. In: Richard van Dülmen, Sina Rauschenbach (Hgg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Wien, Köln, Weimar 1991, S. 417–438. Das Jesuitentheater im Gebäudetrakt der sogenannten »Alten Aula« wurde 1654 fertiggestellt; es besaß eine moderne technische Ausstattung und beeindruckte durch den prächtigen Theatersaal. Eine Auflistung der Aufführungen findet sich bei Franz Hadamowsky, Das ­Theater in den Schulen der Societas Jesu in Wien (1555–1761). Wien, Köln, Weimar 1991, S. 18. Ignatius von Loyola (1491–1556), Mitbegründer der später als Jesuiten­orden bezeichneten Gesellschaft Jesu, der 1622 heiliggesprochen wurde. Das Fest des Begründers des Jesuitenordens wurde am 31. Juli gefeiert. Bis zur Beteiligung der Tataren an der Belagerung von Wien 1683 haben sich im 17. Jahrhundert regelmäßig Gesandtschaften des Chanats der Krim am Kaiserhof aufgehalten.

Albrechts standesgemäßes und kurzweiliges Studium in Wien

Albrechts Begeisterung für Wien wuchs immer mehr. Wien selbst war gewiss keine exotische Stadt, doch bekam man hier eine Vielzahl kurioser Gestalten zu sehen. Wenn es Albrecht schon nicht vergönnt war, in die weite Welt hinauszuziehen, so schien doch die ganze Welt nach Wien zum Kaiser zu kommen. Rund um die kaiser­liche Burg konnte man regelmäßig Gesandte aus den unterschied­lichen Herrschaften des Reiches beobachten, aber auch aus fernen Ländern wie Frankreich, England, Polen-Litauen oder gar aus Moskowien und dem Osmanischen Reich. Jedes Mal, wenn er deren feier­liche und prächtige Umzüge von ihren Quartieren zur kaiserlichen Residenz bestaunte, verstand Albrecht noch ein bisschen besser, ­warum die Jesuiten so viel Wert auf das Theater legten – war nicht auch das ganze politische und diplomatische Leben von Gesandtschaften, Audienzen und Verhandlungen eine Art inszeniertes und aufgeführtes Theater?

Abb. 3: Einzug des türkischen Groß-Botschafters Kara Mehmed Pascha in Wien am 8. Juni 1665, Grafik aus dem Klebeband Nr. 15 der Fürstlich Waldeckschen Hof­ bibliothek Arolsen (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/fwhb/klebeband15, pag. 347)

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Herbst 1673

Ein älterer Studienkollege hatte einen derartigen Zug tatarischer Gesandter durch die Stadt gesehen und ihm davon eindringlich erzählt: Von den Musketieren am Anfang des Zuges, vom tatarischen Hauptgesandten und dem kaiserlichen Dolmetscher in dem mit sechs Pferden bespannten Wagen des Hofkriegsratspräsidenten, begleitet von etwa zehn Bediensteten zu Pferd oder zu Fuß. Anschließend ging sogar ein Tatare in weißem Leinenrock, der ein Pferd als Geschenk für den Kaiser mitführte. Die tatarischen Pferde waren legendär: Sie waren zwar meistens eher klein, fahl und unscheinbar, konnten aber angeblich fast 200 Kilometer täglich laufen und bis zu vier Tage ohne Futter auskommen. Die zur Audienz beim Kaiser zugelassenen Tataren selbst verbeugten sich – wie behauptet wurde – dreimal so tief, dass sie die Erde berührten, und warfen deutlich hörbar ihre Mützen zu Boden. Im Privatleben waren sie ja offenbar unkompliziert, ja schamlos, badeten in aller Öffentlichkeit splitternackt im Wienfluss und vertrieben damit die hier Wäsche waschenden jungen Frauen. Einige von Albrechts Studienkollegen raunten sich zu, die Tataren seien sogar schuld an der Pest, welche die Bevölkerung der Stadt in regelmäßigen Abständen dezimierte, was Albrecht aber für blanken Unsinn hielt. Trotzdem: Wie kamen die Menschen auf solche Ideen? Albrechts Träume begannen sich in eine neue Richtung zu entwickeln. Vielleicht würde er sich ja auf das Studium an der Juristen­ fakultät konzentrieren; vielleicht konnte ihm sein Universitätsstudium helfen, in den Staatsdienst zu kommen; vielleicht konnte es ihm auch helfen, zu verstehen: Sekretär eines kaiserlichen Gesandten werden, Friedensverträge ausarbeiten, nebenbei eine der fremd klingenden Sprachen des großen Polen oder Litauens, Moskowiens oder gar des Osmanischen Reiches erlernen, Regionen und Völker kennenlernen, von welchen nicht einmal sein Vetter in Rom zumindest in dieser Art eine Ahnung hatte.

Albrechts standesgemäßes und kurzweiliges Studium in Wien

Weiterführende Literatur: Christoph Augustynowicz, Tatarische Gesandtschaften am Kaiserhof des 17. Jahrhunderts – Protokoll und Alltag. In: Marlene Kurz, Martin Scheutz, Karl Vocelka, Thomas Winkelbauer (Hgg.), Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des ­Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Wien, 22.–25. September 2004. Wien, München 2005 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 48), S. 315–340. Martin Gierl, Korrespondenzen, Disputationen, Zeitschriften. Wissensorganisation und die Entwicklung der gelehrten Medienrepublik zwischen 1670 und 1730. In: Richard van Dülmen, Sina Rauschenbach (Hgg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Wien, Köln, Weimar 1991, S. 417–438. Gernot Heiss, Standeserziehung und Schulunterricht. Zur Bildung des niederösterreichischen Adeligen in der frühen Neuzeit. In: Herbert Knittler (Hg.), Adel im Wandel. Politik, Kultur, Konfession 1500–1700. Niederösterreichische Landesausstellung Rosenburg 12. Mai–28. Oktober 1990. Wien 1990 (Katalog des Nieder­ österreichischen Landesmuseums, Neue Folge 251), S. 391–407. Herbert Karner, Die drei Wiener Bauanlagen der Jesuiten: Topographie und Wirkung. In: Herbert Karner, Werner Telesko (Hgg.), Die Jesuiten in Wien. Zur Kunst- und Kulturgeschichte der österreichischen Ordensprovinz der »Gesellschaft Jesu« im 17. und 18. Jahrhundert. Wien 2003 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Veröffentlichungen der Kommission für Kunstgeschichte 5), S. 39–55. Kurt Mühlberger, Universität und Jesuitenkolleg in Wien. Von der Berufung des Ordens bis zum Bau des Akademischen Kollegs. In: Herbert Karner, Werner Telesko (Hgg.), Die Jesuiten in Wien. Zur Kunst- und Kulturgeschichte der österreichischen Ordensprovinz der »Gesellschaft Jesu« im 17. und 18. Jahrhundert. Wien 2003 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Veröffentlichungen der Kommission für Kunstgeschichte 5), S. 21–37.

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Gottfried, Student der Philosophischen Studien

Juni 1774

Marianne Klemun, unter Mitarbeit von Elmar Fröschl

Blütenhauch und Rossodeur: Der Rest eines betörenden Blumenduftes verharrt noch immer in Gottfrieds Nase, als hätte eine fürnehme Dame ihr Flakon versprüht, während er sich in der Kutsche zur Hofburg verfüget und so mancher sothane Pferdeapfel einen ebenso stechenden wie gewohnten Geruch abgibt. Wie war doch der Name? Hat er ihn schon vergessen? Wiewohl Gottfrieds Aufmerksamkeit1 vom Rossdung angezogen wird, hält der blumige Sinneseindruck an. Denn gerade war Gottfried noch im Universitätsgarten2 nahe dem Kloster der Salesianerinnen gewesen. Ausnahmsweise darf er den Lektionen an diesem einzigartigen Ort beiwohnen, weil ihn sein Freund und 1

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Identisch mit dem zeitgenössischen Begriff Aufacht. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wich die ästhetische Zerstreuung dem rigiden Ideal konzentrierter Aufmerksamkeit. Sie glich einer »Andacht«, die als Rezeptionshaltung in Oper, Theater, Unterricht und auch in Sammlungen sowie Gärten wirkte. Das bedeutete, dass Kopf und Körper ganz auf den Adressaten oder ein Objekt ausgerichtet waren und nicht von allerlei anderen Unterhaltungen wie Essen oder Bewegung begleitet wurden. 1754 war der Grund am Rennweg angekauft und der hortus medicus im Rahmen der von Gerard van Swieten initiierten Reform des Medizinstudiums gegründet worden. Nach einer Phase des Aufbaus unter der Leitung Robert Laugiers, des der Medizinischen Fakultät zugeordneten Lehrstuhlinhabers für Botanik und Chemie, erreichte der Universitätsgarten von 1768 an unter Nikolaus Joseph ­Jacquins Leitung Weltgeltung. Zur Geschichte des Botanischen Gartens s. Marianne Klemun, Botanische Gärten und Pflanzengeographie als Herrschaftsrepräsentationen. In: Berichte zu Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 330–346.

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angehender Mediziner Michael, der die obligate Morgendemons­ tration dort wohl eher gezwungen als freiwillig besucht, mitnimmt. Denn nur Medizinstudenten und wahre Connaisseurs haben dort Zutritt. Sollte er auch Medizin studieren? Derweilen muss Gottfried sich noch ein Semester den philosophischen Studien widmen, bevor er die endgültige Entscheidung bezüglich seines weiteren Fortgangs treffen wird, wenn er sich entweder an der Juridischen oder der Medizinischen Fakultät einschreiben wird dürfen. Zu Hause vernahm er wohl bei Gesprächen seines Vaters mit amtsführenden Personen – bei denen Kaffee, Tabakqualm und ratio die Atemluft schwängerten –, dass es für jeden Beamtenanwärter von Vorteil sei, bei Bewerbungen ein solches Studium vorweisen zu können. Jurisprudenz, das wäre Vaters ausdrücklicher Wunsch! Dessen Amtserfahrung, die ihn letztendlich an die Spitze der Ständeverwaltung in Laibach3 führte, hatte bereits im universitären Studium i­ hren Ursprung. Was früher als Laufbahn den hohen Standespersonen, auch ohne ein Studium vorweisen zu können, vorbehalten war, kann nun mit Fleiß ebenso von einem Bürgerlichen destinieret werden. Und selbst die Erhebung in den niederen Adelsstand könnte sich einstellen. Die klare Ständeordnung wird nun mit dem aufstrebenden Bürgertum gestärkt, wie bei der Stufenleiter der Natur,4 denkt sich Gottfried enthusiasmiert, wo an der Grenze zwischen den Stufen die interessantesten Wesen stehen, wie etwa die kuriose Koralle.5 Als Jurist tätig zu sein, das wäre zwar für Gottfried nur ein »äußerer« oder »bürgerlicher« Beruf,6 gleichsam »die Bestimmung durch 3 4 5 6

Laibach war politisches Zentrum Krains; heute Ljubljana, Hauptstadt Sloweniens. Alle Naturobjekte wurden durch die Vorstellung der Kette der Wesen (oft auch Stufenleiter der Natur, scala naturae, genannt) in eine hierarchische Ordnung gebracht. Korallen wurden seit der Antike als Steine verstanden; Ovid beschrieb sie in den »Metamorphosen« als Transformationen von Algen in Steine. Im 18. Jahrhundert wurden sie als Vegetabilien aufgefasst. In dieser Zeit war der Brotberuf nur selten deckungsgleich mit Berufung. Da das zeitgenössische Verständnis von Beruf im 18. Jahrhundert mit einem gewissen Zeitverzug in Enzyklopädien Eingang fand, sind solche aus späterer Zeit zu konsultieren. Vgl. dazu: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten

Gottfried, Student der Philosophischen Studien in Wien

den Staat«, aber für den »inneren«, den selbstbestimmten, der seinen Neigungen und der »Anlage des Geistes« entspricht, könnte er sich nebstbei auch in einem Münzkabinett einbringen, um seiner Muse zu frönen: Scientia amabilis7 und numis veteres8 begeistern Gottfried absunderlich. Aber deshalb auch ein Medizinstudium anzugehen, das scheint ihm nun doch etwas umständlich. Alles ist somit noch offen. Sicher ist nur, dass er in Wien bleiben will, denn er findet die Stadt mit all ihren Amüsements äußerst famos. Doch nicht Müßiggang ist sein Begehr. Er will sich stattdessen den unterschiedlichen Materien, wie der Geographie, der Numismatik und der Botanik widmen, wobei er Letztere allerdings nur innerhalb eines Medizinstudiums vermittelt bekäme. Alles begann zu Hause in Krain, wo er den Garten des Barons Sigmund von Zois,9 eines reichen und sehr gebildeten Mannes, der vom Handel mit Eisen lebte, besichtigen konnte. Was gab es da für seltene Pflanzen zu bewundern, sogar solche, die direkt von Captain Cooks10 berühmter erster Reise stammten, die den neuen Kontinent Australien erstmals per Schiff von Europa aus erreicht hatte! Die berühmte Sammlung an Mineralien dagegen war ihm weniger ein Anliegen. Aus Wonne dem exquisiten Ergötzen an neuartigen Vegetabilien sich hinzugeben und diese nur um ihrer selbst willen kennen zu wollen, ohne erkennbaren Nutzen, das tadelte sein Vater heftig.

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Stände (Conversations-Lexicon), 1. Bd. Leipzig 1827, S. 712f. (Lemma »Beruf«). Vgl. dazu auch Werner Conze, Beruf. In: Geschichtliche Grundbegriffe, 1. Bd. Stuttgart 1972, S. 498f. Mit scientia amabilis meinte man die Botanik, die Beschäftigung mit Pflanzen. Lat.: alte Münzen. Sigmund, auch Siegmund, Sigismund bzw. Žiga Zois (1747–1819) war Unternehmer, Gelehrter und aufklärerischer Patriot. Der Garten befand sich im Schlossgelände von Egg/Brdo pri Kranju, Slowenien. 1980 erwarb Marschall ­Josip Broz Tito dieses Schloss. Captain James Cook (1728–1799), englischer Seefahrer und Entdecker, erreichte auf seiner ersten Südseereise (1768–1771) die Südküste Neu-Hollands (Australiens). Wegen seines Pflanzenreichtums wurde der Landstrich »Botany Bay« genannt.

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­ nnötiges Zeug! Jeder gebildete Untertan solle sich für das Wohl der U Gemeinschaft, für Glückseligkeit11 einsetzen. Einen Patrioten will er, der Vater, wohl aus ihm machen, erkennt Gottfried schaudernd. Sei’s denn! Um den Vater zu beruhigen, besichtigt er alsbald den Garten am Theresianum,12 wo den adeligen Zöglingen nur verwertbare Pflanzen vorgeführt werden. Man ziegelt13 die Saat wohlfeiler, wenn man den Boden kennt, heißt es dort. Die Vervollkommnung der Ökonomie auf den Gütern des Adels wird den Bauern, den von Hunger Geplagten, wohl auch nicht wirklich nützen. Sand, Schotter und Humus, aber wo bleiben die Pflanzen? Gottfrieds Begeisterung hält sich in Grenzen. Ganz anders erging es ihm gerade zuvor im Universitätsgarten, der sich ihm als ein wahres spectacel con gusto erwies. Es ist ein Paradies, in dem Reichtum und Ordnung sich auf wunderbare Weise vereinen! Dieser locus unterscheidet sich von jenem eines herrschaftlichen Lustgartens, denn hier, im universitären Garten, sind Blumen nicht in einem Muster aus Spiralformen angepflanzt und gleich einem Teppich gestaltet, sondern in Reih und Glied, nach einer fürwitzigen Abfolge sortiert, deren principia Gottfried auf den ersten Blick zwar nicht durchschaut, aber unbedingt herausfinden will. Hat das nicht auch Ähnlichkeit mit der Anordnung der Münzen, wie sie so geduldig in einer Lade im Münzkabinett versammelt sind? 11 12

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»Glückseligkeit« ist ein Schlüsselbegriff der Aufklärung: Praktisches Handeln wird zum Wohle des Menschen auf das Diesseits gerichtet und die Herrschaft wird nicht mehr als gottgegeben gesehen, sondern vertraglich im Ziel der »Glückseligkeit« des Staates definiert. Der »Ökonomisch-botanische« Garten an der von Maria Theresia gegründeten und ausschließlich dem Hochadel vorbehaltenen Ausbildungsstätte Theresianum war eine Besonderheit, die es ansonsten auch an der Universität Göttingen gab. S. dazu Marianne Klemun, Exotik, Nutzen, Wissenschaft. Praktiken der Pflanzenaneignung im »Ökonomisch-Botanischen Garten« der Theresianischen Akademie. In: Franz M. Eybl (Hg.), Strukturwandel kultureller Praxis. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Sicht des theresianischen Zeitalters. Wien 2002 (Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 17), S. 303–333. Zeitgenössischer Begriff für das Anbauen von Pflanzen.

Gottfried, Student der Philosophischen Studien in Wien

Der Professor der Botanik lässt die Studenten im Garten die Pflanzennamen gemäß dem Nacheinander ihrer Anpflanzung frei auf­sagen, wobei das Aussehen der Pflanzen mit einem gültigen binären Namen14 im Kopf verknüpft wird. Was lenkt ihn davon ab, die Namen sich so schnell einzuprägen? Zweifel kommen auf; er wird das wohl nie erlernen! Es sind zu viele verschiedene Gewächse, die ihn in Staunen versetzen, ein Schauspiel, das er noch nie erlebt hat. Zudem scheinen die Pflanzen von weither zu kommen, von Orten, die jenseits des Meeres liegen sollen, so der Hinweis Nikolaus Joseph Jacquins,15 des Professors. Dieser ist eine auch außerhalb der österreichischen Lande anerkannte Autorität. Man erzählt, dass er selbst vor vielen Jahren im Auftrag des vormaligen Kaisers in die Karibik geschickt wurde und viele neue, in der alten Welt unbekannte Pflanzen sammelte und beschrieb. Nichts von den sicherlich fürwitzigen Abenteuern gibt dieser ehrwürdige, sehr distanzierte Herr preis, der sich ganz auf die korrekte Aufzählung der zweiteiligen lateinischen Namen konzentriert. Botanik lebt wie die Münzkunde von der Gedächtniskunst, sagt Jacquin, als er von Gottfrieds Liebe zu den Münzen erfährt. Neben den Namen sind es die einzelnen Merkmale,16 die im Kopf zu behalten sind. Wohl kennt Gottfried die Technik der Rhetorik, welche Begriffe mit Bildern an Orte knüpft und diese für den Aufbau der Rede topologisch 14 15

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Gemeint ist die binäre Nomenklatur, bestehend aus einem Gattungs- und einem Artnamen. Nikolaus Joseph Jacquin (1727–1819) stammte aus Leiden in den Niederlanden und wurde von Gerard van Swieten nach Wien geholt. Als Professor der Botanik und Chemie wirkte er im Anschluss an seine Reise nach Westindien (1754–1759) zunächst an der Schemnitzer (heute: Banská Štiavnica, Slowakei) Bergakademie, ab 1768 als Professor und Leiter des Botanischen Gartens. Er wurde als Autor von bedeutenden botanischen Werken ein weltweit anerkannter Naturforscher. S. Helmut Dolezal, Jacquin, Nikolaus Joseph Freiherr von. In: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 257–259. Die Münzen zahlreicher griechischer Poleis sind über Pflanzensymbole zu identifizieren. Gottheiten bzw. Tiere als deren Stellvertreter (z. B. die Eule für die Weisheit der Athena) sind ebenfalls transformierte Ortssymbole oder Symbole von Gemeinden. Vielfach erleichtern Namensbeifügungen (Legenden) die Identifikation von Münzen demjenigen, der des Lesens mächtig war.

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Abb. 1: Swietenia mahagoni L. (heute Swietenia mahagoni [L.] Jacq.) (aus: Adolphus Ypey, Vervolg ob de Avbeeldingen der artseny-gewassen [...]. Amsterdam 1813, Tab. 9 – www.biolib.de)

im Geiste abgeht und so die Assoziationen für die Abfolge der Rede zu verwenden weiß. Aber hier im Garten, potz Blitz, da setzt diese Art von Gedächtniskunst durch den überwältigenden Eindruck einfach aus! Je mehr Namen aufgezählt werden, umso stärker wächst Gottfrieds Einbildungskraft.17 Wie heißt bloß die eine bestimmte Pflanze, die seine Nase da so heftig in Bann gezogen hat?, rätselt er noch in der Kutsche. 17

Einbildungskraft ist ein Schlüsselbegriff der Zeit. Ihr Status als Regelungs­ instanz, die zwischen den Sinnen und dem Verstand vermittelt, wurde in der Aufklärung heftig diskutiert.

Gottfried, Student der Philosophischen Studien in Wien

Jetzt, in der Hofburg angekommen, im hinteren Teil des Augustinerganges, geht es wieder um eine Ordnung, die sich in Reihen abzeichnet. Aber diesmal sind es die von Gottfried so geliebten Münzen, die im k. k. Münz- und Medaillenkabinett18 aufbewahrt werden. Diese metallenen Dinge kann er sich viel besser einprägen als Pflanzen. Sein Lehrer Joseph Hilarius Eckhel19 legt während der exemplificatio, einer Lehreinheit, die einmal wöchentlich direkt im Kabinett abgehalten wird, einzelne Exemplare vor. Schon lange wird im Unterricht nicht mehr nur diktiert, was den Vater so enervierte, sondern auch erläutert. Gottfried löst die ihm gestellte Aufgabe bravourös – sowohl was die geographische als auch die chronologische Einordnung betrifft. Beide Kriterien bilden das Herz von Eckhels berühmter Systematik. Damit erwirbt sich Gottfried dessen Respekt. Was war es nicht für ein Glück! Denn Professor Eckhel war soeben von Studienreisen aus Florenz nach Wien zurückgekehrt. Er ist wegen seiner ausgezeichneten Kenntnisse gerade zum »Direktor der antiken Münzen« innerhalb des k. k. Münzkabinettes und zum Professor der »Alterthümer und historischen Hülfsmittel« an der Universität ernannt worden. Wie schnell sich alles ändern kann, sin18 19

1748 wurde im Auftrag von Kaiser Franz I. Stephan von Lothringen das Numophylacium Carolino-Austriacum und das Numophylacium imperatoris Francisci I. zusammengelegt. Gleichzeitig fand eine Zählung der Objekte statt, die beinahe 50.000 Stücke, darunter allein 21.000 antike Münzen, ergab. Joseph Hilarius Eckhel (1737–1798), aus Enzesfeld, Niederösterreich, gebürtig, war 1751 in den Orden der Jesuiten eingetreten und wurde von seinem Mitbruder Joseph Khell in die Numismatik eingeführt. Er wurde zu dem Spezialisten in diesem Fach, stand mit den wichtigsten Numismatikern seiner Zeit in Kontakt und verfasste erste bedeutende Kompendien der Numismatik. S. Peter Robert Franke, Eckhel, Joseph Hilarius von. In: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 302f., und Günther Dembski, Joseph Hilarius Eckhel (1737–1798). In: Compte Rendu 48 (2001), S. 55–59. Zur Geschichte der numismatischen Lehre an der Universität Wien vgl. Edith Specht, Die Geschichte der numismatischen Lehre an der Universität Wien. In: Hubert Emmerig (Hg.), Vindobona docet. 40 Jahre Institut für Numismatik und Geldgeschichte der Universität Wien: 1965–2005. Wien 2005 (Veröffentlichungen des Instituts für Numismatik und Geldgeschichte Wien 10), S. 17–34.

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niert Gottfried. Stand der Jesuitenorden20 in Wien noch vor Kurzem in höchster Achtung, zumal die patres Lehre und Inhalte der philosophischen sowie theologischen Studien bestimmten, so ist der Orden von einem Tag auf den anderen nicht mehr existent. Gegner und Fürsprecher gab es früher wie heute, und Gottfried kann sich keinen Reim darauf machen. Man sagt nun, vieles, was der Exjesuit Eckhel weiß, verdankt er sonderlich dem Orden und seinen patres, die ihm das Studieren ermöglichten und ihn förderten. Auch für Eckhel als Abbé ist eine neue Zeit angebrochen. Jesuit hin oder her, er wird neuerdings mit dem größten Gelehrten bezüglich der Klassifikation in einem Atemzug genannt, als Linné der Numismatik21 bezeichnet. Botanik und Numismatik sind doch miteinander verbunden, was Gottfried leider als Erklärung für seine (nur dem Vater sonderbar scheinende) Vorliebe schuldig geblieben ist. Inzwischen wüsste er diese zu verteidigen; beim nächsten Zusammentreffen wird er dessen Skepsis mit gleicher Münze angemessen erwidern. So sammelt Gottfried seine Argumente. Es ist doch evident: Viele Münzen tragen Pflanzenbilder, wie etwa jene von Side in Pamphylien, welche einen Granatapfel auf einer Seite zeigt. Der Eckhel’sche Satz, die Münzkunde »würde die in der Geschichte anfallenden Zweifel berichtigen«, wie es in dessen Vorlesungsmanuskript steht, ist auch nicht außer Acht zu lassen. Redende Zeugen22 nennt der Professor sogar die Münzen, weil sie an Wahrheitsgehalt den Erzählungen der antiken Autoren vorgezogen werden können. In neuerer Zeit, etwa 20

Seit 1640 hatten die Jesuiten ihr Gesamtkonzept bezüglich der Zöglingsunterweisung durchgesetzt und den Weg vom Elementarunterricht bis zur Theologie in den habsburgischen Ländern unter ihre Obhut gebracht. Nur Medizin und Jurisprudenz wurden von ihnen an der Universität nicht beherrscht. Der Jesuitenorden wurde 1773 aufgehoben. 21 Carl von Linné (1707–1778) ordnete das gesamte bekannte Naturreich. Seine Klassifikationsmethoden waren für viele andere Felder Vorbild. 22 Jopseph Hilarius Eckhel, Kurzgefaßte Anfangsgründe zur alten Numismatik. Wien 1767, S. 37.

Gottfried, Student der Philosophischen Studien in Wien

Abb. 2: Joseph Hilarius Eckhel, Punktierstich von D. Klemi-Bonati / A. F. Sergent-Marceau (aus: Günther Dembski, Joseph Hilarius Eckhel [1737–1798]. In: Compte Rendu 48 [2001], S. 57)

seit Maximilian I.,23 geben auch Medaillen Auskunft über historische Ereignisse; Gnadenpfennige24 und Raitpfennige25 dokumentieren Beziehungen des Besitzers zum allerhöchsten Kaiserhaus.

23

Maximilian I. (1459–1519), seit 1486 Römischer König, 1508 Annahme des Titels »Erwählter Römischer Kaiser«. S. Hermann Wiesflecker, Maximilian I. In: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 458–471. 24 Gnadenpfennige sind meist ovale, verzierte Medaillen, die vom Herrscher für besondere Verdienste verliehen wurden. S. dazu Heinz Fengler, Gerhard ­Gierow, Willy Unger, Lexikon der Numismatik. Berlin 3., bearb. u. erw. Aufl. 1982 [1976], S. 152. 25 Raitpfennige (Rechenpfennige) sind Metallmarken zum Rechnen auf dem ­Rechenbrett und wurden zunehmend als Geschenke verwendet. S. dazu Heinz Fengler, Gerhard Gierow, Willy Unger, Lexikon der Numismatik. Berlin 3., ­bearb. u. erw. Aufl. 1982 [1976], S. 393.

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Das Polieren der Münzen im Kabinett überlässt der Professor jetzt sogar Gottfried, wofür ihn einige studiosi doch beneiden. Deshalb hat sich Gottfried so beeilt und am Universitätsgarten die Kutsche genommen, um noch vor der exemplificatio in die Hofburg zu gelangen. Stück für Stück wandert durch Gottfrieds Hände, dabei prägt er sich Bild für Bild und Aufschrift für Aufschrift ein. Köpfe über Köpfe! Die Münzlegende merkt er sich jeweils in Zuordnung zu einem geographischen Raum (wofür er sich nur eine Lade merken muss) und dabei verliert er die Chronologie nicht aus den Augen. Sie ist so einfach und plausibel, die zeitliche Dreiteilung, die auf Professor Eckhel zurückgeht: Die älteste Epoche der Münzprägung beginne weit vor dem Makedonenkönig Alexander I. und erstrecke sich bis 476 n. Chr., dann käme die mittlere Zeit ab Karl dem Großen. Und ab Kaiser Maximilian I. spricht Eckhel bezüglich der Münzen von der neueren Zeit. Intarsienschränke, Laden, kleine Döschen. Und da ist ein Kästchen aus Mahagoniholz. Gottfried schickt sich an, es zu öffnen. Staub steigt auf, die inzwischen zwar blass gewordene Erinnerung an den Duft im Universitätsgarten hilft jedoch sofort dem Gedächtnis auf die Sprünge: Mahagoni, ja, das ist das Gewächs, das Jacquin in der Karibik sammelte, neu beschrieb und seinem Mäzen aus Dankbarkeit widmete: Er benannte die zuvor in Europa nicht bekannte Pflanze nach Gerard van Swieten.26 Ja, tatsächlich, sie heißt Swietenia mahagoni,27 jetzt hat Gottfried den Namen wieder, derweilen doch der Dufthauch verflogen ist.

26 27

Gerard van Swieten (1700–1772), Mediziner. S. Frank T. Brechka, Gerard van Swieten and his World 1700–1772. The Hague 1970 (Archives internationales d’histoire des idées 36). Vgl. Nikolaus Joseph Jacquin, Enumeratio Systematica Plantarum, quas in Insulis Caribaeis [...]. Leiden 1760, S. 4.

Gottfried, Student der Philosophischen Studien in Wien

Abb. 3: Gerard van Swieten, Silber-Medaille auf die Verbesserung des medizinischen Unterrichts, 1756. Medailleur: A. Wideman. Vorderseite: Brustbild rechts. Rückseite: Apollo salutaris mit Symbolen der Reform (Botanischer Garten, chemisches Laboratorium). Gewicht: 52,35 g, Durchmesser: 50 mm. (Sammlung des Instituts für Numismatik und Geldgeschichte der Universität Wien, Sammlung Brettauer, Nr. 1193)

Wie er diesen allbekannten Namen nur vergessen konnte! Denn mit Gerard van Swieten verbindet man die bereits zwei Jahrzehnte zurückliegende, aber doch sehr einschneidende und vielfach gelobte große Reform der Universität. Seither gibt es einen Studiendirektor, der vonseiten der Obrigkeit den Gang der Lehre observiert. Das schätzt sein Vater besonders. Gottfried hingegen ist das keineswegs so sympathisch, denn zu viel Kontrolle lehnt er ab. Jedes Ding hat aber zwei Seiten, wie eine Münze. So fasziniert Gottfried etwas, das dieser maria-theresianischen Reform ebenfalls seine Existenz verdankt: das neue Universitätshaus.28 So monumental, wie es außen ist, erscheint ihm auch innen die Aula. Wenn er seine anderen philosophischen Vorlesungen besucht, wagt er manchmal einen Blick in die für ihn verbotenen Räume der Mediziner, das anatomische Theater und das chemische Labor. Der Prachtbau beweist, dass die Universi28

Der von Maria Theresia initiierte Neubau wurde 1755 vollendet und im April 1756 feierlich eröffnet. Seit 1857 beherbergt das Gebäude die Österreichische Akademie der Wissenschaften.

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tät als solche von der Obrigkeit nun doch nicht nur kontrolliert, sondern mit außerordentlichem beyfall bedacht wird. Gottfried fragt sich, ob sich das gewohnte Bild der Natur, der Kette der Wesen, nicht auch auf andere Phänomene anwenden ließe. Ein Band zwischen Gerard van Swietens nachhaltigen Reformen besteht mit dem Universitätsgarten gleich wie der anhaltende Duft der Swietenia mahagoni mit dem Münz-Kästchen aus Mahagoni. Wie in einem botanischen Garten, wo Pflanzen aus dem Erdenrund beieinanderstehen, erscheint ihm die Münzkunde als Knoten der alten Welt, ­indem »Chronologie, Geschichte, Geographie, Mythologie, die Kenntnisse der alten Sprachen, Sitten und Gebräuche« zusammenlaufen, so hatte es Eckhel29 ihm bisher vermittelt. Den lästigen Staub nimmt Gottfried gern in Kauf, derweilen die wertvollen metallenen »Zeugen« durch seine Hände gleiten.

Weiterführende Literatur: Hellmut Baumann, Pflanzenbilder auf griechischen Münzen. München 2000. Joseph Bergmann, Pflege der Numismatik in Österreich. In: Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (in 4 Abtheilungen): 19. Sitzung am 18. Jänner 1856, S. 31–108; 24. Sitzung am 15. Juli 1857, S. 296–364; 28. Sitzung am 20. Oktober 1858, S. 537–598; 41. Sitzung am 14. Jänner 1863, S. 15–89. Helga Hühnel, Botanische Sammelreisen nach Amerika im 18. Jahrhundert. In: Franz Wawrik (Hg.), Die Neue Welt. Österreich und die Erforschung Amerikas. Ausstellung im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek, 15. Mai–26. Oktober 1992. Wien 1992, S. 61–77. Marianne Klemun, Botanische Gärten und Pflanzengeographie als Herrschaftsrepräsentationen. In: Berichte zu Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 330–346. Marianne Klemun, Internationale Kontakte und Funktionen des Mineraliensammelns am Beispiel von Siegmund Zois (1747–1819). In: Geschichte der Erdwissenschaften in Österreich. Tagungsband. Wien 2000 (Berichte der Geologischen Bundesanstalt 51), S. 13–20. Marianne Klemun, Exotik, Nutzen, Wissenschaft. Praktiken der Pflanzenaneignung im »Ökonomisch-Botanischen Garten« der Theresianischen Akademie. In: Franz M. Eybl (Hg.), Strukturwandel kultureller Praxis. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Sicht des theresianischen Zeitalters. Wien 2002 (Jahrbuch der ­Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 17), S. 303–333. 29 Joseph Hilarius Eckhel, Kurzgefaßte Anfangsgründe zur alten Numismatik. Wien 1767, S. 36ff.

Gottfried, Student der Philosophischen Studien in Wien

Arthur Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. Cambridge 1936 (deutsch unter dem Titel: Die große Kette der Wesen. Geschichte ­eines Gedankens. Frankfurt am Main 21993 ([suhrkamp taschenbuch wissenschaft]). Günther von Probszt, Österreichische Münz- und Geldgeschichte. Von den Anfängen bis 1918. 2 Bde. Wien 31994 [1973]. Frances A. Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. Berlin 72012 [1990] (Acta humaniora).

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József, Kunstgeschichtestudent und Flaneur im Universitätsviertel

Sommer 1883

Julia Rüdiger

Es war ein heißer Nachmittag im Frühsommer 1883, und der trockene Wind wirbelte den Staub auf, der die Wiener Ringstraße bedeckte. József hatte gerade den schattigen Weg im Volksgarten verlassen und bog nach rechts in Richtung Universitätsgebäude. Er wollte seinen Freund Sándor treffen, dessen Vorlesung im Josephinum1 in der Währinger Straße stattfand. Vor etwa zwei Jahren war er gemeinsam mit Sándor aus Györ nach Wien gekommen, um hier an der bedeutenden Universität zu studieren. Von ihrer Heimatstadt war es exakt gleich weit zur Universitätsstadt Budapest wie nach Wien. Von einer Ausbildung an der ersten Universität des Habsburgerreichs und den Kontakten in der expandierenden Residenzstadt erhofften sich besonders die Eltern der beiden viel für die Zukunft ihrer Söhne. Sándor, der sich nun in Wien konsequent Alexander nennen ließ, folgte dem Wunsch seines Vaters und hatte sich für das Medizinstudium entschieden. József hingegen hatte sich schon immer 1

Das Josephinum in der Währinger Straße wurde im Jahr 1784 von Kaiser Joseph II. als k. k. medizinisch-chirurgische Josephs-Academie gegründet. Im Sinne der durch den Leibchirurgen Giovanni Alessandro Brambilla durchgeführten Reformen des Militärsanitätswesens diente das Josephinum der Ausbildung von Militärchirurgen sowie Wundärzten, die hierbei – im Gegensatz zum universitären Medizinstudium – sehr viel praxisnäher und spezialisierter an ihre Aufgaben herangeführt wurden. Vgl. Markus Swittalek, Das Josephinum. Aufklärung, Klassizismus, Zentrum der Medizin. Wien techn. Diss. 2011.

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Sommer 1883

Abb. 1: Nach Rudolf von Alt, Perspektivansicht des Hauptgebäudes der Universität Wien (2. Entwurf), 1872 (Privatbesitz)

für Geschichte interessiert, und auch für Architektur. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte er sich an die Baustelle der großen Synagoge in Györ,2 an den Geruch des Mörtels und der frisch gesägten Holzbalken. Zum Zeitpunkt der Einweihung war József noch ein Kind, aber seitdem war er fasziniert von den zahlreichen Möglichkeiten, Räume zu erschaffen und zu gestalten. Jetzt strömte ihm aus dem fast fertigen Bau der Wiener Universität am Ring ebenfalls der Geruch von frischem Putz, Farbe und Holz entgegen, und er sehnte sich danach, dass der Neubau endlich eröffnet würde. Dies ­natürlich nicht nur wegen seiner fast kindlichen Freude auf das Eröffnungsspektakel, sondern vor allem, weil das neue Gebäude das Studieren so viel leichter machen würde, so hoffte er zumindest. Zwischen den jungen Alleebäumen erblickte József zwei Herren, die einander begegneten und höflich grüßten. Das mussten Professoren sein, dachte er. Ihr Gestus und ihre Art, miteinander zu sprechen, zeichneten sie aus. Denn hier in der großen Universitätsstadt 2

Die Synagoge in Györ wurde 1868–1870 durch Károly Benkó errichtet.

Jószef, Kunstgeschichtestudent und Flaneur im Universitätsviertel

bildeten die Professoren die Spitze des durch Intellekt und Geist geadelten neuen Bildungsbürgertums – das musste sich ja auch in ihrem Habitus niederschlagen. Und selbstverständlich in ihrer Kleidung ebenfalls. Talar und Doktorenhut waren schon lange nicht mehr üblich, sondern stattdessen der bürgerliche Straßenanzug. Józsefs bevorzugter Professor, der Kunsthistoriker Rudolf von Eitelberger,3 trug immer besondere Röcke, die aus feinem Tuch mit glänzenden Paspeln abgenäht waren. Aber dieses Ansehen und diesen Stand musste man ja auch erst einmal erreichen! Seit nicht allzu langer Zeit, so hatte József gehört, war die Universitätslaufbahn noch genauer strukturiert. So mussten Professorenanwärter in einem Verfahren, das man Habilitation4 nannte, ihre Eignung zum Hochschullehrer nachweisen. Dies war, so konnte es sich József vorstellen, ein spezieller und beschwerlicher Weg, den nicht jeder gehen konnte oder auch nicht wollte! Denn dieses Profil basierte auf eigenständiger mühsamer Forschung, und für die Vorlesungen zogen die Professoren nun ihre eigenen Arbeiten ­heran, was ebenfalls auf intensiver Forschungsarbeit beruhte. Darauf schien nun auch das hohe gesellschaftliche Ansehen der Bildungs­ elite zu basieren, denn offensichtlich richteten auch die anderen Passanten ihre prüfenden und eben doch ehrfurchtsvollen Blicke auf die beiden diskutierenden Akademiker. Dieser Reform der Universitätslaufbahn war ein entscheidender Einschnitt in der Universitätsgeschichte vorausgegangen. Fast vor einer Ewigkeit, im Sommersemester 1848, hatte die Universität 3

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Mit der Ernennung von Rudolf von Eitelberger (1817–1885) zum außerordent­ lichen Professor für Kunstgeschichte wurde dieses Fach an der Universität Wien etabliert. Daneben wirkte Eitelberger auch als Initiator des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, dem heutigen MAK, als Gründer der Kunstgewerbeschule und als wichtiger Berater des Stadterweiterungsfonds in Belangen der Ringstraßenplanung. Die Habilitation wurde infolge der Universitätsreform von 1848 im ganzen Habsburgerreich eingeführt, um den Nachwuchs an potenziellen Professoren zu steuern und um die Befähigung der Kandidaten tatsächlich einem gutachterlichen Verfahren zu unterwerfen.

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Sommer 1883

ihr Hauptgebäude verloren. Im Zuge der Niederschlagung der Revolution wurde zunächst die gesamte Universität geschlossen und schließlich militärisch besetzt. Während Kaiser Ferdinand I. von Österreich den Studierenden im Zuge der Märzrevolution offenbar zahlreiche Zugeständnisse gemacht hatte, erreichte die Akademische Legion5 durch ihre Unterstützung der Wiener Oktoberrevolution das genaue Gegenteil. Die damalige Neue Aula6 galt fortan als Zentrum des Mordkomplotts gegen Kriegsminister Theodor von Latour, und eine Rückkehr der potenziell aufständischen Studierenden und deren Professoren an diesen belasteten Ort schien unmöglich. So fehlte es der Universität nicht nur an einem Zentrum, sondern vor allem an Räumlichkeiten für die universitäre Lehre. Und Raum, das war die Bedingung für jeden sinnvollen Unterricht. Hatte man nicht auch die neue Methode des Unterrichts als Seminar7 bezeichnet, ein Wort, das gleichzeitig für die Örtlichkeit stand? Besonders in der Philosophischen Fakultät spielte diese Lehrform mehr und mehr eine Rolle. Sie hing mit der Aufwertung des eigenständigen Schreibens von Arbeiten im Studium zusammen. Davor fürchtete sich József noch immer! Was er liebte, war die ästhetische Erfassung der Formen, aber darüber zu schreiben, hatte er sich so viel leichter vorgestellt! Die Seminare, Laboratorien, ja die Fakultäten waren seit der Revolution, also bereits seit 34 Jahren, über die gesamte Stadt verstreut. 5 6 7

Parallel zur bürgerlichen Nationalgarde formierten sich Studenten und Professoren im März 1848 zu einer bewaffneten Akademischen Legion, die sich im Universitätsviertel verbarrikadierte. Das in maria-theresianischer Zeit errichtete Gebäude wurde der Universität nach der Oktoberrevolution entzogen, zunächst zur innerstädtischen Kaserne umfunktioniert und im Jahr 1857 der wenige Jahre zuvor entstandenen Akademie der Wissenschaften zugewiesen, wo sich diese auch heute noch befindet. Das erste Institut, das sich Seminar nannte, wurde an der Universität Göttingen im 18. Jahrhundert gegründet. In den philologischen Fächern wurde die Bezeichnung Seminar im 19. Jahrhundert vielfach übernommen. Die organisatorische wie auch didaktische Seite war damit in einem Begriff vereint. Vgl. William Clark, Academic Charisma and the Origins of the Research University. Chicago u. a. 2006, S. 142.

Jószef, Kunstgeschichtestudent und Flaneur im Universitätsviertel

Sándor hatte Glück, die Medizinische Fakultät8 hatte sich nach der Wiederaufnahme des Universitätsbetriebs im Sommersemester 1849 in der ehemaligen Gewehrfabrik direkt beim Allgemeinen Krankenhaus sowie dem Josephinum angesiedelt und ausgebreitet, sodass er nur kurze Wege zwischen den einzelnen Standorten zu bewältigen hatte. József hingegen studierte Geschichte und Kunstgeschichte an der Philosophischen Fakultät, deren Vorlesungen im Stadtkonvikt9 in der Bäckerstraße, im Theresianum10 in Wieden und manche sogar in angemieteten Räumen in Erdberg stattfanden. Um dem anhaltend provisorischen Charakter dieser Räumlichkeiten zu entgehen, hielt Rudolf von Eitelberger seine Vorlesungen und Übungen im Museum für Kunst und Industrie oder in der daneben liegenden Kunstgewerbeschule11 – dies bedeutete für József aber wiederum zusätzliche Wege. Beide Institutionen hatte Eitelberger selbst gegründet, und die dazugehörigen Prachtbauten, die József wegen ihrer künstlerischen Ausstattung so sehr schätzte, hatte der Architekt Heinrich von Ferstel12 errichtet – also jener Architekt, der auch für die Planung 8

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Die Medizinische Fakultät blieb bis zur Universitätsreform des Jahres 2002 im Verband der Alma Mater Rudolphina. Das Stadtkonvikt war im Akademischen Kolleg am Universitätsplatz direkt gegenüber der Neuen Aula untergebracht. Hier wohnten sowohl die Schüler des Akademischen Gymnasiums als auch die Hofsängerknaben; der berühmteste unter ihnen ist sicherlich der Komponist Franz Schubert gewesen. Das Theresianum wurde 1746 zunächst als Gymnasium für Adelssöhne unter den Jesuiten begründet und ab 1749/51 als kaiserliche Stiftung unter dem Namen Theresianische Akademie geführt. Nach der Revolution von 1848 war sie erstmals auch für Bürgerliche offen. Die Kunstgewerbeschule wurde 1867 auf Betreiben Rudolf von Eitelbergers gegründet. Während sie anfangs ebenfalls in der alten Gewehrfabrik an der Währinger Straße untergebracht war, konnte sie 1872 zunächst in das k. k. Österreichische Museum für Kunst und Industrie übersiedeln und im Jahr 1877 die von dem Architekten Heinrich von Ferstel errichtete Kunstgewerbeschule am Stubenring beziehen. Heinrich von Ferstel (1828–1883) hatte in Wien zunächst das Polytechnikum besucht und anschließend an der Akademie der Bildenden Künste bei den Erbauern der k. k. Hofoper, Eduard van der Nüll und August Sicard von Sicardsburg, studiert. Durch seinen Erfolg beim Wettbewerb um die Wiener Votivkirche im Jahr 1854 erlangte er schon als junger Architekt schlagartig großen Ruhm, der

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Abb. 2: Minerva-Mosaik. Das Mosaik am Verbindungsbau zwischen Museum und Kunst­ gewerbeschule ist von dem Künstler und Kunstgewerbeprofessor Ferdinand Laufberger ursprünglich für die Wiener Weltausstellung 1873 entworfen worden und fand hier eine geeignete Weiterverwendung. (Institut für Kunstgeschichte, Universität Wien, Ringstraßenarchiv, Inv.Nr. I/22-2795)

des neuen Hauptgebäudes der Universität verantwortlich war. Was József an den beiden Backsteinbauten für das Kunstgewerbe besonders mochte, war die monumentale Minerva, die als Mosaik zwischen Schule und Museum angebracht war. Genau so stellte er sich die Göttin der Wissenschaft vor! József wischte sich den verklebten Staub aus dem Gesicht, er schwitzte in seinem dunklen Straßenanzug. Auch wenn er ihn einengte, es gehörte sich einfach, diesen zu tragen, denn alle Studenten, ohne Ausnahme, unterwarfen sich automatisch dieser inoffiziellen, ihm in kürzester Zeit weitere öffentliche Aufträge, wie beispielsweise das Bankund Börsegebäude in der Herrengasse (heute Palais Ferstel), einbrachte. Das Hauptgebäude der Universität Wien war sein größter Auftrag, dessen Vollendung er nicht mehr erlebte. Vgl. Norbert Wibiral, Renata Mikula, Heinrich von Ferstel. Wiesbaden 1974 (Die Wiener Ringstraße 8: Die Bauten und ihre Architekten 3).

Jószef, Kunstgeschichtestudent und Flaneur im Universitätsviertel

Abb. 3: Wilhelm Burger, um 1875: Blick auf Votivkirche, Pferdetramway im Vordergrund, links neben der Votivkirche die in Bau befindlichen Gebäude am heutigen Rooseveltplatz (Bildarchiv Austria der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Inv.Nr. WB 143-44Je B[C]+H)

aber doch allgemein gültigen Kleiderordnung. Er war bereits dort angekommen, wo früher das sogenannte Schottentor gestanden hatte. Hier überquerte er den Ring, um die Währinger Straße stadtauswärts zu gehen. Er blickte zurück auf den monumentalen Bau, der nun bald fertig sein sollte. Welch eine Erleichterung würde es für alle Studierenden sein, wenn das Hauptgebäude endlich bezugsfertig wäre! Für die Kunstinteressierten unter ihnen, wie József es natürlich war, würde dieser Universitätspalast noch dazu eine Art Anschauungsobjekt der

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Kunstgeschichte sein. Bereits an der noch unvollendeten Fassade zeichneten sich viele Verweise auf die italienische Hochrenaissance ab, die der Architekt hier integriert hatte. An der Seitenfassade zum Beispiel zitierte der Bau die Schmalseite der Biblioteca Marciana in Venedig. In vielerlei Hinsicht rechnete József damit, dass die Innenräume denjenigen des Museums für Kunst und Industrie ähneln würden, die mit ihren feinen Groteskenmalereien an Raffael erinnerten. So gerne würde er sich jetzt in diese kühlen Hallen zurückziehen. Aber er musste weiter, er war ja mit Sándor in einem Wirtshaus hinter dem Chemischen Laboratorium verabredet. Wenn es seine Geldbörse zuließ, dann ging er auch gerne in das »Süße Löchel« in der Innenstadt, wo der blinde Harfenist Paul Oprawil nahezu jeden Abend in den Kellerräumen aufspielte. Gerne mochte er aber auch das Beisl »Beym Kerzelwirt« im Lichtenthal,13 das war auch eines dieser Etablissements, wo man abends die Drahrer,14 wie sie wienerisch genannt wurden, antraf. Ihre zotigen Lieder, die sie hier zum Besten gaben, und die derben Tänze der Kellnerin, oft sogar am Tisch dargeboten, obgleich voyeuristisch, zogen József besonders an. Das Chemische Laboratorium,15 das er gerade erreicht hatte, war ja auch von diesem Architekten Ferstel geplant, ebenso wie das Maximiliansgymnasium direkt dahinter und die in der Sonne hell strahlende Votivkirche direkt davor. Wenn nicht ganz Wien, zumindest rund um die Ringstraße, eine einzige Baustelle wäre, könnte man annehmen, dieser Architekt sei etwas Besonderes, aber so war er nur 13 14 15

Im 19. Jahrhundert galt Lichtenthal, heute Teil des 9. Bezirks (Alsergrund), als verrufene Gegend. Vgl. Ulrike Spring u. a. (Hgg.), Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit. Wien 2007 (Sonderausstellung des Wien-Museums 336), S. 225. Drahrer steht für Nachtschwärmer. Am 7. Oktober 1849 fasste das k. k. Ministerium für Cultus und Unterricht den Entschluss, die bisherige, der Medizinischen Fakultät zugeordnete Professur für Chemie dort auszuscheiden und der Philosophischen Fakultät zuzuteilen. Der Umzug aus dem Theresianum erfolgte 1870. Gleichzeitig wurde eine zweite Lehrkanzel gegründet und das 2. Chemische Laboratorium im selben Gebäude eingerichtet. Vgl. Helga Michl, Geschichte des Studienfaches Chemie an der Universität Wien in den letzten hundert Jahren. Wien univ. Dissertation 1951, S. 43f.

Jószef, Kunstgeschichtestudent und Flaneur im Universitätsviertel

einer von zahlreichen viel beschäftigten Architekten, die in den letzten Jahrzehnten das Stadtbild Wiens völlig verändert hatten. Was Sándor wohl zu erzählen hatte? Am Vorabend hatte er ein wichtiges Treffen mit einigen Mediziner-Kollegen gehabt, davon wollte er heute berichten. Ursprünglich hatte Sándors »Alter Herr«, sein Vater also, der selbst in Wien studiert hatte, ihnen ans Herz gelegt, sich um Aufnahme in seine damalige Studentenverbindung zu bemühen. Doch seit dieser Zeit war in Wien viel geschehen. Im Oktober 1875 hatte Theodor Billroth,16 Lehrstuhlinhaber der Zweiten Chirurgischen Klinik der Universität, die über 500-seitige kulturhistorische Studie »Über das Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaften« vorgelegt. Als einen gewaltigen Missstand der damaligen Ausbildung sah Billroth den großen Andrang auf das Medizinstudium,17 wobei ihm besonders die Immatrikulation ärm­ licher galizischer und ungarischer Juden ein Dorn im Auge war. Auch József war sich unsicher, ob tatsächlich so viele mittellose junge Männer studieren sollten. Aber vollkommen absurd erschien ihm die Unterstellung, dass gerade er oder Sándor als ungarische Juden ärmlich sein sollten! Was überhaupt hatte das eine mit dem anderen zu tun? 16

Im Jahr 1867 war der Mediziner Theodor Billroth (1829–1894) nach mehreren Jahren als Assistent an der Berliner Charité und als Direktor der Chirurgischen Klinik in Zürich an die Universität Wien berufen worden und besetzte nun die 2. Chirurgische Lehrkanzel. Neben seinen Erfolgen als Chirurg und Begründer der modernen Abdominalchirurgie muss Billroth auch als wichtiger Protagonist einer empirisch wissenschaftsbasierten Medizin gelten. Vgl. Eric Kandel, Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute. München 2012, S. 42f.; Wolfgang Genschorek, Wegbereiter der Chirurgie. Johann Friedrich Dieffenbach – Theodor Billroth. Leipzig 1982, S. 159f. 17 Felicitas Seebacher, »Der operierte Chirurg«. Theodor Billroths Deutschnationalismus und akademischer Antisemitismus. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54/4 (2006), S. 317–338; Oliver Rathkolb, Gewalt und Antisemitismus an der Universität Wien und die Badeni-Krise 1897. Davor und danach. In: Ders. (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2013 (Zeitgeschichte im Kontext 8), S. 69–92, hier bes. S. 71–74.

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Sommer 1883

Nach seinem Erscheinen polarisierte Billroths Buch stark. Im Hörsaal gipfelte der Beifall der deutschnationalen Burschenschaftler schließlich in körperlichen Attacken auf jüdische Studenten. Die bereits seit Jahren schwelende Animosität der Deutschnationalen gegen die jüdische Bevölkerung wurde durch Billroths Äußerungen angefacht, denn diese boten nun aus der Feder eines angesehenen Akademikers und Mediziners eine quasi wissenschaftlich belegte Grundlage für ›akademischen‹ sowie ›rassischen‹ Antisemitismus. In der Folge verankerten fast alle Burschenschaften sogenannte Arierparagraphen in den Statuten, welche die Aufnahme jüdischer Studierender18 verhinderten. Die Studentenverbindung von Sándors Vater würde Sándor und József daher wohl nicht mehr aufnehmen. Für József wäre das vielleicht ohnehin zu viel der Vereins­meierei gewesen, aber Sándor strebte nach Vernetzung. Am Vorabend hatte er daher Bekannte getroffen, die sich nun in einer jüdischen Verbindung organisierten. Im vergangenen Herbst hatten sie die Studentenverbindung Kadima19 gegründet und erreichten damit viele Gleichgesinnte. Sicherlich hatte sich sein Freund gestern um die Aufnahme beworben. József war nun vor dem Wirtshaus angekommen und war gespannt, was Sándor ihm bei einem kühlen Achterl erzählen würde.

18 Wolfgang Benz (Hg.), Organisationen, Institutionen, Bewegungen. Berlin u. a. 2012 (Handbuch des Antisemitismus 5), S. 189. 19 Vgl. Peter Haber, Zionismus in Österreich. In: Heiko Haumann (Hg.), Der Erste Zionistenkongress von 1897. Ursachen, Bedeutung, Aktualität. Basel 1997, S. 110f.

Jószef, Kunstgeschichtestudent und Flaneur im Universitätsviertel

Weiterführende Literatur: Franz Gall, Die Alte Universität. Wien 1970. Thomas Maisel, Alma Mater auf den Barrikaden. Die Universität Wien im Revolu­ tionsjahr 1848. Wien 1998. Kurt Mühlberger, Palast der Wissenschaft. Ein historischer Spaziergang durch das Hauptgebäude der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis. Wien, Köln, Weimar 2007. Julia Rüdiger, Die monumentale Universität. Funktionalität und Repräsentation des Ferstel-Baus am Ring. Wien phil. Diss. 2013 (in Druckvorbereitung, erscheint 2015 im Böhlau Verlag). Gerson Wolf, Der neue Universitätsbau in Wien. Eine historische Studie. Wien 1882. Gerson Wolf, Zur Geschichte der Universität Wien. Wien 1883.

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Julius, Student der Ägyptologie im Banne Tutanchamuns

Herbst 1927

Christian Knoblauch, unter Mitarbeit von Marianne Klemun und Fritz Blakolmer

Die bimmelnde Straßenbahn krümmt sich den Ring entlang, am Hauptgebäude der Universität vorbei, in Richtung Oper, und die Spätnachmittagssonne taucht alles in eine trügerische gelbe Ruhe. Links das herbstliche Schweigen des Volksgartens, rechts, hinter dem Parlament, die Stille des ausgebrannten Justizpalastes.1 Es kommt Julius in den Sinn, wie nah beieinander der Gegensatz von Idyll und Katastrophe doch liegt, jetzt im Oktober 1927 in Wien. Bis zur Oper fährt er, dort steigt er aus und versucht kurz, sich zu orientieren, nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Die Stadt, in der er sich nun befindet, ist ihm so fremd wie diese neue, einsam leuchtende Verkehrsampel.2 1

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Nach Zusammenstößen zwischen dem Republikanischen Schutzbund und den Frontkämpfern, der im Jänner 1927 im burgenländischen Schattendorf zwei Todesopfer auf sozialdemokratischer Seite gefordert hatte, wurden die Täter von einem Geschworenengericht freigesprochen. In der Folge kam es in Wien am 15. Juli 1927 zu gewaltsamen Demonstrationen gegen dieses Urteil, in deren Rahmen der Justizpalast angezündet wurde. Zahlreiche dort gelagerte Akten verbrannten. Die Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Demons­ tranten forderten eine hohe Zahl an Opfern. Die erste Verkehrsampel weltweit wurde am 5. August 1914 in Cleveland/Ohio in Betrieb genommen, die erste Ampel in Wien im Jahre 1926 an der Opernkreuzung errichtet. Diese Idee, eine Regelung des Verkehrs mithilfe von Lichtsignalen durchzuführen, wurde aus der Schifffahrt und dem Eisenbahnwesen übernommen.

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Herbst 1927

Abb. 1: Lord Carnarvon und Howard Carter (r.) am 17. Februar 1923 beim Öffnen der dritten versiegelten Tür (aus: C. W. Ceram, Götter, Gräber und Gelehrte im Bild. Hamburg 1957, S. 162)

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Julius geht ein Stück an der Oper zurück und biegt rechts in die Operngasse ein. Vor ihm ragen die massiven Reste der Augustinerbastei sowie das Erzherzog-Albrecht-Palais mit der Albertina auf. Langsam steigt er die Albrechtsrampe hinauf zum Tor. Der Portier, seine Goldbandmütze unter den Arm geklemmt, mustert ihn kurz und fragt wissend: »Zur Ägyptologie? Durch’n Hof durch, dann gengan S’ in zweit’n Stock aufe!«3 Zur Ägyptologie – ja das wollte Julius schon lange! Sogar bis zu ihm daheim an den oberösterreichischen Traunsee drangen ein paar Jahre zuvor die spektakulären, ihn geradezu hypnotisierenden Nachrichten von Howard Carters Entdeckung,4 die ihn endgültig mit dem Fieber der Ägyptomanie5 ansteckten.

Leicht verändert nach Gertrud Thausing, Tarudet. Ein Leben für die Ägyptologie. Graz 1989, S. 11. Howard Carter hatte im November 1922 im Tal der Könige das nahezu unversehrt aufgefundene Grab des Tutanchamun (KV62) entdeckt. Diese Entdeckung löste durch die Berichterstattung einen wahren Medienhype aus, vgl. H[arry] V. F. Winstone, Howard Carter und die Entdeckung des Grabmals von Tut-EnchAmun. Köln 1993. Jean-Marcel Humbert, L’Égyptomanie dans l’art occidentale. Courbevoie 1989; Wilfried Seipel (Hg.), Ägyptomanie. Ägypten in der europäischen Kunst 1730– 1930. Ausstellungskatalog Kunsthistorisches Museum Wien. Wien 1994; Wilfried Seipel (Hg.), Ägyptomanie. Europäische Ägyptenimagination von der Antike bis heute. Wien 2000 (Schriften des Kunsthistorischen Museums 3).

Julius, Student der Ägyptologie im Banne Tutanchamuns

Die Zeitungen waren damals voll mit schillernden Berichten und Photos des ungeplünderten Grabes des Tutanchamun im Tal der ­Könige. Die Lampe des Archäologen, die am 17. Februar 1923 in die dunkle, noch original versiegelte Grabkammer des Pharaos leuchtete, streifte über goldene Kostbarkeiten, von dem mit Elfenbein geschmückten Ruhebett über den Thron des Königs bis zu seinem Kriegswagen und sogar dem vergoldeten Totenschrein mit der unversehrten Mumie des Tutanchamun, sodass selbst der britische Ausgräber sprachlos war und mit versteinertem Blick stets der nächsten überraschenden Sensationsfunde harrte. Und dann noch die goldene Totenmaske des Pharaos, die erstmals seit dreieinhalbtausend Jahren ein Mensch zu Gesicht bekam! Der Forschergeist für die Archäologie Ägyptens war damit bei Julius unwiderruflich ­geweckt! Daheim seinen Kater Fritz bandagieren, die erste Ausgrabung im Gemüsebeet – dies waren die frühesten Manifestationen der ansonsten nicht untypischen Lieblingsbeschäftigung von Julius, der bisher in Traunkirchen, weit entfernt von der exotischen Welt des Orients, seine Jugend verbracht hatte. Nun aber ist er 18 Jahre alt und in Wien angelangt, um Lehrveranstaltungen des berühmten Professors Hermann Junker6 zu besuchen. Sein Vater schrieb an einen befreundeten Ordinarius in Berlin, der Hochburg der Ägyptologie, und die Antwort kam postwendend: Ja, die Ägyptologie mag interessant und äußerst respektabel sein, aber wer kein Rittergut besitze, verschwende hier bloß seine Zeit. Julius’ Vater mag mit dem Ende der k. k. Monarchie zwar seines Titels verlustig gegangen sein, aber verarmt ist er doch 6

Hermann Junker (1877–1962), aus Deutschland stammender Ägyptologe, 1907 Habilitation in Wien, 1912 Ernennung zum Ordinarius an der Universität Wien. Zu Leben und Wirken Hermann Junkers s. seine Autobiographie: Hermann Junker, Leben und Werk in Selbstdarstellung. Wien 1963 (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse Bd. 242, 5. Abhandlung); Peter Jánosi, Österreich vor den Pyramiden. Die Grabungen Hermann Junkers im Auftrag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien bei der Großen Pyramide in Giza. Wien 1997. Vgl. Gertrud Thausing, Junker, Hermann. In: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 692f.

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nicht. Also los, auf zu dem großen Experiment ins »Rote Wien«,7 wo infolge der immensen Wohnungsbeschaffungspolitik markante kommunale Bauten entstehen. Ein Zimmer findet Julius jedoch nicht in diesen neuen Wohnburgen, sondern für 20 Schilling bei einer netten jüdischen Familie in der Währinger Straße, von wo ihn nur ein kurzer Spaziergang zur Straßenbahn am Schottentor trennt. Es ist die Intellektualität dieser Familie, die ihn sowohl irritiert als auch fasziniert und beeinflusst. Man schwärmt in diesem Ambiente nostalgisch und etwas rückwärtsgerichtet von der »Wiener Moderne«. Julius verbindet damit zunächst das Frauenstudium, das seit 1897 an der Philosophischen und seit 1900 an der Medizinischen Fakultät eingeführt wurde und ihm sehr sympathisch ist. Nein, »Moderne« ist ein in aller Munde breit rezipierter Begriff, der angeblich auf den Dichter Hermann Bahr8 zurückgeht und sich wohl mehr auf die Kunst bezieht; man liebt in dieser Familie Arthur Schnitzlers9 gesellschaftskritische Werke, verehrt Hugo von Hofmannsthal10 sowie die Kunst eines Adolf 7

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»Rotes Wien« ist die Bezeichnung für die österreichische Hauptstadt von 1918 bis 1934. In dieser Zeit gelang es der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, bei Wahlen stets die absolute Mehrheit zu erreichen. Vgl. Walter Öhlinger (Red.), Das rote Wien 1918–1934. Historisches Museum der Stadt Wien, 17.6.–5.9.1993. Wien 1993 (Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien 177); Helmut Weihsmann, Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919–1934. Wien 2., vollk. überarb. Aufl. 2002 [1985] (Edition Spuren). Hermann Bahr (1863–1934), Motor und Repräsentant des sogenannten Jungen Wien, ein bedeutender Literatur- und Kulturtheoretiker, prägte 1887 den Begriff »Moderne« für eine Gruppe von Künstlern, die ganz unterschiedlichen Stilen folgten. S. bes. Hermann Bahr, Das junge Österreich. In: Deutsche Zeitung 23 (Wien 1893), Nr. 7806, Morgen-Ausgabe, S. 1; Hermann Bahr, Studien zur Kritik der Moderne (Frankfurt am Main 1894), S. 70ff. S. ferner Gotthart Wunberg (Hg.), Das Junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887–1902. 1.  Bd. Tübingen 1976, S. 366. Arthur Schnitzler (1862–1931) war mit seiner gesellschaftskritischen Dichtung, speziell der Charakteristik typischer Wiener Gestalten wie etwa Offizieren oder »süßer Mäderln« aus der Vorstadt, ein wichtiger Vertreter des »Jungen Wien«, der literarischen Wiener Moderne, die bis zum Ersten Weltkrieg von Bedeutung war. S. Konstanze Fliedl, Schnitzler, Arthur. In: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 335–337. Hugo Laurenz August Edler, genannt Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), trat

Julius, Student der Ägyptologie im Banne Tutanchamuns

Loos11 und zudem die Musik eines Gustav Mahler12 oder eines Arnold Schönberg.13 Der Hausherr selbst studierte bei Ernst Mach,14 dem weltberühmten Physiker. Allerdings war es nicht so sehr die Physik, sondern die Erkenntnistheorie, die ihn in den 90er-Jahren zu Mach an die Universität Wien geführt hatte. »Existiert eine Verbindung zwischen all diesen kreativen Köpfen?«, fragt Julius den Hausherrn, wohl wissend, dass er sich hier ganz unbedarft, aber doch neugierig zeigt. Pluralität der Stile,15 ist die spontane Antwort. Es ist die Grunderkenntnis, dass geistige und körperliche Dimension des Lebens keinen Gegensatz zu bilden scheinen, dass ein Ineinanderübergehen von Subjekt und Objekt besteht.

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neben seiner Dichtung auch kunstreflexiv als Suchender in zeitgenössischen kunstkritischen Blättern in Erscheinung. S. Werner Volke, Hofmannsthal, Hugo von. In: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 464–467. Adolf Loos (1870–1933) war ein bedeutender Architekt, Journalist und Kunstkritiker, der sich vor allem mit seiner Skepsis dem Ornament gegenüber hervortat. Er wurde damit und mit seinem Konzept von »form follows function« zum Wegbereiter der Moderne. S. Vera J. Behal, Loos, Adolf. In: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 149–152. Gustav Mahler (1860–1911) war als Komponist sowohl für Arnold Schönberg als auch Alban Berg und Anton von Webern als früher Vertreter der Neuen Musik von Bedeutung. S. Hermann Danuser, Mahler, Gustav. In: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 683–687. Für den Komponisten Arnold Schönberg (1874–1951) zählte die Wiener Zeit bis 1925 zu seiner fruchtbarsten, in welcher er die Zwölftontechnik entwickelte. S. Gerold W. Gruber, Schönberg, Arnold. In: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 390–393. Ernst Mach (1838–1916) war ab 1867 als Ordinarius für Physik zunächst an der Universität Graz, ab 1867 an der Prager Universität, zuletzt als deren Rektor tätig. An der Wiener Universität erhielt Mach, wiewohl er hier seine physikalische Ausbildung erfahren hatte, 1894 die neu geschaffene Professur für »Philosophie, insbesondere Geschichte der induktiven Wissenschaften«, die er bis zum Jahre 1898 innehatte, einer Zeit, die zu den produktivsten in seinem Leben zählte. S. John T. Blackmore, Ernst Mach. His Work, Life, and Influence. Berkeley, Calif. u. a. 1972; Klaus Hentschel, Mach, Ernst. In: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 605–609. S. dazu das Werk von Schorske, der damit die weltweite Fokussierung auf diese Zeit Wiens evozierte: Carl E. Schorske, Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture. New York 1980.

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Nach Ernst Machs Erkenntnistheorie16 könne Kunst mit sichtbarer Realität nicht deckungsgleich sein. Empfindungen seien nach Mach eben nicht naturalistisch abzubilden, und die Kunst habe die Aufgabe, das Verbindliche mit Hilfsmitteln des Sichtbaren (Farben, Töne) symbolisch oder abstrakt anzudeuten, so der Hausherr. Dieses Gemeinsame ist es wohl, resümiert Julius für sich, das die Wiener Moderne17 um 1900 ausmacht. Und der Vermieter setzt seine Erklärung ambitioniert fort, es sei zudem der zeitlich überregionale, das heißt synchrone Rezeptionszusammenhang, der einen inhaltlichen diachronen Bezug auf Muster der Vergangenheit zulässt. Julius will darüber noch mehr erfahren. Jetzt aber, wiewohl er sich vornimmt, all die literarischen Werke, die ihm angeraten wurden und werden, nacheinander zu lesen, macht sich in seinen Gedanken eine Skepsis breit: Der Bezug der »Moderne« auf das »Jetzt«, die Gegenwart, ist es das, was Julius doch von diesem Konzept ablenkt, ihn, der gerade in die ferne Vergangenheit einer so glänzend und geheimnisvoll scheinenden Kultur eintaucht? Einstweilen will er sich jedenfalls Machs Werk »Kultur und Mechanik«18 vornehmen, denn da soll auch von den Alten Ägyptern die Rede sein, etwa wie sie die »Herbeischaffung ihrer Baumaterialien« bewältigten. Jetzt geht Julius über den offenen Hof des Erzherzog-Albrecht-Palais und schreitet durch den Gang, zu beiden Seiten Marmorsäulen und am Fuß der Treppe zwei Sphingen, die Stiegen aber sind steil und eng. Die Tür zur Graphischen Sammlung bleibt geschlossen, er geht an ihr vorbei, weiter empor zu einem langen, dunklen Flur, an dessen Ende ein Raum liegt, in dem Kerzenlicht brennt. Dieser Raum ist groß: Schreibtisch, Rednerpult, wenige Stühle und an der 16

Gemeint ist Machs Werk »Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis zum Physischen und Psychischen«, erstmals 1886 publiziert; die neunte Auflage erschien in Jena 1923. 17 S. dazu bes. Moritz Csáky, Die Moderne. In: Emil Brix, Patrick Werkner (Hgg.), Die Wiener Moderne. Ergebnisse eines Forschungsgespräches der Arbeitsgemeinschaft Wien um 1900 zum Thema »Aktualität und Moderne«. Wien, München 1990, S. 24–40. 18 Ernst Mach, Kultur und Mechanik. Stuttgart 1915, bes. S. 10.

Julius, Student der Ägyptologie im Banne Tutanchamuns

Wand einige Regale mit einer bescheidenen Sammlung von Büchern. In dieser noblen Kulisse kommt ihm die Ausstattung billig vor und das Institut wie ein Fremdkörper. Langsam füllen sich die wenigen Sitzplätze. Nicht viele sind gekommen: eine junge Frau seines Alters; die anderen könnten ihrem Alter nach dagegen seine Eltern sein. Wie er später erfährt, sind seine Kommilitonen zwei Priester, ein pensionierter Oberrechnungsrat und eine Cousine des VortragenAbb. 2: Titelblatt von Ernst Mach, den samt ihrer Begleiterin. Da Kultur und Mechanik. Stuttgart 1915 tritt der junge Doktor ein und lä(Universitätsbibliothek Wien) chelt sie freundlich an: Über den »Tutanchamun-Rummel« würde hier nicht geredet werden, sondern über Schrift, Sprache, Champollion19 und die anderen Philologen. Die Hieroglyphenschrift würden sie bis Weihnachten erlernt haben. Einige Monate später, im Jänner 1928, geht Julius den inzwischen schon vertrauten Weg ans Institut zu Fuß, seinem Atem folgend. Die Kälte bündelt seine Gedanken, und diese kreisen, wie fast immer, um das Innenleben des Instituts. Den berühmten Professor kennt er weiterhin lediglich vom Hörensagen. Hermann Junker ist noch immer in Ägypten, sagt man ihm, bei den Pyramiden, wo er sich aufhält, unerreichbar, wie ein ferner Gott. In dessen Abwesenheit bestreiten der junge Doktor und ein noch jüngerer Kollege den Lehrbetrieb. Für etliche Probleme wird den Studenten eine einfache »dreifache Lösung« 19

Jean-François Champollion (1790–1832), französischer Sprachwissenschaftler, dem 1822 die Entzifferung der Hieroglyphen gelang. S. Andrew Robinson, Cracking the Egyptian Code. The Revolutionary Life of Jean-François Champollion. London 2012.

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empfohlen: Lesen, lesen und nochmals lesen! Und tatsächlich haben die ihm anfangs so fremden ägyptischen Hieroglyphenzeichen schon längst ihr Geheimnis verloren. Den offensichtlichen Inhalt der Texte versteht er auch schon. Diese Leistung betrachtet er aber nur als Teilerfolg, denn durch die anderen offenbart sich ihm das Gefühl, dass mehrere Bedeutungen schichtenweise aufeinander lägen, und je tiefer man grabe, desto näher käme man der wahren Botschaft des Textes, beziehungsweise der ganzen Welt. Freilich wird zwar nie offen darüber geredet, dennoch fließt dieser fast mystische Gedanke durch das Institut im Albrecht-Palais wie ein subtiler Luftzug, kaum spürbar, aber real und wirkungsvoll. Vor dem Hauptgebäude der Universität kommt Julius auf seinem Weg nicht mehr vorwärts und muss innehalten. Farbentragende Burschenschafter haben sich am Ring des 12. November20 versammelt und blicken erwartungsvoll zur Universitätsrampe hinauf. Für die deutschnationalen Burschenschaften hat Julius wenig Interesse, geschweige denn Sympathie. Studienkollege Joseph hatte ihm erzählt, wie Angehörige dieser Verbindung (oder waren es andere? Die Couleurfarben mit den jeweils dazugehörigen Verbindungsnamen konnte er nie auseinanderhalten!) die Vorlesungen des Anatomieprofessors Julius Tandler21 wegen dessen jüdischer Herkunft und seinem sozialdemokratischen Engagement wiederholt störten. Und war es nicht der gemeinsame Freund Ludwig, der am helllichten Tag im Arkadenhof der Universität von Burschenschaftern zusammengeschlagen wurde? Da die Prügelei auf Universitätsboden geschah, griff die vor dem Gebäude anwesende Polizei22 nicht ein, denn sie durfte 20 21

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Der einstige »Franzensring« wurde 1919 von der sozialdemokratischen Stadt­ regierung in »Ring des 12. November«, 1934 in »Dr.-Karl-Lueger-Ring« und 2012 in »Universitätsring« umbenannt. Zu Julius Tandler s. Karl Sablik, Julius Tandler. Mediziner und Sozialreformer. Eine Biographie. Wien 1983. Infolge der gewaltsamen Auseinandersetzungen im Universitätsgebäude wurde ab 1932 die Forderung einer in der Universität stationierten Hochschulwache laut. In der austrofaschistischen Zeit wurde die Kontrolle der Universitäten intensiviert, ab 1934 durfte die Polizei den Boden der Universität betreten.

Julius, Student der Ägyptologie im Banne Tutanchamuns

Abb. 3: Gedenkblatt zur Heldenehrung und Kundgebung für die von der Deutschen Studentenschaft organisierten Feierlichkeiten vom 21. Jänner 1928 (Archiv der Universität Wien)

die Universität nicht betreten; und gesehen hat sowieso niemand ­etwas! Auf der Rampe hat mittlerweile ein Redner begonnen zu proklamieren: »Die Gemeinschaft des Volkes winkt: ein Land, ein Geist, ein Blut!« Das übliche Zeug eben! Julius hört nur geistesabwesend zu und ertastet in seiner Jackentasche die Ecke eines Umschlages. Darin ist der Brief seines älteren Studienkollegen Joseph, der den Professor auf seine Grabung in Gize begleiten durfte. ›Der glückliche Kerl‹,

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denkt sich Julius. Der Brieftext ist kurz, drei Zeilen mit insgesamt sechs Worten, und trotzdem einleuchtend: »Frühstück: Ölsardinen; Mittagessen: Ölsardinen; Abendessen: Ölsardinen.« Julius grinst ­innerlich: Vielleicht doch nicht so glücklich? Doch die Stimme von der Rampe wird lauter und dringt erneut in sein Bewusstsein: »... dass aus deutschem Boden die Gemeinschaft des Volkes wachse, auf­ ragend wie eine Pyramide mit eiserner Spitze, wo Pflicht und Reinheit obenan stehen.«23 Diese Metapher reißt Julius jetzt endgültig aus seinen Gedanken heraus, und er hebt seinen Blick rasch in Richtung Rampe. Stimme und Gestalt des Redners sind ihm gut vertraut: Es ist der junge Doktor, mit dem er heute Nachmittag noch Autobiographien in Mittelägyptisch lesen wird. Auf der Grabung von Prof. Junker in Ägypten mitzuarbeiten, das ist der Traum von Julius! An den mehrmonatigen Kampagnen bei den Großen Pyramiden von Gize bei Kairo teilzunehmen und überraschende Fundstücke im Wüstensand zu bergen, ja vielleicht einen weiteren Tutanchamun … wird er diesen kühnen Traum je verwirklichen können? Originalobjekte von Junkers Grabungen erreichten auch Wien: Nach dem Antikengesetz, das vorsah, dem Ausgräber bzw. seiner Patronanz-Institution, der Akademie der Wissenschaften, einen Teil der Funde zuzusprechen, gelangten Fundobjekte aus Gize nicht nur in das Kunsthistorische Museum, sondern ein kleiner Teil auch in die Sammlung des von Junker 1923 begründeten Instituts für Ägyptologie und Afrikanistik. Fein, dass man zumindest dafür nicht eigens in das Tal der Könige reisen muss, sondern auch hier in Wien – und sogar am Institut selbst – Originale als Anschauungsmaterial in den Händen halten und im nahen Museum sogar Mumien sehen kann, denkt sich Julius mit strahlendem Blick. 23 Helge Zoitl, Akademische Festkultur. In: Franz Kadrnoska (Hg.), Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938. Wien, München, Zürich 1981, S. 167–204; vgl. Thomas Schneider, Ägyptologen im Dritten Reich. Biographische Notizen anhand der sogenannten »Steindorff-Liste«. In: Journal of Egyptian History 5/1–2 (2012), S. 179.

Julius, Student der Ägyptologie im Banne Tutanchamuns

Gegen Ende des Sommersemesters ist es dann schließlich so weit: Julius sieht den Professor zum ersten Mal mit eigenen Augen. Hermann Junker ist endlich aus Ägypten zurückgekehrt und wird einen Kurs für die fortgeschrittenen Studenten halten. Sie lesen die Pyramidentexte, was sonst! Julius schaut sich um – von den Anfängern sind nur noch zwei übrig geblieben: Er und die junge Frau, die sich als eine eifrige und tiefsinnige Studentin entpuppt. Dazu kommen ein Gast, ein Professor von der Orientalistik, und die zwei Doktoren. Die beiden Doktoren lesen die erste Textpassage fehlerfrei vor. Der Professor, aufmerksam lauschend, stellt den beiden Fragen zu den schwierigeren Stellen. Sie antworten, diskutieren und scheinen sich recht gut miteinander zu verstehen. Sie lesen den nächsten Text und der ganze Prozess wiederholt sich. Es wird erwartet, dass auch J­ ulius die Texte vorbereitet, aber seine aktive Teilnahme wird nur gelegentlich verlangt. In einem dieser seltenen Momente wendet sich der Professor ihm zu und stellt eine Frage, deren Antwort er nicht wissen kann. Wie bitte, er kann weder Arabisch noch Nubisch? »Das müssen Sie unbedingt möglichst bald ändern, möglichst bald!« Die Doktoren dürfen weiterlesen. Das hier wird wohl ein Leben lang dauern, denkt sich Julius, und wenn er ehrlich zu sich ist, wollte er eigentlich wirklich nur ein wenig mehr über den ›Tutanchamun-Rummel‹ wissen.

Weiterführende Literatur: C. W. Ceram [eigentlich Kurt W. Marek], Götter, Gräber und Gelehrte im Bild. Hamburg 1957. Irene Kaplan, Peter-Christian Jánosi, Sammlung des Instituts für Ägyptologie. In: Claudia Feigl (Hg.), Schaukästen der Wissenschaft. Die Sammlungen an der Universität Wien. Wien, Köln, Weimar 2012, S. 21–23. Thomas Schneider, Ägyptologen im Dritten Reich. Biographische Notizen anhand der sogenannten »Steindorff-Liste«. In: Journal of Egyptian History 5/1–2 (2012), S. 120–247. Gertrud Thausing, Tarudet. Ein Leben für die Ägyptologie. Graz 1989.

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Heinrich, Student der Urgeschichte auf Exkursion

Frühjahr 1939

Alois Stuppner – Otto H. Urban

Abgegriffener lederner Einband, Etiketten mit Angaben zum Semester. Heinrich blättert hingebungsvoll in einem seiner Notizbücher. Sie wurden ihm zu seinem ständigen Begleiter in all den Jahren, die er – nun schon 24-jährig – fleißig an der Universität Wien Urgeschichte studiert. Die Führung einer solchen Mitschrift in Form eines eigenen Heftes war den Studierenden dieses Faches von ihren Lehrern immer wieder nahegelegt worden. Anfänglich sah Heinrich darin eine eher entbehrliche Pflicht, aber im Laufe des Studiums erwies sich das Aufschreiben mehr und mehr als kostbare Grundlage seines Wissenserwerbs, besonders bei Exkursionen. Denn während solcher archäologischer Erfahrungen »im Feld« war am meisten für das eigene Wissen zu profitieren, wenn der Professor direkt an den Fundorten dozierte. Skizzen, Fachbegriffe, Thesen – Heinrich liebt seine Notizbücher, auf die er immer wieder gerne zurückgreift. Auch die Vorlesungen selbst finden schließlich Eingang in diese Büchlein, etwa jene über »Die Latènezeit« und »Haustiere und Kulturpflanzen der Vorzeit«, die er bei Professor Oswald Menghin1 hört, der nun wieder an der 1

Oswald Menghin (1888–1973), Prähistoriker, Unterrichtsminister im Kabinett Arthur Seyß-Inquart und in der anschließenden Landesregierung von März bis Mai 1938; s. Karl Kromer, Menghin, Oswald. In: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 75f. – Menghin hat als Unterrichtsminister alle jüdischen Professoren und Professorinnen sowie Studierenden unter Anwendung der Nürnberger Rassengesetze entlassen – einer der für die Universitäten Österreichs schwerwiegendsten und

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Universität lehrt, nachdem er vor einem Jahr noch Unterrichtsminister im Kabinett Seyß-Inquart war.2 Besonderen Gewinn zieht Heinrich aus der speziellen Lehrveranstaltung »Referate und Diskussionen für Fortgeschrittene«, wie sein Notizbuch belegt. Bei dessen Durchsicht stößt er auf »Die Hallstattzeit«, eine Vorlesung, die er bereits am Anfang seines Doktoratsstudiums im Studienjahr 1936/37 belegt hatte, als sich Professor Menghin nach seinem Rektorat wieder verstärkt mit seiner Lehrtätigkeit befasste. Heinrichs Notizen dokumentieren seine persönlich-fachliche Entwicklung, auf die er stolz zurückblickt, aber gleichzeitig stellt sich ihm die Frage, ob er seinen Forschungsschwerpunkt nicht doch stärker der Germanischen Altertumsforschung zuwenden sollte als der

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einschneidendsten Eingriffe. Diese Durchführung stand durchaus im Einklang mit der politischen Weltanschauung Menghins, der in seinem Buch »Geist und Blut. Grundsätzliches um Rasse, Sprache, Kultur und Volkstum« (Wien 1934) die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung (nicht Vernichtung) als Lösung für die sog. »Judenfrage« vorschlug. Vgl. dazu mit Primärliteratur O. H. Urban, »Er war der Mann zwischen den Fronten«. Oswald Menghin und das Urgeschichtliche Institut der Universität Wien während der Nazizeit. In: Archaeologia Austriaca 80 (1996), S. 1–24. Menghin kam nach dem Krieg auf die Erste Kriegsverbrecherliste und in ein amerikanisches Internierungslager. Er entzog sich seiner Verantwortung durch Flucht nach Argentinien, wo er 1948 an der Universität in Buenos Aires Universitätsprofessor wurde. Er starb dort 1973. Sein Nachfolger Richard Pittioni positionierte das Fach Urgeschichte an der Universität Wien unter Rückbesinnung auf die Pionier- und Gründerzeit des Faches unter dem ersten Ordinarius Moritz Hoernes neu; s. dazu Otto H. Urban, Pittioni, Richard. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. 23. Bd., Berlin, New York 22003, S. 202–204; Ina Friedmann, Der Prähistoriker Richard Pittioni (1906–1985) zwischen 1938 und 1945 unter Einbeziehung der Jahre des Austrofaschismus und der beginnenden Zweiten Republik. In: Archaeologia Austriaca 95 (2011), S. 7–99. Arthur Seyß-Inquart (1892–1946) wurde am 11. März 1938 von Bundespräsident Miklas nach dem Rücktritt Schuschniggs zum österreichischen Bundeskanzler ernannt; nach dem Beschluss des sog. Anschlussgesetzes wurde Seyß-Inquart von Hitler als Reichsstatthalter eingesetzt und stand der österreichischen Landesregierung vor. In der Folge führte er die Beschlagnahmung jüdischen Eigentums durch und war ab 1940 Reichskommissar der besetzten Niederlande. In den Nürnberger Prozessen wurde er als Hauptkriegsverbrecher verurteilt und 1946 hingerichtet; s. D. A. Binder, Seyss-Inquart, Arthur. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 12 (2002), S. 213f.

Heinrich, Student der Urgeschichte auf Exkursion

Abb. 1: Urgeschichtliches Institut der Universität Wien. Studiensammlung 1913–1942/45: Detail aus dem Hallstattzimmer (nach: Urania. Wochenschrift für Volksbildung VI. Jahrgang, Nr. 37 [1913], S. 603, Abb. 4)

Bronze- und Hallstattzeit. Auf jeden Fall möchte er sich in Zukunft der Vorgeschichtsforschung widmen. Heinrich hat den »Anschluss« wie viele andere auch mit Begeisterung erlebt, die politischen und besonders die organisatorischen Veränderungen beobachtet er jedoch eher mit steigendem Unbehagen. Mühsam ist es jedenfalls geworden, denkt er sich. Studenten sind nun verpflichtet, nicht nur einen Meldeschein abzugeben und beim Betreten des Institutes einen Zulassungsschein vorzuweisen, sondern zusätzlich einen Abstammungsnachweis zu erbringen. Auch die Organisation des Studiums hat sich geändert: Die bisherige Studienordnung ist an die reichsdeutsche Studienordnung angepasst worden, und es gibt neue Fest- bzw. Gedenktage, wie den Tag der Rückkehr ins Reich, den Geburtstag des Führers, die Langemarck- und 1. Mai-Feiern. Obwohl Heinrich nichts gegen zusätzliche freie Tage einzuwenden hat, verspürt er als Katholik eine abgrundtiefe Abneigung dagegen, diese politisch zu instrumentalisieren. Auch die am 17. Mai 1939 durchgeführte Volkszählung, in der nicht nur die Konfession, sondern entsprechend den Nürnberger Rassengesetzen auch die Abstammung abgefragt wurde, gibt ihm zu denken.

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Und vor einem Jahr, als Professor Menghin noch Unterrichtsminister war, sind die jüdischen Studenten und Professoren aus der Universität ausgeschlossen worden. Auch Heinrich hat einige Freunde gehabt, welche die Universität und Wien verlassen mussten, aber er hatte wegen der linientreuen Gesinnung des Professors Angst, das im Institut laut zu sagen. Just nach diesem »historischen« Tag teilt Professor Menghin seinen Studentinnen und Studenten mit, dass er am Freitag, dem 26. Mai, eine Exkursion auf den Michelsberg bei Haselbach und am nächsten Tag auf den Oberleiserberg bei Ernstbrunn plane, und daran dürften ausschließlich erfahrene Studenten wie Heinrich, Eva und der Seniorstudent Albert teilnehmen. Auch Menghins ehemaliger langjähriger Assistent Leonhard Franz,3 nun Professor an der Deutschen Karls-Universität Prag, werde sich ihnen anschließen. Heinrich konzentriert sich blätternd auf seine Mitschriften. Diese Exkursion wird ihm wohl lange im Gedächtnis bleiben, sinniert er, zumal er erstmals in den Kreis der Gelehrten aufgenommen wird. Am Abend des ersten Exkursionstages, so kündigt Menghin außerdem an, werde Dr. Herbert von Mitscha-Märheim4 zu ihnen stoßen. Auch Hermann, ein außerordentlicher Hörer, der vom Berliner Professor Hans Reinerth,5 dem Führer des Reichsbundes für Deutsche Vorgeschichte, kommt, darf an der Exkursion teilnehmen. Heinrich 3 4 5

Leonhard Franz (1895–1974), 1927 habilitiert bei Oswald Menghin, seit 1929 Extraordinariat an der Deutschen Karls-Universität Prag, 1936 Ordinarius, wechselte 1939 nach Leipzig, wo er ein gut ausgestattetes Seminar vorfand. Seit 1942 lehrte er bis 1967 an der Universität Innsbruck. Herbert von Mitscha-Märheim (1900–1976), promoviert 1922, ab 1924 im NÖ. Landesmuseum; übernahm 1927 das väterliche Gut; 1951 Habilitation an der Universität Wien; er baute nach dem Zweiten Weltkrieg die Frühgeschichtsforschung an der Universität Wien auf. Hans Reinerth (1900–1990), Prähistoriker. S. Gunter Schöbel, Hans Reinerth. Forscher – NS-Funktionär – Museumsleiter. In: Achim Leube, Morton Hegewisch (Hgg.), Prähistorie und Nationalsozialismus. Heidelberg 2002 (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 2) S. 321–396; Helmut Maurer, Nachruf auf Hans Reinerth. In: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 109 (1991), S. V–X.

Heinrich, Student der Urgeschichte auf Exkursion

Abb. 2: Lehrbehelfe aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Fototafeln und Glasplattendias (Foto: Gabriele Gattinger, Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie, Universität Wien)

hat gehört, dass Menghin Hermann als wissenschaftliche Hilfskraft für die Inventarisierung der Studiensammlung am Wiener Institut einstellen möchte. Bereits am Vortag ist Heinrich Professor Menghin behilflich, den er zum Franz-Josephs-Bahnhof begleitet, wo sie Professor Leonhard Franz abholen, der aus Prag anreist und dessen Koffer Heinrich trägt. Im nahe gelegenen Gasthaus lauscht Heinrich bei Gulasch und Bier den beiden Professoren: Menghin erzählt von seinen Verordnungen zur Durchführung des Muttertages, die er im Vorjahr als Unterrichtsminister erließ,6 und klagt über die ab kommenden Herbst einzuführenden Trimester an der Universität, zumal er befürchtet, dass die dadurch nötigen Mehrleistungen wohl kaum finanziell abgegolten werden würden. Das erinnert Heinrich daran, dass er noch die nötigen Unterlagen für eine Hochschulförderung durch das Reichsstu6

Zu Menghin als Minister s. Otto H. Urban, Kabinett Seyß-Inquart, s. http:// sciencev1.orf.at/science/urban/7901.

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dentenwerk der Ostmark zusammenstellen muss, über die ihn Professor Menghin informiert hat. Am Freitag, dem 26. Mai 1939, ist es dann endlich so weit! Die Exkursionsteilnehmer treffen einander in der Früh beim Praterstern am Nordbahnhof. Heinrich, der am Michelsberg erste Ergebnisse seiner Dissertation präsentieren soll, ist schon ein wenig nervös. Wie werden die beiden Professoren und seine Studienkollegen auf seinen Vortrag reagieren? Während der Bahnfahrt lässt Professor Franz mit Humor seine Studien- und Assistentenzeit bei seinen Doktorvätern Rudolf Much7 und Oswald Menghin Revue passieren: Wie war der Unterricht doch einmal umständlich gewesen, darüber lässt sich der Professor (wie es so seine Art ist) langatmig aus. Sie holten einst jedes Mal aus den Schubladen Fototafeln hervor, die nach Hauptperioden geordnet waren, damit sich die Studenten ein Bild machen konnten. Heute hingegen seien ohnedies nur noch moderne Glasplattendias im Einsatz! Obwohl sich Heinrich sicher ist, dass er die Typentafeln auch schon einmal in einer seiner Lehrveranstaltungen zu Gesicht bekommen hat, schüttelt er gemeinsam mit den anderen verblüfft den Kopf. Während sie durch Korneuburg fahren und Ausschau nach Hochwasserschäden halten, berichtet Professor Franz von seinen Auslandssemestern 1920 und 1921 an der Hochschule Göteborg in Schweden, und er empfiehlt solche Auslandsaufenthalte den Studenten ausdrücklich. Heinrich denkt lächelnd an seine eigenen Auslandspläne und hört nur halb zu, während Professor Franz vom »nordischen Neolithikum« erzählt, das ihn – in Wien zurück – wieder eingeholt habe, denn hunderte von Flintbeilen aus dem nordischen Raum warten seit der Übergabe der Sammlung Much8 in der Studiensammlung des Instituts auf ihre Bestimmung. Er bereue es nicht, zumal die de7 8

Rudolf Much (1862–1936), Germanist, Philologe, Sohn des Denkmalpflegers Matthäus Much. S. Rudolf Simek, Much, Rudolf. In: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 250f. S. http://ufgsammlung.univie.ac.at/kataloge/kataloge-mit-freiem-zugang/ sammlung-much/.

Heinrich, Student der Urgeschichte auf Exkursion

zidierte Beschäftigung mit der nordisch-germanischen Kultur Hauptmerkmal der gegenwärtigen reichsdeutschen Forschung9 sei. Endlich werde die kulturelle Bedeutung des Nordens in der deutschen Vorgeschichte richtig und unvoreingenommen eingeschätzt, fügt er hinzu, denn schon Matthäus Much10 habe, entgegen der historischen Auffassung des ex oriente lux,11 von der »Trugspiegelung orientalischer Kultur in den vorgeschichtlichen Zeitaltern Nord- und Mitteleuropas«12 gesprochen. Heinrich blättert sofort in seinem Notizbuch, denn dieses Werk hat er ausführlich exzerpiert. Schließlich kommt der Zug in Stockerau an, und weiter geht es zu Fuß über Leitzersdorf nach Haselbach. Zum Glück haben alle gutes Schuhwerk, das ihnen die Tour bei den aufgeweichten Wegen erleichtert, und alle – bis auf Eva – auch Stutzen und Kniebundhosen. Schon nach wenigen Kilometern erkennt Heinrich in der Ferne die Michaelskapelle auf der Kuppe des dicht bewaldeten Michelsberges. Doch davor treffen sie am Ortseingang von Haselbach noch den bekannten »Sammler« Ladislaus, der archäologische Funde aus der Gegend besitzt. Nach einem kräftigen Stärkungsschluck aus Alberts Flachmann geben Heinrich und seine Studienkollegen beim Bestimmen und zeitlichen Ordnen der Funde des Sammlers Ladislaus ihr Bestes. Heinrich kommt richtig ins Schwitzen, denn er weiß, dass dies eine einmalige Chance ist, beim Professor den besten Eindruck zu erwecken. Nach einer Dreiviertelstunde Fußmarsch, auf dem sie am Geburtshaus von Thomas Ebendorfer13 vorbeikommen, an den eine 9

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Satzung von 1937 der Forschungs- und Lehrgemeinschaft »Das Ahnenerbe e.V.«; s. http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/01831/index-0.html.de. Vgl. auch Leonhard Franz, Vorgeschichte und Zeitgeschehen. Leipzig 1938, S. 16 sowie 24f.; Volker Koop, Himmlers Germanenwahn. Die SS-Organisation Ahnenerbe und ihre Verbrechen. Berlin 2012, S. 30–33. Matthäus Much (1832–1909), Denkmalpfleger, Prähistoriker; s. Otto H. Urban, Much, Matthäus J. In: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 249. Alle Kultur der Erde hat ihren historischen Ausgangspunkt im Orient. Matthaeus Much, Die Trugspiegelung orientalischer Kultur in den vorgeschichtlichen Zeitaltern Nord- und Mittel-Europas. Jena 1907. Thomas Ebendorfer, gen. Thomas von Haselbach (1388–1464), Theologe, Ge-

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Inschriftentafel neben einer Toreinfahrt erinnert, erreichen sie die Michaelskapelle auf dem Berg. Der Aufstieg hat sich gelohnt: Der Ausblick ist beeindruckend – die beiden hallstattzeitlichen Großgrabhügel von Niederhollabrunn und Niederfellabrunn sind ja kaum zu übersehen. Alle stehen dann um Heinrich herum, während er kurz und prägnant wiederholt, was die Professoren ihnen bereits im Lehrsaal ausführlich erzählt haben, und er über die von dieser Fundstelle stammenden, bekannten neolithischen Funde in der Studiensammlung des Instituts berichtet. Und er schließt stolz und selbstbewusst mit dem Satz: »Wen das Thema näher interessiert, der kann das hoffentlich schon nächstes Jahr in meiner Dissertation nachlesen!« Sie stehen noch eine Weile herum und diskutieren die Verwallungen auf dem Plateau, die seinerzeit Ebendorfer an das Kolosseum in Rom erinnerten. Solche Vergleiche sind fünfhundert Jahre nach dessen Wirken zwar überholt, aber sie werden erwähnt, weil man sich gerne auf den Humanismus beruft, fällt Heinrich ein. Auf dem Weg zum Hubertushof, dem Berggasthaus am Michelsberg, sind sie alle etwas schweigsamer, jeder ist schon hungrig. Nur Professor Franz verweist im Gehen auf seinen neuen Beitrag14 über »heidnische Wotanstätten«, die im Mittelalter »durch Errichtung von Michaelskirchen verchristisiert« worden seien. Nach dem Mittagessen machen sie sich an den Abstieg, um rechtzeitig bei der Haltestelle in Haselbach zu sein und mit dem ehemaligen Postbus, der nun von der Reichsomnibusverkehrsgesellschaft betrieben wird, nach Ernstbrunn und von dort weiter nach Niederleis zu fahren, wo sie Dr. von Mitscha-Märheim treffen wollen. Beim

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schichtsschreiber; s. Alphons Lhotsky, Thomas Ebendorfer. Ein österreichischer Geschichtsschreiber, Theologe und Diplomat des 15. Jahrhunderts. Stuttgart 1957 (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 15); Alphons Lhotsky, Ebendorfer, Thomas. In: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 223f. Leonhard Franz, Michaelsberge und Michaelskirchen. In: Germanenerbe. Monatsschrift für deutsche Vorgeschichte. Amtliches Organ des Reichsbundes für Deutsche Vorgeschichte und der Hauptstelle Vorgeschichte des Beauftragten des Führers für die Gesamte Geistige und Weltanschauliche Schulung und Erziehung der NSDAP 2 (1937), S. 194–199.

Heinrich, Student der Urgeschichte auf Exkursion

Abb. 3: Oberleiserberg. Freilegung des Präsidiumsbaues im Jahre 1926. Hinten links am Grabungsrand in Kniebundhosen stehend Herbert von Mitscha-Märheim (Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie der Universität Wien, Fotoarchiv)

Abendessen in der altbekannten Gaststätte Hess15 in Niederleis erzählt dieser der Exkursionsgruppe über spektakuläre neue Funde, und Professor Menghin berichtet, wiewohl ganz auf das Essen konzentriert, dass im heurigen Jahr die Ausgrabungen in Carnuntum wieder begonnen hätten. Er weiß, dass in Petronell gerade Grabungsbaracken errichtet werden und etwa 60 Arbeiter bei den Ausgrabungen tätig sind. Er bezieht sich auf einen einzigen Satz des Führers – »Carnuntum wird ausgegraben« –, der offensichtlich alles ermöglicht hat!16 15 16

Heute Restaurant Haselbauer – »Zum goldenen Adler«. Manfred Kandler, Unter fremdem Namen. Die Jahre 1938–1945. In: 100 Jahre Österreichisches Archäologisches Institut 1898–1998. Sonderschriften des Österreichischen Archäologischen Instituts 31 (1998) bes. 53–57; Manfred Kandler, Guido List, Adolf Hitler und Carnuntum. In: Forum Archaeologiae 14/III (2000) (http:// farch.net bzw http://homepage.univie.ac.at/elisabeth.trinkl/forum/forum0300/14kand. htm).

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Und besonders lobt er auch die Ausstellung »Berge, Menschen und Wirtschaft der Ostmark«,17 die gerade heute im Beisein von vielen wichtigen Männern in Berlin eröffnet wird. Das würde auch Heinrich brennend interessieren! Menghin fügt hinzu, dass er diesen offiziellen Verpflichtungen zum Glück nicht mehr nachkommen müsse, aber als Professor der Sache mehr dienen könne als direkt in der Politik.18 Die Nacht bringen sie im schönsten Gebäude von Niederleis zu, einem Renaissance-Wasserschloss aus dem 16. Jahrhundert, allerdings nicht ohne vorher noch das eine oder andere Gläschen Wein zu trinken und sich dabei in tiefgründige, fachliche Diskussionen zu verstricken. Am nächsten Tag bricht die Exkursionstruppe früh auf und erreicht über einen Feldweg Oberleis, wo sie den Tischlermeister Anton aus der Ortschaft Klement treffen, der einen Acker auf dem Oberleiserberg besitzt und dort beim Pflügen immer wieder auf interessante Funde stößt. Und weiter geht es über ein Plateau mit Ringwallanlage. Heinrich lauscht den Ausführungen von MitschaMärheim. Er lächelt in sich hinein – trotz des trüben Tages und seiner Müdigkeit: Mit dem Ausgräber über die Fundstellen zu gehen, ist schon etwas ganz Besonderes. Die diesmal leider an Ort und Stelle flüchtig gebliebenen Einträge in sein Notizbuch wird er erst am nächsten Tag ausführlich ergänzen, an dem er auch die Unterlagen für eine Hochschulförderung im Reichsstudentenwerk der Ostmark zusammenstellen will. Neun Jahre später hatte er sein Ziel erreicht, er hatte seine Dissertation abgeschlossen und eine Stelle an der Universität Wien erhalten. Er war glücklich, in der großen Sammlung des Instituts Funde zu studieren und Ausgrabungen durchführen zu können. Endlich wurde 17 18

Das Kleine Blatt, 27. Mai 1939, S. 6. Ähnlich formulierte dies Menghin bereits bei seinem Rücktrittsansuchen als Minister an Seyß-Inquart, vgl. dazu Otto H. Urban, »... und der deutschnationale Antisemit Dr. Matthäus Much« – der Nestor der Urgeschichte Österreichs? Mit einem Anhang zur Urgeschichte in Wien während der NS-Zeit. 2. Teil. In: Archaeologia Austriaca 86 (2002), S. 24 mit Anm. 81.

Heinrich, Student der Urgeschichte auf Exkursion

unter dem neuen Leiter Professor Pittioni wieder versucht, sachlich und nicht unter rassistischen Vorgaben zu forschen. Heinrich hatte realisiert, welche Verbrechen die Nazis begangen hatten. Nicht nur dass Professor Menghin verantwortlich für die Vertreibung der jüdischen Studierenden und die Entlassung der jüdischen Professorinnen und Professoren zeichnete, war er auch an einer Ausgrabung eines bronzezeitlichen Gräberfeldes, welches mit Häftlingen des Konzentrationslagers Gusen durchgeführt wurde, beteiligt. 1947 hat sich Menghin der Verantwortung entzogen und floh nach Argentinien. Heinrich gestand sich inzwischen ein, dass er zu lange nicht wahrhaben wollte, dass die Ideologie der Nationalsozialisten auch verhängnisvoll für das Fach war. Weiterführende Literatur: Ernst Lauermann, Elisabeth Rammer, Norbert Weigl, Der Michelsberg und seine Kirchen. Archäologische Grabungen der NÖ Landesarchäologie 2010/2011 (Vorbericht). In: Archäologie Österreichs 23/1 (2012), S. 43–50. Alois Stuppner, Rund um den Oberleiserberg. Ernstbrunn 2006. Otto H. Urban, »Er war der Mann zwischen den Fronten«. Oswald Menghin und das Urgeschichtliche Institut der Universität Wien während der Nazizeit. In: Archaeologia Austriaca 80 (1996), S. 1–24. Otto H. Urban, »... und der deutschnationale Antisemit Dr. Matthäus Much« – der Nestor der Urgeschichte Österreichs? Mit einem Anhang zur Urgeschichte in Wien während der NS-Zeit. 2. Teil. In: Archaeologia Austriaca 86 (2002), S. 7–43. Otto H. Urban, Die Urgeschichte an der Universität Wien vor, während und nach der NS-Zeit. In: Mitchell Ash u. a. (Hgg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien. Göttingen 2010, S. 371–395. Herbert von Mitscha-Märheim, Der Oberleiserberg und seine Bedeutung im Laufe der Jahrtausende. Ergebnisse der Ausgrabungen. Ebendorf 1937.

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Wilhelms ideologische Lehrjahre an der Wiener Universität

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Herbert Nikitsch

Wilhelm ist enttäuscht. Und er ärgert sich. Auch über sich selbst. Da hat er doch wirklich geglaubt, dass er nach diesem als Flak-Helfer glücklich überstandenen letzten Kriegsjahr nun so ganz einfach anfangen kann zu studieren! Und so hat er nach der Wiedereröffnung der Universität1 den Weg in die Universitätsstraße gemacht, in dieses »Institut für germanisch-deutsche Volkskunde«, von dem sein Bruder so begeistert erzählt hatte – sein großer Bruder, der, bevor er für Führer, Volk und Vaterland an die Front abkommandiert worden ist, an diesem 1942 gegründeten Institut2 Vorlesungen über Brauchtum, über Volkstanz, über Volksschauspiel hörte, über all das also, was ihn (und auch Wilhelm) damals so sehr faszinierte. Wilhelm hat erst gar nicht in die paar hektographierten Blätter mit dem Vorlesungsangebot für dieses erste Nachkriegssemester geschaut – ein Fehler, denn 1

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Die Universität Wien wurde am 2. Mai 1945 wiedereröffnet, nachdem am 20. ­April der Akademische Senat für das Studienjahr 1945/46 gewählt worden war. Rektor wurde der Jurist Ludwig Adamovich, vor 1938 Justizminister der Regierung Schuschnigg. Das erste Nachkriegssemester dauerte von 28. Mai bis 14. Juli 1945. Während der NS-Herrschaft wurden insgesamt neun Institute an der Universität Wien neu eingerichtet; einige davon blieben auch nach 1945 bestehen, z. B. das »Institut für Zeitungswissenschaft« (heute »Institut für Publizistik«) oder das »Institut für Theaterwissenschaft« (heute »Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft«).

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sonst hätte er gleich gemerkt, dass er das Fach seiner Wahl, nämlich Volkskunde,3 gar nicht studieren kann! Dass es das Institut gar nicht mehr gibt, dass die gutbürgerliche Wohnung in der Universitätsstraße 10, in der es seit 1942 eingerichtet war, seit einigen Wochen leer steht! So verlässt er dieses Haus unverrichteter Dinge und geht wieder die Universitätsstraße entlang in Richtung Votivkirche, an dem zerbombten Häuserkomplex vorbei, wo vor Kurzem noch das Wiener »Korpskommandogebäude« gestanden ist, in dem die Heeresdienststellen der Monarchie, der Ersten Republik und dann des NS-Regimes residiert haben – und wo 15 Jahre später das Neue Institutsgebäude4 stehen wird. Wilhelm ist enttäuscht. Zu gern wäre er auch wissenschaftlich seiner Begeisterung für all die »echten« und »authentischen« Traditionen nachgekommen, die er in seiner frühen Jugend auf den Wanderungen mit den Wandervogelfreunden seines großen Bruders oder bei den Volkstanzkränzchen des Deutschen Schulvereins Südmark5 3

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Das lange Zeit »Volkskunde« genannte Fach hat sich im deutschsprachigen Raum aus staatswissenschaftlich-pragmatischen bzw. national-mythologischen Ansätzen in der Zeit der Aufklärung bzw. der Romantik über eine spätere (vor allem in der Zwischenkriegs- und NS-Zeit) Fokussierung auf idealisiertes ländliches Leben (Tracht, Brauch, Haus und Hof etc.) ab den 1960er-/70er-Jahren zu einer empirischen Alltagskulturwissenschaft gewandelt und firmiert heute an vielen deutschsprachigen Universitäten (so auch an der Universität Wien) als »Europäische Ethnologie«. Das zerstörte »Korpskommandogebäude« wurde Ende der 1950er-Jahre abgerissen. Nachdem das Projekt eines Neubaus für die Universitätsbibliothek nicht zustande gekommen war, wurde stattdessen das Neue Institutsgebäude (NIG) in den Jahren 1960 bis 1962 errichtet. Heute sind hier der Zentrale Informatikdienst, sieben Institute, drei große Hörsäle sowie zahlreiche Serviceeinrichtungen für Studierende untergebracht. Der »Deutsche Schulverein Südmark«, einer jener nationalen Schutzvereine, die in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts unter den Vorzeichen des sich radikalisierenden Nationalitätenkonflikts in der österreichisch-ungarischen Monarchie gegründet worden waren, konzentrierte sich auch nach dem Ersten Weltkrieg auf Schulgründungen in ethnisch gemischten Grenzgebieten, propagierte eine Förderung des ,Volkstums‘ in den Grenz- und Auslandsgebieten und war in seinem politisch-weltanschaulichen Rigorismus Wegbereiter des Nationalsozialismus.

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Abb. 1: Universität Wien, Sommersemester 1938 – Vorlesungsbeginn (Archiv der Universität Wien)

erlebt hat. Und wenn auch der Gedanke an jenes oft beschworene verlorene Paradies einer »bodenständigen« Ursprünglichkeit nach all den bittereren Erfahrungen der letzten Kriegszeit – und spätestens seit jenem Feldpostbrief an seine Familie im Sommer 1944 mit der Nachricht vom »Heldentod« des Bruders – für Wilhelm kaum mehr etwas mit der Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus zu tun hat, so erinnert er sich doch noch gut an die begeisterten Erzählungen des Bruders über den Professor, welcher der kleinen Schar seiner fast gläubig andächtigen Studentinnen und Studenten vom alten Brauchtum und von den germanischen »Männerbünden« vorgetragen hat, in denen dieses Brauchtum und überhaupt das »altgermanische Wesen« bis in die Gegenwart überdauert hätte. Der Professor, der auch gleich im Hörsaal vorgetanzt und gesungen hat und so zwerchfellerschütternd in der Manier eines geborenen Volksschauspielers das »Landvolk« in seiner »bieder-schlauen« Eigenart karikieren konnte. Freilich, allzu oft hat sein Bruder den charismatischen Lehrer nicht erleben können. Schon bald nach der Institutsgründung war

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Abb. 2: »Im Gleichschritt mit der deutschen Studentenschaft«. In: Das Kleine Blatt vom 18. März 1938, Ausschnitt von S. 6 (ANNO / Österreichische Nationalbibliothek)

dieser seinen Verpflichtungen als Leiter einer Abteilung der SS-Forschungsgemeinschaft Ahnenerbe6 Heinrich Himmlers nachgekommen und etwa bei Einsätzen in der Kulturkommission7 im Rahmen

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Die Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e. V. war eine Forschungseinrichtung der SS, die 1935 von Heinrich Himmler, Richard Walther Darré (Reichsbauernführer) und dem niederländischen Privatgelehrten Herman Wirth gegründet worden war. Im Mittelpunkt dieser Institution standen archäologische, anthropologische und historische Interessen; ihre Mitarbeiter waren während des Zweiten Weltkriegs u. a. an systematischem Kunstraub beteiligt. Die »Kulturkommission Südtirol« unterstand dem »Ahnenerbe« der SS und

Wilhelms ideologische Lehrjahre an der Wiener Universität

Abb. 3: 1933 – Aus­ einandersetzung zwischen nationalsozialistischen und wahrscheinlich jüdischen StudentInnen am Anatomischen Institut der Universität Wien in der Währinger Straße: StudentInnen verlassen über Leitern das ­Gebäude (Bildarchiv Austria der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Inv.Nr. E2/451)

der Umsiedlungsaktionen in Südtirol tätig gewesen. Statt seiner musste dann seine Assistentin und einzige Mitarbeiterin den Institutsbetrieb aufrechterhalten. Aber auch davon abgesehen, so hat der Bruder erzählt, war das Studentendasein in diesen Kriegsjahren nicht gerade immer erfreulich. Da waren die kriegsbedingten Behinderungen des Lehrbetriebs. Da war die Zwangsmitgliedschaft in der Deutschen Studentenschaft,8 die nach 1938 in der nunmehrigen »Ost-

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hatte während der im Hitler-Mussolini-Abkommen von 1939 beschlossenen Umsiedlung der deutschen Bevölkerung in Südtirol die Aufgabe der (so die NSDiktion) »Aufnahme und Bearbeitung des gesamten dinglichen und geistigen Kulturgutes der umzusiedelnden Volksdeutschen«. Die »Deutsche Studentenschaft«, der ab 1919 alle Studentenverbindungen der deutschen (und anfangs auch österreichischen) Hochschulen angehörten, war seit 1931 vom nationalsozialistischen »Deutschen Studentenbund« dominiert. In Konkurrenz dazu bestand während des Austrofaschismus in den Jahren 1933 bis 1938 die »Hochschülerschaft Österreichs«; dann war die Mitgliedschaft in

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mark« auch bei den Studierenden für die »Gleichschaltung« der Universitäten sorgte und nun endgültig Schluss machte mit allen früheren Versuchen des Schuschnigg-Regimes, die nationalsozialistischen Umtriebe in die Schranken zu weisen. Damals hatte es sogar einen ministeriell eingesetzten Sachwalter gegeben, der die Studierenden ideologisch im Sinne des »Ständestaates« bestärken sollte, und zudem war in Übergehung der Hochschulautonomie eine »Hochschulwache«, also eine Polizeiwachstube auf dem Boden der Universität, eingeführt worden – eine Maßnahme, zu der man sich angesichts schwerer Übergriffe randalierender Studenten schon 1933/34 genötigt gesehen hatte. Und noch etwas hat dem Bruder die kurze Zeit seines Studiums getrübt: die Tatsache, dass viele seiner Kollegen und Freunde bald nicht mehr an der Universität zu sehen waren – teils weil sie eingezogen, teils weil sie als »jüdisch« vom Studium ausgeschlossen9 worden waren. Daheim blättert Wilhelm nun doch das Vorlesungsverzeichnis durch, und da sieht er, dass darin keine einzige einschlägig »volkskundliche« Vorlesung10 angeführt ist. Er muss sich also für ein anderes Fach entscheiden – und weil seine Interessen ja zunächst auf die Vergangenheit hin ausgerichtet sind, beschließt er, Geschichte zu studieren. Schließlich ist sein knapp vor der Pensionierung ste-

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der nunmehr völlig gleichgeschalteten »Deutschen Studentenschaft« verpflichtend. Die Studentenzahlen nahmen von 9.180 im Wintersemester 1937/38 auf 5.331 im Wintersemester 1938/39 ab. Insgesamt wurden 23 Prozent aller im Studienjahr 1937/38 Studierenden vertrieben. Spätestens nach dem Pogrom am 11. November 1938 (sog. »Reichskristallnacht«) wurden alle jüdischen Studenten von den Universitäten in der »Ostmark« und im »Altreich« ausgeschlossen. Solche Lehrveranstaltungen wurden erst ab 1947, allerdings im Rahmen anderer Disziplinen, der Germanistik oder der Urgeschichte, wieder angeboten. 1947 hatte Leopold Schmidt, der spätere langjährige Direktor des »Österreichischen Museums für Volkskunde«, die venia legendi für »Volkskunde« erhalten, und ab diesem Jahr konnte dieser bis zur Wiedererrichtung eines Instituts bzw. einer Lehrkanzel auch einige Dissertationen (allerdings ebenfalls nur im Rahmen anderer Fächer) betreuen.

Wilhelms ideologische Lehrjahre an der Wiener Universität

hender Vater sein Leben lang Mittelschullehrer gewesen und hat von diesem Beruf stets mit Freude gesprochen. Also inskribiert Wilhelm Geschichte und dazu im Nebenfach Geographie. Das Historische Institut im Hauptgebäude gibt es ja im Gegensatz zum Volkskundeinstitut nach wie vor, und auch das legendäre Institut für Österreichische Geschichtsforschung11 – wenn auch, wie in anderen Fächern, alle dort vor 1945 Tätigen eifrige Anhänger des Regimes gewesen sind. Aber diese Professoren und Dozenten haben jetzt die Universität verlassen müssen und kehrten später auch nicht wieder auf ihre Posten zurück – was nicht selbstverständlich war, denn durch die schon ab 1947 einsetzende Amnestie ehemaliger Nationalsozialisten12 kamen an der Universität Wien sehr viele recht bald wieder zu Amt und Würden. Und auch von den unbelasteten (Geschichts-)Wissenschaftlern ist die jüngste österreichische Vergangenheit lange nicht aufgearbeitet13 worden. Aber das kümmert Wilhelm anfangs weniger. Er hat zunächst ­andere Sorgen, denn sein Studentenleben stellt ihn vor ganz unmittelbare, handfeste Probleme. Am wenigsten stört ihn der »Räumungseinsatz«, der von den ersten Nachkriegsfunktionären der Studen­tenschaft organisiert wird und den er wie jede/r andere Student/in auch als inoffizielle Voraussetzung für die Inskription leisten muss. Dass erst einmal wenigstens notdürftig die gröbsten durch die Kriegsschäden verursachten Hindernisse für den Universitätsbetrieb 11

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Das 1854 gegründete Institut für Österreichische Geschichtsforschung ist eine Forschungs- und Ausbildungsstätte für Methodenlehre und Pflege der historischen Hilfswissenschaften. Es ist im Hauptgebäude der Universität Wien am Ring untergebracht und eine nachgeordnete Dienststelle des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft, die personell dem Institut für Geschichte der Universität Wien eng verbunden ist. Von den rund 70 Prozent der Professoren an der Philosophischen Fakultät, die ab Wintersemester 1945 ihrer Ämter enthoben wurden, waren bereits im Semester 1949/50 weit mehr als die Hälfte wieder in ihren alten Positionen. Die Rolle, die viele Historiker (wie auch andere Wissenschaftler) während der NS-Zeit gespielt hatten, wurde erst im Gefolge der Borodajkewycz-Affäre Mitte der 60er Jahre allmählich thematisiert. S. dazu auch den Beitrag von Gerhard Langer in diesem Band.

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Abb. 4: Die stark beschädigte Philosophenstiege, 1945 (Archiv der Universität Wien)

beseitigt werden müssen, ist ihm klar. Und so arbeitet er auch mehr als die vorgeschriebenen zehn Stunden14 mit und hilft beim Ausräumen der Unmengen Stroh, die von den russischen Truppen zurückgelassen worden sind, welche die Aula des Hauptgebäudes im April 1945 als Pferdestall benützt haben, oder beim Wegräumen der unzähligen Schutthaufen in den Gängen der Universität, die sogar noch in den letzten Kriegswochen von Bomben getroffen wurde. Bei all diesen Aktivitäten lernt er, der sein deutschnationales ­Elternhaus nie grundsätzlich in Frage gestellt hat, Menschen mit ganz anderen Einstellungen und auch einer ganz anderen Geschichte kennen. So trifft er etwa auf die Begründer der ersten demokratischen 14

Ehemalige Angehörige der NSDAP oder von NS-Wehrverbänden hatten 30 Stunden Räumungsdienst zu leisten. Alle Studierenden hatten vor ihrer Zulassung einer Überprüfungskommission ihre politische Zuverlässigkeit nachzuweisen – wobei die Pikanterie nicht verschwiegen sein soll, dass mit dem Musikwissenschaftler Erich Schenk auch ein unverbesserlicher NS-Sympathisant für die Säuberung der Hochschülerschaft von NS-belasteten Hörern mitverantwortlich war.

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Organisationen der Studentenschaft,15 die schon während der NSHerrschaft in der »Katholischen Studentenseelsorge« um den Priester Karl Strobl aktiv und Teil der österreichischen Widerstandsbewegung gewesen waren und nun – in materieller wie geistiger Hinsicht – aktiv beim Wiederaufbau der Universität mitwirken. Da hat also Wilhelm, noch bevor er den ersten Schritt in einen Hörsaal gemacht hat, vielleicht mehr und Wichtigeres gelernt als später während der obligaten acht Semester Studium16 – nicht nur für sein Fach Geschichte, sondern auch für seine künftige Tätigkeit als Lehrer. Er hat gelernt, mit anderen Augen auf die Welt zu sehen. Er merkt auch, was da alles nach 1945 aus früherer Indoktrination in den Köpfen der Menschen zurückgeblieben ist – und so engagiert er sich bald nicht nur für eine offene und demokratischere Universität,17 sondern arbeitet später dann auch in dem 1963 gegründeten »Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes« mit. Ansonsten geht es aber mit dem Studieren nicht immer so voran, wie er es gern gehabt hätte. Seine Eltern können ihn kaum unterstützen, und auch wenn die Studiengebühren18 keine allzu große finanzielle Belas15

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Dazu gehörten etwa Kurt Schubert, später erster Ordinarius für Judaistik, oder Erika Weinzierl, 1979 bis 1995 Ordinaria am Institut für Zeitgeschichte. S. dazu auch den Beitrag von Gerhard Langer in diesem Band. Nach der damaligen, bis zum Allgemeinen Hochschul-Studiengesetz des Jahres 1966 geltenden Studienordnung an der Philosophischen Fakultät schloss man das Studium nach 8 Semestern (meist ohne Pflichtlehrveranstaltungen!) und der Abgabe einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit als »Dr. phil.« ab. 1970 wurde mit dem damaligen »Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung« unter Hertha Firnberg erstmals für die Universitäten ein eigenes Ministerium geschaffen – ein Signal für die von Bruno Kreisky im Wahlkampf angekündigte Modernisierung des Landes. Mit dem Universitäts-Organisations­ gesetz 1975 sollten die Universitäten demokratisiert werden, indem in den Universitätsgremien die Drittelparität zwischen Professoren, Mittelbau und Studenten festgeschrieben wurde. S. dazu auch den Beitrag von Fritz Blakolmer und Hubert Szemethy in diesem Band. In der »Allgemeine[n] Studienordnung für die wissenschaftlichen Hochschulen« vom 27. September 1945 sind verschiedene Arten von zu entrichtenden Gebühren genannt, u. a. Matrikeltaxen und Kollegiengelder. Das Kolleggeld betrug beispielsweise 1945 1 Schilling pro Wochenstunde und Semester und 1953 4 Schilling. Ebenfalls 1953 betrug die Rigorosentaxe 100, die Taxe für die Begutachtung

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tung darstellen – insgesamt kostet Studieren mit all den Skripten und anderen Unterlagen doch recht viel; und weil ein Studienbeihilfengesetz erst 1963 erlassen werden wird, ist Wilhelm gezwungen, sich wie ein gutes Drittel aller seiner Kolleginnen und Kollegen als »Werkstudent« durchzuschlagen.

Zwanzig Jahre später: Wilhelm unterrichtet nun schon lange Zeit in einem Gymnasium, und er hat, auch was seinen ersten Studienwunsch anlangt, nach all seinen Erfahrungen schon längst seine früheren »volkskundlich-bodenständigen« Vorstellungen von »Sitte & Brauch« für sich revidiert – auch unter dem Eindruck neuerer kulturwissenschaftlicher Literatur aus Deutschland, in der die einschlägigen Thematiken unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten diskutiert und relativiert werden und beispielsweise statt von »Dorfgemeinschaft« von »sozialer Kontrolle« die Rede ist. Was ihn aber nach wie vor beschäftigt und was auch im Mittelpunkt des modernisierten Faches steht, das ist das Alltagsleben, ist die alltägliche Kultur der Menschen. Und so hört er mit großem Interesse Mitte der 60er-Jahre von der Neugründung eines Instituts für Volkskunde an der Wiener Universität. Doch wieder wird er enttäuscht, als er einen Blick in das Vorlesungsverzeichnis wirft, das nunmehr als stattliche Broschüre jedes Semester erscheint. Denn wer leitet dieses neue Volkskunde-Institut? Wieder jener Professor, bei dem schon sein Bruder studiert hat und der nun abermals das Fach in Wien repräsentiert: mit gleichem Inhalt, aus gleicher Perspektive, nur weltanschaulich ein wenig verbrämt und »verösterreichert« – wie es eben dem »Rückbruch« in der Zweiten Republik auch in der Wissenschaft entspricht. Es soll noch einige Zeit dauern, bis auch hierzulande in diesem Fach (und generell) ein neuer Wind weht. Aber da ist Wilhelm schon in Pension.

einer Dissertation 140 und die Promotionstaxe 175 Schilling. – Zur ungefähren Veranschaulichung: 1950 entsprach 1 Schilling etwa 60 Cent; kosteten beispielsweise 1 kg Brot 2,50 Schilling und 1 Paar Schuhe 150 Schilling.

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Weiterführende Literatur: Franz Gall, Alma Mater Rudolphina 1365–1965. Die Wiener Universität und ihre Studenten. Wien 1965. Margarete Grandner, Gernot Heiss, Oliver Rathkolb (Hgg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955. Innsbruck u. a. 2005 (Querschnitte 19). Andreas Huber, Studenten im Schatten der NS-Zeit. Entnazifizierung und politische Unruhen an der Universität Wien 1945–1950. Wien univ. Diplomarbeit 2009. Reinhard Johler u. a. (Hgg.), Südtirol im Auge der Ethnographen. Wien, Lana 1991. Michael H. Kater, Das »Ahnenerbe« der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches. München 42006 [1974] (Studien zur Zeitgeschichte 6). Albert Massiczek, Die Situation an der Universität Wien März/April 1938. In: Felix Czeike (Hg.), Wien 1938. Wien 1978 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 2), S. 216–229. Oliver Rathkolb, Die Kreisky-Ära 1970–1983. In: Rolf Steininger, Michael Gehler (Hgg.), Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Wien, Köln, Weimar 1997 (Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden 2), S. 305–353. Kurt Schubert, Die Wiedereröffnung der Universität Wien im Mai 1945. Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe »625 Jahre Universität Wien« am 10. Mai 1990 im Kleinen Festsaal der Universität Wien. Wien 1991 (Wiener Universitätsreden Neue Folge 1). Eduard G. Staudinger, Vereine als Träger des Anschlußgedankens. In: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 80 (1989), S. 257–275. Gerhard Wagner, Von der Hochschülerschaft Österreichs zur Österreichischen Hochschülerschaft. Kontinuitäten und Brüche. Wien univ. Diplomarbeit 2010.

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Erika, Studentin der Orientalistik und Judaistik

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Gerhard Langer

Die Frustration, dass es 20 Jahre nach dem Ende des Hitlerregimes, noch im März 1965, so viele von denen gibt, die für einen Professor auf die Straße gehen, der sich mit Stolz darauf beruft, in die NSDAP eingetreten zu sein, macht Erika wütend, aber sie frisst diese Wut in sich hinein, als das Transparent mit »Hoch Auschwitz« vor ihren Augen vorbeizieht. Aug in Aug stehen sich die Lager gegenüber, hier die Antifaschisten, dort die Anhänger von Borodajkewycz.1 Andere aus ihrem Bekanntenkreis bleiben weniger ruhig, geben ihrer Wut Raum. Sie wird immer die Ruhige bleiben, die Intellektuelle, die mit Worten wie mit einem Messer schneiden, mit Argumenten sezieren kann. Zu Hause liegen die »Volksstimme« und »Weg und Ziel«, die »Monatsschrift für Theorie und Praxis des Marxismus-Leninismus«. Sie liest darin ein paar Tage später einen Nachruf auf einen, der mit ihr marschiert war, mit im Zug der Antifaschisten, gestorben 1

Am 31. März 1965 gab es eine große Demonstration gegen Taras Borodajke­wycz (1902–1984), Professor für Wirtschaftsgeschichte, dessen wiederholt geäußerte antisemitische und den Nationalsozialismus verteidigende Aussagen in den Vorlesungen u. a. von Ferdinand Lacina, dem späteren Finanzminister, dokumentiert worden waren. Dieser von linken Studierenden, ehemaligen Widerstandskämpfern und Gewerkschaften organisierten Demonstration stand eine vom Ring Freiheitlicher Studenten veranstaltete Kundgebung für Borodaj­kewycz gegenüber. Die Teilnehmer beider Demonstrationen gerieten schließlich aneinander.

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Abb. 1: BorodajkewyczDemonstration in Wien, 31. März 1965 (Bildarchiv Austria der Österreichischen ­Nationalbibliothek Wien, Inv.Nr. FO7398/01)

an den Folgen eines Faustschlags. Kirchwegers2 Tod riss die alten Erinnerungen auf, an die Flucht des Onkels, das Exil des Großvaters, den Tod der Tante, die nie etwas davon wissen wollte, Jüdin zu sein, und die immer gesagt hatte: »Wir sind ehrbare Katholiken, in Gottes Namen.« Kirchweger war nicht in Gottes Namen gestorben, sondern von der Hand eines Mannes, der ein Regime verehrte, das ihre Familie zerrissen, verfolgt, zu Tod oder Exil verbannt hatte. Am Friedhof stehen Tausende.3 Das Ableben eines Mannes hat vielleicht mehr bewegt als der Tod von 6 Millionen, denkt sie und beschließt, mehr zu erfahren über das Judentum, über das zu Hause nicht gesprochen wurde. Alle Menschen sind gleich, und wir kämpfen den gleichen Kampf, war die Devise ihres Großvaters und ihres Onkels gewesen. Einer dieser Kämpfer lag hier im Grab, und für sie begann ein neues Leben. Der Paternoster führt hinauf in die oberen Stockwerke des Neuen 2

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Bei der Demonstration wurde der ehemalige Widerstandskämpfer und Kommunist Ernst Kirchweger (1898–1965) von einem Rechtsextremisten (Günther Kümel) niedergeschlagen und starb am 2. April 1965 an den Verletzungen. Kümel wurde später zu zehn Monaten Gefängnis wegen Notwehrüberschreitung verurteilt. Vgl. »25.000 trauerten um Kirchweger«, Arbeiter-Zeitung Nr. 83, Wien, 9. April 1965, S. 1 und 3.

Erika, Studentin der Orientalistik und Judaistik

Institutsgebäudes, einer grässlichen neuen Bausünde nicht weit vom Landesgericht. Die nächsten Jahre wird das mein Gefängnis sein, denkt sie, frei gewählt. Sie studiert Orientalistik und schreibt sich in Geschichte ein. Judaistik heißt das Zauberwort, das sie interessiert, und so begegnet sie ihm schon am ersten Studientag, dem Professor, der dafür zuständig ist. Ein Energiebündel ist er, dieser Kurt Schubert,4 sprudelnd und eloquent. Aber sie weiß nicht recht, was sie von ihm denken soll. Sie muss sich erst auf ihn einstellen, auf einen Menschen, der voller Inbrunst über die katholische Kirche reden kann, über den Kampf eines Katholiken gegen den Nationalsozialismus. Aber sie erinnert sich, wie Katholiken im Namen des Glaubens Juden, in ihren Augen Gottesmörder, nicht geschützt haben, sondern zu Tätern mutierten oder zu stillschweigenden Zusehern. Sie spürt Faszination und Zweifel. Aber sie lässt sich ein, geht in das Proseminar des schüchternen Assistenten,5 den der Professor in einem Kloster »gesichtet« und gleich für sich gewonnen hat. Ein Missionar! Dieser Assistent versteht sich gut mit 4

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Kurt Schubert (1923–2007) übernahm 1959 ein Extraordinariat für Judaistik am Institut für Orientalistik, wo er bereits seit der Kriegszeit als Student und ab 1945 als wissenschaftliche Hilfskraft tätig gewesen war. 1966 wurde das eigenständige Institut für Judaistik begründet. Von 1972 bis 1998 befand sich dieses in einer Wohnung in der Ferstelgasse 6, 1090 Wien. S. http://www.univie.ac.at/ judaistik/pers/schubert.html; http://www.kurt-ursula-schubert.at/. Hier wird auf einige Studierende und Mitarbeiter der damaligen Zeit angespielt, die in der Folge im wissenschaftlichen Bereich Bedeutung erlangt haben. Zu diesen von Kurt Schubert geförderten Personen gehören (hier nur teilweise verwertet) u. a. Clemens Thoma (später Professor in Luzern), Johann Maier (später Professor in Köln), Michael Brocke (später Leiter des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte, Essen), Klaus Dethloff (Philosoph in Wien), Fritz Wolfram (später beim Katholischen Akademikerverband – KAV), die späteren Generalsekretäre der Kultusgemeinde Raimund Fastenbauer und Avshalom Hodik, Jerry O’Dell (später UNIDO) sowie – alle am Institut beschäftigt – Brigitte Gregor (später verh. Stemberger), Leon Slutzky (Hebräisch), Jacob Allerhand (Jiddisch, Osteuropäisches Judentum), Fritz Werner (Modernhebräisch), Günter Stemberger (Rabbinische Zeit) und Nikolaus Vielmetti (Geschichte, Italien). Die kongeniale Partnerin Kurt Schuberts (seit 1948 verheiratet), die Kunsthistorikerin Ursula Schubert (geb. Just), kam 1978 als Lektorin an das Institut.

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ihr und fast noch besser mit der Sekretärin, die alle Hände voll zu tun zu haben scheint, um die Männer bei Laune zu halten. Viel Platz ist nicht, kleine Räume, eine Bibliothek, die Lese-, Studier- und Aufenthaltsraum in einem ist. Alles ein wenig beengt, findet der junge Student Michael, der gerade aus Jerusalem gekommen ist und von der dortigen Größe und Großzügigkeit schwärmt. Erika will lernen und lässt sich ein, wirft ihre Scheuklappen weg und versucht, soviel wie möglich aufzunehmen. Altes Hebräisch, Neues Hebräisch, Syrisch. Sie hört über die Schriften von Qumran6 genauso wie über Österreichs jüdische Geschichte, ein Kapitel, das sie fasziniert, weil sie weder daheim noch in der Schule je davon gehört hat. Nichts von Schlom,7 dem Münzmeister, oder den Kammerknechten,8 die stets auf Gedeih und Verderb der Willkür der Herrschenden ausgeliefert waren. Aber sie hört auch von Aufstieg und – nicht selten – Fall von Hofjuden, von Reichtum und Armut, die eng beieinander liegen. Sie hört von der Wiener Gesera9 von 1420/21, sieht sie leibhaftig vor sich, die 6

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Die Schriften, die in den Höhlen der judäischen Wüste am Toten Meer ab 1947 entdeckt wurden, waren eine riesige Sensation und erbrachten im Bereich der Erforschung der Textgeschichte der Bibel, aber auch der Lebensbedingungen und des Denkens von jüdischen Gruppen in der Zeit vor der Zerstörung des Tempels 70 n. u. Z. wichtige neue Erkenntnisse. Noch heute arbeiten zahlreiche WissenschaftlerInnen an der Herausgabe und Interpretation der Texte. Schlom ist der erste urkundlich erwähnte Jude im Bereich des heutigen Österreich (1194). 1196 wurde er mit 15 anderen Juden von Kreuzfahrern ermordet. S.  Klaus Lohrmann, Schlom. In: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 100. Unter Kammerknechtschaft versteht man den Rechtsstatus der im Heiligen Römischen Reich ansässigen Juden, die dadurch dem römisch-deutschen Kaiser »gehörten«. Die Kammerknechtschaft regelte den Schutz wie die Pflichten der Juden, ihre freie Religionsausübung, ihre Rechte in Bezug auf christliches Personal etc. Sie war mit teuren Abgaben der Juden verbunden und konkurrierte nicht selten mit Ansprüchen der Kirche und des Adels gegenüber Juden. Ab dem 13. Jahrhundert wurde das »Judenregal« häufig an Städte oder Fürsten verpfändet und mehr und mehr ein Organ der Ausbeutung. Unter Wiener Gesera versteht man die Verfolgung und Vernichtung der Wiener Juden 1420/21. Sie begann mit der Gefangennahme aller Juden im Mai 1420, führte zu Zwangstaufen und Vertreibung armer Juden und endete mit der Hinrichtung von 92 Männern und 120 Frauen am 12. März 1421 auf einer Gänseweide in Erdberg.

Erika, Studentin der Orientalistik und Judaistik

Abb. 2: Verbrennung von Juden: Hartmann Schedel, Welt­ chronik, 1493 (nach: http://de.wikipedia. org/wiki/Wiener_ Gesera#mediaviewer/ Datei:Schedel_1493.jpg)

armen Juden auf ihren Kähnen die Donau hinabtreiben, geschunden und aller Würde beraubt, sieht die geschlagenen, gefolterten Menschen, von denen man irgendwelche Geständnisse oder – mehr noch – Verstecke von Wertsachen herauspressen will, blickt in die leeren Augen derer, die auf eine Weide in Erdberg zur Hinrichtung getrieben werden. Sie hört, dass sich andere das Leben nahmen und das Leben ihrer Angehörigen, um nicht getauft zu werden oder in die Fänge der Christen zu geraten. Die Toten, die Entrechteten von damals waren Wegweiser in die Lager von Birkenau und die Öfen von Auschwitz. Hass und Gier, Neid und Angst vor dem Fremden, Vorurteil und Aberglaube, religiöse Irrlehren und schamloser Gebrauch von Macht verkochten sich zu ­einem tödlichen Gebräu, das die Juden auszulöffeln hatten. Auf der anderen Seite erzählte der Professor von einem Großmeister des Ritterordens von Calatrava10 im 15. Jahrhundert in Spanien, der von einem gebildeten Juden eine Bibel herstellen ließ, in der jüdische Tradition und von christlichen Mönchen beigesteuerte christliche Auslegung friedlich nebeneinandergestellt wurden. Ganz feierlich zitierte der Professor aus den Worten des jüdischen Schreibers: »Wenn jemand dieses Werk studiert, soll er, ob Christ oder Jude, keinen Grund zum Protest haben oder behaupten können, dass es 10

Vgl. hierzu Kurt Schubert, Christentum und Judentum im Wandel der Zeit. Wien u. a. 2003, S. 114.

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sich hier um Häresie oder Irrtum handelt. Weder Christ noch Jude soll seine Glaubensgrundsätze aufgeben auf Grund dessen, was hier geboten wird. […] Es hängt jedoch nur von jedem Einzelnen ab, seine eigene Tradition, so gut er kann, zu glauben und festzuhalten.« Die Welt war nicht schwarz und weiß und schon gar nicht grau. Sie funkelte und schillerte in vielen Nuancen, manchmal zu stark, um sie gut sehen zu können, manchmal verräterisch, die Wahrheit verdeckend und manchmal in versöhnlichen Farben. Erika fühlte, angekommen zu sein, und hörte selbst geduldig dem Diplomingenieur zu, wenn er seine eigenen schwülstigen Gedichte in Hebräisch zum Besten gab. Er war Widerstandskämpfer in Polen gewesen während der Nazizeit; das imponierte ihr. Der Professor hatte ihn aus einem DP-Lager11 als Sprachlehrer engagiert. Sie diskutiert mit den wenigen anderen Studierenden im Raum über Philosophie, über Avicenna und die aristotelische Linke12 oder über Adorno.13 Ein Habilitant erzählt über seine Arbeiten zur Gnosis und über die Bundeslade,14 und sie wundert sich schließlich nicht, als er bald darauf selbst zum Professor eines Instituts für Judaistik wird. Sie merkt aber auch das Misstrauen der einen oder anderen an der Orientalistik gegenüber den Judaisten, die einen Staat verteidigen, der ihrer Ansicht nach für die Vertreibung arabischer Brüder und Schwestern verantwortlich ist. Sie spürt die Ablehnung eines Professors, der ihr gegenüber klarmacht, dass es besser gewesen wäre, 11

DP steht für »Displaced Persons«. Eines der Lager befand sich in der Wiener Alserbachstraße im 9. Bezirk. 12 Ernst Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke. Berlin 1952. 13 Theodor W. Adorno (1903–1969) hieß eigentlich Theodor Ludwig Wiesengrund und war einer der bedeutendsten Philosophen und Soziologen (aber auch Musiktheoretiker und Komponist) Deutschlands, der sogenannten Frankfurter Schule. Mit seinen theoretischen Schriften und als einer der theoretischen Väter der Studentenbewegung spielte er eine große Rolle für viele engagierte linke Intellektuelle. 14 Die Bundeslade ist jener Behälter, der nach der biblischen Überlieferung (Ex 25,37) das Zentrum des Bundeszeltes in der Wüste und später das zentrale Element des Heiligtums in Jerusalem darstellte. Die Bundeslade soll die Zehn Gebote enthalten haben; auf ihr thronten Cherubim (Schutzengel). Sie ging wohl im Zuge der Eroberung des Tempels durch die Neubabylonier (um 586 v. u. Z.) verloren.

Erika, Studentin der Orientalistik und Judaistik

wenn alle Juden sich hätten taufen lassen, und dass es dann keinen Hitler gegeben hätte. Er selber hat den Namen der Mutter angenommen, um nicht Cohn zu heißen wie sein Vater,15 dessen Nachlass einmal im Salomon Ludwig Steinheim-Institut aufbewahrt werden wird. Sie sitzt neben einer älteren Dame, deren Eltern in Russland überlebt haben, und neben einem jungen Theologen, der einer katholischen Erneuerungsbewegung angehört. Viele Eindrücke prasseln auf sie nieder wie frischer Frühlingsregen, den man ersehnt und vor dem man sich doch ins Trockene flüchtet, wenn er an Stärke zulegt. Die Jahreszeiten wechseln und mit ihnen auch die Ungeduld des Professors, der sie zur Dissertation bewegen will. Neue Personen erscheinen auf der Bildfläche, ein gesundheitsbewusster junger Mann, der eine Arbeit zu den Protokollen der Weisen von Zion schreibt, und ein älterer Student aus Berlin, der viele Sprachen spricht und vom Professor angeleitet wird, über die Bedeutung des Landes Israel in der jüdischen Aufklärungsliteratur zu schreiben. Geheimnisumwittert, denkt sich Erika, mit einer spannenden Geschichte, eine Persönlichkeit, die das osteuropäische Judentum und die Berliner Haskala16 gleichzeitig in sich zu vereinen scheint. Er bringt ihr jiddische Lieder bei, und zum ersten Mal in ihrem Leben trinkt sie köstlichen starken Wodka bei einer Weihnukkafeier17 und spürt am nächsten Tag die Hummeln in ihrem Kopf fliegen. Die ältere Studentin ist noch immer da, ein wenig misstrauischer inzwischen. Woher der neue Dissertant wohl sein Geld nimmt, wo er doch auf großem Fuß lebt. Ob er vielleicht in den Diamantenhandel verstrickt ist? 15 16 17

Der Philosoph und Pädagoge Jonas Cohn (1869–1947) starb 1947 in Großbritannien. Sein Sohn, Hans Ludwig Gottschalk (1904–1981), lehrte von 1948 bis 1974 Arabistik und Islamkunde in Wien. Die deutsch-jüdische Aufklärung im 18. Jahrhundert hatte ihr Zentrum in Berlin. Der hebräische Begriff Haskala bedeutet so viel wie »mit dem Verstand durchdringen«, »Aufklärung«. Der Begriff Weihnukka ist ein Kunstwort und verbindet das christliche Weihnachten mit dem jüdischen Fest Chanukka, an dem man der Wiedereinweihung des Tempels unter den Makkabäern gedenkt (164 v. u. Z.).

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Abb. 3: Weihnukkafeier am Institut für Judaistik 1967: Kurt und Ursula Schubert rechts am Tisch (Privatbesitz)

Auf solche Fragen und Verdächtigungen weiß sie keine Antwort und will sie auch nicht wissen. Ein wenig unnahbar wirkt sie, oder wie Michael zu sagen pflegt, umschwärmt und fein distanziert. Sie ­arbeitet konsequent und unter deutlichem Wohlwollen des Professors. Sie besucht beharrlich die Talmudlesungen, in denen der Professor nicht nur liest und selbst übersetzt, sondern auch seine Kommentare dazu gibt. Er hat längst die Vaterrolle übernommen, Hans Dampf in allen Gassen. Diskutiert mit den jungen linken Studierenden ebenso wie mit den alten Herren und mehrheitlich Damen, die in Massen in seine Vorlesung strömen, weil er ihnen etwas anderes zu erzählen weiß, als sie aus ihrer Jugend zu wissen glauben oder zu glauben wissen. Bildung verändert! Mit dieser Devise denkt sie an ihre eigene Zukunft. Sie ist allein, aber nicht einsam, sie wäre offen für eine Beziehung, aber die Männer in ihrer Umgebung kommen nicht infrage. Warten lohnt sich, denkt sie, und widmet sich weiter unermüdlich ihren Texten. Der Professor diskutiert gerade aufgeregt in seinem Büro auf ­Hebräisch mit einem israelischen Kollegen. Sie mag seinen österreichischen Akzent. Einmal, so erzählte er, hat ihn ein israelischer Taxi-

Erika, Studentin der Orientalistik und Judaistik

fahrer aussteigen lassen, weil er keine Deutschen transportiere. Dabei hat er doch nur auf Hebräisch das Fahrziel angeben wollen. Einige Studentinnen warten im Hörsaal. Er verspätet sich, das Telefonat dauert. Eine ältere Dame beginnt, über die Erfahrungen im Luftschutzkeller zu erzählen. Eine schlimme Zeit, sagt sie. Einige andere, ebenfalls in ihrem Alter, nicken eifrig und ergänzen ihre Erfahrungen. Nur eine Frau hält sich auffällig zurück. Vom Alter her ist sie sogar noch ein wenig betagter. Sie trägt einen langärmligen Pullover, obwohl es draußen sehr warm geworden ist. Eine Zeit lang wogt das Gespräch hin und her, als diese Dame sich einmengt und leise, aber bestimmt sagt, die anderen sollten nicht so viel jammern. »Was haben Sie für eine Ahnung«, protestiert die Erste und bekommt einen roten Kopf. Dann kommt er, entschuldigt sich für die Verspätung, holt weit aus, um allen klarzumachen, wie wichtig das Gespräch mit der Hebräischen Universität war und welche Perspektiven der Zusammenarbeit sich ergäben. Die schweigsame Dame nickt. Langsam schiebt sie die Ärmel ihres Pullovers nach oben; es ist sehr heiß im Raum geworden. Jetzt kann man sie lesen, die eingebrannten Zahlen. Die anderen Damen sind dafür zu beschäftigt. Ihre Aufmerksamkeit gilt ganz dem Professor, der so schön über Juden erzählen kann.

Weiterführende Literatur: Mitchell Ash u. a. (Hgg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien. Göttingen 2010. Eveline Brugger u. a. (Hgg.), Geschichte der Juden in Österreich. Wien 2006 (Österreichische Geschichte). Gérard Kasemir, Spätes Ende für »wissenschaftlich« vorgetragenen Rassismus. Die Borodajkewycz-Affäre 1965. In: Michael Gehler, Hubert Sickinger (Hgg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim. Innsbruck u. a. Neuaufl. der 2., durchges. und erw. Ausg. 2007 [1995], S. 486–501. Günter Stemberger, Einführung in die Judaistik. München 2002 (C. H. Beck Studium). Zu Kurt und Ursula Schubert: http://www.kurt-ursula-schubert.at/.

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Nikos, Grete, Panos – Studieren während der griechischen Militärdiktatur

Herbst 1967

Adamantios Skordos – Maria A. Stassinopoulou

Nikos’ möblierte Wohnung in Gürtelnähe ist hell und vor allem warm. Er wohnt gerne dort und hat, ohne viel darüber nachzudenken, den Vorschlag eines griechischen Freundes abgelehnt, nächstes Jahr gemeinsam in das sich gerade in Umbau befindliche Studentenheim der Akademikerhilfe in der Pfeilgasse zu ziehen. Der LKW-Verkehr in den frühen Morgenstunden und das Vibrieren der Fenster verursachen ihm allerdings immer wieder Alpträume. Darin wiederholen sich die Ereignisse des April 1967, die den 21-jährigen Griechen nach Wien geführt haben. Am 21. April war Nikos von einem dumpfen Geräusch aus dem Schlaf gerissen worden und hatte aus dem Fenster seiner Wohnung im Athener Stadtzentrum eine Panzer-Kolonne in Richtung Parlament rollen gesehen. Das Kettengerassel war ebenso ungewohnt wie furchteinflößend. Im Minutentakt berichteten die plötzlich gleichgeschalteten Sender des Rundfunks, dass die griechischen Streitkräfte zur Abwehr eines angeblich bevorstehenden kommunistischen Aufstands und zur »Rettung der Heimat« eingegriffen und den Notstand ausgerufen hätten. Zwei Feldwebel der Militärpolizei hatten bald danach Nikos festgenommen; er wurde mit weiteren »Kommunisten« in einem LKW zusammengepfercht. Sie wurden zur Pferderennbahn in der Nähe des Piräus-Hafens gebracht; viele von den insgesamt 8.000 dorthin verschleppten »Staatsfeinden« wurden in den nächsten Tagen

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Herbst 1967

Abb. 1: Griechischer Panzer auf einer Athener Straße, 21. April 1967 ­ (http://en.wikipedia.org/wiki/File:1967-4-21_greece01.jpg)

auf abgelegene Felseninseln der Ägäis deportiert. Konzentrationslager, die sogenannten »politischen Umerziehungslager« aus der Zeit des Griechischen Bürgerkriegs,1 nahmen wieder ihren Betrieb auf. Aus »Kommunisten« sollten »national gesinnte« Griechen werden. Hier in Wien schreckt Nikos immer dann hoch, wenn in seinen Alpträumen Marschlieder und in ständiger Wiederholung die ­Nationalhymne erklingen und er dazwischen die Parolen des Regimes zu hören glaubt wie damals aus dem Athener Radio. Dass er hier studiert, verdankt er seinem Onkel, einem hochrangigen Polizeioffizier, der für ihn an höchster Stelle intervenierte. Statt auf einer Schiffsfähre nach Giaros, Makronisos oder Leros saß er somit schon 1

Die Geschichte Griechenlands in den 1940er-Jahren ist neben der Besatzung durch Deutschland, Italien und Bulgarien auch durch den Bürgerkrieg zwischen dem bürgerlichen Lager und der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) geprägt. Nach der Befreiung des Landes im Oktober 1944 eskalierten die Auseinandersetzungen unter Partisanenformationen und Kollaborateurmilizen zu einer militärischen Auseinandersetzung größeren Ausmaßes zwischen der Nationalarmee und der von der KP gesteuerten Demokratischen Armee, die 1949 mit dem Sieg der Nationalarmee endete. S. Ioannis Zelepos, Kleine Geschichte Griechenlands. München 2014 (Beck’sche Reihe 6121), S. 153–180.

Nikos, Grete, Panos – Studieren während der griechischen Militärdiktatur

Anfang Juni 1967 in einem Zug nach Wien. Die Reise dauerte etwa vierzig Stunden; Zeit genug für Nikos, die letzten Wochen noch einmal Revue passieren zu lassen, vor allem den Moment, als ihm klar wurde, dass er nun sein Studium an der Universität Athen nicht mehr fortsetzen konnte, da die »Revolution des 21. April« die Inskription linker Aktivisten unmöglich machte. Am Südbahnhof erwartete ihn ein Freund der Familie, der bereits Ende der 1950er-Jahre aus der bitterarmen Epirus-Region zuerst in die BRD und dann nach Österreich emigriert war. Zum Glück hatte Nikos nach langem Suchen sein Zeugnis des Athener Goethe-Instituts doch noch gefunden. Er konnte damit hier an der Uni Wien seine Deutschkenntnisse nachweisen und brauchte nicht wie sein Cousin, der Medizin studierte, den Vorstudienlehrgang2 zu besuchen. Es wurden ihm sogar einige Lehrveranstaltungen aus seinem bisherigen Studium in Athen angerechnet. Gleich zu Beginn des Wintersemesters trifft er hier auch auf andere Landsleute. Von den etwa 1.500 griechischen Studenten in Österreich sind zwar die meisten an der Grazer Technischen Hochschule inskribiert, doch auch an der Universität Wien gibt es genug, um schnell Freundschaft schließen zu können. Die politische Spaltung, welche die griechische Gesellschaft seit den Bürgerkriegsjahren plagt, haben sie auch hierher mitgebracht und führen sie in ihrem Vereinsleben weiter. Der Putsch in Athen lässt die Streitigkeiten wieder hochkochen. Einige sind – wie Nikos – ehemalige Mitglieder der Jugendorganisation Lambrakis3 und wurden noch in Athen verhört. Andere wiederum stellen sich der ab dem Som2

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2012 feierte der Vorstudienlehrgang der Wiener Universitäten (VWU) sein 50-jähriges Bestehen: OeAD News 22, Nr. 2/87, Dezember 2012. Die »Demokratische Jugendbewegung Grigoris Lambrakis« (griech. »Dimokratiki Kinisi Neon Grigoris Lambrakis« [DKNGL]) wurde kurz nach der Ermordung des linken griechischen Politikers Grigoris Lambrakis (1912–1963), eines engagierten Pazifisten, gegründet. Die Geschichte des Mordes und der Verhaftung der Mörder wurde durch den Film »Z« von Costa-Gavras während der Zeit der griechischen Diktatur weltbekannt. Zur griechischen Studentenbewegung vor und nach 1967 s. einführend Kostis Kornetis, Children of the Dictatorship. Student Resistance, Cultural Politics and the Long 1960s in Greece. New York, Oxford 2013 (Protest, Culture and Society 10).

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mer 1967 gleichgeschalteten Botschaft als »Informanten« zur Verfügung. Als Gegenleistung für ihre »Dienste an der Heimat« versprechen sie sich vermutlich Möglichkeiten einer Freistellung vom zweijährigen Grundwehrdienst; nur so vermag sich Nikos ihre Einstellung zu erklären. Panos, 28-jähriger Student der Geschichte aus Thessaloniki, dessen Vater im Bürgerkrieg gefallen ist, lehnt einen solchen »Kuhhandel« ab, obwohl er eigentlich die »Revolution des 21. April« aus dem Abb. 2: Melina Merkouri auf Besuch in fernen Wien durchaus positiv Wien. Ausschnitt aus der Arbeiterzeibetrachtet. Vielleicht liegt es tung vom 2. April 1968, S. 5 (http://www. daran, dass er seine Wehrarbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/flash. pl?seite=19680402_A05;html=1) pflicht bereits erfüllt hat, wohl eher aber an seiner Beziehung zur »roten« Grete. Trotz ihrer grundsätzlich entgegengesetzten politischen Einstellungen sind Panos und Grete schon seit drei Jahren ein Paar. Die Anziehungskraft zwischen den beiden überdeckt deren weltanschauliche Differenzen; die gemeinsame Leidenschaft für die griechische Sprache, Kultur und Geschichte ist stärker. Die Grazerin, die als Kind ihre Sommerferien immer auf Kreta verbrachte und seither von Griechenland fasziniert ist, studiert an der Uni Wien Geschichte und Kultur Griechenlands in nachantiker Zeit und erlernt außerdem die neugriechische Sprache. Da diese Kombination nur am Wiener Institut für Byzantinistik4 angeboten wird, ist sie extra deswegen zum Studium hierher gekommen. Dass sich Panos nicht 4

Die Gründung des Instituts geht auf das Jahr 1962 zurück. Zur Geschichte des Instituts s. http://www.byzneo.univie.ac.at/institut/ueber-uns-institutsgeschichte/.

Nikos, Grete, Panos – Studieren während der griechischen Militärdiktatur

zu Widerstandsaktionen gegen das Regime überzeugen lässt, sondern sich sogar dessen ideologische Parolen zu eigen gemacht hat, stört sie fast mehr als die Zustände in Griechenland selbst. Die Beziehung zwischen Panos und Grete hatte schon unter den unendlichen Diskussionen zu akademischen Texten in gesprochenem Griechisch (Dimotiki) gelitten und zunächst die lächerliche Verwendung der gelehrten Sprache (Katharevusa) in den Manifesten der Obristen ausgehalten.5 Sie sollte jedoch letztendlich die griechische Militärdiktatur nicht überleben. Nikos lernte Grete bei einem der Protestmärsche gegen die griechische Militärdiktatur kennen. Diese nahmen ihren Anfang beim Hauptgebäude der Universität und endeten bei der griechischen Botschaft in der Argentinierstraße. Näher kamen die beiden einander, ­als sie am 25. März 1969 aus der griechischen Botschaft hinaus­gezerrt wurden. Sie hatten sich zuvor in das Botschaftsge­bäude, in dem der griechische Nationalfeiertag gefeiert wurde, hineingeschlichen und wiederholt die Ansprache des Militärattachés mit Zwischenrufen unterbrochen. Der Botschafter erstattete gegen Grete und Nikos sowie weitere »Störenfriede« Anzeige. Dahinter steckte seine Überzeugung, dass es sich bei ihnen um dieselben Personen handeln müsse, die in der Umgebung immer wieder juntafeindliche und anti-amerikanische Parolen auf Hauswände schmierten. Panos, der als Vorsitzender eines der zahlreichen Griechen-Vereine an der Feier der griechischen Botschaft teilgenommen hatte, hatte sich frühzeitig aus dem Staub gemacht. Als er Grete in den Festsaal der Botschaft eintreten sah, ahnte er bereits, was folgen würde. Seit nun über einem Jahr waren sie nicht mehr zusammen, und ein Wiedersehen aus einem derartigen Anlass wollte er auf jeden Fall vermeiden. Der junge Mann an Gretes Seite war ihm aus Lehrveranstaltungen am Institut für Byzantinistik bekannt, die beide als Wahlfächer belegten. Nikos und er sollten bald während einer Vorlesung 5

Die Diglossie, die Verwendung deutlich unterschiedlicher Sprachregister in offiziellen und in alltäglichen Kontexten prägt die Literatur in griechischer Sprache seit der Spätantike, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Griechische_Sprachfrage.

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von Professor Polychronis Enepekides zu Graf Johannes Kapodistrias und seinem Wirken am Wiener Kongress aneinandergeraten. In einer der letzten Sitzungen gelang es Nikos wieder einmal, die Diskussion auf die aktuellen Ereignisse und auch auf den Bürgerkrieg zu lenken. Doch mit rhetorischer Brillanz trug Panos die »national gesinnte« Erzählung über die 1940er-Jahre vor; Nikos konnte in dem begrenzten­ Diskussionsrahmen, den der Professor zuließ, seine linke Gegenargumentation nicht entfalten, und so lagen bei ihm, der nur um ein Haar der Deportation auf eine kahle Ägäisinsel entgehen hatte können, jetzt die Nerven blank. Er beschimpfte Panos als »Faschisten« und »Agenten der Junta und der Amerikaner«; Panos nannte ihn sofort einen »Kommunisten«. Nikos verließ daraufhin den Raum und ließ sich am Institut in der Hanuschgasse 3 länger nicht mehr blicken. Seine Zeit widmete Nikos fortan der Zusammenarbeit mit dem Verein »Freunde der Griechischen Demokratie«, dem sich viele prominente österreichische Persönlichkeiten angeschlossen hatten. Gemeinsam mit Freundinnen und Freunden, die er im »Verein griechischer Studenten und Akademiker in Wien« kennengelernt hatte, organisierte er den Empfang wichtiger griechischer Persönlichkeiten, die gegen das Regime auftraten. Melina Merkouris Besuch schon am 1. April 1968 beim Wiener Bürgermeister Bruno Marek hatte die griechische Botschaft nicht vereiteln können; zu berühmt war die bekannte Schauspielerin und Sängerin von »Sonntags ... nie!«. Doch als die griechische Botschaft von Plänen für eine Veranstaltung mit Andreas Papandreou im Rahmen seiner Tour, bei der er eigent­lich Gastarbeiter in der BRD besuchte, erfuhr, wurde Nikos zur »Klärung einer privaten Angelegenheit« in die Argentinierstraße bestellt. Der grimmige Botschaftsmitarbeiter zählte kurz und bündig die für Nikos zu erwartenden Folgen auf: Entziehung des griechischen Reisepasses, Rückgängigmachung des Aufschubs vom Militärdienst und Vereitelung der Inskription an der Uni Wien durch Intervention auf höchster Ebene. Sogar die Vereinsmitglieder der »Freunde der Griechischen Demokratie« zögerten, diese Einladung zu unterstützen, da in Wien andere Zweige der ehemaligen griechischen Partei ­»Zentrumsunion« als die von Papandreou gegründete Widerstandor-

Nikos, Grete, Panos – Studieren während der griechischen Militärdiktatur

Abb. 3: Demonstration am Graben, 21. April 1972 (Archives of Contemporary Social History [http://askiweb.eu/], http://62.103.28.111/photographic/rec. asp?id=55119&nofoto=0)

ganisation PAK die Ansichten über Griechenland prägten. Kurze Zeit noch blieb Nikos politisch aktiv – langsam, dem Rat seines Onkels folgend, zog er sich aber zurück. Nach der Demonstration zum fünften Jahrestag des Putsches am 21. April 1972 am Wiener Graben widmete er sich verstärkt seinem bis dahin vernachlässigten Studium. Zum Trost hörte er weiterhin jeden Tag, wie Millionen von Griechen weltweit, die griechische Sendung der Deutschen Welle aus Köln. Er konnte damals noch nicht ahnen, dass eines der Redaktionsmitglieder, Georgios Kladakis, einer der wenigen nach dem Putsch zurückgetretenen Diplomaten, Jahre nach der Rückkehr Griechenlands zur Demokratie als Botschafter nach Wien kommen würde. Panos hingegen verließ ungefähr zur selben Zeit die Universität für einen lukrativen Job in der Tourismusbranche, denn es begann gerade die große touristische Reisewelle nach Griechenland. Grete war noch bei diversen studentischen Organisationen und Gesprächszirkeln ­aktiv. Am Institut für Byzantinistik wiederum bekam sie von Professor Herbert Hunger, der ihr Sprachtalent im Proseminar zur Alexias der Anna Komnene entdeckte, die Empfehlung, sich mit weiteren Texten

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der byzantinischen Historiographie zu beschäftigen. Die jungen Lektoren am Institut, Johannes Koder und Erich Trapp, die wie sie manchmal nach den Lehr­ veranstaltungen Gespräche mit den griechischen Studierenden in ihrer Sprache führten, rieten ihr in den Übungen zur Topographie und Geschichte des Athos sowie zur byzantinischen Volks­e pik zum intensiven Quellenstudium und zur Heranziehung der re­ Abb. 4: Filmplakat für »Z« levanten Sekundärliteratur in mehreren Sprachen. Gegen Ende des Studiums zog sie sich von der studentischen Politik zurück. Sie brauchte die Zeit für die Seminararbeiten, aber auch für die Mitarbeit an einem der Forschungsprojekte des Instituts. Nikos und Panos hatte sie noch in einer Vorführung des Films »Z« von Costa-Gavras in der Wiener Urania getroffen. Die drei sprachen jedoch kaum miteinander. Am 24. Juli 19746 war es in Griechenland mit der Diktatur vorbei. Nikos hatte mittlerweile sein Jus-Studium in Wien abgeschlossen und durfte nach sieben Jahren wieder in Griechenland einreisen. Er solidarisierte sich in Athen sogleich mit der am 3. September 1974 gegründeten »Panhellenischen Sozialistischen Bewegung« von Andreas Papandreou 6

Die Junta kam durch die türkische Invasion auf Zypern zu Fall. Brigadier Dimitrios Ioannidis, der seit November 1973 das Athener Regime kontrollierte, ordnete am 15. Juli 1974 einen Putsch gegen den zyprischen Staatspräsidenten, Erzbischof Makarios, an. Ankara reagierte auf den Staatstreich mit einer militärischen Invasion. In der aussichtslosen Situation, in der sich Nikosia und Athen befanden, entschloss sich die Führung der griechischen Streitkräfte am 23. Juli 1974, politische Persönlichkeiten aus der Zeit vor 1967 zur Weiterführung der Regierungsgeschäfte einzuladen. Am 24. Juli kehrte Konstantinos Karamanlis aus Paris nach Athen zurück. S. Ioannis Zelepos, Kleine Geschichte Griechenlands. München 2014 (Beck’sche Reihe 6121), S. 204–210.

Nikos, Grete, Panos – Studieren während der griechischen Militärdiktatur

und fand als Jurist einen Platz auf der Wahlliste. Panos wiederum war das Griechenland der späten 1970er- und der 1980er-Jahre, in dem linke Aktivisten den Ton in der Öffentlichkeit angaben, fremd geworden. Er blieb in Wien und wurde ein erfolgreicher Unternehmer. Als er zu Weihnachten 1992 Erich Möchels Schlüsselroman »Raubzüge« geschenkt bekam, musste er schmunzeln; der Autor hatte Namen aus Geschichte und Gegenwart der Byzantinistik in Romanfiguren verwandelt. Grete absolvierte ihr Studium am Institut für Byzantinistik, das 1975 in die Postgasse 7 übersiedelt war, mit Auszeichnung. Ihr Dissertationsthema suchte sie in der byzantinischen Kunst und promovierte bei Otto Demus, dessen Lehrveranstaltung über »Spätbyzantinische Monumentalmalerei« sie begeistert hatte. Ihre große Leidenschaft galt dennoch weiterhin der neugriechischen Literatur. Sie übersetzte mit Erfolg wichtige Werke ins Deutsche und wurde später von ihrer Alma Mater zu Lesungen eingeladen. Bei einer dieser Veranstaltungen 1985 realisierte sie, dass die Zeit, die sie aktiv miterlebt hatte, nun einen Teil der Vorlesung des neu berufenen Professors für Neogräzistik, Gunnar Hering, zur Geschichte Griechenlands 1935–1974 bildete.

Weiterführende Literatur: Danae Coulmas (Hg.), Die Exekution fand am frühen Morgen statt. Neue Texte aus Griechenland. Frankfurt am Main 1973. Wolfram Hörandner u. a., Vorwort. In: Wolfram Hörandner u. a. (Hg.), Wiener Byzantinistik und Neogräzistik. Beiträge zum Symposion Vierzig Jahre Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien im Gedenken an Herbert Hunger (Wien 4.–7. Dezember 2002). Wien 2004 (Byzantina et Neograeca Vindobonensia 24), S. 19–24. Ewald Kislinger, Der eingescannte Tzetzes. Byzantinisches in rezenter Literatur aus Österreich. In: Evangelos Konstantinou (Hg.), Byzantinische Stoffe und Motive in der europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1998 (Philhellenische Studien 6), S. 167–180. Kostis Kornetis, Children of the Dictatorship. Student Resistance, Cultural Politics and the Long 1960s in Greece. New York, Oxford 2013 (Protest, Culture and Society 10). Basil P. Mathiopoulos, Athen brennt. Der 21. April 1967 in Griechenland. Darmstadt 1967. Erich Möchel, Raubzüge. Roman. Wien 1992. Margot Ingeborg Schneider, Griechische Vereine in Österreich 1918–1974. Wien univ. Diplomarbeit 2013. Ioannis Zelepos, Kleine Geschichte Griechenlands. München 2014 (Beck’sche Reihe 6121).

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Ursula, bewegte Studentin der Klassischen Archäologie und Alten Geschichte

Winter 1984

Fritz Blakolmer – Hubert Szemethy

Das Zelt, in dem Ursula mit gleichgesinnten Freunden die letzte Nacht verbrachte, ist kalt und der Boden hart. Sie hat Rückenschmerzen und ist vor Kälte so durchgefroren, dass Zehen und Finger ganz steif sind. So müssen sich Studenten in früheren Jahrhunderten oft gefühlt haben, denkt sie sich – nur mit dem kleinen Unterschied, dass diese damals in ihren einfachen Unterkünften in Wien bibberten, sie im Dezember 1984 allerdings gut 50 km von Wien entfernt in der Stopfenreuther Au. Trotz der Kälte ist Ursula enthusiastisch, denn sie fühlt sich als Teil einer Bewegung, die für die Erhaltung der Auwälder und gegen den Bau des Kraftwerkes Hainburg auf die Barrikaden steigt. Aufmerksam gemacht durch eine spektakuläre »Pressekonferenz der Tiere«,1 wie viele andere Studenten auch, hat sie sich den von der Hochschülerschaft mitorganisierten Protesten in der Hainburger Au angeschlossen; ausgerüstet mit ihrem Schlafsack, mit dem sie sonst während des Sommers Griechenland bereist, und einer halbwegs warmen NatoJacke. Diese war zwar von der letzten Demo der Friedensbewegung schon etwas mitgenommen, aber das Wärmste, das sie zum Anziehen hatte. Hier in Hainburg nahm Ursula nun in Kauf, in die Räumungsaktionen der Gendarmerie und der Polizei mit ihren Gummiknüppeln und Wasserwerfern involviert zu werden. Dass sie in der Au die Ge1

Günther Nenning, Andreas Huber (Hgg.), Die Schlacht der Bäume – Hainburg 1984. Wien 1985, S. 23–25.

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Winter 1984

Abb. 1: Demonstranten und Gendarmen in Hainburg, Dezember 1984 (Foto: Reinhard Golebiowski & Gerald Navara; nach: Bernd Lötsch, Der österreichische Naturschutzpreis 1975–1985. Wien 1985; Archiv der Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte [ÖGZ], DO 744, M 51)

burtsstunde des zivilen Ungehorsams in der Zweiten Republik, die inoffizielle Gründung einer neuen Partei und die Initialzündung für ein Umdenken in der österreichischen Energie- und Umweltpolitik miterlebt hat, wird Ursula erst ein paar Jahre später bewusst werden. Jetzt jedoch, nach diesen Eskapaden, wollte sie ihr Studentenleben wieder in normale Bahnen bringen. Gestern traf sie in der Au zufällig Peter, einen Studienkollegen aus Wien. Die beiden hatten sich im Herbst 1982 am Institut für Alte Geschichte und Klassische Archäologie2 – so stand es über dem ­Institutseingang im Hauptgebäude – kennengelernt. Ursula kam ­damals gerade von der Immatrikulation. Sie hatte längere Zeit 2

Das Institut geht auf das 1876 von Alexander Conze und Otto Hirschfeld begründete »Archaeologisch-Epigraphische Seminar« zurück, 1956 wurde es in »Institut für Alte Geschichte, Archäologie und Epigraphik« umbenannt. 1984 wurden daraus zwei eigenständige Institute: das »Institut für Alte Geschichte« und das »Institut für Klassische Archäologie«. Letzteres siedelte 1988/89 aus dem Universitäts-Hauptgebäude aus und bezog in der ehemaligen »Hochschule für Welthandel« im 19. Bezirk neue Räumlichkeiten.

Ursula, bewegte Studentin der Klassischen Archäologie und Alten Geschichte

in einer elendslangen Reihe von Erstsemestrigen vor der Evidenzstelle im Korridor im Erdgeschoß des Hauptgebäudes der Universität am Dr.-Karl-Lueger-Ring3 warten müssen. Da standen sie, die frisch Maturierten, mit einem dicken Packen von Formularen, die sie feinsäuberlich mit Kugelschreiber ausfüllen mussten. Ursulas Freundinnen, die schon Jahre zuvor zum Studieren nach Wien gekommen waren, hatten wohl recht, als sie meinten, dass, wenn man sich erst einmal durch den Formular-Salat beim Immatrikulieren gekämpft hat, man eigentlich den kompliziertesten Teil des Studiums schon geschafft hätte. Danach wagte sich Ursula erstmals in dieses alte Universitätsinstitut, weil sie sich von Studienrichtungsvertretern den Stu­dienplan erklären lassen wollte und auch zu erfahren hoffte, was jetzt eigentlich zu inskribieren sei. Vor ihr lag das gut 400 Seiten dicke Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1982/83, sie blätterte im Kapitel »Klassische Archäologie und antike Kunstgeschichte«4 und wusste nicht, welche Lehrveranstaltungen sie nun wählen sollte, und dann noch die vielen möglichen Wahlfächer! Peter musste kurz vor ihr gekommen sein. Er saß bereits bei einer älteren Studentin am ersten Tisch des langen Bibliotheksraumes, den sie später »den Schlauch« nennen sollten, und schrieb Zahl um Zahl in ein Formular. Am besten alle Lehrveranstaltungen inskribieren, hatte die Studienrichtungsvertreterin geraten, dann kann nichts schiefgehen! Und der Studienplan war relativ einfach. Es gab nur wenige Pflichtlehrveranstaltungen; vieles konnte man sich frei, ganz nach persönlicher Interessenlage wählen. Das Schwierigste schien ihr, dreimal in der Woche um 8 Uhr morgens – also zu nachtschlafender Zeit, zu der es zumal im Winter noch finster war – für je eine Stunde die Einführungsvorlesung zu hören. Ihre Aufbruchstimmung wurde dadurch aber nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil, Ursula freute sich, dass der Lebensabschnitt »Schule« 3

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Dieser Teil der Ringstraße wurde nach jahrelangen Diskussionen am 5. Juni 2012 vom Wiener Gemeinderat in »Universitätsring« umbenannt. Universitätsdirektion der Universität Wien (Hg.), Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien. Wintersemester 1982/83. Wien 1982, S. 209f.

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Abb. 2: Inskriptionsschein der Universität Wien für das Wintersemester 1983/84 (Privatbesitz)

nun endlich vorüber war. Studieren bedeutete für sie die große Freiheit, auch wenn sie für ihr Studium noch Altgriechisch mit den ungewohnten Buchstaben nachholen musste; Latein, das sie schon am Gymnasium in Linz gelernt hatte, wurde ihr anerkannt. Beide Sprachen waren gesetzlich vorgegebene Voraussetzungen für jenes Studium, das sie sich unter den vielen Studienfächern der Geisteswissenschaften gewählt hatte: Klassische Archäologie im Hauptfach und eine Fächerkombination aus Alte Geschichte, Klassische Philologie und Altorientalistik als Nebenfach. Wie sie darauf gekommen war, weiß sie noch ganz genau: Mit 16 Jahren schenkten ihr die Eltern ein Interrail-Ticket, und sie fuhr

Ursula, bewegte Studentin der Klassischen Archäologie und Alten Geschichte

Abb. 3: Drucksorten der 1980er-Jahre: Studentenausweis, Einzahlungsbeleg über den ÖH-Beitrag und die Versicherung für das Wintersemester 1982/83 sowie Entlehnschein der Universitätsbibliothek (Privatbesitz)

gemeinsam mit mehreren Freundinnen mit dem Zug quer durch ­Jugoslawien nach Griechenland – Fliegen war viel zu teuer! Und die gut erhaltenen antiken Bauten, die sie als Rucksacktouristin dort in Athen, Mykene und Olympia sah, faszinierten sie gewaltig, und dieses

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Interesse für die Antike ließ sie seither nicht mehr los. Zwar wurde Ursula von vielen Verwandten und Bekannten vor diesem »brotlosen Studium« gewarnt, doch das beeindruckte sie wenig. Sie wollte unbedingt Archäologie studieren! Leistbar war Ursulas Studium für ihre Eltern nur, da der Hochschulzugang nun frei von Studiengebühren war, wenn man vom Beitrag von 110 Schilling für die Österreichische Hochschülerschaft plus einer gesetzlich obligatorischen Unfallversicherung in Höhe von 5 Schilling einmal absah. Ursulas Vater, ein Stahlarbeiter bei der ­VÖEST, und ihre Mutter, eine Friseurin, erklärten ihr des Öfteren, dass sie und ihr Bruder, der seit drei Jahren in Linz ein Lehramtsstudium für Mathematik und Chemie belegte, heute nur wegen Bruno Kreisky studieren könnten:5 Ihm verdankten die beiden Geschwister nicht nur die Gratis-Schulbücher, sondern er hätte auch ein eigenes Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung eingerichtet, es mit Hertha Firnberg besetzt und an den Unis 1972 die Studiengebühren abgeschafft.6 Wie Ursula bald erfahren sollte, hatte Firnberg damals mit dem Universitäts-Organisationsgesetz 1975 auch ein modernes, zukunftsweisendes Universitätsmodell geschaffen, ja die Universitäten insgesamt demokratisiert.7 In den universitären Gremien (Fakultäten, Instituten, Studienkommissionen) waren Professoren, Universitätslehrer und Mitarbeiter im wissenschaftlichen Betrieb sowie 5 6

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Bruno Kreisky (1911–1990) war von 1970 bis 1983 österreichischer Bundeskanzler. S. Oliver Rathkolb (Hg.), Bruno Kreisky. Erinnerungen. Das Vermächtnis des Jahrhundertpolitikers. Wien u. a. 2007; Wolfgang Petritsch, Bruno Kreisky. Die Biographie. Innsbruck, Wien 2013. Hertha Firnberg (1909–1994) war nach der Nationalratswahl vom 1. März 1970, bei der die SPÖ die ÖVP erstmals überholte, zunächst Ministerin ohne Portefeuille im Bundeskanzleramt, hatte aber den Auftrag, ein Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung zu begründen, das sie dann ab 26. Juli 1970 auch leitete. S. Marlen Schachinger, Hertha Firnberg. Eine Biographie. Wien 2009. Bundesgesetz vom 11. April 1975 über die Organisation der Universitäten (Universitäts-Organisationsgesetz – UOG), BGBl. Nr. 258/1975, häufig als »UOG 1975« bezeichnet. S. dazu Romana-Maria Rautner, Die österreichische Universität im Kontext des Wertewandels. Eine Analyse des UOG 1975. Wien univ. Masterarbeit 2013.

Ursula, bewegte Studentin der Klassischen Archäologie und Alten Geschichte

Studierende in gleicher Zahl und mit gleichem Stimmrecht vertreten. Was wurde nicht alles in diesen Gremien entschieden, Neuaufnahmen, die Auswahl von neuen Professoren, die Studienpläne und vieles andere mehr! Nach Ansicht der Eltern war Kreisky auch Ursulas Studienbeihilfe zu verdanken,8 denn die Finanzierung des Studiums der Tochter – und damit meinten die Eltern nicht nur das teure Wohnen im fernen Wien – ohne diese Beihilfe, dafür hätten die materiellen Grundlagen der Familie einfach nicht gereicht. Die Generation ihrer Eltern habe damals, nach dem Krieg, all diese Möglichkeiten nicht gehabt, bekam Ursula oft zu hören. Die Kinder sollten es einmal besser haben! Ursula ist zu selbständigem Lernen und Leben erzogen worden, ist kommunikativ und weltoffen. Im Studentenheim findet sie rasch Anschluss, lernt auf Studentenfesten anderer Heime und bei den legendären Institutsfesten neue Freundinnen und Freunde kennen, mit denen sie sich über ihr erstes eigenes Telefon, ein in ihrem Zimmer installiertes Telefon mit Viertelanschluss, Treffen ausmacht. Regelmäßig verabredet sie sich mit ihnen in einem Kino in der Nussdorfer Straße, in dessen Keller es eine Diskothek gibt: zuerst »Flashdance« auf der Leinwand, dann selbst tanzen zu Falcos »Kommissar« und Fendrichs »Oben ohne«. Immer wieder trifft sie sich mit Studienkollegen von der Archäologie und der Alten Geschichte am Abend auch im »Tunnel« in der Florianigasse, wegen der Live-Musik und um mit ihnen über die Professoren und die Lehrveranstaltungen, über die Situation am Institut insgesamt zu reden. Das Institut zählt zu den eher kleineren der Geisteswissenschaftlichen Fakultät, was Ursula sehr angenehm findet. Im Vergleich zu den Studienbedingungen etwa an der Geschichte oder der Kunst­ 8

Studienbeihilfen, deren Ziel es unter anderem war, den Akademikeranteil zu erhöhen, gehen allerdings auf die Vor-Kreisky-Ära zurück. Vgl. das Studienbeihilfengesetz von 1963 (BGBl. 249/1963) sowie das Studienförderungsgesetz aus dem Jahre 1969 (BGBl. 421/1969). Die Abschaffung der Studiengebühren erfolgte jedoch in der Kreisky-Ära und hatte einen entscheidenden Einfluss darauf, dass nun Studierenden aus nichtakademischen Kreisen ein Studium finanziell erleichtert wurde.

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Abb. 4: Institutsfest der frühen 1980er-Jahre (Privatbesitz)

geschichte geht es den Studenten hier unvergleichlich besser. Anonym bleibt hier kein Student. Jeder am Institut kennt Ursula bald beim Namen, von der Sekretärin bis zum neu berufenen Professor aus Deutschland. Dennoch hat sie gehört, dass Dozenten und Professoren am Institut geradezu verzweifelt seien, weil sie sich erstmals der unvorstellbar großen Menge von 30 Erstsemestrigen gegenübersehen. Die meisten Vorlesungen hört Ursula im dunklen Hörsaal 34 mit seinen knarrenden Holzbänken und der Projektionskoje mit der modernen technischen Ausstattung für Dia-Doppelprojektion, und zwar sowohl für die neueren Kleinformat-Farbdias als auch für die alten gläsernen Großformatdias, die in Holzrahmen zu stecken sind. Störend findet Ursula nur die schlechte Bildqualität des Episkops und dass der Vortragende immer so laut »Die nächsten Dias, Herr Kölbl!« nach hinten rufen muss – was dieser wegen des Lärms der Geräte in der Koje aber oft nicht genau versteht und deswegen mit einem lauten »Wie bitte?« erwidert. Ihre Anfängerproseminare finden in einem Raum der Archäologischen Sammlung statt. Was stehen da für Schätze herum! So viele Statuen und Reliefs aus staubig grauem Gips, die sie noch nicht zu

Ursula, bewegte Studentin der Klassischen Archäologie und Alten Geschichte

­ enennen, einzuordnen oder gar zu erläutern weiß. Zuerst gilt es b aber einmal, die Terminologie zu lernen, ohne deren Kenntnis jeder Fachbeitrag wie Chinesisch klingt. Ursula gibt sich große Mühe, denn sie will unbedingt bald ihre Lehrgrabung in Carnuntum absolvieren. Und auf die zehntägige Exkursion, die im Studienplan verpflichtend vorgeschrieben ist und sie im nächsten Jahr nach Pompeji führen wird, freut sie sich schon jetzt. Für manche Lehrveranstaltungen, die sie sich für die Wahl- und Freifächer ausgesucht hat, wie diejenigen auf der Altorientalistik, muss Ursula ins NIG, ins Neue Institutsgebäude, gegenüber dem Café Maximilian, einem beliebten studentischen Treffpunkt nahe der Votivkirche. Diese noch kleineren Fächer mit selten mehr als zehn Studenten in den Lehrveranstaltungen beeindrucken sie stark. Da ist alles so familiär und unkonventionell, aber dennoch hoch­ wissenschaftlich. In der Vorlesung steht auf jedem Tisch ein Aschenbecher und nach der Lehrveranstaltung ist manchmal die Luft zum Schneiden dick. So altmodisch, verstaubt, aber persönlich und sympathisch muss das Archäologie-Studium bis vor einigen Jahren wohl auch gewesen sein, denkt sich Ursula. Die Bibliothek des Instituts ist ein wahrer Schatz! Mit dem neuen Zettelkatalog findet man spielend leicht (fast) jedes Buch – es sei denn, irgendein Professor oder Dozent hat es in sein Zimmer mitgenommen und natürlich wieder keinen Platzhalter eingestellt! Wenn man Bücher von der Universitätsbibliothek braucht, muss man nur eine Etage höher, und mit den ausgefüllten gelben Bestellzetteln kann man sie meist schon am nächsten Tag abholen. Mitunter geht es in der Institutsbibliothek recht lebhaft zu, vor ­allem am Tisch 4, ganz hinten bei der Diathek, in der ein bärtiger cand. phil., ein Doktoratsstudent der Archäologie, Tag für Tag zig Dias für die Lehrveranstaltungen heraussuchen und wieder zurückordnen muss. Wird man für solche Arbeiten irgendwann einmal ein effizienteres System erfinden? Man unterhält sich über die Erlebnisse des letzten Abends bzw. der letzten Nacht, Vorlesungsmitschriften werden hin- und hergetauscht unter lebhaften Kommentaren zu Pas-

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sagen, die man nicht lesen konnte bzw. nicht verstand. Die beiden Streber von Tisch 1 beschweren sich fast täglich wegen des lauten Redens an den hinteren Tischen! Wenn Ursula genug davon hat, geht sie mit Peter und anderen ins Buffet gleich vis-à-vis des Instituts, wo es oft sehr ausgelassen, zuweilen ganz unakademisch zugeht. Aber weder Vater noch Mutter sind hier und weisen Ursula zurecht – und das gefällt ihr: frei und doch selbstverantwortlich in ihrem neuen ­Lebensabschnitt zu sein. Hier in der »Kleinen Mensa« trifft Ursula auch höhersemestrige Studenten der Archäologie, kommt mit ihnen ins Gespräch und erfährt, dass der freie Hochschulzugang auch für sie ein Thema ist. Denn während sie schon eifrig an ihrer Dissertation schreiben, ohne allzu viele Pflichtlehrveranstaltungen absolviert haben zu müssen – sie studieren zwar auch nach dem AHStG,9 aber nach einem älteren Studienplan10 –, müssen die bemitleidenswerten jungen Studenten, die »neuen Semester«, nun viele Prüfungen ablegen und Zeugnisse sammeln. »Fürchterlich, diese Verschulung heute! Wo soll das noch hinführen?«, wundern sich die »alten Semester«. Ursula erfährt von ihnen überdies, was alles am Institut in der Studienkommission und in der Institutskonferenz, aber auch in der Fakultät behandelt und beschlossen wird. Dass Studentinnen und Studenten an der Planung des Lehrangebots und sogar bei Personal- und Berufungsentscheidungen in gleicher Weise wie Professoren und Mittelbauangehörige entscheidungsberechtigt sind, fasziniert sie. Nie hätte sie gedacht, dass sie als einfache Studentin an der Universität auch mitbestimmen und mitgestalten könnte. Und da sich die älteren Studenten ­ohnedies intensiver dem Abschluss ihrer Dissertation widmen müssen, suchen sie jetzt Nachfolger, die bei der nächsten Wahl vom 17. bis 19. Mai 1983 als Studienrichtungsvertreter kandidieren wollen. Bei viel Kaffee und lebendigen Diskussionen in der Mensa entschließt 9

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Bundesgesetz vom 15. Juli 1966 über die Studien an den wissenschaftlichen Hochschulen (Allgemeines Hochschulstudiengesetz [AHStG 1966]). Ursula studiert hingegen nach dem Studienplan für die Studienrichtung Klassische Archäologie in der Fassung vom 19. März 1979.

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sich Ursula zur Kandidatur. Viel spricht sie in dieser Zeit mit anderen Studienkollegen, erfährt dabei, wo der Schuh drückt. Oft klagen sie, dass sie keine oder zu wenige Informationen aus dem Institut erhalten. Um das zu verbessern, will Ursula regelmäßige Hörerversammlungen abhalten, um die Meinung der anderen Archäologiestudenten in den Gremien einbringen zu können. Bei den Institutskonferenzen geht es bisweilen recht lebhaft und turbulent zu, und das hat neuerdings vor allem einen Grund: Die Archäologen wollen sich von der Alten Geschichte trennen und zu einem eigenständigen Institut werden. Das alte Doppelinstitut sei nicht mehr zeitgemäß, heißt es. Man müsse die zunehmende Spezialisierung in den einzelnen Disziplinen zur Kenntnis nehmen und ihr durch eine Trennung des bisherigen Instituts Rechnung tragen. Auch in der Studienkommission ist nicht immer alles eitel Wonne, vor allem bei den Diskussionen über die Lehrveranstaltungsthemen und den neuen Studienplan. Schließlich will ein Professor oft etwas anderes als ein Student. Gut, dass die Professoren nicht immer alles unter sich ausmachen können. »Was wäre das für eine seltsame Demokratie, wenn unsere studentischen Anliegen nicht berücksichtigt würden«, sagt sich Ursula. Das probate Mittel dagegen: Bündnisse mit dem Mittelbau, der ohnedies mehr Gespür für die Bedürfnisse und Wünsche der Studenten hat, und dadurch die Professoren überstimmen! Aber die demokratische Struktur lässt es zu, dass man sich ab und zu auch den Professoren anschließt, wenn es der Mittelbau zu bunt treibt. Doch man muss höllisch aufpassen, denn schnell ist ein Formalfehler gemacht, und dann lacht sich der Studienkommissionsvorsitzende, der gefühlte 1.000 Paragraphen jederzeit im Hinterkopf hat, wieder in’s Fäustchen. Wofür sich Ursula jedenfalls in nächster Zeit verstärkt einsetzen will, ist ein Gastprofessor aus Amerika. Sie träumt davon, einmal an einer renommierten Universität in den USA ein Stipendium zu erlangen, wenn nicht überhaupt später dort beruflich tätig zu sein. Bis es jedoch so weit ist, möchte sie hier in Wien zumindest dann und wann einige Lehrveranstaltungen von britischen und amerikanischen Pro-

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fessoren besuchen, über die man so viel hört. Ihrem Englisch wird das auch guttun, denn durch das viele Griechischlernen mit der komplizierten Grammatik hat sie schon so manches aus der Schule wieder vergessen. Dass ein hoch angesehener Gastprofessor, Anton Raubitschek,11 der 1938 in die USA emigrieren musste und danach in Princeton, Yale und Stanford Karriere machte, bereits im Sommersemester 1985 im Rahmen eines Gastsemesters in Wien zu ihren Lehrern zählen sollte, konnte Ursula zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Besonders aufregend sind Sitzungen in der Fakultät, immerhin sind da so viele hoch angesehene Wissenschaftler anwesend, die von manchen Studenten nur als »Silberrücken« bezeichnet werden – und Ursula mitten drin als noch junge Studentin! Am besten, sie schaut sich das einmal ein paar Sitzungen hindurch bloß aus der letzten Reihe an, ehe sie den Mund aufmacht und womöglich riskiert, zusammengeputzt zu werden. Noch mehr Respekt hat sie vor Berufungskommissionen und will sich solche erst in einigen Semestern antun; denn die Verantwortung, die richtige Entscheidung zu finden, lastet dabei auf jedem Einzelnen. Sie kann eben im 3. Semester nicht bereits alles machen; sie setzt sich zwar ein, übernimmt sich aber nicht: Denn auf solche Kommissionen muss man sich intensiv vorbereiten, die Sitzungen dauern oft lang; außerdem darf sie nicht auf ihr Studium und die anstehende Griechischprüfung vergessen. Ach, dieser Stress: studieren, lernen, die Gremienarbeit – und das Privatleben darf auch nicht zu kurz kommen! Und so sieht sie es schon auf sich zukommen, dass sie neben dem Studium bald einen Teilzeitjob annehmen muss, denn hoch ist die Studienbeihilfe nicht und das Leben in Wien nicht billig. 11

Anton Raubitschek (1912–1999), Althistoriker und Epigraphiker. Vgl. Michael H. Jameson, Antony E. Raubitschek, 1912–1999. In: American Journal of Archaeology 103 (1999), S. 697f.; Peter Siewert, Antony E. Raubitschek †. In: ­Tyche. Beiträge zur Alten Geschichte, Papyrologie und Epigraphik 14 (1999), S. 1f.; Gudrun Wlach, Klassische Archäologie in politischen Umbruchzeiten. Wien 1938–1945. In: Mitchel Ash u. a. (Hgg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien. Göttingen 2010, S. 350.

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Entspannter als die Kommissionsarbeit empfindet Ursula die Sitzungen bei der Österreichischen Hochschülerschaft,12 wo alles irgendwie ganz locker abläuft. Natürlich gibt es auch hier einige ­Alphamännchen, richtige Machos, aber hier fällt es ihr leichter, ihre Meinung offen auszusprechen. Fragen der Studienbeihilfe vertritt sie sogar mit Vehemenz, denn davon versteht sie etwas! Hier in der ÖH geschieht vieles basisdemokratisch. Und hier hat sie auch von den geplanten Protesten in der Hainburger Au erfahren, denen sie sich aus Überzeugung anschloss, ohne lange zu überlegen. Jetzt friert sie hier am Lagerfeuer vor dem Zelt und bereitet sich mit Peter sowie den anderen Au-Besetzern auf die nächste Konfrontation mit der Gendarmerie, der Polizei, den Holzfällern und anderen »Baummördern« vor.

Weiterführende Literatur: Gundi Dick u. a. (Hgg.), Hainburg. Ein Basisbuch. 276.485 Anschläge gegen den Stau. Wien 1985. Verena Gassner, Zur Geschichte des Instituts für Klassische Archäologie der Universität Wien. In: Forum Archaeologiae 17/XII (2000) (http://farch.net bzw. http:// homepage.univie.ac.at/elisabeth.trinkl/forum/forum1200/17ika.htm). Martina Pesditschek, Zur Geschichte des Instituts für Alte Geschichte, Altertumskunde und Epigraphik der Universität Wien (anläßlich seines 125jährigen Bestehens). In: Die Sprache. Chronicalia Indoeuropaea 39/3 (1997 [2002]), S. 1–24. Elisabeth Stenitzer, Der Konflikt um Hainburg. Eine Chronologie der Ereignisse und deren Auswirkungen auf das politische System Österreichs. Wien univ. Diplomarbeit 1994. Ekkehard Weber, 100 Jahre Institut für Alte Geschichte, Archäologie und Epigraphik der Universität Wien. In: Römisches Österreich 4 (1976), S. 301–314. Ekkehard Weber, Institut für Alte Geschichte und Klassische Archäologie. Ein Nachruf. In: Österreichische Hochschulzeitung 36/November (1984), S. 29f.

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Die Österreichische Hochschülerschaft (seit 2005 Österreichische Hochschülerinnen- und Hochschülerschaft) ist die gesetzliche Vertretung der Studierenden der österreichischen Hochschulen und Universitäten. Für Studierende besteht Pflichtmitgliedschaft.

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Azra und Sevde – Studieren heute

Ein Interview zur aktuellen Situation von Studierenden an der Universität Wien

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InterviewerInnen: Ina Markova – Christoph Mentschl – Maria Wirth

Welches Fach studieren Sie und wie lange studieren Sie schon?1 Sevde: Ich studiere im fünften Semester Orientalistik/Turkologie im Hauptfach – aus Interesse. Nebenbei mache ich noch Geschichte und Englisch auf Lehramt, da bin ich jetzt im dritten Semester. Später könnte ich mir eine Ausbildung zur Dolmetscherin vorstellen, Inte­ grationsarbeit würde mich auch interessieren. Azra: Ich studiere Geschichte und Französisch auf Lehramt im siebten Semester – aus Interesse und weil damit ein konkreter Berufswunsch verbunden ist. Davor habe ich Volkswirtschaft studiert. Das Studium habe ich aber nicht abgeschlossen, weil ich zu etwas für mich Passenderem wechseln wollte. Haben Sie sich bewusst für die Universität Wien entschieden? Sevde: Ich habe mich für die Uni Wien entschieden, weil hier Turkologie angeboten wird. Zudem wollte ich auch wegen der Stadt nach Wien. Azra: Ich habe zuerst an der WU studiert, wollte dann aber an die Uni Wien wechseln. Sie hatte für mich das Image, dass sich dort freies Denken entfalten kann. Inwiefern das zutrifft, ist natürlich eine andere Frage. Aber das habe ich mit der Universität verbunden. Außer1

Das folgende Interview ist kein fiktionaler Beitrag.

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Abb. 1: Studierende vor dem Eingang zum Hauptgebäude der Universität Wien (© Universität Wien)

dem hat die Audi-Max-Bewegung2 dazu beigetragen, dass ich mich für die Uni Wien entschieden habe. Dass Studierende ein Zeichen gesetzt haben, hat mich beeindruckt. Und dann gab es auch noch ein Schlüsselerlebnis an der WU. Da war einmal auf einem großen Transparent »Rekrutierungsmesse« zu lesen, und ich habe mir gedacht: Ich will doch nicht in den Krieg ziehen.

Sind Sie mit Ihren Studienbedingungen zufrieden? Azra: Den Aufbau des Studiums finde ich nicht optimal. Die großen einführenden Lehrveranstaltungen führen dazu, dass man sich erst spät in ein Thema vertiefen kann und erst spät eine Betreuungssituation gegeben ist. Ob es ein Feedback gibt, hängt stark von den LehrveranstaltungsleiterInnen ab. Ich habe so etwas erst einmal er2

2009 formierte sich eine studentische Protestbewegung, die als »AudimaxBewegung« oder »Uni brennt« bekannt wurde und sich vor allem gegen die Einführung des Bologna-Systems sowie für eine Demokratisierung der Hochschulen einsetzte. Das öffentliche Augenmerk richtete sich besonders auf die Besetzung und anschließende polizeiliche Räumung des Auditorium Maximum der Universität Wien.

Azra und Sevde – Studieren heute

Abb. 2: Sevde Özdemir und Azra Bajrica am Institut für Zeitgeschichte (© Ina Markova, Christoph Mentschl, Maria Wirth)

lebt. Während des Studiums wird der Eindruck vermittelt, dass man »schnell durch muss«, ohne sich mit Details und persönlichen Interessen aufzuhalten. Man bekommt eine Note und das war’s. Sevde: Ich habe die Anfangsphase mit den großen »Massenvorlesungen« auch als oberflächlich empfunden und habe auch lange ein Feedback vermisst. Eine schriftliche Rückmeldung auf eine Seminararbeit habe ich auch erst einmal bekommen. Sonst gibt es immer nur eine Note, aber was sagt die schon aus?

Es gibt einige KritikerInnen, die diese Entwicklung auf das neue Bologna-System3 zurückführen. Haben Sie irgendwelche Vergleichswerte? Sevde: Vergleichen kann ich das natürlich nicht mit früher. Aber ich kann – wenn ich an die Orientalistik denke – Verzögerungen auf3

Das wichtigste Element des Bologna-Prozesses ist die Einführung einer dreigliedrigen Studienarchitektur, die in der Form von Bachelor-, Master- und PhD-Schritten aufgebaut ist. Zusätzlich soll Europa als Hochschul- und Forschungsstandort positioniert werden. KritikerInnen machen allerdings auch eine zunehmende Trennung von Forschung und Lehre, eine Verschulung der höheren Bildung sowie eine marktorientierte, drittmittelabhängige Hochschulstruktur aus.

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Abb. 3: Vorlesung im Audimax, dem größten Hörsaal der Universität Wien (© Universität Wien)

grund der Voraussetzungsketten ausmachen. Ich bin dazu gezwungen, zuerst Kurs 1 zu machen, um dann Kurs 2 belegen zu können, obwohl ich ohne Weiteres beide zur gleichen Zeit machen könnte. Azra: Es gibt zwar im jetzigen Studienplan für das Lehramt keine Unterteilung in Bachelor und Master, aber grundsätzlich geht das schon in eine ähnliche Richtung. Es gibt auch diese aufbauenden Module. Das ist schon massiv verschult und verhindert, dass man persönliche Interessen weiterentwickelt und Schwerpunkte setzt.

Und wie beurteilen Sie die Einführungsprüfungen? Sevde: Das ist relativ unterschiedlich. Bei Geschichte war es eine Übung, während es bei Englisch schon eher eine Knock-out-Prüfung war. Ich finde nicht, dass es der Sinn einer Eingangsphase ist, so viele Leute wie möglich »auszusieben«. Azra: Ich denke, dass in den medialen Debatten über den BolognaProzess mitunter eine gewisse Nostalgie à la »Früher war alles besser« vermittelt wird, sehe aber auch, dass die Uni eher zu einer Ausbildungsinstitution geworden ist. Da fühle ich mich schon um eine Erfahrung betrogen.

Azra und Sevde – Studieren heute

Wie finanzieren Sie Ihr Studium? Sevde: Ich bekomme Studienbeihilfe. Azra: Ich finanziere mein Studium durch Teilzeitarbeit großteils selbst, bekomme aber auch ein wenig Unterstützung von meinen ­Eltern.

Wie ist die Situation bei Ihren KollegInnen? Studieren viele mit einem Stipendium oder wird das Studium durch verschiedene Einnahmequellen finanziert? Azra: Die Studierenden, die ich kenne – das ist eine recht homogene Gruppe – werden großteils von den Eltern unterstützt und arbeiten nebenbei ein wenig. Andere bekommen Studienbeihilfe. Es ist sehr unterschiedlich. Es kommt darauf an, von welchen sozialen Gruppen man spricht. Sevde: Meine KollegInnen bekommen Studienbeihilfe und arbeiten nebenher ein bisschen, weil es sich sonst nicht ausgehen würde. Ist das Budget, das Sie zur Verfügung haben, ausreichend? Azra: Das ist eine Frage der Ansprüche. Wenn man diese gering hält, geht es sich aus. Sevde: Die Lebenshaltungskosten (Wohnung, Essen, Kleidung) kann ich decken. Außertourliche Ausgaben (Reisen) gehen sich kaum aus.

Zahlen Sie Studiengebühren? 4 Sevde: Nein. Azra: Ja, aber ich hoffe, dass sie mir jetzt erlassen werden. Ich habe einen Antrag eingebracht, der falsch geprüft wurde. Ich musste 4

Die Studiengebühren wurden in den 1970er-Jahren abgeschafft, 2001 jedoch wieder eingeführt. 2008 wurde das Studium innerhalb der Mindeststudiendauer samt zwei Toleranzsemestern von Gebühren befreit. Nachdem dies für verfassungswidrig erklärt wurde, konnte sich die Regierung nicht auf eine Neuregelung einigen. Einige Unis erhoben danach autonom Gebühren. Ende 2012 trat die Regelung von 2008 im Wesentlichen wieder in Kraft. Gegenwärtig betragen die Studienbeiträge 363,16 Euro pro Semester, für Studierende aus Nicht-EU-Staaten das Doppelte. Es bestehen mehrere Ausnahmeregelungen.

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dann den Beitrag zahlen – fälschlicherweise, weil ich teilzeitbeschäftigt bin. Jetzt habe ich Berufung eingelegt, warte aber schon seit sieben Monaten auf eine Entscheidung. Es ist sehr schwer mit der Uni-Bürokratie. Es gibt nur wenige Möglichkeiten, nachzufragen, zu urgieren oder Beschwerde einzulegen. Der Umgang mit den Studierenden ist oft nicht akzeptabel.

Lässt Ihnen Ihr Studium Zeit, sich unipolitisch zu betätigen? Etwa bei der ÖH? Azra: Unipolitik interessiert mich, und ich verfolge auch die Debatten, aktiv tätig bin ich aber nicht. Das geht sich neben dem Studium und der Arbeit nicht aus. Zudem engagiere ich mich auch noch in e­ inem Bildungsprojekt für junge Flüchtlinge. Sevde: Ich arbeite auch ehrenamtlich bei einem interkulturellen StudentInnenverein mit, der vorwiegend von MuslimInnen, vor allem TürkInnen, betrieben wird. Ich war 2011 auch an den ÖH-Wahlen aktiv beteiligt und wurde zur Studienrichtungsvertreterin gewählt.

Wie sehen Sie die Situation bei Ihren KollegInnen? Wird Unipolitik als wichtig erachtet? Azra: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das sehr von der Studienrichtung abhängt. Auf der Romanistik ist hochschulpolitisches Engagement kein Thema. Bei Geschichte ist es ganz anders. Das Geschichtestudium bietet eher einen Rahmen, um solche Themen zu diskutieren. Das hat sicher mit der Institutskultur zu tun. Sevde: Bei der Orientalistik bekomme ich relativ wenig unipolitische Diskussionen mit. In der Geschichte ist das anders – da stimme ich meiner Kollegin zu.

Sie arbeiten Teilzeit, sind im NGO-Bereich engagiert und studieren. Wie viel Freizeit bleibt da noch? Sevde: Ich habe noch Zeit, um mir Vorträge, die mich interessieren, anzuhören, und nutze meine Freizeit auch dafür. Azra: Freie Zeit habe ich am Wochenende, unter der Woche kaum. Aber es war meine persönliche Entscheidung, die Zeit, die mir ne-

Azra und Sevde – Studieren heute

ben Studium und Teilzeitbeschäftigung noch bleibt, im NGO-Bereich zu verbringen. Generell ist meine Zeit so eingeteilt, dass ich ständig ­etwas für die Uni mache. Und das muss auch so sein, um weiterzukommen. Die Uni ist ein Fulltime-Job.

Über die heutige Generation der Studierenden sagt man häufig, dass sie die »Generation Praktikum«5 sei und es in Hinblick auf die spätere Berufstätigkeit notwendig sei, Praktika vorweisen zu können. Haben Sie Praktika absolviert und wenn ja: Haben Sie diese machen müssen, waren sie berufsbezogen oder Sommerjobs, um Geld zu verdienen? Azra: Nachdem ich Lehramt studiere, bin ich mit dieser Frage nicht konfrontiert worden. Ich habe gearbeitet, aber das war nicht auf das Studium bezogen, sondern bloße Lohnarbeit. Sevde: Ich habe auch keine Praktika gemacht. Mir wurde das auch nicht vorgeschrieben, aber ich würde es gerne machen, weil man Erfahrungen sammeln kann und es sich positiv im Berufsleben auswirkt – notfalls auch unbezahlt, in diesem Fall aber nicht über einen langen Zeitraum hinweg.

Kennen Sie die Problematik aus Ihrem Freundeskreis? Sevde: Ja. Azra: Ja, ich kenne vor allem Studierende aus dem Bereich der Sozialwissenschaften, die noch im alten Diplomstudium ständig irgendwelche Praktika und Volontariate machen mussten. Mein Bruder hat etwa während seines Studiums ständig bei Medien gearbeitet, Volontariate gemacht und ist ins Ausland gefahren, bis man ihm gesagt hat, dass er überqualifiziert sei. Ich denke, dass es in den Sozialwissen5

Unter »Generation Praktikum« versteht man jene Gruppe von HochschulabsolventInnen, die schlecht bzw. unbezahlte Praktika annimmt und so in prekäre Lebensverhältnisse gedrängt wird. Im Idealfall sind Praktika als Einstieg in den Beruf gedacht. Zuletzt hat sich allerdings der Trend verstärkt, PraktikantInnen als billige Arbeitskräfte zu verwenden. Zu den Betroffenen gehören vor allem AbsolventInnen der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Laut einer Studie aus 2011 absolvieren 13 % eines Studienjahrgangs ein oder mehrere Praktika, davon ein Viertel ohne Bezahlung.

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Abb. 4: Studierende im Lesesaal der Universitätsbibliothek (© Universität Wien)

schaften ein großes Thema ist. Die persönliche Aufopferungsbereitschaft muss da sein. Und wenn sie nicht da ist, kommt man nicht weit.

Zahlreiche Studien belegen, dass immer noch eher Kinder aus AkademikerInnenfamilien6 studieren als Kinder aus ArbeiterInnenfamilien. Wie sieht Ihr familiärer Hintergrund aus? Kommen Sie aus einer AkademikerInnenfamilie oder sind Sie das erste Familienmitglied, das an die Universität gegangen ist? Azra: Meine Eltern sind ArbeiterInnen. Mein Vater ist Hausmeister und meine Mutter ist Altenpflegerin. Mein Bruder hat studiert, aber das Studium nicht beendet. Ich werde hoffentlich die Erste sein, die abschließt. Sevde: Bei mir ist es ähnlich. Meine Eltern sind beide ArbeiterInnen. Mein Vater war lange selbständig, jetzt ist er angestellt. Meine Mutter arbeitet erst seit ein paar Monaten. 6

Nach einer Sozialerhebung der Studierenden aus dem Jahr 2011 beginnen Kinder aus Haushalten, in denen zumindest ein Elternteil AkademikerIn ist, nach wie vor wesentlich häufiger ein Studium als Kinder aus »bildungsfernen« Schichten. Die ÖH der Uni Wien unterhält ein »ArbeiterInnenkinder-Referat«, um Studierenden aus nicht-akademischen Familien den Einstieg in das Uni-Leben zu erleichtern.

Azra und Sevde – Studieren heute

Sind Sie – als Sie zu Hause gesagt haben, dass Sie an die Universität gehen wollen – von den Eltern unterstützt worden oder haben Sie sich durchsetzen müssen, um diesen Weg zu gehen? Azra: Von mir wurde erwartet, dass ich studieren werde. Dafür ­arbeiten die Eltern. Die Kinder sollen es einmal besser haben. Sie sollen studieren gehen und werden auch unterstützt, wobei die Unterstützung eine moralisch-finanzielle ist. Was nicht da ist, ist die Erfahrung, die einem mitgegeben werden kann. Den Wert dieser Erfahrung habe ich, als ich zu studieren begonnen habe, gering eingeschätzt. Im Laufe der Zeit habe ich aber gemerkt, dass hier wichtige Informationen an mir vorbeigegangen sind – vor allem was die Haltung, den Habitus betrifft. Sevde: Bei mir war es klar, dass ich studieren werde – schon seit der Volksschule. Besonders meine Mutter wollte, dass ich ins Gymnasium gehe. Meine ältere Schwester hat auch studiert, meine jüngeren Geschwister haben das jetzt auch vor. Wir haben da viel Unterstützung bekommen. Die Erfahrung hat aber auch gefehlt. Da konnten meine Eltern nichts weitergeben. Ich habe mir etwa bei der Wahl der Studienrichtung schwergetan, und da hat gefehlt, dass mich meine Eltern beraten konnten.

Sind Sie hier in Österreich geboren worden bzw. wie alt waren Sie, als Sie nach Österreich gekommen sind? Azra: Ich war fünf Jahre alt, als ich nach Österreich gekommen bin. Meine Familie ist im Zuge des Jugoslawienkriegs geflüchtet und hier in Wien gelandet. Sevde: Ich bin in Oberösterreich geboren worden. Meine Eltern waren zwanzig Jahre alt, als sie nach Österreich gekommen sind, aber die Kinder sind alle hier geboren worden. Haben sie das Gefühl, dass Ihr »Migrationshintergrund«7 im Studium

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Im Wintersemester 2010/11 studierten 315.000 ordentliche HörerInnen an österreichischen Hochschulen, davon 265.000 an Universitäten (84  %). Der Frauen­anteil lag bei 54 %. Knapp 65.000 (21 %) hatten eine ausländische Staats-

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eine Rolle spielt? Haben Sie deswegen schon Diskriminierungen erfahren? Azra: Eine strukturelle Diskriminierung mache ich schon auf dem Weg zur Universität fest. In der Volksschule war es die Frage, ob ich aufs Gymnasium gehen soll oder nicht – die Volksschullehrerin sagte, lieber nicht, »wegen der Sprache«. Im Gymnasium merkt man dann, dass man nicht hineinpasst wegen der anderen Lebensrealität, und es wird eine Anpassungsleistung gefordert, die auf Kosten der Muttersprache geht. An der Uni habe ich keine offenen Diskriminierungen erfahren, wofür sicher auch maßgeblich ist, dass ich perfekt Deutsch spreche. In den Lehrveranstaltungen gibt es aber immer den Moment, wo die Namensliste vorgelesen wird und es bei »B«, wenn mein Name dran ist, einen Stopp gibt – und das ist dann schon ein Moment, wo ein »Anderssein« empfunden wird. Sevde: Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass offene Diskriminierungen die Ausnahme sind. Es gibt aber schon Bemerkungen, die nicht passend sind. So hat mich einmal ein Student vor einer Vor­lesung gefragt, warum ich ein Kopftuch trage. Ich habe im Scherz geantwortet, dass mich meine Eltern dazu zwingen würden. Wir haben dann darüber gelacht, aber er hat sich noch einmal umgedreht und ernsthaft nachgefragt: »Aber nicht wirklich?« Ein anderes Mal hat eine Professorin gemeint, ich würde mit dem Kopftuch nicht so gut hören. Inwiefern sind Sie schon mit dem Universitätsjubiläum konfrontiert ­worden? Sevde: Ich habe erstmals davon gehört, als ich die Interview­ anfrage bekommen habe, und sehe das Universitätsjubiläum auch als Chance, um über die jetzige Situation der Studierenden nachzudenken – auch was das Thema Integration betrifft. Wir kämpfen für bürgerInnenschaft, wobei es sich bei den Allermeisten aber um »BildungsinländerInnen« handelt. Von erwähnten ausländischen StudentInnen stammten 22.500 (38 %) aus Deutschland und rund 6.000 (9 %) aus Südtirol. Die Zahl der ausländischen Studierenden hat sich damit zwischen 2002 und 2010 verdoppelt, allerdings ist die Zahl der Studierenden auch generell angestiegen.

Azra und Sevde – Studieren heute

einen Raum, in dem wir beten können, aber die Uni Wien ist strikt dagegen. Meistens wird gesagt, dass keine Räume zur Verfügung stehen, wobei eine so große Uni hierfür eigentlich Platz haben sollte. An der Uni Wien sind so viele muslimische Studierende, auch sehr viele MuslimInnen aus den Drittstaaten, die 750 Euro zahlen müssen, aber man geht auf unsere Wünsche nicht ein.

Sehen Sie das Uni-Jubiläum auch als Möglichkeit, um Anliegen besser formulieren zu können? Azra: Ich denke, man soll die Frage stellen, wem die Universität gehört und wessen Ansprüchen sie gerecht werden soll – und mein Wunsch wäre, dass die Universität den Studierenden gehört und nicht zur letzten Auswahlinstanz wird, um dann »rekrutiert« zu werden. Das, was die Audi-Max-Bewegung begonnen hat, sollte fortgeführt werden. Sevde: Ich finde, dass man das Jubiläum nützen kann, um Anliegen zu formulieren, und die Uni sollte dieses Jubiläum nützen, um Änderungen vorzunehmen und auf die Studierenden einzugehen. Weiterführende Literatur und Links: Hubert Eichmann u. a., Praktika und Praktikanten/Praktikantinnen in Österreich. Empirische Analyse von Praktika sowie der Situation von Praktikanten/Praktikantinnen. Wien 2011. Forschungsgruppe equi am Institut für Höhere Studien (IHS), Ergebnisse der Studierenden-Sozialerhebung 2011: http://ww2.sozialerhebung.at/Ergebnisse/ Birgit Kemminger, Bildungsentscheidungen von Studierenden mit und ohne Migra­ tionshintergrund. Wien univ. Diplomarbeit 2011. Statistik Austria, Migration & Integration. Zahlen, Daten, Indikatoren 2014. Wien 2014. Informationen zum Bologna-Prozess: http://bologna.univie.ac.at/fakten/ Informationen zum Thema Studiengebühren: http://www.studium.at/studiengebuehren, http://www.oeh.ac.at/rundumsgeld/#/rundumsgeld/#studiengebuehren Referat für ArbeiterInnenkinder der ÖH: http://www.oeh.univie.ac.at/arbeitsbereiche/arbeiterinnnenkinder/ Studieren im europäischen Hochschulraum: http://wissenschaft.bmwfw.gv.at/bmwfw/studium/studieren-im-europaeischen-hochschulraum/ #unsereuni – Studentenproteste in Österreich: http://unsereuni.at/ueber-unsereuni/

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Winona hat das Studium »Kulturwelten« an der Neuen Universität Wien gebucht

Frühling 2065

Fritz Blakolmer

Groß und weit, vielleicht schon eine Spur zu weit ist der schicke neue Neopren-Overall, den junge Leute heuer, im Frühling 2065, tragen. Der modische, an den Seiten ein wenig höhere Stehkragen sitzt perfekt. »Und er behindert mich auch nicht, wenn ich meinen Datenhelm anlege, um für meine Uni-Kurse zu lernen«, denkt sich Winona vor dem Spiegel daheim in Bad Radkersburg. Ganz im Gegenteil: Die neuen Kopfhörer, die sie gemeinsam mit dem u-pad in schickem Uni-Rosa bei der u-student-week um nur 12,90 Global erstanden hat, lassen sich tadellos in den Kragen integrieren. Zeitgebundene Mode, Veränderung, das Heute und das Morgen, vor allem aber das Gestern – Winona hat sich schon immer für Geschichte interessiert, für die Vergangenheit, das alte 20. Jahrhundert, aber auch für fremde Kulturen und für die vielen Sprachen. Sie will einfach mehr darüber wissen, ihre Neugier befriedigen, und studiert deshalb »Kulturwelten« an der Neuen Universität Wien mit ihrem vielfältigen Angebot an globalen Partnerschaften. Sie hat diese Uni für ihre »Kulturwelten«-Kurse gewählt, da sie nicht nur auf eine lange Tradition zurückblicken kann, sondern weil diese Neue Universität Wien auch weltweit engmaschig vernetzt ist und so viele interessante Kurse anbietet. Ihre Oma Lenka erzählte ihr, dass man diese Studien früher einmal als »Orchideenfächer« belächelt hat, gleichsam als Studienwelten ohne Nutzen und unbrauchbar für wirtschaftliche Verwertungsinteressen. Erfüllen blühende

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Blumen denn keinen Zweck? Doch, ist Winona überzeugt. Denn ohne die blühende Natur gäbe es uns gar nicht. Wir brauchen sie einfach zum Leben, und dementsprechend florieren heute an der Uni auch die »Kulturwelten«-Kurse mit ständig wachsenden StudentInnenzahlen, besonders seit ein paar Jahren, seit der Sache mit den Büchern. Was ihre alte Oma Lenka noch immer nicht verstehen will: Wie kann Winona bei ihr daheim in Radkersburg wohnen und dennoch Kurse in Wien gebucht haben? Wie oft hatte Winona ihr das nicht schon zu erklären versucht! Auch wenn die Fahrt von Bad Radkersburg nach Wien mit dem Digi-Car oder dem High-Speed-Train durch den vor Kurzem fertiggestellten Semmering-Railroad-Basistunnel nur noch unwesentlich länger als eine Stunde dauert, wäre es dennoch lästig, immer wieder dorthin fahren zu müssen. Warum auch! Alles, was Studieren bedeutet, kann auch von daheim aus erledigt werden, und die Ultraschalltechnologie macht schon lange Hologramm-Lehrveranstaltungen möglich, schwärmt Winona mit strahlenden Augen hinter ihrer Datenbrille. Die große Wirtschaftskrise im frühen 21. Jahrhundert hat damals auch den technologischen Fortschritt wesentlich verlangsamt, wie Winona mit anderen StudentInnen in einem fächerübergreifenden »Kulturwelten«-Kurs herausgearbeitet hat. Wären die Gelder nicht in die Rettung der Banken gesteckt worden, die danach ohnehin fusionierten bzw. geschlossen werden mussten, sondern noch stärker in globale Thinktanks – auf welch viel höherem Niveau könnte die Technologie heute sein! Und den Pensionskonten-Crash nach der Privatisierung der Agenda des Lebensdauer-Ministeriums hätten wir uns dadurch sicherlich auch erspart, klagt Oma Lenka, die damals mit 55 Jahren, also in der Lebensmitte, in Pension ging. Aber getan hat sich doch so einiges in den letzten Jahren, auch an den Unis, nicht zuletzt wegen dieser Sache mit den Büchern. Oma Lenka erzählte Winona, dass sie damals, in ihrer eigenen Studienzeit an der alten Uni Wien, noch Vorlesungen in sogenannten »Hörsälen« besuchen musste. Fürchterlich!, sagte sie. Die waren zwar riesengroß, aber doch meist völlig überfüllt; und wenn sie zu

Winona hat das Studium »Kulturwelten« gebucht

Abb. 1: Ulrich (1461) und Lenka (2015, lange bevor sie Oma wurde) (Zeichnung: Fritz Blakolmer)

spät kam, weil die schleichende alte U-Bahn – »Silberpfeil« genannt! – wieder einmal eine Panne hatte, blieb ihr ohnehin nur noch der Fußboden zum Sitzen und zum Mitschreiben auf ihrem großen, unhandlichen Laptop. Und das nannte man damals allen Ernstes auch noch »Service-orientiert« und voller Bescheidenheit »Weltklasse-Universität«! Zum Glück wurden das Studium und die gesamte Universitätslandschaft aber vor Kurzem völlig neu strukturiert und die Uni Wien als »Neue Universität Wien« wiederbegründet: ohne Hörsäle, ohne Institute, ohne Büros, und auch die traditionellen Bibliotheksräume ließ man endgültig auf. Die imposanten, uralten Festsäle an der Uni werden aber noch immer genutzt, für Milestone- und FiletransferMeetings, für Global Partner-Parties und Kursabschluss-Events. Und der große Arkadenhof bildet mit seinen Beaming-Platforms ein spektakulär altertümliches Ambiente für emotionale Begegnungen und dramatische Verabschiedungen. Es war schon gut, dass sich die Universitätslandschaft vor Kurzem weltweit neu strukturiert hat, damals, nach dieser Geschichte mit den Büchern, findet Winona. Europäische Union war gestern, »global« ist heute, da ist sich Winona sicher. Die traditionsreiche EU,

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mit der Türkei und dem abgespaltenen Westrussland, war ja echt ein nano-altmodisches Konzept. Wir sind doch nicht bloß Studierende innerhalb der engen Grenzen Europas, denkt sie sich, sondern verstehen uns als globalistisch aufgeschlossene Studienwelten-User und Weltbürger! Viele behaupten, die Neuordnung der Universitäten in Österreich wäre durch »die veränderte Realität« notwendig geworden. Winona, die sich in »Kulturwelten« und »Present-Welten« bestens auskennt, meint hingegen, man habe damals in Österreich sicher bloß wieder einsparen wollen und nutzte dafür den internationalen Trend. Jedenfalls dürften nicht so sehr die Eingliederung der Wissenschaftsagenda in das Kommunikationsministerium und das PolitikerSchlagwort der »erforderlich gewordenen globaluniversitären Organisationselastizität« den Ausschlag dafür gegeben haben, sondern letztendlich diese Aktion mit den Büchern, ist sich Winona sicher. Das Studium funktioniert jetzt nach dem »Mumbai-Prozess«. Für Österreich unterzeichnete den GUP, den »Global University Pact«, sogar Bundespräsident Sebastian Kurz persönlich. Dessen steile politische Karriere hat es ihm zwar nie erlaubt, sein einst begonnenes Studium an der alten Universität Wien je abzuschließen, aber er war ihr dennoch stets verbunden – und so diente er »BummelstudentInnen« nachfolgender Generationen als willkommenes Beispiel dafür, dass man es auch als lange Jahre prüfungsinaktiver Student zu ­etwas bringen kann. Trotz seines hohen Alters ließ er es sich jedenfalls nicht nehmen, selbst zur feierlichen Vertragsunterzeichnung nach Mumbai zu reisen, und zwar nicht in Hologramm-Virtualität, sondern real, was in seinem Alter durchaus mit Unannehmlichkeiten verbunden war: Wegen der technisch-medizinischen Inkompatibilität mit seinen eingesetzten Bioersatzteilen war das Beamen für das betagte Staatsoberhaupt zu riskant. Und da in den 2030er-Jahren der zivile Luftverkehr wegen der katastrophalen Auswirkungen auf das globale Klima eingestellt worden war, blieb ihm nur der mühsame Transfer per Digi-Car und Speed-Flitzboot. Die alten »Fakultäten«, von denen Oma Lenka immer so ehrfürchtig erzählt, gibt es heute an der Neuen Uni Wien natürlich nicht mehr.

Winona hat das Studium »Kulturwelten« gebucht

Als Service-orientierte Dienstleistungsorganisationen wurden stattdessen »Kurszentren« geschaffen, und Winona fühlt sich an ihrem »KuKu«, dem »Kurszentrum Kulturwelten«, gut betreut. Zum Studieren bucht man als Uni-User jetzt verschiedene »Studienwelten« (hervorgegangen aus den einstigen »Fakultätsschwerpunkten«) und nicht mehr die unflexiblen Einzelfächer wie zu Oma Lenkas Zeit. Auch die ehemaligen Institute an den Fakultäten existieren schon lange nur noch virtuell. Der uralte Uni-Campus in der Spitalgasse wurde zwar einst noch mit hohen Bürotürmen ausgebaut, schließlich aber veräußert und danach in ein Geriatrie-Betreuungszentrum für betagte WissenschaftlerInnen umgewandelt. Aufnahmebedingungen, Zulassungsbeschränkungen, eine Studien­eingangsphase und andere »StudentInnenfernhalte-Mechanismen«, wie das Oma Lenka nennt, gibt es auch schon lange nicht mehr. Wozu auch! Mit ihrer Kursbuchung zahlt Winona ohnehin den ganzen Service, der sie mit ihren persönlichen Bedürfnissen zur Wissenschaft führt. Ganz normale, nach eigener Neigung gewählte Ausbildungsmodule eben, darunter das »Kulturwelten-Package«, das »Sprachen-Package«, alles, was das Herz begehrt! Das KuKu mit seinem vielseitigen Angebot von Telepräsenz boomt bei den Studierenden. »Kultur, das ist einfach das Leben«, sagt sich Winona. Und wenn man Kulturen nicht versteht, wie soll man dann Sozialwelten, Wirtschaftswelten oder Juswelten überhaupt begreifen und damit um­ gehen können? Als konsumorientierte Userin von Kursen möchte sie heute natürlich überall mitreden. Wissenschaft ist ja für alle da und nicht mehr die verstaubte Gelehrtenfestung von einst, bewacht von denselben weißhaarigen Professorinnen und Professoren, die uns vor einem halben Jahrhundert noch die große globale Wirtschaftskrise eingebrockt haben, ist Winona überzeugt! Von einer »Gelehrtengesellschaft« sprachen sie damals hochmütig – ja, wo waren die alle denn, als die Krise ausbrach und die Aktion mit den Büchern notwendig wurde? Haben WirtschaftswissenschafterInnen damals denn nichts mit Wirtschaft zu tun gehabt? Konnten die HistorikerInnen die damaligen Zeichen der Zeit nicht erkennen oder deuteten sie

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diese nur falsch? Heute kann sich natürlich keiner von denen mehr daran erinnern! Retrospektiv erscheinen die Dinge eben immer klarer. Das ist ja das Reizvolle an den Historienwelten, die sie mit dem »Kulturwelten«-Studium jetzt buchen kann. Für den heutigen Service zahlt man gerne. Winona erfuhr in einem ihrer Kurse, dass es an den alten Unis früher, vor nano-langer Zeit, tatsächlich einmal politische Auseinandersetzungen um »Studiengebühren« gab. Irgendwie versteht sie das nicht. Natürlich muss sie für ihre Kursbuchungen auch bezahlen. Ihre Holografie-Apps werden ihr ja auch von niemandem geschenkt! Und studentische Mitbestimmung – braucht man das heute in Zeiten breiter Entscheidungsprozesse überhaupt noch? Das erinnert Winona eher an den Geist von Befreiungskriegen oder der Gender-Quoten zu Anfang des Jahrhunderts. Das Individuum zählt für sie, der selbst bestimmte Weg! Die anderen StudentInnen bekommt sie ohnedies nur bei den RAPs, den »Real Academic Partys«, am Semesterende zu Gesicht, wenn sie sich zum Kursabschluss in Wien im Großen Festsaal der Uni treffen, aber auf Facettebook tauschen sie ohnehin regelmäßig ihre persönlichen und studentischen Probleme aus. Wenn nur das Beamen und die vielen Hightech-Optionen nicht so teuer wären! Das können sich ja nur die fortgeschrittenen StudentInnen leisten, die schon einen Grant der Thomas-Morgenstern-Stiftung erhalten haben. »Und wir Jüngeren schauen wieder einmal durch die Finger!«, ärgert sie sich. Da wäre eine aktivere studentische UserInnen-Vertretung vielleicht doch eine gute Idee! Und damals bei der Sache mit den Büchern haben die StudentInnen ja wirklich ganze Arbeit geleistet! Das Betreuungsverhältnis muss früher an der alten Uni Wien in vielen Fächern unzumutbar gewesen sein! Auch das ist für die Studierenden heute nano-super einfach, weiß Winona: Seit die alte Habilitation abgeschafft wurde, ist jeder Kursleiter ein Professor bzw. eine Professorin und darf StudentInnen betreuen. Allerdings sieht Winona auf Facettebook ihre ProfessorInnen immer wieder klagen, dass sie als Teilzeitangestellte an der Uni schlecht bezahlt sind, kurzfristige Kursverträge, wenig Zeit für eigene Forschung ­sowie

Winona hat das Studium »Kulturwelten« gebucht

kaum Perspektiven haben und auch die Anfragen mancher Studierender einfach grenzwertig seien – da bleibt ihnen nur noch der große Traum von New Oxford oder New Princeton! Aber auch das gab es wohl schon immer. Andere KursleiterInnen der Uni Wien haben das Glück, über Sponsoring privat finanziert zu werden, wie die galacto-coole Frau Prof. Sanaa Abd el-Walid aus Saudi-Arabien auf dem renommierten Conchita-Wurst-Lehrstuhl im »Gender-Welten«Studium. Nur ausgesprochen altmodische Professoren wie Kevin Horvath trauern noch immer »Bologna«1 nach: »Bologna«, das galt doch einmal als die Zukunft, Grenzen überschreitend und Garant für Mobilität; und neuerdings behandle man diese europäische Errungenschaft wie ein verstaubtes Relikt aus ferner Analog-Vorzeit, klagt er immer. »Wie sollen wir von nun an denn die studentischen Leistungen kontrollieren und beurteilen können, wenn wir keine ECTS-Punkte mehr vergeben dürfen?«, ist von vielen älteren ProfessorInnen zu hören. Das heutige System hingegen beruht auf Verantwortung, Vertrauen und Partnerschaft! Überwachung, Kontrolle, Nachweiserbringung und Zitationsoutput werden dem gestiegenen Innovationswettbewerb einfach nicht mehr gerecht. Das gewagte neue Konzept von Mut, Risikobereitschaft und Zuversicht statt systemischer Ängstlichkeit verdanken wir ebenfalls dem »MumbaiProzess«, bei dem damals alle VerhandlungspartnerInnen über ihren Schatten sprangen – und es funktioniert verblüffend gut. Und der Auslöser für all das war diese Aktion mit den Büchern! Aber Prof. Horvath lebt eben noch in der Vergangenheit, als man an den Unis glaubte, man tue den Studierenden mit Verschulung, Reglementierungsfülle und Wirtschaftstauglichkeit etwas Gutes, entrüstet sich Winona und rückt ihren Datenhelm zurecht. Winonas Betreuer an der Uni ist Prof. Vinzenz Sinawatra, echt ein Supertyp! Geboren im schönen Bregenz und außer an der Uni Wien vor allem an der neuen Uni im ungarischen Ásványráró tätig, wo er aber nie persönlich erscheint. Warum auch! Er ist in Bregenz 1

S. dazu das Interview von Ina Markova, Christoph Mentschl und Maria Wirth in diesem Band.

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Abb. 2: Ulrich (1461) und Winona (2065) (Zeichnung: Fritz Blakolmer)

­ hnedies per Hologramm-Präsentation immer erreichbar. Und Kurse, o Präsentationen und Diskussionsforen finden ohnedies per HoloKonferenzschaltung statt. Jedenfalls ist es toll, dass die Uni Wien jetzt Fernkursverträge auch mit der Spitzen-Uni in Ásványráró hat. Und nano-galacto-great, dass alles auf Englisch ist! Trotzdem: In natura würde ich Vinzenz schon gerne einmal kennenlernen, nicht nur in der Videokonferenz oder der HologrammSprechstunde, denkt sich Winona. Ihn einmal persönlich sehen, in seine wirklichen Augen schauen, und nicht nur in der computergestützten Virtualität, im Holo oder auf dem Screen! Ihm die Hand schütteln, und nicht bloß im Bewegungssimulator im schillernden Hologramm, das bei virtuellem Körperkontakt immer gleich zu flimmern beginnt und auf den 3D-Avatar umschaltet. Wie würde seine Stimme klingen, wenn sie einmal nicht aus den Earphones, sondern aus seinem Mund käme? Mit ihm einmal richtig, in real world, kommunizieren! Von der virtuellen in die reale Hemisphäre wechseln! Authentischer, echter wäre das schon, wenn diese technischen Barrieren über uni-phone, Holo oder die anderen mobilen Devices uns nicht immer voneinander trennen würden.

Winona hat das Studium »Kulturwelten« gebucht

Als Studentin der »Kulturwelten«-Kurse arbeitet Winona jetzt auch als Praktikantin beim Ausstellungsprojekt der »KuKu-Gruppe Öffentlichkeitsarbeit« zum bevorstehenden 80-Jahre-Jubiläum des PC mit, den es in seiner alten, ursprünglichen Form schon lange nur noch im »World Museum of Folk Life« (ehemals »Volkskunde­ museum«) zu bewundern gibt.2 Die sehen irgendwie wie die berühmten alten Papierbücher aus, meint sie: gespeicherte Daten zwischen zwei Deckeln, aber ohne Augmented-Reality-Apps. Also typisch VorHolo-Zeitalter! Und in dieser Ausstellung im Museum gibt es sie in einer Vitrine zu bewundern: Exemplare der Bücher, die vor einigen Jahren beinahe die Welt auf den Kopf gestellt hätten. Zurückblickend erscheint es paradox, wie das damals gelaufen ist, doch für Winona sind gerade kulturgeschichtliche Zusammenhänge wie diese das Reizvolle an den »Kulturwelten«. Richtig begonnen hat damals alles mit der Zuspitzung der Auseinandersetzungen zwischen den Unis und der Wirtschaft, da beide zu eng miteinander verflochten waren, die einen ohne die anderen die technologische Entwicklung nicht bewältigen konnten, wie es hieß. Und das mündete in aggressiv geführte Rivalitäten der ungleich orientierten, aber aufeinander angewiesenen PartnerInnen, zu einem ökonomisch-technologischen Druck, der sich über alle Staats-, Kontinents- und Systemgrenzen hinweg in einem mehrjährigen Kräftemessen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft entlud. Gerade die international vernetzten StudentInnen der »Kulturwelten« waren mit ihren Boykottmaßnahmen hauptverantwortlich, im wahrsten Sinne »federführend« für das kritische Hinterfragen der zunehmenden Abhängigkeit der Unis und der Forschung von den Internet-Konzernen und deren letztendlich sehr einseitigen Interessen. Vor allem die StudentInnen der »Körperwelten«, also 2

Vor allem seit 2013 hat dieses Museum immer wieder eng mit der Wiener Universität kooperiert. S. den Ausstellungskatalog: Hubert Szemethy, Marianne Klemun, Martina Fuchs, Fritz Blakolmer, Matthias Beitl (Hgg.), Gelehrte Objekte – Wege zum Wissen. Aus den Sammlungen der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Wien 2013.

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die MedizinerInnen, sträubten sich anfangs gegen den Protest, aber die Studierenden der »Wirtschaftswelten« machten von Beginn an aktiv mit: »So geht das nicht mehr weiter mit unserer über-ökonomisierten Welt!«, erkannten die NachwuchsökonomInnen. Und der verhängnisvolle Auslöser für den studentischen Protest in Österreich war schließlich die ungeschickte Aussage des Kommunikations­ ministers: »Geht es der Wirtschaft gut, geht es automatisch auch der Wissenschaft gut.« Winona hat nachgelesen, wie die Protestmaßnahmen schließlich verlaufen sind: In einer global akkordierten Aktion übten die StudentInnen Druck auf ihre Universitäten sowie auf digitale Veröffentlichungsbetriebe aus, indem sie sich, gemeinsam mit vielen WissenschaftlerInnen, weigerten, ihre Arbeiten und Studien digital einzureichen bzw. zu publizieren und diese stattdessen in selbst­ gegründeten Verlagen in Form von alten Büchern, mit richtigem Papier, Druckerschwärze und dickem Einband, produzierten, verbreiteten und so die globale Nachfrage nach solchen Büchern gezielt in die Höhe schnellen ließen. Damit hatten IT-Branche, Wirtschaftslobbys und Technologie-PolitikerInnen nicht gerechnet, und die Einbrüche auf dem IT-Aktienmarkt durch den unerwarteten, sich rasant ausbreitenden Modetrend zum alten Buch waren gewaltig. Es war plötzlich gesellschaftlich giga-hip, in Lese-Saloons Texte auf echtem Papier zu lesen. Selbst die Daily-News-Groups konnten dem vehementen Drang der UserInnen nach gedruckten Papierzeitungen nicht lange standhalten und mussten diesen altertümlich-schicken Medien Rechnung tragen. Die weltweite Produktion konnte der abrupt und unerwartet aufgekommenen Mode des Lesens gedruckter Bücher und Zeitungen jedoch nicht in ausreichendem Maße nachkommen; die vielen arbeitslosen MitarbeiterInnen der IT-Branche konnten nicht so rasch auf DruckerIn umgeschult werden. Unerfüllt blieb der Wunsch vieler KonsumentInnen, Schreibtische mit Tischlampe, Lesezeichen und vor allem Bücher zu erwerben – und dies erschütterte das globale Vertrauen in die Wirtschaft und ihre berechenbaren, regelbaren Mechanismen grundlegend; ganz abgesehen davon, dass

Winona hat das Studium »Kulturwelten« gebucht

nun auch Wirtschaftsleute ihre Daten nicht mehr am Screen oder mit Datenbrille lasen, sondern sich ebenfalls dem neuen Modetrend der Lektüre ihrer geprinteten Arbeitsunterlagen auf Papier in grauen Aktenordnern hingeben wollten. Durch diese unerwartete und sehr effiziente globale Lenkung der Nachfrage nach Druckwerken wurden IT-Konzerne und Wirtschaft zum Umdenken gezwungen. Die Technologie ist in den Wissenschaften seither benutzerfreundlicher, und vor allem ist die Autarkie der Wissenschaft, ihrer Fragestellungen, Zielsetzungen und gewählten Methoden – zumindest vorläufig – gesichert. Das waren sie nun also, die Bücher, das Protestmedium, das in der Zwischenzeit, so wie jede Mode, an Bedeutung wieder verloren hat, mit dem aber knapp vor Winonas Studienbeginn Geschichte geschrieben und ein Umdenken eingeleitet worden war, mit der Erkenntnis, dass bei aller globalen Vernetzung die Wissenschaft nicht einseitig Dienerin und Empfängerin, sondern Partnerin und aktiver Player in der heutigen Welt ist; der Auslöser für den auf Freiheit, Verantwortung und Vertrauen basierenden »Mumbai-Studienprozess«, ein neues, unverkrampftes, selbstbewusstes Verständnis von Universitäten und Wissenschaft – und mit ein Grund, warum »Kulturwelten« mit ihrer Erforschung kultureller Zusammenhänge heute nicht nur auf Winona einen unbeschreiblichen Reiz ausüben. Vieles hat sich verändert im Laufe der vergangenen Jahrzehnte, erkennt Winona, wenn sie den Schilderungen ihrer Oma Lenka lauscht oder durch das »World Museum of Folk Life« mit seinen Büchern und Riesen-Laptops flaniert. Und jetzt im Frühjahr 2065 steht auch die 700-Jahr-Feier der Uni Wien vor der Tür. Das wird sicher ein tolles globales digitales Spektakel! »Ob die allerersten Studenten ihre Uni so, wie sie sich uns heute präsentiert, überhaupt wiedererkennen würden?«, grübelt Winona unter ihrem Datenhelm. Nein, so weit in die Zukunft blicken konnten wahrscheinlich nicht einmal die UniProfessorInnen vor einem halben Jahrhundert, als sie das 650-jährige Jubiläum zelebrierten!

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Weiterführende Literatur: Matthias Horx, Das Megatrend Prinzip. Wie die Welt von morgen entsteht. München 2011. Christoph Kratky, Wird Österreich im Jahre 2050 in der Grundlagenforschung zur Weltspitze zählen? In: Rat für Forschung und Technologieentwicklung (Hg.), Österreich 2050. FIT für die Zukunft. Wien 2013, S. 78–84. Konrad Osterwalder, Walter Schneider, Wissenschaft und Forschung. Luxus oder Lebensnotwendigkeit? In: Rat für Forschung und Technologieentwicklung (Hg.), Österreich 2050. FIT für die Zukunft, Wien 2013, S. 72–77. Hermine Firnberga, Rainer Tish, Der »Mumbai-Prozess« und seine Auswirkungen auf die globalen Studienwelten an den Neuen Universitäten in Österreich. Altaussee (in Druckvorbereitung, erscheint voraussichtlich 2062).

Verzeichnis der AutorInnen und HerausgeberInnen: ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Christoph Augustynowicz (Institut für Osteuropäische Geschichte): [email protected] ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Fritz Blakolmer (Institut für Klassische Archäologie): [email protected]

Mag. Elmar Fröschl (Institut für Numismatik und Geldgeschichte): [email protected] Mag. Dr. Martina Fuchs (Institut für Geschichte): [email protected]

Mag. Elisabeth Haid (Institut für Osteuropäische Geschichte): [email protected]

ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Marianne Klemun (Institut für Geschichte): [email protected]

Dr. Christian Knoblauch (Institut für Ägyptologie): [email protected]

Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerhard Langer (Institut für Judaistik): [email protected] Mag. Ina Markova (Institut für Zeitgeschichte): [email protected]

OR Mag. Christoph Mentschl (Institut für Zeitgeschichte): [email protected]

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Verzeichnis der AutorInnen und HerausgeberInnen

Mag. Dr. Herbert Nikitsch (Institut für Europäische Ethnologie): [email protected]

Mag. Dr. Julia Rüdiger (Institut für Kunstgeschichte): [email protected]

Dr. Adamantios T. Skordos, M.E.S. (Institut für Byzantinistik und Neogräzistik): [email protected]

Univ.-Prof. Dr. Maria Stassinopoulou (Institut für Byzantinistik und Neogräzistik): [email protected]

Ass.-Prof. Mag. Dr. Alois Stuppner (Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie): [email protected]

Ass.-Prof. Mag. Dr. Hubert Szemethy (Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde, Papyrologie und Epigraphik): [email protected]

ao. Univ.-Prof. Dr. Otto H. Urban (Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie): [email protected]

Mag. Dr. Maria Wirth (Institut für Zeitgeschichte): [email protected]